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12 / Strategie und Taktik verwechselt / Der


Bombenangriff auf das polnische Wielun am 1.
September 1939 war kein Auftakt des unterschiedslosen
Luftkriegs gegen die Zivilbevölkerung in Städten
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© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/12 07. September 2012

Strategie und Taktik verwechselt


Der Bombenangriff auf das polnische Wielun am 1. September 1939 war kein Auftakt des
unterschiedslosen Luftkriegs gegen die Zivilbevölkerung in Städten
Horst Boog

Die Militärgeschichtliche Zeitschrift (70/2011/Heft 2), Deutschlands zentrales


militärwissenschaftliches Publikationsorgan, enthält einen Aufsatz von Hans-Erich
Volkmann über „Wolfram von Richthofen, die Zerstörung Wieluńs und das
Kriegsvölkerrecht“. Es handelt sich um die deutscherseits wohl bisher gründlichste Studie
des Falles Wieluń.

Wieluń, eine grenznahe polnische Stadt im Erdkampfgebiet, wurde am 1. September


1939, am ersten Tag des Polenfeldzuges von der deutschen Luftwaffe bombardiert.
Dieser Angriff wird – wie der auf Guernica im Spanischen Bürgerkrieg durch die
deutsche Legion Condor am 26. April 1937 – als intentioneller Terrorangriff dargestellt.
Nun, was letzteren angeht, so werden keine Beweise für die Absicht einer
unterschiedslosen Flächenzerstörung vorgebracht. Das Erstaunen über das Ausmaß der
Zerstörungen, das in einigen kurzen Bemerkungen in Richthofens Tagebuch zum
Ausdruck kommt, ist auch kein Beweis dafür.

Wir Deutschen sind durch die Last der Verbrechen des Dritten Reiches ein bißchen
hypersensibel geworden und vermuten hinter jeder das eigentliche Ziel verfehlter
Bombe nur allzu leicht die Terrorabsicht, wie wir auch gern das ius ad bellum zu unseren
Ungunsten mit dem ius in bello verwechseln, um manche nach damals geltendem
Kriegsrecht zulässige Kriegshandlung der deutschen Luftwaffe als „verbrecherisch“
hinzustellen, weil Hitler den Krieg begonnen habe. Das Recht im Kriege gilt für alle
Kriegsführenden gleichermaßen und hat mit der Frage, wer den Krieg begonnen habe,
höchstens psychologisch zu tun.

Ähnlich verhält es sich mit Wieluń. Die Stadt lag im Kampfgebiet der Bodentruppen. Von
dem Ort gingen Straßenverbindungen nach verschiedenen Richtungen aus. Außerdem
gab es dort einen Bahnhof. Die behauptete Absicht zu einem unterschiedslosen
Flächenbombardement ist aus verschiedenen Gründen wenig glaubhaft. So würde man
dazu keine für den genauen Punktzielwurf konstruierten Sturzkampfbomber JU 87
verwenden, sondern Horizontelbomber. Für die Zerstörung in der Stadt muß man auch
den Bodennebel und überhaupt die Umstände eines ersten Kriegszustandes
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heranziehen. Der Autor bemüht sich mit einer bewundernswerten Akribie, durch
Auswertung und Vergleich von einer großen Menge von Nachrichtenerkenntnissen der
Bodentruppen und Anweisungen und Befehlen ihrer Kommandeure zu beweisen, daß
Wieluń zu bombardieren nicht im unmittelbaren Interesse des Heeres lag und von
Richthofen als Befehlshaber der für die Heeresunterstützung vorgesehenen
Sturzkampfbomber-Gruppen die Zerstörung des Ortes, wie Jahre zuvor angeblich schon
Guernicas, auf eigene Faust vorgenommen habe.

Nun wird man von Richthofen, wie der Autor zutreffend erwähnt, eine solche Neigung
nicht absprechen können, war er doch in Warschau von sich weigernden Untergebenen
von solchen Vernichtungs-angriffen abgehalten bzw. von Vorgesetzten zurückgepfiffen
worden, wobei man allerdings die näheren Umstände kennen sollte. Immerhin fanden
angelsächsische Luftkriegshistoriker Richthofens Luftkriegsführung im allgemeinen für
zulässig, und einer, Joel S. A. Hayward in „Stopped at Stalingrad“ (Kansas 1998), setzte
ihm sogar ein Denkmal als „superb tactical commander, possibly the best of the Secord
World War“.Daß er am Ende befehlsgemäß und nach mehrmaliger vergeblicher
Übergabeforderung Warschau bombardierte, weil es eine verteidigte Stadt in der
Frontlinie war und obwohl wegen der dort zusammengedrängten polnischen Truppen
kaum noch zwischen Militär und Zivil unterschieden werden konnte, war dagegen nicht
völkerrechtswidrig, wie nicht nur der Völkerrechtler Eberhard Spetzler („Luftkrieg und
Menschlichkeit“, Göttingen 1956), sondern auch der bekannte britische
Luftkriegshistoriker Noble Frankland („The Bombing Offensive Against Germany.
Outlines and Perspectives“, London 1965) feststellten, denn der unmittelbare
militärische Vorteil, die Kapitulation des Gegners, überwog die Verluste und
Zerstörungen in der Stadt bei weitem.

Im Fall von Wieluń sucht Volkmann allerdings durch eine kritische Analyse von
Weisungen und Befehlen von Kommandobehörden des Heeres und
nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, die nicht unbedingt auch den Kommandostellen
der Luftwaffe bekannt sein mußten, zu belegen, daß Wieluń gar nicht so sehr im Fokus
der Absichten des Heeres lag, um wiederum Richthofens vermeintlich eigenmächtigen
Entschluß zum unterschiedslosen Bombardement der Stadt zu beweisen. Manches
deutet darauf hin, einen schlüssigen Beweis gibt es nicht.

Was in der Argumentationskette fehlt, ist der Hinweis auf den Unterschied zwischen
taktischem und strategischem Luftkrieg. Für beide gelten im allgemeinen zwar
humanitäre Regeln, nicht aber im besonderen die gleichen. Man gewinnt jedoch den
Eindruck, als gäbe es nur eine Art von Luftkrieg, und diese unterliege der sogenannten
Martensschen Klausel in der Präambel zur Haager Landkriegsordnung von 1907. Für den
strategischen Bombenkrieg weit hinter der Erdkampffront galt selbstverständlich, daß
Wohngebiete nicht angegriffen werden dürfen und unterschiedsloses Bombardieren von
Städten verboten ist. Militärisch relevante Objekte in Städten durften hingegen gezielt
angegriffen werden. Im taktischen Luftkrieg allerdings ist unterschiedsloses
Bombardieren im Kampfgebiet erlaubt, wobei Kirchen, Krankenhäuser und Denkmäler
etc. möglichst ausgespart werden sollten und es wichtig war, daß der militärisch erhoffte
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Vorteil nicht unverhältnismäßig kleiner sein sollte als die Verluste unter der
Zivilbevölkerung (Heinz Marcus Hanke: „Luftkrieg und Zivilbevölkerung“, Frankfurt/Main
1991).

Die Argumentation auf der Grundlage vornehmlich von Heeresunterlagen versucht am


falschen Objekt Terrorabsicht nachzuweisen, denn dem Autor ist der Begriff des
taktischen Luftkrieges in seiner auch völkerrechtlichen Bedeutung offenbar nicht
bekannt, sonst hätte er ihn irgendwie erwähnen müssen. So fehlt ihm auch das Gespür
dafür, daß luftoperatives Denken meist über das landoperative hinausgreift und –
greifen muß. Wieluń mit seinen Straßenverbindungen und seinem Bahnhof konnte auch
wichtig für Truppenverschiebungen des Gegners sein, gleichgültig ob im
Beobachtungszeitraum dort feindliche Soldaten in unmittelbarer Nähe gesichtet wurden
oder nicht. So stellte der britische Luftmarschall Harris in seinen Memoiren fest,
neuralgische Verkehrsknotenpunkte ließen sich aus der Luft nur durch Zerstörung der
umstehenden Häuser unbenutzbar machen. Das hätten die Engländer in Frankreich
immer so getan, denn die beste Methode, die deutschen Vormarsch- und Rückzugwege
aus der Luft zu blockieren, sei die Zerstörung der Gebäude an Straßenkreuzungen in den
Städten gewesen (Sir Arthur T. Harris: „Bomber Offensive“, London 1947).

Gemessen wird der in dem Aufsatz immer wieder durchsichtige Vorwurf der
Terrorabsicht an der erwähnten Martensschen Klausel. Sie lautet: „Solange, bis ein
vollständiges Kriegsgesetzbuch fertiggestellt werden kann, halten es die hohen
vertragschließenden Teile für zweckmäßig, festzusetzen, daß in den Fällen, die in den
Bestimmungen der von ihnen angenommenen Ordnung nicht einbegriffen sind, die
Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutz und der Herrschaft der
Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten
Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den
Forderungen des öffentlichen Gewissens.“

Wie schon die Formulierung „halten es (...) für zweckmäßig“ andeutet, ist die Klausel
lediglich als Appell „deklaratorisch formuliert“, und, da sie in der Präambel steht, vor
allem als moralischer Appell an Kriegsführende zu bewerten. So haben sie Kriegführende
vorher und nachher meist unter dem Gesichtspunkt dessen gesehen, was sie für
militärisch notwendig hielten, und nicht unter dem der Ethik. Die Geschichte der
Martensschen Klausel ist daher die Geschichte ihrer praktischen Nichtbeachtung durch
so gut wie alle kriegführenden Mächte in den größeren und kleineren Kriegen seit der
Wende zum 20. Jahrhundert.

Der hohe ethische Wert der Martensschen Klausel ist unbestritten, wie auch ihre
erwähnte allgemeine Nichtbeachtung in der Praxis der Luftmächte aus welchen
Gründen auch immer. Man denke nur an die komplette Zerstörung der Städte Düren,
Heinsberg und Jülich im Rahmen der alliierten Heeresunterstützung im November 1944.
Es gab damals zwar ein Kriegsvölkergewohnheitsrecht, aber ein vertragliches
Kriegsvölkerrecht speziell für den Luftkrieg gab es nicht.

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Bei der Schilderung militärhistorischer Abläufe wie in der Geschichtsschreibung
überhaupt sollte man sich bemühen, über den jeweils eigenen Nabel hinauszuschauen,
die jeweilige Wirklichkeit zugrunde zu legen und nicht ohne diese Kenntnis und
undifferenziert von einem idealistisch verbrämten, im Grunde aber zeitgeistig-
ideologischen Schwarzweißstandpunkt her zu urteilen. Die Wirklichkeit ist, gemessen an
Idealzuständen, immer unbefriedigend. Aber, so brachte es die Politologin Barbara
Zehnpfennig (Universität Passau) auf den Punkt (FAZ vom 19. Juli 2012):
„Grundlagenforschung und Geschichtskenntnis schützen davor, sich (...) dem Zeitgeist
auszuliefern.“

Dr. Horst Boog war leitender wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen


Forschungsamt (MGFA) in Freiburg. Er ist Herausgeber der Bände „Luftkriegführung im
Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich“ (1992) und Verfasser von Beiträgen zum
Luftkrieg in den Bänden 4, 6, 7 und 10 der MGFA-Reihe über den Zweiten Weltkrieg.

Foto: Staffel von Junkers 87 über Polen, Anfang September 1939; Zerstörungen in
Wielun: Wielun lag im Kampfgebiet der Bodentruppen, und von dem Ort gingen
Straßenverbindungen nach verschiedenen Richtungen aus

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