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Robert M.

Kerr

Zur Mohammeddämmerung

Homer und Mohammed als fiktive Gestalten


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In seinem Beitrag „Zur mohammedanischen Frage. Aus einem Leben: Dichtung und Wahr-
heit“ in dem bald erscheinenden Sammelband Markus Groß/Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Ent-
stehung einer Weltreligion IV, erörtert R.M. Kerr die Parallelitäten zwischen Homer und Mo-
hammed. Beide haben nicht gelebt und wurden zu den fiktiven Autoren von Schriften, die ei-
ne große Wirkgeschichte haben, Homer in der griechisch-hellenistischen, Mohammed in der
arabischen Welt. In beiden Fällen liefen ähnliche Prozesse ab, ohne gegenseitige Beeinflus-
sung. Sie zeigen Gesetzmäßigkeiten auf, die manches, was geschehen ist, verstehbar machen
können. Im Folgenden der Schlussabschnitt des Beitrags.

Im Vorhergehenden soll ersichtlich geworden sein, dass die Gestalten Homers und Moham-
meds eine vergleichbare Entstehungsgeschichte durchliefen. Eine kritische Durchsicht der
Überlieferungen erweist die historische Unmöglichkeit beider Traditionen, aber zugleich auch
die Gründe für ihre literarische Erfindung. Die strukturelle Analogie in beiden Fällen geht
eindeutig aus der Ermangelung einer langen, ununterbrochenen Überlieferung hervor, zu-
dem macht die unbestimmbare Qualität der biographischen Daten deren Realität höchst un-
wahrscheinlich. Die Ausgestaltung sowohl von Homer wie auch von Mohammed zu „histori-
schen Gestalten“ setzt unbezweifelbar die ihnen zugeschriebenen Werke, deren kanonischen
Wortlautfestlegung und öffentlichen Aufführung voraus; scilicet sind sie sekundär und auf
Grund dieser Werke erzeugt. Erst beim Erlangen ihrer offiziellen Geltung wurde es nötig, den
homerischen Epen sowie dem Koran Urheber zuzuschreiben.
Ilias, Odyssee und Koran gemeinsam ist der lange Entstehungsverlauf. Die Erstgenannten
entstammen der indoeuropäischen epischen Tradition, der Koran hingegen der biblischen
Fortschreibung (die wiederum auf altorientalischen Vorläufern fußt). Die bis zu einem be-
stimmten Zeitpunkt selbstständig, z.T. in verschiedenen Regionen überlieferten Partien wur-
den dann zum Schriftgut aneinandergefügt – z.T. sind die Spuren der Zusammensetzung noch
ersichtlich: z.B. im 9. Buch der Ilias, als (167–170) Nestor drei Männer unter der Führung
des Phoinix mitsamt zwei Herolden erwählt, um Agamemnons Angebot, das zudem im Verlau-
fe der Erzählung vergessen wurde, dem Achilles zu unterbreiten, aber dann (182–198) uner-
klärlicherweise nur zwei, und ohne Erläuterung von Odysseus geführt, ankommen; oder im
Koran etwa durch den exegetischen Rückgriff auf die Abrogation (nasḫ) anhand der postu-
lierten „Anlässe der Offenbarung“ (Asbāb an-nuzūl). Auch bei den Koranforschern gibt es
Analytiker und Unitarier.
Diese Werke gelten jeweils als die ersten Bücher des alten Griechenlands bzw. Arabiens, ent-
standen kurz nach der Übernahme der verwendeten Schrift und wurden als Anfang der jewei-
ligen Geisteskultur verstanden. Erst nach einem Jahrhundert oder mehr schriftlicher Über-
lieferung - der Textgestalt wegen scheidet die mündliche Tradierung durchweg aus - wurden
sie durch staatliche Anordnung kanonisch fixiert. Die homerischen Epen im Zeitalter des PI-
SISTRATOS (6. JH. V. CHR.), um während der vier Tage der großen Panathenäen vorgetragen zu
werden; der Koran unter dem umayyadischen Kalifen ‘ABD AL-MALĪK (LETZTES DRITTEL 7. JH. N.
CHR.), der den Willen und die Möglichkeiten hierzu hatte, als liturgische Parallelerscheinung
für den aufkommenden, auf der Grundlage einheimischer Ausprägungen des Christentums
formierten, Staatskult des neuen arabischen Reiches. In beiden Fällen war der Auslöser des
Kanonisierungsvorganges ein religiös-politisch motivierter Staatsbeschluss.
Erst in diesem Stadium wurden die bis dahin anonym tradierten Texte, die zudem inhaltlich
keine Angaben zur Autorschaft bieten, jeweils einem Urheber zugeschrieben. Homer ent-
sprang angeblich der Gilde der diese Epen vortragenden Rhapsoden, der sog. Homeriden, und
galt als ihr vermeintlicher Urvater. Die Umdeutung des arabischen messianischen Prädikats
Mohammed nach dem Ausbleiben des erwarteten Weltunterganges zur Kulmination des Pro-
phetentums verschaffte dem Koran einen orphischen Urerzähler. Ohne Homeriden kein Ho-
mer, ohne „Islam“ kein Mohammed. In einem Abstand von Jahrhunderten nach dem postu-
lierten Lebenszeitalter Mohammeds entstanden oft künstlich anmutende und widersprüchli-
che, nach hagiographischen Prinzipien erstellte biographische Überlieferungen zu diesen
vermenschlichten Begrifflichkeiten. So erwachten, sibyllenhaft anhand mythologischer Struk-
turen, überlebensgroße Idealwesen. Teilweise wurden autobiographische Einzelheiten in dem
jetzt in ihrem Namen weitertradierten Schriftgut heraus- bzw. hineingelesen. So sollten so-
wohl Homer wie auch Mohammed von sagenhaften Figuren der grauen Vorzeit abstammen,
bei beiden spielt der Topos von formenden Reisen als Vorbildung in jungen Jahren eine Rolle,
und beiden soll eine göttliche Offenbarung zuteil geworden sein, deren Echtheit sich dann
durch ihre Schriftlosigkeit (Homer war blind, Mohammed Analphabet) bestätigte. Ebenfalls
gemeinsam ist deren Benennung mit Bezeichnungen, die keine Namen im eigentlichen Sinn
und die vor ihrer Konstruktion nicht gebräuchlich waren; hinzu kommt die Undeutlichkeit
bezüglich ihrer Geburtsnamen und das Fehlen männlicher Erben. Das zu ihren Personen an-
fangs nur esoterisch Verlautbarte stellt eine Genealogie, eine Glaubenslogik, und keine Histo-
rie dar. Dessenthalben, weil Mohammed und Homer Koran bzw. Ilias und Odyssee vorausset-
zen und erst im Nachhinein heilsgeschichtlich ausgedeutet wurden, haben sie keine histori-
sche Wirklichkeit. Ihre Geschichtlichkeit erübrigt sich daher von selber. Die Lebensbeschrei-
bungen Homers wie auch Mohammeds können nur als Mythen8 verstanden werden.
Die Unwirklichkeit von Mohammed und Homer steht den nachträglich in ihren Namen über-
lieferten Werken gegenüber. Koran, Ilias und Odyssee malen ein goldenes Zeitalter aus. Je-
doch für welche Zeit und von welcher Zeit wird jeweils erzählt? In der Antike datierte man
gemeinhin die Zerstörung Trojas und die Irrfahrten des Odysseus in die ausgehende Bronze-
zeit des 13.-12. Jh. v.Chr., für die Islamentstehung wird der Anfang des 7. Jh. n.Chr. be-
stimmt. Präterpropter passen die Erzählkontexte zu diesen Daten. Gleichwohl macht, formge-
schichtlich gesehen, das Fehlen jeglichen historiographischen Ansatzes in diesen Werken
deutlich, dass diese Zeitrahmen alleinig als literarischer Hintergrund figurieren, wie z.B. das
napoleonische Zeitalter in TOLSTOIS Krieg und Frieden. Die Frage „Tu nihil in magno doctus
reprehendis Homero?“ kann bei Dichtung, ob Hexameter oder Saǧʿ, nicht auf die Chro-
nistenpflicht bezogen werden. Ob nun der uneigentliche Gebrauch (z.B. Il.III,29) des Streit-
wagens in der Ilias als Truppentransporter bzw. als Feldambulanz und nicht als Kampfwagen
- „so schnell wie der Blitz, dem Feinde entgegen“ - wie in mykenischen Zeiten zu erwarten
wäre oder Kreuzigungen schon im pharaonischen Ägypten stattfanden (wala-uṣallibannakum
20,71; vgl. auch 12,41), Anachronismen darzustellen ist folgenlos. Das Zeitalter des bibli-
schen Joseph, wie das Homers oder Mohammeds, ist ein literarischer und kein geschichtli-
cher Begriff. Der Kunst Wirkmächtigkeit sind Angelegenheiten wie die Verwendung des
„schöngeschmiedeten Eisens“ in der Ilias fremd, ebenso ob es im 7. Jh. n.Chr. schon eiserne
Hufbeschläge (fal-mūriyāti qadḥan 100,1-2) bzw. ob Odysseus gar bis nach Schottland9 segelte.
„Gegenüber Poesie ist das alles Schnickschnack, ist alle Historie Schnickschnack.“ 10
Diese kontextsensitive Zuordnung solcher Werke als erzählende literarische Kunstwerke re-
präsentiert ihre Befreiung vom Anspruch des moralischen Absolutismus. Die homerischen
Epen und der Koran, allesamt der Tradition nach vom Göttlichen offenbarte Werke -- Ἔπος als
Wort Gottes11 im Sinne des hebräischen (‫ דבר)־אלהים‬, Vorläufer zum platonischen Λόγος (> u.a.
‫ פתגם‬und ‫ – )ﻛﻠﻤ ﺔ‬waren von Anfang an nebelverhangen und legendenumwoben, und gerade in

8
„The essence of a myth is not that everyone knows it but that it is supposed to be known and is worthy of being
known by all“ – P. VEYNE, Did the Greeks believe in their myths?, Chicago, 1988, 15.
9
Vgl. H. STEUERWALD, Weit war sein Weg nach Ithaka. Neue Forschungsergebnisse beweisen: Odysseus kam bis
nach Schottland, Hamburg, 1978.
10
U. VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Die Ilias und Homer, Berlin, 1916, 20.
11
Z.B. Od.XII.266, HDT.I.13. Der griech. Begriff ist
verwandt mit dem Sanskrit वचस् /vácas/, u.a. zur An-
gabe eines Orakelspruches oder Schicksalsbestim-
mung verwandt.
bzw. nur wegen dieser Unfassbarkeit konnten sie überhaupt undefinierbar als unnachahm-
lich und daher ‚klassisch‘ empfunden und zur archetypischen Kulturgrundlage verklärt wer-
den. Hier aber endet die strukturanaloge Betrachtung. Mit Trojas Zerstörung fing für die
Griechen ihre Geschichte an. Man war sich dessen bewusst, dass was vorher war, nicht mehr
ist und sein wird. Da der Abstand zu Ilium, etiam periere ruinæ, unüberwindbar war, konnte
Historizität höchstens eine Abstraktion sein. Die Fremdheit und Unheimlichkeit der Epen,
die Eigenartigkeit der Sprache sowie das Handeln der Akteure, trug sogar schon im Zeitalter
der Pisistratiden (was übrigens auch für den Koran während der Umayyaden- Herrschaft
gilt) zu ihrer empfundenen Klassizität bei. Einmal kanonisiert, entschlüpften sie aber der al-
leinigen Verfügung ihrer homeridischen Esoteriker und wurden, nicht nur als identitätsstif-
tende Werke, sondern auch als Vermittler göttlichen Wissens, zu kulturellem Gemeingut. In
diesem Kontext konnte eine bleibende Relevanz nur erzielt werden durch das Zugänglichma-
chen dieser Texte.
So entstanden bei Ilias und Odyssee prüfende Beurteilungen ihrer Aussagen, die Kritik also,
demnach ein Zugang zur Auslegung dieser für ‚heilig‘ erklärten Texte, die Exegese.12 Schon
Platon war von der potentiellen Gefahr unkritischer Lektüre solcher Texte jenseits des chro-
nologischen Abgrundes überzeugt: „Ferner die Fesselung der Hera13 durch ihren Sohn und
des Hephaistos Hinabwerfen durch seinen Vater, wie er seiner geschlagenen Mutter beistehen
will, und alle die Götterkämpfe,14 welche Homer gedichtet hat, dürfen nicht in den Staat (ein
Hauptwerk Platos über die ideale Konstruktion des Staates, Verf.) aufgenommen werden, mö-
gen sie nun einen andern geheimen Sinn [ὑπόνοια] haben oder nicht; denn das Kind vermag
nicht zu beurteilen, was einen solchen Sinn hat und was nicht; sondern die Vorstellungen,
die man in diesem Alter aufnimmt, werden gern fast unaustilgbar und unverrückbar“ [Staat,
378d]. Man war sich bewusst, dass die homerischen Akteure keine Vorbildfunktion für die
Nachwelt auszuüben vermochten, so wie Abraham und die Seinen, die alles, was Gott im mo-
saischen Gesetze verboten hatte (wie z.B. die Ausstoßung von Hagar und Ismael) taten, einer
anderen Welt angehörten. Und so ward der Dichter relativiert [Plato, a.a.O. 599c ff.]:
„… aber über die wichtigsten Gegenstände, worüber zu sprechen Homer sich unterfangen
hat, über Kriegsschlachten und Heeresführung, über Staatsverwaltung und Menschenbil-
dung, darüber müssen wir pflichtgemäß ihn durch Vorlegung folgender Fragen examinieren:
»Mein lieber Homer, wenn du denn in Bezug auf geistige Tüchtigkeit nicht etwa gar im dritten
Grade von der Wahrheit entfernt stehst, als ein Schattenbildfabrikant, wie wir den Nachah-
mer definiert haben, sondern nur im zweiten Grade und demnach imstande sein musstest,
praktisch zu erkennen, welche Lebenseinrichtungen die Menschen sowohl im Häuslichen wie
im Staatsleben besser oder schlechter machen, so gib uns Red’ und Antwort, welcher Staat
durch dich besser eingerichtet worden ist, ... und wie durch sonst viele andere es noch viele
große und kleine Staaten wurden? Welcher dagegen rühmt dich als guten Gesetzgeber und
seinen Heiland? So rühmen z.B. Italien und Sizilien Charondas, wir unseren Solon; wer aber
dich?« Wird er einen angeben können? Ich glaube nicht, sagte Glaukon; wenigstens wird kei-
ner angeführt, nicht einmal von den Homeriden. Nun, da wird wohl aus den Zeiten Homers
eines Krieges gedacht, der unter seinem Kommando oder auf seinen Rat glücklich geführt
wurde? Gar keiner! Nun, da werden denn von ihm, als einem praktischen Kopfe für das Le-
ben, viele geistreiche Erfindungen in Bezug auf Künste und andere bürgerliche Geschäfte be-
richtet, wie dies wiederum in dieser Beziehung von Thales aus Milet und von dem Skythen
Anacharsis geschieht? Keineswegs so etwas! Nun denn, wenn demnach Homer kein Held im
Kriegs- und Staatsleben war, so wird doch vielleicht von ihm erzählt, dass er im Privatleben
das Haupt einer geistigen Bildungsschule bei Lebzeiten für einige war, die ihm wegen seines
lehrreichen Umganges anhingen und dann an ihre Nachfolger eine gewisse homerische Le-
bensregel fortpflanzten, wie z.B. Pythagoras schon zu seiner eigenen Lebzeit aus diesem
Grunde einen ausgezeichneten Anhang hatte und auch jetzt noch seine Nachfolger durch ihre
pythagoreische Lebensregel, wie sie sie nennen, als ausgezeichnet unter den übrigen gelten?“

12
S. zum Ursprung des Begriffs R. PFEIFFER, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum
Ende des Hellenismus, München, 1978, 325.
13
Il.I.586-594.
14
Il.XX.1-74; XXI.385-513.
Gerade diese Mäßigung, die in Alexandrien die jüdische und später z.T. die christliche Bibele-
xegese beeinflusste, scheint den Mufassirūn und selbst vielen Islamologen immer noch fremd.
Der unstillbare Blutdurst der homerischen Welt beschäftigte auch NIETZSCHE. In „Homers
Wettkampf“ [KSA 1,784] fragte er sich: „Warum jauchzte die ganze griechische Welt bei den
Kampfbildern der Ilias? Ich fürchte, dass wir diese nicht ‚griechisch‘ genug verstehen, ja dass
wir schaudern würden, wenn wir sie einmal griechisch verstünden.“ Treffend bemerkt er:
„So haben die Griechen, die humansten Menschen der alten Zeit, einen Zug von Grausamkeit,
von tigerartiger Vernichtungslust an sich: ein Zug, der auch in dem ins Groteske vergrößern-
den Spiegelbilde des Hellenen, in Alexander dem Großen,[15] sehr sichtbar ist, der aber in ih-
rer ganzen Geschichte, ebenso wie in ihrer Mythologie uns, die wir mit dem weichlichen Be-
griff der modernen Humanität ihnen entgegenkommen, in Angst versetzen muss. Wenn Ale-
xander die Füße des tapferen Vertheidigers von Gaza, Batis, durchbohren lässt und seinen
Leib lebend an seinen Wagen bindet, um ihn unter dem Hohne seiner Soldaten herumzu-
schleifen: so ist dies die Ekel erregende Karikatur des Achilles, der den Leichnam des Hektor
nächtlich durch ein ähnliches Herumschleifen misshandelt; aber selbst dieser Zug hat für uns
etwas Beleidigendes und Grausen Einflößendes. Wir sehen hier in die Abgründe des Hasses.“
Einerseits fragte NIETZSCHE u.a. nach der Realität jener Welt, andererseits blamiert er sehr
wirkungsvoll die klassizistische Homervorliebe seiner Zeit. Die schreckliche verrohte Gewalt-
samkeit der homerischen Epen, durchaus vergleichbar mit dem Mordeifer der Landnahme im
Buche Josua, ist nicht zu leugnen. Ebenso wenig die erbarmungslose Grausamkeit des Ko-
rans, wie u.a. aus den sog. Schwertversen deutlich hervorgeht. Diese Gewaltverherrlichung
exegetisch zu verharmlosen, verleugnete den Charakter dieser Werke. Friedliche Verse wie
Il.XVIII.107 „Schwände doch jeglicher Zwiespalt unter Göttern und Menschen“ können das
Gesamtbild nicht entschärfen. Die Frage aber ist, ob literarische Archetypen dazu dienen,
Kriegslust anzustacheln oder zu rechtfertigen.
Die vergleichbare Entstehungsgeschichte der homerischen Epen und des Korans steht im
Kontrast zu ihrer Rezeptionsgeschichte. Ilias und Odyssee nahmen im antiken Griechenlande
denselben Stellenwert ein wie der Koran in der islamischen Welt, sie waren für die Hellenen
der griechische Koran. Die griechische Kulturentstehung wurde aber gerade durch die kriti-
sche Auseinandersetzung mit diesen Epen ermöglicht, die ihre Aussagen relativierte und kon-
textualisierte, ohne aber ihre Klassizität anzuzweifeln. Die Homeraufarbeitung von PLATON bis
NIETZSCHE sowie der Befreiungsschlag PARRYS haben ihn der Historizität entfesselt. Moham-
med seinerseits wartet geduldig, um als eine zu einer mythologischen Figur verkleidetes äs-
thetisches Gefühl entdeckt zu werden. Mit ARNO SCHMIDT gilt nach wie vor „Nur die Phanta-
sielosen flüchten in die Realität.“

15
Der nur Homer gelesen haben soll, ATHENAEUS NAUCRATENSIS, Deipnosophistai 310a 85.

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