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bar, wo Latein als allgemeine Schriftspra- abisch – und in einer anderen Schrift ge-
che verwendet wurde, während die jewei- schrieben sein. Der traditionelle Bericht
ligen Umgangssprachen die Vorläufer der über die Entstehung des Qur’ān wider-
modernen europäischen Kultursprachen spricht also der materiellen Beweislage.
waren. Das Seltsame an der arabischen Schrift, so
wie wir sie heute kennen, ist ihre „Polyva-
Zusammenfassend können wir feststellen, lenz“, mit anderen Worten: die meisten
dass das Arabische (vor allem in Bezug auf Buchstaben bezeichnen mehrere Laute und
sein Haupterkennungsmerkmal, den be- sind nicht eindeutig. Um sie zu unter-
stimmten Artikel al-) und die Schrift der scheiden braucht man diakritische Punkte
Arabia Petraea die Vorläufer des klassi- ( ), wobei der unpunktierte und so-
schen Arabischen und seiner Schrift mit mehrdeutige Text als rasm ( –-
waren. Aus der Zeit vor dem Islam sind „Spur“) bezeichnet wird. Zum Beispiel
Texte in aramäischer Schrift kaum südlich
kann das arabische Schriftsymbol ںgelesen
des heutigen Jordanien, und dann auch
nur in der extremen nordwestlichen Ecke werden als: b ( ) ب, t ( ) ت, ṯ ( ) ث, n ( ) ن
des heutigen Saudi-Arabien zu finden. In und in Mittelposition als y ()ي. Die ara-
der Arabia Felix und Deserta waren andere bische Schrift unterscheidet so nur 18
Schriften und Sprachen in Gebrauch. In Grundsymbole, die mit Hilfe der diakri-
der Arabia Petraea jedoch finden wir ver- tischen Punkte insgesamt 28 Phoneme ab-
einzelt arabische Texte in aramäischer bilden. Ein Teil dieser Polyvalenz ist nicht
Schrift und sogar Arabisches in griechi- phonetisch bedingt; sie geht vielmehr auf
schen Buchstaben. Ein Fragment aus dem Abschleifungen ursprünglich unterschiedli-
sechsten / siebten Jahrhundert mit Psalm cher Buchstabenformen zurück (zum Bei-
78, das in der Umayyaden-„Moschee“ von spiel im Falle von b, n, mittlerem y). In
Damaskus gefunden wurde, zeigt, wie nahe anderen Fällen wurden Sonderzeichen ge-
dieses Arabisch der Sprachform stand, die schaffen, um mit den Mitteln des ara-
sich später zum Klassischen Arabischen mäischen Alphabetes Phoneme darzu-
entwickeln sollte, z.B. auch in Bezug auf stellen, die es im Aramäischen nicht mehr
die sogenannte Imāla ( – „Neigung“), gab, die sich aber im Arabischen erhalten
hatten, z.B. ḫ. Diese Praxis war bereits im
d.h. das Vorhandensein der Vokale „e“ und
„o“, die später zu „i“ und „u“ wurden, von Falle des Palmyrenischen Aramäisch gang
denen man später aber annahm, dass sie und gebe gewesen, wobei jeweils das Zei-
den ursprünglichen Vokalen „zuneigten“. chen abgewandelt wurde, das den phone-
Der direkte Vorläufer des Klassischen tisch ähnlichsten Laut bezeichnete. Dies,
Arabisch wurde also im Großraum Syrien zusammen mit entlehnten aramäischen
gesprochen, nicht jedoch im Ḥiǧāz, wo Mek- Rechtschreibegewohnheiten (z.B. die Ver-
ka und Medina liegen! wendung des , ةein „h“ mit zwei Punkten
darüber, genannt tāʾ marbūţa, um die Fe-
Mit den Ergebnissen der Areallinguistik mininendung zu bezeichnen; das sogenann-
(südlich von Jordanien lautete z.B. der be- te alif otiosum u.a.) und die Methode des
stimmte Artikel nicht al-) und der geogrpa- Hinzufügens von Vokalzeichen ( – ḥa-
hischen Schriftverteilung (im angeblichen
rakāt) zeigt unmissverständlich, dass das
Entstehungsgebiet des Islam wurde eher
die altsüdarabische Schrift verwendet) Arabische und seine Verschriftlichung sich
haben wir nun zwei unabhängige Quellen aus einer langen Tradition der Schreibung
von zeitgenössischen prima facie Beweisen, des Aramäischen entwickelt hat. Dieser
die zeigen, dass die Sprache des Qur’ān auf Prozess kann daher nur in einer Gegend
einem Dialekt des Großraums Syrien/Paläs- entstanden sein, wo die Araber über einen
tina basiert und dass die Schrift der ältes- langen Zeitraum mit aramäischer Schreib-
ten Manuskripte nicht die war, die man in kultur in Berührung gekommen waren:
Mekka und Medina in dieser Epoche erwar- Das Aramäische Schreibsystem wurde also
ten würde, ganz im Gegensatz zur Arabia arabisiert. Dabei ist vor allem die ana-
Petraea. Wenn der Qur’ān wirklich ein Pro- chronistische Bezeichnung der Kasusen-
dukt des Ḥiǧāz wäre, dann sollte er in einer dungen ein wertvolles Indiz, die nicht wie
anderen Semitischen Sprache – Altnordar- normale Sprachlaute geschrieben werden.
Die Erklärung ist, dass das Aramäische
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Fortschritte in der Islamwissenschaft 166
diese Endungen, die in der arabischen nicht die kritische Masse besessen zu
Grammatik als , eigentlich haben, die nötig gewesen wäre, eine neue
„Arabisierung“, bekannt sind, schon rund Religion anzustoßen. Zudem gab es
ein Jahrtausend vorher verloren hatte. Der außerhalb des früheren Römischen Reiches
einzige Ort, wo all dies passiert sein kann, keine oder keine nennenswerten theolo-
ist die Arabia Petraea. Wäre der Qurʾān gischen und dogmatischen Kontroversen in
wirklich in Mekka und Medina entstanden, spätantiken Gesellschaften, die zu “Häresi-
so würden wir, abgesehen von der bereits en” hätten führen können. Wir können
erwähnten anderen Sprache, auch eine alt- also feststellen, dass alle zeitgenössischen
südarabische Schriftform erwarten, die zur Beweismittel, seien sie nun epigraphisch,
Abbildung der 28 Phoneme des Arabischen literarisch, philologisch oder sprachwissen-
viel besser geeignet gewesen wäre und die schaftlich, immer in dieselbe Richtung
zur Zeit der Abfassung der ersten qurʾā- weisen:
nischen Suren bereits auf eine 1200 Jahre
alte Tradition im Ḥiǧaz zurückblicken
konnte. Dass diese optimal passende Schrift Der Islam stammt von Arabern
nicht gewählt wurde, bedeutet, dass sie den aus dem Großraum Syrien/Palästi-
Verfassern des Qurʾān unbekannt war: Der na.
einzige bisher vorhandene Beleg eines vor-
klassischen Arabisch in einer solchen Diese Behauptung widerspricht eklatant
altsüdarabischen Schrift stammt von einem dem Inhalt des traditionellen muslimi-
offensichtlich ortsfremden Einwohner von schen Berichts vom „Blitzkrieg“ seiner
Qaryat al- Fāw vom nordwestlichen Rand Gotteskrieger, mit dem sie vom Ḥiǧāz aus-
des „Leeren Viertels“, des unwirtlichsten gehend alle Länder bis Syrien und Palästina
Teils der Arabischen Wüste im Südosten in Rekordzeit erobert haben sollen. Dieses
der Arabischen Halbinsel. Der Ort liegt auf angebliche Großereignis war schon immer
einer wichtigen Handelsroute vom Jemen ein Stein des Anstoßes für Archäologen: Die
nach Ostarabien und dem Golf, siehe dazu nach dem Traditionellen Bericht schnell
M. C. A. Macdonald, „Ancient Arabia and vonstatten gegangene, gewalttätige und mit
the Written Word“, in idem (ed.), The deve- vielen Zerstörungen verbundene Invasion
lopment of Arabic as a written language des Großraums Syrien durch die „Muslimi-
(Supplement to the PSAS 40; Oxford, 2010, schen Eroberer“ hat offensichtlich keinerlei
S. 17). Spuren hinterlassen! Stattdessen zeigen
Ausgrabungen eine durchgängige Besied-
Die Tatsache, dass sowohl die Schrift, als
lung und Kulturpflege: die in Frage kom-
auch die Sprache des Qur’ān in die Gegend
mende Zeit ist, archäologisch gesprochen,
der Klassischen Arabia Petraea, also in den
mehr oder weniger ereignislos und konser-
Raum von Syrien und Palästina weisen,
vativ. Die hauptsächlichen kulturellen Ver-
und nicht in die Arabia Deserta, findet wei-
änderungen bei der Keramik und ähnli-
tere Bestätigung in der Tatsache, dass der
chen Dingen (z.B. die Einführung von Gla-
Wortschatz des Qur’ān zu einem großen
sierungen) kommen erst im achten Jahr-
Teil aus dem Aramäischen entlehnt ist, spe-
hundert vor. Die Besiedlung in der (angeb-
ziell aus dem Syrischen, der Sakralsprache
lichen) Umayyadenzeit, in der Mosaiken als
der dort ansässigen Kirchen. Dem könnte
Kunstform ihre Hochzeit erlebten, ist
noch hinzugefügt werden, dass die Seman-
durchgängig und durch nichts unterbro-
tik der religiösen Terminologie des Qur’ān,
chen bis in die (angebliche) Abbasidenzeit.
die Schreibung der Namen biblischer Figu-
Selbst die vorhandenen Änderungen sind
ren und die oft subtilen biblischen Anspie-
eher allmählich als abrupt. Wo es Ände-
lungen eine intime Kenntnis der biblischen
rungen gab, bestanden sie in der Tendenz
Literatur in seiner Syrisch-Aramäschen
zu kleineren Siedlungseinheiten auf dem
Ausprägung voraussetzt. Der Großraum Sy-
Lande gegenüber früher bevorzugten Stadt-
rien war im siebten Jahrhundert bereits
siedlungen. Aus der Sicht der Archäologie
weitestgehend christianisiert. Obwohl es
ist eine „Arabische“ oder „Muslimische“ Er-
auch im „Glücklichen“ und „Wüsten Arabi-
oberung von Syrien/ Palästina „unsicht-
en“ in dieser Epoche Belege für Christen-
bar“. Die Gründe dafür sind darin zu su-
und Judentum gibt, scheinen diese jedoch
chen, dass die Araber ja bereits längst in
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Fortschritte in der Islamwissenschaft 167
dieser Gegend lebten, was durch ihre Spra- Artikel erschien zum ersten Mal auf Nie-
che bezeugt wird.1 derländisch, übersetzt von Eildert Mulder
in der Tageszeitung „Trouw“, Amsterdam,
Zusammenfassend können wir festhalten, 4. August 2012. Eine englische Version ist
dass Archäologie, Epigraphik und Sprach- digital verfügbar unter: „The Language of
wissenschaft eindeutig gegen eine Entste- the Qur’ān“, By Robert M. Kerr http://ww-
hung des Qurʾān im Ḥiǧāz sprechen. Sein w.tingisredux.com/article/the_language_of_t
Entstehungsort muss im hellenistischen he_Qur’ān.html 18. Februar 2013
Großraum Syrien/Palästina gesucht wer-
den.
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Karl-Heinz Ohlig
Ein Versuch
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