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314 zur politischen Bildung / izpb

1/2012

Nationalsozialismus: Aufstieg
und Herrschaft
2 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Inhalt

„Volksgemeinschaft“? .................................................................... 4
Aufstieg ...................................................................................................... 5
Anfänge der NSDAP in München ........................................................ 5
Krisenjahr 1923 ..........................................................................................11
Erste Erfolge ................................................................................................12
Das Ende der Weimarer Republik .....................................................22

Machteroberung 1933 ...................................................................28


Terror und Zustimmung .......................................................................34
Zerschlagung der Gewerkschaften .................................................. 41
Auflösung der Parteien .........................................................................42
Entmachtung der SA ..............................................................................45

„Volksgemeinschaft“ .................................................................... 46
Integration der Arbeiterschaft ............................................................51
Rüstungskonjunktur ..............................................................................53
Frauen ..........................................................................................................58
Jugend ......................................................................................................... 60
„Gefühlte Gleichheit“ ..............................................................................62

Verfolgung ........................................................................................... 64
Polizei ...........................................................................................................65
Konzentrationslager ..............................................................................67
Zwangssterilisation ............................................................................... 68
Verfolgung der Juden ............................................................................ 69

Literaturhinweise .......................................................................... 80
Internetadressen .............................................................................82
Der Autor ............................................................................................... 83
Impressum ........................................................................................... 83

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


3

Editorial

F ast achtzig Jahre sind vergangen, seit die Nationalsozialis­


ten unter Adolf Hitler die Staatsgewalt übernahmen und
Deutschland binnen weniger Monate von einem Rechtsstaat
lebten Verhaltensmöglichkei­
ten auffächern. Sie kommen
in diesem Heft in repräsen­
in eine Diktatur verwandelten. Im Namen einer rassistischen, tativer Auswahl zur Geltung,
menschenverachtenden Ideologie wurden willkürlich Terror um ein Bewusstsein dafür zu
und Gewalt gegen Menschen ausgeübt, von denen sich viele bis schaffen, dass es in Extrem­
dahin als akzeptierte Mitglieder der deutschen Gesellschaft ge­ situationen auf jeden Einzel­
wähnt hatten. nen ankommt und dass im
Wie konnte das geschehen? Wie gelang es dem Regime, sich Einzelfall fast immer alternative Handlungsoptionen offen­
die Duldung, Billigung oder aktive Komplizenschaft weiter Krei­ stehen: von vorauseilendem Gehorsam, aktiver Mitwirkung,
se der Bevölkerung zu sichern? duldender Anpassung bis zum aktiven Widerstand.
Ein Deutungsangebot, das in diesem Heft gemacht wird, ist Liest man die Berichte von Opfern des Regimes oder betrachtet
der Begriff der „Volksgemeinschaft“. Schon in der Zeit der Wei­ man die Bilder ihrer öffentlichen Demütigung, überkommt ei­
marer Republik von allen politischen Richtungen genutzt, um nen noch heute ein Schaudern. Deutlich wird auch, wie schwie­
Solidarität einzufordern und die gesellschaftliche Spaltung zu rig es mitunter sein konnte, sich als Einzelner der herrschenden
überwinden, wurde er anschließend zum „Konstrukt der NS- Meinung zu widersetzen und die eigene Individualität und
Propaganda“, mit dem „eine tief verwurzelte Sehnsucht nach Menschlichkeit zu behaupten.
nationaler Einheit ausgenützt wurde, um den Griff, in dem das Inwieweit ist das Thema heute noch relevant? Leben die Deut­
Regime die Gesellschaft hielt, zu festigen – organisatorisch wie schen nicht inzwischen in einer gefestigten Demokratie, um­
psychologisch“ (Ian Kershaw). geben von Nachbarn, die zu Freunden wurden und unter dem
Tatsächlich konnte, wie diese Darstellung anschaulich ma­ Schutz und Geleit eines Grundgesetzes, das Frieden, Freiheit,
chen soll, die Idee der „Volksgemeinschaft“ viele Menschen mo­ Menschenwürde und die Achtung vor Andersdenkenden zum
bilisieren, die durch die innere Zerrissenheit der Weimarer Zeit allgemein anerkannten Grundsatz des gesellschaftlichen Zu­
abgestoßen waren und in gemeinsamer Anstrengung dem im sammenlebens erhoben hat?
Ersten Weltkrieg besiegten Deutschland zu neuem Ansehen Aktuelle Vorkommnisse belegen stets aufs Neue, dass auch
und sich selbst zu einem besseren Leben verhelfen wollten. auf Teile unserer heutigen Gesellschaft extremistische Ideo­
Die Kehrseite des Begriffs „Volksgemeinschaft“ – und auch das logien und Protagonisten nach wie vor Attraktivität ausüben.
arbeitet die Darstellung heraus – war jedoch die brutale, radika­ Zudem ist immer wieder zu beobachten, wie in Krisenzeiten la­
le Ausgrenzung all derer, die gemäß der NS-Ideologie nicht zur tente Vorurteile gegen Minderheiten von Demagogen benutzt
Gemeinschaft gehören sollten. Diese Ausgrenzung mit all ihrer werden, um dem Volkszorn „Sündenböcke“ zu präsentieren.
Menschenverachtung geduldet, akzeptiert oder unterstützt, von Daher gilt es, in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialis­
ihr profitiert oder sie aktiv betrieben zu haben, bedeutete den mus beispielhaft die Mechanismen aufzuzeigen, die dazu füh­
größten Zivilisationsbruch der neueren deutschen und europä­ ren können, dass Gesellschaften in die Barbarei abstürzen. Wie
ischen Geschichte. Bundespräsident Joachim Gauck betont, müssen wir jederzeit
Wie weit auf individueller Ebene die Zustimmung wirklich ging, das „Unvorstellbare einkalkulieren“, denn „Humanität ist nie
ob sie breit, gar nicht oder möglicherweise nur punktuell von Fall im sicheren Hafen. Sie zerfällt oder wird beschädigt, wenn Ratio
zu Fall empfunden wurde, unterliegt letztlich der individuellen und Moral gegeneinander stehen. Unsere Zivilisation ist nicht
Deutung der jeweilig betroffenen Zeitgenossen und ist auch von Geschichte im Endstadium, sondern vorübergehend gesicherte
der historischen Forschung nur annäherungsweise nachprüfbar. Existenzform.“
Doch es gibt schriftliche Selbstzeugnisse, Tagebücher oder
Zeugenberichte sowie Bildaufnahmen, die das Spektrum der ge­ Christine Hesse

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4 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Michael Wildt

„Volksgemeinschaft“?

Zugehörigkeit und Gleichheit in der „Volksgemeinschaft“

Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl


versprechen die Nationalsozialisten unzähligen Wählern,
die von der krisengeschüttelten Weimarer Republik ent­
täuscht sind. Doch diese Verheißung gilt nicht für alle:
Für diejenigen, die nicht der NS-Ideologie entsprechen,
bedeutet es Ausgrenzung und Gewalt.

Während eine überwältigende Mehrheit bei einem Werftbesuch Adolf


Hitlers 1936 die Arme zum „Deutschen Gruß“ hebt, verschränkt ein einzel­
ner Arbeiter seine Arme.

E in genauer Blick auf das Umschlagfoto lohnt! Es zeigt Ar­


beiter der Hamburger Werft Blohm & Voss beim Stapellauf
des Marineschulschiffs „Horst Wessel“ am 13. Juni 1936. Zu dem
gab es nach wie vor große soziale Unterschiede, und die na­
tionalsozialistische Politik selbst schuf neue, rassistische Un­
gleichheiten, indem sie bestimmten Gruppen, allen voran den
Ereignis war selbst der „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler Juden, die Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ absprach.
angereist, ebenso wie etliche ranghohe Militärs und Parteiobe­ Durch Ausgrenzung und Gewalt wurde die nationalsozialis­
re, des Weiteren waren Ehrenkompanien der Wehrmacht, der SA tische „Volksgemeinschaft“ definiert. Antisemitismus, Juden­
und der SS angetreten. Zum Höhepunkt der Großveranstaltung, feindschaft, bildete ihren radikalisierenden Kern.
als das Schiff zu Wasser gelassen und die Nationalhymne ge­ Dennoch bot die Formel von der „Volksgemeinschaft“, die
spielt wurde, hoben alle den Arm zum sogenannten deutschen Gleichheit und Gerechtigkeit versprach und in der Weimarer
Gruß – nur einer nicht. Auf dem Bild ist ein Mann zu erkennen, Republik von nahezu allen Parteien im Mund geführt wurde,
der die Arme verschränkt hält. Wer dieser Mann ist, lässt sich genügend Anknüpfungspunkte für die Nationalsozialisten, um
nicht eindeutig feststellen. Irene Eckler meinte ihren Vater Au­ Zustimmung für sich zu mobilisieren. Endlich sollte der „Partei­
gust Landmesser zu erkennen, der seine jüdische Verlobte Irma enkrieg“ der ungeliebten Republik überwunden, das Parlament
Eckler wegen der Nürnberger Rassengesetze von 1935 nicht hei­ als „Schwatzbude“ beseitigt und die Regierung einem starken
raten durfte. Die Töchter Ingrid und Irene kamen außerehelich „Führer“ übertragen werden, der von sich behauptete, zu wissen,
zur Welt. August Landmesser wurde 1938 denunziert, wegen was das Volk wolle. Alle Probleme einer modernen Gesellschaft,
„Rassenschande“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und dann in der sich viele ohnmächtig und verloren fühlten, sollten durch
als Soldat an die Front geschickt, wo er seit 1944 als verschollen die „Volksgemeinschaft“ aufgehoben sein. „Was macht eine De­
galt. Irma Eckler wurde 1938 ins Frauen-Konzentrationslager mokratie“, fragte der Zeitgenosse und Publizist Sebastian Haff­
Ravensbrück gebracht und 1942 ermordet. ner, „wenn eine Mehrheit des Volkes sie nicht mehr will?“
Aber auch eine andere Hamburger Familie glaubte, in dem Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus, Zustim­
Mann mit den verschränkten Armen ihren Verwandten Gustav mung und Terror, „Volksgemeinschaft“ und Ausgrenzung, Zu­
Wegert identifizieren zu können, der nachweislich als Schlos­ gehörigkeit und Verfolgung sind die Themen dieses Heftes. Der
ser bei Blohm & Voss gearbeitet hatte und als gläubiger Christ Sieg des Nationalsozialismus 1933 war kein unausweichlicher
aus religiöser Überzeugung den Hitler-Gruß verweigerte. Prozess, ebenso wie die große Zustimmung zum NS-Regime
Doch unabhängig davon, um wen es sich bei diesem Arbei­ keineswegs bedeutete, dass nicht auch Widerstand, Ablehnung
ter handelt, besitzt dieses Bild eines unbekannten Fotografen und alltägliche Zivilcourage möglich waren. Militarisierung und
eine starke Aussagekraft. Denn es zeigt zum einen die hohe Gewalttätigkeit waren bereits im Kaiserreich angelegt, wurden
Bereitschaft mitzumachen, den Arm zum „Hitler-Gruß“ zu durch den Ersten Weltkrieg verstärkt und prägten auch die Ausei­
heben, wenn es verlangt war, und zum anderen die durch­ nandersetzungen in der Weimarer Republik. Aber erst die natio­
aus vorhandenen, alltäglichen Handlungsmöglichkeiten, sich nalsozialistische Herrschaft schuf gewaltsame Strukturen, die
dem Druck zur Gleichförmigkeit zu entziehen. Selbst bei den die deutsche Gesellschaft zunehmend bestimmten. Der Novem­
vielen erhobenen Armen lassen die individuellen Haltungen berpogrom 1938 legte offen, wie sehr sich diese Gesellschaft im
auf ganz unterschiedliche Grade der Zustimmung schließen. Nationalsozialismus innerhalb weniger Jahre verändert hatte,
Die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ war so ein­ wie gewalttätig scharf die Grenzen zwischen der „Volksgemein­
heitlich nicht, wie die nationalsozialistischen Machthaber schaft“ und den „Fremdvölkischen“ und „Gemeinschaftsfrem­
glauben machen wollten. Trotz aller Gleichheitspropaganda den“ schon in der Vorkriegszeit gezogen worden waren.

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Aufstieg 5

Michael Wildt

Aufstieg

Die Folgen des verlorenen Krieges, Wirtschaftsprobleme und

ullstein bild – Archiv Gerstenberg


der mangelnde Rückhalt der Bevölkerung schwächen die
Weimarer Republik. Diesen Umstand nutzt die NSDAP durch
geschickte Propaganda und kann so ihre Stimmenanteile
bei Wahlen erheblich steigern. Bald wenden sich immer mehr
Menschen den Nationalsozialisten zu.

Bescheidene Anfänge: Gemäß Ausweis war Adolf Hitler das 55. – nicht, wie spä­
ter behauptet, das siebte – Mitglied der DAP. Um eine höhere Unterstützerzahl
vorzutäuschen, begann die Registrierung mit der Nummer 500.

Anfänge der NSDAP in München Benito Mussolini, der als ehemaliger Sozialist 1919 die „Fasci
di combattimento“ (Kampfbünde) gegründet hatte und 1922
an die Macht gelangt war.
Der Nationalsozialismus entwickelte sich aus dem Geist und Adolf Hitler, der zuvor ein unbedeutendes Bohemien­
der Gewalt des Ersten Weltkriegs. In vielen Ländern Europas leben geführt hatte, fühlte sich durch die Mobilmachung für
entstanden nach dem Krieg faschistische Bewegungen, die den Krieg 1914, die er in München erlebte, wie auferweckt.
sich in ihrer antikommunistischen Stoßrichtung, in ihrem „Mir selber kamen die damaligen Stunden wie eine Erlö­
„Führerglauben“, ihrer gewalttätigen Politik und ihrem sung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor“,
radikalen Nationalismus sowie in ihrer Ablehnung einer formulierte er zehn Jahre später in „Mein Kampf“. Wie Zehn­
bürgerlich-liberalen Gesellschaft durchaus ähnelten. Ihr ge­ tausende anderer junger Männer meldete er sich freiwillig
meinsames Vorbild war der italienische Faschistenführer zum Militärdienst und tauchte ein in jenes trügerisch-groß­

Adolf Hitlers frühe Jahre beiten und dem Verkauf selbst ge­ Als 1913 der Einberufungsbefehl in die
malter Ansichtspostkarten, wohnte in österreichische Armee drohte, setzte
Adolf Hitler, am 20. April 1889 in der Männerwohnheimen, las völkische sich Hitler nach München ab, weil er als
österreichischen Stadt Braunau geboren, und antisemitische Broschüren, besuch­ sich Deutschland zugehörig fühlender
stammte aus kleinen Verhältnissen. te politische Veranstaltungen und hörte Nationalist in keinem Fall für das öster­
Sein Vater war Zollbeamter, hinterließ leidenschaftlich Wagner-Opern in der reichische Vielvölkerimperium kämpfen
aber, als er 1903 starb, so viel Geld, Wiener Staatsoper. Ob Richard Wagners wollte. Stattdessen meldete er sich in
dass seine Witwe und sein Sohn davon Antisemitismus Hitler beeinflusst hat, München Anfang August 1914 als Frei­
ihren Lebensunterhalt bestreiten ist in der Geschichtsschreibung strittig. williger. Der Krieg gab ihm die Ordnung,
konnten. Hitler brach die Schule nach der Immer wieder wird allerdings darauf die seinem Leben fehlte. Hitler machte
9. Klasse ab und blieb zunächst bei aufmerksam gemacht, dass die öffentli­ beim Militär keine Karriere, sondern blieb
seiner Mutter, an der er sehr hing, in Linz che theatralische Inszenierung der Poli­ Gefreiter, ein unterer Dienstgrad. Offen­
wohnen. Ihr Tod im Dezember 1907 tik, wie sie später zum Beispiel auf kundig war er ein verlässlicher, wenig auf­
bedeutete zweifellos die einschneidends­ den Reichsparteitagen praktiziert wurde, fallender Soldat. Entgegen seiner
te Zäsur in seiner Jugend. Er zog da­ durchaus mit dieser frühen Theater­ eigenen Selbststilisierung in der 1925/27
nach nach Wien, scheiterte jedoch mit leidenschaft Hitlers verbunden war. erscheinenden programmatischen
seinen Versuchen, an der Wiener Kunst­ Auch die späteren gigantischen Bauplä­ Schrift „Mein Kampf“ war er allerdings
akademie als Student aufgenommen ne für die Reichshauptstadt Berlin lassen kaum an der Front eingesetzt gewesen,
zu werden. So führte er als „Künstler“ und sich auf die Wiener Jahre zurück­ und die Auszeichnung mit dem Eiser­
„Schriftsteller“ ein orientierungsloses, führen, in denen Hitler von sich glaubte, nen Kreuz I. Klasse verdankte er der Für­
müßiggängerisches, kärgliches Leben, ver­ ein begabter Künstler und Architekt sprache Hugo Gutmanns, eines jüdi­
diente sich Geld mit Gelegenheitsar­ zu sein. schen Offiziers.

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6 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

artige Erleben der „Volksgemeinschaft“ 1914, in das Gefühl


von Einheit und Siegesgewissheit, das realitätsnahe Erwar­
tungen zum Charakter und zur Dauer des Krieges verschwin­
den ließ.
Als Hitler im Herbst 1916 an der Westfront durch einen An­
griff zum ersten Mal verwundet wurde, waren seine Illusio­
nen über einen raschen Sieg verflogen, der Glaube an die
bpk / Heinrich Hoffmann

Unbesiegbarkeit Deutschlands jedoch keineswegs. Aus dem


Lazarett an die Front zurückgekehrt, wurde er im Oktober
1918 Opfer eines Giftgasangriffs, erblindete kurzzeitig und
erlebte das Kriegsende im Krankenbett. Erst wenige Wochen
vor dem Ende, Anfang Oktober 1918, hatten die führenden
Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff einge­
Ausrufung des Kriegszustandes vor der Münchner Feldherrenhalle. Heinrich standen, dass der Krieg verloren sei. Doch entzogen sie sich
Hoffmann, NSDAP-Mitglied seit 1920 und alleiniger Fotograf Hitlers, nahm ihrer Verantwortung und überließen es der zivilen Reichsre­
dieses Bild am 2. August 1914 auf und montierte vor der Erstveröffentlichung gierung, am 3. Oktober 1918 bei den Siegermächten um einen
in einer NS-Propagandabroschüre 1936 möglicherweise Hitler, der dort nach Waffenstillstand zu bitten.
eigenem Zeugnis teilgenommen hatte, nachträglich hinein.

„Dolchstoßlegende“

Für Hitler wie für Millionen anderer Deutscher war die Ar­
mee unbesiegt geblieben und angeblich von hinterhältigen
Verbrechern an der „Heimatfront“ verraten worden. „In die­
Bundesarchiv, Bild 183-R34635

sen Nächten wuchs mir der Hass, der Hass gegen die Urheber
dieser Tat“, schrieb Hitler in „Mein Kampf“ und hielt unmiss­
verständlich fest, wer für ihn die „Urheber“ waren: „Mit dem
Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder –
Oder. Ich aber beschloss, Politiker zu werden.“
Selbstverständlich erschuf Hitler hier seine eigene Legen­
de. Seine tatsächliche Entscheidung, in die Politik zu gehen,
Anfangs herrschte Zuversicht, dass der Krieg nur von kurzer Dauer sei. fiel erst zwei Jahre später. Und natürlich waren nicht Juden
Deutsche Soldaten auf dem Weg zur Front verantwortlich für die Niederlage Deutschlands. Aber es ist
kennzeichnend, dass er diese Wende in seinem Leben an
eben jenem historischen Punkt ansetzte, als das Deutsche
Reich seine bis dahin tiefste Niederlage erlebte. Aus dem
Moment der absoluten Ohnmacht heraus, der Empfindung,
akg-images / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Opfer zu sein und Vergeltung üben zu müssen, erwuchs sein


Entschluss. Nicht konstruktiver politischer Gestaltungswil­
len, sondern Hass bildete die Emotion, mit der Hitler seinen
Eintritt in die Politik begründete.
Schon während des Krieges hatte der Antisemitismus,
insbesondere der Vorwurf, „jüdische Schieber“ und „Kriegs­
gewinnler“ verdienten Millionen, während die Bevölkerung
hungern müsste, rasch an öffentlicher Resonanz gewonnen.
Tatsächlich aber hatte imperialistische Überheblichkeit das
Doch im zermürbenden Stellungskrieg verlieren Millionen ihre Illusionen, Deutsche Reich in den Krieg getrieben, und die Siegesge­
ihre Gesundheit und ihr Leben. Otto Dix' Radierung „Verwundeter“ von 1916 wissheit war schnell in den fürchterlichen Schlachten des
Weltkrieges zerstoben. Da das Reich nicht auf einen längeren
Krieg vorbereitet war, mangelte es bald an Lebensmitteln und
anderen Versorgungsgütern. Und schon seit 1915 protestier­
ten die Arbeiter mit Streiks gegen die schlechten Lebens- und
Arbeitsbedingungen. Antisemiten machten „die Juden“ zu
Sündenböcken und verdächtigten sie sogar, sich vor dem Mi­
litärdienst zu drücken. Deshalb wurde im Oktober 1916 eine
offizielle „Judenzählung“ im deutschen Heer durchgeführt. Da
diese Maßnahme willkürlich und ohne Konzept vorgenom­
men wurde und die Zahlen dieses antisemitische Vorurteil
vermutlich bloßstellten, wurden die Ergebnisse nicht veröf­
fentlicht, was die antisemitische Kampagne noch verstärkte.
Als sich nach dem unerwarteten Eingeständnis der Obers-
bpk

Mitte 1918 zeichnet sich die endgültige Niederlage ab: deutsche Kriegsge- ten Heeresleitung Ende September 1918, dass der Krieg nicht
fangene in einem französischen Auffanglager im August 1918 mehr gewonnen werden könne, plötzliche Ernüchterung

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akg-images / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Aufstieg 7

Sammlung Haney, Berlin


Krieg und Niederlage verändern die deutsche Nachkriegsgesellschaft Verantwortlich für die Niederlage 1918 sind in den Augen vieler nicht die Militärs,
der Weimarer Zeit. „Kriegskrüppel“ von Otto Dix, Radierung, 1920 sondern Demokraten und Juden. Die „Dolchstoßlegende“ als Postkarte um 1923

einstellte, wurden vielfach „die Juden“ ebenso wie die politi­ Rücken“ gestoßen hätten und nun den Umsturz wollten.
sche Linke, die die Arbeiter zu Streiks aufgewiegelt habe, für Diese Sicht und seine Chance, sich damit aus der Verantwor­
die Niederlage verantwortlich gemacht. Revolutionäre mit tung zu stehlen, unterstützte der inzwischen im Ruhestand
jüdischer Herkunft wie Rosa Luxemburg, Hugo Haase oder befindliche Ex-Generalfeldmarschall von Hindenburg durch
Eugen Leviné schienen die antisemitische wie antikommu­ eine entsprechende Erklärung vor dem Untersuchungsaus­
nistische Weltsicht zu bestätigen, dass es „jüdische Bolsche­ schuss der Nationalversammlung zur Kriegsschuldfrage am
wisten“ seien, die dem deutschen Heer einen „Dolch in den 18. November 1918.

Unbewältigte Kriegstraumata Pflichtgefühl gezeichnet hatte, verloren des Versailler Vertrags deutlich über­
die gehobenen Mittel- und Oberschich­ traf. [...]
[...] Der Erste Weltkrieg zerstörte die alten ten erhebliche Teile ihres Vermögens. Das Den von Wilson verkündeten und
herrschaftlichen und gesellschaft­ kaiserliche Feldheer war geschlagen. von Deutschland im Oktober 1918 akzep­
lichen Strukturen Mittel- und Osteuropas. Folglich konnten die Schrecken der Front, tierten Kerngedanken eines „Friedens
Am Ende standen Hunger, Niedergang, konnten die schweren psychischen ohne Sieger“ verletzte insbesondere
Chaos und Not, Dumpfheit und Hass. Auf Verletzungen der elf Millionen heimkeh­ Artikel 231 des Versailler Vertrages. Er
deutscher Seite waren zwei Millionen renden Soldaten nicht in Siegesfeiern schob den Deutschen die alleinige
zumeist junge Männer gefallen, ein Vier­ gewürdigt, abgebaut und verarbeitet wer­ Kriegsschuld zu und bildete die Grundlage
tel von ihnen während der letzten den. Trommelfeuer, Giftgasalarm, für die Reparationsforderungen. Diese
Kriegsmonate. Millionen Menschen fris­ Granatsplitter und Tod, kurz: die Kriegs­ sollten nicht – wie bis dahin bei Friedens­
teten ihr Leben als Kriegskrüppel, traumata fraßen in ihnen. [...] verträgen üblich – als gewissermaßen
Witwen und Halbwaisen. Infolge der bri­ Voller Wut und Gram mochten die natürliche Folge der Niederlage bezahlt
tischen Seeblockade waren 500 000 Deut­ meisten der geschlagenen Soldaten die werden, sondern aufgrund einer zu­
sche verhungert. 1917 standen pro Ein­ Sinnlosigkeit ihres Kampfes nicht vor anerkannten schweren Schuld. [...]
wohner in den Städten durchschnittlich einsehen. Stattdessen vergruben sie sich Der Kriegsschuldparagraph führte
1400 Kalorien pro Tag zur Verfügung. in dem Gefühl, ihr – seit dem 9. Novem­ dazu, dass sich die Deutschen bald mehr­
„Das Schlangenstehen vor den Lebensmit­ ber 1918 demokratisch regiertes – Vater­ heitlich darauf verständigten, jede
telgeschäften der Städte machte die land behandle sie mit „maßloser Un­ Mitschuld am Krieg zu leugnen. So konnte
Zermürbten wild und aufsässig und vor dankbarkeit“. [...] die NSDAP später erfolgreich die Mär
allem grimmig gegen die Reichen, die sich Den Friedensvertrag von Versailles, den verbreiten: „Die Unschuld Deutschlands
‚hinten herum‘ besser ernährten.“ die deutschen Abgesandten im Som­ am Weltkrieg ist heute urkundlich nach
Hunderttausende starben an Tuberku­ mer 1919 ohne jede Diskussion und unter jeder Richtung hin erhärtet.“ Eine
lose, an Grippeepidemien und allge­ Androhung militärischer Gewalt un­ gleichfalls ungute psychologische Wirkung
meiner Entkräftung vor ihrer Zeit. Kinder terzeichnen mussten, empfanden die Be­ entfalteten die extrem hohen Repa­
litten an Unterernährung und Rachitis. siegten als ungeheuerliche Unge­ rationsforderungen. Sie erlaubten den
Demobilisierte Soldaten, verzweifelte, aus­ rechtigkeit. Sie vergaßen dabei freilich, Deutschen, jede Mitverantwortung
gemergelte Frauen irrten durch ihr was sie – nach einem vergleichs­ für Kriegsfolgen, Inflation, Arbeitslosig­
schwieriges Leben. weise kleinen Krieg von 1870/1871 mit keit und Wirtschaftskrise von sich zu
Die deutschen Männer hatten umsonst 120 000 gefallenen deutschen und weisen und die Misere fremden, nicht zu­
gelitten. „Wie soll man weiterleben“, französischen Soldaten – Frankreich an letzt angeblich weltweit vernetzten
fragten sie sich, „wenn alles vergeblich Gebietsverlusten und Kontributionen zu­ jüdischen Kräften anzulasten. [...]
war.“ Ihre Frauen hatten umsonst gemutet und dass sie im Januar
Götz Aly, Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit,
gehungert. Mit den Kriegsanleihen, die 1918 der jungen Sowjetunion einen Frie­ Neid und Rassenhass 1800-1933, S. Fischer Verlag Frankfurt/M.
das Bürgertum in vaterländischem den diktiert hatten, der die Härten 2011, S. 152 ff.

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8 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Bürden der Republik

Die Revolution 1918/19 hatte Hoffnungen auf eine demokratische


und soziale Republik geweckt. So deutlich die im November und
Dezember 1918 rasch im ganzen Reich gebildeten Räte für eine
parlamentarische Regierung votiert hatten, so vernehmlich hat­
ten sie zugleich Forderungen nach einer Reform der militärischen
Strukturen sowie nach einer Sozialisierung der Schwerindustrie,
nach der Demokratisierung der Betriebe und einem Acht-Stun­
den-Arbeitstag erhoben. Noch inmitten der revolutionären Wirren
machten die Unternehmer sozialpolitische Zugeständnisse, in­
dem sie den zurückkehrenden Soldaten den alten Arbeitsplatz ga­
rantierten, die freien Gewerkschaften als einzigen Verhandlungs­
partner bei Tarifverhandlungen akzeptierten und die Einführung
des Acht-Stunden-Tages bei vollem Lohnausgleich versprachen.

ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl


Weitergehende Reformen des Wirtschaftslebens blieben jedoch
aus. Der Rat der Volksbeauftragten aus Mehrheitssozialdemokra­
ten (MSPD) und Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), die sich
1917 wegen der Unterstützung des Krieges durch die sozialdemo­
kratische Mehrheit abgespalten hatten, wehrte die Forderungen
nach Sozialisierung der Schwerindustrie ab. Ebenso traute die so­
zialdemokratische Führung in Berlin eher der alten militärischen
Elite zu, die Sicherheit der Republik zu gewährleisten. Sie unter­
ließ es daher, eigene republiktreue Militärverbände aufzubauen.
Stattdessen bildeten sich aus den Gruppen von demobilisierten
Soldaten, die nicht ins Zivilleben zurückkehren wollten, soge­
nannte Freikorps, die im Baltikum oder in den umstrittenen öst­ Im März 1920 putscht die Rechte. Soldaten der Marinebrigade Ehrhardt
lichen Gebieten, die von Polen wie von Deutschen beansprucht verteilen Flugblätter der Regierung Kapp zur Information an die Berliner.
wurden, weiterkämpften. An den Helmen der Freikorpssoldaten befinden sich Hakenkreuze.
Diese Versuche der MSPD, die revolutionäre Dynamik abzu­
bremsen, stießen auf den Widerstand der Linken, die – insbeson­
dere nach Gründung der Kommunistischen Partei am 1. Januar
1919 – immer wieder versuchte,nach dem Muster der bolschewis­
tischen Oktoberrevolution in Russland die Macht zu ergreifen.
Aber auch viele Arbeiter waren von der Politik der MSPD ent­
täuscht, zumal die Berliner Regierung die linken Aufstände mit
brutaler Gewalt durch jene Freikorpsverbände niederschlagen
ließ, die aus ihrer republikfeindlichen, konterrevolutionären
Gesinnung keinen Hehl machten.
Die kurze Einmütigkeit, die sich in den Wahlen zur National­

ullstein bild – Gircke


versammlung am 19. Januar 1919 äußerte, in denen die MSPD
stärkste Partei wurde und zusammen mit dem katholischen
Zentrum und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei
eine verfassungstreue Regierung bilden konnte, war rasch vor­
bei. Die Rechte, ermuntert durch die militärischen Erfolge gegen Dem rechtsradikalen Terror fällt Außenminister Walter Rathenau im Juni
linke Aufständische, glaubte die Zeit reif für den Staatsstreich. 1922 zum Opfer. Tausende nehmen vor dem Reichstagsgebäude Abschied.
Im März 1920 marschierte das Freikorps Ehrhardt mit Unterstüt­
zung des Reichswehrchefs in Berlin, General Walther Freiherr
von Lüttwitz, in die Reichshauptstadt ein. Doch brach der Putsch­ tag gewählt wurde, erlitt die MSPD eine schwere Niederlage,
versuch am zivilen Widerstand der Beamten zusammen, die den während die linke USPD ihre Stimmen mehr als verdoppelte.
Anweisungen der selbst ernannten Regierung nicht folgten. Ein Ebenso gewannen rechte Parteien deutlich an Zustimmung.
Generalstreik im ganzen Reich brachte die Putschisten endgültig Der republikanische Konsens war zerbrochen.
zu Fall; der Staatsstreich von rechts war durch eine republikani­ Und doch fanden auch in der Folgezeit immer wieder ein­
sche Loyalität „von unten“ verhindert worden. drucksvolle Manifestationen zugunsten der Weimarer Republik
Gewerkschaften und streikende Arbeiter sahen nun die Gele­ statt. Nach dem Mordanschlag auf Außenminister Walther Ra­
genheit gekommen, um grundlegende Reformen durchzusetzen, thenau durch rechtsradikale Terroristen am 24. Juni 1922 riefen
und führten den Streik fort. Im Ruhrgebiet übernahmen sogar die Gewerkschaften einen eintägigen Generalstreik aus; überall
bewaffnete Arbeitermilizen örtlich die Macht. Wieder ließ die im Reich demonstrierten Menschen gegen die Terrorpolitik von
Regierung Freikorps, darunter jene Einheiten, die eben noch rechts und für die Republik.
gegen die Republik geputscht hatten, gegen die Streikenden Aber der jungen Republik waren auch schwere Bürden aufer­
marschieren und vor allem im Ruhrgebiet den Aufstand blutig legt, allen voran der Versailler Vertrag. Ohne dass eine deutsche
niederschlagen. Über tausend Tote waren auf Seiten der Auf­ Delegation hatte mitverhandeln können, wurde ihr im Mai 1919
ständischen zu beklagen. Als am 6. Juni 1920 der erste Reichs- das Ergebnis präsentiert, das massive Gebietsabtretungen vorsah,

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Aufstieg 9

was mit einem empfindlichen Verlust von Kohle-, Erzvorkommen sierte mit aller Kraft gegen das „Schanddiktat von Versailles“ und
und industriellen Ressourcen einherging. Westpreußen kam zu nutzte jede Gelegenheit, republiktreue Politiker als „Erfüllungspo­
Polen, Frankreich erhielt Elsass-Lothringen zurück. Die ehema­ litiker“,„Novemberverbrecher“ und „Handlanger der Alliierten“ zu
ligen Kolonien wurden unter das Mandat des Völkerbundes ge­ diffamieren. Auch die Mordanschläge auf den früheren Reichsfi­
stellt, ebenso das Saarland, dessen Bevölkerung fünfzehn Jahre nanzminister und Unterzeichner des Waffenstillstandes Matthias
später entscheiden sollte, ob sie zu Frankreich oder Deutschland Erzberger (Zentrum), den Industriellen und Reichsaußenminister
gehören wollte. Für Oberschlesien wurde eine Volksabstimmung Walther Rathenau (DDP) und andere zielten darauf, im aufge­
im Jahr 1921 beschlossen, in der eine Mehrheit für die Zugehörig­ brachten politischen Klima den Bürgerkrieg zu provozieren.
keit zu Deutschland votierte. Dennoch teilten die Alliierten die
Region und schlugen die industriellen Teile Oberschlesiens Polen
zu. Das künftige deutsche Heer sollte höchstens 100 000 Mann Gründung der NSDAP
umfassen. Dem Reich wurden hohe Reparationszahlungen aufer­
legt, und es hatte zu akzeptieren, dass es die alleinige Kriegsschuld In diesem politischen Umfeld gründeten in München der Eisen­
trug. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Philipp Scheide­ bahnschlosser Anton Drexler und der Journalist Karl Harrer am
mann sagte, dass einem deutschen Politiker die Hand verdorren 5. Januar 1919 die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), eine von vielen
müsse, wenn er diesen Vertrag unterschriebe, und trat zurück. rechtsextremen, völkischen Gruppen, die den Kampf gegen die
Doch die Drohung der Alliierten, in Deutschland einzumar­ „Novemberverbrecher“, gegen den „jüdischen Bolschewismus“
schieren, wenn der Vertrag nicht unterschrieben würde, ließ und Marxismus auf ihre Fahnen geschrieben hatten. In ihrer
der Reichsregierung keine Wahl. Nachdem der Reichstag mehr­ radikalen Ablehnung des Versailler Friedensvertrages 1919 als
heitlich für die Annahme gestimmt hatte, wurde der Vertrag „Diktat“ und „Schande“ waren die Völkischen nicht randständig,
am 28. Juni 1919 vom sozialdemokratischen Außenminister denn die harten Bedingungen des Vertrages lehnten auch weite
Hermann Müller und dem Zentrumspolitiker Johannes Bell im Teile des Bürgertums bis hinein in die Sozialdemokratie ab. In der
Namen der Reichsregierung unterzeichnet. hämischen Kritik am liberalen Rechtsstaat der Weimarer Repu­
Obwohl die britische und die US-amerikanische Regierung die blik und am parlamentarischen System unterschied sich die DAP
Notwendigkeit von Nachverhandlungen über den Zahlungsmo­ wenig von anderen rechten Gruppierungen. Ebenfalls trieb sie
dus der Reparationsforderungen anerkannten und verhindern wie etliche andere rechtsextreme Organisationen ein radikaler
wollten, dass das Deutsche Reich durch eine hohe Schuldenauf­ Antisemitismus um. Was indessen die Nationalsozialisten von
nahme ökonomisch in die Krise geriet, war der Versailler Vertrag anderen Antisemiten unterschied, war die Bereitschaft zur Ge­
eine schwere Belastung für die Republik. Denn die Rechte mobili­ walt. Für Hitler galt nur ein Antisemitismus der Tat.

Antisemitismus logischen Maßnahmen, damit sich nur die Judenfeindlichkeit distanzierte. Der be­
„Besten“ vermehrten und die „Minder­ kannte preußische Historiker Heinrich von
Antisemitismus prägte die Ideologie des wertigen“ sich nicht fortpflanzten, fanden Treitschke formulierte 1879 öffentlich:
Nationalsozialismus, aber Judenfeind­ selbst in der Sozialdemokratie Gehör. „Die Juden sind unser Unglück.“ Die po­
schaft existierte bereits im christlichen Die traditionelle religiöse Judenfeind­ puläre Familienzeitschrift „Die Garten­
Mittelalter in Europa. Juden waren schaft, die sich im 19. Jahrhundert auf­ laube“ veröffentlichte antisemitische Arti­
gezwungen, in eigenen Stadtbezirken zu grund der Emanzipation der Juden in der kel. Über 250 000 Bürger unterstützten
wohnen, mussten bestimmte Kleidung bürgerlichen Gesellschaft auch um den 1881 eine Petition der „Antisemitenliga“,
tragen und unterstanden einem besonde­ Neid auf deren wirtschaftliche Entwicklung die den Ausschluss von Juden aus
ren Judenrecht. Waren es damals reli­ erweiterte, wurde nun auch rassistisch dem öffentlichen Dienst und ein Zuwande­
giöse Vorurteile wie der Vorwurf, Juden bestimmt. Es entstand der moderne Anti­ rungsverbot von Juden aus Osteuropa
hätten Jesus getötet, die den Juden­ semitismus, der glaubt, in den Juden forderte. Zwischen 1893 und 1898 saßen
hass bestimmten, so entstand mit dem eine zersetzende, zerstörerische Rasse zu 16 Abgeordnete antisemitischer Parteien
modernen, naturwissenschaftlichen erkennen, die insbesondere die „arische im Reichstag.
Weltbild seit dem 18. Jahrhundert eine Rasse“ vernichten wollten. Vor allem der Zwar verloren antisemitische Parteien in
neue Dimension der Judenfeindlichkeit. Engländer Houston Stewart Chamberlain den folgenden Jahren an Einfluss, aber
Der Siegeszug, den die Biologie, ins­ verbreitete mit seinem viel gelesenen der Antisemitismus in der Gesellschaft war
besondere Charles Darwins Buch über die Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhun­ keineswegs verschwunden. In den völ­
Entstehung der Arten, im europäischen derts“ diese Ideologie. Chamberlain, der eng kischen, nationalistischen Verbänden, in
Denken nahm, führte dazu, auch Menschen mit der Familie Richard Wagners ver­ denen sich Hunderttausende von Deut­
nach biologischen Kriterien in angeb­ bunden war, traf Hitler Anfang der 1920er­ schen organisierten, gehörte Antisemitis­
lich höher- und minderwertige Rassen ein­ Jahre in Bayreuth und sah in ihm den mus zum politischen Repertoire. Und
zuteilen. Darwins Formulierungen wie kommenden Retter des deutschen Volkes. nicht zuletzt zeigten die öffentlichen Wer­
„natürliche Auslese“ oder „Überleben der Die wirtschaftlichen Turbulenzen, beschriften von zahlreichen deutschen
Tüchtigsten“ („survival of the fittest“) die sozialen Verwerfungen durch Industri­ Badeorten an der Ost- und Nordsee, dass
wurden politisch missbraucht, um angeb­ alisierung und Urbanisierung ließen sie Juden vom Kurbetrieb ausschließen
lich „lebensunwertes Leben“ zu definieren. den Antisemitismus zu einer in allen gesell­ würden, wie tief die alltägliche Juden­
Rassismus war durchaus bis in die Wis­ schaftlichen Schichten aufzufindenden feindschaft in die deutsche Gesellschaft
senschaft hinein verbreitet; die Forderung Ideologie werden, auch wenn sich die eingedrungen war.
nach „Rassereinheit“ und nach erbbio­ Sozialdemokratie offiziell stets von der

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10 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Hitler, der 1919 noch für die Reichswehr tätig war, um die rechts­ wohlhabende Sympathisanten, wie der junge Geschäftsmann
radikale Szene in München zu bespitzeln, erhielt im September Kurt Lüdecke, der Klavierfabrikant Edwin Bechstein oder der
den Auftrag, eine Versammlung der DAP zu besuchen. Drexler Verleger Hugo Bruckmann samt ihrer Ehefrauen, die finanz­
entdeckte rasch das Rednertalent Hitlers und warb ihn an, wie schwache Partei mit zum Teil beträchtlichen Spenden.
auch er in der Gruppe ein Betätigungsfeld für seine politischen Aber auch die Verbindung Hitlers zur Reichswehr kam der
Ambitionen sah. Hitler, der kurz darauf aus der Reichswehr Partei zugute. Durch seinen früheren militärischen Vorgesetz­
ausschied, um sich ganz auf die Parteiarbeit zu konzentrie­ ten Karl Mayr lernte Hitler im Frühjahr 1920 den Hauptmann
ren, wurde zum Hauptredner der Partei; über seine öffentliche Ernst Röhm kennen, der großen Einfluss auf die sogenannten
Agitation – er bestritt jede Woche mehrere Versammlungen – Einwohnerwehren in Bayern besaß, die als bewaffnete Einhei­
gewann die Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, ten zur Bekämpfung revolutionärer Umtriebe nach dem Krieg
wie sie seit Februar 1920 hieß, zunehmend mehr Mitglieder. entstanden waren und denen Anfang 1920 mehr als eine Vier­
Im Winter 1919/1920 arbeiteten Drexler und Hitler das Partei­ telmillion Mitglieder angehörten. Auch finanziell förderte das
programm aus, das im Laufe der nächsten Jahre für unabänder­ Militär die junge Partei. 3000 NSDAP-Broschüren zum Ver­
lich erklärt wurde. Viele der 25 Punkte unterschieden sich in ihrer sailler Vertrag, die der Lehmann-Verlag im Juni 1920 lieferte,
Zielsetzung nicht von anderen völkischen Programmen der Zeit. bezahlte die Abteilung von Hauptmann Mayr. Als Ende 1920
Gefordert wurden die Aufhebung des Versailler Vertrages, der An­ die NSDAP den „Völkischen Beobachter“ übernahm, kamen
schluss Österreichs, die Rückgabe der Kolonien und die Verstaatli­ 60 000 Reichsmark, die Hälfte der erforderlichen Kaufsumme,
chung von Großbetrieben. Für den Mittelstand wurde die Auflö­ aus einem Reichswehrfonds.
sung der Warenhäuser zugunsten der kleinen Gewerbetreibenden Hitler, der sich im Kampf um die Macht in der Partei erfolg­
verlangt, für die Bauern in einer schwammigen Formulierung reich gegen Drexler durchsetzte und im Juli 1921 zum Partei­
eine den „nationalen Bedürfnissen angepasste Bodenreform“. vorsitzenden gewählt wurde, setzte ganz auf Propaganda – das
Von dem damals bekannten völkischen Wirtschaftstheoretiker hieß stets Aufruf zur Tat und Demonstration von Stärke durch
Gottfried Feder stammte die Forderung nach „Brechung der Zins­ Gewalt. Schon 1920 begann die NSDAP einen Saalschutz aufzu­
knechtschaft“, was die Abschaffung von Einkommen aus Zinser­ stellen, um in Prügeleien mit dem politischen Gegner gewapp­
trägen bedeuten sollte. „Arbeit“, vor allem Handarbeit, stand im net zu sein. Aus dieser Truppe bildete sich die Sturmabteilung
Mittelpunkt und die Parole: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. (SA) heraus, wie sie ab Oktober 1921 genannt und von Röhm
Insbesondere zielte das Programm auf die Herstellung einer geleitet wurde. Röhm kümmerte sich darum, die Schläger­
„Volksgemeinschaft“ ohne Juden. Unter Punkt 4 hieß es klipp und truppe in eine paramilitärische Organisation umzuwandeln,
klar: „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksge­ wobei der SA zugute kam, dass ihr aus den Freikorpsverbän­
nosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf den erfahrene und ausgebildete Kämpfer zuströmten.
Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.“ Zum „Deutschen Tag“ im nordbayerischen Coburg am
Auf einer Großveranstaltung Ende Februar 1920 mit rund 14./15. Oktober 1922, einem Aufmarsch der Rechtsradikalen aus
2000 Menschen im Festsaal des Hofbräuhauses präsentierte allen Teilen Deutschlands, erschienen Hitler und die übrige
Hitler das Programm, las die einzelnen Forderungen vor und Parteiführung in einem eigens angemieteten Sonderzug mit
erhielt laut Polizeibericht starken Beifall. Hitler entwarf persön­ rund 800 SA-Männern, die trotz eines polizeilichen Verbots
lich die Parteifahne mit dem Hakenkreuz in einem weißen Kreis in geschlossener Formation marschierten, Hakenkreuzfah­
auf rotem Grund und verband damit absichtlich ein bekanntes nen entrollten und eine Massenschlägerei mit sozialistischen
völkisches Symbol mit der Farbe der Arbeiterbewegung. Bald Arbeitern am Straßenrand provozierten. Obwohl die NSDAP-
war Hitler der häufigste Redner der NSDAP mit mehreren öf­ Delegation zu den kleinsten gehörte, hatte sie sich mit Gewalt
fentlichen Auftritten in der Woche, der mit seinen Ausfällen erfolgreich einen Namen in Nordbayern gemacht. Als sich
gegen die Republik, insbesondere gegen die sozialdemokra­ ebenfalls im Oktober der einflussreiche völkische Politiker
tisch geführte Reichsregierung in Berlin, gegen den Versailler Julius Streicher in Nürnberg mitsamt seiner Anhängerschaft
Vertrag und gegen die Juden überhaupt rasch bekannt und von
einflussreichen, rechten Kreisen protegiert wurde.

Unterstützung für die NSDAP


Bayerische Staatsbibliothek München, Fotoarchiv Hoffmann

Zwar stellte die NSDAP zu dieser Zeit in München nur eine


unter etlichen völkischen Gruppen dar. Aber es gab honorige
und vor allem vermögende Gönner der jungen Partei wie den
Verleger Julius F. Lehmann, der mit medizinischen Fachbü­
chern viel Geld verdiente, das er rechtsextremen Organisati­
onen zukommen ließ, oder Rudolf Freiherr von Sebottendorf,
den Vorsitzenden der sogenannten Thule-Gesellschaft. Diese
war ein exklusiver völkischer Klub, dem unter anderen Julius
F. Lehmann, Gottfried Feder, Rudolf Heß und Hans Frank an­
gehörten, und zu dem andere, wie der einflussreiche Publizist
Dietrich Eckart sowie der spätere NSDAP-Führer Alfred Rosen­
berg, Kontakt hielten. Sebottendorf kaufte, um die völkische
Agitation zu forcieren, die Zeitung „Münchner Beobachter“, Die SA profiliert sich durch Aufmärsche und Massenschlägereien innerhalb der
die im August 1919 ihren Namen in „Völkischer Beobachter“ nationalistischen Szene der Weimarer Republik. Zum „Deutschen Tag“ in Co­
änderte. Immer wieder unterstützten in diesen frühen Jahren burg 1922 wird die Delegation der NSDAP von etwa 800 SA-Männern begleitet.

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Aufstieg 11

der NSDAP unter Hitler anschloss, war die Partei erstmals über 20 000 faschistische „Schwarzhemden“ am 28. Oktober aus
München hinausgekommen und hatte ihre Mitgliederzahl auf verschiedenen Richtungen auf Rom zumarschierten, war
rund 20 000 verdoppelt. der Mythos vom „Marsch auf Rom“ als heldenhafte faschis­
Ein weiteres Ereignis im Oktober 1922 sollte für die jun­ tische Machtergreifung geboren und wirkte sich sofort auf
ge NSDAP prägend werden: Mussolinis „Marsch auf Rom“. die rechten, putschbereiten Gruppen in Deutschland aus. An­
Zwar war hinter den Kulissen in Absprache mit dem italie­ fang November 1922 verkündete der „Völkische Beobachter“,
nischen König die Übergabe der Macht an Mussolini bereits dass nun auch Deutschland einen Mussolini habe: „Er heißt
eine fest verabredete Angelegenheit gewesen, aber als etwa Adolf Hitler“.

Krisenjahr 1923

Hyperinflation schwindelerregende Marke von einer Million. Danach sank der


Wert der Reichsmark ins Bodenlose. Vor allem die sozial Schwa­
Als die Reichsregierung im Herbst 1922 um die Stundung von Re­ chen, Soldatenwitwen, Rentner oder Kriegsinvaliden, waren der
parationszahlungen bat und auch mit den Lieferungen von Koh­ Hyperinflation, die ihre ohnehin kärglichen Renten radikal dezi­
le und Holz in Verzug kam, besetzten französische und belgische mierte, ohnmächtig ausgeliefert. Hingegen minimierte die Hy­
Truppen am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet, um die Lieferung von perinflation ebenso alle Geldschulden. Gerade diejenigen, denen
Kohle und Eisen zu erzwingen. Der daraufhin von der deutschen es mit Geschick und Skrupellosigkeit gelang, sich Geld zu leihen,
Regierung ausgerufene „passive Widerstand“ zerrüttete Wirt­ um damit Sachwerte zu kaufen, konnten glänzende Geschäfte
schaft und Staatsfinanzen und trieb die Geldentwertung in eine machen. Alle antisemitischen Ressentiments gegen angeblich
kaum vorstellbare Dimension. Hatte der Wechselkurs der Mark jüdische Geschäftemacher und Spekulanten wurden wieder vi­
zum US-Dollar im Dezember 1922 noch bei 8000 gelegen, stieg er rulent. Bürgerliche Grundsätze wie: „Gutes Geld für gute Arbeit“
bis zum April 1923 auf 20 000 an und erreichte Anfang August die oder „Sparen heißt das Alter sichern“ zerstoben im Wirbel der
Hyperinflation, die eben nicht nur die materiellen Sparvermö­
gen vernichtete, sondern auch den Glauben an die Gültigkeit der
immateriellen Werte bürgerlicher Gesellschaft. Erst im Novem­
ber 1923 gelang es dem neuen Reichskanzler Gustav Stresemann
von der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP), mit einer
einschneidenden Währungsreform die Hyperinflation zu stop­
pen und wieder die Stabilität des Geldwertes zu erreichen.
Sammlung Haney, Berlin

Rheinlandbesetzung

Politisch geriet der „Ruhrkampf“ zu einer Arena separatistischer


wie nationalistischer Extremisten. Insbesondere erregten die
Reichsmarkschein mit antisemitischem Aufdruck, der den Juden die Ver­ schwarzen französischen Soldaten aus den Kolonien die deut­
antwortlichkeit für die Hyperinflation zuweist. schen Gemüter. Selbst ein in seinem republikanischen Denken
unzweifelhafter Sozialdemokrat wie Reichspräsident Friedrich
Ebert äußerte im Februar 1923, „dass die Verwendung farbiger
Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung
von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der
Rheinländer eine herausfordernde Verletzung der Gesetze euro­
päischer Zivilisation“ sei.
Die französische Seite reagierte auf den zivilen Widerstand mit
Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Ausweisungen. Ende
März wurden bei einer Demonstration in Essen 14 Krupp-Arbeiter
von französischen Truppen erschossen. Als am 26. Mai 1923 der
junge nationalsozialistische Aktivist und ehemalige Freikorpsoffi­
zier Albert Leo Schlageter, der als Führer eines Sabotagekomman­
dos Eisenbahnschienen gesprengt hatte, zum Tode verurteilt und
hingerichtet wurde, stilisierte ihn die NSDAP zum nationalsozia­
listischen Märtyrer. Selbst die Kommunisten versuchten, durch
nationale Rhetorik und Lobreden auf den „jungen Aktivisten“
ullstein bild

Schlageter, der das Richtige gewollt, sich jedoch der falschen Seite
angeschlossen habe, aus der nationalen Welle Gewinn zu ziehen.
Die Hyperinflation lässt die Ersparnisse Millionen Deutscher „über Nacht“ Linke wie Rechte waren bemüht, die Krise radikal für sich zu
wertlos werden. In einer großen Tonne wird Papiergeld gesammelt, das nutzen. Die KPD versuchte im Oktober 1923 mit finanzieller Hil­
unter Aufsicht verbrannt werden soll. fe der Sowjetunion einen Aufstand, der aber nur in Hamburg

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12 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

wenige Tage zu spüren war und kläglich scheiterte. Die NSDAP, distische Verteidigung. Über den Prozess und über die Reden
der in diesen Krisenmonaten über 35 000 neue Mitglieder zu- der Angeklagten wurde ausführlich in den Zeitungen berichtet;
strömten, fühlte sich stark genug, den „Marsch auf Berlin“ zu als am 1. April 1924 das Urteil verkündet wurde, waren die Zu-
wagen. In Großkundgebungen hetzten die Nationalsozialisten schauerbänke des Gerichtssaals voll besetzt. Ludendorff wurde
und andere Organisationen in München gegen die „Novem- freigesprochen, Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt,
berverbrecher“ in Berlin. Zentrale Symbolfigur der völkischen aus der er bereits am 20. Dezember 1924 entlassen wurde. Für
Staatsstreichpläne war General Erich Ludendorff, bei dem seine weitere politische Karriere in Deutschland war weit mehr
sich die Spitzen der paramilitärischen Organisationen trafen von Bedeutung, dass er als österreichischer Staatsangehöriger
und der Hitler nunmehr Reputation auch auf Reichsebene ver- nicht ausgewiesen wurde, was angesichts seiner Straftat ei-
schaffte. Die Ernennung Gustav Ritter von Kahrs zum Staats- gentlich erwartbar gewesen wäre.
kommissar in Bayern mit diktatorischen Vollmachten durch Bei den bayrischen Landtagswahlen im April 1924 erzielte
die dortige rechtskonservative Regierung, verbunden mit der das Wahlbündnis Völkischer Block einen Stimmenanteil von
Erklärung des Ausnahmezustands, fachte die kursierenden 17 Prozent und lag damit gleichauf mit der SPD. Und auch bei
Staatsstreichpläne weiter an. den Reichstagswahlen einen Monat später gaben 16 Prozent
der bayrischen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme den Völ-
kischen, die reichsweit auf 6,5 Prozent der Stimmen kamen und
Hitler-Ludendorff-Putsch mit 32 Abgeordneten, darunter zehn Nationalsozialisten, in den
Reichstag einzogen. Aber trotz des Triumphes vor Gericht und
Im November wagte Hitler in München, die putschbereiten der folgenden, durchaus beachtlichen Wahlergebnisse war klar,
Kräfte vor vollendete Tatsachen zu stellen. Zusammen mit Lu- dass der Weg des Staatsstreiches vorerst an sein Ende gelangt
dendorff heckte er den Plan aus, bei einer Versammlung am war und eine neue politische Strategie ausgearbeitet werden
8. November im Bürgerbräukeller, zu der alle prominenten rech- musste.
ten Politiker erscheinen würden, die Übernahme der Regierung
zu erklären und die zögernde Rechte zum Mitmachen zu zwin-
gen. Doch schlossen sich weder das Militär noch die Polizei dem
Putsch an. Hitler, der glaubte, durch eine Demonstration der
Stärke doch noch zum Erfolg zu kommen, marschierte mit sei- Erste Erfolge
nen Anhängern am Morgen des 9. November durch die Münch-
ner Innenstadt. Vor der Feldherrenhalle wurden die Demons-
tranten von einer Polizeitruppe aufgehalten. Welche Seite zuerst Hitler nutzte die Festungshaft in Landsberg, um die politi-
schoss, konnte nie geklärt werden. Im anschließenden heftigen sche Taktik der NSDAP nach dem Putschdebakel neu abzu-
Schusswechsel kamen vier Polizisten und 14 Putschisten, da- stecken. Dabei kam ihm zugute, dass er einerseits innerhalb
runter Max Erwin von Scheubner-Richter, der vorne Arm in der Partei und der völkischen Szene mittlerweile die Aura ei-
Arm mit Hitler marschiert war, ums Leben. Hätte die Kugel nur nes unbeugsamen Führers errungen hatte, andererseits aus
wenige Zentimeter weiter rechts getroffen, bemerkte der briti- dem Gefängnis heraus nicht in die organisatorischen Tages-
sche Historiker und Hitler-Biograph Ian Kershaw lapidar, wäre geschäfte eingreifen konnte. Also überließ er es der zweiten
die Weltgeschichte anders verlaufen. Führungsriege, die Partei zu verwalten, zog sich offiziell für
Hitler und die anderen Hochverräter wurden verhaftet und eine Zeit aus der Politik zurück und konnte sich sicher sein,
vor Gericht gebracht. Was das endgültige Ende der politischen dass jeder Streit unter den rivalisierenden Gruppen und
Karriere Hitlers und der NSDAP hätte bedeuten müssen, geriet Anführern seinen eigenen Nimbus als Führer nur stärken
indessen zur propagandistischen Umdeutung und Mythologi- würde.
sierung der „Novemberrevolution“ von 1923. Der Vorsitzende Er selbst schrieb während seiner Haftzeit, in der er bequem
Richter besaß offenkundig viel Sympathie für die Putschisten mit nahezu unbeschränkten Besuchs- und Versorgungsmög-
und ließ den Angeklagten breiten Raum für deren propagan- lichkeiten ausgestattet war, den ersten Teil von „Mein Kampf“.
ullstein bild – Heinrich Hoffmann

bpk

Verfrüht und vereitelt: Putschisten um Hitler und Ludendorff in München Komfortable Haftbedingungen in der Festung Landsberg 1924: Hitler mit den Mit-
beim „Marsch zur Feldherrnhalle“ am 9. November 1923 verschwörern Emil Maurice, Hermann Kriebel, Rudolf Heß und Friedrich Weber

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Aufstieg 13

„Mein Kampf“
„Mein Kampf“ umfasste zwei Bände: eine politisch stilisierte Auto­
biographie Adolf Hitlers und eine programmatische Schrift zu
sämtlichen Aspekten der nationalsozialistischen „Weltanschauung“:
eine Abrechnung mit den „Novemberverbrechern“ und dem Parla­
mentarismus, Ausführungen zum völkischen Rassismus, radikalen
Antisemitismus, Antimarxismus, zur „Lebensraum-Philosophie“
und zum Führerkult.
Der erste Band wurde 1925, der zweite Ende 1926 veröffentlicht. Eine
sogenannte Volksausgabe in einem Band erschien 1930. Trotz zu­
nächst eher mäßigen Verkaufserfolgen blieb Hitlers Buch nicht unbe­
achtet. Die Reaktionen reichten von intellektueller Geringschätzung
über harsche Kritik aus dem konkurrierenden völkischen Lager, teils
wohlwollenden Einschätzungen aus konfessionellen Milieus bis hin
zu Bewunderung. Ein „ungelesener Bestseller“, wie Historiker noch

ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl


Mitte der 1960er-Jahre glaubten, war „Mein Kampf“ keineswegs.
Waren schon 1932 nach den Wahlerfolgen der NSDAP beachtliche
90 000 Exemplare verkauft worden, explodierten die Verkaufszahlen
nach der Machtübernahme 1933. Von 1936 an sollte allen neu ver­
mählten Ehepaaren eine Ausgabe als Hochzeitsgeschenk überreicht
werden, was aber keineswegs alle Standesämter taten. Ab 1939 ent­
wickelte sich die Wehrmacht zum Großabnehmer des Buches.
Bis 1945 wurde „Mein Kampf“ in über zehn Millionen Exemplaren ver­
kauft und in 16 Sprachen übersetzt, wodurch der Autor Adolf Hitler
Millionen verdiente und 1933 publikumswirksam auf sein Gehalt als
Reichskanzler verzichten konnte. Dieses Vermögen diente Hitler unter
anderem dazu, Würdenträger des Regimes und Wehrmachtsgeneräle
mit großzügigen Geldgeschenken an sich zu binden. Werbung für „Mein Kampf“ in Mannheim 1934 anlässlich der „Woche des
deutschen Buches“. 1925-1944 lag die Gesamtauflage des Buches bei 10,9 Mio.,
Hitler selbst verdiente an jedem Exemplar zehn Prozent des Erlöses.

Hitlers Weltbild 5. Das innere Ordnungsgefüge der fixiert – und die Eroberung von „Lebens­
Nation mußte zur „Volksgemeinschaft“ raum im Osten“. [...]
[...] Wenn man die starren Koordinaten umgebaut werden [...]. 9. Um den Kampf um die Weltherr­
[von Hitlers] Weltbild [...] systematisch 6. Mit der Etablierung der „Volksge­ schaft, der in diesem wahnhaften
ordnet, stößt man auf zehn axiomati­ meinschaft“ sollte auch der Marxismus, Denken einen so prominenten Platz be­
sche Basisüberzeugungen. den die NS-Bewegung von Anfang saß, auch gegen die Intrigen des
1. Hitler verstand die Geschichte als an erbittert bekämpft hatte, endgültig „Weltjudentums“ durchstehen zu kön­
endlosen sozialdarwinistischen Kampf, überwunden werden. [...] nen, bedurfte das „Dritte Reich“ einer
in dem sich das Recht des Stärkeren, 7. Wie die Zielutopie und die Politik riesigen kontinentalen Machtbasis, die
die natürliche Auslese der Überlegenen, aller Linksparteien abgelehnt wurden, nur durch die imperialistische Erobe­
das Überleben der Tüchtigsten durch­ gehörten auch Liberalismus und rung von „Lebensraum“ in Rußland ge­
setzte. Der Krieg wurde als „Vater aller Demokratie in die Rumpelkammer der wonnen werden konnte. [...]
Dinge“ glorifiziert. So gesehen verstand Geschichte. Die Republik und der 10. Judenvernichtung und Lebensraum­
Hitler seine Politik zuerst als Kriegser­ Parlamentarismus mußten einer auto­ eroberung – sie gehörten zu den essen­
klärung, dann als Kriegsführung gegen ritären Staatsform weichen. Dank tiellen Bestandteilen von Hitlers Gegen­
die bestehende Welt und die vorherr­ dieser antiliberalen und antidemokra­ warts- und Endzeitvorstellung. Nach
schende Weltauffassung. tischen, antirepublikanischen und dem Armageddon der Juden, das der
2. In diesem welthistorischen Kampf antiparlamentarischen Grundhaltung „Führer“ herbeizuführen bestimmt sei,
besaß das „arische“ Volk der Deutschen wurde der Nationalsozialismus zum öffnete sich eine grandiose Zukunft:
dank seiner unübertrefflichen Rassequa­ Erben aller völkischen und rechtsradikalen die Weltherrschaft der „Arier“, vertre­
lität im Prinzip die Überlegenheit, die Strömungen, aber auch vieler in die ten durch das „Großgermanische Reich
ihm das Anrecht auf die Eroberung der Gesellschaft tief hineinreichender anti­ Deutscher Nation“.
weltpolitischen Führung gewährte. [...] moderner Traditionen.
3. Innerhalb dieses von der Natur pri­ 8. Die höchste Priorität genossen jedoch Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914­
vilegierten Rassestaats galt das Führer­ zwei weitere Zielvorstellungen: die 1949, C. H. Beck, München 2003, S. 577 ff.

prinzip. [...] „Entfernung der Juden“ – dieses „unver­


4. Als Handlungseinheit und Loyali­ rückbar“ feststehende „letzte Ziel“
tätspol, als Integrationszentrum und des Antisemitismus hatte Hitler, wie erin­
Lebenssinn besaß die Nation den höchs­ nerlich, schon in seinem ersten politi­
ten Wert. [...] schen Schriftstück vom September 1919

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14 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Als Hitler am 20. Dezember 1924 das Gefängnis verließ, be- Am 16. Februar 1925 wurde in Bayern das Verbot der NSDAP
fand sich die völkische Bewegung auf einem Tiefpunkt. In den und des „Völkischen Beobachters“ wieder aufgehoben;
Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924 hatte die Nationalso- allerdings hatte Hitler außerhalb Bayerns weiterhin ein
zialistische Freiheitsbewegung, einer der mannigfaltigen Ver- öffentliches Redeverbot. Sogleich verkündete er die Neu-
suche einer völkischen Einheitsorganisation unter Einschluss gründung der Partei zum 27. Februar 1925, der nur beitreten
der Nationalsozialisten, nur noch drei Prozent der Stimmen konnte, wer einen erneuten Mitgliedsantrag stellte. Damit
erhalten und damit real über eine Million Wähler verloren; die hatte die Parteiführung eine zentrale Mitgliederkontrolle in
völkischen Führer hatten sich als wenig erfolgreich erwiesen der Hand.
und waren untereinander zerstritten. Während es den bürger- Erneut kam Hitler ein günstiger Zufall zugute. Am 28. Fe-
lichen Weimarer Politikern schien, als sei die völkische Politik bruar 1925 starb Friedrich Ebert, der erste und einzige sozial-
erledigt, bot deren Krise Hitler die Chance eines Neubeginns demokratische Reichspräsident der Weimarer Republik. So-
unter seiner ausschließlichen Führung. zialdemokraten, Liberale und katholisches Zentrum einigten
sich auf den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx als Kandida-
ten, dessen Sieg sicher schien. Für die politische Rechte ging
der 78-jährige Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg
ins Rennen. Hitler hatte Ludendorff überredet, im ersten
Wahlgang als Kandidat der extremen Rechten anzutreten,
was diesem schmeichelte, aber für ihn in einer deutlichen
Niederlage endete. Ludendorff erhielt nur ein Prozent der
Stimmen, das war noch einmal ein Rückgang gegenüber
der Reichstagswahl 1924. In der Stichwahl siegte Hinden-
ullstein bild – Archiv Gerstenberg

burg gegen Marx, weil es ihm gelang, über das konservative


protestantische Milieu in Nord- und Ostdeutschland hinaus
auch katholische Kreise in Süd- und Westdeutschland zu ge-
winnen.
Hitlers Macht konzentrierte sich nach wie vor auf Mün-
chen und Süddeutschland. Außerhalb Bayerns war er auf
einflussreiche Parteiführer wie Gregor Straßer angewiesen,
Sitzung der Organisationsleiter und Gauführer der NSDAP zum Auftakt der die Arbeitsgemeinschaft der nordwestdeutschen Gaulei-
des „Führertages“ der Partei in der NSDAP-Hauptgeschäftsstelle München ter, also der dortigen regionalen Parteiführer, anführte, ein
am 30. August 1928 lockeres Bündnis eher „linker“ Strömungen in der NSDAP.
bpk / Heinrich Hoffmann
bpk / Heinrich Hoffmann

Der Vertraute des „Führers“: der frühere Bankangestellte und spätere Pro- Führerkult: Der „Hausfotograf“ Hitlers, Heinrich Hoffmann, wusste ihn
pagandaminister Joseph Goebbels, hier 1928 bei einer Rede in Bernau gekonnt in Szene zu setzen – hier im „Braunen Haus“, München 1930.

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Aufstieg 15

Dessen Bruder, Otto Straßer, gab die Zeitschrift „Der Natio- Wähler als im Reichsdurchschnitt der NSDAP ihre Stimme
nale Sozialist“ heraus und vertrat eine betont sozialistische gegeben. Die Parteiführung zog daraus den folgerichtigen
Linie. Auch der junge Joseph Goebbels gehörte als Redak- Schluss und verlagerte das Schwergewicht der Propagan-
teur der „Nationalsozialistischen Briefe“ zur parteiinternen da auf die ländlichen Gebiete und kleineren Städte, um die
„Linken“. Erst im Frühjahr 1926 gelang es Hitler, auf einer Bauern und den Mittelstand zu gewinnen.
Parteiführertagung in Bamberg diese konkurrierenden Strö- Die Lage der Landwirtschaft war in dieser Zeit sehr ange-
mungen zurückzudrängen, nicht zuletzt weil Goebbels mit spannt. Durch die langjährige Schutzzollpolitik war zwar
Begeisterung auf Hitlers Seite wechselte. Nun erklärte Hitler der Import billigen Getreides vom Weltmarkt abgewehrt
jede programmatische Diskussion für beendet. und die deutsche Landwirtschaft geschont worden, diese
Nach Ludendorffs Debakel und dem Sieg über die innerpar- zugleich aber davon abgehalten, ihre Produktionsmetho-
teilichen Konkurrenten galt Hitler als anerkannter „Führer“, den an das Weltmarktniveau anzugleichen. Die unabänder-
der für sich die absolute Herrschaft innerhalb der NSDAP lich notwendige Modernisierung der Agrarproduktion war
beanspruchte. Immer stärker inszenierte die Partei einen
„Führerkult“ um Hitler. Parteimitglieder hatten nun mit
„Heil Hitler“ zu grüßen; die Jugendorganisation wurde „Hit-
lerjugend“ genannt; Hitlers Wort galt in der Partei als unum-
stößlich; das Parteiprogramm verschmolz immer mehr mit
seiner Person. Insbesondere Goebbels, der 1930 Reichspropa-
gandaleiter wurde, stellte die Außenwirkung der Partei ganz
entscheidend auf die Person Hitlers ab, der nicht als „Füh-
rer“ der NSDAP, sondern des ganzen Deutschland präsentiert

Amtsarchiv Büsum-Wesselburen
wurde. Hitlers Machtstellung gründete damit zum einen in
der unumstrittenen Führungsrolle innerhalb der NSDAP,
zum anderen in der außergewöhnlichen symbolischen Po-
sition eines „Führers“. Die Führererwartung breiter gesell-
schaftlicher Kreise, die sich Orientierung erhofften, traf auf
den bewusst inszenierten Führerkult, den die Propaganda
der Partei unaufhörlich betrieb.
Zusätzlich entstand in den folgenden Jahren ein Netzwerk Auf dem Land waren die Nationalsozialisten zunächst erfolgreicher als in
von Berufs- und Sonderorganisationen um die NSDAP herum. den Städten. NSDAP-Treffen mit selbstgemalten Hakenkreuzfahnen im
Neben der „Hitler-Jugend“ gründeten sich 1926 der „National- Watt vor Büsum, Juli 1930.
sozialistische Deutsche Studentenbund“, 1928 der „Bund Na-
tionalsozialistischer Juristen“, 1929 der „Nationalsozialisti-
sche Deutsche Ärztebund“ und der „Kampfbund für Deutsche
Kultur“, 1929 der „Nationalsozialistische Schülerbund“, 1930
der „Agrarpolitische Apparat“ und die „Nationalsozialistische
Betriebszellenorganisation“ (NSBO) (siehe auch Schaubild S. 62).

Agitation auf dem Land

Aber noch stand die NSDAP am Beginn ihres politischen Auf-


stiegs. Sieger der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 waren
die Sozialdemokraten und die Kommunisten. Die SPD wur-
de mit knapp 30 Prozent der Stimmen stärkste Partei und
erreichte damit ihr bestes Wahlergebnis seit 1919; die KPD
erhielt gut zehn Prozent. Dagegen verlor die Deutschnatio-
nale Volkspartei (DNVP) fast ein Drittel ihrer Wähler und
kam nur noch auf gut 14 Prozent. Die NSDAP, die erstmals
allein antrat, erreichte spärliche 2,6 Prozent der Stimmen,
konnte aber dennoch, da es in der Weimarer Republik kei-
ne 5-Prozent-Sperrklausel gab, zwölf Abgeordnete in den
Reichstag entsenden.
Vor allem in den Städten, sieht man einmal von München,
Nürnberg, Koblenz und Weimar ab, wo sie jeweils über
zehn Prozent erreichte, waren die Ergebnisse für die NSDAP
miserabel. In Berlin errang sie zwar öffentliche Aufmerk-
samkeit, aber noch keine Wählerstimmen und erzielte nur
1,6 Prozent. Auf dem Land sah die Lage allerdings anders
ullstein bild

aus. In Franken und Oberbayern lagen die Stimmanteile


deutlich über dem Durchschnitt, aber auch in den ländli-
chen Regionen Norddeutschlands, wo sie bislang kaum ak- Wahlkampfwerbung per Lautsprecherwagen zum zweiten Wahlgang der
tiv gewesen war, hatten deutlich mehr Wählerinnen und Reichspräsidentenwahl 1932

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


16 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

nun – mit der Öffnung der Märkte in der Weimarer Repu­ in den ländlichen Gebieten verstärkt dazu über, in den kleinen
blik – verbunden mit einem Anstieg der Preise für Maschi­ und mittleren Orten Präsenz zu zeigen und Stärke zu demons­
nen, Kunstdünger und Geräte und zwang viele Bauern, trieren. Dazu wurden regional SA-Einheiten zusammengezo­
Kredite aufzunehmen. Zugleich verfielen die Erzeugerpreise gen, die dann in geschlossener Formation durch die Dörfer
aufgrund einer weltweiten Überproduktion insbesondere marschierten.
von Getreide. Da zahlreiche Höfe nicht mehr in der Lage Sicher bedeutete ein solches Spektakel für die Dorfbevöl­
waren, die Zinsen, geschweige denn den Kredit selbst, ab­ kerung auch eine willkommene Abwechslung, vergleich­
zubezahlen, waren Zwangsversteigerungen die Folge. Wie bar mit dem Jahrmarkt, einer Filmvorführung oder einem
in Schleswig-Holstein, wo die „Landvolkbewegung“ Zehn­ Zirkusbesuch. Zugleich aber sorgte der stereotype Ablauf,
tausende mobilisierte und in einen, zum Teil gewalttätigen der immer wieder Gelegenheit zu gezielten Gewaltausbrü­
Widerstand trieb, setzten sich auch in Ostpreußen die Bau­ chen bot, dafür, dass der jeweilige Ort für Stunden von der
ern zur Wehr. SA regelrecht beherrscht wurde und die normale Ordnung
Die militante Aufkündigung staatsbürgerlicher Loya­ des Dorfes außer Kraft gesetzt war: Gefallenenehrung vor
lität darf nicht unterschätzt werden. Denn sie war Aus­ dem örtlichen Kriegerdenkmal, Propagandamarsch durch
druck dafür, wie sich der Hass gegen das Weimarer „Sys­ die Kleinstadt, öffentliche Kundgebung, Standkonzert der
tem“ verstärkte, das anscheinend nicht in der Lage war, die SA-Kapelle, abendliche Saalveranstaltung und schließlich
wirtschaftliche Not zu lindern und die bedrängten Bauern nächtlicher Fackelmarsch und Zapfenstreich.
gegen die ruinösen Ansprüche der Gläubiger zu schützen.
Die staatliche Pflicht zur Zwangsvollstreckung, wenn der
Gläubiger vor Gericht die Eintreibung seiner Schulden er­ Propaganda
stritten hatte, erschien den Betroffenen als Parteinahme
des bürgerlichen Staates für das anonyme, kalte, „raffende“ Die Rednerveranstaltung bildete die Basis der politischen
Kapital. Der rasante Aufstieg der Nationalsozialisten inner­ Arbeit. 1928 verfügte die NSDAP über reichsweit 300 Red­
halb weniger Jahre ist daher nicht allein mit der sozialen ner, die in diesem Jahr allein 20 000 Veranstaltungen
Misere zu erklären, sondern bedurfte auch dieser politi­ bestritten. Noch im selben Jahr wurde eine zentrale Red­
schen Ablösung aus der Loyalität zur bürgerlichen Rechts­ nerschule geschaffen, mit deren Hilfe es in den nächsten
ordnung und der Hinwendung zu Selbsthilfe und Gewalt. beiden Jahren gelang, die Zahl der Redner bis zur Reichs­
Ende 1928 schilderte die Wochenzeitung des „Centralver­ tagswahl 1930 auf etwa tausend zu verdreifachen. Seither
eins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) unter führte die NSDAP, was die Versammlungsdichte betraf, die
der Überschrift „Nationalsozialistischer Terror! Flaches Land Statistik vor den Kommunisten und Sozialdemokraten an.
und Kleinstadt werden besonders bearbeitet“ über mehrere Gerade in der Provinz traten nationalsozialistische Redner
Seiten hinweg die Gewaltaktionen gegen Juden im Deut­ auf. Eine Denkschrift des Preußischen Innenministeriums
schen Reich, wobei neben Bayern besonders das angren­ aus dem Mai 1930 konstatierte, dass kaum ein Tag vergehe,
zende sächsische Vogtland, das Rheinland, Hannover und an dem nicht selbst in den entlegenen Bezirken mehrere
Ostfriesland, Groß-Berlin und Ostpreußen herausgehoben nationalsozialistische Versammlungen stattfänden. Die
wurden. In der Tat ging die NSDAP aufgrund der Wahlerfolge Redner seien gut geschult, gingen geschickt mit ihren The-

Bundesarchiv, Bild 146-1982-094-32

SA-Aufmarsch in Spandau 1932. Vorn marschieren SA-Leute, die in Kämpfen mit dem politischen Gegner verwundet wurden.

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


Aufstieg 17

die „internationale Hochfinanz“ oder die bürgerlichen


Parteien bekräftigt wurden, dominierten die Wahlkämpfe
1928 und 1930, während danach Zukunftsversprechen wie
„Arbeit und Brot“ und die Fokussierung auf Hitler die Pro­
paganda beherrschten. (siehe auch S. 18 ff.)
Inhaltlich richtete sich die NS-Propaganda in den Wahl­
kämpfen 1928 und 1930 gegen die Sozialdemokraten, denen
Verrat wegen ihrer Zustimmung zum Versailler Vertrag, Kor­
ruption und Bonzentum vorgeworfen wurde. Als „Büttel der
jüdischen Hochfinanz“ treibe die SPD Deutschland in den
Abgrund. Nicht zuletzt mobilisierten die Nationalsozialis­
ten im „Kampf gegen den Marxismus“ die antikommunis­
tischen Ängste des Bürgertums auch gegen die Sozialdemo­
kraten. Zwar stand der Antisemitismus nicht ausdrücklich
in der Propaganda im Vordergrund, aber Weimarer Repu­
ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl

blik, Demokratie und Judentum wurden im „Kampf gegen


das System“ untrennbar miteinander verknüpft. Im Reichs­
tagswahlkampf 1930 wurden die politischen Repräsentan­
ten der Republik als Juden dargestellt und die Forderung
gestellt: „Deutsches Volk, Du hast zu wählen“.
Ein zunehmend wichtiger werdendes Element in der Pro­
paganda der Partei wurde die Person Adolf Hitler selbst.
Mochte es auch noch weiterhin politische Richtungskämp­
fe und Machtauseinandersetzungen zwischen Partei- und
SA-Führern gegeben haben, an der Rolle Hitlers als „Führer“,
der das divergierende völkische Spektrum als Symbol der
Rednerveranstaltungen bildeten die Grundlage der politischen Arbeit. Einheit verkörperte, rüttelte niemand mehr. Joseph Goeb­
Wahlkundgebung der NSDAP in Berlin 1932 bels und Rudolf Heß bemühten sich ihrerseits, den „Führer-
Mythos“ (Ian Kershaw) zu festigen und auszubauen.
Dass es eine lange deutsche Führertradition gab, die über
men auf die Zuhörer ein und sorgten nach den Beobach­ Bismarck, Friedrich II., Luther bis zum Kaiser Barbarossa
tungen der Polizei für fast durchweg überfüllte Säle und zurückreichte, und nach der Katastrophe des Ersten Welt­
Beifall des Publikums. Versammlungen mit 1000 bis 5000 kriegs erst recht nach einem willensstarken, weitsichtigen,
Teilnehmern seien in den größeren Städten eine tägliche tatkräftigen „Führer“ verlangt wurde, kam der Inszenierung
Erscheinung. des Hitlerbildes durchaus entgegen. Zudem besaß er im Un­
Die zweite wichtige Propagandaform waren die Stra­ terschied beispielsweise zum greisen Reichspräsidenten
ßendemonstrationen in den Städten und Werbemärsche Hindenburg nicht nur den Vorteil, jung zu sein, sondern vor al­
in der Provinz durch die SA. „Die einzige Form, in der sich lem als ein „Mann aus dem Volk“ zu gelten, „einer von uns“ zu
die SA an die Öffentlichkeit wendet“, hieß es im SA-Befehl sein, der zeigt, was „in uns steckt“, ein Außenseiter jenseits des
„SA und Öffentlichkeit (Propaganda)“ vom November 1926, politischen Alltagsbetriebes des Kompromisses, jemand, der
„ist das geschlossene Auftreten. Dieses ist zugleich eine der aus der Routine ausbricht und das Unvorgesehene tut, „ins­
stärksten Propagandaformen.“ Neben den Parolen, Kund­ tinktiv“ Entscheidungen trifft und etwas wagt.
gebungen und Flugblättern sollte vor allem der SA-Mann Die Mobilisierung der Partei wurde durch die Krise der
selbst das „junge Deutschland“ verkörpern. Weimarer Republik unterstützt. Der weltweite Konjunktur­
Massenveranstaltungen und Demonstrationen waren rückgang ließ auch in Deutschland die Zahl der Arbeitslo­
nicht bloß politische Manifestationen, sondern überlegte sen steigen. Im Februar 1929 waren es erstmals über drei
und organisierte Inszenierungen, die Macht und Überle­ Millionen, was die KPD glauben machte, mit einem schar­
genheit vermitteln sollten. Komplexe Sachverhalte wurden fen Linkskurs die Arbeitermassen revolutionär mobilisieren
auf einfache Slogans und eindeutige Symbole reduziert. zu können. Trotz des Demonstrationsverbots, das der sozi­
Nicht nur bei der NSDAP, die gesamte politische Auseinan­ aldemokratische Polizeipräsident von Berlin, Karl Friedrich
dersetzung in der Weimarer Republik war ganz wesentlich Zörgiebel, nach blutigen Auseinandersetzungen zwischen
von einem neuen Bildmedium geprägt: dem Plakat, das, in Kommunisten und Nationalsozialisten im Dezember 1928
hoher Auflage gedruckt, massenhaft vor allem in den Städ­ verhängt hatte, demonstrierte die KPD am 1. Mai 1929 und
ten verbreitet werden konnte. Auf einem Plakat konnten lieferte sich schwere Straßenschlachten mit der Polizei.
Bild und Text, Slogan und Symbol, Form und Farbe in wirk­ Über 30 Tote, 194 Verletzte und über 1200 Verhaftungen
samer Weise konzentriert werden. „Unser Krieg wird in waren die Folge dieses „Blutmai“, wie er in der Agitation
der Hauptsache mit Plakaten und Reden geführt“, schrieb der KPD anschließend hieß.
Goebbels am 1. März 1932 in sein Tagebuch. Im Reichstags­ Zudem wurde die Reparationsfrage neu aufgerollt, als im
wahlkampf im Juli 1932 ließ allein die Hamburger NSDAP Juli 1929 der sogenannte Young-Plan zwischen den Alliierten
über 77 000 Plakate kleben. Gewalttätige Parolen wie „Zer­ und der deutschen Reichsregierung unterzeichnet wurde,
schmettert den Weltfeind“ (1928) oder „Haut sie zusam­ mit dem Reparationszahlungen bis in das Jahr 1988 hinein
men!“ (1930), die durch die Darstellung von kraftstrotzen­ vereinbart worden waren. Zwar hatte die deutsche Delegati­
den Männern mit zum Schlag erhobenen Hämmern gegen on durchaus einiges zugunsten des Reiches in den Verhand-

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ullstein bild 18 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Reichspräsidentenwahl 1932: Großflächige Plakate werben für Hitler und Hindenburg.

lungen erreicht, aber die deutsche Rechte, einschließlich der vollmacht des Reichspräsidenten; die parlamentarische De­
NSDAP, machte dessen ungeachtet mit aller Gewalt gegen mokratie war faktisch ausgesetzt.
den Young-Plan mobil. Als am 24. Oktober 1929 („Schwar­ Insgesamt hatte sich die politische Landschaft mittlerweile
zer Freitag“) die internationalen Börsen zusammenbrachen nach rechts verschoben. In der Deutschnationalen Volkspartei,
und ein weltweites wirtschaftliches Erdbeben auslösten, die in den Reichstagswahlen 1928 zwar fast ein Drittel ihrer
war die tiefe ökonomische wie soziale Krise unübersehbar Wähler verloren hatte, aber dennoch nach der SPD zweitstärks­
geworden. te Fraktion des Reichstags blieb, hatte der rechtsnationalisti­
sche Chef eines weit verzweigten Presse- und Filmkonzerns,
Alfred Hugenberg, die Wahlniederlage genutzt, um die bishe­
Wahlerfolg 1930 rige nationalkonservative Parteiführung abzulösen und sich
an die Spitze der Partei zu stellen. Auch im katholischen Zen­
In dieser Situation erweckte die politische Klasse in Berlin trum übernahm mit dem Trierer Prälaten Ludwig Kaas eine
keineswegs den Anschein, der schwierigen Lage gewachsen deutlich national-autoritäre Figur die Führung der Partei und
zu sein. Im März 1930 brach das sozialdemokratisch geführte drängte den sozialen Katholizismus an den Rand. Und wer die
Kabinett, das sich auf eine Reichstagsmehrheit von SPD, DDP, Wahlen in jenen Monaten aufmerksam beobachtete, konnte
DVP und Zentrum hatte stützen können, an seinen inneren den unaufhörlichen Aufstieg der NSDAP kaum übersehen.
politischen Widersprüchen auseinander. Die nachfolgende Bei den Landtagswahlen in Sachsen im Mai 1929 stieg der
Regierung unter dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning Anteil der NSDAP-Stimmen von 1,6 Prozent auf fünf Pro­
brauchte sich nicht mehr, so die Zusage des Reichspräsiden­ zent, bei den badischen Landtagswahlen im Oktober 1929
ten Hindenburg, um parlamentarische Mehrheiten zu küm­ erreichte sie sieben Prozent und hatte damit die Zahl ihrer
mern, sondern konnte mit Notverordnungen aufgrund des Wähler versiebenfacht. In Berlin wählten einen Monat spä­
Artikels 48 regieren, der laut Verfassung nur bei Gefahr der ter über 130 000 Wähler, knapp sechs Prozent, die National­
öffentlichen Sicherheit und Ordnung angewandt werden sozialisten. Damit zogen erstmals 13 NSDAP-Abgeordnete
durfte. Als eine Mehrheit des Reichstags am 16. Juli 1930 von in die Berliner Stadtverordnetenversammlung ein. Und im
ihrem Verfassungsrecht Gebrauch machte und die ersten Not­ Dezember 1929 gewann die Partei in Thüringen über elf
verordnungen zu Steuerfragen zurückwies, löste Brüning mit Prozent der Stimmen, was dazu führte, dass ein Nationalso­
einer Vollmacht Hindenburgs den Reichstag auf und setzte zialist, Wilhelm Frick, als Minister für Inneres und Volksbil­
Neuwahlen für den 14. September 1930 fest – eine klare Miss­ dung Mitglied in einer Landesregierung wurde. Als im Juni
achtung der verfassungsmäßigen Rechte des Parlaments. Von 1930 erneut Landtagswahlen in Sachsen notwendig wurden,
nun an regierten bis 1933 autoritäre Präsidialkabinette ohne verdreifachte die NSDAP ihr Vorjahresergebnis nahezu auf
parlamentarische Mehrheit allein mit der Notverordnungs­ nunmehr über 14 Prozent.

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Aufstieg 19

Im Wahlkampf für die Reichstagswahlen im September 1930, der


von Joseph Goebbels als frisch ernanntem Reichspropagandalei­
ter geführt wurde, waren die Nationalsozialisten überaus aktiv.
Im Sommer fanden bis hin in die entlegensten Orte Wahlveran­
staltungen der NSDAP statt. Allein in den letzten vier Wochen
vor dem Wahltermin waren nicht weniger als 34 000 Versamm­
lungen angesetzt. In seinen Reden griff Hitler die parlamenta­
rische Demokratie und die Parteien scharf an, die allesamt nur
Interessen vertreten würden, während die NSDAP für die ganze
„Volksgemeinschaft“ stünde.
Trotz aller Anzeichen war das Ergebnis der Reichstagswahlen
am 14. September 1930 für viele Beobachter ein Schock. Wäh­
rend die SPD im September 1930 zwar Stimmen verlor, mit 24,5
Prozent aber immer noch stärkste Reichstagsfraktion blieb und
die KPD ihren Anteil auf 13,1 Prozent steigern konnte, erlitt das

Bundesarchiv, Plak 002-015-022 / Grafiker: Herbert Rothgaengel


bürgerliche Lager dramatische Verluste. Dagegen übertraf der
Erfolg der NSDAP selbst die eigenen Erwartungen. Ihre Stim­
menzahl stieg von gut 800 000 auf über 6,4 Millionen, das ent­
sprach einem Anteil von 18,3 Prozent. Damit wurde die NSDAP
auf Anhieb zweitstärkste Partei und zog mit 107 Abgeordneten
in den Reichstag ein – ein politischer Erdrutsch, wie es ihn in
der Geschichte der parlamentarischen Wahlen in Deutschland
bis dahin noch nicht gegeben hatte.

Wählerinnen und Wähler der NSDAP

Woher kamen die Stimmen für die NSDAP? Erstens konnten


die Nationalsozialisten stärker als andere Parteien bisherige
Nichtwähler, vor allem in den ländlichen Wahlkreisen, mo­ Das Plakat ist das neue Bildmedium der Weimarer Zeit. Damit
bilisieren und profitierten vom generellen Anstieg der Wahl­ kämpfen rechte Kräfte 1929 gegen den Young-Plan ...
beteiligung. Hatten 1928 gut 31 Millionen Bürgerinnen und
Bürger ihre Stimme abgegeben, waren es im Sommer 1932
knapp 37 Millionen, bei den Märzwahlen 1933 sogar 39 Mil­
lionen. Rund ein Viertel derjenigen, die 1930 für die NSDAP
votierten, waren zwei Jahre zuvor nicht zur Wahl gegangen.
Zweitens konnten die Nationalsozialisten in hohem Maße
Stimmen aus dem deutschnationalen und rechtsbürgerlichen
Lager abziehen, wie die drastischen Verluste der Deutschnatio­
nalen Volkspartei DNVP und der Deutschen Volkspartei DVP
zeigten. Die DNVP, die im Dezember 1924 mit über sechs Mil­
lionen Stimmen bei mehr als zwanzig Prozent gelegen hatte,
erreichte jetzt gerade einmal sieben Prozent; die DVP halbierte
im selben Zeitraum ihre Stimmenzahl und kam auf nur noch
knapp fünf Prozent. Überall dort, wo diese Parteien Stimmen
verloren, gewannen die Nationalsozialisten überdurchschnitt­
lich hinzu. Neben den bisherigen Nichtwählern speiste sich der
Erfolg der NSDAP vor allem aus diesem Wählerreservoir. Der
Zerfall des bürgerlich-protestantischen Lagers, das nicht mehr
in der Lage war, kontinuierliche politische Bindungen herzu­
stellen, begünstigte das Image der NSDAP als einer jungen
Volkspartei, die klassen- und schichtenübergreifend die deut­
sche „Volksgemeinschaft“ schaffen wollte.
Entgegen einer immer noch landläufigen Meinung waren es
keineswegs die Frauen, die Hitler und der NSDAP zum Aufstieg
verhalfen. Zwar erzielten die Nationalsozialisten bei den Wäh­
lerinnen einen überdurchschnittlichen Stimmenzuwachs. Aber
Frauen gehörten, obwohl sie deutlich mehr Wahlberechtigte
stellten als die Männer, eher zu den Nichtwählern. Und wenn sie
zur Wahl gingen, stimmten sie mehr für die konservativen Par­
teien der Mitte als für die Radikalen auf der rechten oder linken
Seite. Zwischen 1924 und 1930 wurde die NSDAP deutlich weni­
bpk

ger von Frauen gewählt als von Männern. Nach 1932 änderten ... und die NSDAP präsentiert sich 1932 als Baumeister der Zukunft.

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20 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Bundesarchiv, Plak 002-016-060 / Grafiker: Felix Albrecht


bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Heinrich Hoffmann

„Unser Krieg wird in der Hauptsache mit Plakaten und Reden geführt“, so Joseph Goebbels 1932. Ehemalige Weltkriegsteilnehmer,
Bauern, Frauen, Arbeiter, Angestellte und Jungakademiker werden umworben – in der Weltwirtschaftskrise auch die von Armut
bedrohten Wählerschichten. Vielfach genügt der kommentarlose Hinweis auf Hitler – Beweis für dessen gestiegene Popularität.
bpk / kunstbibliothek, SMB / Dietmar Katz
bpk

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Aufstieg 21

jedoch viele Wählerinnen ihre Meinung, und der Zustrom weib­


licher Stimmen für die Nationalsozialisten, vor allem bei den
Reichstagswahlen im März 1933, trug ohne Zweifel zur nochmali­
gen Steigerung der nationalsozialistischen Stimmenzahl bei.
Sehr schwer tat sich die NSDAP in den katholischen Gegen­
den. Deutschland war zu gut zwei Dritteln protestantisch und
einem Drittel katholisch geprägt, und im Vergleich zur Bundes­
republik zeichnete sich die Weimarer Republik noch durch eine
hohe konfessionelle Homogenität in den jeweiligen Regionen
aus. Landkreise mit jeweils über 90 Prozent der einen oder an­
deren Konfession stellten durchaus keine Seltenheit dar, son­
dern waren eher die Regel. Aufgrund der Minderheitsposition,
die durch die staatlich-protestantische Diskriminierungspolitik
Bundesarchiv, Plak 002-016-047 / Grafiker: Mjölnir; [Hans Schweitzer]

von Reichskanzler Otto von Bismarck Ende des 19. Jahrhunderts,


den sogenannten Kirchenkampf, verstärkt worden war, hatte
sich ein eigenes katholisches Milieu mit Vereinen, Wertnormen
und nicht zuletzt einer eigenen politischen Partei, dem Zen­
trum, gebildet. So war es auch noch in der Weimarer Republik für
einen deutschen Katholiken geboten, nicht nach Schicht, Klasse
oder Region als vielmehr nach konfessioneller Zugehörigkeit zu
wählen. Keine andere Partei hatte eine solche Stabilität ihrer
Wähler vorzuweisen wie das Zentrum und die regionale Bayri­
sche Volkspartei. Noch bei den letzten Wahlen der Weimarer Re­
publik im März 1933 konnten diese beiden Parteien über vierzig
Prozent der katholischen Wähler, und damit eine klare Mehr­
heit der praktizierenden Katholiken, an sich binden. Allerdings
war der Zenit der Stabilität des katholischen Milieus damit be­
reits überschritten, und nach 1933 erodierte die konfessionelle
Bindungskraft des politischen Katholizismus.
Weit mehr Erfolg hatten die Nationalsozialisten dagegen in
den protestantisch geprägten Gegenden. Bei allen Wahlen nach
1928 ist ein starker statistischer Zusammenhang zwischen dem
Anteil evangelischer Wähler und den Wahlerfolgen der NSDAP
zu beobachten. Kein anderes Sozialmerkmal hat den Erfolg der
NSDAP bei den Wahlen in der Weimarer Republik so beeinflusst
wie die Konfession. 1930 stimmten doppelt so viele Protestan­
ten wie Katholiken für die Nationalsozialisten, im Juli 1932 war
das Verhältnis sogar extremer. Erst in den letzten Monaten der
Republik begann sich der Abstand zwischen katholischen und
evangelischen Wählern der NSDAP anzugleichen.Die Gründung
des Deutschen Reiches 1871 war vom protestantischen Preußen
dominiert worden. Die sogenannte kleindeutsche Lösung, die
das katholische Österreich ausschloss, hatte die Katholiken in
die Minderheit gebracht und den Protestanten die kulturelle
Hegemonie verschafft. Deutscher Nationalismus und Protes­
tantismus waren seither eng miteinander verbunden.
Die wichtigste Gruppe der NSDAP-Wähler schienen nach
zeitgenössischer Ansicht die Mittelschichten zu sein. Nach
der Septemberwahl 1930 prägte der Soziologe Theodor Gei­
ger das Schlagwort von der „Panik im Mittelstand“. Die Ar­
beiter galten den Zeitgenossen als weniger anfällig für den
Nationalsozialismus. Demgegenüber ist jedoch festzuhalten,
dass keineswegs alle Arbeiter in der Weimarer Republik links
wählten. Die Arbeiterschaft stellte zwar die größte soziale
Gruppe der Wahlberechtigten, aber zu ihr zählten die ostelbi­
schen Landarbeiter ebenso wie Heimarbeiter aus dem Erzge­
Bundesarchiv, Plak 002-016-055

birge und Arbeiter in kleinen Handwerksbetrieben. Nur eine


Minderheit gehörte zur klassischen Industriearbeiterschaft,
die überwiegend sozialdemokratisch wählte.
Arbeiterstimmen trugen nicht in besonderem Maß zum Erfolg
der NSDAP bei, sondern sie entsprachen dem durchschnittlichen
Zuwachs. Bemerkenswert ist auch, dass es nicht die Arbeitslo­
sen, sondern vielmehr die erwerbstätigen Arbeiter waren, die

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22 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

für die NSDAP stimmten. Hingegen lässt sich ein positiver sta- Obgleich die Oberschicht in absoluten Zahlen nur einen klei-
tistischer Zusammenhang zwischen Landarbeitern und NSDAP nen Teil der NSDAP-Mitgliedschaft ausmachte, so war den-
feststellen. Die Wahlerfolge der Nationalsozialisten in den agra- noch auch sie deutlich überrepräsentiert. Neben Adligen und
rischen Regionen Deutschlands wurden demnach nicht nur von Selbstständigen stellte vor allem die angehende akademi-
den Bauern, sondern auch von den Landarbeitern getragen. sche Elite einen signifikanten Teil der NSDAP-Mitglieder. Es
Den stärksten Anstieg zwischen 1928 und 1933 erzielte die gab neunmal so viele Studenten in der NSDAP wie in der er-
NSDAP in den protestantischen ländlichen Gebieten, in denen werbstätigen Bevölkerung insgesamt. Und es waren die Uni-
sie auch hinsichtlich der absoluten Stimmenzahl die höchs- versitäten, an denen die Nationalsozialisten frühe Triumphe
ten Wähleranteile mobilisieren konnte. Die Wahlerfolge auf feiern konnten. 1926 gegründet, breitete sich der Nationalso-
dem Land schlugen sich auch in den Neueintritten nieder. zialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) im reaktionär
40 Prozent der neuen Parteimitglieder in den Jahren 1925 bis und antisemitisch geprägten studentischen Milieu rasch aus.
1930 stammten aus Orten mit weniger als 5000 Einwohnern, Nach internen Auseinandersetzungen übernahm Baldur von
1931 waren es sogar 50 Prozent. Schirach als Hitlers Gefolgsmann die Leitung des NSDStB im
Ab den Reichstagswahlen im Juli 1932 gaben mehr Ar- Juli 1928. Von nun an folgten die Hochschulgruppen der Linie
beiter der NSDAP ihre Stimme als jeweils der KPD und SPD. der NSDAP, viele nationalsozialistische Studenten gehörten
Deswegen wurde die NSDAP noch nicht, wie sie sich selbst zugleich der Partei, der SA oder SS an.
gern gesehen hat, eine Arbeiterpartei. Aber eine reine Mittel- Die NSDAP präsentierte sich als Partei der Jugend, des Auf-
schichtspartei war sie ebenso wenig. Auch die Affinität von bruchs und des neuen Deutschlands. Dies wurde durch die
Angestellten zur NSDAP ist weniger eindeutig als es häufig Altersstruktur ihrer Mitglieder untermauert. Bei der Neugrün-
angenommen wird. Eher haben es die Nationalsozialisten in dung 1925 lag das Durchschnittsalter bei 29 Jahren, und die
Wahlkreisen, in denen überdurchschnittlich viele Angestellte neuen Mitglieder, die der Partei bis 1933 zuliefen, waren im
wohnten, sogar schwerer gehabt als anderswo. Durchschnitt etwa 31 Jahre alt. Auch zur SA, vor allem in Groß-
Dagegen war die Beamtenschaft in ihrer Gesamtheit deut- städten wie Berlin, stießen vorwiegend junge Männer: Weit
lich anfälliger für den Nationalsozialismus. Zwischen 1928 und über zwei Drittel der SA-Mitglieder waren unter 30 Jahre alt.
1933 traten Beamte in überdurchschnittlicher Zahl in die NSDAP Dagegen waren die Mitglieder der übrigen Parteien der Wei-
ein, so dass sogar die amtliche Parteistatistik feststellen muss- marer Republik im Durchschnitt entschieden älter – bis auf
te, dass sie als Berufsgruppe unter den Mitgliedern schon vor die KPD, die eine ähnlich junge Mitgliederstruktur wie die
dem September 1930 überrepräsentiert waren. Und nach den NSDAP aufweisen konnte. „Macht Platz, ihr Alten!“ forder-
Reichstagswahlen am 5. März 1933 waren es wiederum die Be- te dementsprechend Gregor Straßer; die Hitlerjugend gab
amten, die den Hauptzustrom an neuen Mitgliedern stellten. 1932 die Parole aus: „Das System ist jugendfeindlich!“, und
Den Beamten, die aufgrund von Gehalts- und Pensionskürzun- Goebbels denunzierte die Weimarer Republik als „Republik der
gen ebenfalls unter der desaströsen Lage der öffentlichen Haus- Greise“, womit er in der Tat einen Schwachpunkt traf, denn die
halte durch die Wirtschaftskrise litten, bot sich die NSDAP als politische Führungsschicht der Republik war in der Tat stark
Verteidigerin ihrer Interessen an. Nicht von ungefähr hieß das überaltert. Hitler selbst ließ keine Gelegenheit aus, die „Kraft-
antisemitische Gesetz vom April 1933, das den deutschen Juden losigkeit und Indifferenz der Väter“ anzuprangern und sich
im öffentlichen Dienst Berufsverbot erteilen sollte, „Gesetz zur selbst auch als „Führer“ der Jugend zu feiern.
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“. Während die ehemals fest gefügten „sozialmoralischen Mi-
Der entscheidende Wahlerfolg der NSDAP im September 1930 lieus“ (M. Rainer Lepsius) der bisherigen politischen Strömun-
beförderte auch die Mitgliederentwicklung. Gab es Ende 1928 gen aus dem 19. Jahrhundert – Liberale, Konservative, Katholi-
rund 97 000 NSDAP-Mitglieder, wuchs deren Zahl auf knapp ken und Sozialdemokraten – brüchig wurden und die KPD eine
130 000 im September 1930 und sollte sich bis zur Machtüber- ausdrückliche Klassenpolitik betrieb, konnte die NSDAP sich
nahme im Januar 1933 auf annähernd 850 000 steigern. Die als junge, klassenübergreifende „Volkspartei“ präsentieren.
zunehmende organisatorische Stärke der Partei machte es ihr Hitler gewann das Charisma eines „Führers“ des gesamten
wiederum leichter, mit zahlreichen Veranstaltungen vor Ort Volkes, der imstande wäre, die Wünsche nach Einheit und Si-
Wahlerfolge zu erzielen. (siehe auch Tabelle S. 34) cherheit in einer künftigen „Volksgemeinschaft“ zu erfüllen.

Das Ende der Weimarer Republik

Den Tag der Eröffnung des neuen Reichstages am 13. Oktober einmal auf 5296 registrierte Zusammenstöße allein in Preu-
1930 begingen die Nationalsozialisten in Berlin auf ihre Wei- ßen. Politische Gewalt wurde zu einem allgegenwärtigen Phä-
se. SA-Trupps zogen durch die Innenstadt, randalierten, zer- nomen im Deutschen Reich.
trümmerten die Schaufenster des Kaufhauses Wertheim am Ohne parlamentarische Mehrheit, nur mit Tolerierung sei-
Kurfürstendamm und weiterer Geschäfte mit angeblich jüdi- tens der Sozialdemokraten und auf der Grundlage von Not-
schen Inhabern in der Berliner Innenstadt. Hatte die Polizei in verordnungen des Reichspräsidenten setzte Brüning seine
Preußen, dem größten Flächenstaat des Deutschen Reiches, Regierung auch nach dem September 1930 fort. Die Verwand-
für das Jahr 1929 579 gewalttätige Zusammenstöße bei poli- lung der parlamentarischen Republik in ein autoritäres Prä-
tischen Versammlungen registriert, schnellte diese Zahl 1930 sidialsystem lässt sich nicht zuletzt an der rückläufigen Zahl
sprunghaft auf 2494 an, blieb 1931 mit 2904 Fällen auf einem der Plenarsitzungen erkennen. War der Reichstag 1931 noch 41-
ähnlich hohen Niveau und erhöhte sich für das Jahr 1932 noch mal zusammengetreten, waren es im folgenden Jahr nur noch

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


Aufstieg 23

dreizehn Male. Dafür nutzten sowohl Nationalsozialisten wie Wahlen 1932


Deutschnationale auf der einen und Kommunisten auf der
anderen Seite das Parlament für antiparlamentarische und Als Anfang 1932 der Reichspräsident neu gewählt werden muss­
antirepublikanische Agitation, brachten Misstrauensanträge te, schloss sich die NSDAP nicht dem Bündnis zur Unterstützung
gegen die Regierung Brüning ein oder drohten sogar, Hinden­ einer Wiederwahl Hindenburgs an, sondern stellte mit Hitler
burg vor dem Staatsgerichtshof wegen der Notverordnungs­ einen eigenen Kandidaten auf. Als „Führer des jungen Deutsch­
politik zu verklagen. land“ stilisierte ihn die Partei gegen das „sterbende System“
Zur Krise trug bei, dass Brüning es wirtschaftspolitisch von Weimar und den greisen Hindenburg. Im ersten Wahlgang
unterließ, mit kreditfinanzierten staatlichen Investitions­ am 13. März 1932 lag Hindenburg mit 49,6 Prozent zwar deutlich
programmen die Wirtschaft wieder zu beleben, sondern im vor Hitler, der 30,1 Prozent der Stimmen erhielt. Er hatte aber die
Gegenteil durch massive Kürzungen bei den staatlichen Aus­ absolute Mehrheit verfehlt, so dass ein zweiter Wahlgang nötig
gaben die Verschuldung abbauen und das Lohnniveau senken wurde. In der Stichwahl am 10. April siegte Hindenburg mit 53
wollte. Damit verschärfte sich der Konjunktureinbruch, der Prozent, aber Hitlers Stimmenanteile stiegen noch einmal auf
sich in der zweiten Jahreshälfte 1930 in vollem Umfang be­ 36,8 Prozent – ein doppelt so hohes Wahlergebnis für die Natio­
merkbar machte, dramatisch. Neben einem Rückgang der In­ nalsozialisten wie bei den Reichstagswahlen 1930.
dustrieproduktion um mehr als 43 Prozent 1932/33 gegenüber In den Landtagswahlen der kommenden Monate ging die
1927/28 schnellte die Zahl der Arbeitslosen auf über vier Milli­ NSDAP bis auf das katholisch geprägte Bayern überall als stärkste
onen Anfang 1931 und über sechs Millionen im Februar 1932, Partei hervor. In Preußen, in dem seit 1919 eine sozialdemokra­
wovon die jugendlichen Arbeitnehmer in besonders hohem tisch geführte Regierung existierte, vervielfachte sich die Zahl
Maße betroffen wurden. der nationalsozialistischen Mandate von neun auf 162, während
Die Notverordnungen, die Brüning 1931 erließ, brachten die Sozialdemokraten ein Drittel ihrer Sitze abgeben mussten.
drastische Senkungen der Gehälter im öffentlichen Dienst, Die politischen Verwerfungen sowie die anhaltende wirt­
Abbau von Ruhestandsbezügen und Kindergeld sowie zusätz­ schaftliche Krise sorgten dafür, dass das Vertrauen in die Kom­
liche Steuererhöhungen. Entsprechend scharf war der Protest petenz Brünings schwand. Hindenburg ließ Brüning Ende Mai
der Gewerkschaften und der politischen Opposition. In Bad fallen und ernannte den deutschnationalen Franz v. Papen zum
Harzburg bildete sich im Oktober 1931 gegen die Regierung neuen Reichskanzler, der sogleich den Reichstag auflöste und
Brüning eine Einheitsfront von nationalistischen Verbänden, Neuwahlen für den 31. Juli ansetzte. Die Wahlen, erklärte Hitler
der Deutschnationalen Volkspartei, dem mächtigen konser­ vor den regionalen Parteiführern, den Gauleitern der NSDAP,
vativ-autoritären Frontsoldatenverband „Stahlhelm“ und der müssten „eine Generalabrechnung des deutschen Volkes mit
NSDAP, die Reichstagsneuwahlen und die Aufhebung der Not­ der Politik der letzten 14 Jahre“ werden. Der Hauptgegner, so die
verordnungen forderten. Die „Harzburger Front“ wurde vom Reichspropagandaleitung unter Goebbels, müsse die SPD sein,
DNVP-Vorsitzenden Hugenberg angeführt, Hitler hatte aber die KPD sollte durch „Demaskierung der jüdisch-kapitalistischen
ein entscheidendes Wort mitzureden. (siehe auch S. 24) Drahtzieher“ bekämpft werden. Das zentrale Wahlkampfmotto
ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl

Auf Arbeitsuche in der Zeit der Krise: Junge Frauen bewerben sich 1929 in großer Zahl um eine Stelle bei einer Berliner Revue-Show.

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24 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Machtkampf in der „Harzburger nehmen, auf der die Marschroute für den wirklichen Nationalregierung den retten­
Front“ nächsten Tag festgelegt wurde. „Hitler den Kurswechsel“ herbeizuführen.
ist wütend, da man uns an die Wand quet­ [...] Doch einig ist sich die Harzburger
[...] [A]m 10. und 11. Oktober 1931 [trifft schen will“, beschreibt Goebbels die Front nur im Negativen, in der bedin­
sich] in dem Städtchen am Harz [Bad gereizte Stimmung seines Chefs bei der gungslosen Ablehnung des Weimarer
Harzburg] [...] die „nationale Opposition“ Ankunft. „Systems“. Auf ein Programm für eine
zu einer Heerschau. Sonderzüge, Busse [...] Hitler [...] kommt nach Bad Harzburg, gemeinsame Regierung hat man sich
und Autos bringen Tausende von nicht um Gemeinsamkeit zu demons­ nicht verständigen können. Hinter den
Menschen herbei. Für zwei Tage beherr­ trieren, sondern um seinen Führungsan­ Kulissen geht der Kampf um die Füh­
schen die uniformierten Kolonnen des spruch zu reklamieren. Während der rung weiter. [...]
Stahlhelms – das ist der Bund der gesamten Zusammenkunft legt er ein pri­ Wie brüchig die Harzburger Front ist,
Frontsoldaten – und der SA das Straßen­ madonnenhaftes Verhalten an den zeigt sich bereits am 18. Oktober, als
bild. Es wird ein internationales Ereig­ Tag. Ein ums andere Mal brüskiert er Hitler in Braunschweig an die 100 000
nis: Über fünfzig in- und ausländische Re­ seine konservativen Bündnispartner. Angehörige von SA, SS und Hitler-
porter sind angereist. [...] Initiator des So erscheint er zwar am Sonntagvormit­ Jugend aufmarschieren lässt. Damit will
Treffens [...] ist der 66-jährige Pressezar tag zu einer Sitzung der NSDAP-Frak­ er nicht nur seine Eigenständigkeit
Alfred Hugenberg, seit 1928 Vorsitzender tion, nicht aber zu der danach anberaum­ zur Schau stellen, sondern zugleich deut­
der DNVP. [...] ten gemeinsamen Sitzung der DNVP- lich machen, dass allein die NSDAP
Mit ihrer Kundgebung in Harzburg will und NSDAP-Fraktionen. Dem Feld­ Massen mobilisieren kann. [...]
die „nationale Opposition“ ihre Stärke gottesdienst bleibt er ebenfalls fern, und Trotz Hitlers Extratouren hält Hugen­
und Geschlossenheit demonstrieren. Und die anschließende Parade der SA berg unverdrossen an der Perspektive
sie will, wie das Zentralorgan der DNVP nimmt er stehend im Auto ab, um sich einer gemeinsamen Machtübernahme
„Unsere Partei“ unverhüllt verkündet, „das dann demonstrativ zu entfernen, als die fest. Ende Januar 1932 teilt er Hitler
Signal zum Angriff“ geben „gegen ein Formationen des Stahlhelms anrü­ mit, dass es „vielleicht in Kürze möglich“
morsch gewordenes System“, gegen die cken – für die Führung des Bundes der sein werde, „das in Harzburg aufge­
verhasste Demokratie von Weimar. [...] Frontsoldaten „eine schwere Kränkung“, stellte Ziel des Ersatzes der bisherigen Re­
Bei den Reichstagswahlen vom 14. Sep­ wie [Franz] Seldte [einer der beiden gierung durch eine wirkliche Rechts­
tember 1930 konnten die Nationalsozia­ Bundesführer des Stahlhelms – Anm.d.Red.] regierung zu verwirklichen“. [...]
listen sensationelle 18,3 Prozent der sich später beklagt. Auch beim gemein­ Im Januar 1933 sind Hugenberg und
Stimmen erzielen und die Zahl ihrer Man­ samen Mittagessen wartet man vergeb­ Hitler am Ziel. In der „Regierung der
date von 12 auf 107 steigern. Die DNVP lich auf den Führer der NSDAP. nationalen Konzentration“, die Hinden­
kam dagegen nur noch auf 7 Prozent, ge­ Für den Nachmittag ist die Abschluss­ burg am 30. Januar vereidigt, wird
genüber 1928 hatte sich ihr Anteil kundgebung im Kurhaussaal angesetzt. der Reichskanzler Hitler von konserva­
halbiert. Viele ihrer Wähler waren offen­ [...] Hugenberg eröffnet seine Rede tiven Fachministern „eingerahmt“;
kundig zu den Nazis übergelaufen. [...] mit der Behauptung, die in Bad Harzburg Hugenberg bekommt ein Doppelressort,
So hatten sich die Gewichte innerhalb versammelte Rechte repräsentiere das Wirtschafts- und Landwirtschaftsmi­
des rechten politischen Spektrums „die Mehrheit des deutschen Volkes“. Der nisterium, Seldte das Arbeitsministe­
deutlich zugunsten der NSDAP verscho­ Regierung Brüning wirft er „eine Kata­ rium. Die Posten seien so verteilt worden,
ben, und die Landtagswahlen des strophenpolitik“ vor, die „auf geradem bemerkt Theodor Wolff, der Chefre­
Jahres 1931 signalisierten, dass sie sich Weg ins Chaos“ führen müsse, und dakteur des liberalen Berliner Tageblatts,
weiter kräftig im Aufwind befand. er beschwört die Gefahr des Bolschewis­ „wie es die Herren der ‚Harzburger
Gegenüber den konservativen Bündnis­ mus. Es gebe nur zwei Wege: „Der Front‘ erstrebt“ hätten.
partnern von 1929 betonte Hitler eine ist der russische, der andere ist der Doch die Hoffnung, Hitler in seinen
nun seine Unabhängigkeit. Er machte deutsche.“ Hitler, der nach Hugenberg Machtambitionen zügeln und ihn nach
ihnen klar, dass er keineswegs nur den das Wort ergreift, schert wiederum den eigenen Vorstellungen lenken zu
„Trommler“ geben wollte. [...] aus der gemeinsamen Front aus, indem können, entpuppt sich rasch als grandio­
Das Tagebuch von Joseph Goebbels, dem er so tut, als befinde er sich ausschließ­ se Illusion. Der neue Mann in der Reichs­
Berliner Gauleiter und Propaganda­ lich unter seinen Gefolgsleuten. Er kanzlei braucht nur wenige Monate,
chef der Partei, verrät, mit wie viel Skepsis redet alle Anwesenden mit „Parteigenos­ um seine konservativen Bündnispartner
und Misstrauen man in Hitlers Um­ sen und Parteigenossinnen!“ an und an die Wand zu spielen. Hugenberg
gebung der Kundgebung entgegensah. schließt mit dem Ausruf: „Es lebe unsere muss bereits Ende Juni 1933 zurücktreten;
„Hugenberg sucht uns die Führung zu herrliche nationalsozialistische Bewe­ sein Konzern wird Schritt für Schritt
nehmen“, notierte Goebbels am gung!“ [...] von den Nationalsozialisten übernom­
9. Oktober. „In Harzburg sollen wir öffent­ In ihrer Schlussresolution fordern men. Das hindert ihn nicht daran,
lich festgenagelt werden und Hugenberg die Harzburger Frondeure den Rücktritt Hitler in einem Brief zum ersten Jahres­
zum ‚Führer‘ der ‚nationalen Oppo­ Brünings und der preußischen Regie­ tag der Machtergreifung 1934 noch
sition‘ ernannt. Ich habe Hitler gewarnt. rung unter dem SPD-Ministerpräsidenten einmal zu versichern, dass er „an all den
Er wird aufpassen.“ Otto Braun sowie Neuwahlen. An Gedanken und Zielen“ festhalte, „die
[...] [A]m Abend [des 10. Oktober – Hindenburg appellieren sie, „dem stür­ uns damals zusammengeführt haben“.
Anm.d.Red.] fuhr Hitler im Auto nach Bad mischen Drängen von Millionen vater­ Jetzt steht sie, die Harzburger Front –
Harzburg. Er traf hier erst zwei Stun­ ländischer Männer und Frauen, Front­ geschlossen hinter Hitler.
den nach Mitternacht ein – zu spät, um soldaten und Jugend“ nachzugeben und Volker Ullrich, „Das Signal zum Angriff“, in: Die Zeit, Nr. 41 vom
noch an der Vorbesprechung teilzu­ „in letzter Stunde durch Berufung einer 6. Oktober 2011

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Aufstieg 25

hieß: „Deutschland erwache! Gebt Adolf Hitler die Macht!“. Ge­ schen, so dass ihn tatsächlich Millionen Deutsche in diesem
genüber der „marxistischen Klassenkampfhetze und der Zerris­ Jahr unmittelbar erlebten und hörten.
senheit des bürgerlichen Parteienlagers“ solle die anzustrebende Bestimmt wurde der Wahlkampf aber auch durch exzessive
„Einheit des Volkes in der nationalsozialistischen Volksgemein­ Gewalt, nicht zuletzt, weil die Regierung Papen das von Brüning
schaft klar und deutlich herausgestellt werden“. und seinem Innenminister Wilhelm Groener verfügte SA-Verbot
Unter dem Motto „Hitler über Deutschland“ organisierte die wieder aufgehoben hatte. Allein in den zehn Tagen vor der Wahl
Partei vier Deutschlandflüge Hitlers, mit denen er jeweils zu wurden in Preußen 24 Menschen getötet und über 280 verletzt.
Großkundgebungen eingeflogen wurde. Diese Flüge, die das Als am Sonntag, den 17. Juli, in Altona nahe Hamburg ein natio­
Bild eines über den Klassen schwebenden Heilsbringers insze­ nalsozialistischer Demonstrationszug provozierend durch die Ar­
nierten, trugen entscheidend dazu bei, dass Hitler die Massen beiterviertel marschierte, fielen Schüsse, die zu einer Schießerei
erreichte, wie kein deutscher Politiker vor ihm. Mit den vier zwischen Polizei, Demonstranten und Einwohnern führten, bei
Flügen zwischen April und November 1932 hielt er insgesamt der 18 Menschen, zumeist unbeteiligte Anwohner und Passanten,
148 Massenkundgebungen ab, durchschnittlich drei am Tag, getötet wurden. Der „Altonaer Blutsonntag“ bildete den äußeren
meistens vor einem Publikum von 20 000 bis 30 000 Men­ Anlass für die Reichsregierung unter v. Papen, mit einer Notver-

bpk
Die Vorbereitungen zur Reichstagswahl im Juli 1932 sind von Gewalt überschattet. SA-Männer, hier vor einem
ihrer „Sturmlokale“...
bpk

... und KPD-Anhänger liefern sich Straßenschlachten mit Dutzenden Toten. Ein „Agitationslokal“ der KPD aus der
frühen Weimarer Zeit.

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26 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

ordnung am 20. Juli die preußische Regierung für abgesetzt zu Privathäuser, steckten Tankstellen in Brand, warfen eine Bom­
erklären und sich selbst als kommissarischen Ministerpräsiden­ be auf die Zentrale der SPD und zerstörten jüdische Geschäfte.
ten Preußens einzusetzen. Die rechtmäßige geschäftsführende Dabei wurde ein kommunistischer Stadtverordneter ermordet,
Regierung unter dem Sozialdemokraten Otto Braun, die seit der andere sozialdemokratische und liberale Politiker durch Schüsse
Landtagswahl im April über keine Mehrheit mehr verfügte, wich schwer verletzt. Ebenso gab es Bomben- und Revolverattentate
der Gewalt. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der sozia­ in Schlesien und Schleswig-Holstein.
len Krise wagten Sozialdemokraten und Gewerkschaften keinen Ein besonders brutaler Mord ereignete sich am 10. August im
Generalstreik; der erwartete Widerstand gegen den verfassungs­ schlesischen Potempa, wo betrunkene SA-Leute einen Arbeiter,
widrigen Staatsstreich von rechts blieb aus. der mit den Kommunisten sympathisierte, in dessen Wohnung
Als am Abend des 31. Juli die Wahllokale schlossen, war einer buchstäblich zu Tode trampelten. In dem nachfolgenden Prozess
der erbittertsten Wahlkämpfe der Weimarer Jahre zu Ende gegan­ verurteilte das Sondergericht Beuthen die Täter zum Tode, was
gen. Die liberal-konservative bürgerliche Mitte war der entschei­ Hitler zu einem pathetischen Solidaritätstelegramm mit den
dende Verlierer der Wahl, auch die Deutschnationalen verbuchten Mördern veranlasste. Goebbels hetzte unter der Überschrift „Die
Verluste; die Sozialdemokraten verloren zehn Sitze und errangen Juden sind schuld“, dass die Nationalsozialisten keine Ruhe lassen
nur noch 21,6 Prozent der Stimmen; die KPD gewann zwölf Man­ würden, bis diese Regierung aus der Macht verjagt worden sei.
date hinzu und kam auf 14,3 Prozent. Die NSDAP dagegen war Die aufgeflammte Gewalt und der Hass konnten indes nicht
die herausragende Gewinnerin: 37,3 Prozent der Stimmen und über die politische Sackgasse hinwegtäuschen, in die sich die
230 Reichstagsmandate hießen, dass die Nationalsozialisten zur NS-Führung unter Hitler manövriert hatte. Die Regierung Pa­
weitaus stärksten Partei in Deutschland geworden waren. Den­ pen hatte die große Mehrheit des Parlaments gegen sich, Neu­
noch war die Parteiführung enttäuscht, denn trotz ihrer großen wahlen wurden unvermeidlich, und die Enttäuschung in der
Wahlkampagne hatte sich die Stimmenzahl für die Nationalsozi­ Bevölkerung über die Unfähigkeit der Parteien, eine Lösung
alisten gegenüber der Reichspräsidentenwahl im März und den der politischen Krise zu finden, drückte sich nicht zuletzt in
preußischen Landtagswahlen im April nicht sonderlich erhöht. dem Anstieg der Nichtwähler von sieben Millionen im Juli
„Zur absoluten Mehrheit kommen wir so nicht“, notierte Goeb­ auf 8,6 Millionen bei den Reichstagswahlen am 6. November
bels in sein Tagebuch. „Also einen anderen Weg einschlagen.“ aus. Die NSDAP verlor gegenüber der Juli-Wahl zwei Millio­
Dennoch machte sich Hitler nach diesem Wahlsieg berechtig­ nen Stimmen und sank von 37,3 auf 33,1 Prozent, blieb aber
te Hoffnungen, von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt zu deutlich stärkste Partei. Demgegenüber stiegen die Stimmen
werden. Aber der Reichspräsident verweigerte sich zum damali­ für die Deutschnationalen erstmals wieder, was nicht zuletzt
gen Zeitpunkt. Eine Unterredung zwischen beiden am 13. August auf die gemeinsame Unterstützung des Streiks bei den Ber­
verlief ergebnislos, da Hitler Hindenburgs Aufforderung ab­ liner Verkehrsbetrieben durch Kommunisten und National­
lehnte, in eine Regierung unter von Papen einzutreten, sondern sozialisten wenige Tage vor der Wahl zurückzuführen war,
kompromisslos auf seinem Führungsanspruch beharrte. Hitlers mit dem die mittelständische Angst vor der revolutionären
Verweigerung, sich mit der Teilhabe an der Macht zu begnügen, Militanz des Nationalsozialismus neu geschürt worden war.
stürzte die NSDAP als eine schon siegesgewisse, machthungri­ Die SPD verlor gleichfalls an Stimmen, während die Kommu­
ge und der Opposition überdrüssige Partei im Winter 1932/33 in nisten hinzugewannen und nun bei knapp 17 Prozent lagen.
eine schwere Krise. „Ich sprach mit vielen Pgn [Parteigenossen]. Die politisch festgefahrene Lage wurde mit dem Wahler­
Große Hoffnungslosigkeit“, konstatierte Goebbels. „Die SA hat gebnis nicht verändert. Das „Kabinett der Barone“ unter Franz
zu stark die Hoffnung genährt. Ein Fehler.“ Gerade die SA, die v. Papen stützte sich weiterhin auf nicht mehr als zehn Prozent
die Erringung der Macht schon vor den Augen gesehen hatte, der Wählerstimmen, wohingegen neun Zehntel für Parteien
ließ ihrem Hass freien Lauf. In Königsberg überfielen Nazitrupps gestimmt hatten, die gegen die amtierende Reichsregierung op-

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Aufstieg 27

Reichskanzler Hitler Anfang 1933 neben Vizekanzler Franz von Papen (M.) und Wirtschaftsminister Dr. Alfred Hu-
genberg (l.), denen es mitnichten gelang, ihn im Zaum zu halten.

ponierten, aber untereinander viel zu gegensätzlich waren, um Verhandlungen zwischen Hitler und von Papen, der glaubte, auch
eine eigene Mehrheit zustande zu bringen. Papen wollte unver- einen Reichskanzler Hitler unter Kontrolle halten zu können.
hohlen eine diktatorische Lösung, die das Parlament gänzlich Nach dem Rücktritt von Schleichers am 28. Januar zeigte sich nun
ausschalten sollte, scheiterte damit aber an der Reichswehrfüh- auch Hindenburg geneigt, einem Kabinett Hitler zuzustimmen,
rung, die sich zu schwach gegenüber der SA glaubte. Mitte No- zumal von Papen zusätzlich die Deutschnationalen samt ihres
vember trat von Papen zurück und sein Nachfolger General Kurt Parteichefs Hugenberg für das neue Kabinett gewonnen hatte.
v. Schleicher, Reichswehrminister und einflussreicher Politiker in Die Ernennung Hitlers war keineswegs unvermeidlich; politi-
der Machtkamarilla um Präsident Hindenburg, unternahm den sche Alternativen gab es durchaus. Aber Papen und sein Förderer
Versuch, eine „Querfront“ mit den Gewerkschaften und einem Hindenburg glaubten, die NS-Bewegung als Massenunterstüt-
Teil der NSDAP unter dem Organisationsleiter der NSDAP, Gregor zung für einen nationalkonservativen, autoritären Machtstaat
Straßer, zu bilden. In einem Geheimtreffen am 3. Dezember bot benutzen und sich die NS-Führung gefügig machen zu können.
Schleicher Straßer die Ämter des Vizekanzlers und des preußi- Die parlamentarische Demokratie hatten sie bereits aufgege-
schen Ministerpräsidenten an. ben. Wenn es noch einmal zu Wahlen, nunmehr mit der verein-
Aber Straßer wagte den Aufstand gegen Hitler nicht. In die- ten Rechten, kommen sollte, die dann auf den Sieg hoffte, sollten
ser Auseinandersetzung zeigte sich, wie stark mittlerweile der dies die letzten freien Wahlen in Deutschland sein.
„Führerkult“ auch innerhalb der NSDAP verankert war und Hit- Ebenso hatten sich wesentliche Teile der Wirtschaftseli-
ler selbst für eine äußerst riskante Politik des „Alles oder Nichts“ te von der demokratischen Republik längst abgewandt und
erfolgreich Gefolgschaft beanspruchen konnte. Gregor Straßer verlangten ihrerseits eine autoritär unternehmerfreundliche
gelang es trotz seiner hohen Parteifunktion nicht mehr, das po- Politik, die insbesondere die Kommunisten, aber auch die So-
litische Ruder in der NSDAP zu bewegen und wesentliche Teile zialdemokraten radikal bekämpfen sollte. Nicht zuletzt unter-
der Parteiführung auf seine Seite zu ziehen. Die Macht, die von stützten einflussreiche Reichswehrgeneräle wie Werner von
Schleicher Gregor Straßer zutraute, besaß dieser nicht mehr; Hit- Blomberg die Machtübertragung an die Nationalsozialisten,
ler hielt alle Fäden in der Hand; gegen seinen Willen konnte kei- weil sie damit eine Stärkung der Stellung des Militärs im Staat
ne Entscheidung in der NSDAP mehr gefällt werden. Straßer trat und in der Gesellschaft erwarteten.
von allen Parteiämtern zurück und verließ Berlin. Beide, Gregor Die herrschenden politischen, wirtschaftlichen und militä-
Straßer wie Kurt v. Schleicher, wurden anderthalb Jahre später rischen Eliten hatten die Demokratie abgeschrieben, bevor sie
Mordopfer bei der Aktion gegen die SA-Führung im Juni 1934. Hitler an die Macht brachten. Vielmehr setzten sie auf einen au-
Hitler setzte, unterstützt von Goebbels, nach wie vor auf die toritären Staat unter Einschluss der Nationalsozialisten, die sie
Mobilisierungskraft der nationalsozialistischen Bewegung und hofften, zähmen zu können. Im Vertrauen auf die Herrschaft über
auf die Erringung unbeschränkter Macht. Die Landtagswahlen die wichtigsten institutionellen Machtapparate wie das Heer,
im Kleinstaat Lippe-Detmold am 15. Januar 1933 wurden zum Be- die Bürokratie und die Justiz sowie die Unterstützung seitens der
weis für die ungebrochene Kraft des Nationalsozialismus hochsti- Wirtschaft glaubten sie, die nationalsozialistische Massenbewe-
lisiert. Mit einem aufwändig geführten Wahlkampf gelang es der gung als Mehrheitsbeschafferin einbinden und zugleich von den
NSDAP, 6000 Stimmen hinzuzugewinnen und ihren Anteil wie- tatsächlichen Entscheidungen fernhalten zu können. „In zwei
der auf 39,5 Prozent zu steigern. Verglichen mit dem Wahlergebnis Monaten“, so soll von Papen gesagt haben, „haben wir Hitler in
vom Juli 1932 hatte die Partei zwar immer noch weniger Stimmen die Ecke gedrückt, dass er quietscht“ – eine ebenso bornierte wie
bekommen, aber die Inszenierung des Erfolgs war gelungen, und katastrophale Fehleinschätzung. Denn Hitler und die NS-Führung
Hitler ging öffentlich gestärkt aus den Wahlen hervor. waren keineswegs gewillt, nur den Steigbügelhalter für die alte
Nicht zuletzt lehnten etliche Industrielle und Großgrundbesit- Herrenklasse zu spielen, sondern wollten die politische wie ge-
zer Schleichers Konzept der „Querfront“ als „sozialistisch“ ab und sellschaftliche Ordnung in Deutschland grundlegend verändern
intervenierten gegen ihn beim Reichspräsidenten. Zugleich gab und besaßen den unbedingten politischen Willen wie die gewalt-
es hinter den Kulissen seit Anfang Januar 1933 wieder geheime tätige Rücksichtslosigkeit, ihren Reden Taten folgen zu lassen.

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28 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Michael Wildt

Machteroberung 1933

Nach dem Scheitern von Schleichers wird Hitler am 30. Januar

ullstein bild – Archiv Gerstenberg


1933 zum Reichskanzler ernannt. Durch Terror und halb-
legale Methoden gelingt den Nationalsozialisten in kürzester
Zeit die Ausschaltung des Rechtsstaats und der Übergang
zur Diktatur. Juden und politische Gegner sehen sich Terror
und Willkür ausgeliefert.

Die Republik wird zerrissen: Mitglieder der SS und des Stahlhelm zerstören
am 13. Mai 1933 eine schwarz-rot-goldene Fahne.

Hitler wird Reichskanzler wurden Wilhelm Frick Reichsinnenminister und Hermann Gö-
ring kommissarischer preußischer Innenminister und Reichsmi-
„Es ist fast ein Traum“, notierte Joseph Goebbels am 30. Januar nister ohne Geschäftsbereich.
1933 in seinem Tagebuch. „Die Wilhelmstraße [Sitz der Reichs- Doch zeigten die Fackelzüge in Berlin und überall im Reich am
kanzlei und verschiedener Ministerien in Berlin – Anm. d. Red.] Abend des 30. Januar, dass die Nationalsozialisten ernst machen
gehört uns. Der Führer arbeitet bereits in der Reichskanzlei.“ wollten mit der angekündigten „nationalen Erhebung“. Nicht die
Nachdem Hindenburg für Papens Plan eines vereinigten rechten Einbindung der NS-Führung in die Kabinettsdisziplin, sondern
Kabinetts unter Hitler gewonnen war, vereidigte der Reichsprä- die Zurückdrängung der Deutschnationalen in der Reichsregie-
sident am Mittag des 30. Januar die neue Regierung und ernann- rung und die nationalsozialistische Machteroberung zeichnete
te Hitler zum Reichskanzler. die nächsten Monate aus. Einig waren sich Deutschnationale
Formal war die Ernennung Hitlers durchaus legal, aber der Ver- und Nationalsozialisten darin, dass die kommenden Wahlen die
fassung der ersten deutschen Republik entsprach sie keineswegs. letzten sein sollten. Danach sollte unabhängig von der Verfas-
Schon in den Jahren zuvor war die Verfassung durch die Praxis sung mit Hilfe eines Ermächtigungsgesetzes diktatorisch regiert
der Präsidialkabinette, die nur mit der Notverordnungsautorität werden. Insofern markiert der 30. Januar 1933 tatsächlich das
des Reichspräsidenten regierten, unterhöhlt und de facto außer Ende der Weimarer Republik.
Kraft gesetzt. Das gewählte Parlament war seither von den poli-
tischen Entscheidungen ausgeschlossen; die Weimarer Republik
hatte sich schon vor der Regierungsübernahme Hitlers von einer Terror im Wahlkampf
parlamentarischen Demokratie immer mehr entfernt.
Auf den ersten Blick sah es in der Tat so aus, als hätte sich ge- Was in den Wochen nach dem 30. Januar folgte, war die klare
genüber der bisherigen Politik nicht viel geändert. Der ehemali- Willensbekundung, die errungene Macht niemals mehr auf-
ge Reichskanzler und Vertraute Hindenburgs, Franz von Papen, zugeben und Deutschland radikal umzugestalten. Drei Tage
war Vizekanzler; Reichsaußenminister Konstantin von Neurath, nach seiner Ernennung zum Reichskanzler erklärte Hitler vor
Reichsfinanzminister Lutz Graf Schwerin von Krosigk und der den Befehlshabern des Heeres und der Marine: „Ziel der Ge-
Reichsjustizminister Franz Gürtner blieben im Amt. Als starker samtpolitik allein: Wiedergewinnung der politischen Macht.
Mann im Kabinett galt Alfred Hugenberg, der sowohl das Wirt- [...] Völlige Umkehrung der gegenwärtigen innenpolitischen
schafts- als auch das Landwirtschaftsministerium übernahm. Zustände in Deutschland. Keine Duldung der Betätigung ir-
Hinzu kam der Führer des „Stahlhelms“, Franz Seldte, als Reichs- gendeiner Gesinnung, die dem Ziel entgegen steht (Pazifis-
arbeitsminister und Generalleutnant Werner von Blomberg als mus!). Wer sich nicht bekehren läßt, muß gebeugt werden.
neuer Reichswehrminister. Nur wenige Nationalsozialisten ge- Ausrottung des Marxismus mit Stumpf und Stiel. […] Beseiti-
hörten dem neuen Kabinett an. Neben Hitler als Reichskanzler gung des Krebsschadens der Demokratie!“

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Machteroberung 1933 29

Reaktionen auf Hitlers Macht- meiner deutschen Hoffnung. Natio- Victor Klemperer, jüdischer Hochschul-
antritt nalsozialistischer Schwung, deutsch- lehrer in Dresden, Tagebucheintrag
nationale Vernunft, der unpolitische vom 21. Februar 1933: „Seit etwa drei
Klaus Mann, Sohn von Thomas Mann Stahlhelm und der von uns unverges- Wochen die Depression des reaktio-
und selbst Schriftsteller, Tagebuchein- sene Papen. [...] Riesiger Fackelzug vor nären Regiments. Ich schreibe hier nicht
trag vom 30. Januar 1933: „Die Nachricht, Hindenburg und Hitler durch National- Zeitgeschichte. Aber meine Erbitte-
dass Hitler Reichskanzler. Schreck. Es sozialisten und Stahlhelm, die endlich, rung, stärker, als ich mir zugetraut hätte,
nie für möglich gehalten. (Das Land der endlich wieder miteinandergehen. Das sie noch empfinden zu können, will
unbegrenzten Möglichkeiten).“ ist ein denkwürdiger 30. Januar!“ ich doch vermerken. Es ist eine Schmach,
Klaus Mann, Tagebücher 1931-1933. Hg. von Joachim Hei- Tagebuch Luise Solmitz, Eintrag unter dem 30.1.1933,
die jeden Tag schlimmer wird. Und
mannsberg, Peter Laemmle, Wilfried Schoeller, rororo, Reinbek abgedruckt in: Werner Jochmann, Nationalsozialismus und alles ist still und duckt sich, am tiefsten
bei Hamburg (Dt. Erstausgabe München 1989) 1995, S. 113 Revolution. Ursprung und Geschichte der NSDAP in Hamburg
1922-1933. Dokumente, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt
die Judenheit und ihre demokra-
am Main 1963, S. 421 tische Presse. – Eine Woche nach Hitlers
Sebastian Haffner, demokratischer Ernennung waren wir (am 5.2.) bei
Publizist: „Ich weiß nicht genau, wie die André François-Ponçet, französischer Blumenfelds mit Raab zusammen. Raab,
allgemeine erste Reaktion war. Die Botschafter in Berlin, in einem Bericht Gschaftlhuber, Nationalökonom, Vor-
meine war etwa eine Minute lang richtig: nach Paris im April 1933: „Als am 30. Ja- sitzender des Humboldtclubs, hielt eine
Eisiger Schreck. [...] Dann schüttelte ich nuar das Kabinett Hitler/Papen an große Rede und erklärte, man müsse
das ab, versuchte zu lächeln, versuchte die Macht kam, versicherte man, dass die die Deutschnationalen wählen, um den
nachzudenken, und fand in der Tat Regierung der Deutschnationalen […] rechten Flügel der Koalition zu stärken.
viel Grund zur Beruhigung. Am Abend Hitler und seinen Mitkämpfern Paroli Ich trat ihm erbittert entgegen. Inter-
diskutierte ich die Aussichten der bieten würden, dass die Nationalsozia- essanter seine Meinung, daß Hitler im
neuen Regierung mit meinem Vater, und listen mit der Feindschaft der Arbeiter- religiösen Irrsinn enden werde... Am
wir waren uns einig darüber, daß sie klasse zu rechnen haben und dass meisten berührt, wie man den Ereignis-
zwar eine Chance hatte, eine ganze hüb- schließlich die Katholiken der Zentrums- sen so ganz blind gegenübersteht, wie
sche Menge Unheil anzurichten, aber partei die Legalität verteidigen würden. niemand eine Ahnung von der wahren
kaum eine Chance, lange zu regieren.“ Sechs Wochen später muss man feststel- Machtverteilung hat. Wer wird am 5.3.
Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen
len, dass all diese Dämme, die die Flut die Majorität haben? Wird der Terror
1914-1933, Deutsche Verlags-Anstalt in der Gruppe Random House, der Hitler-Regierung zurückhalten sollten, hingenommen werden, und wie lange?
München 2003, S. 104 f.
von der ersten Welle hinweggespült Niemand kann prophezeien.“
wurden.“ Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Ta-
Luise Solmitz, deutschnationale Lehrerin Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers
gebücher 1933-1941. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit
von Hadwig Klemperer, Aufbau Verlag, Berlin 1995, Bd. 1, S. 6 f.
in Hamburg: „Was für ein Kabinett!!! 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates
14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv,
Wie wir es im Juli nicht zu erträumen München 1993, S. 217
wagten. Hitler, Hugenberg, Seldte, Pa-
pen!!! An jedem hängt ein großes Stück

Hitler vor den Befehlshabern der Wehrmacht am 3. Februar 1933

Wiedergabe des Stichwortprotokolls, und Volksverrat. Straffste autoritäre Staats- werden oder nach Dienstzeit diesem Gift
das ein anwesender General für sich führung. Beseitigung des Krebsschadens verfallen.
anfertigte. der Demokratie! Wie soll politische Macht, wenn sie
2. Nach außen. Kampf gegen Versailles. gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt
Ziel der Gesamtpolitik allein: Wiederge- Gleichberechtigung in Genf; aber noch nicht zu sagen. Vielleicht Er-
winnung der politischen Macht. Hierauf zwecklos, wenn Volk nicht auf Wehrwillen kämpfung neuer Export-Möglichkeiten,
muß gesamte Staatsführung eingestellt eingestellt. Sorge für Bundesgenossen. vielleicht – und wohl besser – Erobe-
werden (alle Ressorts!). 3. Wirtschaft! Der Bauer muß gerettet rung neuen Lebensraums im Osten und
1. Im Innern. Völlige Umkehrung der werden! Siedlungspolitik! Künftig Steige- dessen rücksichtslose Germanisierung.
gegenwärtigen innenpolitischen Zu- rung der Ausfuhr zwecklos. Aufnahmefä- Sicher, daß erst mit politischer Macht
stände in Deutschland. Keine Duldung higkeit der Welt ist begrenzt und Pro- und Kampf jetzige wirtschaftliche
der Betätigung irgendeiner Gesinnung, duktion ist überall übersteigert. Im Siedeln Zustände geändert werden können.
die dem Ziel entgegen steht (Pazifismus!). liegt einzige Möglichkeit, Arbeitslosen- Alles, was jetzt geschehen kann – Sied-
Wer sich nicht bekehren läßt, muß ge- heer zum Teil wieder einzuspannen. […] lung – Aushilfsmittel.
beugt werden. Ausrottung des Marxismus 4. Aufbau der Wehrmacht wichtigste Wehrmacht wichtigste und sozialis-
mit Stumpf und Stiel. Einstellung der Voraussetzung für Erreichung des Ziels: tischste Einrichtung des Staates. Sie soll
Jugend und des ganzen Volkes auf den Wiedererringung der politischen Macht. unpolitisch und überparteilich bleiben.
Gedanken, daß nur der Kampf uns Allgemeine Wehrpflicht muß wieder Der Kampf im Innern nicht ihre Sache,
retten kann und diesem Gedanken alles kommen. Zuvor aber muß Staatsführung sondern der Nazi -Organisationen. […]
zurückzutreten hat. […] Ertüchtigung dafür sorgen, daß die Wehrpflichtigen
der Jugend und Stärkung des Wehrwillens vor Eintritt nicht schon durch Pazifismus, Aus: Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente
mit allen Mitteln. Todesstrafe für Landes- Marxismus, Bolschewismus vergiftet zur Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 23 f.

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


30 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Am 1. Februar löste Reichspräsident Hindenburg den Reichs­ nen und Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Wissen­
tag auf und beraumte Neuwahlen für den 5. März an. Sie schaftler versammelten sich am 19. Februar in der Berliner
sollten mit einem demonstrativen Sieg für die Nationalsozia­ Kroll-Oper, um gegen die Knebelung von Kunst, Wissen­
listen enden, dafür wurde alle staatliche Macht eingesetzt. schaft und Presse zu protestieren; und noch am 24. Februar
Unter der Wahlparole „Kampf gegen den Marxismus“ rich­ hielt die KPD in Berlin eine letzte große Kundgebung ab.
tete die NSDAP ihre ganze Kraft gegen die Linksparteien. Aber die Kräfte waren ungleich verteilt. Gleich nach sei­
Am 2. Februar wurden in Preußen, Thüringen und ande­ nem Amtsantritt entließ der kommissarische preußische
ren Ländern kommunistische Demonstrationen verboten. Innenminister Hermann Göring neben politischen Spit­
Zwei Tage später erging eine Notverordnung des Reichs­ zenbeamten auch 14 Polizeipräsidenten und besetzte die
präsidenten, mit der die Versammlungs- und Pressefreiheit Posten mit politisch genehmen Kandidaten. Zugleich löste
eingeschränkt wurde. Dennoch versammelten sich in Ber­ er die politische Polizeiabteilung aus ihrer bisherigen Ver­
lin am 7. Februar rund 200 000 Menschen im Lustgarten, ankerung in der preußischen Innen- und Polizeiverwaltung
um gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte zu de­ und verselbstständigte sie als Geheime Staatspolizei. Auch
monstrieren. Aber auch in anderen Städten wie Frankfurt in den übrigen deutschen Ländern wurde die politische
am Main kam es zu großen Kundgebungen. Zwar gelang Polizei als Terrorinstrument ausgebaut. In einer Rede vom
aufgrund der festgefahrenen Feindschaft zwischen SPD 3. März 1933 sagte Göring klar: „Meine Maßnahmen werden
und KPD kein Bündnis auf der Führungsebene, aber vor nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen
Ort kam es durchaus zu gemeinsamen Demonstrationen, Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt
Kundgebungen und im württembergischen Mössingen sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Ge­
und sächsischen Staßfurt sogar zu lokalen Generalstreiks. rechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und
Rund tausend Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerin­ auszurotten, weiter nichts! […] Einen solchen Kampf führe

Unterdrückung demokratischer Parteien

SPD BVP DDP


Mir sind mehrere Versammlungen ge­ Diese Regierungserklärung hat in Deutsch­ Die NSDAP, deren Führer Sie zum höchs­
sprengt worden, und ein erheblicher Teil der land eine Kluft aufgerissen und hat alles ten Beamten des Reichs ernannt haben,
Versammlungsbesucher mußte schwer ver­ zerschlagen, was in den 14 Jahren geleistet macht durch ein System von Gesetz­
letzt weggeschafft werden. Im Einverständ­ wurde. Wir hatten die Straßen dem Verkehr widrigkeiten einem anders denkenden
nis mit dem Parteivorstand bitte ich daher, zurückerobert, die Parteifahnen von den bürgerlichen Politiker den Vortrag
von den mit mir als Redner vorgesehenen Amtsgebäuden heruntergeholt, der Presse seiner politischen Anschauungen unmög­
Versammlungen abzusehen. Nach Lage der die Freiheit in Deutschland wieder gegeben, lich, schüchtert die ruhige Bürgerschaft
Dinge gibt es offenbar auch keinen polizei­ die Sicherheit im Staat wieder hergestellt. ein und leitet den Wahlkampf in einen
lichen Schutz mehr, der ausreichen würde, Und heute ist das alles wieder gefährdet. offenen Bürgerkrieg über. Die ortspoli­
dem aggressiven Vorgehen der SA und SS in Wir erleben heute wieder den Bürgerkrieg zeilichen Organe leisten das Menschen­
meinen Versammlungen zu begegnen. auf den Straßen, der Terror ist in den Ver­ mögliche. Sie können zwar die Person
In Hindenburg ist Genosse Nölting mit sammlungen wieder eingerissen, Leute wie des Redners schützen, nicht aber die ver­
knapper Not dem Totschlag entronnen. Bei Stegerwald [Adam Stegerwald, 1874-1945, fassungsmäßig gewährleistete Ver­
mir war es in Langenbielau ähnlich. Einer Zentrumspolitiker, Reichsarbeitsminister sammlungs- und Redefreiheit. Durch die
meiner Begleiter wurde niedergeschlagen. 1930-32 – Anm.d.Red.] werden niederge­ Dezemberamnestie ist jede nachhaltige
In Breslau ist gestern abend nur durch schlagen, es werden Feuerüberfälle auf die Achtung vor dem Gesetz geschwunden.
eine zufällige Verzögerung eingesetzter Bayern- und Pfalzwacht unternommen, Das besonnene Bürgertum in Württem­
SA-Formationen namenloses Unglück die Presse wird wieder geknebelt, die freie berg blickt auf Sie, hochverehrter Herr
verhindert worden. Eine große Anzahl von Meinung versklavt, es regnet täglich Pres­ Reichspräsident, als den letzten Hort für
Verwundeten hat es trotzdem gegeben, in severbote. Die Regierungspresse darf aber Recht und Ordnung in Deutschland.
einer Stadt, die bisher stets Versammlungs­ schreiben, was sie will, ohne verboten zu Wir geben Ihnen davon Kenntnis, wie eine
sprengungen von Andersgesinnten hat werden. So durften die Hamburger Nach­ große Regierungspartei vor der Ent­
vorbeugend verhindern können. richten kürzlich schreiben: Schmeißt die scheidungswahl des deutschen Volkes das
Ich bedauere selbst am tiefsten, Euch katholischen Bayern aus dem Reichsverban­ Gesetz mit Füßen tritt, und bitten Sie,
diese Mitteilung machen und diesen Ent­ de hinaus, mit den anderen werden wir darauf einzuwirken, daß die NSDAP die
schluß fassen zu müssen. Es ist auch erst schon fertig. Die gleiche Zeitung durfte auch Wahlfreiheit nicht weiter durch Mittel
nach reiflicher Überlegung mit Mitgliedern Hindenburg zum Verfassungsbruch auf­ der Gewalt beeinträchtigt.
des Parteivorstandes geschehen, und nach­ fordern. Die Zeitung wurde nicht verboten,
dem auch in bezug auf andere Genossen wohl aber die katholische „Germania“,
ähnlich entschieden worden ist. die nichts weiter getan hat, als einen Aufruf Beschwerde-Telegramm der württembergischen Deutschen
der katholischen Verbände abzudrucken, Demokratischen Partei (DDP) an Reichspräsident Hindenburg
vom 22. Februar 1933
die voller Sorge über die kritische Entwick­
Aus einem Schreiben des ehemaligen preußischen Innenmi­ lung Deutschlands waren. […] Alle in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Machtergreifung.
nisters und Berliner Polizeipräsidenten Albert Grzesinski (SPD) Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur
an die SPD-Parteisekretäre in Dortmund, Frankfurt/M., Altona Rede des Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei, Fritz Schäf­ Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933, 3. Aufl., dtv,
und Kiel vom 24. Februar 1933 fer, in Würzburg am 23. Februar 1933, in: Becker, S. 96 München 1993, S. 91 ff.

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Machteroberung 1933 31

ich nicht mit polizeilichen Mitteln. Das mag ein bürgerli­


cher Staat getan haben. Gewiß, ich werde die staatlichen
und polizeilichen Machtmittel bis zum äußersten auch
dazu benutzen, meine Herren Kommunisten, damit Sie hier
nicht falsche Schlüsse ziehen, aber den Todeskampf, in dem
ich Euch die Faust in den Nacken setze, führe ich mit denen
da unten, das sind die Braunhemden. In Zukunft […] kommt
in diesen Staat nur mehr hinein, wer aus den nationalen
Kräften stammt […].“

ullstein bild – Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl


Am 17. Februar wurde die Parteizentrale der KPD in Berlin
von der Polizei besetzt und nach angeblichen Umsturzplä­
nen durchsucht. Am selben Tag wies Göring die Polizei an,
die nationale Propaganda mit allen Kräften zu unterstüt­
zen, dagegen „dem Treiben staatsfeindlicher Organisatio­
nen mit den schärfsten Mitteln entgegenzutreten“ und,
„wenn nötig, rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch
zu machen“. Wenige Tage zuvor hatten mehrere hundert
SA-Leute eine Veranstaltung der kommunistischen Roten
Hilfe im sächsischen Eisleben angegriffen und ein Blutbad
angerichtet. Insgesamt wurden offiziell 69 Tote und Hun­
derte von Verletzten in diesem Wahlkampf gezählt. Ein Schutzpolizist patrouilliert gemeinsam mit einem von Göring eingesetz­
Sozialdemokratische und kommunistische Zeitungen, die ten „Hilfspolizisten“ der SS durch die Straßen von Berlin. Die Straßenkämpfer
über diese Geschehnisse kritisch berichteten, wurden über von einst sind zu „Ordnungshütern“ geworden.
mehrere Tage hinweg verboten. Am 23. Februar ordnete
Göring zur angeblichen Bekämpfung „zunehmender Aus­
schreitungen von linksradikaler, insbesondere kommunis­
tischer Seite“ die Aufstellung von 50 000 „Hilfspolizisten“
an, die ausschließlich aus SA, SS und Stahlhelm rekrutiert
werden sollten und mit Knüppeln und Pistolen bewaffnet
wurden. Nun konnten zehntausende von SA-Schlägern ih­
ren gewalttätigen Terror gegen die Linke als staatliche Po­
lizisten ausüben.
Vor allem ein Ereignis kam den Nationalsozialisten zu Hil­
fe: der Brand des Reichstages am Abend des 27. Februar. Im
brennenden Gebäude wurde ein junger Niederländer, Ma­
rinus van der Lubbe, gefunden, der den Brand aus Protest
gegen den Nationalsozialismus gelegt hatte. Sowohl in der
zeitgenössischen Bewertung als auch lange Zeit in der Ge­
schichtsschreibung war die Alleintäterschaft van der Lubbes
umstritten. Lag es nicht näher, dass die Nationalsozialisten,
die einwandfrei aus dem Reichstagsbrand politischen Nut­
zen ziehen konnten, selbst den Reichstag angezündet hat­
ten? Neuere feuerwehrtechnische Erkenntnisse jedoch be­
legen die Annahme, dass van der Lubbe die Brandstiftung
allein begangen hat. Für die NS-Führung stand von vornhe­
www.1000dokumente.de / Bayerische Staatsbibliothek München

rein fest, dass der Brandanschlag das Fanal eines kommu­


nistischen Aufstandsversuchs sei. Noch in der Nacht ent­
schieden Hitler, Göring, Goebbels und von Papen in kleiner
Runde, eine Notverordnung ausarbeiten zu lassen, die tags
darauf dem Reichskabinett als Entwurf vorlag.
Am späten Nachmittag unterschrieb Reichspräsident Hin­
denburg die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“
vom 28. Februar 1933, mit der wesentliche Grundrechte der
Verfassung wie Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der
Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs­
und Versammlungsfreiheit, das Vereinigungsrecht sowie die
Gewährleistung des Eigentums außer Kraft gesetzt wurden.
Statt wie bisher mit lebenslangem Zuchthaus konnten nun
Hochverrat, Brandstiftung, Sprengstoffanschläge, Attenta­
te und selbst die Beschädigung von Eisenbahnanlagen mit
dem Tod bestraft werden. Die Verordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz von Volk und Staat“,
Im Unterschied zu früheren Notstandsverordnungen, die nach Ernst Fraenkel die „Verfassungsurkunde des Dritten Reiches“, war
die Exekutivgewalt entweder einem militärischen Befehls- grundlegend für die gesamte Verfolgungspraxis der SS und der Polizei.

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32 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Zur Debatte um den Reichstags­ einziges davon wies auf etwas anderes hin chen stark reduziert. [...] Aus der Annahme
brand als den vom Brandstifter geschilderten der NS-Verantwortung folgt letztlich eine
Tatverlauf. [...] Exkulpierung der damaligen deutschen
Ein Dreivierteljahrhundert schon wird über Hinzu kommt: Wenn hinter der Brandstif­ Gesellschaft. [...]
den 27. Februar 1933 gestritten. […] Und tung tatsächlich ein perfider Plan der SA Es bleibt eine letzte Frage: Wie kam es zu
trotzdem ist die Lage heute kaum klarer als oder der NSDAP gesteckt hätte, dann wären dem verheerenden Brand im Plenarsaal,
bald nach der Brandstiftung – als einer­ die offensichtlich skrupellosen Täter wenn wirklich nur Marinus van der Lubbe
seits Wolfgang Stresemann und Harry Graf wohl schlau genug gewesen, ausreichend mit seinen auf den ersten Blick ungenü­
Kessler wie selbstverständlich davon aus­ „Spuren“ zu legen, um ihr Ziel auch sicher genden Mitteln wie Kohlenanzündern,
gingen, dass die Nazis die Brandstiftung zu zu erreichen. Eine tatsächliche NS-Provo­ Kleidungsstücken und Tischdecken als
verantworten hätten, andererseits die kation sechseinhalb Jahre später, der Täter in Frage kommt? [...]
ermittelnden Kriminalbeamten Helmut fingierte Überfall von SS-Leuten in polni­ […] Es dürfte am 27. Februar 1933 gegen
Heisig und Walter Zirpins bereits den schen Uniformen auf den deutschen 21.27 Uhr zu einem heute als „Backdraft“
Eindruck gewonnen hatten, dass sie das Sender Gleiwitz am 31. August 1939, zeigt, bekannten und gefürchteten Phänomen
Geständnis von Marinus van der Lubbe dass der Einsatz gefälschter Indizien Hitlers gekommen sein, das bei Bränden in
glauben sollten [...]. Schergen keineswegs fremd war. [...] geschlossenen Räumen auftritt. Dabei ver­
Entgegen häufig wiederholter Behaup­ [...] Warum wird noch immer über die Tä­ braucht zunächst ein offen brennendes
tungen konnte bislang niemand einen terschaft gestritten? Der wichtigste Grund Feuer einen Großteil des verfügbaren Sau­
Beleg für die Täterschaft der NSDAP an dürfte sein, dass den Nazis angesichts ihrer erstoffs. Verlöschen die Flammen, führen
dieser Brandstiftung vorlegen. [...] Neue zahlreichen anderen und bei weitem die stark gestiegenen Temperaturen zum
echte Beweise sind nicht mehr zu erwarten; schlimmeren Verbrechen auch die Brand­ chemischen Phänomen der Pyrolyse: Orga­
es gibt keine nennenswerten Quellen, die stiftung im Parlament ohne weiteres zu­ nische Moleküle spalten sich; unoxidierte,
noch verschollen sind. Auch lebt längst nie­ zutrauen gewesen wäre. […] Zweitens haben das heißt brennbare Gase steigen auf und
mand mehr, der 1933 in irgendeiner Form Hitler und Göring ja den Brand tatsächlich sammeln sich unter der Decke. Gleichzeitig
etwas bislang Unbekanntes hätte erfahren geradezu virtuos für ihre Zwecke eingesetzt; sinkt durch die nunmehr nur noch schwe­
können und heute sein Schweigen brechen die vorsätzlich in Szene gesetzte Explosion lenden Brandstellen die Temperatur etwas.
würde. [...] der innenpolitischen Gewalt im März 1933 Dadurch entsteht ein Unterdruck, der Luft
Dagegen steht eine in sich schlüssige leitete die Eroberung der totalen Macht ansaugt, sobald das möglich ist. Kommt in
Darstellung der Brandstiftung durch Ma­ über Deutschland ein. [...] Ein dritter Grund dieser Situation Sauerstoff in den bis da­
rinus van der Lubbe: Der holländische ist die Feststellung im Urteil des Reichsge­ hin abgeschlossenen Raum, lässt sich eine
Anarchokommunist hatte mit seiner Tat richts, van der Lubbe habe Mittäter haben Katastrophe kaum mehr abwenden: Nach
ein Zeichen setzen wollen – gegen die müssen. Doch dies war wahrscheinlich dem Öffnen einer Tür scheint die gestaute
Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Zugeständnis der Richter an die Reichs­ Hitze zunächst wie ein Schlag hinauszu­
und gegen die Lähmung der radikalen regierung, die sie nicht völlig bloßstellen drängen, doch unmittelbar darauf bildet
Arbeiterbewegung; für eine Revolution von wollten, nachdem sie bereits die vier mitan­ sich ein starker Luftzug ins Innere des
unten, ja eigentlich für Aufruhr als geklagten Kommunisten aus Mangel an nun geöffneten Brandraums. Der Sauerstoff
Selbstzweck. In mehr als 30 Verhören über Beweisen freigesprochen hatten. vermischt sich, je nach Größe des Raums
Monate hinweg blieb van der Lubbe im Alles spricht dafür, die zahlreichen Ge­ in wenigen Sekunden bis mehr als einer Mi­
Kern stets bei seiner Darstellung; wesent­ ständnisse Marinus van der Lubbes ernst nute, mit den heißen Rauchgasen. Sobald
liche Widersprüche gibt es in den ent­ zu nehmen. Aber warum ist die Frage die Mischung zündfähig ist, kommt es zu
sprechenden Akten gerade nicht. [...] [A]lle der Täterschaft überhaupt seit 75 Jahren einer Rauchgasexplosion, die Temperatur
Ende Februar und Anfang März 1933 im derartig umkämpft? [...] Woher rührte die von bis zu 10 00 Grad entwickeln kann und
Reichstag gesicherten objektiven Beweise Bedeutung für die deutsche Zeitgeschichte? nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist.
[stützten] van der Lubbes Version [...] oder [...] Die Antwort liegt in der grund­
[widersprachen] ihr jedenfalls nicht [...]. sätzlichen Einschätzung des Dritten Reichs: Sven Felix Kellerhoff, Der Reichstagsbrand. Die Karriere eines
Kriminalfalls, be.bra verlag, Berlin-Brandenburg, S. 131 ff.
Dagegen gibt es in den Voruntersuchungs­ Gehörte die Brandstiftung zu einem bis
akten keinerlei Hinweise auf unterdrückte ins Detail vorbereiteten Plan der NSDAP?
oder verfälschte Spuren, die für mehrere Oder reagierten der „Führer“ und seine
Beteiligte gesprochen hätten. Das wäre Paladine spontan auf den Reichstagsbrand,
auch seltsam gewesen, denn an der Unter­ setzten sie sich also wegen ihrer
drückung mutmaßlicher Beweise für Rücksichtslosigkeit gegen die zögernden
weitere Täter hätten die Nazis ja keinerlei politischen Gegner durch, die Sozialde­
Interesse haben können; sie behaupteten mokratie und das Zentrum? Wer schon den
ja stets, van der Lubbe hätte Komplizen ge­ Reichstagsbrand für ein inszeniertes
habt. Obwohl auf die Polizisten offensicht­ Schurkenstück der Hitler-Partei hält, muss
lich Druck ausgeübt wurde, Belege zu „fin­ zwangsläufig die NS-Herrschaft insge­
ullstein bild – Imagno

den“, wurden keinerlei Indizien für andere samt zu präzise durchgeplanter Machtpo­
Täter dokumentiert, weder irgendwelche litik erklären – einschließlich Auschwitz.
Brandbeschleuniger noch Zündmechanis­ Allerdings hat diese Annahme eine unver­
men, die der „Strohmer“ van der Lubbe meidliche Folge: Automatisch wird damit
nicht hätte haben können. 99 Positionen die Verantwortung der deutschen Gesell­
lang war die Liste der „sichergestellten schaft insgesamt, hunderttausender, ja Der abgebrannte Plenarsaal des Reichstags am
Beweismittel“ aus dem Reichstag – kein Millionen Deutscher an all diesen Verbre­ 28. Februar 1933

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Machteroberung 1933 33

haber oder zivilen Reichskommissar übertragen hatten,


ließ die Reichstagsbrandverordnung diese Frage offen und
bestärkte damit wiederum die Machtbefugnis der Reichs­
regierung, die über die „nötigen Maßnahmen“ entscheiden
konnte. Die Reichstagsbrandverordnung stärkte besonders
die Macht der Polizei im NS-Regime und ließ erkennen, wie
wenig die nationalsozialistische Führung in den traditio­
nellen Kategorien eines vorübergehenden Staatsnotstands
oder Belagerungszustandes dachte. Vielmehr wollte sie
ein Instrument zur dauerhaften Festschreibung national­
sozialistischer Herrschaft mittels Polizei und Konzentra­
tionslager schaffen. Bis zum Ende des NS-Regimes stellte
die Reichstagsbrandverordnung die formale Legitimation
der Geheimen Staatspolizei für deren Verhaftungen und
Verfolgungen von deutschen Staatsbürgern dar. Zugleich
verstärkte die antikommunistische Hysterie die Selbstläh­
mung der Konservativen und Deutschnationalen, die die
brutale und außergesetzliche Unterdrückung der Opposi­
tion widerstandslos hinnahmen.
Schon in den Morgenstunden des 28. Februar begannen die
Verhaftungen nach vorbereiteten Listen; in den folgenden Ta­
gen wurden allein in Preußen rund 5000 Menschen, in erster
Linie Kommunisten und Sozialdemokraten, festgenommen

Bundesarchiv, Bild 146-1982-014-35A


und interniert. Die SA verfolgte ihrerseits die „Roten“ und
verschleppte Angehörige der Arbeiterparteien und Gewerk­
schaften in Schulen, Kasernen, Keller und Parteilokale, wo sie
geschlagen, gefoltert und ermordet wurden.
Trotz des Terrors gelang der NSDAP bei den Wahlen am
5. März 1933 nicht der erwartete Erfolg, sondern sie blieb
auf die Stimmen der Deutschnationalen angewiesen. Zwar
steigerten die Nationalsozialisten ihren Anteil noch einmal
beachtlich und erhielten 43,9 Prozent der Stimmen, aber die Die Wächter: SA-Posten vor dem Eingang des KZ Oranienburg, das ab März
erhoffte absolute Mehrheit errangen sie nicht, wohingegen 1933 auf dem Areal einer ehemaligen Fabrik entstand.
das katholische Zentrum und die Sozialdemokraten trotz Un­
terdrückung ihren Stimmenanteil halten konnten und selbst
die KPD noch 12,3 Prozent der Stimmen bekam.
Dennoch waren die Wahlerfolge der NSDAP in Nord- und
Ostdeutschland, wo sie deutlich über 50 Prozent der Stim­
men holte, nicht zu übersehen. Und auch im katholischen
Bayern war es der NSDAP gelungen, starke Stimmenzuwäch­
se zu erzielen, was bedeutete, dass die katholische Resistenz
gegenüber dem Nationalsozialismus eingebrochen war. Die
NS-Führung feierte das Wahlergebnis als Sieg und glaubte
nun alle Legitimation zu besitzen, die „nationalsozialistische
Revolution“ voranzutreiben.

„Gleichschaltung“ der Länder

Gleich nach der Wahl vom 5. März wurden Länder und


Kommunen „gleichgeschaltet“. Handhabe dazu bot Para­
graph 2 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat, der
den Reichsinnenminister ermächtigte, in die Souveränität
der Länder einzugreifen, falls diese nicht selbst geeignete
Bundesarchiv, Bild 183-R88978

Schutzvorkehrungen trafen. Innerhalb von nur wenigen


Tagen setzte die Hitler-Regierung nationalsozialistische
Reichskommissare in Hamburg, Bremen, Hessen, Baden,
Württemberg, Sachsen und Bayern ein. Die Machtübernah­
me erfolgte nach stets gleichem Muster. Die jeweils örtli­
che SA marschierte vor den Rathäusern und Regierungsge­
bäuden auf, verlangte, dass die Hakenkreuzfahne gehisst Die Gefangenen: sozialdemokratische Funktionäre im Konzentrationslager
werde, und drohte damit, die Gebäude zu stürmen. Das Oranienburg. Unter ihnen auch Friedrich Ebert jr., der spätere Oberbürger­
bot dem nationalsozialistischen Reichsinnenminister Frick meister von Ost-Berlin und Sohn des früheren Reichspräsidenten (2. v. l.)

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34 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

den Vorwand, unter Berufung auf Artikel 2 der Reichstags­ Mehrheiten mehr besaßen und nur noch geschäftsführend
brandverordnung einzugreifen und die gewählten Landes­ im Amt waren.
regierungen abzusetzen. Die neuen nationalsozialistischen Mit dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März wurden die
Machthaber ernannten in der Regel gleich jeweils neue Landtage (bis auf Preußen), Bürgerschaften und kommuna­
Polizeipräsidenten und bauten den Polizeiapparat massiv len Parlamente sämtlich aufgelöst und nach den regionalen
aus. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler und der Chef bzw. lokalen Stimmenverhältnissen der Reichstagswahl vom
des Sicherheitsdienstes der SS (SD) Reinhard Heydrich ver­ 5. März neu zusammengesetzt. Die kommunistischen Stimmen
standen es erfolgreich, insbesondere die politische Polizei durften nicht gezählt werden, die sozialdemokratischen Sitze
ihrer Kontrolle zu unterstellen. wurden einbehalten, so dass bald nur noch nationalsozialis­
Dass diese Machtübernahme so reibungslos funktio­ tisch dominierte Einheitsorgane übrig blieben. Diese Gebilde
nierte, ohne auf nennenswerten Widerstand der abge­ galten auf vier Jahre gewählt, es fanden keine Wahlen mehr zu
setzten Landesregierungen zu stoßen, zeigt, wie resigniert Repräsentativorganen der Bürger statt. Anfang April wurden
mittlerweile viele Demokraten waren. Zudem hatte die in allen deutschen Ländern, bis auf Preußen, Reichsstatthalter
NS-Führung gezielt jene Länder ausgewählt, in denen die eingesetzt, die meist identisch mit den jeweiligen Gauleitern
jeweiligen Landesregierungen keine parlamentarischen der NSDAP waren und die Landesgewalt übernahmen.

Terror und Zustimmung


Mit rasanter Dynamik und einem geschickten Spiel mit mäßigen politischen Ordnung nicht diesen Verlauf nehmen
Gemeinschaftsversprechen und Inklusionsangeboten auf können. Aber ebenso unerlässlich war die aktive Mithilfe
der einen sowie radikaler Exklusion, Terror und Verfolgung etlicher gesellschaftlicher Organisationen. Es gab, kommen­
auf der anderen Seite gelang es den Nationalsozialisten, tierte Sebastian Haffner im Rückblick, „ein sehr verbreitetes
die republikanische Verfassungsordnung, auch wenn sie Gefühl der Erlösung und Befreiung von der Demokratie. Was
formal erhalten blieb, auszusetzen und eine auf Volk, Rasse macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des Volkes sie
und Führer gegründete Diktatur zu errichten, die sich der nicht mehr will?“
Zustimmung einer großen Mehrheit der Deutschen sicher Hatte die NSDAP im Januar 1933 noch rund 850 000 Mitglie­
sein konnte. der besessen, beantragten nach dem 30. Januar und vor allem
Ohne die Rücksichtslosigkeit, mit der nicht bloß die Na­ nach dem 5. März, also nach den Wahlen, Hunderttausende die
tionalsozialisten, sondern auch die Deutschnationalen die Aufnahme in die Partei, so dass schließlich die Parteiführung
Weimarer Verfassungsordnung zu Grabe tragen wollten, zum 1. Mai bei einem Stand von 2,5 Millionen Mitgliedern ei­
aber auch ohne den Terror durch Gestapo und Konzentrati­ nen Aufnahmestopp verfügte, um der zuströmenden Massen
onslager hätte dieser Prozess der Auflösung der verfassungs­ Herr zu werden.

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


Machteroberung 1933 35

die nationalkonservativen Anhänger nicht zu verprellen,


sondern weiterhin an sich zu binden. Aber die terroristische
Dimension verschwand deshalb nicht.
Noch am selben Tag verkündete die Regierung sowohl
eine Amnestie für Straftaten, die „im Kampfe für die natio­
nale Erhebung des Deutschen Volkes“ begangen worden
waren und unter anderem den Mördern im schlesischen
Potempa zugute kam (siehe S. 26. Sie wurden im März 1933
freigelassen), als auch eine Verordnung zur „Abwehr heim­
tückischer Angriffe“, mit der jedwede Kritik an der Regie­
rung mit Gefängnis bestraft werden konnte.

Ermächtigungsgesetz
Bundesarchiv, Bild 183-S38324

Zwei Tage später, am 23. März, verabschiedete der Reichstag –


gegen die Stimmen der SPD – das „Ermächtigungsgesetz“,
das der Regierung zunächst für vier Jahre das Recht ver­
lieh, eigenmächtig Gesetze, sogar verfassungsändernde,
zu erlassen, soweit sie nicht die Stellung des Parlaments,
Am Tag von Potsdam inszeniert sich Hitler als der demütige Staatsmann, der Ländervertretung oder des Reichspräsidenten betra­
der dem Reichspräsidenten Hindenburg seine Aufwartung macht. fen. Damit wurde die verfassungsmäßige Gewaltenteilung
zwischen Legislative und Exekutive zerstört und das allei­
nige Recht des Parlaments, als gewählte Volksvertretung
Gesetze zu erlassen, aufgehoben.
Die notwendige Zweidrittelmehrheit konnte nur durch
die Zustimmung der katholischen Parteien, des Zentrums
und der Bayerischen Volkspartei, erreicht werden. Die Ver­
handlungen mit den Nationalsozialisten hatten die Zen­
trumspartei vor eine schwere Zerreißprobe gestellt. Doch
schließlich siegte die Furcht, bei einer Ablehnung des
Ermächtigungsgesetzes wieder wie unter Bismarck als „in­
nerer Reichsfeind“ dazustehen, und Hitler versprach aus­
Süddeutsche Zeitung Photo / S.M.

drücklich, die Rechte der katholischen Kirche auf unge­


störte Religionsausübung und eigenständige Schulen nicht
anzutasten. Zudem schien der Reichstagsbrand die angeb­
liche kommunistische Bedrohung und damit die Forderung
nach einem starken Staat zu bestätigen, der hart gegen lin­
ke Umsturzabsichten durchgreifen müsse.
Außerdem enthielt das Ermächtigungsgesetz die Klau­
Die nationalsozialistische Propaganda stellte Hitler als volksnahen „Voll­ sel, dass die Stellung des Reichstages und des Reichsprä­
ender“ der nationalen Einheit neben prominente Vorgänger. sidenten nicht angetastet werden dürften. Zusätzlich galt
die Laufzeit des Gesetzes vorerst für vier Jahre und muss­
te dann vom Reichstag neu beschlossen werden. Dass der
Tag von Potsdam Reichstag 1937 kein frei gewähltes Parlament mehr war,
sondern ein ausschließlich mit Nationalsozialisten besetz­
So bemühte sich das Regime unter der Regie von Joseph tes willfähriges Instrument der Diktatur, konnten sich die
Goebbels, der zehn Tage zuvor Reichsminister für Volksauf­ republikanischen Abgeordneten, darunter auch der spätere
klärung und Propaganda geworden war, die Eröffnung des Bundespräsident Theodor Heuss, kaum vorstellen. Mit 444
neuen Reichstages – ohne die sozialdemokratischen und Ja-Stimmen gegen 94 Nein-Stimmen beschloss der Reichs­
kommunistischen Abgeordneten – am 21. März in der Pots­ tag seine eigene Entmachtung.
damer Garnisonskirche als Tag der nationalen Einigung mit Allein die SPD, deren Fraktion aufgrund von Verhaftun­
Festgottesdienst, Salutschüssen und Aufmarsch von Reichs­ gen, Verfolgung und Flucht nicht mehr vollzählig anwe­
wehr, SA und SS zu zelebrieren. Das Bild des Kanzlers, der sich send sein konnte, stimmte gegen das Gesetz. Der Fraktions­
ehrerbietig vor dem greisen Reichspräsidenten verbeugte, vorsitzende Otto Wels begründete in einer mutigen Rede,
der Handschlag zwischen dem Gefreiten und dem Feldmar­ die immer wieder hasserfüllt von den nationalsozialisti­
schall, sollte den Höhepunkt der Inszenierung bilden – und schen Abgeordneten unterbrochen wurde, und angesichts
konnte doch nicht die unterschiedlichen Erwartungen, die im Saal aufmarschierter SA- und SS-Milizen die Stellung
an die neue Regierung gerichtet waren, kaschieren. Gerade in seiner Partei. Und Wels schloss mit einem Gruß an die „Ver­
der anscheinend demutsvollen, zahmen Art, wie sich Hitler folgten und Bedrängten“, deren Standhaftigkeit Bewunde­
an diesem Tag gab, zeigte sich die Absicht der NS-Führung, rung verdiene.

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36 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933

Der Reichstag hat das folgende Gesetz des Reichstags und des Reichsrats als Gesetzgebung beteiligten Körperschaf­
beschlossen, das mit Zustimmung solche zum Gegenstand haben. Die ten. Die Reichsregierung erläßt die
des Reichsrats hiermit verkündet wird, Rechte des Reichspräsidenten bleiben zur Durchführung dieser Verträge
nachdem festgestellt ist, daß die unberührt. erforderlichen Vorschriften.
Erfordernisse verfassungsändernder
Gesetzgebung erfüllt sind: Art. 3. Die von der Reichsregierung be­ Art. 5. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage
schlossenen Reichsgesetze werden seiner Verkündung in Kraft. Es tritt
Art. 1. Reichsgesetze können außer in vom Reichskanzler ausgefertigt und im mit dem 1. April 1937 außer Kraft; es tritt
dem in der Reichsverfassung vor­ Reichsgesetzblatt verkündet. Sie ferner außer Kraft, wenn die gegen­
gesehenen Verfahren auch durch die treten, soweit sie nicht anderes bestim­ wärtige Reichsregierung durch eine
Reichsregierung beschlossen wer­ men, mit dem auf die Verkündung andere abgelöst wird.
den. […] folgenden Tage in Kraft. […]
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur
Art. 2. Die von der Reichsregierung Art. 4. Verträge des Reichs mit fremden Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 35

beschlossenen Reichsgesetze können Staaten, die sich auf Gegenstände


von der Reichsverfassung abwei­ der Reichsgesetzgebung beziehen, bedür­
chen, soweit sie nicht die Einrichtung fen nicht der Zustimmung der an der

Aus der Reichstagsdiskussion am 23. März 1933 in der Berliner Kroll-Oper

Rede von Otto Wels (SPD)

[...] Freiheit und Leben kann man uns Wir haben gleiches Recht für alle und kratie nicht vernichtet. Auch aus neuen
nehmen, die Ehre nicht. [...] Nach ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Verfolgungen kann die deutsche Sozial­
den Verfolgungen, die die Sozialdemo­ Wir haben geholfen, ein Deutschland demokratie neue Kraft schöpfen.
kratische Partei in der letzten Zeit er­ zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten Wir grüßen die Verfolgten und Be­
fahren hat, wird billigerweise niemand und Baronen, sondern auch Männern drängten. Wir grüßen unsere
von ihr verlangen oder erwarten kön­ aus der Arbeiterklasse der Weg zur Freunde im Reich. Ihre Standhaftigkeit
nen, daß sie für das hier eingebrachte Führung des Staates offen steht. Davon und Treue verdienen Bewunderung.
Ermächtigungsgesetz stimmt. [...] können Sie nicht zurück, ohne Ihren Ihr Bekennermut, ihre ungebrochene
Noch niemals, seit es einen Deutschen eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich Zuversicht verbürgen eine hellere
Reichstag gibt, ist die Kontrolle der wird der Versuch bleiben, das Rad der Zukunft.
öffentlichen Angelegenheiten durch die Geschichte zurückzudrehen.
gewählten Vertreter des Volkes in [...] Wir deutschen Sozialdemokraten http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/wels/index.html
solchem Maße ausgeschaltet worden, bekennen uns in dieser geschichtlichen
wie es jetzt geschieht, und wie es Stunde feierlich zu den Grundsätzen
durch das neue Ermächtigungsgesetz der Menschlichkeit und der Gerechtig­
noch mehr geschehen soll. Eine keit, der Freiheit und des Sozialismus.
solche Allmacht der Regierung muß Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen
sich um so schwerer auswirken, die Macht, Ideen, die ewig und unzer­
als auch die Presse jeder Bewegungs­ störbar sind, zu vernichten. [...] Das
freiheit entbehrt. [...] Sozialistengesetz hat die Sozialdemo-

Erwiderung Adolf Hitlers

[...] Sie sind wehleidig, meine Herren, an den Deutschen Reichstag, uns zu Und ich kann Ihnen nur sagen: Ich
und nicht für die heutige Zeit be­ genehmigen, was wir auch ohnedem will auch gar nicht, daß Sie dafür
stimmt, wenn Sie jetzt schon von Ver­ hätten nehmen können. [...] stimmen! Deutschland soll frei wer­
folgungen sprechen. [...] Auch Ihre Ich glaube, daß Sie (zu den Sozialde­ den, aber nicht durch Sie!
Stunde hat geschlagen, und nur, weil mokraten) für dieses Gesetz nicht
wir Deutschland sehen und seine Not stimmen, weil Ihnen Ihrer innersten http://www.reichstagsprotokolle.de/
und die Notwendigkeit des nationalen Mentalität nach die Absicht unbe­ Blatt2_w8_bsb00000141_00038.html

Lebens, appellieren wir in dieser Stunde greiflich ist, die uns dabei beseelt. [...]

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Machteroberung 1933 37

Stadtmuseum Hofgeismar, Abt. Judaica, Bildarchiv


Demütigung als Volksbelustigung: Der SPD-Kreistagsabgeordnete Hermann Weidemann wird, auf einem Ochsen sitzend, von SA-Männern durch seinen ehemali­
gen hessischen Wahlbezirk Hofgeismar geführt.

Misshandlung einer demokrati­ der Wohnung holte, dem dort befindlichen nochmal so eine Wucht verabfolgt [...] und
schen Stadträtin Führer meinen Namen Jankowski nannte, dann werden wir in den Wagen eingela­
antwortete der dort anwesende Führer „Ach den und nach Schmöckwitz gefahren, wo
In der Nacht vom 20. zum 21. März dieses Jankowski, die alte, fette Sau!“ Wir wur­ wir unsere Kute (Grube) graben können.“
Jahres gegen halb 2 Uhr wurde an meiner den aufgefordert, uns in eine Ecke zu stellen. Während der Abwesenheit des Führers so­
Wohnungstür heftig geklingelt und ge­ Jetzt mußte der junge Mann, Heber […], wie einiger anderer SA-Leute, wurden wir
klopft. Im Glauben, daß meine Kinder nach vortreten, und es wurden ihm die Haare von der zurückbleibenden Wache mit
Hause gekommen waren, stand ich sofort geschnitten. Es wurden jetzt von uns allerlei Schimpfworten bedacht. Was für
auf und fragte „Wer ist da?“ Mit einer bar­ dreien die Personalien aufgenommen. Bei schmutzige Wörter von den Leuten zu uns
schen Stimme wurde mir darauf geant­ der Aufnahme der Personalien fielen gesagt wurden, kann ich heute hier nicht
wortet: „Machen Sie sofort auf, hier ist die allerlei Bemerkungen, zum Beispiel „Aas, mehr wiedergeben.
Polizei, sonst wird gewaltsam geöffnet.“ […] dreckiges Luder“ usw. […] Der Führer richte­ Nach Rückkehr des Führers bekamen wir
Mein Mann schloß die Tür auf. Es traten te nun an mich die Frage, wieviel Gehalt ich der Reihe nach auf dieselbe Art und Weise
6 – 8 Mann herein. Verschiedene waren mit von der Stadt beziehe. Ich gab ihm zur wie vorher zum 4. Male je 20 Schläge. […]
Karabinern bewaffnet. Bis auf einen Mann, Antwort, daß ich nur eine Aufwandsentschä­ Mir wurde jetzt erklärt, daß ich jetzt ent­
der ein blaues Jackett und eine blaue Mütze digung von 48,75 RM den Monat beziehe. lassen werde, müßte aber vorher noch
trug, waren alle in SA-Uniform. Die Leute, Der Führer antwortete mir „Du verschwin­ ein Revers unterschreiben. Das Revers war
die in meine Wohnung eintraten, kenne ich deltes Aas, du kriegst kein Gehalt, dir schon mit der Maschine vorgeschrieben.
vom Sehen alle. Es sind alles junge Leute, werden wir schon“ und gab dann den Es enthielt, daß ich alle Ämter niederzule­
die mit meinen Kindern zusammen in die Leuten, die zum Schlagen bereit standen, gen habe, daß ich aus der Partei austrete
Schule gegangen sind. […] Einer von denen, die Zahl 20 an. […] Nach Verabfolgung und mich politisch nicht mehr betätige.
der sicher der Führer war, forderte mich mit der Schläge mußte ich mich zu Flieger wie­ Außerdem solle ich mich von Donnerstag,
den Worten „Bitte ziehen Sie sich an. Sie der in die Ecke stellen. […] Als ich zum den 23. März 33 ab in der dort befindlichen
kommen mit.“ auf. Ich forderte von diesem zweiten Mal herankam, beschuldigte der SA-Kaserne, wo ich geschlagen wurde,
Mann einen Ausweis. Er antwortete mir Führer mich, daß ich Listen verbreitet abends von 19 – 20 Uhr täglich melden. Am
mit flotter Armbewegung: „Ach Quatsch, hätte, wonach nationalsozialistische Ge­ Donnerstag, den 23. März 33, hätte ich
machen Sie keinen Heckmeck. Sie kommen schäftsleute boykottiert werden sollten. auch die Liste sämtlicher Funktionäre der
mit!“. […] Ich mußte nun das Auto (ein Wä­ Ich erklärte ihm, daß ich nichts davon weiß. Partei mitzubringen. […] Da ich nun
scheauto), das vor dem Hause bereit stand, Er antwortet mir: „Du weißt ja überhaupt allein auf der Straße stand und nicht laufen
mit den Leuten, die bei mir in der Wohnung nichts“, und ich bekam zum zweiten Mal 20 konnte, war es mir nicht möglich, meinen
waren, besteigen und mitfahren. […] Schläge. […] Nach einer gewissen Zeit wurde Heimweg anzutreten. […]
Die Fahrt ging weiter nach der Elisabeth­ ich wieder in Ruhe gelassen, und es kamen Am 31. März wurde ich auf Grund einer
straße in die SA-Kaserne. […] Dort auf jetzt wieder Heber und Flieger und ich Verfügung des Hauptgesundheitsamts
dem Hof mußte ich aussteigen und mit heran, sich auf den Tisch zu legen und zum aus dem Krankenhaus entlassen. Ich befinde
in das Hintergebäude des Hofes (unten dritten Male Schläge zu bekommen […] mich heute noch in ärztlicher Behand­
Stall, oben sicher Heuboden) mitgehen. Er­ Wir mußten uns nachdem in eine Reihe lung. […]
wähnen will ich noch, daß sich außer stellen und das Deutschlandlied durch­ Aus Furcht, daß mir evtl. nochmals dieses
mir noch ein gewisser Herr Heber und Herr singen. Nach Absingen des Deutschland­ Unglück widerfahren könnte und damit
Flieger im Wagen befanden. Diese Leute liedes erklärte uns der Führer, daß er uns ich nun in Ruhe gelassen werde, stelle ich
mußten ebenfalls mit mir in das Gebäude jetzt eine halbe Stunde in Ruhe lassen gegen die Täter keinen Strafantrag.
gehen. […] würde. Er würde jetzt hinuntergehen, und Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei
Der Führer, der auch in meiner Wohnung wenn er wiederkäme, würde er an uns vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Macht­
mit war, meldete uns dem dort befind­ bestimmte Fragen richten. Sollten wir die ergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar
1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933,
lichen Führer. Als der Führer, der mich aus Fragen nicht beantworten, „so wird uns 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 150 ff.

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38 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Verfolgung der Juden aktionen, häufig begleitet von gewalttätigen Ausschreitun­


gen, über das gesamte Reich aus, und die nationalsozialis­
Nach der Ausschaltung der politischen Opposition richtete tische Provinzpresse berichtete intensiv über die Aktionen,
sich der nächste Schlag des Regimes gegen die deutschen um sie weiter zu forcieren. Die NS-Führung bemühte sich
Juden. Bereits zwei Tage nach den Reichstagswahlen be­ dagegen, die „Einzelaktionen“, wie sie in der NS-Terminologie
gannen im Ruhrgebiet, namentlich in Essen, Bottrop sowie hießen, unter Kontrolle zu bekommen. Doch obwohl Hitler
Mülheim, Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Der persönlich in einem Aufruf am 10. März im „Völkischen Beob­
NS-Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand nutzte achter“ an die Partei- und SA-Mitglieder „höchste Disziplin“
die Boykottaktionen, um Juden aus den Mittelstandsverei­ beschwor, hielt der Druck von der Parteibasis weiter an.
nigungen zu verdrängen. Rasch breiteten sich die Boykott- Die Parteiführung entschloss sich daher Ende März, ei­
nen reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte zu organisie­
ren. Als Begründung dienten die internationalen Proteste,
vor allem in den USA, gegen die Verfolgung von Juden in
Deutschland, die von den Nationalsozialisten als jüdisch
gesteuerte Greuelprogaganda hingestellt wurde. Gegen sie
sollte der Boykott eine Gegendemonstration darstellen.
Überall in Deutschland standen am Samstag, dem 1. April,
SA-Posten vor Geschäften mit jüdischen Inhabern, die aber
angesichts der Drohungen ihre Läden an diesem Tag sowie­
so geschlossen hatten. Obwohl die Regimeführung immer
wieder betonte, dass die Boykottaktion mit Ruhe und Diszi­
plin vonstatten gegangen sei, brach die Gewalt an etlichen
Orten auf.
Außenpolitisch war der Boykott ein Fehlschlag, weil er
den Eindruck von den Judenverfolgungen in Deutschland
bestätigte; und auch innenpolitisch erwies er sich als wenig
erfolgreich, weil offenkundig zahlreiche Deutsche die Akti­
on missbilligten, zumal ja auch nicht-jüdische Angestellte
in Mitleidenschaft gezogen wurden. So blieb der Boykott of­
fiziell auf einen Tag beschränkt, aber in der Provinz, außer­
halb der Großstädte, wurden die Aktionen vehement fort­
geführt. Gerade in den kleinen und mittleren Orten stellten
die Boykottaktionen ein entscheidendes Politikfeld dar, um
soziale Distanzen zwischen Juden und „Volksgenossen“ zu
schaffen und die jüdischen Nachbarn zu isolieren.
bpk

Antisemitische Schmierereien an den Schaufenstern des Textilgeschäftes Wenige Tage nach dem Boykott nutzte die Hitler-Regie­
Hermanns & Froitzheim, Frankfurt/Main 1933 rung die ihr durch das Ermächtigungsgesetz verliehene
Kompetenz, um mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums“ vom 7. April sogenannte Nicht-Arier –
es genügte, wenn ein Großelternteil jüdischer Religion war –
aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Zugleich wurde
die Betätigung jüdischer Rechtsanwälte eingeschränkt und
zwei Wochen später ein Numerus clausus für jüdische Stu­
denten eingeführt. Waren viele mit den Boykottmethoden
und der antisemitischen Gewalt auch nicht einverstanden,
so billigten sie doch die Verdrängung von Juden aus Beru­
fen, in denen sie angeblich überproportional vertreten wa­
ren – nicht zuletzt profitierten zahlreiche Jungakademiker
von den Entlassungen, da sie jetzt die Stellen der vertriebe­
nen jüdischen Kolleginnen und Kollegen erhielten.
Auch wenn die Zahl der Betroffenen durch Ausnahme­
regelungen zunächst noch eingeschränkt blieb und dieje­
nigen Juden vorerst von der Entlassung verschonte, die als
Soldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, war der Wil­
le des Regimes, von Anfang an eine antisemitische Politik
Bundesarchiv, Bild 183-R70355

zu verfolgen, unmissverständlich zu erkennen. Rund 37 000


Juden flüchteten im ersten Jahr der NS-Herrschaft aus
Deutschland, um der Verfolgung zu entgehen. Doch blieben
die meisten jüdischen Deutschen in ihrer Heimat, weil sie
annahmen, dass der antisemitische Kurs der NS-Regierung
wieder abklingen würde und, wenn auch unter deutlich
SA und SS vor dem Kaufhaus Wertheim in Berlin. Der Boykott jüdischer erschwerten Bedingungen, ein normales Leben in Deutsch­
Geschäfte vom 1. April sollte propagandistisch ausgeschlachtet werden. land auch weiterhin möglich sein würde.

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Machteroberung 1933 39

Verfolgung der Juden – Boykottaufruf der NSDAP

Deutsche Volksgenossen! Samstag, den 1. April 1933, vormittags Wer gegen diese Aufforderung handelt,
10 Uhr, über alle jüdischen Geschäfte, beweist damit, daß er auf Seite der Fein­
Die Schuldigen an diesem wahnwitzigen Warenhäuser, Kanzleien usw. den Boykott de Deutschlands steht.
Verbrechen, an dieser niederträchti­ zu verhängen. Dieser Boykottierung Es lebe der ehrwürdige Generalfeld­
gen Greuel- und Boykotthetze sind die Folge zu leisten, dazu rufen wir euch, marschall aus dem großen Kriege, der
Juden in Deutschland. Sie haben ihre deutsche Frauen und Männer, auf! Reichspräsident Paul von Hindenburg!
Rassegenossen im Ausland zum Kampf Kauft nichts in jüdischen Geschäften Es lebe der Führer und Reichskanzler
gegen das deutsche Volk aufgerufen. und Warenhäusern! Geht nicht zu Adolf Hitler! Es lebe das deutsche Volk
Sie haben die Lügen und Verleumdungen jüdischen Rechtsanwälten! Meidet jüdi­ und das heilige deutsche Vaterland!
hinausgemeldet. sche Ärzte! Zeigt den Juden, daß sie Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei
Darum hat die Reichsleitung der deut­ nicht ungestraft Deutschland in seiner vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Macht­
ergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar
schen Freiheitsbewegung beschlossen, Ehre herabwürdigen und beschmutzen 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933,
in Abwehr der verbrecherischen Hetze ab können! 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 200 ff.

Boykottaktion

...aus Sicht der Betroffenen... sagte, er möge meinetwegen nicht seine ...und aus Sicht Unbeteiligter
Stellung aufs Spiel setzen und an seine
„Auch bei uns machten die Nazibanden Familie denken, antwortete er voll Stolz: „[…] Man fragte mich, ob ich wüßte, daß
die Straßen unsicher. So näherte sich ‚Ich bin Parteimitglied Nr. 20 der das ein jüdisches Geschäft sei. Ich sagte
der 1. April, der Tag des Judenboykotts. Deutschnationalen Volkspartei; was soll ja, ich hätte aber etwas bestellt, und
Bereits am frühen Morgen des Freitag mir passieren?‘ Der arme Idealist, er das wolle ich abholen. Es passierte mir
sah man die SA mit ihren Transparenten sollte bald gewahr werden, daß auch nichts. Allerdings muß ich sagen, es
durch die Stadt ziehen. ‚Die Juden sind diese Partei nicht mehr gelten sollte. war eine merkwürdige Atmosphäre, wenn
unser Unglück‘. […] In den Vormittags­ Aber ich war ihm von Herzen dankbar, man dann in das Geschäft kam. Man
stunden begannen sich die Posten der denn in mir war es wund. […] Das Per­ wurde so unglaublich zuvorkommend
Nazis vor die jüdischen Geschäfte zu sonal sah mich traurig an und fragte,ob empfangen. Man fühlte eine Verpflich­
stellen, und jeder Käufer wurde darauf es am nächsten Tage kommen solle. Ich tung, nun unbedingt etwas zu kaufen, ob
aufmerksam gemacht, nicht bei Juden verneinte […] die Leute gingen weg […]. man etwas fand oder nicht. Es stellte
zu kaufen. In der Wohnung rüstete meine Frau sich eine gewisse Scheu ein, das muß ich
Auch vor unserem Lokal postierten zum Sabbat. Ich ging in die Synagoge wie bekennen. Ich ging hin, wenn ich
sich zwei junge Nazis und hinderten die viele andere Juden. Dort sah ich ver­ glaubte, ich könnte etwas finden. Aber ich
Kunden am Eintritt. […] Und für dieses zweifelte Gesichter […]. Wenig Trost gab hatte Angst hineinzugehen, wenn
Volk hatten wir jungen Juden einst im mir das Gebet, und ebenso erschüttert ich keine konkreten Wünsche hatte; ich
Schützengraben gestanden und haben ging ich nach Hause zur Frau und zu den fürchtete mich hinauszugehen, ohne
unser Blut vergossen, um das Land vor dem Kindern. etwas zu kaufen. Herr Gräfenberg war so
Feind zu beschützen. Gab es keinen Und als ich dort, wie stets, im Kreise ungeheuer freundlich. Dahinter
Kameraden mehr aus dieser Zeit, den meiner Familie den Sabbat einweihte, als stand wohl Dankbarkeit, aber diese Dank­
dieses Treiben anekelte? Da sah man ich an die Stelle im Gebet kam, ‚der barkeit […] Das empfand man als
sie auf der Straße vorübergehen, darunter Du uns erwählt hast von allen anderen unangemessen. Man wollte nicht als Held
gar viele, denen man Gutes erwiesen Völkern‘ und meine Kinder sah, die dastehen. Es sollte einfach nur eine
hatte. Sie hatten ein Lächeln auf dem Ge­ mich mit ihren unschuldigen und fragen­ natürliche Handlung sein. Das war es
sicht, das ihre heimtückische Freude den Augen anblickten, da war es mit dann eben nicht mehr.“
verriet. […] Ich schämte mich, daß ich einst meiner Fassung vorbei; da entlud sich in
zu diesem Volk gehörte. Ich schämte mir die Schwere des erlebten Tages, Thomas Berger, Lebenssituationen unter der Herrschaft des
mich über das Vertrauen, das ich so vielen und ich brach zusammen, die letzten Wor­ Nationalsozialismus, Hirschgraben-Verlag, Frankfurt a.M.
1985, S. 92
geschenkt hatte, die sich nun als meine te nur noch stammelnd. Die Kinder
Feinde demaskierten. Plötzlich erschien wußten oder begriffen nicht, warum ich
mir auch die Straße fremd, ja die ganze heftig weinte, aber ich wußte: Das war
Stadt war mir fremd geworden. […] mein Abschied vom Deutschtum, meine
Trotz alledem kamen auch noch an innere Trennung vom gewesenen Vater­
diesem Tage eine Anzahl Kunden zu mir, land – ein Begräbnis. Ich begrub 43 Jahre
besonders Katholiken, und es war so meines Lebens. Und wäre es nur der
mancher dabei, der mich nur aus Protest eine und einzige Tag solchen Erlebens
gegen das Treiben da draußen besuchte. gewesen, jetzt konnte ich kein Deutscher
Auch der Bürodirektor des Landrats kam, mehr sein.“
um, wie er so schön sagte, mir nur die Monika Richarz (Hg.), Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deut­
Hand zu drücken. Als ich ihm dankerfüllt scher Juden 1780-1945, C. H. Beck, München 1989, S. 385 ff.

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40 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums

vom 7. April 1933 der Front für das Deutsche Reich oder der Aberkennung des Ruhegeldes, der
§ 1. Zur Wiederherstellung eines natio­ für seine Verbündeten gekämpft haben Hinterbliebenenversorgung, der Amtsbe­
nalen Berufsbeamtentums und zur oder deren Väter oder Söhne im Welt­ zeichnung, des Titels […] zulässig. […]
Vereinfachung der Verwaltung können krieg gefallen sind. Weitere Ausnahmen Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur
Beamte nach Maßgabe der folgenden können der Reichsminister des Innern Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 37 ff.
Bestimmungen aus dem Amt entlassen im Einvernehmen mit dem zuständigen
werden, auch wenn die nach dem Reichsminister oder die obersten Lan­ Erklärung über „arische Abstammung“
geltenden Recht hierfür erforderlichen desbehörden für Beamte im Ausland Ich versichere hiermit pflichtgemäß:
Voraussetzungen nicht vorliegen […] zulassen. Mir sind trotz sorgfältiger Prüfung keine
§ 2. Beamte, die seit dem 9. November § 4. Beamte, die nach ihrer bisherigen Umstände bekannt, die die Annahme
1918 in das Beamtenverhältnis einge­ politischen Betätigung nicht die Gewähr rechtfertigen könnten, daß ich nicht
treten sind, ohne die für ihre Laufbahn dafür bieten, daß sie jederzeit rückhalt­ arischer Abstammung sei oder daß einer
vorgeschriebene oder übliche Ausbil­ los für den nationalen Staat eintreten, meiner Eltern- oder Großelternteile
dung oder sonstige Eignung zu besitzen, können aus dem Dienst entlassen wer­ zu irgendeiner Zeit der jüdischen Religion
sind aus dem Dienst zu entlassen. […] den. […] angehört habe. Ich bin mir bewußt,
§ 3. Beamte, die nichtarischer Abstam­ § 14. Gegen die auf Grund dieses Ge­ daß ich mich dienststrafrechtlicher Ver­
mung sind, sind in den Ruhestand […] setzes in den Ruhestand versetzten oder folgung mit dem Ziele auf Dienstent­
zu versetzen. Soweit es sich um Ehrenbe­ entlassenen Beamten ist auch nach lassung aussetze, wenn diese Erklärung
amte handelt, sind sie aus dem Amts­ ihrer Versetzung in den Ruhestand oder nicht der Wahrheit entspricht.
verhältnis zu entlassen. nach ihrer Entlassung die Einleitung Aus dem Vernehmungsprotokoll der Berliner Kriminalpolizei
Absatz 1 gilt nicht für Beamte, die be­ eines Dienststrafverfahrens wegen der vom 17. Mai 1933, in: Josef und Ruth Becker (Hg.), Hitlers Macht­
ergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar
reits seit dem 1. August 1914 Beamte während des Dienstverhältnisses 1933 bis zur Besiegelung des Einparteienstaates 14. Juli 1933,
gewesen sind oder die im Weltkrieg an begangenen Verfehlungen mit dem Ziele 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 220

Wirkungen des Berufsbeamtengesetzes auf die Hochschulen

[...] Eine tiefe Zäsur in der Welt der schrumpfte der Lehrkörper aller Hoch­ kommt es für Sie nicht mehr darauf an,
Hochschulen hinterließ das Berufsbeam­ schulen (Professoren einschließlich der festzustellen, ob etwas wahr ist, sondern
tengesetz vom April 1933. Denn die Lektoren und Lehrbeauftragten) von ob es im Sinn der nationalsozialistischen
unverzüglich anlaufende „Säuberung“ der 1932 = 7984 auf 1939 = 7265 Wissenschaft­ Revolution ist.“ Widerspruch wurde
Professorenschaft von jüdischen und ler. Die Anzahl der ordentlichen Profes­ nicht laut. [...]
politisch mißliebigen Wissenschaftlern soren (ohne reguläre Emeriti) ging von In einer Bilanz, die der Heidelberger
führte bereits bis Ende 1934 dazu, daß 2354 auf 2164 zurück. In der Jurisprudenz Statistikdozent Emil Gumbel zog – einst
15 Prozent des Lehrkörpers, 11 Prozent aller z.B. fiel ihre Zahl von 200 auf 156, in den umstrittener Kritiker der politischen
ordentlichen Professoren, insgesamt Geisteswissenschaften von 402 auf 393, Morde in der Weimarer Republik, jetzt
1684 Hochschullehrer entlassen worden sogar in den Naturwissenschaften von ins Exil vertrieben –, fiel das Urteil
waren. Durchweg waren die Universi­ 560 auf 522. bitter, aber treffsicher aus: „Gegenüber
täten mehr betroffen als die Technischen Die protestlose Hinnahme aller Unge­ diesem gewaltsamen Einbruch in ihr
Hochschulen, die 10,7 Prozent ihres heuerlichkeiten an der Alma Mater geistiges und materielles Leben haben
Lehrkörpers verloren. Bis 1939 aber hat enthüllte eine bestürzende Gleichgültig­ die deutschen Professoren im Ganzen
diese beispiellose Vertreibungsaktion keit gegenüber dem Willkürschicksal keinen Charakter gezeigt. Kein Wort des
mehr als ein Drittel, 39 Prozent, aller enger Fachgenossen. Nicht selten verband Protests gegen die Absetzung so vieler
Professoren erfaßt. sie sich auch noch mit der inhumanen verdienter Lehrer wurde laut. Die Würde
Die Zwangsausschaltung vollzog sich in Entschuldigung „Wo gehobelt wird, da der akademischen Korporation zer­
drei Formen: als abrupte Pensionierung fallen Späne“. [...] Zu besichtigen ist flatterte. Die Idee der Universität zerging
oder als Versetzung in den Ruhestand mit daher ein grenzenloses moralisches Deba­ vor der Frage nach der Pensionsberech­
gekürzten Bezügen, meist aber in Ge­ kel der Mehrheit, die nicht nur die Ver­ tigung.“[...]
stalt der frist- und entschädigungslosen treibung ihrer Zunftgenossen hinnahm,
Entlassung. sondern auch unverzichtbare wissen­ Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914­
1949, C. H. Beck, München 2003, S. 824 ff.
Bis zum Kriegsbeginn haben rd. 3000 schaftliche Normen, ethische Prinzipien
Wissenschaftler, darunter 756 Professoren, und den vielbeschworenen Korporati­
Deutschland verlassen müssen. Längst onsgeist schnöde verriet. Ein vernichten­
ehe 1944 die ersten deutschen Flüchtlinge deres Urteil über diese politische Men­
aus dem Osten vertrieben wurden, er­ talität des Schweigens ist kaum denkbar.
lebte Deutschland seine von der eigenen Dieselbe Feigheit zeigte sich, wenn es
Regierung initiierte Vertreibung stigma­ um neue Zumutungen von außen ging.
tisierter Spitzenkräfte. Der bayerische Kultusminister Hans
[...] Als Ergebnis dieses fatalen Aderlas­ Schemm, ein „alter Kämpfer“, forderte
ses und der evidenten Stagnation seither 1933 von den Professoren: „Von jetzt ab

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Machteroberung 1933 41

Zerschlagung der Gewerkschaften

Obwohl Teile der Gewerkschaftsführung versuchten, ihre Un­


abhängigkeit im NS-Regime dadurch zu bewahren, dass sie Aus einem Brief Peter Dürrenmatts, eines Schweizer
sich von der SPD distanzierten und eine Zusammenarbeit mit
der neuen Regierung anboten, standen die traditionsreichen Journalisten, 20. April 1933:
freien Arbeiterorganisationen im Visier der neuen Regierung
„Eines hätte ich mir ja nie träumen lassen: daß ich noch einmal den
und wurden mit Hilfe der SA im Mai zerschlagen. Erneut bil­ ersten Mai feiern würde. Dieser erste Mai ist zum offiziellen Feier­
deten Inklusion und Gewalt die beiden Seiten nationalsozia­ tag der deutschen Arbeit erklärt worden, folglich schulfrei! Das ist einer
listischer „Volksgemeinschaftspolitik“. der genialsten Demagogenstreiche von Goebbels, über den sich die
So wurde einerseits der 1. Mai von der Hitler-Regierung Sozialdemokraten schwarz ärgern werden. Denn natürlich wird unter
erstmals in der deutschen Geschichte unter der Bezeichnung den Nazis eine Maifeier von Stapel gelassen, wie sie während der
„Tag der nationalen Arbeit“ zum Feiertag erklärt. Unter dem Herrschaft der Sozialdemokraten nie annähernd zustande kam. Den
Deutschnationalen ist diese Maifeier gar nicht recht.“
Motto „Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter!“ fanden
reichsweit große Kundgebungen statt, zu denen auch die Ge­ Hitlers Machtergreifung. Dokumente vom Machtantritt Hitlers 30. Januar 1933 bis zur Besiegelung des
werkschaften aufriefen und auf denen Nationalsozialisten Re­ Einparteienstaats 14. Juli 1933, hg. von Josef und Ruth Becker, 3. Aufl., dtv, München 1993, S. 249

den hielten. Auf der zentralen Massenversammlung in Berlin


verkündete Goebbels: „Am heutigen Abend findet sich über
Klassen, Stände und konfessionelle Unterschiede hinweg das Auf der anderen Seite stürmte tags darauf, am 2. Mai, die
ganze deutsche Volk zusammen, um endgültig die Ideologie SA überall im Reich die Gewerkschaftsbüros, verhaftete die
des Klassenkampfes zu zerstören und der neuen Idee der Ver­ Funktionäre, beschlagnahmte das Eigentum. Die Regierung
bundenheit und der Volksgemeinschaft die Bahn freizulegen.“ erklärte die freien Gewerkschaften für aufgelöst und bildete
Die mehrstündige Kundgebung auf dem Tempelhofer Feld in die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter Robert Ley als Zwangs­
Berlin wurde im Rundfunk übertragen. Gleichzeitig fanden in vereinigung für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber. Mit rund 20
vielen Provinzstädten Aufmärsche, oftmals auch der örtlichen Millionen Mitgliedern (Stand 1939) stellte die DAF nicht nur
Belegschaften samt Lautsprecherübertragung der Berliner die mitgliederstärkste, sondern aufgrund des Raubs des Ge­
Kundgebung statt, so dass die zentrale nationalsozialistische werkschaftseigentums und der millionenfachen Mitglieds­
Propagandaveranstaltung simultan im ganzen Reich erlebt beiträge auch die reichste angegliederte Organisation der
werden konnte. NSDAP dar.

ullstein bild

Terror und Zustimmung (siehe auch Folgeseite): Um Zustimmung der Arbeiterschaft bemüht sich das Regime unter anderem mit der Berliner Großkund­
gebung zum „Tag der Arbeit“, der 1933 erstmals zum Feiertag wird.

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42 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

ullstein bild – Archiv Gerstenberg


Terror am Tag danach: SA und SS besetzen und verwüsten am 2. Mai 1933 das Leipziger „Volkshaus“,
in dem örtliche Gewerkschaftsorganisationen und Arbeitervereine untergebracht sind. Die Broschüren
der Gewerkschaftsbibliothek werden aus dem Fenster in den Hof geworfen.

Die Industrieverbände sahen im neuen Regime eine Chan­ Krupp von Bohlen und Halbach, der eng mit der NS-Führung
ce, die Unternehmerinteressen nachhaltig zu festigen, und kooperierte.
passten sich geschickt an. Als am 1. April ein SA-Trupp die Die Agrarverbände waren schon seit 1929/30 nationalso­
Geschäftsstelle des Reichsverbands der Deutschen Industrie zialistisch durchsetzt. Gleich im März 1933 drängte Richard
(RDI) besetzte, nutzte die NSDAP wie so oft die Gewalt „von Walther Darré, Vorsitzender des Agrarpolitischen Apparates
unten“, um die Verbandsspitze zum Rücktritt zu zwingen, der NSDAP, erfolgreich alle Bauernverbände zum Zusammen­
darunter Paul Silverberg, der trotz seines Eintretens für ein schluss und übernahm selbst den Vorsitz. Ebenfalls schlos­
Bündnis mit der NSDAP wegen seiner jüdischen Herkunft sen sich die landwirtschaftlichen Genossenschaften und die
gehen musste. Nach einem Gespräch zwischen Hitler und Landwirtschaftskammern an, so dass Darré sich Ende Mai
führenden Industriellen am 29. Mai verwandelte sich der „Reichsbauernführer“ nennen durfte und, nachdem er Ende
RDI in eine Zentralorganisation mit Führerprinzip, dem Juni zusätzlich Landwirtschaftsminister wurde, die gesamte
Reichsstand der Deutschen Industrie, geleitet von Gustav Agrarpolitik kontrollierte.

Auflösung der Parteien

Im Juni folgte die Auflösung der Parteien, nachdem die KPD zurücktreten; einen Tag später legte ein „Freundschaftsab­
durch die Verfolgungen bereits zerschlagen worden war. Die kommen“ fest, dass deutschnationale Abgeordnete als „Hospi­
Mehrheit der SPD-Führung ging nach dem Schlag gegen die tanten“ in die NSDAP aufgenommen würden. Der Stahlhelm
Gewerkschaften ins Exil nach Prag und rief von dort zum Sturz wurde am 21. Juni, nachdem sein Führer Seldte bereits Ende
des Hitler-Regimes auf. Daraufhin erklärte Reichsinnenminis­ April der NSDAP beigetreten war, in die SA überführt. Dieje­
ter Frick die SPD am 22. Juni zur „volks- und staatsfeindlichen nigen, die noch im Januar die Nationalsozialisten „zähmen“
Organisation“. Alle sozialdemokratischen Parlamentsmanda­ wollten, waren wenige Monate später deren Mitglieder.
te wurden aufgehoben, die noch nicht emigrierten Parteifüh­ Den Schluss bildete das katholische Zentrum. Mit dem Kon­
rer verhaftet. kordat vom 20. Juli schloss der Vatikan als erste ausländische
Die bürgerlichen Parteien kamen ihrer absehbaren Abschaf­ Macht mit dem neuen Regime einen Vertrag, der die Konfes­
fung entgegen und beschlossen eine nach der anderen ihre sionsrechte der katholischen Kirche, insbesondere der katho­
Selbstauflösung. Die Deutsche Staatspartei, bis 1930 als Deut­ lischen Schulen, weiterhin gewährleistete. Dafür hatte Rom
sche Demokratische Partei der politische Ort des liberalen Bür­ in den Verhandlungen dem Verbot einer politischen Tätigkeit
gertums, löste sich am 27. Juni auf. Die vom langjährigen Au­ katholischer Geistlicher zugestimmt und damit dem Zentrum
ßenminister der Weimarer Republik Gustav Stresemann 1919 als politischer Partei des Katholizismus die Grundlage entzo­
gegründete rechtsliberale Deutsche Volkspartei folgte einen gen. Die Parteiführung gab Anfang Juli resigniert auf, nach­
Tag später. dem in Bayern etliche Parteifunktionäre von der politischen
Selbst die Deutschnationalen, die die Regierung mit der Polizei verhaftet worden waren, und löste das Zentrum auf.
NSDAP bildeten, ergriff der Prozess der Aushöhlung der repu­ Am 14. Juli, nur ein halbes Jahr nach der Machtübernahme,
blikanischen Verfassung, den sie selbst forciert hatten. Am erließ die Reichsregierung das „Gesetz gegen die Neubildung
26. Juni musste der DNVP-Chef Hugenberg nach ungeschick­ von Parteien“, das die NSDAP zur einzigen Partei in Deutsch­
tem Taktieren auf internationalem wie nationalem Parkett land erklärte.

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Machteroberung 1933 43

Gesetz gegen die Neubildung Manipulierte Wahlen [Anmerkung: Ha (Hannoverscher


von Parteien am 12. November 1933 Anzeiger)] vom 11. November, Stadtbeilage:
vom 14. Juli 1933 „Der Wahlzettel vom 12. November“:
Karl Dürkefälden, geb. 1902, ein Maschi­ „Eine einzige Liste wird ihm [dem Wähler]
§ 1. In Deutschland besteht als einzige nenbautechniker aus Hämelerwald bei vorgelegt, und die einzige Entscheidung,
politische Partei die Nationalsozialistische Hannover, beschreibt in seinen Tagebuch­ die er nunmehr noch zu treffen hat,
Deutsche Arbeiterpartei. aufzeichnungen auch die Auswirkungen besteht lediglich darin, ob er gewillt ist, ihr
§ 2.Wer es unternimmt, den organisato­ der politischen Entwicklung von 1932 bis sein Kreuz zu geben. Die klare Frage
rischen Zusammenhalt einer anderen 1945 auf sein unmittelbares Lebensum­ der Reichsregierung nach der Billigung
politischen Partei aufrechtzuerhalten feld. Die letzte Reichstagswahl und den ihrer Politik heischt auch eine klare
oder eine neue politische Partei zu bil­ gleichzeitigen Volksentscheid gegen den Antwort. Sie kann nicht anders lauten als:
den, wird […] mit Zuchthaus bis zu drei Young-Plan erlebt er folgendermaßen: Ja! Die Einheitsliste zur Reichstags­
Jahren oder mit Gefängnis von sechs [...] Am 12. November 1933 war die letzte wahl stellt an den Wähler eine gleich klare
Monaten bis zu drei Jahren bestraft […] Reichstagswahl und der Volksentscheid. Frage, ob er den auf dieser offiziellen
Wolfgang Michalka (Hg.), Das Dritte Reich. Dokumente zur Die Regierung war aus dem Völkerbund Liste angegebenen Kandidaten seine Stim­
Innen- und Außenpolitik, Band 1, dtv, München 1985, S. 43 ausgetreten und legte dem Volke die me geben will. Auch hier ist die Antwort
Frage vor, ob es diesen Schritt billige. Eine nicht schwer. Das Kreuz gehört in das
Gesetz zur Sicherung der Einheit riesige Reklame machte die Regierung offene Feld, das auf gleicher Höhe mit dem
von Partei und Staat und die Partei. Täglich tausende von Wahl­ Namen Adolf Hitlers steht“.]
vom 1. Dezember 1933 versammlungen, schrieb die Zeitung. Was sollte man da noch mit dem Zettel
Die Leute kriegten Propagandazettel ins machen? Werger sagte mir, er wäre
§ 1. Nach dem Sieg der Nationalsozialisti­ Haus gebracht, die sollten sie an die mit seiner Frau des morgens zur Wahl ge­
schen Revolution ist die nationalsozia­ Fenster kleben. „Stimme mit Ja“ stand da­ gangen, da hätte man ihm gesagt:
listische Deutsche Arbeiterpartei die Träge­ rauf. Man hatte die Fenster tatsächlich „Mal‘ Dein Kreuz man gleich hier hin, das
rin des deutschen Staatsgedankens ganz bunt gemacht in den Dörfern und Ding dahinten ist für Leute, die nicht
und mit dem Staate unlöslich verbunden. Städten am Wahltage, auch Leute, die zeigen mögen, was sie gewählt haben“. Er
Sie ist eine Körperschaft des öffent­ mit der Partei nicht auf gutem Fuße stehen. mußte also wohl oder übel für die Partei
lichen Rechts. Als ich in Peine einkaufte, kriegte ich die­ stimmen. A. Grebenstein wählte in Hanno­
§ 2. Zur Gewährleistung engster Zusam­ selben Zettel mit eingepackt. [...] ver. Er behauptet, da sei der Schutz nur
menarbeit der Dienststellen der Partei Beim Volksentscheid hieß es: für Ehre, so gewesen, daß er hätte sehen können, was
und der SA. mit den öffentlichen Behörden Freiheit und Gleichberechtigung, auch die Leute vor ihm gewählt haben. Zu
werden der Stellvertreter des Führers schrieben die Zeitungen: für Freiheit und alten Frauen, die nicht kommen konn­
und der Chef des Stabes der SA. Mitglied Brot usw. Es drehte sich um den Austritt ten [...] oder wollten, ging man zu
der Reichsregierung. aus dem Völkerbund. Einen Krieg zöge das Zweien und ließ sich die „Ja“ auf die Zettel
§ 3. Den Mitgliedern der Nationalsozia­ nicht nach, behauptete die Regierung, und machen [...].
listischen Deutschen Arbeiterpartei und die Fragen waren so gestellt, daß nur ein Das Peiner Wahlverhältnis war etwa wie
der SA. (einschließlich der ihr unterstellten „Ja“ darauf folgen konnte. Trotzdem waren in Hämelerwald, mehr Stimmen für die
Gliederungen) als der führenden und in Hämelerwald zwölf Nein-Stimmen Partei als für den Austritt aus dem Völker­
bewegenden Kraft des nationalsozialisti­ und zwei ungültige. bund. 93 % ungefähr stimmten für
schen Staates obliegen erhöhte Pflichten Auf dem Zettel für den Volksentscheid die Partei. Wenn die Zählung mit rechten
gegenüber Führer, Volk und Staat. waren zwei Kreise, ja, nein. Auf dem Dingen zugegangen wäre, betrügen
Sie unterstehen wegen Verletzung dieser Zettel für die Reichstagswahl war nur ein die Parteistimmen höchstens 80 % trotz
Pflichten einer besonderen Partei- und Kreis für die Ja-Stimme; es war nur aller Reklame. Es haben sich jetzt wohl
SA.-Gerichtsbarkeit. eine Partei zugelassen. Als die Wahl vo­ schon viele mit der neuen Richtung ausge­
Der Führer kann diese Bestimmungen rüber war, hatte man in Hämelerwald söhnt. [...]
auf die Mitglieder anderer Organisationen nur zwei ungültige Stimmen; die andern
erstrecken. sollten für die Partei gestimmt haben. Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.),
„Schreiben, wie es wirklich war ...“. Die Aufzeichnungen Karl
§ 4. Als Pflichtverletzung gilt jede Hand­ Dann mußten ja meine Frau und ich die Dürkefäldens aus der Zeit des Nationalsozialismus, Hannover
lung oder Unterlassung, die den Bestand, einzigen gewesen sein, die nicht für 1985, S. 75 ff.
die Organisation, die Tätigkeit oder die Partei gestimmt hatten. Ich kannte
das Ansehen der Nationalsozialistischen aber mehr. Gerda machte mehrere
Deutschen Arbeiterpartei angreift oder Striche quer über den Zettel und ich einen
gefährdet, bei Mitgliedern der SA. (ein­ Strich. Auf einem der Zettel hat aber
schließlich der ihr unterstellten Gliederun­ „Nein“ gestanden, wie mir H. Schwenke,
gen) insbesondere jeder Verstoß gegen der bei dem Zählausschuß war, er­
Zucht und Ordnung. […] klärte. Einige Tage später erzählte mir
§ 8. Der Reichskanzler erläßt als Führer Willi Greve, daß vor der Wahl im
der Nationalsozialistischen Deutschen Ar­ „Hann[overschen] Anzeiger“ eine Notiz
beiterpartei und als Oberster SA.-Führer gestanden haben soll, wonach man alle
die zur Durchführung und Ergänzung die­ Zettel, auf den[en] überhaupt kein
ses Gesetzes erforderlichen Vorschriften […] Zeichen stände, nicht als ungültig, son­
Walther Hofer (Hg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945,
dern als „Ja“ zählen wolle, außerdem
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1965, S. 61f. alle, die irgendwie ein Zeichen hatte[n].

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44 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Bücherverbrennung tragbar“ gehalten werden könnten und die Vereinsvorstände


daher aufgefordert würden, die entsprechenden Maßnahmen
Doch nicht nur die Parteien passten sich der politischen Ent­ zu veranlassen. Der bekannte Nationalspieler Julius Hirsch trat
wicklung an. Auch innerhalb der Gesellschaft gab es viele Ini­ daraufhin aus dem Karlsruher Fußballclub aus; Alfred Meyers
tiativen, die den „nationalen Aufbruch“, den sie mit Hitlers legte den Vereinsvorsitz in Frankfurt nieder; der Verbandspio­
Ernennung zum Reichskanzler zu erkennen glaubten, nach nier und Herausgeber des „Kickers“, Walther Bensemann, emi­
Kräften unterstützten. Am Abend des 10. Mai 1933 organisier­ grierte noch im April in die Schweiz.
ten Studenten in allen Universitätsstädten als „Aktion wider
den undeutschen Geist“ öffentliche Bücherverbrennungen
von Autoren wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Erich Käst­ Kirchen
ner, Bert Brecht, Kurt Tucholsky, Erich Maria Remarque, Alfred
Döblin, Stefan Zweig oder Heinrich Heine, der schon 1821 ge­ Die katholische Kirche, die vor 1933 noch ihren Priestern ver­
schrieben hatte: „Wo man Bücher verbrennt, dort verbrennt boten hatte, Mitglied der NSDAP zu werden, war durch das
man am Ende auch Menschen“. Die Ideen der Aufklärung, der Konkordat, das sie mit der Hitler-Regierung abgeschlossen
Französischen Revolution und des Humanismus galten der hatte, mit dem NS-Regime vertraglich verbunden und hoffte,
völkischen Rechten als „jüdisch-liberal“, die aus dem Gedan­ dadurch ihre bisherige Unabhängigkeit bewahren zu können.
kengut einer „deutschen Volksgemeinschaft“ zu löschen seien. Das katholische Milieu, das sich vor allem in Bayern lange Zeit
Joseph Goebbels, der die Initiative zu den öffentlichen Bücher­ als recht resistent gegenüber dem Nationalsozialismus erwie­
verbrennungen förderte, hatte bereits am 1. April im Rundfunk sen hatte, öffnete sich erkennbar in den Reichstagswahlen im
über die nationalsozialistische Revolution verkündet: „Damit März 1933. Auch unter der katholischen Bevölkerung gewann
wird das Jahr 1789 aus der deutschen Geschichte gestrichen.“ der Nationalsozialismus an Zustimmung, obwohl zum Bei­
Kritische und jüdische Journalisten wurden im vorauseilenden spiel in den katholischen Jugendverbänden nach wie vor der
Gehorsam von vielen Zeitungen entlassen, durch ein sogenann­ Wille zur Selbstbehauptung stark war.
tes Schriftleitergesetz wurde die Presse unter staatliche Auf­ Demgegenüber hatten zahlreiche protestantische Wähler
sicht gestellt. Wer sich künstlerisch oder publizistisch betätigen der NSDAP schon in der Weimarer Republik ihre Stimmen
wollte, musste der von Goebbels kontrollierten Reichskultur­ gegeben, evangelische Pastoren hatten für sie geworben. Der
kammer angehören. Die Mitglieder der Sektion Dichtkunst der bekannte protestantische Berliner Bischof Otto Dibelius, der
Preußischen Akademie der Künste ließen gehorsam den Aus­ später Mitglied der Bekennenden Kirche wurde, schrieb zu
schluss von Heinrich Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann Ostern 1933 an die Pastoren seiner Provinz in einem vertrau­
und anderen geschehen – mit der rühmlichen Ausnahme von lichen Rundbrief, dass für die Motive, aus denen die völkische
Ricarda Huch, die daraufhin ihren Austritt erklärte. Bewegung hervorging, „wir alle nicht nur Verständnis, son­
Nicht zuletzt müssen die unzähligen örtlichen Vereine er­ dern volle Sympathie haben. Ich habe mich trotz des bösen
wähnt werden, ob Sport-, Gesangs-, Schützenverein oder die Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als
lokale Feuerwehr, die allesamt im Laufe des Jahres 1933 den Antisemiten gewusst. Man kann nicht verkennen, dass bei
„Arierparagraphen“ in ihr Vereinsstatut übernahmen, das allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation
heißt die jüdischen Mitglieder aus ihren Vereinen ausschlos­ das Judentum eine führende Rolle spielt.“
sen. Unter vielen anderen erklärte auch der Vorstand des Doch die Zuversicht der NS-Führung auf rasche „Gleichschal­
Deutschen Fußballverbandes am 19. April 1933, dass ein „An­ tung“ auch der protestantischen Kirchen trog. Der Versuch,
gehöriger der jüdischen Rasse ebenso auch Personen, die sich den Königsberger Pfarrer Ludwig Müller zum Reichsbischof zu
als Mitglieder der marxistischen Bewegung herausgestellt ernennen und damit eine politisch konforme zentrale Leitung
haben, in führenden Stellungen der Landesverbände nicht für der Evangelisch-Lutherischen Kirche zu installieren, stieß auf
Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-776

ullstein bild

Beschlagnahmte Bücher als „undeutsch“ erklärter Schriftsteller werden Reichstagung der NS-nahen evangelischen Gruppierung „Deutsche Christen“
im Mai 1933 gesammelt und auf dem Opernplatz in Berlin verbrannt. im Berliner Sportpalast im November 1933

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Machteroberung 1933 45

das innerkirchliche Beharrungsvermögen zugunsten der tra- Außerdem kriselte das Regime zu Beginn des Jahres 1934, weil
ditionellen föderalen Struktur. Als die nationalsozialistischen der Schwung der anfänglichen Begeisterung dem nüchter-
Eiferer unter den Protestanten, die sich „Deutsche Christen“ nen Alltag wich. Insbesondere im bürgerlich-konservativen
nannten, im November 1933 auf einer Großkundgebung laut- Lager kamen, nachdem die Deutschnationalen als Machtfak-
hals die Abschaffung des Alten Testaments und der angeblich tor weggebrochen waren, Befürchtungen auf, das NS-Regime
jüdischen Theologie des Paulus forderten, gründeten evange- könne doch noch zu einer braunen Diktatur der Massen wer-
lische Pastoren einen Notbund. den. Im Juni 1934 hielt Vizekanzler von Papen eine von Edgar
Im Mai 1934 versammelten sich Vertreter aus allen evangeli- Jung, einem seiner engagiert „jungkonservativen“ Mitarbei-
schen Glaubensgemeinschaften in Barmen zu einer Bekennt- ter geschriebene Rede, in der er Korruption, Charakterlosig-
nissynode, auf der an der Heiligen Schrift als unantastbarem keit und Anmaßung der neuen NS-Machtelite anprangerte.
Fundament des Glaubens festgehalten wurde. Insbesondere der Mit einem entschlossenen Zugreifen erhoffte sich Hitler,
Theologe Karl Barth trat mit unmissverständlichen Stellung- sowohl die SA als Machtzentrum wie auch eine mögliche
nahmen gegen jeden Versuch, den protestantischen Glauben konservative Opposition zu liquidieren und dabei gleichzeitig
nationalsozialistisch zu instrumentalisieren, hervor. Die evange- das Militär eng an das NS-Regime zu binden. Göring, SS-Chef
lischen Gemeinden, in denen es zahlreiche Anhänger des Natio- Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich, der mittlerweile
nalsozialismus gab, wurden damit gespalten, mitunter sogar zer- zum Chef der preußischen Geheimen Staatspolizei ernannt
rissen, auch wenn sich die große Mehrheit der Kirchenmitglieder worden war, betrieben eifrig die Ausschaltung ihrer Machtkon-
weder den Deutschen Christen noch den Bekenntnischristen kurrenten. Am 30. Juni 1934 nahmen SS- und Polizeieinheiten
anschlossen, sondern ihren christlichen Glauben durchaus mit in Anwesenheit von Hitler, der persönlich angereist war, die
ihrer Zustimmung zum Regime verbinden konnten. SA-Führung in Bad Wiessee fest und ermordeten sie. Zugleich
wurden anhand vorbereiteter Listen in Berlin und in anderen
Städten hohe SA-Führer, aber auch Personen wie Edgar Jung,
Papens Privatsekretär Herbert von Bose, der Leiter der Katholi-
schen Aktion Erich Klausener, der ehemalige bayerische General-
Entmachtung der SA staatskommissar und Verbündete beim Putsch im November
1923, Gustav Ritter von Kahr, der ehemalige Reichskanzler und
Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher sowie dessen Mitarbei-
Die einzige tatsächliche Bedrohung des Regimes kam von ter Generalmajor Ferdinand von Bredow und der einstige inner-
innen. Die SA, 1933 mit rund zwei Millionen Mitgliedern um parteiliche Gegner Gregor Straßer erschossen. Insgesamt fielen
etliches größer als die Reichswehr, die laut Versailler Vertrag etwa 300 Menschen den Morden zum Opfer. Hitler ließ am
nicht mehr als 100 000 Soldaten umfassen durfte, stellte ei- 3. Juli im Nachhinein per Gesetz die „vollzogenen Maßnahmen
nen virulenten Unruheherd dar, zumal zahlreiche SA-Ange- als Staatsnotwehr für rechtens“ erklären, nicht zuletzt unter-
hörige, die sich mit der Machtübernahme auch persönliche stützt vom Staatsrechtler Carl Schmitt, der unter dem Titel „Der
Vorteile, vor allem einen Arbeitsplatz im neuen Staat, erhofft Führer schützt das Recht“ die staatlichen Morde nachträglich in
hatten, noch leer ausgegangen waren. Darüber hinaus exis- einem Artikel juristisch rechtfertigte.
tierte im SA-Führerkorps, dessen Chef Ernst Röhm zu den Das Bürgertum zeigte sich erleichtert, dass nun anschei-
frühen Förderern und langjährigen Weggefährten Hitlers nend Ordnung geschaffen wurde, und die Reichswehr war
zählte, die Vorstellung, die SA könne als braune Volksarmee zufrieden, da sie sich in ihrem Anspruch als „einziger Waf-
die Reichswehr ablösen. Zwar kursierte das Wort von der fenträger der Nation“ bestätigt sah. Die Hamburger Lehrerin
zweiten Revolution, aber an einen Putsch dachte in der SA- Luise Solmitz rühmte in ihrem Tagebuch, was Hitler „in Mün-
Führung niemand. chen geleistet hat an persönlichem Mut, an Entschluss- und
Schlagkraft, das ist einzigartig“. Auch Claus Schenk Graf von
Stauffenberg verglich die staatlich angeordneten Morde mit
dem Platzen einer Eiterbeule, mit dem endlich klare Verhält-
nisse geschaffen worden seien. Von keiner Seite, auch nicht
von den Kirchen, wurden die Morde missbilligt, obwohl sich
Offiziere ebenso wie der katholische Politiker Klausener un-
ter den Opfern befanden.
bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Heinrich Hoffmann

Als Reichspräsident Hindenburg wenige Wochen später im


Alter von 86 Jahren am 2. August starb, entwarf die Reichs-
wehrführung aus eigener Initiative eine neue Eidesformel,
mit der alle Soldaten nicht mehr auf die Verfassung oder das
Vaterland, sondern auf den „Führer des deutschen Reiches
und Volkes, Adolf Hitler“ vereidigt wurden, dem „unbeding-
ter Gehorsam“ zu leisten sei. Am 19. August 1934 stimmten
nahezu 90 Prozent in einer Volksabstimmung, die allerdings
nicht mehr frei und kaum noch geheim war, zu, dass Hitler
nunmehr die Ämter des Staatsoberhauptes, Reichskanzlers,
Parteiführers und Obersten Befehlshabers in seiner Person
vereinigte. Der „Führerstaat“ war konstituiert.
Neben konservativen Persönlichkeiten wird der SA-Chef Röhm (links im Bild) im
Juni 1934 als Gefahr für den alleinigen Machtanspruch des „Führers“ ermordet.

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46 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Michael Wildt

„Volksgemeinschaft“

Durch Einbindung aller Gesellschaftsgruppen und „Gleich­


schaltung“ von Presse und Rundfunk versucht das Regime,
die Bevölkerung zu vereinnahmen. Propaganda, tatsächliche
und angebliche Erfolge in Politik und Wirtschaft sowie
Gemeinschaftsaktionen sollen Zuversicht und ein Gefühl
von Zugehörigkeit vermitteln. Wer nicht Teil der „Volks­
gemeinschaft“ ist, erlebt Ausgrenzung und Benachteiligung.

bpk
Drohung oder Versprechen? Ein Plakat zur Anwerbung von Mädchen
zwischen zehn und 13 Jahren bei den „Jungmädeln“

D ie Umwälzungen der Jahre 1933/34 hatten Staat und


Gesellschaft grundlegend verändert. Alle Parteien
bis auf die NSDAP waren aufgelöst, die Gewerkschaften
Zudem blieb er als Gauleiter von Berlin gerade in der
Reichshauptstadt ein zentraler politischer Akteur, der ins­
besondere die Verfolgung der Juden immer wieder antrieb.
zerschlagen, der Rechtsstaat durch die Reichstagsbrand­ Hermann Göring vereinigte in seiner Person nicht nur die
verordnung ausgesetzt, die parlamentarische Demokratie Funktion des mächtigen Ministerpräsidenten Preußens als
beseitigt. Das Reichskabinett tagte nur noch sporadisch. größtem und wichtigstem Land des Deutschen Reiches. Er
Stattdessen organisierte der Chef der Reichskanzlei, Hans war zudem Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Reichsluft­
Heinrich Lammers, die Gesetze im Umlaufverfahren, in­ fahrtminister und wurde 1936 zunächst zum Rohstoff- und
dem die beteiligten Ministerien nacheinander ihre Zu­ Devisenkommissar, dann zum Beauftragten des Vierjahres­
stimmung gaben, wobei Hitler stets das entscheidende plans ernannt. Damit errang er faktisch, obwohl es nach
Wort hatte. Ähnlich war auf der Länderebene die politische wie vor einen Reichswirtschaftsminister gab, die Rolle eines
Gewalt auf die Reichsstatthalter übergegangen, die in Per­ Wirtschaftsdiktators, der die Wirtschaft auf den Krieg aus­
sonalunion meistens zugleich die NSDAP-Gauleiter waren. richtete und die Ausplünderung der Juden in Deutschland
Diese langjährigen Parteikämpfer bildeten den tatsäch­ wie später in den besetzten Gebieten organisierte.
lichen Machtkern der NSDAP, auf sie stützte sich Hitler in Diese Parallel- und Sonderstrukturen sorgten dafür, dass
seinen wichtigen politischen Entscheidungen. es innerhalb des Herrschaftsgefüges des NS-Regimes zu
Die NSDAP baute eigene politische Strukturen auf, die Machtrivalitäten, Kompetenzgerangel und Ämterwirrwarr
zum Teil mit den staatlichen verklammert waren, zum kam. Albert Speer zum Beispiel, den Hitler zu seinem Lieb­
Teil neben ihnen her und über sie hinweg existierten. So lingsarchitekten erkor und dem er die Zukunftsplanung für
wurde Heinrich Himmler als Reichsführer SS und damit die Reichshauptstadt übertrug, stand in einer steten Ausei­
Führer einer Gliederung der NSDAP 1936 Chef der gesam­ nandersetzung mit der Berliner Verwaltung und dem Ober­
ten deutschen Polizei und sorgte in den kommenden Jah­ bürgermeister Julius Lippert, die dieser bezeichnenderwei­
ren dafür, dass dieses zentrale Exekutivinstrument ein se verlor und die 1940 zu dessen Rücktritt führte.
von der SS gelenktes und durchdrungenes Herrschaftsme­ Ohne die Bereitwilligkeit der alten Eliten, das nationalso­
dium des NS-Regimes wurde. Joseph Goebbels lenkte als zialistische Regime zu stützen, wären die neuen Herrscher
Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda sowie sicher rasch an ihr Ende gelangt. Die Militärs erhofften sich
als Präsident der Reichskulturkammer den öffentlichen einen starken Ausbau der Rüstung und eine Militarisierung
Diskurs, Presse, Rundfunk, Film und Kunst, in einem Aus­ der Gesellschaft, die den „Wehrgedanken“ in den Mittel­
maß, das noch wenige Jahre zuvor in der kulturellen Viel­ punkt stellte. Die Unternehmer waren selbstverständlich
falt der Weimarer Republik kaum denkbar gewesen wäre. mit der Zerschlagung der Arbeiterorganisationen einver­

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„Volksgemeinschaft“ 47

standen und erwarteten, dass ihre autoritäre Befehlsge­ Institutionen und damit zur Effizienz und Mobilisierung von
walt im Betrieb wieder ungehindert zur Geltung kam. Die Ressourcen beitragen. So sehr auch Machtkämpfe innerhalb
Bürokratie sah sich zwar mit neuen politischen Strukturen des nationalsozialistischen Apparates, Kompetenzkonflikte
konfrontiert, wurde aber vom NS-Regime von den rechts­ zwischen wirtschaftlichen oder staatlichen Entscheidungs­
staatlichen Einschränkungen befreit und glaubte, nun trägern mit der NSDAP die Politik bestimmten, so stark be­
endlich nach eigenem Gutdünken walten zu können. Der stand die Fähigkeit des NS-Regimes gerade darin, daraus
junge preußische Beamte Fritz-Dietlof Graf von der Schu­ immer wieder eine Handlungsoption abzuleiten. Der bri­
lenburg, der sich später zu einem Gegner Hitlers wandelte, tische Historiker Ian Kershaw hat die Bereitschaft so vieler
am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt war und deswegen verschiedener Institutionen zur Mitarbeit mit dem Willen,
hingerichtet wurde, hatte in einer Denkschrift im April „dem Führer entgegen zu arbeiten“ begründet. Gerade die
1933 gefordert, dass sich die Beamten der Zukunft als „eine „Un“-Ordnung des NS-Regimes öffnete dem Engagement
Streitmacht von politischen Kämpfern“ verstehen sollten. und der Handlungsbereitschaft viele Möglichkeiten, stets im
Noch bestanden formalrechtliche Verwaltungsstrukturen Glauben, mit dem eigenen Tun im System aufzusteigen und
parallel zu den politisch dominierten. Aber insbesondere zum Gelingen des Ganzen beizutragen.
die Verfolgung der Juden eröffnete selbst Finanzbeamten Zusammengehalten wurde diese polykratische Struk­
einen „Ermöglichungsraum“, der die bisherige rechtsstaat­ tur des NS-Regimes durch den „Führer“, der an der Spitze
liche Ordnung, die ihren Bürgern gleiche Rechte und Pflich­ von Staat und Gesellschaft stand und uneingeschränkte
ten einräumt, zerstörte und Juden, aber auch Roma und Entscheidungsmacht besaß. Kaum einem anderen Poli­
Sinti, sogenannte Asoziale, kranke und behinderte Men­ tiker des 20. Jahrhunderts ist es wie Hitler gelungen, die
schen zu Bürgern zweiter Klasse herabminderte, die der Sehnsüchte von Menschen nach sozialer und politischer
Verfolgung schutzlos ausgeliefert waren. Ordnung im Glauben an seine Person als „Führer“ zu bin­
Die Herrschaftsstruktur des „Führerstaates“ war durch­ den, die traditionellen Eliten auf sich zu verpflichten und
aus vielgestaltig, rivalisierend, auch überschneidend und in den unvermeidlichen Machtkämpfen und Interessens­
widersprüchlich. Eine einheitliche, feste und überschaubare kämpfen als entscheidende Instanz zu fungieren. Auf den
Ordnung von Regierung und Verwaltung wurde nie erreicht. „Führerwillen“ beriefen sich alle Machtträger des Regimes;
Doch bedeutete dies keineswegs zwangsläufig Chaos und auf Hitlers Wort kam es an, wenn Rivalitäten zu klären und
Schwäche des Systems. Vielmehr konnte die Einsetzung von Entscheidungskonflikte zu lösen waren. Hitler besaß eine
„Kommissaren“ und „Sonderstäben“ immer wieder zu einem Machtstellung im NS-Regime, die, gerade weil sie von der
Abbau traditioneller Hierarchien, Verkürzung von Verwal­ weitgehenden Zustimmung der Bevölkerung getragen war,
tungswegen, Verstärkung von Kooperation unterschiedlicher sicher einzigartig war.

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48 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Charismatische Herrschaft oder wichten. Darauf zielt auch Kershaws Herrschaft errichtete, für die Wirklichkeit
Terrorsystem? Schlüsselzitat ab, dem „Führer entgegen nimmt. Die von der Propaganda be­
zu arbeiten“. [...] hauptete und heute vielfältig nachgebe­
Von Max Weber, einem Gründervater der Tatsächlich konnte [...] nur die charisma­ tete unmittelbare emotionale Beziehung
Soziologie, stammt die Unterscheidung tische Herrschaft Hitlers die Destruk­ zwischen Führer und Volk war doch gerade
der drei reinen Typen der legitimen Herr­ tivkräfte der Epoche auf so fatale Weise darauf angelegt, die komplexe und mit
schaft: der traditionalen, der rational­ bündeln – fast bis zum Ende von der gravierenden Problemen behaftete gesell­
bürokratischen und der charismatischen. Zustimmung einer Mehrheit in der deut­ schaftliche Wirklichkeit im sogenannten
Letztere hängt an der Ausstrahlung schen Gesellschaft getragen. Die These „Dritten Reich“ zu überblenden. Wenn der
einer einzelnen Person. Ist der NS-Staat von der Messias-Erfindung durch einige Historiker diesem Trugbild folgt, entgeht
ein Fall charismatischer Herrschaft? Oder strategisch platzierte Helfershelfer, damit ihm – um das Mindeste zu sagen – der zen­
hielt ihn Terror zusammen? Die Histo­ auch von der erfolgreichen manipulato­ trale Aspekt des nationalsozialistischen
riker Hans-Ulrich Wehler, Ludolf Herbst rischen Propaganda verfehlt das Phäno­ Herrschaftssystems: die Bürokratisierung
und der Soziologe M. Rainer Lepsius men Hitler und den Nationalsozialismus und Durchdringung aller Lebensbereiche
nehmen Stellung. ganz und gar. Sie lenkt nicht nur von einer mit Kommandostrukturen. Sie sollten
begriffsscharfen Analyse der Führerdik­ sicherstellen, dass die politische Führung
[...][A]uch 65 Jahre nach dem Untergang tatur ab, sondern auch von der unverändert ihre irrwitzigen, jeder Vernunft und Hu­
des NS-Staates konkurrieren denkbar irritierenden Zustimmungsbereitschaft manität widersprechenden und weit über
unterschiedliche Deutungen der Diktatur all jener, die das Charisma beharrlich, ja die Kraft Deutschlands hinausgehenden
und ihres „Führers“ miteinander. [...] fanatisch zuzuschreiben bereit waren. Ziele verfolgen konnte.
Zuletzt hat Ian Kershaw in seiner zweibän­ Dass so viele Deutsche in erster Linie von Dieser Widerspruch zwischen Anspruch
digen Hitler-Biographie den Weberschen einer geschickten Propaganda für den und Leistung zwang die NS-Führung
Idealtypus der charismatischen Herr­ Messias verführt worden seien, läuft daher dazu, alle Lebensbereiche mit einem Netz
schaft effektiv genutzt, um mit einer letztlich auf eine verblüffende Verharm­ von Lenkungsbehörden zu überziehen.
schlüssigen Interpretation Hitlers Sonder­ losung der politischen Antriebskräfte Hitler persönlich spielte in diesem Netzwerk
stellung in einer rational kontrollier­ der deutschen Gesellschaft in den fatalen gewiss eine zentrale Rolle – nicht aber
baren Form zu erfassen. [...] Jahren zwischen 1920 und 1945 als Person und Charismaträger, sondern
Webers Idealtypus der charismatischen hinaus. als Appellationsinstanz. Das Funktionieren
Herrschaft besitzt wie eine Ellipse zwei Hans-Ulrich Wehler, „Kräfte einer trübseligen Figur. Die
eines solchen komplexen Systems ließ
Brennpunkte. Im ersten Zentrum steht das Diktatur fand reale Zustimmung“, in: Frankfurter Allgemeine sich nur gewährleisten, wenn Hitlers Rolle
kriegerische, rhetorische, religiöse, poli­ Zeitung vom 20. Juli 2011
vollständig entpersönlicht wurde. Der
tische Sondertalent des Charismaträgers, Führer wurde zum Prinzip.
der dank einer existentiellen Krise auf­ […] Für die Historiker stellte sich in Bezug Das „Dritte Reich“ war eine Führer-Dik­
steigt und sich dann als Retter in der Not auf die Person Hitlers die Frage, wie ein so tatur nicht, weil „der“ Führer an ihrer
bewähren muss. Sein Personalcharisma durchschnittlich begabter und nach Spitze stand, sondern weil auf allen Ebenen
prägt die durch eine „Gesinnungsrevolu­ allen bürgerlichen Leistungskriterien zu das Führerprinzip galt. Das Gesamtsystem
tion“, die Metanoia, zusammengeführte, wenig Hoffnungen berechtigender Mensch ist daher gerade nicht von dem einen
auf persönlicher Loyalität beruhende eine so große, wenn auch verhängnis­ Führer her zu verstehen, sondern von der
charismatische Gemeinschaft seiner gläu­ volle Wirkung hatte entfalten können. Die Vielzahl der Führer und Unterführer her,
bigen Anhänger. Die Verwaltungsstäbe Antwort suchten sie in einer Analyse die an allen Knotenpunkten plaziert waren.
werden nicht auf der Grundlage sachlicher der komplexen wechselseitigen Beziehun­ Um sich in diesem System zurechtzu­
Qualifikation, sondern durch das per­ gen zwischen der Person Hitlers und den finden, benötigte schon der Zeitgenosse
sönliche Vertrauen des Charismatikers ge­ bürokratischen Apparaten, die den totalen ein Führer-Lexikon, das wie ein Tele­
bildet. Der Konkurrenzkampf rivalisieren­ Staat, an dessen Spitze Hitler seit 1933 fonbuch in ständig aktualisierter Form
der Machtzentren erzeugt ein polykrati­ stand, in allen Lebensbereichen prägten für jeden Lebens- und Funktionsbe­
sches System, in dem er die letztinstanz­ und durchdrangen. Im Rahmen der To­ reich herausgegeben wurde. Die wichti­
liche Entscheidungskompetenz gewinnt talitarismusforschung wurde die Aufmerk­ geren dieser Führer-Funktionäre waren
oder doch die Schiedsrichterrolle besetzt. samkeit auf den Propaganda- und Terror­ in mehrere Hierarchien gleichzeitig
Das zweite Zentrum besteht aus der apparat gelenkt. Strukturgeschichte wurde eingebunden. So ließ sich, die Konzentra­
Zuschreibung charismatischer Fähigkeiten mit biographischen Ansätzen verknüpft, tionslager im Rücken, der Einfluss der
durch die Gesellschaft (jedenfalls wach­ denn so viel lässt sich in der Moderne für SS und der Partei auf allen Ebenen sicher­
sender Segmente von ihr), die dank der po­ jedes Gesellschafts- und Staatssystem stellen.
litischen Kultur des Landes die Neigung sagen: Auf sich allein gestellt, bleibt selbst Das nationalsozialistische Herrschafts­
gespeichert hat, großen Persönlichkeiten der mächtigste Politiker machtlos. Die system mit seiner monolithischen Fassade
ihr politisches Geschick namentlich in Charakterisierung Hitlers als „schier omni­ war ebenso komplex wie labil. Es wäre
Krisensituationen anzuvertrauen. Diese potenter charismatischer Führer“ (Wehler) daher völlig falsch anzunehmen, darin
Zuschreibungsbereitschaft ist mindestens haben NS-Forscher wie Karl Dietrich Bra­ habe nur ein Wille, nämlich der Adolf
ebenso wirksam wie die Aura des charis­ cher, Martin Broszat oder Hans Mommsen Hitlers, gegolten und man habe diesem
matischen Sondertalents. Insofern kommt aus gutem Grund vermieden. [...] „entgegen gearbeitet“. Vielmehr wies
es bei der Interpretation charismatischer Die Charakterisierung der Hitler-Dikta­ diese Machtstruktur eine Tendenz auf, sich
Herrschaft stets darauf an, die erwar­ tur als charismatische Herrschaft geht zu einem Diadochensystem zu entwickeln.
tungsvolle, durch einen Vertrauensvor­ in die Irre, weil sie die Propagandafassade, Wenn man daher vom „Führerstaat“
schuss gestützte Zuschreibung hoch zu ge­ die die NSDAP zur Legitimierung ihrer spricht, ist dies nur gerechtfertigt, wenn

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„Volksgemeinschaft“ 49

man den Plural mitdenkt und den Blick Andererseits erheben die Charismageber Dabei gilt es zu beachten, dass für die Lei­
auf das Führer-Prinzip richtet und nicht auch ihrerseits materielle Ansprüche, tung und die Organisation eines komple­
auf die Person des Führers an der Spitze.[...] die der Charismatiker erfüllen soll. Dies er­ xen Industriestaates keineswegs alles nach
Ludolf Herbst, „Nicht Charisma, sondern Terror. Der Propa­
folgte zunächst für die jungen arbeits­ den Maximen eines charismatischen Herr­
gandafassade entsprach keine Wirklichkeit“, in: Frankfurter losen Gefolgsmänner innerhalb der wach­ schaftsverbandes geregelt werden kann.
Allgemeine Zeitung vom 20. Juli 2011
senden Parteiorganisation und ihrer So unterschied schon Ernst Fraenkel zwi­
Milizen, später durch Pfründen im Staats­ schen der Regelverwaltung und der
[...] Es empfiehlt sich, Max Weber, der den apparat und im Reichsarbeitsdienst, Maßnahmeverwaltung. Der Führer musste
Begriff der charismatischen Herrschaft schließlich durch die rasche Ausweitung nicht alles selbst entscheiden, es genügte,
vor dem Ersten Weltkrieg prägte, genauer des Militärs, finanziert durch die Ver­ dass nichts Wesentliches gegen seine
zu konsultieren. Dort wird man lesen schuldung des Reichshaushaltes. Nach der Vetomacht entschieden werden konnte. Er
können, dass „Charisma“ die „außerall­ Machtübernahme blieben die Löhne delegierte an die von ihm ausgewählten
tägliche Eigenschaft“ einer Persönlichkeit eingefroren. An die Stelle der Einkommens­ Vertrauensleute, war deshalb aber kein
heißen soll, die von Kräften ausgeht, erhöhung traten symbolische Maßnah­ „schwacher Diktator“. Er behielt die ihm für
die letztlich „gottgesandt“ sind. Ihretwegen men: Kraft durch Freude, Winterhilfswerk, seine „Mission“, für Kriegsvorbereitung
wird der Charismatiker als vorbildlicher Mustersiedlungen.[...] und „Ausmerzung“ der Juden wichtigen Ent­
Führer bewertet. Die Faszination durch die Die charismatische Beziehung muss von scheidungen in seiner Hand. Die charis­
prätendierte Mission verbindet sich mit der charismatischen Herrschaft unter­ matische Herrschaft beruht keineswegs nur
der Faszination durch die Person. Charisma schieden werden. Letztere wird durch eine auf dem Charisma des Herrschers oder
hat dabei begrifflich keine positive Konno­ weitgehende Entinstitutionalisierung auf Terror gegen die Opposition.
tation. Auch ein so durchschnittlicher der geltenden Ordnung realisiert. Persona­ Der Entscheidungsprozess folgt einem
und verbrecherischer Mensch wie Adolf lisierung bedeutet immer auch Entinsti­ militärischen Modell: hierarchisch gestufte
Hitler kann Charisma haben. tutionalisierung der Herrschaft. Wie Max Befehlsgebung mit Gehorsamspflicht
Der Charismatiker steht im Dienst von Weber ausführt, kennt der Verwaltungs­ durch einen Befehlshaber. Es gibt keine kol­
„transzendentalen Mächten“, im Falle stab kein Beamtentum, sondern rekrutiert lektive Willensbildung und Entschei­
Hitlers der „Vorsehung“, und hat eine „Mis­ sich aus den „Jüngern“, die das Vertrauen dungsfindung. Schon in der NSDAP gab es
sion“, im Falle Hitlers die Erneuerung des Führers haben. Es gibt keine feststehen­ keinen Parteirat oder kollegialen Vereins­
der Weltgeltung Deutschlands. Die Parole den Behörden. Ad hoc eingesetzte führer­ vorstand. Selbst die von Hitler bestellten
der Kampfzeit hieß dementsprechend: unmittelbare Sonderstäbe handeln im Gauleiter durften sich nicht versammeln
„Deutschland, erwache!“ Für viele Zeitge­ direkten Auftrag des Führers. Das dadurch und beraten. So war es dann auch im
nossen war Hitler auch ein „Erweckungs­ hervorgerufene Verwaltungschaos ist Reich: Die Kabinettssitzungen wurden ein­
erlebnis“. Die Anerkennung des Führers ist kein Argument gegen die charismatische gestellt, die Willensbildung erfolgte in
nicht nur die persönliche Verehrung, Herrschaft, sondern gerade ihr Ergebnis: Einzelgesprächen zwischen Hitler und den
sie ist – wie Weber sagt – „Pflicht“, nämlich Die Handlungswillkür des Führers soll nicht jeweiligen Befehlshabern. Die individuellen
eine Verpflichtung auf die Ideale, die durch die Zuständigkeiten anderer einge­ Zugangschancen zu Hitler und die von
der Charismatiker zu erfüllen verspricht. engt werden. Hitler widersetzte sich rechts­ ihm häufig nur mündlich gegebenen Ein­
Die charismatische Beziehung ist eine verbindlichen Neuregelungen, etwa zelanweisungen bestimmten ihr Eigen­
zweiseitige. Derjenige, der Charisma zu einem neuen nationalsozialistischen Straf­ gewicht und das ihrer Verwaltungsstäbe.
haben prätendiert, muss seinen Anspruch gesetzbuch oder den Versuchen des Insofern gab es auch keine institutionellen
bewähren, bei Hitler in der Kampfzeit zu­ Innenministers Frick, eine neue Behörden­ Regelungen, um Hitler abzusetzen (wie
nächst durch Erfolge bei Großkundgebun­ organisation durchzusetzen. im Italien Mussolinis). Die Tötung Hitlers
gen durch seine Rhetorik, später durch Um ein solches Regime zu etablieren, war der einzige und illegale Weg, Hitlers
Wahlerfolge [...]. Nach der Machtergreifung müssen alle ihm entgegenstehenden Herrschaft zu beenden.[...]
bewährten sich der charismatische An­ Institutionen aufgelöst werden. Die Natio­ Das Hitler-Regime ist nicht einfach als
spruch einerseits über den Rückgang der nalsozialisten handelten entsprechend charismatische Herrschaft zu charakteri­
Arbeitslosigkeit (wobei die Kausalität konsequent und rasch. Vier Wochen nach sieren, das durch einen bedingungslosen
von Hitlers Maßnahmen irrelevant ist) und der Machtübernahme wurde die Notver­ Glauben an das persönliche Charisma
die außenpolitischen Erfolge, die faktisch ordnung erlassen, die verfassungsmäßige Hitlers legitimiert wurde. Große Teile der
die Außerkraftsetzung des Versailler Frie­ Bürgerrechte aufhob, und nach weiteren Herrschaftsausübung folgten dem Modell
densvertrages bedeuteten. drei Wochen erfolgte das Ermächtigungs­ der bürokratischen Herrschaft und
Diese beruhen auf der von Hitler getrage­ gesetz, das die Gesetzgebungskompetenz dem Legitimitätsglauben an die Gültigkeit
nen Bereitschaft zum Hazard, zum Risiko des Reichstages für vier Jahre suspendierte. der Gesetzmäßigkeit der Anordnungen,
eines Krieges. Das war weder Rhetorik noch Schließlich wurden nach dem Tod von ohne auf einen charismatischen Glauben
von der Bevölkerung gewollt. Zu Beginn Hindenburg die Ämter des Reichskanzlers zu rekurrieren.
des Krieges dienten die militärischen Siege und des Reichspräsidenten fusioniert. [...] Wir haben es also zu tun mit einem
als Bewährungsproben (wobei es wiede­ Der Willkürherrschaft waren keine institu­ Mischsystem […]. Die Persönlichkeit von
rum irrelevant ist, ob sie durch Hitlers Ent­ tionellen Grenzen gesetzt. Es gab keine Adolf Hitler besaß bis zum Kriegsende die
scheidungen erreicht wurden). Ein in diesem Meinungsfreiheit mehr, und die politische Fähigkeit, Zweifelnde und Kritiker (etwa
Sinne bewährtes Charisma ist nicht die Opposition konnte ohne Rechtsschutz sofort Generäle) im Vier-Augen-Gespräch immer
Erfindung manipulativer Propaganda, so­ kriminalisiert werden. Die charismatische wieder von seinem prätendierten Charis­
sehr diese auch zur Verbreitung des Herrschaft ist mehr als eine bloß emotio­ ma zu überzeugen.
Glaubens an Hitlers Charisma beigetragen nale Vergemeinschaftung, sie ist eine M. Rainer Lepsius, „Max Weber, Charisma und Hitler“, in:
haben mag. Struktur der politischen Herrschaft. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 2011

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bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Heinrich Hoffmann 50 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Gegenseitige Begeisterung: Hitler beim „Reichserntedankfest“ am 3. Oktober 1937 auf dem Bückeberg bei Hameln

Sprache und Sprachlenkung im ausbeuten) erst in der 15. Auflage im Staates gewissermaßen ein gesetzlich
Nationalsozialismus Jahr 1961. [...] geschützter Begriff und soll nicht für
Zur Vereinheitlichung der Nachrichten­ abfällige Dinge Verwendung finden. Es
[...] Der NS-Staat [...] brachte als totali­ gebung, zur inhaltlichen Kontrolle, gibt also keine Greuelpropaganda, keine
täres Regime sämtliche Informations­ aber auch zur Normierung der Nachrich­ bolschewistische Propaganda, sondern
medien unter seine Kontrolle – mit dem tenformulierung in den verbliebenen nur eine Greuelhetze, Greuelagitation,
Ziel der totalen propagandistischen Zeitungen gab es die „Anweisungen der Greuelkampagne usw. Kurzum – Propa­
Durchdringung der Bevölkerung, wie es Pressekonferenz der Reichsregierung ganda nur dann, wenn für uns, Hetze,
Hitler schon in „Mein Kampf“ gefordert des Dritten Reichs“. Diese wurden auf der wenn gegen uns.“ (28.7.1937) [...]
hatte. Abgesehen von den meist von täglich stattfindenden Pressekonferenz Für die umstrittene Bezeichnung Reichs­
NS-Funktionären verfassten Wörter­ in Berlin von den Korrespondenten mit­ kristallnacht gibt es im Übrigen keinen
büchern, die 1933 in großer Zahl heraus­ geschrieben und an die Heimatredak­ zeitgenössischen schriftlichen Beleg. Sie
kamen (zum Beispiel das ‚Politisches ABC tionen weitergegeben. Zeitungen ohne ei­ war offenbar ein Element der in­
des neuen Reiches‘, ‚Das ABC des Natio­ genen Korrespondenten erhielten offiziellen mündlichen Sprache. [...]
nalsozialismus‘ oder das ‚Taschenwörter­ das offizielle Protokoll über die Gaupropa­ In Hitlers „Mein Kampf“ zählt Hermann
buch des Nationalsozialismus‘) wurden gandaämter. Goebbels persönlich über­ Hammer allein 2294 Änderungen von
daher alle neu erscheinenden, aber auch wachte das Deutsche Nachrichtenbüro der 1. Auflage 1925/27 bis zur 6. Auflage
bestehende Wörterbücher und Enzyklo­ (DNB), das als einzige Agentur von 1930/33 – weitere Änderungen folgten
pädien den ideologischen Anforderungen Bedeutung übriggeblieben war. Obwohl bis zur letzten Auflage. Die Änderungen
des Dritten Reichs angepasst. [...] häufig in verbindlichem Ton formuliert, dienten der stilistischen Glättung,
Ein [...] Beispiel: Vergleicht man die mussten die Presseanweisungen, auch kleinen sachlichen Korrekturen, aber auch
Duden-Auflagen vor 1933 mit den die über die Einführung oder Zurückzie­ der Anpassung von bestimmten Text­
Auflagen von 1934 und 1941, so zeigt sich hung von Schlagwörtern und Parolen, stellen an den ideologisch definierten
eine markant zunehmende Anzahl über den Gebrauch oder Nichtgebrauch NS-Sprachgebrauch. [...]
neu aufgenommener NS-Vokabeln. In der von Ausdrücken, streng beachtet werden. Es wird erkennbar, dass die national­
11. Auflage von 1934 waren es 180 (wie Andernfalls machte sich der verant­ sozialistische Sprachlenkung durch
z.B. Arbeitsfront, Arbeitslager, aufnorden, wortliche Journalist strafbar, und die be­ die Festlegung der Gebrauchsweisen von
Deutscher Gruß, Deutsches Jungvolk) treffende Zeitung konnte wegen Wörtern, Schlagwörtern und Slogans
und in der 12. Auflage von 1941 bereits 883. Landesverrats für einen Tag, eine Woche auf eine einzige Bedeutung eine Einheits­
Viele neue Einträge (wie etwa Rassen­ oder länger, oder auch ganz verboten sprache schaffen wollte, die konkur­
schande, Vierteljude, Volljude, Volksge­ werden. [...] rierenden Meinungen und Interpretati­
nosse, Volksschädling) wurden bereits Wichtige Hochwertwörter der national­ onsweisen (W. Dieckmann) das Wort
in der 1. Nachkriegsauflage von 1948 wie­ sozialistischen Weltanschauung durften abschnitt, so dass Gegenmeinungen und
der getilgt. Andere Wörter wie vollelterig nicht profaniert werden: [...] Gegenargumente in der Öffentlichkeit
oder deutschvölkisch verschwanden „Es wird gebeten, das Wort Propagan­ nicht mehr vernehmbar waren. [...]
erst in der 14. Auflage von 1957, Volks­ da nicht missbräuchlich zu verwenden. Cornelia Schmitz-Berning, 15.10.2010, http://www.bpb.de/politik/
fremd und auswuchern (durch Wucher Propaganda ist im Sinne des neuen grundfragen/sprache-und-politik/42752/sprache-zur-ns-zeit

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„Volksgemeinschaft“ 51

Thüringisches Staatsarchiv Altenburg, Bildersammlung, Nr. 5113


Bundesarchiv, Plak 003-002-046 / Grafiker: René Ahrlé

Die aus NS-Sicht „ideale“ Familie erfährt Schutz … widersprechendes Verhalten hingegen zieht
und Geborgenheit ... Strafe und Ausschluss nach sich.

Ohne Zweifel trug zum „Führermythos“ auch die geschick­ gleichheiten ideologisch kaschiert werden sollten, sondern
te Propaganda bei, die die wirtschaftlichen, arbeitsmarkt­ sie bildete den Zielpunkt einer künftigen sozialen Ordnung,
politischen und außenpolitischen Erfolge des Regimes in der sich viele aus durchaus ganz unterschiedlichen Grün­
erster Linie Hitler zuschrieb. Die Inszenierung der Reichs­ den verschrieben. „Wenn ich den Gründen nachforsche,
parteitage stand ganz im Zeichen der Symbiose von „Be­ die es mir verlockend machten, in die Hitler-Jugend ein­
wegung“ und „Führer“. Während der Olympischen Spiele zutreten“, bekannte nach dem Krieg die ehemalige BDM-
in Garmisch-Partenkirchen und Berlin 1936 präsentierte Funktionärin Melitta Maschmann, 1918 geboren und seit
sich Deutschland als erfolgreiche, wieder erstarkte Nation 1933, gegen den Willen ihrer rechtskonservativen Eltern,
mit Hitler als international respektiertem Staatsmann an BDM-Mitglied, „so stoße ich auch auf diesen: Ich wollte aus
der Spitze. Goebbels und sein Propagandaapparat unter­ meinem kindlichen, engen Leben heraus und wollte mich
nahmen jede Anstrengung, den „Führerkult“ zu verstärken an etwas binden, das groß und wesentlich war. Dieses Ver­
und Hitler als nationalen Retter, als Erlöser und Heilsbrin­ langen teilte ich mit unzähligen Altersgenossen.“
ger erscheinen zu lassen. Das religiöse Element, wie es in Das Ziel nationalsozialistischer Politik lag in der Herstel­
der liturgischen Inszenierung von Parteitagen, nächtlichen lung der „Volksgemeinschaft“, einer Gesellschaftsordnung,
Weihen oder in den Totenehrungen zum Ausdruck kam, der nur die „erbbiologisch wertvollen“ und „rassereinen“
war offensichtlich, zumal Hitler diese Dimension zusätz­ Deutschen angehören und aus der die „Fremdvölkischen“
lich verstärkte, indem er sich als von der „Vorsehung ge­ und „Gemeinschaftsfremden“, allen voran die Juden, aus­
schickt“, als „auserwählt“ und vom „Schicksal bestimmt“ geschlossen werden sollten. Inklusion wie Exklusion sind
bezeichnete. daher die beiden untrennbar zusammengehörenden Sei­
Aber die Begeisterung, die so viele Deutsche teilten, ten der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“.
war nicht nur ein Werk von Verführung und Propagan­
da. Mit Hitler verband sich nicht nur die Erwartung, dass
er Deutschland aus der Krise, sondern vor allem zu neuer
Größe führen werde. Das Zukunfts- und Heilsversprechen,
das Hitler verhieß, gepaart mit den realen Erfolgen, die das Integration der Arbeiterschaft
Regime vorzuweisen hatte, bildete die Basis für die enor­
me Selbstmobilisierung der deutschen Gesellschaft in den
Vorkriegsjahren. Selbst dort, wo Korruption und Misswirt­ Eine der wichtigsten Gruppen, um deren Integration in die
schaft nicht zu übersehen waren, wurde dies nicht dem „Volksgemeinschaft“ sich die Regimeführung sehr bemüh­
„Führer“ als vielmehr seinen unvollkommenen Gehilfen te, war die Arbeiterschaft, von der sie wusste, dass sie dem
angelastet. „Wenn der Führer das wüsste“ geriet zu einer Nationalsozialismus zu einem großen Teil durchaus noch
gängigen Selbsttäuschungsformel, mit der sogar Unrecht distanziert gegenüberstand. Bei den Betriebsratswahlen im
und Verbrechen vom Glauben an Hitler abgespalten wer­ März und April 1933 hatten die Vertreter der Freien Gewerk­
den konnten. schaften noch fast drei Viertel der Stimmen erhalten, wo­
Ohne diese Bereitschaft zur Selbstmobilisierung ist der hingegen die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisa­
Nationalsozialismus nicht zu verstehen. Die Verheißung ei­ tion (NSBO) trotz Machtergreifung nur auf gut elf Prozent
ner „Volksgemeinschaft“ war nicht bloß eine Propaganda­ der Stimmen kam. Die Hitler-Regierung reagierte auf das
formel, mit der die nach wie vor anhaltenden sozialen Un­ für sie schlechte Ergebnis mit einer Aussetzung weiterer

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52 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Wahlen und einem Gesetz Anfang April, mit dem Betriebs­ tet von zahlreichen Anstrengungen des NS-Regimes, die
räte, die „in staats- und wirtschaftsfeindlichem Sinne einge­ Arbeiterschaft zu integrieren. Ziel der DAF war, wie es in
stellt“ seien, abgelöst und neue „ernannt“ werden konnten. der Verordnung Hitlers vom 24. Oktober 1934 hieß, „die Bil­
Um nach der Zerschlagung der Gewerkschaften kein dung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft
Machtvakuum in den Betrieben entstehen zu lassen und aller Deutschen“. Die DAF solle dafür sorgen, „dass jeder
die organisierte Arbeitnehmerschaft aufzufangen, wurde einzelne seinen Platz im wirtschaftlichen Leben der Nation
gleich im Mai 1933 die Deutsche Arbeitsfront (DAF) unter in der geistigen und körperlichen Verfassung einnehmen
Robert Ley gegründet, die die Millionen Gewerkschaftsmit­ kann, die ihn zu höchster Leistung befähigt und damit den
glieder übernahm und zugleich das Vermögen der Gewerk­ größten Nutzen für die Volksgemeinschaft gewährleistet“.
schaften raubte. Schon zum 1. Mai 1933 war viel von der „Ehre der Arbeit“
Im selben Monat folgte die Einsetzung von sogenannten die Rede, DAF-Leiter Ley besuchte in den folgenden Mona­
Treuhändern der Arbeit, die, angeblich unabhängig, tat­ ten zahlreiche Betriebe und machte es sich zur Gewohn­
sächlich jedoch in der Regel zugunsten der Unternehmer, heit, demonstrativ Arbeitern an der Werkbank die Hand
die Lohn- und Arbeitsbedingungen regelten. Die Tarifauto­ zu geben. Diese symbolische Geste, die zeigen sollte, dass
nomie war damit aufgehoben. Am 20. Januar 1934 bestätig­ der „Führer“ auf den „einfachen Mann“ zugeht und ihm
te das Gesetz zur „Ordnung der nationalen Arbeit“ die Rolle „von Mann zu Mann“ die Hand reicht, setzte selbstredend
der Treuhänder und bestimmte, dass es künftig in den Be­ die autoritäre Betriebsverfassung keineswegs außer Kraft,
trieben nur eine „Betriebsgemeinschaft“ mit „Führer“ und aber die Wirkungskraft solcher „handgreiflicher Anerken­
„Gefolgschaft“ geben dürfe. Statt Betriebsräten gab es nun nung“ darf dennoch nicht unterschätzt werden.
„Vertrauensräte“, statt Mitbestimmung nur „Beratung“. Als Offiziell war der DAF eine eigenständige Arbeits- und So­
sich dennoch 1935 bei den betrieblichen Wahlen noch Ge­ zialpolitik verwehrt, und der verordnete Lohnstopp engte
genstimmen abzeichneten, erhielten die Treuhänder auch ihren Handlungsspielraum erheblich ein. Gerade deswe­
das Recht,„Vertrauensmänner“ zu ernennen. Im selben Jahr gen versuchte die Organisation nicht bloß propagandis­
wurde zudem das „Arbeitsbuch“ wieder eingeführt, das die tisch, sondern auch materiell auf die Arbeitsbedingungen
freie Wahl des Arbeitsplatzes einschränkte und darüber hi­ in den Betrieben Einfluss zu nehmen. Das DAF-Amt „Schön­
naus die Kontrolle der Arbeitenden erlaubte. heit der Arbeit“ kümmerte sich um die Modernisierung von
Diese einschneidenden Regelungen, die die sozialen Kon­ Betriebskantinen, den Bau von Sportanlagen oder die Ver­
flikte in den Betrieben unterdrücken sollten, waren beglei- besserung der Hygiene in den Betrieben. Das Reichsheim­
stättenamt drängte die Kommunen, den sozialen Woh­
nungsbau voranzutreiben, und die Firmen, ihren Arbeitern
billige Kredite für den Hausbau zur Verfügung zu stellen.
Stammarbeiter sollten bevorzugt werden, allerdings hat­
ten sie politisch zuverlässig und „erbgesund“ zu sein. Die
DAF kümmerte sich um „deutsche Wohnkultur“, ließ Mus­
tereinrichtungen entwerfen und Modellmöbel herstellen,
die sich durch Funktionalität und Schlichtheit auszeichnen
und, weil in hoher Stückzahl hergestellt, zu erschwingli­
chen Preisen angeboten werden sollten.
Das Amt für Volksgesundheit führte ärztliche Vorsorge­
untersuchungen in den Betrieben durch, deren Daten dann
statistisch aufbereitet und rassenbiologisch ausgewertet
wurden. Als bei einem beachtlichen Teil der Belegschaften
ein besorgniserregender Gesundheitszustand erkennbar
wurde, weitete das Regime seit 1936/37 die Zahl der Be­
triebsärzte erheblich aus und förderte den Betriebssport,
jedoch mit keineswegs bloß sozialpolitischen Absichten,
sondern vor allem, um die Wehrertüchtigung zu stärken.
Die DAF förderte die betriebliche Aus- und Weiterbildung
und veranstaltete seit 1934 alljährliche „Reichsberufswett­
Bundesarchiv, Plak 003-017-037 / Grafiker: Alois Plefke

kämpfe“, an denen Millionen, zumeist jugendliche Arbeit­


nehmer teilnahmen. Das Motto lautete: „Freie Bahn dem
Tüchtigen!“ und verhieß damit, unabhängig von sozialer
Herkunft allein durch persönliche Leistung vorankommen
zu können. Mit der „Goldenen Flagge“ wurden alljährlich
im „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ nationalso­
zialistische Musterfirmen ausgezeichnet, die eben den be­
triebs- und sozialpolitischen DAF-Kriterien in besonderer
Weise entsprachen. Die Teilnahme war freiwillig, und doch
hatten sich zum Beispiel 1939/40 nicht weniger als 273 000
Betriebe gemeldet.
Das bekannteste und zweifellos populärste Amt der DAF
Plakat der DAF. In Anspielung an den Mythos der „Schützengrabengemein­ war „Kraft durch Freude“ (KdF). Im November 1933 nach ita­
schaft“ beschwört die NS-Propaganda eine geeinte Arbeitsgesellschaft. lienischem, faschistischem Vorbild gegründet, widmete es

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„Volksgemeinschaft“ 53

sich der Freizeitorganisation der Arbeitnehmer, veranstal­ bunden waren, die entscheidend, insbesondere bei den
tete Kulturabende und insbesondere Reisen. Bereits 1935 jüngeren Generationen, zur Legitimation des Regimes bei­
nahmen über 5,7 Millionen Personen an Kurzfahrten in­ trugen. Das Versprechen, dass jeder Einzelne nach seiner
nerhalb Deutschlands teil, über 120 000 Menschen kamen Leistung, nicht nach seiner Herkunft zähle, hat die Klas­
im selben Jahr in den Genuss einer Schiffsfahrt mit einem senschranken in Deutschland keineswegs eingerissen, aber
der zehn KdF-Dampfer. Am begehrtesten waren selbst­ durchaus zu mehr Aufstiegsmobilität und Leistungsbereit­
verständlich die Auslandsreisen. 1938 fuhren bereits rund schaft geführt.
140 000 Deutsche nach Italien, andere reisten nach Norwegen,
Griechenland, sogar nach Madeira und auf die Kanarischen
Inseln. Dabei ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass es
für Arbeiter erst unter dem NS-Regime einen nennenswer­
ten Urlaub, allerdings differenziert nach Branchen, Lebens­ Rüstungskonjunktur
alter und der alleinigen Entscheidung der „Betriebsführer“,
von sechs bis zwölf Tagen gab.
Für die NS-Führung stand die Wehrhaftigkeit im Vorder­ Vor allem konnte das Regime in den ersten Jahren den rapi­
grund, wie es Hitler bei der Gründung der Organisation den Abbau der Arbeitslosigkeit für sich verbuchen. Zwar hatte
unmissverständlich ausdrückte: „Ich will, dass dem deut­ die Weltkonjunktur schon 1932 die Talsohle durchschritten,
schen Volk ein ausreichender Urlaub gewährt wird. Ich und ein neuer Konjunkturaufschwung war in Sicht. Aber Hit­
wünsche dies, weil ich ein nervenstarkes Volk will, denn ler wusste sehr genau, dass an der Fähigkeit, die katastrophal
nur mit einem Volk, das seine Nerven behält, kann man hohe Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen (September 1932)
wahrhaft große Politik machen.“ In der alltäglichen Praxis zu verringern, der Erfolg seiner Regierung gemessen werden
jedoch bedeutete KdF vielmehr die Erfahrung von Freizeit würde. So drängte er im Kabinett auf rasche, staatlich finan­
und Konsum. Millionen Deutsche erlebten reale und nicht zierte Arbeitsprogramme, die zum größten Teil bereits von
nur propagandistische Verbesserungen der Lebens- und Ar­ der Regierung Schleicher auf den Weg gebracht worden wa­
beitsbedingungen. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat ren, wie den Auftrag zum Bau einer Reichsautobahn unter
in seiner Gesellschaftsgeschichte Deutschlands unterstri­ Leitung des Straßenbauingenieurs Fritz Todt. Nachdem Hitler
chen, dass mit der Verheißung einer „Volksgemeinschaft“ selbst am 23. September mit großem Propagandaaufwand den
ein „Modernitätsappeal“ und ein Mobilisierungsschub ver­ ersten Spatenstich gesetzt hatte, begann der Bau im Frühjahr
Bundesarchiv, Bild 183-2003-1215-505 / Fotograf: Jos. Schorer

bpk

In Hamburg startet der Dampfer „Monte Olivia“ im Mai 1934 zu einer KdF- Schon in der Weimarer Republik begonnen, wird der Bau der Reichsauto-
Seereise, die in die Nordsee führt. Robert Ley hält die Abschiedsrede. bahn unter Hitler weiter vorangetrieben. Teilstrecke bei Rosenheim

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54 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

1934 mit 15 000 Arbeitern. Die Höchstzahl wurde 1936 mit ten auch die Allgemeine Wehrpflicht im März 1935 und die
125 000 Beschäftigten erreicht, als die Arbeitslosigkeit bereits Einführung eines sechsmonatigen Reichsarbeitsdienstes
deutlich zurückgegangen war. Volkswirtschaftlich betrachtet (RAD), den alle Männer zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr
ging vom Autobahnbau kein nachhaltiger beschäftigungs­ vor ihrem Wehrdienst absolvieren mussten, die Arbeitslo­
politischer Impuls aus, aber mit ihrem Nimbus aus Dynamik, senzahlen. In den Berichten, die sozialdemokratische Ver­
kühner Planung und Modernität verschafften die Autobahnen trauensleute heimlich an den Exilvorstand der SPD in Prag
dem Regime einen öffentlichen Erfolg. schickten, hieß es 1936 resigniert, „große Teile der Arbeiter­
Zu den staatlichen Arbeitsprogrammen der ersten Jahre schaft“ hätten mittlerweile „Freiheit“ gegen „Sicherheit“ am
gehörte auch der Wohnungsbau, dessen Investitionen sich Arbeitsplatz eingetauscht.
innerhalb eines Jahres verdreifachten. Bis Ende 1934 nahmen Bezeichnenderweise hielt das NS-Regime trotz Vollbeschäf­
die staatlichen Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tigung den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung wei­
eine Höhe von über fünf Milliarden Reichsmark an, bis 1935 terhin bei 6,5 Prozent des Lohnes und steckte diese zusätzlich
stiegen sie auf 6,2 Milliarden. Tatsächlich sank die Zahl der eingenommenen Milliarden in die Rüstungsproduktion. Das
Arbeitslosen bereits ein Jahr nach der Machtergreifung auf Gesamtvermögen der Sozialversicherungen verdoppelte sich
2,7 Millionen, lag 1936 bei nur noch 1,6 Millionen und blieb von 4,6 Milliarden Reichsmark 1932 auf 10,5 Milliarden 1939,
1937 unter einer Million. wobei diese Gelder gleichfalls nicht als Leistungsverbesse­
Mittlerweile schufen vor allem die vom Staat mit etlichen rungen den Arbeitnehmern zugute kamen, sondern dem
Milliarden massiv geförderten Rüstungsinvestitionen neue Reichshaushalt als Darlehen zur Finanzierung der Rüstungs­
Arbeitsplätze. So erlebte die Flugzeugproduktion einen bei­ ausgaben dienten.
spiellosen Aufschwung von knapp 4000 Beschäftigten im Die Rüstung war der Hauptgrund für den Abbau der Ar­
Januar 1933 auf 54 000 zwei Jahre später und annähernd beitslosigkeit. Bis 1939 gab der NS-Staat dafür 62 Milliarden
240 000 Beschäftigte im Frühjahr 1938. Nicht zuletzt senk­ aus, was einem Anteil am Bruttosozialprodukt von 23 Prozent

Pit lorero dolorero eu faccums andiamc onsequi smodignisse dolore do


„Wirtschaftswunder?“
odolore vel deliscip exerilit wis acilis nibh er ing et, susto dolor

Wenige Erfolge haben den Nimbus 3. Für die Beschäftigungspolitik der Unter­ 6. Dennoch ist es fraglich, ob diese ob­
Hitlers als eines heilbringenden Erlösers, nehmen war die Tatsache von grundle­ jektivierbare Konstellation sich so
welcher der Misere von mehr als acht gender Bedeutung, daß sie mit keinem schnell und so durchschlagend ausge­
Millionen Arbeitslosen ein Ende berei­ Lohnanstieg, keiner gewerkschaftlichen wirkt hätte, wenn nicht Hitler selber
tete, so gesteigert, seine Regierung Tarifforderung mehr zu rechnen im Verein mit dem Goebbelsschen Propa­
so mit der Gloriole einer beispiellosen hatten. Nicht nur herrschte ein faktischer gandaapparat die Rhetorik der „Ar­
Leistung umgeben, wie [der] „Sieg“ in Lohnstopp, sondern die Basisgröße beitsschlacht“, die es so schnell wie nur
der „Arbeitsschlacht“. Noch Jahrzehnte der Lohnquote schrumpfte sogar, wie es irgend möglich zu gewinnen gelte,
nach dem Zweiten Weltkrieg konze­ die Arbeitgeber seit Jahren gefordert die populistische Beschwörung des na­
dierten zahlreiche Deutsche bereitwillig hatten, von 1932 = 68 auf 1938 = 55 Pro­ tionalen Aufschwungs unentwegt
das Unheil, das Hitlers Krieg gebracht zent. Schon dieser genau vermerkte in Gang gehalten hätte. Der modernen
hatte, bestanden aber weiter darauf: „Er Umstand wirkte investitions- und be­ Konjunkturpolitik ist längst bewußt,
hat doch die Leute von der Straße ge­ schäftigungsfördernd, zumal gleich­ welche bedeutende Rolle die Psycholo­
bracht.“ Wie konnte das gelingen? zeitig die Unternehmensprofite bis 1939 gie der Krisenbekämpfung und die
Mehrere Faktoren sorgten so lange jährlich um 36,5 Prozent kräftig anstiegen. Semantik der Steuerungskompetenz
für eine anhaltende Belebung des 4. Der zügige Aufbau großer Bürokra­ spielt; [...].
Arbeitsmarktes, bis er buchstäblich leer­ tien durch die NSDAP, die DAF (im [Doch] nirgendwo sonst wurden Hoch­
gefegt war. Nu kam sie auf 45 000 Mitarbeiter), den konjunktur und Vollbeschäftigung
1. Die konjunkturpolitischen Maß­ RAD, zahlreiche Ämter und Stäbe, mit so horrenden Kosten erkauft: mit der
nahmen der Regierung demonstrierten nicht zuletzt durch die expandierende Fehlleitung gewaltiger Ressourcen
ihre Handlungsbereitschaft. Außer­ Wehrmachtsverwaltung entlastete in die Aufrüstung, mit der Vorbereitung
dem gewann sie zusehends an Stabilität. spürbar den Arbeitsmarkt insbesondere eines totalen Krieges, mit der zweiten
Beides wußten viele Unternehmer von Angestellten und Akademikern. vollständigen Zerrüttung der Landeswäh­
zu schätzen, wenn sie über Neueinstel­ Auch die Wehr- und die Arbeitsdienst­ rung. Die Quittung für das fabel­
lungen entschieden, [...]. pflicht nahmen seit 1935 Hundert­ hafte „Wunder“ wurde den Deutschen
2. Tatsächlich hatte die Depression in tausende aus dem Arbeitsmarkt. zwischen 1939 und 1948 ohne jede
Europa 1932 ihren absoluten Tief­ 5. Seit 1934/35 ging eine steigende Nach­ Chance des Entrinnens präsentiert. In­
punkt erreicht, und erste Signale der frage nach Arbeitskräften von der sofern handelte es sich um ein äußerst
zyklischen Erholung wurden auch von Rüstungswirtschaft aus, da enorme Sum­ kurzlebiges „Wirtschaftswunder“
der deutschen Industriewirtschaft men in sie hineingepumpt wurden. [... ] mit extrem desaströsen Folgen. [...]
1933, verstärkt seit 1934 aufgenommen. In gewisser Hinsicht war daher
Ein sachte einsetzender wirtschafts­ die Vollbeschäftigung zum guten Teil Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte
immanenter Aufschwung begann da­ eine „Sekundärfolge von Hitlers 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 644 ff.

her, ungeachtet der Staatskonjunktur, Entschluß, Deutschland kriegsfähig zu


belebende Impulse auszusenden. machen“.

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


„Volksgemeinschaft“ 55

Bundesarchiv, Plak 003-022-025 / Grafiker: Leonid

Deutsches Historisches Museum, Berlin

„Volks“-Produkte: Der Volksempfänger, ein idea­ … der Volkswagen hingegen blieb den Interessen­
les Propagandainstrument, fand viele Käufer… ten – trotz geleisteter Anzahlungen – verwehrt.

entsprach. 1933 hatte der Anteil noch bei 1,5 Prozent gelegen. und neben den Steuern und Sozialversicherungsabgaben zu­
Von Anfang an forcierte die neue Regierung die Aufrüstung. sätzlich die Beiträge zur DAF vom Lohn automatisch eingezo­
35 Milliarden Reichsmark sollten in den kommenden acht gen wurden. Die sich öffnende Schere zwischen den Tariflöh­
Jahren für die Rüstungsausgaben zur Verfügung gestellt nen und den ungleich höheren Effektivlöhnen führte zu einer
werden – eine immense Summe, wenn man bedenkt, dass Lohndifferenzierung nach Leistungskriterien, die die bishe­
das gesamte Volkseinkommen des Deutschen Reiches 1933 rige Ordnung gesellschaftlicher Lohnpolitik, die zwischen
ungefähr 43 Milliarden Reichsmark betrug. Dieses Geld Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen als sozialen
wurde weniger durch Steuern oder sonstige Einnahmen, Vertretungsorganen in Flächentarifverträgen ausgehandelt
sondern größtenteils durch staatliche Schuldenaufnahme worden war, ablöste.
beschafft. Zeitgleich mit dem Aufrüstungsprogramm fiel Im internationalen Vergleich des Pro-Kopf-Volkseinkom­
die Entscheidung im Juni 1933, die ausländischen Schulden­ mens lag Deutschland in den 1930er-Jahren jedoch weiterhin
zahlungen vorerst einzustellen. Dieses einseitig verkündete um die Hälfte zurück gegenüber den USA, auch weit hinter
Schuldenmoratorium brachte das Deutsche Reich auf den Großbritannien und noch hinter den Niederlanden, Frank­
internationalen Finanzmärkten in Misskredit und zeigte reich und Dänemark. Während in den USA die Verbindung
zugleich an, dass die neue deutsche Regierung sich nicht von Serienproduktion durch Standardisierung und Fließ­
mehr an völkerrechtliche Verträge gebunden fühlte. Statt­ bandmontage einerseits und hohen Löhnen andererseits
dessen setzte die NS-Führung auf eine Politik der Autarkie, einen rasch wachsenden Binnenmarkt selbst für teure Mas­
obwohl das Reich weiterhin auf Importe von Rohstoffen senkonsumgüter wie Automobile schuf, stagnierte die Kon­
und Lebensmitteln angewiesen war und dringend Devisen sumgüterproduktion in Deutschland durch die ausschließli­
auch für die Rüstungsproduktion brauchte. Mit Finanztricks che Konzentration auf die Rüstung.
suchte insbesondere Reichsbankchef Hjalmar Schacht Geld Zwar versuchte das Regime durch staatlich subventionier­
zu beschaffen, stieß aber immer wieder an die Grenzen te „Volks“-Produkte Massengüter herzustellen, aber nur der
der Kapitalmärkte. Letztlich kalkulierte, wie der britische Volksempfänger, der im Sommer 1933 in Serienproduktion
Wirtschaftshistoriker Adam Tooze geschildert hat, die NS- ging und mit einem Ratenvertrag erworben werden konnte,
Führung mit dem beabsichtigten Krieg, um dann mittels wurde ein Erfolgsprodukt. Besaß 1933 ein Viertel aller deut­
der Ausplünderung des eroberten Europas die zerrütteten schen Haushalte ein Radio, so waren es 1938 schon etwas über
deutschen Staatsfinanzen wieder zu sanieren. 50 Prozent. Verglichen mit 68 Prozent in England und 84 Pro­
zent in den USA war aber auch das kein Spitzenwert.
Nicht zuletzt stieß das Projekt eines KdF-Wagens – Robert
Konsumgesellschaft Ley 1938: „In 10 Jahren jedem schaffenden Deutschen einen
Volkswagen!“ – auf große Zustimmung. 336 000 Menschen
Für die Arbeiter blieb zwar der vom Regime verordnete Lohn­ leisteten wöchentliche Vorauszahlungen, um ihr eigenes
stopp in Kraft. Aber zahlreiche Betriebe gingen aufgrund der Auto zu bekommen. Da der politisch festgelegte Preis von
guten Konjunktur und des bald spürbar werdenden Fachar­ 1000 RM weit unter den Produktionskosten lag, fand sich
beitermangels dazu über, höhere Akkordlöhne oder beson­ kein Unternehmen bereit, den Volkswagen zu bauen. Statt­
dere Zulagen zu zahlen. So erreichten die Nettolöhne 1937, dessen übernahm die DAF aus geraubten Gewerkschaftsver­
zumindest in den rüstungsrelevanten Wirtschaftsbereichen, mögen die Finanzierung und beauftragte Ferdinand Porsche
wieder das Niveau von 1929, obwohl auch die Preise stiegen mit der Entwicklung und dem Bau des KdF-Wagens. Von den

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


ullstein bild – Heinrich Hoffmann 56 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Trotz propagandistischer Beteuerungen verliert die Landwirtschaft volkswirtschaftlich an Bedeutung. Auch die Abordnung Jugendlicher zum Ernte­
einsatz kann daran nichts ändern.

Einzahlungen der künftigen VW-Besitzer zog die DAF einen Die Flugzeugindustrie lockte mit hohen Lohnzuschlägen,
Gewinn von rund 275 Millionen RM; die Sparer selbst verloren modernsten Produktionsanlagen,beachtlichen betrieblichen
ihr Vermögen, denn entgegen den Versprechungen des Regi­ Leistungen, neu gebauten Wohnungen und einem hohen
mes zur Massenmotorisierung wurde von dem propagandis­ Sozialprestige als „Hightech“-Industrie. Die Flugzeugbauer
tisch angekündigten Volkswagen in der NS-Zeit kein einziger seien sehr von sich eingenommen, urteilte 1935 ein sozialde­
ausgeliefert. Vielmehr lieferte Porsche Militärfahrzeuge für mokratischer Vertrauensmann, sodass sie für die politische
die Wehrmacht. Selbst wer ein privates Auto eines anderen Arbeit, sprich gewerkschaftliche Klassenorganisation, nicht
Herstellers besaß, wurde vom NS-Regime benachteiligt, denn mehr zu gebrauchen seien. Für das Gesellschaftsbild der
der Benzinpreis lag in Deutschland Ende der 1930er-Jahre traditionellen Arbeiterbewegung wären diese überwiegend
aufgrund hoher Besteuerung mit 39 Pfennig pro Liter doppelt jungen Arbeiter mit ihrer starken individuellen Aufstiegs­
so hoch wie beispielsweise in den USA. Benzin war im NS- orientierung nicht mehr anzusprechen gewesen, während
Regime Treibstoff für das Militär, nicht für Privatfahrer. sie sich den Integrationsangeboten des NS-Regimes vorbe­
haltlos öffneten. Die Flugzeugbauer, so äußerte sich 1934
ein Sozialdemokrat über die Belegschaft der Heinkel-Werke,
Gewinner und Verlierer hätten nur ein einziges Interesse: ihre Arbeit zu erhalten und
hohen Lohn zu beziehen. Politisch seien sie „absolut uninte­
Der Aufschwung galt nicht für alle Branchen und Regionen ressiert und indifferent“, „völlig passiv“ und kämen für die
gleichermaßen, wie der Historiker Frank Bajohr 2009 hervor­ politische Arbeit, d. h. für die Arbeiterbewegung, „gar nicht
gehoben hat. Der Rüstungsboom führte zu zahlreichen Un­ in Frage“.
gleichheiten. Zu den großen regionalen Gewinnern gehörte Zu den Verlierern zählte die Landwirtschaft. Noch im Fe­
Mitteldeutschland, wo ein neues industrielles Zentrum ne­ bruar 1933 verbot die Hitler-Regierung Zwangsversteigerun­
ben dem Ruhrgebiet entstand. In Städten wie Magdeburg, gen bäuerlicher Betriebe und unterband damit in populis­
Halle, Dessau, Halberstadt und Bitterfeld verdoppelte sich tischer Weise eine privatwirtschaftlich legale Maßnahme,
binnen weniger Jahre die Zahl der Beschäftigten. Eine Stadt die in den Jahren zuvor immer wieder für helle Empörung
wie Rostock mit Werften und dem Flugzeugwerk Heinkel und sogar gewalttätigen Widerstand in der Bauernschaft
steigerte ihre Einwohnerzahl innerhalb von nur sechs Jah­ gesorgt hatte. Mit dem Reichserbhofgesetz vom September
ren, von 1933 bis 1939, um ein Drittel von 90 000 auf 120 000 1933 erhielten rund eine Million Bauernhöfe, die rund 37
und stieg damit in die Liga deutscher Großstädte auf. Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bewirtschafte-

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


„Volksgemeinschaft“ 57
bpk

Die Flugzeugindustrie dagegen boomt. Endmontage des Zerstörerflug­


zeugs Messerschmitt Bf 110, Baureihe C

ten, einen neuen Status: Sie wurden unteilbar, unverkäuf­ gestehen, dass der Landwirtschaft seit 1933 rund 500 000
lich und allein an den erstgeborenen Sohn vererbbar. Nur Arbeitsplätze verloren gegangen waren, was einem Rück­
diese, durch „Rasse“, „Ehrbarkeit“ und Wirtschaftsführung gang von 20 Prozent entsprach. Konsequent wurden Zehn­
ausgewiesenen Besitzer durften sich Bauern nennen, alle tausende von Jugendlichen zum „Ernteeinsatz“, die Mäd­
anderen hießen Landwirte. Doch wurde mit dem Erbhofge­ chen anstelle des Wehrdienstes zum landwirtschaftlichen
setz das seit Jahrzehnten anstehende Problem einer Boden­ „Pflichtjahr“ abkommandiert, während sich zur selben Zeit
reform, um die Diskrepanz zwischen den wenigen Gutshö­ die Bevölkerungszahlen in den neuen Industriestandorten
fen, die über ein Viertel des Ackerlandes verfügten, und der in Mitteldeutschland verdoppelten.
großen Zahl kleiner Bauernhöfe, die weniger als ein Fünf­ Auch für den Mittelstand erfüllten sich nicht die Erwartun­
tel der Ackerfläche bewirtschafteten, zu schließen, keines­ gen, die er in den Nationalsozialismus gesetzt hatte. Die vor
wegs gelöst. 1933 heftigst bekämpften Kaufhäuser wurden nicht geschlos­
Zusätzlich wurde mit dem „Reichsnährstand“ unter Land­ sen, sondern bloß höher besteuert. Vielmehr mussten sogar
wirtschaftsminister Darré eine staatlich gelenkte Landwirt­ viele kleine Geschäfte schließen, weil ihnen die Arbeitskräfte
schaftsorganisation geschaffen, die Erzeuger wie Verteiler fehlten oder sie nicht mehr konkurrenzfähig waren. Nur die
einschloss, die Preise festsetzte und damit den freien Agrar­ großen Handelsunternehmen konnten mit der wirtschaftli­
markt aufhob. Damit wollte die NS-Führung die Selbstver­ chen Entwicklung Schritt halten. Zwar konnten auch 1937/38
sorgung mit Nahrungsmitteln sichern. Doch wurde trotz viele kleine und mittlere Unternehmen von den Enteignun­
aller „Erzeugungsschlachten“, die zwar zu beachtlichen gen der jüdischen Betriebe, der „Arisierung“, profitieren, aber
Produktionssteigerungen führten, weder die Autarkie in nur ein kleiner Teil der jüdischen Vermögen geriet in private
der Lebensmittelversorgung erreicht – nach wie vor blieb Hände. Es war insbesondere der nationalsozialistische Staat,
Deutschland auf Importe, insbesondere bei Futtermitteln der durch Liquidierungen, Abgabenpolitik und drastische Be­
und Fetten, angewiesen – noch konnte bei aller nationalso­ steuerung den Hauptanteil einstrich, um die Rüstungspolitik
zialistischer „Blut und Boden“-Rhetorik, dass das Bauerntum zu finanzieren.
die Grundlage der „Volksgemeinschaft“ bilde, der moderne
Trend zur Landflucht aufgehalten werden.
Jungen Leuten boten sich in der Industrie, die dringend
Arbeitskräfte benötigte, die weitaus besseren Arbeitsbe­
dingungen. Im November 1938 musste Darré öffentlich ein­

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


58 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Frauen

Nationalsozialistische Frauenpolitik hieß zuerst Familien-


und Geburtenpolitik. Die „erbgesunde“ und rassenbiolo­
gisch „artgerechte“ Ehe und Familie stand als „Keimzelle
der Volksgemeinschaft“ unter besonderem Schutz des NS-
Staates. Allerdings wurde aus eben denselben erb- und ras­
senbiologischen Gründen auch die Ehetrennung gefördert.
Der „Schutz der Familie“ bedeutete daher keineswegs die
Achtung der privaten Sphäre oder ein moralisches Bekennt­
nis, sondern unterlag einem strikt rassistischen Zweckmä­
ßigkeitsdenken. 1936 wurde erstmals ein Kindergeld von
zehn Reichsmark pro Monat ab dem fünften Kind unter 16
Jahren für Familien eingeführt, deren Monatseinkommen
185 Reichsmark nicht überstieg. Diese Einschränkungen
wurden im Laufe der nächsten Jahre mehr und mehr zu­
rückgenommen, bis im Dezember 1940 alle Familien ein
Kindergeld ab dem dritten Kind erhielten.
Zinsfreie Ehestandsdarlehen bis zu 1000 Reichsmark wur­
den an jung verheiratete Paare als Zuschuss für den Kauf

L. Orgel-Köhne / DHM, Berlin


der Haushaltseinrichtung gezahlt, wobei dieses Darlehen
„abgekindert“ werden konnte, d. h. mit jedem Kind wurde
die Rückzahlung um ein Viertel gekürzt. Bereits 1933 hatten
200 000 junge Paare ein Ehestandsdarlehen in Anspruch
genommen, 1935 waren es 370 000 Darlehen. Den moder­
nen Trend zur Kleinfamilie mit maximal zwei Kindern
haben auch die geburtenorientierten Förderungsmaßnah­ Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink als Idealbild der nationalso­
men des NS-Regimes indes nicht aufhalten können. Da mit zialistischen Frau. Hier mit ihren vier leiblichen Kindern und den sechs
den Darlehen zunächst die Auflage verbunden war, dass ihres dritten Ehemannes, SS-Obergruppenführer August Heißmeyer

Das NS-Frauenbild Frau die Sorgen um diese ihre eigenste Welt Zehn Gebote für die Gattenwahl
zugewiesen, aus der sich dann erst die Welt ¬ Gedenke, daß Du ein Deutscher bist. [...]
Zwischen den ideologischen Ansprüchen des Mannes bilden und aufbauen kann. ¬ Du sollst, wenn Du erbgesund bist,
an die Frauen und deren Lebensrealitäten [...] Wir empfinden es nicht als richtig, wenn nicht ehelos bleiben. [...]
klaffte ein breiter Spalt. das Weib in die Welt des Mannes [...] ¬ Halte Deinen Körper rein! [...]
eindringt, sondern wir empfinden es als ¬ Du sollst Geist und Seele rein er­
Der Führer an die deutschen Frauen natürlich, wenn diese beiden Welten halten. [...]
Das Wort von der Frauen-Emanzipation ist geschieden bleiben. In die eine gehört die ¬ Wähle als Deutscher nur einen Gatten
ein nur vom jüdischen Intellekt erfunde­ Kraft des Gemütes, die Kraft der Seele! gleichen oder nordischen Blutes. [...]
nes Wort, und der Inhalt ist von demselben Zur anderen gehört die Kraft des Sehens, ¬ Bei der Wahl Deines Gatten frage
Geist geprägt. Die deutsche Frau brauchte die Kraft der Härte, der Entschlüsse und nach seinen Vorfahren. [...]
sich in den wirklich guten Zeiten des die Einsatzwilligkeit. [...] Was der Mann ¬ Gesundheit ist Voraussetzung auch
deutschen Lebens nie zu emanzipieren. Sie an Opfern bringt im Ringen seines Volkes, für äußere Schönheit. [...]
hat genau das besessen, was die Natur bringt die Frau an Opfern im Ringen um ¬ Heirate nur aus Liebe. [...]
ihr zwangsläufig als Gut zur Verwaltung die Erhaltung dieses Volkes in den ein­ ¬ Suche Dir keinen Gespielen, sondern
und Bewahrung gegeben hat [...]. Wenn zelnen Zellen. Was der Mann einsetzt an einen Gefährten für die Ehe. [...]
man sagt, die Welt des Mannes ist der Staat, Heldenmut auf dem Schlachtfeld, setzt ¬ Du sollst Dir möglichst viele Kinder
die Welt des Mannes ist sein Ringen, die die Frau ein in ewig geduldiger Hingabe, wünschen. [...]
Einsatzbereitschaft für die Gemeinschaft, in ewig geduldigem Leiden und Ertragen.
Oskar Lukas, Das deutsche Frauenbuch. Ein Buch für Werktag
so könnte man vielleicht sagen, daß die Jedes Kind, das sie zur Welt bringt, ist und Feierabend, Karlsbad-Drakowitz und Leipzig 1941,
Welt der Frau eine kleinere sei. Denn ihre eine Schlacht, die sie besteht für Sein oder S. 189-191

Welt ist ihr Mann, ihre Familie, ihre Kinder Nichtsein ihres Volkes. beides in: Martin Klaus, Mädchen in der Hitlerjugend, Pahl­
und ihr Haus. [...] Die Vorsehung hat der Reden an die deutsche Frau 1934, S. 3f. Rugenstein-Verlag, Köln 1980, S. 168 f. und S. 177 ff.

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„Volksgemeinschaft“ 59

die Ehefrau zu Hause blieb, stellte diese Maßnahme nicht


allein ein familien-, sondern gleichfalls ein arbeitsmarkt­
politisches Instrument im nationalsozialistischen Sinn
dar. Zudem war die Gewährung der Darlehen von einem
erbgesundheitlichen Gutachten des jungen Paares abhän­
gig. Behinderte oder „nicht-arische“ Ehepaare hatten keine
Chance, in den Genuss eines solchen Ehestandsdarlehens
zu kommen.
Das Hilfswerk „Mutter und Kind“ der Nationalsozialisti­
schen Volkswohlfahrt (NSV), die mit 16 Millionen Mitglie­
dern (1942) nach der DAF die größte nationalsozialistische
Massenorganisation war, kümmerte sich ganz im Zeichen
einer völkischen Geburtenpolitik um die Mütter, wobei
auch die ledigen Mütter betreut wurden, denn „rassisch
und erbbiologisch hochwertiger“ Nachwuchs durfte in
rassistischer Perspektive dem Volk in keinem Fall verloren
gehen. Neben Verschickung von Müttern in Erholungs­
stätten baute das Hilfswerk Kindertagesstätten, bis 1941
annähernd 15 000, über deren Größe und Qualität jedoch
die Statistik nichts aussagt. Später, vor allem während des

ullstein bild – UMBO


Krieges, wurde die sogenannte Kinderlandverschickung
eine zentrale Einrichtung des Hilfswerkes.
Entgegen aller offiziellen Rhetorik hat auch die Zahl der
erwerbstätigen Frauen im NS-Regime keineswegs abge­
nommen. 1933 gab es 11,6 Millionen, 1939 14,6 Millionen Erwerbstätig – trotz offiziell propagierter Ideologie: Fahrkartenschaff­
Frauen, die erwerbstätig waren. Das bedeutete, dass 52 Pro­ nerin in einer Berliner Straßenbahn 1943
zent aller Frauen zwischen 15 und 60 Jahren in Deutschland
einer Lohn- bzw. Gehaltsarbeit nachgingen, wobei die meis­
ten Frauen nach wie vor in der Land- und Hauswirtschaft Ordnung eröffneten sich nicht-jüdischen Frauen durch­
beschäftigt waren, erst danach im Dienstleistungssektor aus Handlungsoptionen und Aufstiegschancen, wie zum
und die wenigsten in der Industrie. Erwartungsgemäß lag Beispiel in den zahlreichen NS-Organisationen, insbeson­
die Erwerbsquote bei ledigen Frauen mit 88 Prozent sehr dere im Bund Deutscher Mädel (BDM), der Nationalsozia­
viel höher als bei den verheirateten Frauen mit nur etwa listischen Frauenschaft oder der NSV. Die steigende Zahl
einem Drittel. Noch 1943, als der Arbeitskräftemangel sehr derjenigen Frauen, die in den zahlreichen NS-Verbänden
dringlich war, sprach sich Hitler aus ideologischen Grün­ verantwortungsvolle Aufgaben übernahmen, hat auch Ei­
den gegen eine verstärkte Einbeziehung von Frauen in die genständigkeit gefördert. Damit hatten diese Frauen auch
Rüstungsproduktion aus und verweigerte sich auch der aktiven Anteil an rassistischer und antisemitischer Politik,
Forderung, die Löhne der Frauen denen der Männer gleich­ wie jene, vor allem junge Frauen, die in den besetzten Ost­
zustellen. Dennoch setzten Frauen in einigen Bereichen, wo gebieten als engagierte Angehörige der Besatzungsverwal­
sie unentbehrlich geworden waren, wie zum Beispiel als tung zu selbstständig handelnden Täterinnen wurden. Jü­
Schaffnerinnen in den Verkehrsbetrieben, durch, dass sie dische Frauen wurden indes ebenso verfolgt wie jüdische
in gleicher Höhe wie ihre männlichen Vorgänger bezahlt Männer; das KZ Ravensbrück war eigens für Frauen einge­
wurden. Aufgrund des deutlichen Ärztemangels fielen in richtet worden. Und ebenso teilten ausländische Zwangsar­
den Kriegsjahren auch die Beschränkungen des Medizin­ beiterinnen das Schicksal von Ausbeutung und Verfolgung
studiums für Frauen, so dass sich der Anteil der Ärztinnen wie die Männer. Nicht zuletzt gab es gleichermaßen Frauen
an der Ärzteschaft insgesamt, der 1933 bloß 6,5 Prozent be­ im Widerstand, Sophie Scholl ist dafür das hierzulande be­
tragen hatte, bis 1944 mehr als verdoppelte. kannteste Beispiel. Frauen lassen sich also weder pauschal
Ohne Zweifel blieb das NS-Regime eine strikt patriarcha­ als Opfer noch als Täterinnen kategorisieren, sondern wa­
lische Ordnung, die den Frauen eine ideologisch gleichwer­ ren sowohl Täterinnen als auch Opfer, Mitläuferinnen und
tige, aber keine gleichrangige Position zubilligte, sondern Zuschauerinnen.
innerhalb der „Volksgemeinschaft“ eine funktionale Rolle
zumaß. Doch reduzierte sich diese Funktion keineswegs
auf die gehorsame Erfüllung von Mütterlichkeit und der
Rolle als Ehefrau. Innerhalb der „volksgemeinschaftlichen“

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60 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

„Diese Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch


handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Orga­
nisation hineinkommen und dort oft zum erstenmal überhaupt
eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre
später vom Jungvolk in die Hitler-Jugend, und dort behalten
Jugend wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zu­
rück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger,
sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront,
in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie
Der „Jugend“ galt ein besonderes Augenmerk des Regimes, dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze
sollte doch mit der Erziehung und Ausbildung der jungen Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in
Generation der Grundstein für die rassistische „Volksgemein­ den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate
schaft“ der Zukunft gelegt werden. Die Hitlerjugend (HJ), die geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und
seit der Machtergreifung alle übrigen Jugendverbände, bis was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußt­
sein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte,
auf die katholischen, entweder zerschlagen oder angegliedert das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf
hatte, wurde 1936 zur Staatsjugend erklärt und organisierte zwei Jahre, und wenn sie nach zwei oder drei Jahren zurückkehren,
nunmehr alle Jugendlichen – 1939 waren es 8,7 Millionen – dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden,
im Deutschen Reich: Von zehn bis 14 Jahren gehörten sie als sofort wieder in die SA, SS und so weiter und sie werden nicht
„Pimpfe“ dem Jungvolk bzw. als „Jungmädel“ dem Jungmä­ mehr frei ihr ganzes Leben...“.
delbund an, von 14 bis 18 Jahren als „Hitlerjungen“ der HJ Wahlrede Adolf Hitlers in der sudetendeutschen Stadt Reichenberg am 2.12.1938, in: Max
bzw. als „Mädel“ dem Bund deutscher Mädel (BDM). Selbst­ Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Band I.2, 4. Aufl., Leonberg 1988, S. 981
verständlich galten für die Hitlerjugend die rassistischen Vor­
gaben des Regimes; jüdischen Jugendlichen war, selbst wenn
sie es gewollt hätten, die Mitgliedschaft in der HJ verwehrt,
was wiederum nichts anderes hieß, als dass sie öffentlich hung zur „Volksgemeinschaft“. Hier waren keineswegs alle
nicht zur „deutschen Jugend“ gezählt wurden. gleich, aber jeder besaß seine Aufgabe und Verantwortung,
Trotz oder vielleicht gerade wegen der Pflichtmitgliedschaft die ihm – so der ideologische Anspruch – unabhängig von
gelang der HJ die Erfassung aller Jugendlichen nicht hundert­ Herkunft, Stand oder Vermögen der Eltern zugeteilt wurden.
prozentig. Die katholischen Jugendverbände versuchten ihre Melitta Maschmann schilderte ihr Arbeitsdienstlager 1937
im Konkordat zugebilligte Unabhängigkeit zu bewahren; El­ in Ostpreußen folgendermaßen: „Unsere Lagergemeinschaft
tern bemühten sich, ihre Kinder von der Mitgliedschaft freizu­ war ein verkleinertes Modell dessen, was ich mir unter Volks­
stellen; und etliche Jugendliche selbst verweigerten sich dem gemeinschaft vorstellte. Sie war ein vollkommen gelungenes
Zwang oder entzogen sich, indem sie gar nicht oder möglichst Modell. Niemals vorher oder nachher habe ich eine so gute
wenig zu den HJ-Treffen kamen. Im Krieg bildeten sich spä­ Gemeinschaft erlebt, auch dort nicht, wo die Zusammenset­
ter sogar eigene Jugendbanden, die die HJ attackierten. Auf zung in jeder Beziehung homogener war. Unter uns gab es
der anderen Seite eröffnete die HJ Jugendlichen neue Hand­ Bauernmädchen, Studentinnen, Arbeiterinnen, Verkäuferin­
lungsmöglichkeiten. Unter dem Motto „Jugend führt Jugend“ nen, Friseusen, Schülerinnen, Büroangestellte usw. Geführt
bot sich Jugendlichen die Gelegenheit, Leitungsfunktionen zu wurde das Lager von einer ostpreußischen Bauerntochter, die
übernehmen. Auch der BDM offerierte den jungen Mädchen nie über ihre engere Heimat hinausgekommen war. [...] Dass
Unabhängigkeit vom Elternhaus und Selbstständigkeit. ich dieses Modell einer Volksgemeinschaft damals mit so in­
Die legendären Zeltlager, die in der Nachkriegserinnerung tensivem Glücksgefühl erlebt habe, hat einen Optimismus in
an die HJ einen so prominenten Raum einnahmen, dienten mir entstehen lassen, an den ich mich bis 1945 eigensinnig
der Vorbereitung auf den Wehrdienst ebenso wie der Erzie­ klammerte.“
bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Heinrich Hoffmann

bpk / Lala Aufsberg

Kindheit und Jugend im Zeichen des Nationalsozialismus: Schulkinder … in einem BDM-Lager wird Akkordeon gespielt...
entbieten den „Deutschen Gruß“...

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


„Volksgemeinschaft“ 61

Das Lager bildete den zentralen Ort der Erziehung, wo eine for­
mierte soziale Ordnung herrschte, in der Dienst, Disziplin und
Kameradschaft obenan standen, aber auch jeder Standes- oder
Bildungsdünkel geächtet war. Regionale, konfessionelle oder
berufliche Unterschiede sollten mit Absicht in den Hintergrund
treten zugunsten der Herstellung einer „Gemeinschaft der Ehre
und Treue, des Gehorsams und der Kameradschaft“, wie es der
Führer des Reichsarbeitsdienstes Konstantin Hierl ausdrückte,
in der die (Hand-)Arbeit für das Volksganze den entscheidenden
Wert darstellte.
Schon die Lager der Jugendbewegung der 1920er-Jahre waren
Ausdruck einer Kritik an der bürgerlichen Gesellschaftsordnung
gewesen und sollten das Erlebnis einer alternativen Gemein­
Deutsches Historisches Museum, Berlin

schaft vermitteln. Jene zahlreichen Referendars-, Lehrer-, HJ-,


BDM- und Reichsarbeitsdienstlager, die 1933 entstanden, zielten
ebenso auf antibürgerliche Vergemeinschaftungsformen, auf
Kameradschaft als Gefühl einer neuen, durchaus militarisierten
Gemeinschaft. Ebenso wie der Terror gegen „Gemeinschaftsfrem­
de“ keinem bürgerlich-staatlichem Reglement unterworfen sein
sollte, so auch die neue Kollektivität einer „Volksgemeinschaft“
nicht herkömmlichen gesellschaftlichen Gemeinschaftsformen
wie Vereinen oder Interessensverbänden. Nationalsozialistische
… und die HJ wirbt für ein Ja bei der Volksabstimmung über die Zusam­ Lager waren nicht bloß Orte eines Gemeinschaftsgefühls, sie
menlegung der Ämter von Reichskanzler und Reichspräsident. dienten zugleich einer gesamtgesellschaftlichen Umgestaltung.

Arbeitsdienst Wir waren [...] in einem großen Schlaf­ wurde dann auf das trockene Brot ge­
raum mit ehemaligen Wehrmachtsbetten. schmiert. Davon aßen alle wenig. [...]
[...] Arbeitsdienst. Gott im Himmel. [...] Wir waren zwischen zwölf und sech­ Es gab Wasserklosetts, aber alles lief in
Ich bin angekommen am Nachmittag zehn Mädchen. Statt Matratzen hatten wir eine riesengroße Zisterne, und die musste
mit sehr vielen anderen zusammen. Strohsäcke und eine Wolldecke und ein alle paar Wochen entleert werden.
Das ging immer schubweise. Wir haben kleines Kissen, und das musste alles exakt Dann kriegten wir einen Eimer in die Hand,
dagesessen und uns unterhalten. gelegt werden. Darauf wurde geguckt und eine lange Kette wurde gebildet.
Die neben mir saß, hat mich ein paar und ein Theater gemacht! Ein Tisch und Die Hauptführerin stand oben und hatte
Mal angestoßen und gesagt: „Da ein kleiner Hocker mit drei Beinen [...], an einer langen Holzstange vorne einen
hinten sitzt die Führerin.“ Das war also sonst war in dem ganzen Raum nichts. Eimer dran, und dann wurde es umge­
die Führerin, und zwar eine ganz Draußen im Gang standen Kommoden schüttet bis in die letzte Gegend, und so
bekannte, Jutta Sowieso, die später ein für die Wäsche. Sie wurden von Back­ haben wir unseren ganzen großen Gar­
„großes Tier“ geworden ist. Wir haben steinen gestützt und wackelten und wenn ten gedüngt. Das war eine duftige Sache!
uns unterhalten und ich habe gesagt: man eine Schublade zumachte, fiel Wenn man jung ist, macht man
„Ich mache alles gerne, aber nicht die ganze Kommode nach hinten um. Wir das gerne, dass man anderen Menschen
die Waschküche.“ Ich habe sechs Wochen hatten Waschschüsseln, und das wars. hilft. Aber das Drumherum? Das Unnö­
Waschküche gekriegt. Irgendeinen Rückzug, Privatleben gab es tige, dieses absolut unnötige Drumherum,
Und das war wirklich schlimm. Wir nicht, [...]. dieses Menschenverachtende. Man
waren etwa 56 Mädchen und es musste Es ging uns allen gleich, da entstand musste gedämpft und gedrückt werden.
alles von Hand gewaschen werden. eine Art Gemeinschaft. [...] [...] Viele waren auch begeistert.
Da war nur eine kleine Hütte mit großen Wir kriegten natürlich genau dasselbe Viele hatten es zu Hause sehr schlecht. Ich
Becken, aber nur mit kaltem Wasser. Kommissbrot wie die Männer. Dieses kannte ein paar Mädchen, die sagten:
Es gab nur einen einzigen Waschkessel Brot schmeckt an und für sich sehr gut „Ich habe es zu Hause so schlecht, hier ist
mit Feuer drunter. Die ganze Bettwäsche und ist wunderbar, wenn es frisch ist. es besser. Hier habe ich zum ersten
und alles musste da drin gekocht wer­ Wenn es aber ein paar Tage gelegen hat, Mal richtig Ordnung mit dem Essen, ich
den, und dann hatten wir diese Wasch­ ist es fürchterlich hart, dann ist es werde nicht geschlagen, und die Leute
bretter. Da stand man dann und mit abscheulich. Wenn der neue Schub kam, sind nett.“ Das alles hat sehr dazu beige­
kaltem Wasser wurde alles geschrubbt. musste er nach hinten hingelegt tragen, dass keiner gesagt hätte, das
Und es wurde für alle die Privatwäsche werden und dieses vertrocknete Zeug von war furchtbar. Und so war man vorge­
gewaschen, und für alle die Bettwäsche, hinten musste nach vorne geschoben prägt. Da konnten sie wirklich alles mit
Handtücher und alles, was gewaschen werden. Dazu gab es eine wunderbare einem machen. Da hat man nachher
werden musste. Erdbeermarmelade aus großen Eimern. alles andere wunderbar gefunden. [...]
Rund um das Lager war ein hoher In diese Marmelade musste aber ein
Elisabeth Cosmann, geboren 1918 im Hessischen, in: Claudia
Zaun mit einem abgeschlossenen Tor Eimer Wasser gekippt werden, damit sie Seifert, Das Leben war bescheiden schön, dtv, München 2008,
und ein Gitter. [...] nicht zu dick war und diese Wassersoße S. 139 ff.

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62 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

„Gefühlte Gleichheit“

Das NS-Regime unternahm viel, um die Einheit und Solidari­ mitgliedschaften unberücksichtigt) rund 68 Millionen Mitglie­
tät der „Volksgemeinschaft“ zu inszenieren. Schon im Winter der in der nationalsozialistischen Organisationswelt integriert,
1933/34 organisierte die NSV das erste Winterhilfswerk unter also etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung. 1937 war die
dem Motto „Ein Volk hilft sich selbst“ mit einem spektakulären Zahl der Politischen Leiter der NSDAP auf rund 700 000 angestie­
Erfolg: Über 358 Millionen Reichsmark wurden reichsweit ge­ gen, im Krieg lag die Zahl des Führungskorps der Partei bei zwei
sammelt. Mit „Eintopfsonntagen“, an denen sich auch die NS- Millionen. Kreis- und Ortsgruppenleiter, Block- und Zellenwarte
Spitze selbst propagandistisch ins Bild setzte, sollte das einge­ waren zugleich Teil des Netzes sozialer Kontrolle durch die NSDAP
sparte Geld dem Winterhilfswerk gespendet werden; Beamten und auch Teilhaber der Macht. Diese Amtsträger konnten auf
wurde für das Sammeln von Spenden Urlaub gewährt; bei den das Leben ihrer Mitmenschen nachhaltig einwirken, von ihren
Arbeitern und Angestellten wurde eine alljährliche „Spende“ für Berichten hingen das berufliche Weiterkommen und womöglich
das Winterhilfswerk in Höhe von zehn Prozent der Lohnsteuer sogar Leib und Leben ab. Partizipation an der Macht bedeutete
gleich mit der Steuer eingezogen. Aber auch die Firmen selbst zugleich die Erfüllung der nationalsozialistischen Politik.
waren aufgefordert, sich mit größeren Beträgen an der Samm­ Die Sozialutopie des Nationalsozialismus war keine offene
lung zu beteiligen. Über eine Million Helfer zogen mit Sammel­ oder gar wohlfahrtsstaatliche Gesellschaft, sondern blieb stets
büchsen durch die Straßen und von Haustür zu Haustür; wer rassistisch und antisemitisch bestimmt. Ohne Zweifel verlieh
spendete, erhielt ein Abzeichen. 1934/35 wurden über 31 Millio­ die „Verbreitung des Gefühls sozialer Gleichheit“, so der His­
nen solcher Winterhilfswerk-Abzeichen produziert, 1938/39 wa­ toriker Norbert Frei, dem Nationalsozialismus eine große At­
ren es nahezu 170 Millionen. traktivität und ein hohes Maß an Mobilisierungsbereitschaft.
Im September 1939 gehörten der NSDAP über 5,3 Millionen Die angestrebte „Volksgemeinschaft“ umfasste allerdings eine
Mitglieder an, mit weiteren knapp zwölf Millionen Angehörigen unmissverständlich erb- wie rassenbiologisch definierte Men­
in den Parteigliederungen wie SA, SS, HJ u. a.. Rechnet man noch schengruppe. Das nationalsozialistische Ziel bestand nicht in
die angeschlossenen und betreuten Verbände wie Deutsche einer universell-egalitären Gesellschaft, in der alle Menschen
Arbeitsfront, Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, Deutsches gleich sind, sondern richtete sich stets auf die Leistungssteige­
Frauenwerk und andere hinzu, so waren insgesamt (Mehrfach­ rung einer rassistischen „Volksgemeinschaft“.

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„Volksgemeinschaft“ 63

Der soziale Alltag der Ausgrenzung

[…] Man übersieht bei der Betrachtung Gruppen, insbesondere von Juden, war. die Behörden mit der Bitte nach beson­
des nationalsozialistischen Systems Unmittelbar nach dem 30. Januar ders begehrten Gütern bedrängt,
häufig, dass dieses zwar ein Unrechts­ 1933 setzte eine ungeheuer beschleu­ noch bevor ihre rechtmäßigen Besitzer
und Willkürsystem gewesen ist, dass nigte Praxis der Ausgrenzung der abtransportiert worden waren, und es
die Willkür und das Unrecht aber fast Juden ein, und zwar ohne relevanten werden Fälle geschildert, wo bei
ausschließlich die Nicht-Zugehörigen Widerstand der Mehrheitsbevölkerung – noch nicht deportierten Juden geklin­
trafen, während die Mitglieder der obwohl mancher vielleicht über den gelt wurde, damit man schon in
Volksgemeinschaft nach wie vor in „SA- und Nazipöbel“ die Nase rümpfte Augenschein nehmen konnte, was man
weiten Bereichen sowohl Rechtssi­ oder die einsetzende Kaskade der auf der bereits angesetzten Verstei­
cherheit als auch staatliche Fürsorge antijüdischen Maßnahmen als unfein, gerung erwerben könne.
genossen. ungehörig, übertrieben oder einfach als Auch hier fallen Wissen und soziale
So zeigt eine retrospektive Befragung inhuman empfand. […] Praxis in eins, und es wird ein Hand­
mit 3000 Personen, die in den 1990er Während es den einen zunehmend lungszusammenhang sichtbar, in dem
Jahren durchgeführt wurde, dass nahe­ schlechter ging, fühlten sich die anderen das veränderte Normengefüge nicht
zu drei Viertel der vor 1928 gebore­ immer besser. Das nationalsozia­ von oben nach unten durchgesetzt wird,
nen Befragten niemanden kannten, der listische Projekt bot ja nicht nur eine sondern in dem auf praktische und sich
aus politischen Gründen mit der glanzvoll ausgemalte Zukunft, son­ verschärfende Weise das Verhältnis
Staatsgewalt in Konflikt geraten und dern auch ganz handfeste Gegenwarts­ zwischen den Menschen entsolidarisiert
deshalb verhaftet oder verhört worden vorteile wie zum Beispiel exzellente wird und eine neue soziale „Norma­
war. Noch mehr Befragte gaben an, Karrierechancen. Der Nationalsozialis­ lität“ etabliert wird. In dieser Normali­
sich selbst niemals bedroht gefühlt zu mus hatte eine extrem junge Füh­ tät mag es zwar ein Durchschnitts­
haben, und das, obwohl in dersel­ rungselite, und nicht wenige gerade der volksgenosse noch 1941 für undenkbar
ben Befragung zu hohen Anteilen ange­ jüngeren Volksgenossinnen und halten, dass Juden umstandslos getötet
geben wird, dass man illegale Radio­ -genossen konnten große persönliche werden, aber nichts Bemerkens­
sender gehört oder Witze über Hitler Hoffnungen mit dem Siegeszug der wertes darin sehen, dass Ortsschilder
und kritische Äußerungen über die „arischen Rasse“ verbinden. Vor diesem verkünden, der entsprechende Ort
Nazis gemacht habe. Ein höchst bemer­ Hintergrund ist die enorme Freiset­ sei „judenfrei“, dass Parkbänke nicht
kenswertes Ergebnis dieser Studie zung von individueller und kollektiver von Juden benutzt werden dürfen
liegt darin, dass sich im Nachhinein je­ Energie zu verstehen, die diese Ge­ und auch nicht mehr darin, dass die
weils zwischen einem Drittel und sellschaft kennzeichnete. jüdischen Bürger entrechtet und
mehr als der Hälfte der Befragten dazu [...]Ausgrenzung, Verfolgung und Be­ beraubt werden.
bekennen, an den Nationalsozialis­ raubung der Anderen wurden kate­
mus geglaubt, Hitler bewundert und gorial nicht als solche erlebt, weil diese Harald Welzer, Die Deutschen und ihr „Drittes Reich“, in: Aus
nationalsozialistische Ideale geteilt zu Anderen per definitionem gar nicht Politik und Zeitgeschichte 14-15/2007 vom 2. April 2007, S. 23 ff.
haben. Ein ähnliches Bild zeichnet mehr dazugehörten und ihre antisoziale www.bpb.de/apuz/30543/die-deutschen-und-ihr-drittes-reich
eine Allensbach-Umfrage aus dem Jahr Behandlung den Binnenbereich der
1985. Die Befragten, die 1945 mindestens Moralität und Sozialität der Volksge­
15 Jahre alt gewesen sein mussten, meinschaft nicht mehr berührte.
bekennen zu 58 Prozent, an den Natio­ Ein besonders betrübliches Kapitel in
nalsozialismus geglaubt zu haben, diesem Zusammenhang bilden die
50 Prozent sahen ihre Ideale in ihm ver­ so genannten Arisierungen jüdischer
körpert, und 41 Prozent bewunderten Geschäfte und Unternehmen sowie
den Führer. Dabei zeigte sich auch, dass die öffentlichen Versteigerungen von
die Zustimmung zum NS-System mit Wert- und Einrichtungsgegenständen
dem Niveau des Bildungsabschlusses aus jüdischem Besitz. Während
steigt – was dem gängigen Vorurteil insgesamt etwa 100 000 Betriebe im
zuwiderläuft, dass Bildung vor gegen­ Zuge der „Arisierung“ ihre Besitzer
menschlichen Einstellungen schützt. wechselten, lässt sich die Beteiligung
Mit steigender formaler Bildung stieg an den Versteigerungen kaum noch
auch die Zustimmung zu Hitlers quantifizieren, aber anhand von
Welt […]. Ein Viertel der Befragten be­ Beispielen wenigstens dimensionieren.
tonen noch ein halbes Jahrhundert In Hamburg etwa wurden 1941 die
nach dem Ende des „Dritten Reiches“ Ladungen von 2 699 Güterwagen und
das Gemeinschaftsgefühl, das damals 45 Schiffen mit „Judengut“ verstei­
geherrscht habe. gert; 100 000 Hamburger ersteigerten
[…]Das verbreitete Gefühl, nicht Möbel, Kleidungsstücke, Radios und
bedroht zu sein und keinerlei Repressi­ Lampen, die aus etwa 30 000 jüdischen
on zu unterliegen, beruhte auf einem Familien stammten. Hinzu kamen
starken Gefühl der Zugehörigkeit, deren der vieltausendfache Besitzerwechsel
Spiegelbild die täglich demonstrierte von Immobilien, Autos und Kunst­
Nicht-Zugehörigkeit von anderen gegenständen. Gelegentlich wurden

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64 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Michael Wildt

Verfolgung

Unmittelbar nach der Machteroberung 1933 beginnt


die Verfolgung von politischen Gegnern, Juden, Sinti und
Roma, Homosexuellen, „Asozialen“ und „Erbkranken“.
Insbesondere das Vorgehen gegen die Juden radikalisiert

bpk / Carl Eberth


sich und findet einen vorläufigen Gipfelpunkt im
Pogrom des 9. November 1938.

Brutaler Vandalismus – vor den Augen aller: das geplünderte und zerstörte
jüdische Gemeindehaus in Kassel am 10. September 1938

I n der ersten Phase des NS-Regimes richtete sich der Ter­


ror vor allem gegen den politischen Gegner, in erster Linie
Kommunisten und Sozialdemokraten. Zu Tausenden wurden
Oppositionelle von lokalen SA-Gruppen in „wilden Konzen­
trationslagern“ interniert und misshandelt. Hier beglichen die
neuen Machthaber manche alte Rechnung aus den Zeiten des
Straßenkampfes und ließen ihren jahrelangen Ressentiments
gegen „die Roten“ freien Lauf.
In Berlin-Köpenick zum Beispiel war im Juni 1933 ein SA-
Kommando auf den Widerstand eines jungen Sozialdemokra­
ten gestoßen, der drei SA-Männer erschoss. Darauf plante die
SA eine systematische Gewaltaktion gegen SPD-Anhänger in
diesem Stadtteil. Sie nahm über 500 Männer des Viertels fest
und folterte sie so brutal, dass 91 von ihnen starben. Zum Teil
wurden die Leichen Tage später aus umliegenden Gewässern
gefischt.
Diese Phase revolutionärer Willkür musste jedoch an ihre
Grenzen stoßen, denn die NS-Führung wollte in jedem Fall
das Gewaltmonopol fest und zentral in der Hand behalten. Die
beiden entscheidenden Herrschaftsinstrumente zur Verfol­
bpk

gung der Gegner bildeten die politische Polizei und die Kon­ In der SA-Kaserne auf der Berliner Friedrichstraße werden verhaftete
zentrationslager. Regimegegner drangsaliert.

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Verfolgung 65

Polizei

In Preußen war die politische Polizei zwar aus der sonstigen Po­ zei, Konzentrationslagern und deren Wachmannschaften ein un­
lizeiverwaltung ausgegliedert und faktisch einer verwaltungs­ eingeschränktes Feld des Terrors.
rechtlichen Kontrolle entzogen, blieb aber als Oberste Landes­ Mit Hitlers Unterstützung gelang es Himmler in den kommen­
behörde unmittelbar dem Ministerpräsidenten unterstellt und den Monaten, von Bayern aus die Führung der politischen Poli­
damit Teil der preußischen Verwaltung. Ähnliche Pläne wurden zeien in den übrigen Ländern und damit auch die Verfügungsge­
für die Leitung der Konzentrationslager entworfen. Nachdem walt über die Konzentrationslager in seine Hand zu bekommen.
die „wilden“ SA-Lager aufgelöst und die Häftlinge in Konzentra­ Im April 1933 wurde Himmler zum Inspekteur der preußischen
tionslager unter staatlicher Aufsicht zusammengefasst wurden, Gestapo ernannt und kontrollierte damit auch die politische Po­
sollte ein ziviler Direktor an der Spitze der Konzentrationslager lizei des größten Landes des Deutschen Reiches. Er und Heydrich
direkt dem preußischen Innenministerium unterstehen. wechselten nun ihre Machtzentrale von München nach Berlin.
In Bayern dagegen gerieten politische Polizei und Konzen­ Schon in dieser frühen Phase richtete sich die nationalso­
trationslager von vornherein unter eine einheitliche Leitung. zialistische Verfolgung nicht allein gegen politische Oppo­
Heinrich Himmler, der nach dem Januar 1933 zunächst mit dem sitionelle, sondern auch gegen „Gemeinschaftsfremde“ und
Posten des Polizeipräsidenten in München eher abgespeist wor­ „Asoziale“. Im September 1933 waren reichsweit Tausende von
den war, erhielt Mitte März 1933 die Führung über die gesamte Landstreichern und Bettlern zeitweise verhaftet worden – eine
politische Polizei Bayerns. Damit waren die Funktionen als Chef Aktion, mit der das neue Regime öffentlich unter Beweis stel­
der SS und als Führer der Politischen Polizei Bayerns in seiner len wollte, dass es „Ordnung“ schaffe. In Berlin gab es zu dieser
Person vereinigt. Und Himmler erreichte, dass ihm das Konzen­ „Bettlerrazzia“ sogar eine Radioreportage vor Ort, ebenso wie
trationslager Dachau unterstellt wurde. In Bayern entstand eine Zeitungen öffentlich über die Internierung von politischen
Verbindung aus SS, Politischer Polizei und Konzentrationslager, Oppositionellen in Konzentrationslagern berichteten.
das sich als das siegreiche Modell im Machtkampf innerhalb der
NS-Führung, wer die Kontrolle über die Polizei erhalten solle, he­
rausstellte. „Rassische Generalprävention“
Himmler verfügte mit der SS über eine als diszipliniert gel­
tende Truppe, die sich einerseits von der in ihrem revolutionä­ Im Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung standen für
ren Elan unberechenbaren SA abhob, andererseits gegenüber Hitler und Himmler nicht mehr bloß die Ausschaltung der po­
konservativen oder deutschnationalen Kandidaten für die Po­ litischen Opposition als vielmehr eine allumfassende „rassische
lizeiführung die Gewähr einwandfreier nationalsozialistischer Generalprävention“, so der Historiker Ulrich Herbert, durch SS
Gesinnung und Härte gegenüber den politischen Gegnern bot. und Polizei. „Die nationalsozialistische Idee, die heute das deut­
Zugleich bedeutete gerade die Verbindung von politischer Poli­ sche Volk und das Reich beherrscht, sieht im Volk, nicht im Ein­
zelmenschen, die wirkliche Erscheinungsform des Menschen­
tums“, führte Heinrich Himmler 1937 in einem grundsätzlichen
Aufsatz über Aufgaben und Aufbau der Polizei im Nationalsozia­
lismus aus. „Die Polizei hat das deutsche Volk als organisches
Gesamtwesen, seine Lebenskraft und seine Einrichtungen ge­
gen Zerstörungen und Zersetzung zu sichern. Die Befugnisse
einer Polizei, der diese Aufgaben gestellt sind, können nicht ein­
schränkend ausgelegt werden.“
Ein entscheidender Schritt zum Aufbau einer solchen rassis­
Bundesarchiv, Bild 152-11-12 / Fotograf: Friedrich Franz Bauer

tischen Polizei war Hitlers Entscheidung, Himmler im Juni 1936


zum Chef der gesamten deutschen Polizei zu ernennen und da­
mit die Polizei aus der bisherigen Struktur der inneren Verwal­
tung herauszulösen. Bezeichnenderweise setzte sich Himmler
erfolgreich gegen die Absicht des Innenministeriums zur Wehr,
seine Ernennung „unter Berufung in das Beamtenverhältnis“
vorzunehmen. Seine neue Funktion verstand der Reichsführer
SS keineswegs als Staatsdienst im herkömmlichen Sinn, son­
dern als Aufgabe einer künftigen rassistischen staatlichen Ord­
nung. Sogleich strukturierte er den Polizeiapparat um, fasste
Kriminalpolizei und Geheime Staatspolizei in einem Hauptamt
Sicherheitspolizei zusammen, das von Reinhard Heydrich gelei­
tet wurde, und unterstellte die übrige Polizei in einem Haupt­
SS-Chef Heinrich Himmler, dem die Konzentrationslager unterstellt amt Ordnungspolizei dem altgedienten SS-Obergruppenführer
waren, während einer Besichtigung des KZ Dachau Kurt Daluege.

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66 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

KZ Moringen 1933 – aus zwei Esterwegen, der andere nach Oranien­ die wiederum von einem tiefen Wasser­
verschiedenen Blickwinkeln burg.“ (Baumgarte) graben umgeben sind. Auf dem Hofe
„Die Brutalität fing an, als die Polizei sind Turngeräte aufgebaut, an denen
von der SS abgelöst und SS-Sturmführer sich die Gefangenen betätigen kön­
August Baumgarte aus Hannover und Kordes Kommandant wurde. Er richtete nen. Gleich rechts liegt der große Biblio­
Karl Ebeling aus Lauenstein am Ith einen Raum ein, den sie ‚Freudenzimmer‘ theksraum, in dem eine reichhaltige
berichten: nannten. So mancher hat dieses ‚Freu­ Bücherei untergebracht ist. [...]
denzimmer‘ kennengelernt. Ich denke be­ Im Erdgeschoß der Wohnräume der
„Im März wurden wir als ‚Schutzhäftlinge‘ sonders an den sozialdemokratischen Arbeitshäuser sind ausgedehnte Werk­
nach Moringen überführt und in das Polizeirat Buchholz aus Hannover, der stätten, in denen sich die Gefangenen
sogenannte Arbeitshaus eingesperrt. In mein Tischnachbar war. Drei Tage nach ihrer beruflichen Ausbildung betä­
zwei großen Sälen lagen 280 Kommu­ haben wir ihn nicht gesehen. Als er wieder tigen können. [...]
nisten, 30 Sozialdemokraten und 20 Mit­ raus kam, sah er furchtbar aus. [...]“ [E]ine Schlosserei, eine Wagnerei, eine
glieder anderer Parteien. Am 2. Mai wurde Schneiderei und eine Schusterei [sind]
eine Amnestie erlassen. Etwa 100 Häft­ eingerichtet. Die Erzeugnisse werden nur
linge durften nach Hause. Nach und NS-Presse über KZ Moringen Juni 33 für den internen Betrieb der Anstalt
nach wurden neue eingeliefert. Zuerst Ein Besuch im Provinzial-Werkhaus in hergestellt. In den äußeren Handel kom­
durften wir in Arbeitskolonnen als Moringen men nur Mattengeflechte und Fisch-
‚Freiwillige‘ Wege und Straßen bauen – und Weidenkörbe, also ausgesprochene
unter Bewachung von SA-Leuten. Vor einigen Tagen hatte ein Mitglied un­ Anstaltsarbeiten.
Dann wollte man uns zur Arbeit zwingen. serer Schriftleitung anläßlich einer Gegenüber liegen die Küche und die
Wir forderten tarifliche Bezahlung. Wir Besichtigung des Werkhauses in Moringen Baderäume. Der Speisezettel wird
hatten abgesprochen, alles gemeinsam durch die Staatsanwaltschaft Gelegen­ jedesmal für einen Monat festgelegt
zu tun. Die SA versuchte, uns gegen­ heit, an dem Besuche teilzunehmen. und in jedem Raume ausgehängt.
einander auszuspielen. Doch wir hielten Das Werkhaus Moringen ist das Ar­ Die Badeeinrichtung bietet jedem Insas­
zusammen. Das machte unsere Be­ beits- und Korrektionshaus der Provinz sen Gelegenheit, morgens ein Brause­
wacher wild. Sie fingen an zu schlagen. Hannover. Es untersteht direkt dem bad zu nehmen. Die politischen Schutz­
Willkürlich holten sie einzelne von Landesdirektorium Hannover. Die Leitung häftlinge sind in einem besonderen
uns heraus und prügelten sie im Bunker. liegt in den Händen von Direktor Gebäude untergebracht. Vor den Gebäu­
Darauf verweigerten wir alle das Essen. Krack. den stehen Wachen von hannover­
[...] Am zweiten Tag des Hungerstreiks Im Arbeitshaus werden Arbeitsun­ schen Schutzpolizisten, die unter dem
drehte man uns das Wasser ab. Es war willige untergebracht, z.B. Landstreicher Kommando eines Schutzpolizeihaupt­
ein heißer Sommer. Wir hatten fürchter­ und Bettler, und solche, die sich der manns stehen, der die militärische
lichen Durst. Bald hatten die sanitären Unterhaltspflicht gegen ihre Familie ent­ Befehlsgewalt in der Anstalt ausübt.
Anlagen kein Wasser mehr! Am dritten ziehen. Zur Zeit sind außer den Arbeits­ Große lichte Tagesräume bieten den
Tag machten die ersten schlapp. Am häuslern auch politische Schutzhäftlinge, Häftlingen Aufenthalt für den Tag. Die
vierten Tag waren viele völlig apathisch. insbesondere Kommunisten, sowie weiten Schlafräume sind hell und
Da holte sich die SA Polizeikomman­ alle, die eine Gefahr für die öffentliche gut durchgelüftet.
dos aus Hannover zur Verstärkung. Unter Sicherheit bilden, in die Anstalt ge­ In einem besonders abgeschlossenen
ärztlicher Anleitung versuchte man, bracht. Flügel sind Zellen für Einzelhaft einge­
uns zwangsweise zu füttern. Das Werkhaus ist jetzt belegt von richtet, die für widerspenstige Häftlinge
Wir lebten noch immer in den Vorstel­ etwa 70 bis 80 Arbeitshäuslern und etwa zur Verfügung gehalten werden.[...]
lungen der Weimarer Demokratie von 300 politischen Schutzhäftlingen, da­ Die Stimmung unter den Häftlingen
Recht und Ordnung. Wir blieben standhaft. runter befinden sich eine große Anzahl vermittelte uns nach Schluß der Be­
Schließlich gab man die Fütterungs­ Clausthaler Kommunisten. Auch die sichtigung eine Gruppe von politischen
aktion auf. Nach fünf Tagen erschien eine KPD.-Göttingen ist mit einigen ihrer Schutzhäftlingen, die von der Arbeit
staatliche Kommission, der wir unsere Prachtexemplare vertreten. [...] auf dem Felde kamen. Frische und kräftige
Forderungen nach anständiger Behand­ Im Hauptgebäude, das an der Haupt­ Gestalten. Fast alle hatten sich mit
lung, vernünftigem Essen und tariflicher straße liegt, sind in einem Flügel die Blumen geschmückt oder trugen Sträuße
Bezahlung vortrugen. Sie akzeptierten weiblichen Insassen untergebracht, die in der Hand. Sie marschierten singend,
und ließen uns vier Wochen in Ruhe. – politischen Schutzhäftlinge sind von in Gruppenkolonne, unter der Führung
Inzwischen bauten die Faschisten ihre den eigentlichen Werkhäuslern getrennt. eines Polizeiwachtmeisters durch die
Macht in Deutschland aus. Nach In einem anderen Flügel befinden Straßen. Man hatte den Eindruck, daß
vier Wochen wurde unsere Wachmann­ sich die Bekleidungskammern. Über in das Leben dieser Männer, die früher
schaft abgelöst. Jetzt kam die SS! einen langen Gang hinweg Lazarett, nur den Klassenhaß kannten, ein neuer
Was sich nun abspielte, ist unbeschreiblich. Operationszimmer und Arztzimmer. Die Rhythmus getreten ist. Vielleicht haben
Jeden Tag wurden mehrere Razzien sanitären Räume sind hell und weit. sie alle erst jetzt gelernt, daß Zucht und
durchgeführt. Jeder, der den SS-Banditen Wir steigen die Treppe hinunter und tre­ Ordnung die Grundlagen des Staates
nicht paßte, wurde im Bunker durch­ ten in den großen Hof. Die Schutzhäft­ sein müssen, wenn er bestehen will.
geprügelt. [...] Derartige Exzesse waren linge machen gerade ihren Spaziergang.
an der Tagesordnung. Das ging vier Vor den Gebäuden stehen Wachen
In: Thomas Berger (Hg.), Lebenssituationen unter der Herrschaft
Wochen lang. Dann wurden wir aufge­ der SA.- und SS.-Hilfspolizei. Der Hof ist des Nationalsozialismus, für Niedersächsische Landeszentrale
teilt. Ein Teil von uns kam nach umschlossen von hohen Gebäuden, für politische Bildung, Hannover 1981, S. 37 ff.

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Ver
erfo
follgung 67
Bundesarchiv, Bild 183-78612-0002

1936 wurde das KZ Sachsenhausen als „Schutzhaftlager“ errichtet. Durch das Instrument „Schutzhaft“ konnte sich nach der Reichtagsbrandverord­
nung die Willkür des Regimes frei entfalten.

Errichtung der Konzentrationslager

Zur selben Zeit ließ Himmler alle bisherigen kleinen Schutz­ war, was zu einem drastischen Anstieg von Strafurteilen und
haftlager auflösen und neben Dachau, das erheblich erwei­ der KZ-Internierung von tausenden Homosexuellen geführt
tert wurde, zwei neue, große Konzentrationslager in Sach­ hatte. Im Oktober 1936 war außerdem eine zentrale Stelle im
senhausen bei Berlin sowie in Buchenwald nahe Weimar Reichskriminalpolizeiamt zur „Bekämpfung der Homosexua­
errichten. 1938 kamen die Konzentrationslager Flossenbürg, lität und der Abtreibung“ eingerichtet worden. Noch kurz
Neuengamme und Mauthausen (nach dem „Anschluss“ Öster­ vor der Verhaftungsaktion hatte Himmler in einer Rede vor
reichs) sowie das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück SS-Gruppenführern im Februar 1937 den Kampf gegen die
hinzu. Alle Lager wurden von eigenen SS-Wachverbänden, männliche Homosexualität besonders hervorgehoben, weil
seit März 1936 offiziell SS-Totenkopfverbände genannt, be­ diese Männer in Himmlers rassistischer Weltsicht für die Fort­
wacht und die Lagerorganisation vereinheitlicht. Während pflanzung des Volkes ausfielen.
im KZ Dachau nach wie vor vornehmlich politische Häftlinge Im Januar 1938 erteilte Himmler den Gestapostellen im Reich
interniert wurden, füllten sich die neuen Konzentrationsla­ und dann auch in Österreich, das im März angegliedert worden
ger mit Menschen, die nicht mehr wegen ihrer politischen war, den Befehl, sogenannte Arbeitsscheue zu verhaften und
Gesinnung, sondern nach rassenbiologischen Kriterien aus­ im KZ Buchenwald zu internieren. Diese Aktion, die etwa 1500
gewählt worden waren. Menschen ins Konzentrationslager brachte, war aber nur der
Auftakt für eine größere Verhaftungswelle im Juni 1938. Die­
ses Mal erhielt jeder Leitstellenbezirk der Kriminalpolizei eine
Verfolgung von „Asozialen“ und Homosexuellen feste Quote, mindestens 200 arbeitsfähige „asoziale“ Männer
zu verhaften. Zusätzlich sollten alle männlichen Juden inter­
Der Begriff der „Asozialität“ wurde zu einer zentralen Katego­ niert werden, die jemals zu einer Haftstrafe von mindestens
rie der Verfolgung, und kriminalbiologische Vorgaben bildeten einem Monat verurteilt worden waren, was mittlerweile bei
die Grundlage einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung den geringsten Delikten möglich war. Die Polizei erfüllte das
durch die Polizei“. Im März 1937 verhaftete die Kriminalpoli­ Soll um ein Dreifaches; insgesamt wurden rund 10 000 Män­
zei nach vorbereiteten Listen etwa 2000 „Berufs-", „Gewohn­ ner verhaftet und nach Buchenwald und Sachsenhausen ge­
heits-" und „Sittlichkeitsverbrecher“ und verschleppte sie nach bracht. Der Zweck der Internierung lag darin, die Häftlinge als
Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald, um sie dort für den Arbeitskräfte für den Ausbau der Lager und für die SS-eigenen
Ausbau der Lager einzusetzen.Unter den Verhafteten befanden Betriebe, insbesondere zur Herstellung von Ziegeln für die
sich vermutlich auch viele Homosexuelle,nachdem 1935 bereits Baubranche, auszunutzen; zugleich sollten die „Asozialen“ aus
der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches verschärft worden dem deutschen „Volkskörper“ ausgesondert werden.

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68 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Belegungszahlen nicht eingerichtet waren. Bis zum Jahresen­


de wurde zwar ein Großteil der jüdischen Häftlinge wieder
entlassen, sobald sie der Enteignung ihres Vermögens und der
sofortigen Ausreise „zugestimmt“ hatten. Bis zum Kriegsbe­
ginn wuchs aber die Zahl der Häftlinge wieder auf über 21 000
an und stieg dann immens während des Krieges.

Zwangssterilisation

Auch mit der Politik, ein erbbiologisch „gesundes“ Volk herzu­


stellen, zögerte die Hitler-Regierung nicht lange. Wenige Mo­
nate nach der Machtübernahme, am 14. Juli 1933, erließ sie das
Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, mit dem
erstmals in Deutschland die Zwangssterilisation aus erbbiolo­
gischen Gründen erlaubt wurde, die ausdrücklich auch gegen
den Willen der Patienten angewandt werden konnte.
Bundesarchiv, R 165 Bild-244-70

Forderungen nach Einführung erbbiologischer Personalbö­


gen, nach einem Eheverbot für „Asoziale“ bis hin zur Wegsper­
rung von Epileptikern, psychisch Kranken und Kriminellen
aus rassenbiologischen Gründen, wie sie unter anderen selbst
der Verfasser des gesundheitspolitischen Programms der SPD,
Alfred Grotjahn, vertrat, und Sterilisation „Minderwertiger“
waren bereits in der eugenischen Diskussion der Weimarer
Während der NS-Zeit führender „Zigeunerforscher“, nach 1945 Obermedi­ Republik gang und gäbe gewesen. 1920 veröffentlichten der
zinalrat der Stadt Frankfurt: Robert Ritter (r.) bei einer erzwungenen Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche
Blutabnahme Ende der 1930er-Jahre eine einflussreiche Broschüre mit dem Titel „Die Freigabe der
Vernichtung lebensunwerten Lebens“, in der die jüdisch-christ­
liche Achtung vor der Unantastbarkeit des Lebens mit Hinwei­
Verfolgung von Roma und Sinti sen auf antike Gesellschaften wie Sparta angegriffen wurde.
Zwar blieb die Tötung angeblich „lebensunwerten Lebens“
Auch Roma und Sinti wurden als „Asoziale“ verfolgt. Schon unter den Eugenikern umstritten, aber die Debatte verlagerte
in der Kaiserzeit wie in der Weimarer Republik hatten lokale sich zunehmend in Richtung auf Zwangsmaßnahmen.
Behörden Roma und Sinti schikaniert. Nun systematisierte Im November 1932 drängten die Ärztevertretungen auf ein
das NS-Regime die Verfolgung. 1936 begannen mehrere Groß­ Sterilisationsgesetz, nicht nur um damit einer „Verschlechte­
städte, Lager für Roma und Sinti zu errichten, und internierten rung des deutschen Erbgutes“ vorzubeugen, sondern auch um
Hunderte unter hygienisch elenden Bedingungen. Ein eigenes die öffentlichen Krankenkassen zu entlasten. Nach der Macht­
Referat widmete sich im Reichskriminalpolizeiamt der Verfol­ übernahme nahm der Druck auf die Ministerialbürokratie zu,
gung der „Zigeunerplage“. Im Dezember 1938 befahl Himm­ und als im Mai 1933 außerdem der Nationalsozialist Arthur
ler die rassenbiologische Erfassung sämtlicher „Zigeuner“ in Gütt zum Medizinalreferent im Reichsinnenministerium er­
Deutschland. Danach erhielten sie, je nachdem, ob sie als „rein­ nannt worden war, kam das entsprechende Gesetz zur „Verhü­
rassige Zigeuner“,„Zigeunermischlinge“ oder „nicht-seßhafte tung erbkranken Nachwuchses“ ins Kabinett.
Zigeuner“ eingestuft wurden, unterschiedliche Ausweise,
ohne die es ihnen nicht möglich war, Arbeit zu bekommen. Zu­
dem wurde ihnen jedwede Mobilität verboten, vielmehr sollte
die Polizei sie „festsetzen“. Unter den internierten, „asozialen“
KZ-Häftlingen befanden sich zahlreiche Roma und Sinti.

Häftlingszahlen

Die Zahl der KZ-Häftlinge stieg aufgrund der Verhaftungs­


aktionen innerhalb von zwei Jahren um das Fünffache: von
über 4700 im November 1936 auf etwa 24 000 Anfang Novem­
ber 1938. Wenige Tage später kamen infolge der Verhaftungs­
welle jüdischer Männer nach dem Novemberpogrom für meh­
rere Wochen etwa 36 000 neue Häftlinge hinzu, so dass die
bpk

Zahl der Häftlinge kurzzeitig auf fast 60 000 anwuchs – mit Menschenleben als Kostenfaktor: Dia aus der Bildserie „Blut und Boden“,
all den katastrophalen Folgen für die Unterkunft, Verpflegung das zu Schulungszwecken im Rahmen der „Verhinderung erbkranken
und hygienischen Bedingungen in den Lagern, die auf solche Nachwuchses“ diente.

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Verfolgung 69

entscheiden, die aus einem Richter, einem beamteten Arzt


und einem Arzt, der mit der "Erbgesundheitslehre besonders
vertraut" (§ 6) sein sollte, zusammengesetzt waren. Ohne die
Mithilfe zahlreicher Ärzte in den Erbgesundheitsgerichten
hätte diese Massenverfolgung von kranken Menschen nicht
geschehen können. Nach NS-amtlichen Dokumenten wur­
den aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes bis zum Kriegs­
beginn 1939 etwa 300 000 Menschen sterilisiert, wobei die
Dunkelziffer derjenigen, die außerhalb des Gesetzes ohne ih­
ren Willen oder gar ihr Wissen sterilisiert wurden, noch höher
liegen dürfte. Allein in den ersten drei Jahren nach Erlass des
Gesetzes fällten die Erbgesundheitsgerichte 224 338 Urteile
und entschieden in 198 869 Fällen, also knapp 90 Prozent,
auf Sterilisation.

Verfolgung der Juden

Antisemitismus bildete den Kern des Nationalsozialismus;


die Juden sollten aus dem öffentlichen Leben und am besten
gleich ganz aus Deutschland verdrängt, ihr Hab und Gut
bpk / Germin

geraubt werden. Auf allen Ebenen, sowohl in den großen


Städten wie auch in der Provinz, in den Dörfern und kleinen
Orten, war die Verfolgung der Juden als „Rassenfeinde des
Dass Leben „wert“ und „unwert“ sei, sollte von klein auf verinnerlicht deutschen Volkes“ das zentrale politische Instrument, um
werden. Rassenkunde-Unterricht für BDM-Mädchen in Hamburg die bürgerliche Ordnung anzugreifen und die „Volksgemein­
schaft“ herzustellen.
37 000 jüdische Deutsche verließen 1933 nach Hitlers
Machtübernahme ihre Heimat. Danach ging die Zahl auf
„Wer erbkrank ist“, so lautete der Paragraph 1, „kann durch über 20 000 jährlich leicht zurück, stieg nach den Nürnberger
chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) Gesetzen wieder an und erreichte 1938 mit 40 000 und 1939
werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wis­ mit 78 000 vertriebenen deutschen Juden (ohne Österreich)
senschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, ihren Höhepunkt, bevor die Auswanderung vom NS-Regime
daß seine Nachkommen an schweren körperlichen oder 1941 verboten wurde. Insgesamt konnten 270 000 deutsche
geistigen Erbschäden leiden werden.“ Noch nicht einmal Juden der nationalsozialistischen Verfolgung durch Emigra­
ein medizinischer Beweis war vonnöten, sondern allein auf­ tion entrinnen, davon 70 000 nach Palästina und gut 113 000
grund von Erfahrungen oder „großer Wahrscheinlichkeit“ in die USA.
konnte ein Mensch gegen seinen Willen sterilisiert werden. Am 11. April 1933 bestimmte die Stadtverwaltung Köln,
Als Erbkrankheiten nannte das Gesetz explizit „angebore­ dass Rechnungen von jüdischen Ärzten nicht mehr vergütet
nen Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-de­ würden; Ende April schloss der Deutsche Apotheker-Verein
pressives) Irresein, erbliche Fallsucht, erblichen Veitstanz „nicht-arische“ Mitglieder aus, Ende Mai folgte entsprechend
(Huntingtonsche Chorea), erbliche Blindheit, erbliche Taub­ die Deutsche Turnerschaft; im Mai entschied der Hartmann-
heit, schwere erbliche körperliche Mißbildung“ und schwe­ Bund als Verband der privaten Krankenversicherungen, dass
ren Alkoholismus. Rechnungen jüdischer Ärzte nur noch anerkannt würden,
Eine große Öffentlichkeitskampagne in der Tages- und wenn die Patienten „Nicht-Arier“ seien; im Juli beschloss der
Fachpresse begleitete die Einführung des Gesetzes. Immer Reichsverband Deutscher Schriftsteller, dass nur Personen,
wieder wurde die „Beschaffenheit der Erbverfassung unse­ die auf dem Boden der nationalen Erhebung stünden und
res Volkes“ beschworen, die aufgrund der unterschiedlichen deutschblütig seien, Mitglieder sein könnten; an mehreren
Geburtenraten befürchten lasse, dass binnen drei Generatio­ Orten wurden bereits im Sommer 1933 Badeverbote für Juden
nen „die wertvolle Schicht von der minderwertigen völlig in den städtischen Badeanstalten ausgesprochen. Das ist nur
überwuchert“ werden würde. Sterilisation sei daher nicht eine kleine Auswahl der zahlreichen antisemitischen Bestim­
nur notwendig, sondern geradezu „eine Tat der Nächsten­ mungen, die allerorten erlassen wurden (siehe S. 73).
liebe und Fürsorge“, das Sterilisationsgesetz „eine wahrhaft Insbesondere der Boykott jüdischer Geschäfte bot den na­
soziale Tat für die betroffenen erbkranken Familien“ und der tionalsozialistischen Aktivisten in der Provinz eine Politik­
„Beginn eines neuen Zeitalters“. In den Schulen wurden 1933 arena, in der sich sowohl scharfe antisemitische Grenzlinien
die Fächer Rassenkunde und Vererbungslehre in den Unter­ ziehen als auch die nicht-jüdischen Deutschen zur „Volksge­
richt eingeführt. meinschaft“ formieren ließen. Die Berichte aus den Landes­
Über die Sterilisation, die von Ärzten, Krankenhausleitun­ verbänden und Ortsgruppen des Centralvereins deutscher
gen und Wohlfahrtsämtern beantragt werden konnte, hatten Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) lassen erkennen, wie
neu eingerichtete, sogenannte Erbgesundheitsgerichte zu hartnäckig und zunehmend gewalttätig gegen die jüdischen

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70 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Bewohner in der Provinz vorgegangen wurde, wobei anfäng­ in kleineren Ortschaften war, in denen jeder jeden kannte.
lich die jüdischen Kaufleute ebenso heftig wie ihre nicht-jü­ Der Geschäftsführer des Landesverbandes Ostpreußen des
dischen Kunden Ziel der Kampagnen waren. Aus allen Teilen C.V. berichtete im August 1935: „Die ‚Stürmer‘-Kästen sind
des Reiches meldeten die örtlichen C.V.-Gruppen Boykott­ stets belagert. Die Inschriften und die Bilder üben auf das Pu­
posten, Belästigungen und Behinderungen von Kunden, das blikum eine starke Wirkung aus, sodass die alte Kundschaft
nächtliche Einwerfen von Fensterscheiben und Bekleben oder völlig verängstigt sich nicht mehr in die Geschäfte wagt.“ Die
Beschmieren der Schaufenster mit antisemitischen Parolen. wenigen couragierten nicht-jüdischen Kunden kamen, wenn
Bald gingen die NSDAP-, SA- und HJ-Gruppen dazu über, überhaupt, nur noch in den Abendstunden. In Harpstedt bei
die Kunden beim Betreten der Geschäfte zu fotografieren und Bremen verweigerten 1935 die christlichen Kaufleute ihren
die Aufnahmen, häufig mit vollem Namen und Anschrift, in jüdischen Nachbarn den Einkauf von Lebensmitteln, weshalb
den großen und grellrot angestrichenen Kästen zu veröffent­ sie in die Stadt fahren mussten, um Brot, Milch und die Din­
lichen, in denen Julius Streichers antisemitisches Hetzblatt ge des täglichen Lebens zu erwerben. Ähnliche Fälle wurden
„Der Stürmer“ ausgehängt war. auch aus anderen Orten gemeldet.
Diese „Stürmerkästen“ wurden ab 1934/35 in allen Teilen Neben den gewalttätigen Boykottaktionen nahmen im
des Reiches aufgestellt. Man kann sich unschwer ausmalen, Sommer 1935 ebenso Kampagnen zur Anprangerung von
wie stark der dadurch hervorgerufene soziale Druck gerade Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden als
bpk / Bayerische Staatsbibliothek / Heinrich Hoffmann

Sichtbare Zeichen des Judenhasses: Ein Schild in einer Ortschaft nahe Fürth ...
Bundesarchiv, Bild 133-075

… und ein „Stürmerkasten“ in Worms. Ab 1934/35 standen im gesamten Gebiet des deutschen Reiches diese von
der SA betreuten Zeitungskästen.

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Verfolgung 71

„Rassenschande“ zu. Die Deutschland-Berichte der SPD er­ Wohnungen, um sie als „Rasseschänder“ durch die Straßen
wähnen zahlreiche solcher Beschuldigungen, die stets mit der Kleinstadt zu treiben. Die Geschehnisse hielt der Drogist
aggressiven öffentlichen Angriffen in Zeitungen und Flug­ in Norden, selbst NSDAP- und SA-Mitglied, mit der Kamera
blättern oder mit Demonstrationen vor dem Haus des an­ fest und stellte die Fotos anschließend im Schaufenster sei­
geblichen Täters einhergingen, insbesondere wenn es sich nes Ladens aus: Eine große Menge von Leuten begleitete den
um die Beziehung eines jüdischen Mannes zu einer nicht­ Umzug, der wie alle anderen in Deutschland am hellichten
jüdischen Frau handelte. So holte die SA im ostfriesischen Tag in aller Öffentlichkeit stattfand, Jugendliche, Kinder, la­
Norden am Montag, 22. Juli 1935, ein junges Paar aus ihren chende junge Frauen.
Niedersächsisches Landesarchiv – Staatsarchiv Aurich, Rep. 243 Nr. A 898

Niedersächsisches Landesarchiv – Staatsarchiv Aurich, Rep. 243 Nr. A 898

Rassistische Strafaktion in Norden: Christine Neemann und ihr jüdischer ... und Elisa Extra, mit dem Juden Richard Cossen verlobt, werden öffentlich zur
Verlobter Julius Wolff ... Schau gestellt und misshandelt.

„Rassenschande“ in Norden gen und die Haare aus dem Kopf gerissen Christine Neemann wurde vom Gefängnis
und dann ins Gefängnis gebracht.“ Laut in Aurich in das Konzentrationslager
Am Sonnabend, den 20. Juli 1935, kam die Polizeibericht hatte Christine Neemann Moringen gebracht, aus dem sie Ende Au­
Ostfriesische Tageszeitung mit einer sich gewehrt und mit dem Zeigefinger gust 1935 wieder entlassen wurde. Ihr
32-seitigen Beilage „Die Juden sind unser an die Stirn getippt, um zu zeigen, dass sie Arbeitgeber in Norden, bei dem sie zehn Jah­
Unglück“ heraus, in denen Juden belei­ das Ganze als irrsinnig betrachtete, was re gearbeitet hatte, entließ sie. 1942 hei­
digt, verhöhnt und beschimpft wurden und die rund 200 bis 300 Menschen, die den ratete sie einen Eisenbahnschaffner. Julius
zugleich alle Geschäfte mit jüdischen Umzug begleiteten, noch mehr erregt Wolff konnte nach Amerika fliehen.
Inhabern mit dem üblichen Aufruf zum haben soll. Elisa Extra, die zusammen mit Christine
Boykott aufgeführt waren. Zwei Tage Anschließend suchte die Menge noch ein Neemann ins KZ Moringen gebracht und
später ergriff die SA in Norden Christine weiteres Paar: Elisa Extra und ihren jüdi­ ebenfalls im August entlassen worden
Neemann und ihren jüdischen Verlobten schen Verlobten Richard Cossen. Allerdings war, verlor gleichfalls ihren Arbeitsplatz
Julius Wolff, beide in Norden geboren, und konnte nur Elisa bei ihrer Mutter gefun­ bei der Post, floh nach Amsterdam
schleppte sie in einem „Rasseschande“­ den werden, und so wurde sie allein mit und fand eine Stelle als Hausmädchen
Umzug durch die Stadt. Christine Neemann einem umgehängten Schild: „Ich bin ein in einer jüdischen Familie. Ihr Verlobter
schilderte nach dem Krieg diesen Tag: deutsches Mädchen und habe mich vom Richard Cossen konnte 1936 nach
„Im Juli 1935 wurde ich von sechs SA-Män­ Juden schänden lassen“, durch die Straßen Amsterdam und von dort nach Argenti­
nern aus der Wohnung meiner Mutter Nordens getrieben. Die Fotos wurden vom nien entkommen.
geholt, weil ich mit einem Juden, Julius Drogisten in Norden, NSDAP- und SA-Mit­
Wolff, verlobt war. Man hat uns zu­ glied, aufgenommen, der den Auftrag von
sammen durch die Straßen geführt, jeder der Partei erhalten hatte, die Aktion zu Bernhard und Astrid Parisius, „Rassenschande“ in Norden. Zur
Geschichte von zwei Fotos, die das Bild Jugendlicher von der
ein Plakat um den Hals: Rassenschänder. dokumentieren, und die Fotos anschließend NS-Zeit prägen, in: Ostfreesland 2004. Kalender für jedermann,
Auf offener Straße hat man mich geschla­ auch in seinem Schaufenster ausstellte. Norden 2003, S. 129-137

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72 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Nürnberger Gesetze „durch sein Verhalten beweist, dass er gewillt und geeignet
ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen“. Nur
In den Ministerien waren die Vorbereitungen für ein gesetz­ einem solchen „Reichsbürger“ sollten die vollen politischen
liches Verbot von „Rassenschande“ bereits vorangeschrit­ Rechte nach Maßgabe der Gesetze gewährt werden. Jüdische
ten. Im Juli 1935 sandte das Reichsjustizministerium einen Deutsche waren nunmehr bloße „Staatsangehörige“, die dem
Gesetzentwurf über „volksschädliche Ehen“ an den Reich­ „Schutzverband des Deutschen Reiches“ angehörten und ihm
sinnenminister Frick, der als erste Konsequenz am 26. Juli „besonders verpflichtet“ seien.
die Standesbeamten im Reich anwies, keine Ehen zwischen Das „Blutschutzgesetz“, eingeleitet durch eine Präambel, in
„Ariern“ und „Nicht-Ariern“ mehr zu trauen. Weitere Schritte der es hieß: „Durchdrungen von der Erkenntnis, dass die Rein­
wurden auf einer Chefbesprechung im Reichswirtschaftsmi­ heit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbe­
nisterium am 20. August festgelegt. Der antisemitische Druck stand des Deutschen Volkes ist“, verbot nicht bloß Eheschlie­
„von unten“ und die administrativen Vorarbeiten „von oben“ ßungen „zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen
widerlegen die Annahme, die Nürnberger Gesetze seien has­ oder artverwandten Blutes“, sondern darüber hinaus generell
tig, überstürzt und wenig vorbereitet zustande gekommen. den „außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsan­
Vielmehr zeigt sich bereits vor dem Nürnberger Parteitag ein gehörigen deutschen oder artverwandten Blutes“. Damit war
breiter, inhaltlicher Konsens zwischen Ministerialbürokratie, erstmals in Deutschland die rassistische Obsession, sexuellen
NSDAP, Gestapo und Sicherheitsdienst (SD) über die zukünf­ Kontakt mit jüdischen Menschen zu verbieten, staatliches Ge­
tigen gesetzlichen Regelungen. setz geworden. Nunmehr stellte ein Gesetz privates, ja intimes
Das „Reichsbürgergesetz“ und das „Gesetz zum Schutze des Verhalten unter Strafe, dessen Beobachtung sich der üblichen
deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, die dann auf dem staatlichen oder polizeilichen Kontrolle normalerweise ent­
Nürnberger Parteitag von dem dorthin einberufenen Reichs­ zog. Die Verfolgung „außerehelichen Verkehrs“ konnte nur
tag am 15. September 1935 beschlossen wurden, erfüllten zu durch Denunziationen aus der Bevölkerung geschehen und
einem Gutteil die Forderungen, die zuvor erhoben worden wa­ wurde, wie die nach oben schnellende Zahl der Denunziatio­
ren. „Reichsbürger“ konnte demnach nur „der Staatsangehöri­ nen nach dem Herbst 1935 zeigt, auch als Aufforderung zur
ge deutschen oder artverwandten Blutes“ werden, der zudem „volksgemeinschaftlichen“ Schnüffelei verstanden.

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„[...] beseelt von dem unbeugsamen Willen, die Deutsche Nation für alle Zukunft zu sichern“: Schautafel zum „Blutschutzgesetz“

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Verfolgung 73

Zudem war die sexualisierte Ausrichtung dieses Gesetzes von Zustimmung und Befriedigung aufgenommen worden, weil
einer männlichen Geschlechterperspektive geprägt, indem damit klare Verhältnisse geschaffen und den unkontrollierten
es nur die Männer als den angeblich „aktiven“ Teil bei einem Ausschreitungen der vorangegangenen Monate ein Ende ge­
Verstoß gegen das Verbot außerehelichen Verkehrs bestrafte setzt würden. Mochten selbst deutsche Juden gehofft haben,
und in einem weiteren Paragraphen Juden die Beschäftigung dass mit den Nürnberger Gesetzen so etwas wie Rechts-, bes­
weiblicher, nicht-jüdischer Hausangestellter unter 45 Jahren ser: Unrechtssicherheit geschaffen worden war, so zeigte sich
untersagte, also jüdischen Männern von vornherein sexuelle rasch, dass sie bloß ein Etappenziel in der sich radikalisieren­
Triebhaftigkeit unterstellte. Nicht zufällig wurde einen Monat den Judenpolitik des NS-Regimes bildeten.
später, am 18. Oktober 1935, ein ähnliches Eheverbot mit dem
Gesetz zum „Schutz der deutschen Erbgesundheit“ auch für
all diejenigen erlassen, die als erbbiologisch „minderwertig“ Enteignung
galten. Beide Gesetze stehen in einem offenkundig rassen­
biologischen Zusammenhang, und konsequent umfasste der Auf die Entrechtung folgte die Enteignung jüdischen Vermö­
offizielle juristische Kommentar von Wilhelm Stuckart und gens, das der NS-Staat zur Finanzierung seiner Aufrüstung
dem späteren Kanzleramtschef unter Adenauer, Hans Globke, verwendete. Auf Grundlage eines Gesetzes vom Januar 1938
beide Gesetzeskomplexe. wurden die deutschen Juden gezwungen, ihre Vornamen in
In der Bevölkerung seien die Rassegesetze, so meldeten die „typisch jüdische“ zu ändern. Ab 1. Januar 1939 mussten Män­
staatlichen und polizeilichen Lageberichte, weitgehend mit ner zusätzlich den Vornamen Israel, Frauen den Vornamen

Antijüdische Maßnahmen (Auszug) ¬ 13.2.1937 Juden dürfen nicht mehr Notar annehmen. Männliche Juden erhalten
werden. zu ihrem Vornamen den Namen „Israel“,
¬ 1.4.1933 Boykott aller „nicht-arischen“ ¬ 15.4.1937 Juden dürfen den Doktorgrad weibliche den Zusatz „Sara“.
Geschäfte. „Nicht-arische“ Justizbeamte nicht mehr erwerben. ¬ 17.1.1939 Berufsverbot für jüdische
erhalten in Preußen Zwangsurlaub. ¬ 2.7.1937 Die Zahl jüdischer Schüler an Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Zahn­
¬ 7.4.1933 Juden dürfen kein Rechtsan­ Schulen wird beschränkt. techniker, Heilpraktiker und Kranken­
waltsbüro eröffnen. ¬ 26.4.1938 Juden, die mehr als 5 000 Mark pfleger.
¬ 11.4.1933 Alle Beamten mit mindestens besitzen, müssen dies anmelden. ¬ 30.4.1939 Juden werden aus „arischen“
einem jüdischen Großelternteil werden ¬ 14.6.1938 Alle jüdischen Gewerbebetriebe Häusern ausgewiesen und in „Juden­
aus dem Staatsdienst entlassen. werden erfasst und gekennzeichnet. häuser“ eingewiesen.
¬ 22.4.1933 Jüdische Ärzte dürfen nicht ¬ 20.6.1938 Juden dürfen keine Behörden ¬ 1.9.1939 Ausgehbeschränkungen für
mehr für Krankenkassen tätig sein. betreten. Juden.
Juden dürfen keine Patentanwälte ¬ 11.7.1938 Juden dürfen sich nicht an ¬ 12.9.1939 Juden dürfen nur in besonde­
mehr sein. Kurorten aufhalten. ren Geschäften einkaufen.
¬ 25.4.1933 Die Zahl der jüdischen Stu­ ¬ 25.7.1938 Jüdische Ärzte erhalten Berufs­ ¬ 23.9.1939 Juden müssen ihre Rundfunk­
denten an Hochschulen und Universi­ verbot. geräte abliefern.
täten wird beschränkt. ¬ 27.7.1938 Alle nach Juden benannten ¬ 13.9.1941 Juden dürfen keine öffentli­
¬ 4.5.1933 Alle jüdischen Arbeiter und Straßen müssen umbenannt werden. chen Verkehrsmittel mehr benutzen.
Angestellten bei Behörden werden ¬ 27.9.1938 Berufsverbot für jüdische ¬ 19.9.1941 Alle Juden über sechs Jahre
entlassen. Rechtsanwälte. müssen als Kennzeichen den gelben
¬ 11.1.1934 Juden dürfen nur in Ausnahme­ ¬ 5.10.1938 Juden müssen ihre Reisepässe Stern tragen.
fällen den Doktorgrad erwerben. abgeben. Neue Reisepässe werden nur ¬ 10.10.1941 Wenn Juden ihren Wohn­
¬ 5.2.1934 Jüdische Medizinstudenten beschränkt ausgestellt und erhalten den sitz verlassen wollen, müssen sie eine
werden nicht mehr zur Staatsprüfung Aufdruck J (Jude). besondere Erlaubnis haben.
zugelassen. ¬ 9.11.1938 Pogromnacht ¬ 21.12.1941 Juden dürfen keine öffentli­
¬ 8.12.1934 Jüdische Apotheker werden ¬ 11.11.1938 Juden dürfen keine Waffen chen Fernsprecher mehr benutzen.
nicht mehr zur Prüfung zugelassen. besitzen. ¬ 17.2.1942 Juden dürfen keine Zeitungen
¬ 6.9.1935 Jüdische Zeitungen dürfen nicht ¬ 12.11.1938 Juden dürfen keine Kinos, und Zeitschriften abonnieren.
mehr in Geschäften oder an Kiosken keine Konzerte und keine Theater mehr ¬ 15.5.1943 Juden dürfen keine Haustiere
verkauft werden. besuchen. halten.
¬ 14.11.1935 Juden verlieren das Wahl­ ¬ 15.11.1938 Jüdische Kinder dürfen keine ¬ 19.6.1943 Juden müssen alle elektri­
recht. öffentlichen Schulen mehr besuchen. schen und optischen Geräte abliefern.
¬ 21.12.1935 Jüdische Notare, Ärzte, Profes­ ¬ 29.11.1938 Juden dürfen keine Brieftau­ Ferner: alle Fahrräder, Schreibmaschi­
soren und Lehrer dürfen nicht mehr im ben mehr halten. nen und Schallplatten
Staatsdienst tätig sein. ¬ 3.12.1938 Juden müssen ihre Führer­ ¬ 20.6.1943 Schließung aller jüdischen
¬ 15.10.1936 Jüdische Lehrer dürfen keinen scheine abgeben. Schulen.
Privatunterricht mehr erteilen. ¬ 6.12.1938 Jüdische Studenten werden ¬ 9.10.1943 Juden dürfen keine Bücher
¬ 26.1.1937 Juden dürfen keine Viehhänd­ von Hochschulen und Universitäten mehr kaufen.
ler mehr sein. ausgeschlossen.
¬ 5.2.1937 Juden dürfen keine Jäger mehr ¬ 1.1.1939 Juden erhalten Kennkarten. Robert Hess, Die Geschichte der Juden, Ravensburger Buchver­
sein. Juden müssen einen Zwangsvornamen lag, 2006, s. 186 ff.

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74 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

„Arisierungen“ oder indirekte Beteiligung Millionen trolle und damit auch finanziellen Gewinn
Deutscher nicht möglich gewesen. Sie mar­ bei der „Arisierung“ ermöglichten. So
Theoretische Erläuterung... kierte einen der größten Besitzwechsel durfte es keine „arischen ‚Strohmänner‘“
Der Begriff „Arisierung“ entstammt dem der neueren deutschen Geschichte, in den als Geschäftspartner mehr geben, jüdi­
Umfeld des völkischen Antisemitis­ zahlreiche Akteure und Profiteure sches Vermögen musste angemeldet wer­
mus, der schon in den 20er Jahren die involviert waren. Gerade am Beispiel der den, die Behörden bekamen eine Defini­
Forderung nach einer „Arisierung“ „Arisierung“ zeigt sich, daß die natio­ tion des „jüdischen Betriebes“; außerdem
der Wirtschaft bzw. einer „arischen Wirt­ nalsozialistische Herrschaft nicht als bloße erhielten „nichtarische“ Betriebe weder
schaftsordnung“ erhob und darunter Diktatur von oben nach unten, sondern Aufträge noch Bankkredite und durften
die vollständige, mindestens jedoch weit­ als soziale Praxis begriffen werden sollte, nicht einmal durch Postwurfsendungen
gehende Verdrängung der Juden aus an der die deutsche Gesellschaft in viel­ um „arische“ Kunden werben.
dem Wirtschaftsleben verstand. Etwa Mitte fältiger Weise beteiligt war. [...] Da Verkäufe jüdischer Firmen seit den
der 30er Jahre tauchte der Begriff im April-Verordnungen von 1938 besondere
Behördenjargon auf, ging in den Sprachge­ Frank Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß, in: Rechtsgeschäfte darstellten, bedurften
brauch der Bevölkerung über und „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub
sie einer behördlichen Genehmigung, die
und Gedächtnis, hg. vom Fritz Bauer Institut, Campus Verlag,
wurde auch nach 1945 – z.B. in den Nürn­ Frankfurt a.M./ New York 2000, S. 15 ff. dreifach gestaffelt war:
berger Kriegsverbrecherprozessen – ¬ Wenn es sich um ein Einzelhandelsge­
weiter verwendet. Wer allerdings nach schäft mit wenig Personal handelte,
einer offiziellen oder auch nur offiziösen ...und Praxis am Beispiel der Region genügte für die „Arisierung“ bzw. Liqui­
Definition des Begriffes „Arisierung“ nördliches Oberfranken dierung die Zustimmung des Stadt­
sucht, wird enttäuscht, weil sich mit der Über die „Arisierungen“ und Liquidierungen oberhauptes.
„Arisierung“ zum Teil sehr unterschied­ jüdischer Geschäfte und Betriebe bis ¬ Bei mittelgroßen Industriebetrieben und
liche Bedeutungsinhalte verknüpften. Im 1938 gibt es nur wenige verlässliche Infor­ gerade auch bei Warenhäusern, die
allgemeinen dominierte eine ökonomi­ mationen, da es sich hierbei um private schon in den Weimarer Jahren zur Ziel­
sche Verwendung des Begriffes, und zwar Rechtsgeschäfte handelte, die selten im scheibe nationalsozialistischer An­
in einer allgemeineren und einer engeren staatlichen Aktenverkehr ihren Nieder­ griffe geworden waren, lag die Entschei­
Variante. Im weiteren Sinne bezeichnete schlag fanden. [...] dung beim Regierungspräsidenten
die „Arisierung“ den Prozeß der wirtschaft­ Aus dem Rahmen „normaler“ „Arisie­ von Ober- und Mittelfranken in Ansbach.
lichen Verdrängung und Existenzver­ rungsmaßnahmen“ fiel 1935 die gewaltsa­ ¬ Das Reichswirtschaftsministerium
nichtung der Juden, im engeren den Eigen­ me Herausdrängung Philipp Rosenthals, behielt sich eine Entscheidung vor bei
tumstransfer von „jüdischem“ in des damals 80-jährigen Firmengründers, Großunternehmen mit mehr als
„arischen Besitz“. aus dem eigenen Unternehmen. Rosen­ 1000 Beschäftigten sowie bei besonders
[…] Die schleichende Verdrängung thal war es in den Jahren zuvor nicht ge­ heiklen „Arisierungsfällen“ [...].
jüdischer Unternehmen nach 1933 und lungen, durch Hereinnahme seines ¬ Auch gab es drei Gremien unterschied­
ihre „Arisierung“ waren jedoch nicht „arischen“ Stiefsohns Udo Franck in die licher Wichtigkeit, deren Urteil vor
allein das Ergebnis einer antijüdischen Firmenleitung einer Zwangsarisierung der endgültigen Genehmigung einzu­
Politik, d.h. sie gingen nicht allein auf zuvorzukommen. Mit Hilfe des bayerischen holen war:
gesetzliche und administrative Maßnah­ Wirtschaftsministeriums sicherten sich ¬ Die regionale Untergruppe der entspre­
men des Staates und Initiativen der die Bayerische Hypotheken- und Wechsel­ chenden Wirtschaftsgruppe fungierte
NSDAP zurück. Vor allem der Staat hielt bank sowie die Dresdner Bank die Aktien­ als branchenspezifische Gutachterin [...].
sich aus der „Arisierung jüdischen mehrheit; gleichzeitig wurden Vorstand ¬ Weiterhin gab die Industrie- und Han­
Besitzes“ lange Zeit heraus. Erst 1938 erließ und Aufsichtsrat im nationalsozialisti­ delskammer Oberfranken in Bayreuth
er entsprechende rechtliche Regelungen schen Sinne umbesetzt. Den unrühmlichen als Vertreterin der regionalen Wirtschaft
für die „Arisierung jüdischer Unternehmen“, Höhepunkt bildete der unter Zwang ge­ eine Stellungnahme ab. Meist wurde
die formal erst nach dem Novemberpo­ schlossene Bayreuther „Arisierungsvertrag“ auch Rücksprache mit dem örtlichen
grom erzwungen und angeordnet werden vom Januar 1935, aufgrund dessen Industrie- und Handelsgremium (IHG)
konnten. Die Maßnahmen des Staates Rosenthal das Unternehmen verlassen gehalten.
und die Initiativen der NSDAP prägten musste. [...] Dass die [...] „rein arische“ ¬ Sehr wichtig war das Urteil, das sich der
zwar das politische Klima und die Rahmen­ Betriebsleitung von der Tilgung des „jüdi­ Gauwirtschaftsberater Dr. Ludwig
bedingungen, doch vollzog sich die schen Namens“ absah, lag an dessen Linhardt in Stellvertretung des Gau­
„Arisierung“ als solche in erster Linie im Werbewirksamkeit im Auslandsgeschäft. [...] leiters gebildet hatte.
gesellschaftlichen Raum. Im Bereich Die Zahl der „Arisierungen“ nahm
der Wirtschaft gestalteten sich die gesell­ in Oberfranken wie auch sonst in Deutsch­ Außer diesen drei Instanzen wurden von
schaftlichen Beziehungen zwischen land ab Herbst 1937 zu, da man im Zuge Fall zu Fall für speziellere Probleme
jüdischen und nichtjüdischen Deutschen der durch den Vierjahresplan ausgelösten Partei- und Staatsbehörden herangezogen
besonders eng. Hier begegneten sie Rüstungskonjunktur die jüdischen Firmen wie der Kreisleiter, der DAF-Gauob­
sich in den verschiedensten Rollen und nicht mehr „brauchte“ und sie durch ge­ mann, diverse Rohstoff- und Devisen-Über­
Funktionen: als Geschäftspartner kürzte Rohstoffkontingente und Devisen­ wachungsstellen, aber auch ortsan­
und Konkurrenten, Arbeitgeber und Ange­ zuweisungen auf administrativem Wege sässige Betriebe mit Gutachten usw. [...]
stellte, Geschäftsinhaber und Kunden, zur Aufgabe zwingen wollte.
als Veräußerer und Erwerber von Unterneh­ [...] Im Frühjahr und Sommer 1938 wur­ Albrecht Bald, Arisierungen im nördlichen Oberfranken 1933-1938,
in: Miscellanea curiensia. Beiträge zur Geschichte und Kultur
men. Die „Arisierung“ als politisch-gesell­ den in rascher Folge Verordnungen Nordoberfrankens und angrenzender Regionen, Bd. VIII, Hof
schaftlicher Prozeß wäre ohne die direkte erlassen, die dem Staat eine größere Kon­ 2009, S. 225 ff.

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Verfolgung 75

Stadtarchiv Hof, FF 7380

bpk / Sybil Milton


Auch wirtschaftlich geraten die Juden immer stärker unter Druck. Viele In der Emigration sehen viele Juden den einzigen Weg, dem zunehmenden
müssen ihre Betriebe weit unter Wert verkaufen. Bei einem „arisierten“ Terror zu entkommen. Zuvor werden sie von den Behörden ausgeplündert.
Geschäft in Hof wird im November 1938 der Name ausgetauscht. Jüdische Flüchtlinge an der Grenze zu Frankreich 1936

Sara tragen. Im März 1938 wurde den jüdischen Gemeinden der


Status von Körperschaften öffentlichen Rechts entzogen; im
April erließ Göring eine Verordnung über die Anmeldung des
Vermögens von Juden, mit der systematisch das Eigentum er­
fasst wurde, das geraubt werden sollte. Das Gesetz zur Ände­
rung der Gewerbeordnung vom Juli sollte die Verdrängung von
Juden aus Berufen, die sie noch ausüben durften, erreichen.
Bis dahin hatten sich etliche jüdische Unternehmen noch ge­
gen die zunehmende Drangsalierung behaupten können. 1938
traten nun unzählige Partei- und Volksgenossen, die bislang noch
leer ausgegangen waren, auf den Plan, um die verbleibenden Ob­
jekte zum Billigtarif zu erwerben. Der eigentliche Profiteur des
Raubs an den jüdischen Vermögen aber war der NS-Staat, der
einerseits durch besondere Abgaben, die die „Ariseure“ zu bezah­
len hatten, verdiente, andererseits durch die „Reichsfluchtsteuer“
und zahlreiche weitere Zwangsabgaben die emigrierenden Ju­
den bis auf ein Handgeld, das sie auf ihre Flucht ins Ausland mit­
nehmen konnten, ausplünderte. Zudem liquidierte er zahlreiche
Unternehmen und beschlagnahmte deren Vermögen.
Im März 1938 vollzog sich der „Anschluss“ Österreichs als ers­
ter Schritt einer aggressiven Expansion des Regimes, der mit
verschärfter antisemitischer Politik einherging. In Wien und an­
dernorts ließen Österreicher ihrem antisemitischen Hass freien
Lauf. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, Juden willkürlich
verhaftet, aus ihren Wohnungen getrieben und misshandelt,
persönliche Bereicherungen waren an der Tagesordnung. Bis
zum Frühjahr 1939 hatte etwa die Hälfte aller rund 190 000 ös­
terreichischen Juden ihr Land verlassen; darunter Tausende, die
von SA und SS mit Gewalt illegal über die Grenzen abgeschoben
wurden.
bpk / SBB

Zufrieden stellte der Lagebericht des SD für das erste Viertel­


jahr 1938 fest, „dass die in der letzten Zeit getroffenen Maßnah­
men der Regierung auf dem Gebiete der Wirtschaft gegen die „Arisierungs“-Bescheid – Antwortschreiben auf einen Einspruch des
Juden vom Standpunkt des Reiches aus gesehen sehr erfolgreich jüdischen Buchhändlers Martin Breslauer

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


76 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

waren“ – und fuhr fort: „Auf der anderen Seite ist dadurch aller­ Adolf Eichmann, die Zwangsemigration von österreichischen Ju­
dings in starkem Maße die Auswanderungsmöglichkeit für die den durch die jüdische Gemeinde selbst zu finanzieren und sich
Juden aus Deutschland beschränkt worden.“ Den Widerspruch, nicht zu scheuen, sie mit terroristischer Gewalt über die Gren­
die Juden einerseits auszuplündern, damit jedoch andererseits zen zu treiben, wurde in Berlin daher als eine Handlungsoption
ihre Auswanderungsmöglichkeiten entscheidend zu verringern, wahrgenommen, um den selbst geschaffenen Schwierigkeiten
sah der SD durchaus. Denn die Verarmten besaßen kaum mehr zu entkommen.
die Möglichkeit, freiwillig das Land zu verlassen, fehlte ihnen
doch das Kapital, das die potenziellen Einwanderungsländer ver­
langten. Nur noch junge Leute und wohlhabende Juden konnten Novemberpogrom
sich Hoffnung machen, in anderen Ländern noch einmal von
vorn anzufangen. Die Atmosphäre in Deutschland blieb gewalttätig aufgela­
Allerdings offenbarte die von US-Präsident Roosevelt einberu­ den. Die vom NS-Regime inszenierte Sudetenkrise führte zu
fene Konferenz zur Unterstützung der verfolgten Juden im Juli einer immer schriller werdenden Pressekampagne für die
1938 im französischen Kurort Evian-les-Bains am Genfer See, „unterdrückten“ Sudetendeutschen in der Tschechoslowa­
dass kein Land bereit war, seine Einwanderungsquoten zu erhö­ kei, deren Schicksal nur geändert werden könnte, wenn die
hen. Die österreichische Praxis unter dem nach Wien entsandten sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei abge-
Bundesarchiv, Bild 146-1979-046-21

Entfesselte Brutalität: Während des Novemberpogroms werden jüdische Mitbürger überfallen, ihre Ladengeschäfte zerstört, wie hier das Stoff- und
Kurzwarengeschäft Gebrüder Karfiol in Magdeburg, …

Reichspogromnacht in Baden- Straße zu zeigen. Was an Zuschauern zu weniger gnädig. Der Ärmste erhielt von
Baden sehen war, war Pöbel. [...] den Vertretern des Faustrechts allerhand
Der Zug näherte sich der Synagoge, wo Faustschläge, und ich sah den Bejam­
[I]n dem Kurort Baden-Baden [...] begann die obersten Stufen der Freitreppe schon mernswerten dann noch auf einen Gebet­
der Pogrom [...] um sieben Uhr morgens. mit allerhand Gesindel in und ohne Uni­ mantel fallen, den die Nazis auf dem
[...] In Galauniform nahm die Polizei die form angefüllt war. Das war ein richtiges Boden ausgebreitet hatten, damit wir da­
Verhaftung der Juden vor und brachte sie Spießrutenlaufen. [...] Ich selbst hatte rüberschritten.
in den Gefängnishof, wo sie in Reih und auf dem ganzen Zug den Leuten fest in die In der Synagoge war alles wie verwan­
Glied bis Mittag stehen mußten. Augen geschaut, und als wir uns der delt [...]. Das Gotteshaus wurde zum
Dr. Arthur Flehinger, ein ehemaliger obersten Stufe näherten, schrie einer herun­ Tummelplatz schwarzer, uniformierter
Studienrat des Badener Gymnasiums, ter: ‚Guck net so frech, Professor!‘ Das Horden. Ich sah, wie oben in der Frauen­
erzählt: war schließlich weniger eine Beleidigung galerie Leute geschäftig hin- und her­
„Gegen Mittag öffnete sich das Tor und als ein Eingeständnis der Schwäche und liefen und Leitungsdrähte legten. Es waren
ein Zug Wehrloser mit viel Bewachung der Furcht [...]. Meinem Freund Dr. Hauser keine Badener. Man ließ für den 10. No­
rechts und links, begann sich durch die gegenüber, der in Baden-Baden ein vember SS aus den Nachbargemeinden
Straßen der Stadt zu bewegen. Man hatte vielbeschäftigter und hochangesehener kommen als Leute, die durch das Fehlen
bis Mittag gewartet, offenbar um der Anwalt war – man hatte ihn und seine auch nur eines Funken von menschlichem
Menge etwas zu bieten. Aber zur Ehre der Frau später aus Südfrankreich nach Celle Mitgefühl in ihrer Bewegungsfreiheit
Badener sei es gesagt, daß die meisten und von dort in die Todeskammer nach nicht gehemmt wurden [...]. Plötzlich er­
doch davor zurückschreckten, sich auf der Auschwitz gebracht –, zeigte sich der Mob tönte eine freche, fette Stimme: ‚Ihr singt

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Verfolgung 77

trennt und dem Deutschen Reich angeschlossen würden. Da­ den mittelfränkischen Ort Bechhofen berichtete der SD, dass
mit wuchs in der Bevölkerung die Furcht vor einem neuen Ende September die letzten der dortigen Juden vertrieben
Krieg, der um das Sudetenland geführt werden müsste. In wurden: „Man habe sie aus ihren Häusern herausgeholt, ge­
Behördenberichten war von einer „wahren Kriegspsychose“, schlagen und angespuckt, mit Füßen getreten und zum Teil
sogar von „Panik“ die Rede. Während der Glaube an Hitler barfuß durch die Ortschaft getrieben. Auch die Kinder nah­
in jenen spannungsvollen Wochen im Herbst 1938 offenbar men an dieser Demonstration nach Aufforderung teil.“
gefährdet, aber nicht gebrochen war, suchten sich die Emo­ Eine seit dem Frühjahr schwelende diplomatische Ausei­
tionen auf andere Weise ihre Bahn – gegen die Juden. Der nandersetzung mit Polen führte im Oktober zu einer erneu­
SD konstatierte Ende Oktober, „dass Aktionen gegen die jü­ ten massenhaften Polizeiaktion gegen Juden. Als Reaktion
dische Bevölkerung zum Teil auch daraus entstanden sind, auf die antisemitische Absicht der polnischen Regierung,
dass die Parteiangehörigen den Augenblick zur endgültigen den im Ausland lebenden polnischen Staatsangehörigen,
Liquidierung der Judenfrage gekommen glaubten“. In einzel­ vor allem den polnischen Juden, die Staatsangehörigkeit
nen Kreisen begannen die lokalen NSDAP-Gruppen damit, abzuerkennen und durch entsprechende Passvermerke die
die Juden des Ortes zu zwingen, ihr Eigentum, ihre Häuser, Wiedereinreise nach Polen zu verwehren, erließ Himmler
Geschäfte, Grundstücke zu Niedrigstpreisen zu verkaufen, am 26. Oktober ein Aufenthaltsverbot für polnische Juden
und sie danach mit Gewalt aus den Orten zu vertreiben. Über und ordnete an, dass sie innerhalb von drei Tagen das Deut­
sche Reich zu verlassen hätten. In einer gezielten Großakti­
on nahm die Gestapo am 28. Oktober etwa 17 000 polnische
Juden fest und verfrachtete sie an die polnische Grenze. Da
Polen die Einreise dieser Menschen verweigerte, irrten sie
im Niemandsland und in den Grenzorten herum, ohne jede
Hilfe, Lebensmittel, Obdach und sanitäre Möglichkeiten.
Erst nachdem sich Polen und Deutschland nach einigen Ta­
gen auf eine Verlängerung der Abschiebefrist verständigt
hatten, brach Himmler die Aktion ab, und die Menschen im
Niemandsland wurden in Polen aufgenommen. Es war die­
se kalt kalkulierte und brutale Maßnahme, die den jungen
Herschel Grynszpan, dessen Eltern zu den Deportierten ge­
hörten, in Paris zum Attentat am 7. November 1938 auf den
deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath trieb.
Noch am selben Tag gab das Propagandaministerium die
Weisung aus, dass alle Zeitungen „in größter Form über das
Attentat“ zu berichten hätten und die Nachricht „die erste
Seite voll beherrschen“ müsste. Es sei darauf zu achten, dass
die Artikel nicht gegen Frankreich gerichtet würden, son­
dern „gegen das internationale jüdische Verbrechergesin­
del“. Bereits am selben Abend kam es in Kassel zu den ersten
bpk

...und viele Synagogen angezündet. Schaulustige beobachten den Brand antijüdischen Ausschreitungen, die sich am folgenden Tag
der Synagoge in Essen. in anderen hessischen Orten fortsetzten.

jetzt das Horst-Wessel-Lied.‘ Es wurde so die Synagoge dastehen und bekamen wäre, wärt ihr alle in den Flammen um­
gesungen, wie es jeder erwartet hatte. Wir dabei von hinten allerlei Fußtritte. gekommen!‘
mußten es zum zweitenmal singen [...]. Von der Synagoge ging es dann in das [...] Der Autobus wartete schon vor der
Dann rief man mich hinauf zum Almemor gegenüberliegende Hotel Central. [...] Tür und mit ihm eine ganze Anzahl
(Vorlesertisch) und gab mir eine Stelle Bezüglich unseres weiteren Schicksals gab ‚wütender Volksgenossen‘. Die Deportati­
aus ‚Mein Kampf‘ zu lesen. Eine Weigerung es dann ein großes Rätselraten. Was on nach Dachau war schon längst geplant,
hätte unter den damaligen Umständen man mit uns vorhatte, wußte niemand. nur wir Armen wußten es nicht. Im Lauf­
das Leben der Mitleidenden gefährdet. So Wir waren ja von der Außenwelt voll­ schritt mußten wir hinaus zum Autobus
sagte ich: Ich habe den Befehl erhalten, kommen abgeschnitten. Unsere alles an­ rennen, und wer nicht schnell genug rannte,
folgendes vorzulesen, und ich las leise ge­ dere als stillen Erwägungen wurden bekam einen Denkzettel. Am Bahnhof
nug. In der Tat so leise, daß der hinter dann jäh unterbrochen, als der Kantor der warteten wir auf den Sonderzug aus der
mir stehende SS-Mann mir mehrere Schlä­ Gemeinde, Herr Grünfeld, leichenblaß Freiburger Gegend. Er brachte die Juden
ge in den Nacken versetzte. Denjenigen, den Saal betrat und blutenden Herzens aus dem Oberland. In jedem Abteil saß ein
die nach mir Proben der feinen literari­ die Worte sagte: ‚Unser schönes Gottes­ Schutzmann. Aus seinem Mund kam kein
schen Nazi-Kochkunst mitteilen mußten, haus steht in Flammen‘. Nun wußten wir, Sterbenswort. Als der Zug hinter Karlsruhe
erging es nicht besser. Dann gab es eine wozu die Drahtleitung gelegt war. Der in Richtung Stuttgart fuhr, hörte man
Pause. Wir mußten in den Hof, damit wir brutalste der Hitlerbande kommentierte nur noch das grausige Wort Dachau.“
unsere Notdurft verrichteten. Wir durf­ die traurige Botschaft des Herrn Grün­
ten aber keineswegs das Klosett benutzen, feld, indem er noch den frivolen Satz hinzu­ Rita Thalmann, Emmanuel Feinermann, Die Kristallnacht,
sondern mußten mit dem Gesicht gegen fügte: ‚Wenn es auf mich angekommen Athenäum, Frankfurt/M. 1988, S. 103

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Bundesarchiv, Bild 183-86686-0008 78 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

In einigen Städten, wie hier in Baden-Baden, werden die zusammengetriebenen Menschen in aller Öffentlichkeit unter Bewachung von SS und
Polizei durch die Straßen getrieben – einer ungewissen Zukunft entgegen.

Am Nachmittag des 9. November starb Ernst vom Rath. der Sitzung im Reichsluftfahrtministerium mehr als 7500
Abends saß wie üblich die Parteispitze im Alten Rathaussaal verwüstete Geschäfte an. Die Zahl der Ermordeten lag in
in München zusammen, um den Jahrestag des Putschversu­ Wirklichkeit bei mindestens hundert Personen, nicht einge­
ches von 1923 zu feiern. Es ist nicht eindeutig geklärt, wann rechnet die zahlreichen jüdischen Toten in den anschließen­
Hitler die Nachricht vom Tode vom Raths erhielt. Er besprach den Wochen in den Konzentrationslagern.
sich kurz mit Goebbels und verließ anschließend den Saal, Die SS und die Gestapo waren an dem Pogrom nicht von
woraufhin Goebbels gegen zehn Uhr eine antisemitische vornherein beteiligt. Erst kurz vor Mitternacht sandte Gesta­
Hetzrede hielt. Die anwesenden Parteiführer verstanden po-Chef Heinrich Müller an sämtliche Staatspolizeidienst­
richtig, dass damit das Signal zum Losschlagen gegen die Ju­ stellen ein geheimes Fernschreiben, in dem es hieß, dass „in
den gegeben worden war, und telefonierten umgehend mit kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden
ihren regionalen Organisationen. Noch in derselben Nacht insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind
begannen die Schlägertrupps aus Partei und SA ihre Zerstö­ nicht zu stören. Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungs­
rungsaktionen. polizei sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige
Was sich in den kommenden Stunden überall in Deutsch­ Ausschreitungen unterbunden werden können.“ Zudem
land ereignete, übertraf an Brutalität, Vandalismus und sollten etwa 20-30 000, vor allem vermögende Juden festge­
Mordbereitschaft die bisherigen Pogrome bei weitem. Vor nommen werden. Heydrich bestätigte in einem Fernschrei­
aller Augen schlugen die Trupps Fensterscheiben ein, plün­ ben zwei Stunden später Müllers Befehl und wies sämtliche
derten Geschäfte, schlugen deren jüdische Besitzer zusam­ Gestapo- und SD-Stellen an, wohlhabende, männliche, nicht
men, drangen in Wohnungen von Juden ein, verwüsteten zu alte Juden zu verhaften und in die nächstgelegenen Kon­
die Einrichtung, misshandelten die Bewohner und schreck­ zentrationslager zu bringen.
ten selbst vor Mord nicht zurück. Auf offener Straße wurden Diese Verhaftungen gerieten in vielen Orten zu einem öf­
zahlreiche Menschen buchstäblich zu Tode geprügelt. Es gibt fentlichen Schauspiel von Demütigung und Misshandlun­
bis heute keine genauen Zahlen über das ganze Ausmaß der gen. In Saarbrücken mussten sich die festgenommenen jü­
Zerstörungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Körper­ dischen Männer zu einem Zug formieren, einer erhielt eine
verletzungen und Ermordungen in diesen Tagen. Heydrich Trommel um den Hals gehängt, ein zweiter Schlagbecken
selbst bezifferte die Schäden in einem Brief an Göring zwei in die Hand. Singend und schlagend mussten sie durch die
Tage später auf 815 zerstörte Geschäfte, 29 in Brand gesetz­ Straßen ziehen. Vor der Synagoge angekommen, wurden die
te oder sonst verwüstete Warenhäuser, 171 zertrümmerte Männer gezwungen, kniend religiöse Lieder zu singen und
Wohnhäuser, 191 angezündete Synagogen, von denen 76 zu tanzen. Auf dem Rückweg zum Bahnhof bespritzte man
vollständig vernichtet wurden. Ferner seien elf jüdische sie an diesem Novembermorgen mit dem Wasserstrahl des
Gemeindehäuser in Brand gesetzt, 36 Juden getötet, ebenso städtischen Sprengwagens, bis sie in ihren Schlafanzügen,
viele verletzt worden. Am 12. November gab Heydrich auf Nachthemden und Hosen völlig durchnässt waren. In klei-

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Verfolgung 79

neren Orten inszenierten die Parteigruppen den Abtrans­ Gewalt gegen die jüdischen Opfer als vielmehr die Zerstö­
port der verhafteten Juden als regelrechte Umzüge durch die rung von Geschäften, die im Zentrum der Kritik stand. Folgt
Stadt. Meistens begleitete eine Volksschar von Neugierigen man den zeitgenössischen Stimmungs- und Lageberichten,
den Zug, die den Marsch zum Bahnhof für die Opfer in einen so fand eine „Vergeltung“ für das Attentat auf vom Rath
Spießrutenlauf verwandelte. Als die verhafteten Frankfurter durchaus Zustimmung, wohingegen die Form dieser Vergel­
Juden zum Beispiel auf dem Südbahnhof eintrafen, empfing tungsaktion auf zum Teil starke Ablehnung stieß. Dement­
sie bereits eine johlende Menschenmenge, die sie mit Knüp­ sprechend wurde die „Sühneleistung“ als „gerechte Strafe“
peln und Stöcken verfolgte. Ganze Schulklassen wurden an angesehen. „Moralische Empfindungslosigkeit“ gegenüber
manchen Orten aufgeboten, um das Schauspiel mitzuerle­ dem Schicksal der Juden nannte der israelische Historiker
ben und die Opfer anzuspucken oder zu schlagen. David Bankier diese Haltung.
Bis heute sind die Heftigkeit und Brutalität des Novem­ Die Politik der forcierten Vertreibung wurde von Hitler
berpogroms nicht hinreichend erklärt. Den SA-Trupps ausdrücklich bekräftigt. Als oberster Grundsatz, so ließ Gö­
konnte zwar der Befehl erteilt werden, selbst mitten in der ring Anfang Dezember 1938 die Gauleiter, Oberpräsidenten
Nacht, Synagogen anzuzünden und Wohnungen zu zerstö­ und Reichsstatthalter wissen, habe nach Hitlers Weisung zu
ren. Aber eine derartige Zerstörungswut, wie sie während gelten: „An der Spitze aller unserer Überlegungen und Maß­
des Pogroms zutage trat, kann nicht befohlen und auch nahmen steht der Sinn, die Juden so rasch und so effektiv
nicht allein mit antisemitischem Hass erklärt werden, wie möglich ins Ausland abzuschieben, die Auswanderung
obwohl ohne ihn ein solcher Gewaltexzess kaum möglich mit allem Nachdruck zu forcieren, und hierbei all das weg­
gewesen wäre. Die Emotionen, die den Novemberpogrom zunehmen, was die Auswanderung hindert.“ Auf der Konfe­
beherrschten, haben ihren Ursprung sicher auch in der renz am 12. November im Reichsluftfahrtministerium hatte
gewalttätigen Aufladung des Jahres 1938 und insbeson­ Göring bereits die künftige Linie der nationalsozialistischen
dere den Spannungen, die Europa an den Rand des Krie­ Politik aufgezeigt: „Wenn das Deutsche Reich in irgendeiner
ges brachten. Die Gewalt des Pogroms zielte nicht mehr absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist
nur auf die Diskriminierung und Isolierung der jüdischen es selbstverständlich, dass auch wir in Deutschland in aller
Nachbarn, sondern auf deren Vertreibung und auf die Aus­ erster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung an
löschung der jüdischen Kultur in Deutschland. den Juden zu vollziehen.“
Die NS-Führung war von dieser Explosion der Gewalt offen­ Am 30. Januar 1939 hielt Hitler dann eine Rede vor dem
bar selbst überrascht und mühte sich, die Lage wieder unter Reichstag, in der er die europäischen Mächte aufforderte, für
Kontrolle zu bekommen. Noch am Morgen des 10. November eine „Lösung der Judenfrage“ zu sorgen, und endete mit der
gab das Propagandaministerium eine Presseanweisung he­ Drohung, falls es zum Krieg käme, werde das Ergebnis nicht
raus, dass Berichte über das Pogrom nicht groß aufgemacht die „Bolschewisierung der Erde“, sondern die „Vernichtung
und keine Bilder veröffentlicht werden sollten. Um 20 Uhr der jüdischen Rasse in Europa“ sein. Im März 1939 besetzte
übertrugen die Radiosender einen Aufruf, die Aktionen ein­ Deutschland unter Verletzung des Münchener Abkommens
zustellen, nachdem schon die Nachmittagszeitungen einen den restlichen Teil der Tschechischen Republik, errichte­
entsprechenden Artikel Goebbels’ veröffentlicht hatten. In te das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren und
einem Blitzfernschreiben wies Heydrich die Gestapostellen führte sofort alle antijüdischen Verordnungen ein, die im
an, in der Nacht mit der Ordnungspolizei Streifen zu organi­ Deutschen Reich galten. Adolf Eichmann wurde von der SS-
sieren, um weitere Aktionen zu verhindern. Allerdings soll­ Führung mit dem Auftrag nach Prag geschickt, „initiativ die
ten die Festnahmen von Juden ohne Einschränkung fortge­ Entfernung der Juden aus dem böhmisch-mährischen Raum
setzt werden. und die Erfassung ihres Vermögens zu betreiben“. Ein halbes
Hermann Göring machte zwei Tage später auf der Konfe­ Jahr später, im September 1939, überfiel die deutsche Wehr­
renz im Reichsluftfahrtministerium aus seinem Unmut über macht Polen. Im Schatten des Krieges nahm die „Lösung der
die Aktionen keinen Hehl. Dabei bereiteten ihm weniger die Judenfrage“ nunmehr die Form des systematischen Massen­
Morde und die brutale Gewalt an Juden Sorgen als vielmehr mords an.
die Zerstörung von Sachwerten. Er habe diese Demonstratio­
nen satt, sagte er: „Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200
Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“
Als „Sühneleistung“ legte Göring in einer Verordnung vom
selben Tag den deutschen Juden eine Summe von einer Milli­
arde Reichsmark auf. Zudem hatten die jüdischen Gemeinden
alle Schäden zu bezahlen und ihre Versicherungsansprüche
an den Staat abzutreten, was insgesamt auf eine umfassende
Enteignung der jüdischen Bevölkerung hinauslief. Heydrich
berichtete auf der Konferenz, dass es der neu gegründeten
Zentralstelle für jüdische Auswanderung unter Eichmann
in Wien gelungen sei, 50 000 Juden „herauszubringen“, und
erhielt daraufhin von Göring die Genehmigung, eine ähnli­
che Zentrale auch für das Deutsche Reich zu errichten. „Bei
allem Herausnehmen des Juden aus dem Wirtschaftsleben“,
so Heydrich, „bleibt das Grundproblem letzten Endes doch
immer, daß der Jude aus Deutschland herauskommt.“
Ohne Zweifel hat eine Mehrheit der deutschen Bevölke­
rung den Pogrom nicht gebilligt. Aber es war weniger die

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


80 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Literaturhinweise

Überblicksdarstellungen Rexin, Manfred: Geschichte zum Hören: Regime unter dem Hakenkreuz.
CD-ROM, Bonn
Bauer, Kurt: Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall.
Wien, Köln, Weimar 2008, 616 S. Politik, Staat und Gesellschaft, Aufstieg und Fall der NS-Diktatur: In 25
Kapiteln schildert die Radiodokumentation die Geschichte des nationalso­
Faktenreiche, anschauliche Geschichte des Nationalsozialismus. Den in­
zialistischen Deutschlands.
haltlichen Leitfaden, an dem der Autor seine Gesamtdarstellung entwi­
ckelt, stellen die Begriffe des Nationalismus, des Antisemitismus und des Süß, Dietmar / Süß, Winfried (Hg.): Das „Dritte Reich“. Eine Einführung,
„volksgemeinschaftlichen ‚sozialen Appells‘“ dar. München 2008, 400 S.

Benz, Wolfgang: Geschichte des Dritten Reiches. München 2000, 288 S. Die 16 Beiträge dieses Bandes widmen sich vier Aspekten der NS-Diktatur:
(bpb-Schriftenreihe Band 377) Institutionen des NS-Staates; Gesellschaft, Alltag und Propaganda; Besat­
zung und Vernichtungspolitik; Nachgeschichte des „Dritten Reiches“ und
Übersicht über die wesentlichen Ereignisse und Zusammenhänge des NS:
Aufarbeitung.
den Weg zur Macht, die Repression im Innern, den Verlauf des Krieges, die
Verfolgung und Vernichtung der Juden, den Alltag in der Diktatur und die Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherr­
Niederlage im Mai 1945 sowie den Widerstand gegen Hitler. schaft, Verbrechen. 1919-1945, München 2009, 315 S.
Wehler analysiert den NS als eine „politische Religion“, deren Erfolg ohne
Benz, Wolfgang (Hg.): Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre
den Führerkult um den Diktator nicht zu erklären wäre, und diskutiert den
Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009, 218 S.
Siegeszug des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund eines wachsen­
Die neun Beiträge des Bandes informieren über die NSDAP, ihre Gliederun­ den radikalen Nationalismus im Gefolge des Ersten Weltkriegs.
gen und angeschlossenen Verbände, über die Funktionseliten der NSDAP
vom Blockwart bis zu den Gauleitern, über die Mitgliederentwicklung, die Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus. Göttingen 2008,
Öffnung der Partei und die Mitgliedersperren sowie über die sogenannten 219 S.
Märzgefallenen. Knappe, stringente Überblicksdarstellung, vor allem für Studienanfänger.
Neben den einschlägigen Kernthemen – Machtübernahme, Kriegsverlauf,
Evans, Richard J.: Das Dritte Reich.
Verfolgung und Vernichtung, Ideologie und Repression – werden auch
Bd. 1: Aufstieg, München 2004, 752 S.
neuere Ergebnisse der Forschung besprochen.
Bd. 2: Diktatur, München 2006, 1084 S.
Bd. 3: Krieg, München 2009, 1152 S.
Umfassendes, anschauliches und materialreiches Werk des bekannten Monographien und Sammelbände
britischen Historikers, das für ein breites Lesepublikum geschrieben ist. Aly, Götz: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und
Friedländer, Saul: Das Dritte Reich und die Juden. Rassenhass, Frankfurt/Main 2012, 352 S. (bpb-Schriftenreihe Band 1199)
Band 1: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939, München 1998, 458 S. Wie konnte es zu dem Massenmord an den deutschen und europäischen
Band 2: Die Jahre der Vernichtung 1939-1945, München 2006, 869 S. Juden, geplant und begangen von den Deutschen, kommen? Aly verortet
(Gesamtausgabe: bpb-Schriftenreihe Band 565) die Motive in einer von Sozialneid und Angst bestimmten antijüdischen
Eindringlich geschriebene zweibändige Studie über den Antisemitismus. Haltung vieler Deutscher seit dem 19. Jahrhundert.
Friedländer entwirft dabei den zentralen Begriff des „Erlösungsantisemi­ Bajohr, Frank / Wildt, Michael (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen
tismus“, der die fanatische Ideologie der Nationalsozialisten gleichsam als zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt/Main 2009, 240 S.
zerstörerische Welterklärung und Heilslehre entschlüsselt.
Die Aufsätze in diesem Band untersuchen die Mobilisierungskräfte des
Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler, 28. Aufl., Frankfurt/M.1981, Nationalsozialismus und die gesellschaftliche Zustimmung, auf die sich
192 S. das NS-Regime stützen konnte.
„1978 veröffentlichte Sebastian Haffner seine ‚Anmerkungen zu Hitler‘: Ein Broszat, Martin: Der Staat Hitlers: Grundlegung und Entwicklung seiner
Essay, der nicht Biografie sein und trotzdem erklären wollte, warum ein inneren Verfassung, Wiesbaden 2007, 474 S.
ganzes Volk dem Diktator auf den Leim gehen konnte.“ Michael Kuhlmann,
In diesem Werk wird der Dualismus von Staat und Partei, von Führerabso­
Deutschlandfunk
lutismus und der Polykratie rivalisierender Machtträger, von Regierungs­
Kershaw, Ian: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen zentralismus und Parteipartikularismus umfassend dargestellt.
im Überblick, 4,. überarb. und erw. Aufl., Hamburg 2009, 416 S.
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb: Reihe Themen und Materi­
Standardwerk, erstmals 1985 erschienen, mit einer Einführung in Kernthe­ alien: Die inszenierte Empörung – Der 9. November 1938, Bonn 2010 (Als
men der Erforschung des Nationalsozialismus: repressive Innen- und ex­ Download verfügbar unter www.bpb.de/shop); Hitler und die Deutschen,
pansionistische Außenpolitik, Judenvernichtung, Wirtschaftspolitik und Bonn 2010, 48 S.
Bedeutung der Person Adolf Hitlers für das Funktionieren des Staates.
Campbell Bartoletti, Susan: Jugend im Nationalsozialismus. Zwischen Fas­
Pohl, Dieter: Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit: 1933-1945, zination und Widerstand, 2. überarb. Aufl., Berlin 2007, 255 S. (bpb-Schrif­
3., bibliogr. aktual. Aufl., Darmstadt 2011, 175 S. tenreihe Band 638)
Einführende Darstellung und Analyse der Verfolgungsinstitutionen des
Hitlerjugend, Weiße Rose, Swingjugend: Was bedeutete es, zur NS-Zeit
NS und der sie leitenden Ungleichheitsideologien. Neben SS und Polizei­
jung zu sein? Anhand von Zeitzeugenaussagen, Tagebüchern und Briefen
apparat wird auch die Beteiligung der Wehrmacht an der systematischen
zeichnet dieses Buch ein Bild der Jugend zwischen 1933 und 1945.
Verfolgung von Gegnern und Minderheiten diskutiert. Eine knappe Über­
sicht zeigt zudem, wie sich befreundete und verbündete Regime an der Corni, Gustavo / Giess, Horst: Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirt­
Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten beteiligten. schaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, 644 S.

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


81

Untersuchung zur Organisation der Landwirtschaft und der Ernährungs­ Kershaw, Ian: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen
politik im Kontext der Wirtschaftspolitik des Dritten Reiches. im Überblick, 4. Aufl., Hamburg 2009, 414 S.
Frietsch, Elke / Herkommer, Christina (Hg.): Nationalsozialismus und Ge­ Didaktisch aufgebauter und im Urteil ausgewogener Überblick über die
schlecht, Bielefeld 2009, 454 S. wichtigsten Themen und Kontroversen der NS-Forschung.

Tagungsband zu Konzeptionen von Geschlecht im Nationalsozialismus Kompisch, Kathrin: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus. Köln, Wei­
und mit Projektionen der historischen Forschung auf die Geschlechterpo­ mar, Wien 2008, 277 S.
litik im „Dritten Reich“. Das Bild des NS-Regimes ist geprägt von männlichen Tätern und Haupt­
Gailus, Manfred / Nolzen, Armin (Hg.): Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. verantwortlichen, die Rolle von Frauen wird meist nur als die von Opfern
Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus, Göttingen 2011, gesehen. Kompisch zeigt auf, dass Frauen auch als Täterinnen auf ver­
325 S. schiedenen Ebenen und in verschiedenen Institutionen auftraten.

Die Religionszugehörigkeit spielte im Deutschland der 1930er- und 1940er­ Longerich, Peter: Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München
Jahre nach wie vor eine wichtige Rolle. Dieser Band untersucht, wie Katho­ 1989, 285 S.
liken und Protestanten in unterschiedlicher Weise auf den Nationalsozia­ Moderne Darstellung der Sozial- und Organisationsstruktur der SA sowie
lismus reagierten. ihrer Stellung innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung.
Graml, Hermann: Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfol­ Pehle, Walter H. (Hg.): Der Judenpogrom 1938. Von der „Reichskristallnacht“
gung im Dritten Reich, 3. Aufl., München 1998, 304 S. zum Völkermord. Frankfurt/Main 1988, 246 S.
Überblicksdarstellung über die Voraussetzungen und die Etappen der na­ Fachaufsätze und Zeitzeugenberichte zur Vorgeschichte und Planung der
tionalsozialistischen Judenverfolgung von der Aufhebung der jüdischen Reichspogromnacht vom 9. November 1938. Thematisiert wird auch die
Emanzipation bis zum Genozid. anschließende „Arisierung“ jüdischer Betriebe.
Gross, Raphael: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frank- Reichel, Peter: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Ge­
furt/Main 2010, 278 S. (bpb-Schriftenreihe Band 1103) walt des deutschen Faschismus, Hamburg 2006, 560 S.
Inwieweit wurden im NS biologistische Begriffe mit moralischen Kate­ Der Autor untersucht die Doppelgesichtigkeit des nationalsozialistischen
gorien verbunden? Der Autor untersucht die Funktion der NS-Moral und Herrschaftssystems, das Macht und Gewalt mit ästhetischer Verführung
ihr Fortwirken in der deutschen Nachkriegsgesellschaft bis in die Gegen­ verband.
wart.
Siemens, Daniel: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialis­
Havemann, Nils: Fußball unterm Hakenkreuz. Frankfurt/Main 2005, 473 S. ten, München 2009, 352 S.
(bpb-Schriftenreihe Band 519)
Daniel Siemens analysiert anhand bislang unberücksichtigter Quellen
Die Studie befasst sich auf der Basis historischer Quellen mit der Rolle des die Hintergründe der Ermordung Horst Wessels und die Verklärung sei­
Deutschen Fußballbundes (DFB) im Nationalsozialismus und mit der Ver­ ner Person, die 1945 überdauerte, und untersucht die Rachemorde, die von
einnahmung des Sports durch die Machthaber. SA, Gestapo und Justiz nach 1933 insbesondere an Kommunisten verübt
wurden.
Heidenreich, Bernd / Neitzel, Sönke (Hg.): Medien im Nationalsozialismus,
Paderborn 2010, 375 S. Steinbacher, Sybille (Hg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksge­
meinschaft, Göttingen 2007, 238 S.
Kommunikationswissenschaftler, Journalisten und Historiker geben auf
Grundlage des neuesten Forschungsstandes einen Überblick über die Rol­ Dieser Band bietet einen aktuellen Überblick über die verschiedenen Rol­
le des Hörfunks, der Presse und des Films in Hitlers Staat. len, die Frauen im Nationalsozialismus spielten und zeigt auch an biogra­
phischen Beispielen die Beteiligung von Frauen an Herrschaft und Verbre­
Herbst, Ludolf: Das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Die chen des NS-Regimes.
Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, 5. Aufl., Frankfurt/M.
2005, 495 S. Strohm, Christoph: Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011, 128 S.
(bpb-Schriftenreihe Band 1205)
Darstellung, die den stufenweisen Prozess der Entfaltung der NS-Herr­
schaft bzw. der Entfesselung der Kriegs- und Gewaltpolitik in einem Kompakter Überblick über die Rolle der Kirchen im Dritten Reich.
chronologischen und systematischen Aufriss beschreibt und dabei die Thamer, Hans-Ulrich / Erpel, Simone (Hg): Hitler und die Deutschen: Volks­
Verflechtung von Innen- und Außenpolitik, von Gesellschafts- und Rüs­ gemeinschaft und Verbrechen, Dresden 2010, 328 S.
tungs- sowie von Rassen- und Eroberungspolitik analysiert.
Die Herrschaft des Nationalsozialismus bedeutete eine bis dahin kaum
Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich, 7., durchgeseh. Aufl., München 2009, gekannte Gewalt- und Vernichtungspolitik – warum aber fanden Hitler
488 S. und sein Regime dennoch fast bis zum Ende breite Zustimmung unter den
Standardwerk zur Geschichte des „Dritten Reiches“ auf dem aktuellen Deutschen? Ausgehend von einer Ausstellung im Deutschen Historischen
Stand der Forschung, übersichtlich aufbereitet und durch eine umfassen­ Museum versucht dieser Themenband, Antworten zu geben.
de Bibliografie zugänglich gemacht.
Tooze, Adam: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im
Kater, Michael H.: Hitler-Jugend, Darmstadt 2005, 288 S. Nationalsozialismus, München 2008, 926 S. (bpb-Schriftenreihe Band 663)
Profunder Überblick über die Organisation der Hitler-Jugend und des Umfassende, auf dem neueste Forschungsstand geschriebene und gut les­
BDM. Er informiert über die vielfältigen Bestrebungen des NS-Regimes, die bare Darstellung, wie das NS-Regime die Wirtschaft von 1933 an auf die
Jugend für sich zu gewinnen, berichtet aber auch von den Jugendlichen, Vorbereitung zum Krieg umstellte und mit der Ausbeutung der besetzten
die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Länder die eigene Ökonomie finanzierte.

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


82 Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft

Treß, Werner (Hg.): Verbrannte Bücher 1933, Bonn 2009, 638 S. (bpb-Schrif­ Kershaw, Ian: Hitler.
tenreihe Band 1003) Band 1: 1889-1936, Stuttgart 1998, 972 S.
Unter der Parole „Aktion wider den undeutschen Geist“ verbrannten natio­ Band 2: 1936-1945, Stuttgart 2000, 1343 S.
nalsozialistische Studenten am 10. Mai 1933 die Bücher linker, jüdischer Profunde und detaillierte Darstellung des Aufstiegs Adolf Hitlers vom ge­
oder liberaler Autoren in deutschen Universitätsstädten. Dieser Band stellt scheiterten Künstler, Gefreiten im Ersten Weltkrieg bis zum Diktator, aber
einige der verfolgten Autoren und ihre zensierten Texte vor. auch eine Analyse der politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse in
Deutschland, die seinen Weg zur Macht ermöglichten.
Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, Mün­
chen 2003, 1173 S. (bpb-Schriftenreihe Band 776), hier: Teil 4,9: Charismati­ Klemperer, Victor: „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher
sche Herrschaft und deutsche Gesellschaft im „Dritten Reich“, S. 600-937 1933-1945, Berlin 2006, 8 Bände, 1803 S.
„Beobachten, notieren, studieren“ – das war die ständige Forderung, die
„Zeitalter der Extreme“ hat Wehler diese Spanne deutscher Geschichte ge­
Victor Klemperer an sich selbst stellte. Seine minutiösen Notizen über den
nannt. Analysiert werden Wirtschaft, Sozialstruktur, politische Herrschaft Alltag der Judenverfolgung mitten in einer deutschen Großstadt lösten
und Kultur als Prägekräfte der historischen Entwicklung. die selbstgesetzte Chronistenpflicht des zwangsemeritierten jüdischen
Wildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung, Hamburg Professors ein, den die Treue seiner nichtjüdischen Ehefrau Eva vor der De­
2007, 411 S. portation bewahrte.

Das Thema „Volksgemeinschaft“ gewinnt in der Erforschung des NS an Longerich, Peter: Joseph Goebbels. Biografie, 2. Aufl., München 2010, 912 S.
Bedeutung. Wildt analysiert das nationalsozialistische Gesellschaftsideal Mit dieser Biografie erzählt Peter Longerich die politische wie die private
als Alltagspraxis des rassistischen und antisemitischen Ausschlusses. Ent­ Lebensgeschichte von Hitlers Chefpropagandisten und wirft zugleich ein
scheidend waren nicht allein diskriminierende Gesetze und Befehle, son­ neues Licht auf Öffentlichkeit und Herrschaft im Nationalsozialismus.
dern vor allem eine langfristige Transformation der politischen Kultur.
Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Studienausgabe. Das Füh­
rungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, 964 S.
Biografien
Michael Wildt hat anhand umfangreicher neuer Quellen die Konturen des
Cohn, Willy: Kein Recht – nirgends. Breslauer Tagebücher 1933-1941. Eine Reichsicherheitshauptamtes als „Institution neuen Typs“ herausgearbei­
Auswahl, Köln, Weimar, Wien 2008, 388 S. (bpb-Schriftenreihe Band 768) tet, die sich flexibel veränderten Situationen anzupassen verstand.
Norbert Conrads hat Auszüge aus den erhaltenen Tagebüchern des His­
torikers Willy Cohn zusammengestellt, die einen beklemmenden Einblick
in die letzten Jahre der bedeutenden jüdischen Gemeinde zu Breslau ge­
währen.

Fest, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie, Berlin 1998, 1232 S.


Internetadressen
Eine methodisch und interpretatorisch richtungsweisende politische Bio­
grafie, die zugleich eine politische Geschichte des NS bietet.
http://www.beitraege-ns.de/
Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933. Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus
Gekürzte Lesung. Gelesen von Walter Kreye, 4 Audio-CDs, 300 Minuten,
http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-national­
München 2007
sozialismus/
Die Aufzeichnungen entstammen dem unmittelbar Erlebten und gelten Dossier der bpb zum Nationalsozialismus
als bedeutendster Fund in Haffners Nachlass.
http://www.bpb.de/lernen/themen-im-unterricht/nationalsozialismus
Herbert, Ulrich: Best. Biografische Studien über Radikalismus, Weltan­ Angebote der bpb zur Thematisierung des Nationalsozialismus, Holo­
schauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 2011, 704 Seiten caust und des Zweiten Weltkriegs im Unterricht
Werner Best war der führende Ideologe und Organisator der Gestapo.
http://www.dhm.de/lemo/home.html
Spannende und aufwändig recherchierte Biografie über einen Mann, der
Deutsches Historisches Museum/Lebendiges Museum
ebenso als radikaler Ideologe auftrat wie als sachlicher Bürokrat. In dieser
Kombination lag einer der Gründe für die Effizienz und weltanschauliche http://www.werkstatt-der-erinnerung.de/
Radikalität der „Schreibtischtäter“ des NS-Regimes. Werkstatt der Erinnerung

Informationen zur politischen Bildung Nr. 314/2012


83

Der Autor

Michael Wildt ist gelernter Buchhändler und arbeitete von 1976 bis 1979 mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-
im Rowohlt-Verlag. Anschließend studierte er von 1979 bis 1985 Geschich- Universität zu Berlin.
te, Soziologie, Kulturwissenschaften und Theologie an der Universität
Hamburg. 1991 schloss er seine Promotion zum Thema „Auf dem Weg in Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus, Holocaust, Ge-
die ‚Konsumgesellschaft‘. Studien über Konsum und Essen in Westdeutsch- waltgeschichte des 20. Jahrhunderts und soziale wie politische Ordnungs-
land 1949-1963“ ab und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbei- vorstellungen in der Moderne.
ter in der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Kontakt: michael.wildt@geschichte.hu-berlin.de
Hamburg. Von 1997 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitar-
beiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und habilitierte 2001 Peter Krumeich, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Wildt, hat an der in-
mit einer Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptam- haltlichen Entwicklung des Heftes mitgewirkt und insbesondere in Abstim-
tes. Seit 2009 ist er Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mung mit der Redaktion die Bildrecherche für dieses Heft übernommen.

Impressum

Herausgeberin:
Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Adenauerallee 86, 53113 Bonn,
Fax-Nr.: 02 28/99 515-309, Internetadresse: www.bpb.de/izpb,
E-Mail: info@bpb.de

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Christine Hesse (verantwortlich/bpb), Jutta Klaeren, Cornelius Strobel Redaktionsschluss dieser Ausgabe:
(Volontär) Oktober 2012
Gutachten und redaktionelle Mitarbeit: Text und Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Der Text kann in Schulen
Christine Hesse, Bonn; Prof. Dr. Alfons Kenkmann, Professur für Geschichts- zu Unterrichtszwecken vergütungsfrei vervielfältigt werden.
didaktik am Historischen Seminar der Universität Leipzig; Jutta Klaeren,
Bonn; Cornelius Strobel, Bonn; Daniel Teppe, Magdeburg; Prof. Dr. Hans-
Ulrich Thamer, Historisches Seminar der Westfälischen Wilhelms-Univer-
sität Münster
Anforderungen
Titelbild:
Arbeiter der Blohm-und-Voß-Werft, Hamburg, beim Stapellauf des bitte schriftlich an
Schulschiffes „Horst Wessel“ 1936 – Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl Publikationsversand der Bundeszentrale
für politische Bildung/bpb
Umschlag-Rückseite: Postfach 501055, 18155 Rostock
KonzeptQuartier GmbH, Fürth Fax: 03 82 04/66-273 oder E-Mail: bestellungen@shop.bpb.de
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schen 8.00 Uhr und 16.00 Uhr und freitags zwischen 8.00 Uhr und 15.00
Erscheinungsweise: Uhr zur Verfügung.
vierteljährlich
ISSN 0046-9408, Auflage dieser Ausgabe: 50 000

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Wo war die Berliner Mauer?

„Die Berliner Mauer“ als Smartphone-Version mit


interaktiver Karte und umfangreichen multimedialen
Inhalten – kostenlos
Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb,
das Zentrum für Zeithistorische Forschung
Potsdam e. V./ZZF und Deutschlandradio haben
in einer Smartphone-App (iPhone und Android)
die bisher umfangreichste multimediale Darstellung
zur Geschichte von Mauerbau und Mauerfall
entwickelt.

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