Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Konsalik
Stalingrad
Inhaltsangabe
Synonym für eine sinnlose Schlacht, für den Wahnsinn des Krieges, Symbol für das erbärmliche
Sterben deutscher und sowjetischer Soldaten, skrupellos der Strategie geopfert. Bilder vom Un-
tergang der 6. Armee – eine erschütternde Dokumentation, einmalig in ihrer Art, zusammenge-
tragen aus den Fotoarchiven sowjetischer Kriegsberichter und deutscher PK-Offiziere, aus dem
Privatbesitz einfacher Soldaten und politischer Beobachter. Bilder, die den Betrachter nicht mehr
loslassen, die sich ins Herz brennen: Mahntafeln und schreiende Anklage gegen den Krieg. Dieses
Buch ist ein Zeugnis für das Engagement eines deutschen Autors, der mit seinen Romanen ›Der
Arzt von Stalingrad‹ und ›Das Herz der 6. Armee‹ literarische Denkmäler für die Humanität und
gegen die Barbarei der Unmenschen schuf - Heinz G. Konsalik
Made in Germany ▪ 11/78 ▪ 1. Auflage • 1120
Genehmigte Taschenbuchausgabe.
© 1968 by Hestia-Verlag GmbH, Bayreuth
Umschlagentwurf: Creativ Shop, A. + A. Bachmann, München
Umschlagfoto: Ullstein-Bilderdienst, Berlin
Satz: Kastner & Callwey, München. Druck: Presse-Druck Augsburg
Verlagsnummer: 3698 • Vosseler/Sturm
ISBN 3-442-03698-4
7
ZAHLEN
die man auswendig lernen
sollte wie eine Nationalhymne
Sowjetunion:
13.600.000 tote Soldaten, davon
8.500.000 gefallen
2.500.000 gestorben an Verwundungen
2.600.000 gestorben in Gefangenschaft
7.000.000 Zivilisten wurden getötet.
In diesem Krieg verlor die Sowjetunion 10 % ihrer Bevölkerung.
Die Gesamtverluste aller an diesem Krieg beteiligten Staaten betragen 55 Mil-
lionen.
WARUM?
8
NOCH LIEGT FRIEDEN
ÜBER DEM LAND
97
In der Stadt gibt es keine festen Lini-
en mehr … hier Sowjets, dort Deut-
sche, das ist längst vorbei. In jedem
Haus, in jedem Keller können heu-
te Rotgardisten sitzen und morgen
deutsche Landser; wo gestern ein
MG-Nest war, ist heute ein großes
Loch, wo gestern ein deutscher Beob-
achter stand, schlägt einem heute si-
birisches Scharfschützenfeuer entge-
gen. Der Kampf geht quer durch die
Häuser, von Stockwerk zu Stockwerk.
Plötzlich schießt es aus dem zweiten
Stockwerk, in dem vor einer Stunde
noch der Artilleriebeobachter hock-
te. Der Krieg ist überall, rundum,
über der Erde, unter der Erde. Jede
Richtung ist verloren. Man weiß nur
eins mit Sicherheit: Überall ist der
100 Tod!
Den neu herangeführten sowjeti- Ruinen und Straßenzüge, ein Anren-
schen Truppen werfen sich die deut- nen gegen eine sowjetische Militär-
schen Stoßtrupps entgegen, die ge- macht, die bestens ausgerüstet und
fürchteten Nahkämpfer mit Flam- gut ernährt, die deutschen Angreifer
menwerfern, Sprengladungen und immer wieder blutig zurückschlägt.
102 MGs. Es ist ein sinnloser Kampf um Und täglich, stündlich, jede Minute
sterben junge Menschen, die sich fra-
gen, warum sie überhaupt in Stalin-
grad sind und was sie hier sollen.
Der Befehl eines Mannes hat sie hier-
her gebracht, – nun verbluten sie,
Schlachttiere eines Wahnsinnigen. 103
Eine der tödlichsten Aufgaben ha-
ben die Essenträger. Von den vorder-
sten Linien müssen sie nachts, immer
wieder erfaßt von den hochziehen-
den Leuchtkugeln, zurückschleichen
zu den Feldküchen, um für die Ka-
meraden die Verpflegung zu holen.
Oft kommen sie nicht zurück, wer-
den von den Scharfschützen erschos-
sen, von Granaten zerfetzt, von Pan-
zern niedergewalzt. Die Zeit der Es-
senholer ist allen bekannt … in die-
sen Stunden der Nacht macht man
Jagd auf die einzelnen. Der sowjeti-
sche Träger, der mit einem Thermos-
kessel durch die Ruinen hetzt, oder
die deutschen Landser, die mit um-
geschnallten Kochgeschirren und
Verpflegungs- und Munitionssäcken
im flackernden Licht der Leuchtra-
keten durch die Verbindungsgräben
rennen, sie haben eines gemeinsam:
Der Tod läuft mit!
Der Verfasser dieses Buches hat
selbst oft genug als Essenträger im
Feuer von Artillerie und Maschi-
nengewehren gelegen, die gefüllten
Kochgeschirre an sich gedrückt, den
Sack mit Brot und Wurst und Gu-
laschbüchsen auf der Schulter. Da
gibt es kein Zurück, da heißt es, Me-
ter um Meter, Trichter um Trichter
zu erspringen, denn vorn, in den Kel-
lern und Erdbunkern warten die Ka-
meraden auf das Essen, die Verwun-
104 deten auf Verbände.
In den Dezembertagen 1942 und den Der Kessel ist zusammengeschnürt
ersten Januartagen 1943 wird die Lage auf das eigentliche Stadtgebiet. In der
der deutschen 6. Armee verzweifelt. Trümmerwüste Stalingrads wärmen
Alle Ausbruchsversuche hat Hitler sich sowjetische Soldaten an Lager-
verboten, die versprochene Versor- feuern die Hände, man zieht aus der
gung aus der Luft ist eine Wahnidee Steppe hinein in die Stadt des Todes.
Görings. Der Schneesturm weht alles zu. Man
300.000 Soldaten hungern. mißt 35 Grad Kälte. 107
Die Versorgung aus der Luft bricht rak. Wenn sie wieder starten wollen,
vollkommen zusammen. Nur wenige sind Motoren und Leitwerke einge-
Flugzeuge landen noch im Kessel, auf froren. Und es gibt keine Vorwärme-
108 den Flugplätzen Pitomnik und Gum- geräte.
Nur wenige Verwundete können Sie erfrieren, verhungern, verfaulen,
noch ausgeflogen werden … in Pi- verbluten, werden wahnsinnig oder
tomnik liegen 14.000 Verwundete beten verzweifelt. Niemand kann ih-
und Tote, in Gumrak sind es 30.000! nen mehr helfen. 109
Auch die zum Dienst gepreßten Hi-
wis, russische Männer und Frauen in
den besetzten Ortschaften, können
die Wege nicht mehr freischaufeln.
110 Der Schneesturm siegt.
Die Propaganda der Russen tut ein ten zum Überlaufen auf. ›Stalingrad –
übriges, die Moral der deutschen Massengrab‹ – diesen Vers kennt je-
Truppen zu zerstören. Emigrierte der in den Ruinen der Stadt. Tausen-
Kommunisten wie Walter Ulbricht de Flugblätter flattern über die deut-
und der Schriftsteller Erich Weinert schen Stellungen, – sie rufen zur Be-
kommen bis in die vordersten Lini- endigung des Wahnsinnskampfes auf
en und fordern über Mikrofon und und sind gleichzeitig Passierscheine
Lautsprecher die deutschen Solda- durch die sowjetischen Linien. 111
Am 8. Januar 1943, um 10 Uhr, er- seinen Stellvertreter und an den ge-
scheinen 3 russische Offiziere mit samten Offiziers- und Mannschafts-
einer weißen Fahne. Sie überbrin- bestand der eingekesselten deutschen
gen Generaloberst Paulus das letz- Truppen von Stalingrad.
te, ehrenvolle Ultimatum des Ober- Die deutsche 6. Armee, die Verbän-
befehlshabers der Truppen der Don- de der 4. Panzerarmee und die ih-
Front, Generalleutnant Rokossows- nen zwecks Verstärkung zugeteil-
kij. Es lautet: ten Truppeneinheiten sind seit dem
An den Befehlshaber der deutschen 23. November 1942 vollständig einge-
112 6. Armee, Generaloberst Paulus, oder schlossen.
Die Truppen der Roten Armee haben Truppen weichen nach Rostow zu-
diese deutsche Heeresgruppe in ei- rück. Die deutsche Transportluftflot-
nen festen Ring eingeschlossen. Alle te, die Ihnen eine Hungerration an
Hoffnungen auf Rettung Ihrer Trup- Lebensmitteln, Munition und Treib-
pen durch eine Offensive des deut- stoff zustellte, ist durch den erfolg-
schen Heeres vom Süden und Südwe- reichen und raschen Vormarsch der
sten her haben sich nicht erfüllt. Die Roten Armee gezwungen worden, oft
Ihnen zu Hilfe eilenden deutschen die Flugplätze zu wechseln und aus
Truppen wurden von der Roten Ar- großer Entfernung den Bereich der
mee geschlagen, und die Reste dieser eingekesselten Truppen anzufliegen. 113
Hinzu kommt noch, daß die deut- fangenen zu fahren wünschen.
sche Transportluftflotte durch die 4. Allen Wehrmachtsangehörigen der
russische Luftwaffe Riesenverluste sich ergebenden Truppen werden
an Flugzeugen und Besatzungen er- Militäruniformen, Rangabzeichen
leidet. Ihre Hilfe für die eingekessel- und Orden, persönliches Eigentum
ten Truppen wird irreal. und Wertsachen, dem höheren Offi-
Die Lage Ihrer eingekesselten Trup- zierskorps auch die Degen belassen.
pen ist schwer. Sie leiden unter Hun- 5. Allen sich ergebenden Offizieren,
ger, Krankheiten und Kälte. Der Unteroffizieren und Soldaten wird
grimmige russische Winter hat kaum sofort normale Verpflegung sicher-
erst begonnen. Starke Fröste, kal- gestellt.
te Winde und Schneestürme stehen 6. Allen Verwundeten, Kranken und
noch bevor. Ihre Soldaten aber sind Frostgeschädigten wird ärztliche
nicht mit Winterkleidung versorgt Hilfe erwiesen werden.
und befinden sich in schweren sani- Es wird erwartet, daß Ihre Antwort
tätswidrigen Verhältnissen. am 9. Januar 1943 um 10 Uhr Mos-
Sie als Befehlshaber und alle Offizie- kauer Zeit in schriftlicher Form
re der eingekesselten Truppen verste- übergeben wird. Durch einen von
hen ausgezeichnet, daß Sie über kei- Ihnen persönlich genannten Vertre-
ne realen Möglichkeiten verfügen, ter, der in einem Personenkraftwa-
den Einschließungsring zu durchbre- gen mit weißer Fahne auf der Stra-
chen. Ihre Lage ist hoffnungslos und ße nach der Ausweichstelle Konny,
weiterer Widerstand sinnlos. Station Kotlubani zu fahren hat. Ihr
In den Verhältnisse einer aussichtslo- Vertreter wird von russischen bevoll-
sen Lage, wie sie sich für Sie heraus- mächtigten Kommandeuren im Be-
gebildet hat, schlagen wir Ihnen zur zirk B 0,5 Kilometer südöstlich der
Vermeidung unnötigen Blutvergie- Ausweichstelle 564 am 9. Januar 1943
ßens vor, folgende Kapitulationsbe- um 10 Uhr empfangen werden.
dingungen anzunehmen: Sollten Sie unseren Vorschlag, die
Waffen zu strecken, ablehnen, so ma-
1. Alle eingekesselten deutschen Trup- chen wir Sie darauf aufmerksam, daß
pen, mit Ihnen und Ihrem Stab an der die Truppen der Roten Armee und der
Spitze, stellen den Widerstand ein. Roten Luftflotte gezwungen sein wer-
2. Sie übergeben organisiert unserer den, zur Vernichtung der eingekessel-
Verfügungsgewalt sämtliche Wehr- ten deutschen Truppen zu schreiten.
machtsangehörige, die Waffen, die Für ihre Vernichtung aber werden Sie
gesamte Kampfausrüstung und das die Verantwortung tragen.
ganze Heeresgut in unbeschädigtem
Zustand. Der Vertreter des Hauptquartiers des
3. Wir garantieren allen Offizieren Oberkommandos der Roten Armee,
und Soldaten, die den Widerstand Generaloberst der Artillerie Woro-
einstellen, Leben und Sicherheit und now
nach Beendigung des Krieges Rück-
kehr nach Deutschland oder in ein Der Befehlshaber der Don-Front, Ge-
114 beliebiges Land, wohin die Kriegsge- neralleutnant Rokossowsky.
Das Ultimatum wird abgelehnt.
Der Befehl Hitlers lautet: Stalingrad
ist unter allen Umständen zu hal-
ten! Auch jeder Ausbruchsversuch
wird verboten. Sich festkrallen in die
Trümmer und sterben, das ist das
Los der deutschen Soldaten. So hok-
ken sie in Eislöchern und warten auf
das Ende. Am 10. Januar, zwei Mi-
nuten nach 10 Uhr, beginnen 5.000
sowjetische Geschütze und Mör-
ser, Minenwerfer und Granatwer-
fer das Trommelfeuer. Aus Hunder-
ten Rohren der gefürchteten ›Stalin-
orgeln‹ heulen die Raketengeschos-
se auf die 6. Armee. Zwei Stunden
lang werden zwölf deutsche Divisio-
nen, 540 Kompanien, 31 Flakbatteri-
en und 64 Artilleriebatterien, 52 Pan-
zerjäger-Kompanien und 150 andere
Kampfgruppen, Trosse, Stäbe, Ver-
sprengte, Luftwaffenbodenpersonal,
Zahlmeister und Wehrmachtsbe-
amte, sogar noch arbeitende Kriegs-
gerichte mit Richtern und Staatsan-
wälten unter die Erde gepflügt. Nach
diesem Trommelfeuer kommen die
weißgetünchten Panzer … Der Kes-
sel bricht auseinander, die Überle-
benden flüchten in die Trümmer der
Stadt. Der Todeskampf der 6. Armee
hat begonnen. 115
Die Berge der Verwundeten türmen es gelingt, zu den nur noch verein-
sich auf. Auf dem Flugplatz Gum- zelt in dem Kessel landenden Flug-
rak allein liegen 20.000 steifgefro- zeugen zu kommen, wer das Glück
rene Leichen, im Schnee, in ver- hat, daß ihm Kameraden helfen, ihn
118 wehten Viehwagen, in Zelten. Wem ins Flugzeug bringen, das Flugzeug
zum Start aus den Schneeverwehun- Ahnung des Unterganges. Es kommt
gen drücken, wer dieser Hölle ent- zu Selbstmorden, sinnlosen Ausbrü-
rinnen kann, der ist wie ein gestalt- chen auf eigene Faust. Wahnsinnige
gewordenes Wunder. Die Zurückge- rennen schreiend durch die Ruinen,
bliebenen aber überfällt die dumpfe in den Lazarettkellern verfaulen Tau 119
sende. Es gibt kaum noch Medika-
mente, Mullbinden, schmerzstillen-
de Mittel. Man wickelt Papier um die
eiternden Wunden und wartet ab, bis
das Fieber einen gefressen hat oder
das Herz endlich klüger ist und auf-
hört zu schlagen. Aus den Batterie-
radios aber tönt in diesen Tagen das
Wort Hitlers von den ›unsterblichen
Helden von Stalingrad‹.
Dann ist es so weit, daß auf dem
Flugplatz kein deutsches Flugzeug
mehr landen kann … Gumrak wur-
de am 22.1.1943 von den Sowjets er-
obert. Der kleine Flugplatz Stalin-
gradski, der letzte, ist nur eine Not-
lösung. Die einzige Verbindung zur
Heimat reißt ab. Nun muß eine gan-
ze Armee mit Verpflegungsbom-
ben aus der Luft versorgt werden. An
Fallschirmen trudeln sie vom Him-
mel und landen in den Trümmern …
die meisten bei den Sowjets. Wie ver-
hungerte Tiere stürzen sich deutsche
Landser auf die gelandeten Verpfle-
gungsbomben. Aber es ist nicht im-
mer Büchsenfleisch, was vom Him-
mel fällt … die deutschen Militärbe-
amten packen auch anderes ein: Fah-
nen, Eiserne Kreuze, Hitlerbilder.
Für eine Armee, die verhungert, ver-
fault, krepiert.
Die letzte Post aber, die kurz vor der
Eroberung Gumraks durch die So-
wjets, noch mitgenommen werden
kann, sieben Säcke voller Briefe aus
der Hölle, wird in Nowo-Tscherkask
von der Heeresfeldpost-Prüfstelle be-
schlagnahmt und nach Berlin ge-
schickt. Die Briefe kommen nie bei
den Müttern, Frauen und Vätern an.
Deutschland soll nicht wissen, wel-
ches Drama, welches Verbrechen sich
an der Wolga vollzieht.
120
Die Eroberung der deutschen Flug-
plätze im Kessel Stalingrad: Pitom-
nik, auf dessen Zugangsstraßen von
der Stadt 18.000 Verwundete erfro-
ren, zu Eisklötzen erstarrten, zuweh-
ten und erst im nächsten Frühjahr
von den Sowjets in Massengräbern
beigesetzt werden konnten, Gum-
rak und schließlich auch Stalingrad-
ski, war die Durchtrennung der Na-
belschnur der 6. deutschen Armee.
Die letzte Möglichkeit einer Ernäh-
rung und Versorgung war vorbei. In
den Ruinen der Stadt beginnt man,
Holz zu raspeln und Suppen daraus
zu kochen. Pferdehufe werden ausge-
brüht, Lederriemen in dünne Strei-
fen geschnitten und gesotten. Rat-
ten sind Delikatessen, Würmer und
Maden in den fauligen Kellern sind
wertvoll wie nichts anderes auf der
Welt: Sie bedeuten, mit Schneewas-
ser und Holzbrei gemischt, wieder ei-
nen Tag Leben! Und der Kessel wird
immer kleiner und kleiner. Was die
sowjetischen Soldaten erobern, ist
oft erschütternd: Keller mit schrei-
enden Verwundeten, Löcher, rand-
voll mit Leichen, hohlwangige, ver-
hungernde, abgerissene, vor Entkräf-
tung schwankende deutsche Landser
122 … eine Armee der Sterbenden.
Das ist jetzt keine Schlacht mehr,
sondern ein Säubern der Trüm-
mer von Menschen, die am Rande
von Erschöpfung und Wahnsinn le-
ben. Und trotzdem … wo die sowje-
tischen Gardisten angreifen, schlägt
ihnen das Feuer aus den letzten Ge-
wehren, die letzten Geschosse entge-
gen. Die Elendsgestalten aus den Kel-
lern stürzen ihnen entgegen mit Mes-
sern, Spaten, Gewehrkolben und Ei-
senstangen.
Warum kämpfen sie noch? Warum
krallen sie sich in diese blutigen, ver-
eisten Trümmer einer Stadt, die nicht
ihre Stadt ist? Ist es das Umsichbei-
ßen eines gehetzten und in die Enge
getriebenen Tieres, das bis zuletzt
sich wehrt, obgleich es seinen Tod
sieht? Ist es die Propaganda, die ih-
nen eingeredet hat: Der Russe macht
keine Gefangenen?! Oder ist es wirk-
lich das Rätsel, das man hochtra-
bend ›Heldentum‹ nennt? Was ist ein
Held? Ein Mensch, der bis zur letz-
ten Patrone, bis zum letzten Atem-
zug kämpft? Ein Mensch, der auf Be-
fehl sterben darf? Ist ein Mensch da-
für geboren?
142
Das bleibt übrig: Ein Leichenfeld, zu- nie des Verbrechens war: Adolf Hit-
geweht vom Schneesturm, zerfetz- ler: Als die 6. Armee eingekesselt war
te Kanonen, zerrissene Wagen. Eine und aller Einsatz von außen unmög-
ganze Armee war gestorben, weil ihre lich wurde, gab es nur eine Chance für
Führung zu unschlüssig und zu ratlos sie: Ausbrechen! Das aber verbot Hit-
war, weil ihr Oberbefehlshaber Pau- ler mehrmals, genau so wie eine eh-
lus in Verkennung seines Soldatenei- renvolle Kapitulation. Dem Wahn-
des einem Manne Gehorsam bis zur sinn eines Mannes wurden 300.000
Selbstvernichtung leistete, der ein Ge- deutsche Soldaten geopfert. ▻
143
Die Kapitulation. Gespenstern gleich, ausgelaugt vom
Durch eine tote Stadt ziehen die Grauen, hohlwangig, verhungernd.
überlebenden deutschen Soldaten. Ihr Kommandeur aber, Generalfeld-
Sie sammeln sich auf Plätzen, krie- marschall Paulus, geht hoch erhobe-
chen aus Kellern und Erdhöhlen, nen Hauptes in Gefangenschaft. 145
Er hat nur ›seine Pflicht‹ getan: Gene-
ralfeldmarschall Paulus. Selbst jetzt,
nach 80.000 Toten, stehen die Solda-
ten noch vor ihm stramm, wie dieser
Oberfeldwebel. Es ist das makabere
Bild deutschen Kadavergehorsams. 147
Die Kapitulationsunterzeichnung
findet im Stabsquartier von Sowjet-
marschall Rokossowskij, dem Be-
fehlshaber der Don-Front, statt. Ihm
und Marschall der Artillerie N. Wo-
ronow sitzt Feldmarschall Paulus an
diesem 31. Januar 1943 gegenüber. Er
übergibt die Reste seiner Armee. Und
so sehen die Überlebenden aus. Ver-
wundete, zerschunden, blutend, mit
erfrorenen Gliedmaßen, ausgemer-
gelt, vom Hunger ausgehöhlt … die
Opfer eines Wahnsinns.
91.000 Mann, der Rest von 22 Divi-
sionen mit 364.000 Soldaten, Deut-
sche und Rumänen, ziehen in die
Gefangenschaft. Sie haben überlebt,
aber Hunger, Typhus, Fieber, Ent-
kräftung, Schneesturm und Eiswind
148 wird auch sie vernichten.
Das war einmal Stalingrad! Hier Sie hatten den Krieg nicht gewollt, sie
stand eine blühende Stadt! Am 2. Fe- waren Bürger einer schönen Stadt.
bruar 1943, 12.35 Uhr, erreichte die Nun kehren sie zurück in eine Mond-
Heeresgruppe ›Don‹ ein Funkspruch: landschaft, in die Stille des Todes. Ihre
»Wolkenhöhe fünftausend Meter, ganze Habe ist zusammengeschmol-
Sicht zwölf Kilometer, klarer Him- zen, man kann sie mit einem Fahrrad
mel, vereinzelt kleine Wölkchen, transportieren. Ihr Haus steht nicht
Temperatur einunddreißig Grad mi- mehr, im Garten liegt meterhoch
nus. Über Stalingrad Nebel und ro- Schutt, aus den Kellern weht Leichen-
ter Dunst …« geruch. Aber sie kommen zurück, die
Menschen von Stalingrad. Es gilt, eine
neue Stadt zu schaffen – – ▻
Warum resignierst du, Kamerad?
Oder weinst du? Du kommst aus der
Hölle, aber die, die dich hineingetrie-
ben haben, wirst du nie zur Rechen-
schaft ziehen können. Wenn du die
Gefangenschaft überlebst und zu-
rückkommst in die Heimat, werden
dort komischerweise wieder Generä-
le sein, die dir erzählen werden, daß
es für das Vaterland wichtig ist, ein
Held zu sein. Dann hilft kein Resi-
gnieren und Weinen mehr … dann
schreie es hinaus, Kamerad, was du
154 in Stalingrad gesehen hast – –
Du hast gesehen: Deinen General-
feldmarschall Paulus.
Als er zur Kapitulation endlich bereit
war und als Gefangener aus dem Kel-
ler des Kaufhauses ›Uniwermag‹ ans
Licht kletterte, hatte er durch seinen
Generalstabschef, General Schmidt,
den sowjetischen Unterhändlern be-
stellen lassen: »Der Oberbefehlsha-
ber wünscht als Privatperson be-
trachtet zu werden und möchte nicht
zu Fuß durch die Stadt gehen.« Und
die Sieger schickten einen Wagen,
mit dem der Marschall in die Gefan-
156 genschaft fuhr – –
Und du hast gesehen: Deine Kame- genschaft, hinaus aus der Stadt, die
raden. 80.000 eurer Kameraden zum Grab
Elendsgestalten wie du, verraten und wurde. Eines Tages wird man euch
verheizt, ohne Winterausrüstung, sagen, daß euer sinnloses Sterben
vom Hunger verzehrt, um die ange- doch einen Sinn hatte. Neudeutsche
frorenen Füße Lumpen oder Stroh Historiker werden sich dem Stand-
158 gewickelt. So zogt ihr in die Gefan- punkt Hitlers anschließen, der am
24. Januar in den Kessel funken ließ: ten durch die Stadt in die Gefangen-
»Verbiete Kapitulation! Die Armee schaft, zu den Sammellagern von
hält ihre Position bis zum letzten Beketowka. Allein in diesem riesi-
Mann und zur letzten Patrone und gen Lager an der Wolga werden in
leistet durch ihr heldenhaftes Aus- den nächsten Wochen 35.000 von ih-
halten einen unvergeßlichen Beitrag nen sterben, an Hunger, Typhus, Ent-
zum Aufbau der Abwehrfront und kräftung, Schneesturm und Eiswind.
der Rettung des Abendlandes.« Vorbei an dem heiß umkämpften Ge-
Wenn man euch so etwas sagt, zeigt treidesilo, der ein Symbol des sowje-
diese Bilder und fragt bloß: Warst du tischen Widerstandes geworden ist,
auch dabei?! geht der Weg in die Weite, in das Un-
Tagelang ziehen die Kolonnen der gewisse, in neues Leiden … denn der
ausgemergelten deutschen Solda- Tod von Stalingrad ist noch nicht satt. 159
Dann scheint die Stadt leer, ausgestor- beginnen, sind wie Ameisen in einem
ben, verlassen zu sein, eine Mondland- Gebirge. Am Rande der Stadt wird das
schaft mit bizarren Formen. Aber der erbeutete deutsche Material gesam-
Eindruck täuscht. Die wenigen Men- melt, Straßen werden geräumt, damit
160 schen, die jetzt mit dem Aufräumen Jeeps und Traktoren fahren können.
Auch dieses in die Erde geramm- men einmal die Deutschen nach Sta-
te deutsche Flugzeug wird man weg- lingrad. Aber wir besiegten sie!
räumen und vielleicht irgendwo als
Denkmal aufbauen: Seht – wird man
eines Tages sagen – mit so etwas ka- 161
DAS GESICHT DES
›HELDENTODES‹
2. Strophe
»Die Mauern wir erklettern,
die Türme wir zerschmettern,
und in die Stadt hinein –
wer uns den Lauf will hemmen,
uns sich entgegenstemmen,
der soll des Teufels sein.«
4. Strophe
»Die Reihen fest geschlossen
und vorwärts unverdrossen!
Falle, wer fallen mag; –
kann er nicht mit uns laufen,
so mag er sich verschnaufen
bis an den jüngsten Tag.«
Wieviel Blut und Elend, Grauen und Schmerz, Angst und Sterben ver-
birgt sich hinter diesen Worten.
204
Heute ist Wolgograd, das sich etwa
70 Kilometer entlang dem rech-
ten hohen Wolgaufer erstreckt, ei-
nes der wichtigsten Industriezen-
tren der Sowjetunion. Die Stadt wur-
de völlig wieder aufgebaut. Das Zen-
trum ist durch weite, von der Wol-
ga im rechten Winkel ansteigende
Plätze (Bahnhofs-, Demonstrations-
platz, Platz der gefallenen Helden,
Heldenallee) und durch großzügige
Boulevards aufgelockert. Die Lager-
schuppen und Industrieanlagen, die
ehemals die Wohnviertel vom Fluß
trennten, sind verschwunden und im
Norden der Stadt konzentriert. Breite
Verkehrsstraßen verbinden die teils
beträchtlich weit voneinander ent-
fernten einzelnen Stadtbezirke.
Wolgograd ist ein wichtiger Binnen-
hafen und ein zentraler Verkehrs-
knotenpunkt. Unter den Industrien
dominieren der Maschinenbau mit
dem berühmten wieder aufgebau-
ten Traktorenwerk ›Roter Oktober‹,
Stahlwerke, eine Aluminiumhütte,
Werften und einer Ölraffinerie. Au-
ßerdem sind in Wolgograd bedeu-
tende chemische Fabriken angesie-
delt, auch die Nahrungsmittel-, Le-
der- und Schuhindustrie spielen eine
Rolle.
Wolgograd verfügt über 6 Hoch-
schulen, 18 Fach-, 17 Berufs- und 146
allgemein bildende Schulen. 3 Muse-
en, 4 Theater und 1 Philharmonisches
Orchester vermitteln ein reichhal-
tiges kulturelles Angebot. Die Ein-
wohnerzahl Wolgograds liegt bei ei-
ner Million.
BILDNACHWEIS
Deutsche Presseagentur:
66/67, 161
JDF-Studio:
22/23, 56/57, 103, 128/129, 133
Keystone:
21, 86, 124/125, 188
Hilmar Pabel:
148/149 (oben), 154/155, 173, 174, 176, 177, 178/179, 180/181, 182/183, 184, 186, 187, 189, 190/191,
192/193, 194, 195, 196, 197, 198/199, 200/201, 202/203, 205
Süddeutscher Verlag:
84/85, 159
Ullstein -Bilderdienst:
10/11, 15, 16/17, 18, 19, 20, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38/39, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48/49,
50/51, 54/55, 58, 59, 60, 62, 63, 64/65, 68/69, 70/71, 72, 78/79, 80, 82/83, 88, 90, 91, 92/93, 94, 95,
96, 97, 100/101, 102, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 112/113, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122/123, 130/131,
132, 134/135, 136, 138/139, 144, 145, 147, 148/149 (unten), 150/151, 152, 156/157, 158, 160, 162/163,
164/165, 166, 167, 168/169, 170, 171, 172, 207