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MGZ 79/1 (2020): 26–64 OLDENBOURG

Aufsatz

Lukas Grawe
Albion an Holsteins Küsten?
Der preußische Generalstab und die
Furcht vor einer britischen Landung in
Norddeutschland und Dänemark, 1905–1914

https://doi.org/10.1515/mgzs-2020-0002

Zusammenfassung: Seit dem Herbst 1905 befürchtete die deutsche Militärführung


britische Landungen in Schleswig-Holstein oder Dänemark. Ein britisches Korps
könnte zur Unterstützung Frankreichs an Deutschlands Nordflanke landen, den
Nordostseekanal unterbrechen und auf Kiel und Hamburg vorstoßen. Tatsächlich
glaubte der Große Generalstab lange daran, die »Nordoption« sei der britischen
Militärführung weitaus sympathischer als eine Landung in Frankreich. Der
Beitrag geht der Frage nach, welche Auswirkungen diese Ansichten auf das
Handeln des preußisch-deutschen Generalstabs sowie auf dessen Einschätzung
eines britischen Kriegsbeitrags hatten. Beleuchtet werden dabei militär‑, außen‑,
innen‑ und wirtschaftspolitische Aspekte.

Schlüsselwörter: Generalstab, britische Landung, Feindaufklärung, Vorgeschich-


te des Ersten Weltkrieges, Deutsches Reich, Großbritannien

1. Einleitung
»Fisher kommt!« Dieser und ähnliche Rufe waren Anfang 1907 in Kiel und Umge-
bung zu hören. Sie verursachten eine Panik unter der deutschen Zivilbevölkerung,
die auch die Berliner Börse nicht unbeeindruckt ließ. Vorsichtige Eltern nahmen
ihre Kinder gar für zwei Tage aus der Schule, ehe sich das Gerücht als falsch
erwies.1 Fisher – gemeint war der britische Admiral und First Sea Lord John

1 Arthur Marder, From the Dreadnought to Scapa Flow. The Royal Navy in the Fisher Era,
1904–1919, vol. 1, London 1961, S. 114.

Kontakt: Lukas Grawe, Universität Bremen, E-Mail: grawe@uni-bremen.de

MGZ, © 2020 ZMSBw, Potsdam. Publiziert von De Gruyter


OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 27

Arbuthnot Fisher – kam nicht und sollte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
auch nicht mehr kommen. Die Furcht vor einer amphibischen Landungsoperation
durch britische Marine‑ und Heeresverbände auf deutschem Boden blieb jedoch
und beschränkte sich nicht nur auf deutsche Zivilisten in Nord‑ und Ostseenähe.
Auch im küstenfernen Berlin, in den höchsten Regierungskreisen, im Admiralstab
und in den Gedanken Kaiser Wilhelms II. fasste sie ab 1905 Fuß.2 Rasch griff der
Ausdruck »perfides Albion«3 um sich, attestierten Teile der Berliner Öffentlichkeit
Großbritannien doch ein hinterhältiges Verhalten. Weitaus bedeutsamer für die
kontinentale Militärpolitik des Deutschen Reichs war es, dass die Angst vor
Fisher, seiner Marine und den britischen Landungstruppen sogar im preußisch-
deutschen Generalstab Einzug hielt. Schließlich konnte eine britische Landung
den deutschen Plan für einen Zweifrontenkrieg maßgeblich beeinflussen.
Die Befürchtung, ein starkes britisches Expeditionskorps könnte in Schles-
wig-Holstein oder Dänemark ausgeschifft werden, sich des Nordostseekanals
bemächtigen und anschließend auf Kiel und Hamburg vorstoßen, beruhte vor
allem auf den Enthüllungen des ehemaligen französischen Außenministers Théo-
phile Delcassé, die anonym vom 5. bis zum 7. Oktober 1905 in der französischen
Tageszeitung »Matin« erschienen. Darin behauptete Delcassé, der britische
Außenminister Lansdowne habe ihm auf dem Höhepunkt der ersten Marokko-
krise die mündliche Zusage erteilt, im Falle eines deutschen Angriffs auf Frank-
reich den Nordostseekanal zu besetzen und mit 100 000 Mann in Schleswig-Hol-
stein zu landen.4 Obwohl die britische Regierung das Bestehen derartiger Verspre-

2 Wilhelm II. an Bülow, 29.12.1905, abgedruckt in: Die große Politik der europäischen Kabinette
1871–1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes [im Weiteren: GP]. Hrsg.
von Johannes Lepsius [u. a.], 40 Bde, Berlin 1922–1927, hier: GP, Bd 20/2, Nr. 6887. Siehe auch John

C. G. Röhl, Wilhelm II., Bd 3: Der Weg in den Abgrund 1900–1941, München 2008, S. 450–453, und

Martin Mayer, Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung. Die Parlamente in Frankreich,
Deutschland und Großbritannien und die erste Marokkokrise 1904–1906, Düsseldorf 2002 (= Bei-
träge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 133), S. 237–248. Zur
Furcht des Admiralstabs vor einem britischen Überraschungsangriff siehe Jonathan Steinberg, Der
Kopenhagen-Komplex. In: Kriegsausbruch 1914. Hrsg. von Walter Laqueur, München 1970,
S. 31–59.
3 Das Wort »Albion« geht auf die keltische Bezeichnung für Großbritannien bzw. England zurück.
Die politischen Mächte Europas, allen voran Spanien, Frankreich und später auch Deutschland,
attestierten der britischen Außenpolitik bereits seit dem späten 17. Jahrhundert ein hohes Maß an
Opportunismus und Hinterhältigkeit. Auf diese Weise entstand der Begriff »perfides Albion«, der
Anfang des 20. Jahrhunderts seine Blüte im deutschen Sprachgebrauch erlebte und während des
Zweiten Weltkrieges von der nationalsozialistischen Propaganda aufgegriffen wurde. Siehe
Thomas Kielinger, Großbritannien, München 2009, S. 170 f.  

4 Maximilian von Montgelas, Die englische »Garantie« an Frankreich April–Oktober 1905. In:
Berliner Monatshefte, 6 (1928), S. 978–992; Mayer, Geheime Diplomatie (wie Anm. 2), S. 237–248.
28 Lukas Grawe OLDENBOURG

chen gegenüber Frankreich sofort dementierte,5 schlugen die Leitartikel in diplo-


matischen und militärischen Zirkeln Europas hohe Wellen. Der deutschen
Generalstabsführung zeigten sie, dass eine britische Beteiligung an einem euro-
päischen Krieg, die bis dahin als unwahrscheinlich galt, fortan zumindest in die
Berechnungen miteinkalkuliert werden musste.6 Folglich musste sich der Große
Generalstab, zu dessen Hauptaufgabe die Beobachtung möglicher Kriegskontra-
henten zählte,7 nun mit der Frage auseinandersetzen, wie ein britisches Militär-
engagement auf dem Kontinent aussehen, vor allem aber wo ein britisches Expe-
ditionsheer landen würde. Eine Landung an Deutschlands Nordflanke rückte
dabei verstärkt in den Fokus.
Was der deutsche Generalstab angesichts der Enthüllungen Delcassés ver-
mutete, sollte sich bestätigen: Aufgrund der zunehmenden Spannungen zwi-
schen dem Deutschen Reich und Großbritannien8 befassten sich britische Militär-
führung und Politik erstmals seit dem Krimkrieg (1853–1856) wieder mit einem
Militärengagement auf dem Kontinent. Zwischen Dezember 1905 und Januar 1906
setzten daher zwischen den Militärführungen Frankreichs und Großbritanniens
Gespräche ein, welche die Landung eines britischen Expeditionskorps auf dem
europäischen Festland vorbereiten sollten.9 Wo diese stattfinden sollte, war zwi-
schen den britischen Teilstreitkräften aber umstritten. Während die Armeefüh-
rung Belgien oder Frankreich favorisierte, machte sich die Marine für eine amphi-
bische Landung in Dänemark stark. In seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber
der britischen Flotte ging Admiral Fisher sogar noch weiter und forderte wieder-
holt einen Überraschungsangriff auf die deutsche Marine und den Nordostsee-
kanal.10

5 Mayer, Geheime Diplomatie (wie Anm. 2), S. 243.


6 Hermann von Kuhl, Der deutsche Generalstab in Vorbereitung und Durchführung des Weltkrie-
ges, Berlin 1920, S. 85.
7 Lukas Grawe, Deutsche Feindaufklärung vor dem Ersten Weltkrieg. Informationen und
Einschätzungen des deutschen Generalstabs zu den Armeen Frankreichs und Russlands 1904 bis
1914, Paderborn [u. a.] 2017 (= Zeitalter der Weltkriege, 16), S. 37–53.

8 Zu den deutsch-britischen Beziehungen siehe Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns. Großbri-
tannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1993, und Paul

M. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism, 1860–1914, 3. ed., London 1990.
9 Samuel R. Williamson, The Politics of Grand Strategy. Britain and France Prepare for War,
1904–1914, Cambridge 1969, S. 59–88, und Hew Strachan, The British Army, Its General Staff and
the Continental Commitment, 1904–14. In: The British General Staff. Reform and Innovation,
1890–1939. Ed. by David French and Brian Holden Reid, London, Portland, OR 2002, S. 75–94.
10 Shawn T. Grimes, Strategy and War Planning in the British Navy, 1887–1918, Woodbridge 2012,
S. 62.
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Die innerbritischen Diskussionen blieben dem Generalstab im Detail verbor-


gen. Betrachtet man dessen militärische Planungen vor 1914, stößt man sofort auf
den Schlieffen‑ bzw. Moltkeplan und die deutsche Einschätzung Frankreichs und
Russlands als Hauptkonkurrenten.11 Gedankenspiele abseits dieser Planungen
blieben in der historischen Forschung hingegen weitgehend unbeachtet. Zwar
wird dem Generalstab völlig zu Recht eine einseitige Festlegung auf den Schlief-
fenplan attestiert. Übersehen wird dabei jedoch, dass sich der Generalstab auch
mit anderen militärischen Problemen auseinandersetzte. Dazu zählen etwa die
Einschätzungen einer britischen Landung an der deutschen Nordflanke. Diese
wurden von der historischen Forschung bislang kaum untersucht und sollen
daher in den folgenden Ausführungen näher betrachtet werden.12 Wie stufte der
preußisch-deutsche Generalstab die Erfolgsaussichten einer britischen Landung
in Norddeutschland oder Dänemark ein? Welche Operationsideen trauten seine
führenden Offiziere einem feindlichen Expeditionskorps zu und welche Gegen-
maßnahmen fassten sie ins Auge? Wie nah kam der Generalstab mit seinen
Analysen den tatsächlichen britischen Absichten? Und schließlich: Welche
Folgen hatten die Einschätzungen auf die deutsche Militärpolitik im Vorfeld des
Ersten Weltkrieges? Trugen sie dazu bei, das britische Militärengagement auf dem
Kontinent zu unterschätzen, wie dies für führende Generalstabsoffiziere belegt
ist?13

11 Gerhard Ritter, Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956, und Der Schlieffenplan.
Analysen und Dokumente. Hrsg. von Hans Ehlert, Michael Epkenhans und Gerhard Paul Groß,
Paderborn [u. a.] 2006 (= Zeitalter der Weltkriege, 2).

12 Nur zwei Studien gehen kurz darauf ein: Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk,
Bd 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich (1890–1914), München 1960,
S. 195 f., und Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz

und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt a. M. 1967, S. 201–213.

13 Am 1.6.1914 äußerte sich Moltke gegenüber dem Diplomaten Hermann von Eckardstein, was
Großbritannien »im Kriegsfalle tun wird, können wir im übrigen ruhig abwarten«. Hermann von
Eckardstein, Lebenserinnerungen und politische Denkwürdigkeiten, Bd 3, Leipzig 1921, S. 186.
Sorgen bereitete aber die Versorgung der deutschen Zivilbevölkerung, sollte die britische Marine
eine Blockade vornehmen. Siehe dazu Stephen Schröder, Die englisch-russische Marinekonven-
tion. Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Tripelentente am Vorabend des Ersten
Weltkriegs, Göttingen 2006 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, 76), S. 573 f. und S. 639 f.
   
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2. Eine britische Landung in Dänemark?


Die deutschen Einschätzungen 1904–1908

a) Schlieffen und eine britische Landung in Europa

Hatten sich Szenarien einer britischen Landung an deutschen Küsten bis 1905
immer in einem theoretischen Rahmen bewegt,14 verdeutlichten die außenpoliti-
schen Spannungen der deutsch-britischen »navy scare« im Winter 1904/05,15 wie
schnell eine gespannte internationale Lage in einem Krieg eskalieren konnte. Die
Krise enthüllte gleich mehrere generalstabsinterne Probleme: Da die britische
Armee innerhalb der für Großbritannien zuständigen 3. Abteilung bislang kaum
beobachtet worden war und ganz im Schatten der Frankreichaufklärung stand,16
mangelte es an grundlegenden Militärinformationen über das Empire. Zugleich
fehlte es dem Generalstab an operativen Lösungen für einen möglichen Krieg
gegen das Inselreich. Eine Landung auf dem britischen Festland war angesichts
der britischen Flottenüberlegenheit unausführbar.17 Zugleich glaubten die füh-
renden Generalstabsoffiziere zu diesem Zeitpunkt aber auch noch nicht an eine
britische Landung in Europa, in deren Rahmen deutsche Truppen Schlachten-
erfolge gegen das britische Heer hätten erzielen können.
Schlieffen brachte im Winter 1904/05 daher die sogenannte »Faustpfand-
Theorie« ins Spiel: Konnte man Großbritannien nicht angreifen, musste man
einen seiner europäischen Verbündeten besiegen, um das Empire auf diese Weise
zu Verhandlungen zu zwingen.18 Der Generalstabschef dachte dabei an eine

14 Bereits 1896 befasste sich Schlieffen erstmals mit einer britischen Landung an der deutschen
Nordflanke: Taktisch-strategische Schlussaufgabe 1896, abgedruckt in: Alfred von Schlieffen,
Dienstschriften, Bd 1: Die taktisch-strategischen Aufgaben aus den Jahren 1891–1905, Berlin 1938,
S. 31–41, hier S. 31. Im Rahmen der in Mecklenburg stattfindenden Kaisermanöver des Jahres 1904
simulierte Schlieffen die Landung eines britischen Korps in Schleswig-Holstein, während die deut-
sche Armee an der Grenze zu Russland gebunden war. Siehe dazu Die Kaisermanöver bei der deut-
schen Flotte und Armee 1904. Internationale Revue über die gesamten Armeen und Flotten.
Beiheft, Dresden 1905, S. 6.
15 Dazu Ivo Nikolai Lambi, The Navy and German Power Politics, 1862–1914, Boston, MA 1984,
S. 241–245.
16 Zur Tätigkeit der 3. Abteilung siehe Grawe, Deutsche Feindaufklärung vor dem Ersten Welt-
krieg (wie Anm. 7), S. 37–53.
17 Darauf hatte Schlieffen bereits 1897 in einem Schreiben an den kommandieren Admiral Eduard
von Knorr hingewiesen. Friedrich-Christian Stahl, Armee und Marine im kaiserlichen Deutschland.
In: Die Entwicklung des Flottenkommandos. Vorträge der 7. Historisch-Taktischen Tagung der
Flotte am 5. und 6.12.1963. Hrsg. von Friedrich Forstmeier, Darmstadt 1964, S. 31–48, hier S. 41.
18 Lambi, The Navy and German Power Politics (wie Anm. 15), S. 243–245.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 31

Niederwerfung Frankreichs, doch der deutsche Admiralstab bevorzugte eine


Besetzung Dänemarks. Schließlich kam dem Land als Tor zwischen Nord‑ und
Ostsee eine wichtige seestrategische Bedeutung zu.19 Admiralstabschef Wilhelm
Büchsel führte indes noch ein weiteres Argument für eine Besetzung Dänemarks
an: Britische Streitkräfte könnten das Land als Sprungbrett für einen Angriff auf
den Nordostseekanal benutzen.20 Dieser war aus Sicht der deutschen Marine von
höchster strategischer Bedeutung, konnten darüber doch die Seestreitkräfte ohne
Gefahr von der Ost‑ in die Nordsee und umgekehrt verlegt werden.21 Folglich hatte
die Marineleitung großes Interesse an der Sicherung ihrer »Lebensader«: Sie
arbeitete mit Hochdruck an Plänen für eine Besetzung Dänemarks, in denen auch
der Generalstab eine wichtige Rolle spielte. Schlieffen wies allerdings darauf hin,
die dafür notwendigen Kräfte an der Front zu Frankreich nicht entbehren zu
können, und lehnte weitergehende Planungen ab.22 Wilhelm II. ordnete schließ-
lich eine Einstellung der Gedankenspiele an, da sich nicht nur Schlieffen, sondern
auch Reichskanzler Bernhard von Bülow gegen sie aussprach.23 Fortan versuchte
der Admiralstabschef Schlieffen von der Notwendigkeit einer Besetzung Däne-
marks zu überzeugen, indem er auf die Gefahr einer britischen amphibischen
Operation an Deutschlands Nordflanke hinwies.24
Die Auseinandersetzungen um die Pläne des Admiralstabs waren auch
während der ersten Marokkokrise noch virulent. Admiralstabschef Büchsel war
von der Möglichkeit eines britischen amphibischen Unternehmens überzeugt.
Ohnehin war aufseiten der Marineführung die Furcht vor einem britischen Über-
raschungsangriff mit anschließender Truppenanlandung weitaus ausgeprägter
als in Heereskreisen.25 Schlieffen war hingegen der Meinung, »England würde
sich wohl hüten, sich mit Deutschland in einen Landkrieg einzulassen und dies

19 Michael Salewski, »Weserübung 1905?« Dänemark im strategischen Kalkül Deutschlands vor


dem Ersten Weltkrieg. In: Die Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte des
19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Michael Salewski, Jürgen Elvert und Stefan Lippert, Stutt-
gart 1998 (= Historische Mitteilungen, 25), S. 138–151; Lambi, The Navy and German Power Politics
(wie Anm. 15), S. 247–250, und Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 2), S. 342–345 sowie S. 353–363.
20 Büchsel hielt dies bereits seit 1902 für möglich. Salewski, »Weserübung 1905?« (wie Anm. 19),
S. 143.
21 Michael Salewski, Die militärische Bedeutung des Nord-Ostsee-Kanals. In: Die Deutschen und
die See (wie Anm. 19), S. 96–118.
22 Salewski, »Weserübung 1905?« (wie Anm. 19), S. 147.
23 Ebd., S. 148.
24 Büchsel an Schlieffen, 15.4.1905, zit. in: Zusammenarbeit zwischen Heer und Marine vor dem
Kriege und im Jahr 1914, Bundesarchiv (BArch), RH 61/142, Bl. 7.
25 Steinberg, Der Kopenhagen-Komplex (wie Anm. 2).
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Frankreich allein übertragen«.26 Dementsprechend war er nicht bereit, Kräfte von


der Westfront zur Abwehr einer hypothetischen Gefahr abzuziehen. Das Bild
Großbritanniens, das wie im Siebenjährigen Krieg und in den Kriegen gegen
Napoleon Bonaparte lieber einen »Festlandsdegen« für sich kämpfen ließ,27
wirkte hier eindeutig nach.
Die Enthüllungen Delcassés im »Matin« im Oktober 1905 befeuerten die
Gerüchte einer britischen Landung an der deutschen Nordflanke jedoch vehement.
Nicht nur die Besetzung deutscher Häfen, sondern auch die Entsendung eines
mehr als 100 000 Mann umfassenden Expeditionsheeres war nun schlagartig in
den Bereich des Möglichen gerückt. Selbst Schlieffen schien angesichts der Presse-
berichte nicht gänzlich unbeeindruckt, wandte er sich doch Anfang November
schriftlich an Büchsel mit der Bitte um Auskunft. So wollte er vom Admiralstab
wissen, ob Esbjerg der einzige Ort an der jütischen Westküste sei, wo eine feind-
liche Landung möglich wäre, wie es an der jütischen Ostküste aussehe und ob an
der schleswig-holsteinischen Westküste eine Landung ausgeschlossen sei.28
Büchsel betonte in seiner Antwort, Esbjerg sei der einzige denkbare Landungsort
an der dänischen Westküste, während die Ostküste beinahe überall Landungen
zulasse. Eine Landung auf deutschem Boden, in Schleswig-Holstein, sei zwar
möglich, doch hielt Büchsel einen solchen gewagten britischen Vorstoß für
unwahrscheinlich.29
Schlieffen tauschte sich indes nicht nur mit dem Admiralstab aus, sondern
nahm nun auch seine Offiziere in die Pflicht, mehr für die Großbritannienaufklä-
rung zu tun. Der 3. Abteilung erteilte er den Auftrag, die operativen Möglichkeiten
des Empires in einem europäischen Krieg in einer grundlegenden Denkschrift zu
untersuchen. Anfang Dezember legte der Großbritannienexperte des General-
stabs, Paul von Heydebreck, ein umfangreiches Memorandum mit dem Titel
»Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande« vor, das er mit einigen
Grundbemerkungen über die Qualität des britischen Heeres begann.30 Ohne
Zweifel lasse sich sagen, dass die britische Feldarmee »an einheitlicher Ausbil-
dung, gleichmässigen Ersatz und geübter Führung deutschen Truppen des
stehenden Heeres nicht ebenbürtig sein wird«. Sie sei zwar in der Lage, sich »in

26 Salza an das sächsische Kriegsministerium, 6.9.1905, Sächsisches Hauptstaatsarchiv, Dresden


(SHStA), Bestand 11250, Nr. 037.
27 Kielinger, Großbritannien (wie Anm. 3), S. 168.
28 Schlieffen an Büchsel, 3.11.1905, BArch, RM 5/1605, Bl. 31.
29 Büchsel an Schlieffen, 10.12.1905, ebd., Bl. 32.
30 Zur Einschätzung der britischen Armee innerhalb des Generalstabs siehe Kuhl, Der deutsche
Generalstab (wie Anm. 6), S. 83–95, und Bernd F. Schulte, Vor dem Kriegsausbruch 1914. Deutsch-
land, die Türkei und der Balkan, Düsseldorf 1980, S. 47–55.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 33

den Besitz von einigen schwach besetzten Punkten, die nicht allzu fern vom Ort
der Ausschiffung der Armee liegen, zu setzen und diese bei günstigem Gelände in
hartnäckigster Weise auch gegen einen überlegenen Feind zu verteidigen«, doch
seien »weitgehende Offensivbewegungen« von ihr nicht zu erwarten.31 Damit
hatte Heydebreck direkt zu Beginn seiner Ausführungen betont, ein britisches
Expeditionskorps könne nicht auf Hamburg oder gar Bremen vorstoßen. Er
schrieb diese Tatsache dem fehlenden Offensivgeist zu: Offensives Denken galt
als Voraussetzung für operative Erfolge und war im Generalstab unter Schlieffens
Ägide geradezu zu einem Dogma geworden.32
Im zweiten Teil seiner Denkschrift beschäftigte sich Heydebreck mit den
denkbaren Ausschiffungsorten eines 100 000 Mann umfassenden britischen
Expeditionsheeres. Die Möglichkeit einer Landung in Frankreich schloss der Offi-
zier aus, denn eine britische Armee würde so zu »einer verhältnismässig unbe-
deutenden Hilfstruppe heruntersinken, eine Rolle, die dem englischen Selbst-
bewusstsein schwerlich zusagen wird«.33 Als weitaus wahrscheinlicher stufte er
eine Landung in Antwerpen und eine direkte Unterstützung Belgiens ein.34
Ausführlich kam Heydebreck aber auch noch auf eine dritte Möglichkeit zu
sprechen: eine Landung an Deutschlands Nordflanke. »So fernliegend ein solcher
Plan auch auf den ersten Anschein scheinen möchte, so gewinnt er doch bei
näherer Betrachtung an Wahrscheinlichkeit«, sei hier doch der britischen Armee
mit der Vernichtung der deutschen Flotte und des Nordostseekanals ein verhei-
ßungsvolles Ziel gegeben. Dass Kiel zur Landseite nicht befestigt sei, erhöhe die
Erfolgsaussichten einer britischen Unternehmung:

»Ihr glücklicher Ausfall würde doch einen ganz anderen Erfolg für England bedeuten als die
Hilfe, die eine englische Landung in Nordost-Frankreich oder Belgien möglicherweise dem
verbündeten Frankreich bringen könnte. Dazu kommt noch, dass die Engländer vielleicht
hoffen mögen, gleichzeitig mit der Vernichtung der deutschen Flotte auch dem deutschen

31 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/


1605, Bl. 36–51, hier Bl. 37–39.
32 Gerhard P. Groß, Das Dogma der Beweglichkeit. Überlegungen zur Genese der deutschen
Heerestaktik im Zeitalter der Weltkriege. In: Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich.
Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland. Hrsg. von Bruno Thoß und Hans-Erich
Volkmann, Paderborn [u. a.] 2002, S. 143–166, hier S. 144–148, und Gerhard P. Groß, Mythos und

Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusin-
ger, Paderborn [u. a.] 2012 (= Zeitalter der Weltkriege, 9), S. 68 f. Dass der deutsche Generalstab
   

damit nicht allein war, verdeutlicht Jack L. Snyder, The Ideology of the Offensive. Military Decision
Making and the Disasters of 1914, Ithaca, NY 1989.
33 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/
1605, Bl. 36–51, hier Bl. 44.
34 Ebd.
34 Lukas Grawe OLDENBOURG

Handel den Todesstoss geben zu können, wenn sie ausser Kiel auch Hamburg besetzen und
die dort liegenden Handelsschiffe wegnehmen würden, was zweifellos den englischen
Wünschen besonders entsprechen würde.«35

Eine solche Landung war damit aus Heydebrecks Sicht jene Lösung, die der briti-
schen Militärführung am sympathischsten war.
Als einzigen geeigneten Hafen für einen solchen Plan nannte der General-
stabsoffizier das dänische Esbjerg. Von dort aus sei ein Marsch auf Kiel in sieben
Tagen ausführbar. Heydebreck stufte aber die Erfolgsaussichten eines solchen
Unternehmens insgesamt als gering ein. Schließlich sei es den deutschen Vertei-
digern rasch möglich, örtliche Reservedivisionen nach Norden zu beordern, ohne
die Front gegen Frankreich schwächen zu müssen. Auf diese Weise würden die
Nachschubverbindungen eines britischen Expeditionskorps bedroht.36
Zusammenfassend hielt Heydebreck fest, »dass die englische Feldarmee auch
bei einer Unternehmung nach Holstein hinein wenig Aussicht auf Erfolg hat,
dagegen sehr leicht der Vernichtung anheimfallen könnte. Trotzdem ist kein Zwei-
fel, dass die englischen massgebenden Stellen sich mit einer solchen Verwendung
der Armee wenigstens beschäftigt haben.« Schließlich seien die Enthüllungen
Delcassés wohl kaum gänzlich aus der Luft gegriffen. Auch könne das Anlaufen
von Esbjerg37 »geradezu als ein Versuch im grossen bezeichnet werden, wie sich
der dortige Hafen als Flottenstützpunkt bewähren würde«.38 Angesichts des
großen Wagnisses werde die britische Regierung aber wohl eine Feldarmee nach
Antwerpen entsenden.39
Schlieffen zeigte sich von den Ausführungen Heydebrecks vollauf überzeugt.
In seinem letzten Kriegsspiel als Generalstabschef war eine britische Landung
daher nicht in Jütland vorgesehen, da sich ein Expeditionskorps dort »etwas
einsam fühlen« würde.40 Lange nach seinem Rücktritt, im Jahr 1909, veröffentliche
Schlieffen in der »Deutschen Revue« den Aufsatz »Der Krieg in der Gegenwart«,
der auch über seine Einschätzungen über die britischen Absichten Aufschluss

35 Ebd., Bl. 45 f. 

36 Ebd.
37 Im September 1905 hatte die britische Flotte in Esbjerg geankert. Der Besuch an der westdäni-
schen Küste war allerdings lange im Vorfeld geplant und keine Reaktion auf die Marokkospannun-
gen. Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 2), S. 450.
38 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/
1605, Bl. 36–51, hier Bl. 49 f.

39 Ebd., Bl. 50.
40 Schlieffens Bemerkungen bei seinem letzten Kriegsspiel vom 23.12.1905, BArch, PH 3/646,
Bl. 1 f. Siehe auch Wilhelm von Hahnke, Die militär-politische Einstellung Graf Schlieffens zu

England, April 1931, BArch, N 36/12, S. 8–10.


OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 35

gibt. Ehe das Empire »die angekündigte Landung in einem jütischen Hafen«
ausführe, werde »es Telegramme aus Afrika, Indien, Ostasien und Amerika abwar-
ten. Wenn es die Welt in Brand steckt, hat es Besseres zu tun, als seine Armee [...]
arretieren zu lassen.«41 Schlieffen griff damit ein Topos auf, das bereits seit der
Bismarck-Zeit in der deutschen Militärführung kursierte.42 Zugleich stellte er das
Erscheinen britischer Truppen in Europa generell in Frage. Auch zur Zeit des
Jahreswechsels 1905/06 dürften die Ansichten Schlieffens ähnliche gewesen sein.
Dass eine britische Landung in Dänemark ein großes Wagnis war, bestätigte auch
der deutsche Militärattaché in London, Friedrich von der Schulenburg. Seiner
Ansicht nach werde »nur dann eine Landung in unserem Norden zu gewärtigen
sein, wenn Frankreich im Verein mit dem englischen ein Landungskorps dorthin
schickt«.43
Anfang 1906 wurde Schlieffen durch Helmuth von Moltke d.J. als General-
stabschef ersetzt. Seinem Nachfolger übergab er, gewissermaßen als Handlungs-
anweisung, die Denkschrift »Krieg gegen Frankreich«. Die Rolle Großbritanniens
wurde darin allerdings mit keiner Silbe erwähnt. Um Moltke auch in Bezug auf
die Haltung des Empires seine Ansichten mitzuteilen, verfasste Schlieffen im
Februar 1906 ein Zusatzmemorandum. Ausdrücklich warnte der scheidende
Generalstabschef seinen Nachfolger davor, deutsche Truppen aus dem Kampf
gegen Frankreich abzuziehen, um einem britischen Expeditionskorps in Esbjerg
entgegenzutreten. Ohnehin würden die Briten den Verlauf der ersten Schlacht
abwarten, ehe sie sich zum Einschreiten entschlössen. Falle diese zugunsten
Deutschlands aus, »so werden die Engländer wahrscheinlich ihr aussichtslo-
ses Unternehmen aufgeben«. In Erwartung eines britischen Expeditionskorps
»auf einem entlegenen zukünftigen Kriegsschauplatz eine Armee, ein Korps,
eine Division zurückzulassen, die den Franzosen gegenüber die Entscheidung
bringen könnten«, wäre ein verhängnisvoller Fehler, so Schlieffen. Gegen eine
gelandete britische Expeditionsstreitmacht müsste der deutsche Generalstab
vielmehr »alle noch im Lande befindlichen Kräfte, und es sind deren noch im-
mer recht beträchtliche, zusammenziehen und die eingedrungenen Engländer
erdrücken«.44

41 Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, 1909, abgedruckt in: Alfred von Schlieffen, Gesammelte
Schriften, Bd 1, Berlin 1913, S. 11–22, hier S. 21.
42 Siehe Kap. 3.
43 Schulenburg an das preuß. Kriegsministerium, 31.1.1906, Politisches Archiv des Auswärtigen
Amts, Berlin (PA-AA), R 5492, Bl. 66–78, hier Bl. 71 f.

44 Zusatzmemorandum Schlieffens vom Februar 1906, abgedruckt in: Ritter, Der Schlieffenplan
(wie Anm. 11), S. 174–178, hier S. 177 f.

36 Lukas Grawe OLDENBOURG

Um sicherzustellen, dass Moltke, der in einigen Dingen durchaus anderer


Ansicht war als sein Vorgänger,45 diesen Einschätzungen zustimmte, lancierte
Schlieffen schließlich einen Aufsatz des Generalstabsoffiziers Ferdinand von
Schmerfeld. Dieser behandelte die Ansichten des älteren Moltke über feindliche
Landungen an den deutschen Küsten und erschien Anfang 1906 im Generalstabs-
organ »Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde«. Direkt zu Be-
ginn hieß es dort: »Die Gefahr feindlicher Landungen an den deutschen Küsten
ist in früheren Zeiten immer überschätzt worden und wird noch heute vielfach
überschätzt.«46 Eine britische Landung in Dänemark schien demnach aus Sicht
des Großen Generalstabs und seines scheidenden Chefs extrem unwahrscheinlich
zu sein, eine Landung in Norddeutschland schloss man gänzlich aus. Die Bedeu-
tung, die ein britischer Kriegseintritt und die Entsendung eines Expeditionsheeres
hatten, wurde von Schlieffen eindeutig unterschätzt,47 was auch mit den Ein-
schätzungen zur britischen Dänemark-Option zusammenhing. Zwar schien sie
aus deutscher Sicht die verlockendste britische Landungsmöglichkeit zu bieten,
doch war sie die mit Abstand riskanteste. Da der Generalstab zudem davon aus-
ging, Großbritannien werde nicht als französisches Anhängsel fungieren wollen,
schien ein ausgedehntes britisches Militärengagement auf dem Kontinent gene-
rell fraglich zu sein. Der ehemalige Generalstabsoffizier Stefan von Velsen brachte
diese Ansicht rückblickend auf den Punkt:

»Wenn in Momenten schärferer politischer Spannungen ein aktives Eingreifen Englands


diskutiert wurde, dann war wohl von dem Expeditionskorps von 100 000 Mann, von
Landungsmöglichkeiten in Dänemark (Esbjerg) und dgl. die Rede, aber man nahm das alles
neben den Problemen des Zweifrontenkrieges nicht sehr ernst.«48

45 Siehe Moltkes Brief an seine Frau, 18.6.1904, abgedruckt in: Helmuth von Moltke, Erinne-
rungen – Briefe – Dokumente 1877–1916. Ein Bild vom Kriegsausbruch, erster Kriegsführung und
Persönlichkeit des ersten militärischen Führers des Krieges. Hrsg. von Eliza von Moltke, Stutt-
gart 1922, S. 292.
46 Ferdinand von Schmerfeld, Moltkes Ansichten über feindliche Landungen an den deutschen
Küsten. In: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 3 (1906), S. 87–99, hier S. 87.
47 Vgl. auch Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk (wie Anm. 12), S. 195.
48 Stefan von Velsen, Bild auf Bild, 1950/51, BArch, MSG 2/10949, S. 28. Dazu auch Stefan von
Velsen, Deutsche Generalstabsoffiziere im 1. Weltkrieg 1914–1918. Erinnerungen. In: Die Welt als
Geschichte, 16 (1956), S. 250–293, hier S. 251.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 37

b) Moltke und die britische Bedrohung der deutschen


Nordflanke
Helmuth von Moltke trat am 1. Januar 1906 sein Amt als neuer Generalstabschef
an. Obwohl er in vielen Dingen an den Hinterlassenschaften seines Vorgängers
festhielt, beispielsweise an der »Frankreich zuerst«-Devise der deutschen Kriegs-
planung,49 bemühte er sich doch von Beginn an, dem Generalstab seinen eigenen
Stempel aufzudrücken. Auch war er eher als Schlieffen dazu bereit, als überholt
erkannte Ansichten zu revidieren. Neben seinen Bemühungen, von der einsei-
tigen Festlegung auf einen Umfassungsangriff abzurücken, ist hier vor allem sein
Einsatz für realistischere und kriegsgemäßere Kaisermanöver zu nennen, in
dessen Rahmen er Wilhelm II. davon überzeugen konnte, auf die Führung einer
Manöverpartei zu verzichten.50
Im Hinblick auf die Einschätzung der Gefahren, die von einer britischen
Landung an Deutschlands Nordflanke ausgingen, verließ sich Moltke nicht auf
die Vorgaben seines Vorgängers, sondern zog stattdessen eigene Schlussfolge-
rungen. Hatte Schlieffen einer möglichen britischen Nordoperation nur wenig
Bedeutung beigemessen, machte der neue Generalstabschef dem Admiralstab
und der deutschen Reichsleitung schnell klar, dass er zu anderen Urteilen kam.
Bereits zwei Monate nach seinem Dienstantritt, während der Spannungen auf der
Algeciras-Konferenz,51 unterrichtete Moltke den Reichskanzler über die britische
Einstellung bezüglich eines europäischen Krieges. Es war das erste Mal, dass der
Generalstab seine Einschätzungen über eine britische Landung mit der Reichslei-
tung teilte. Komme es zu einem Konflikt mit Frankreich, so begann Moltke seine
Ausführungen, werde sich Großbritannien auf die Seite der Dritten Republik stel-
len, um die Integrität Belgiens zu schützen. Dieses Endziel könne

»aber nicht erreicht werden durch den alleinigen Einsatz der Flotte. Dazu sei auch der
Einsatz der Landarmee erforderlich. Die Heranführung der Landarmee sei geplant:
entweder – nach Vernichtung der deutschen Flotte – nach der jütischen oder schleswig-
schen Küste, oder – wenn die Vernichtung der deutschen Flotte nicht gelungen sei – nach
der belgischen oder holländischen Küste.«52

49 Bis 1908/09 nahm Moltke sogar keinerlei Veränderungen an der Kriegsplanung Schlieffens vor.
Erst danach setzte er auch eigene Ideen um. Siehe Annika Mombauer, Der Moltkeplan: Modifika-
tion des Schlieffenplans bei gleichen Zielen? In: Der Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 79–99.
50 Annika Mombauer, Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, Cambridge,
New York 2001, S. 58–66.
51 Siehe Konrad Canis, Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn
[u. a.] 2011, S. 169–190.

52 Moltke an Bülow, 23.2.1906, abgedruckt in: GP, Bd 21/2, Nr. 7226.


38 Lukas Grawe OLDENBOURG

Erstmals nannte Moltke damit eine Voraussetzung einer britischen Landung in


Dänemark: Die Vernichtung der zu diesem Zeitpunkt noch im Aufbau begriffenen
deutschen Flotte.
Zur gleichen Zeit berichtete der Generalstabschef auch seinem Chefkollegen
Büchsel von Nachrichten, denen zufolge die britische Militärführung eine Lan-
dung in Jütland als »wirksamste Maßregel« in einem Krieg gegen Deutschland
erblicke, »besonders wenn sie mit französischen Kräften zusammen stattfindet
derart, dass 3 englische und 3 französische Armeekorps unter englischer Führung
nach Berlin in Marsch gesetzt würden«.53 Wie zuvor bereits Schulenburg brachte
Moltke damit ein weiteres Gefahrenelement ins Spiel: eine Verstärkung der briti-
schen Expeditionskräfte in Jütland durch französische Truppen. Ein solches Zu-
sammenspiel der Ententemächte hätte eine weitaus größere Gefahr für Nord-
deutschland bedeutet als eine alleinige britische Unternehmung, auch wenn die
Distanz nach Berlin beträchtlich gewesen wäre. Fraglich blieb aus Sicht des
Generalstabs indes, ob Frankreich überhaupt die Mittel besaß, Kräfte nach Däne-
mark zu werfen, während deutsche Truppen auf französischem Boden standen.
Für den Fall einer alleinigen britischen Landung rechnete Moltke nicht mit
weitreichenden Offensivstößen und schloss sich damit den Urteilen Heydebrecks
an. Vielmehr habe eine solche Operation ihre Aufgabe erfüllt, »wenn es ihr ge-
lingt, 4 bis 5 deutsche Armeekorps auf 4 bis 5 Wochen vom Hauptkriegsschau-
platz abzuziehen«54 – eine Wirkung, die Moltke offensichtlich ebenso für möglich
hielt wie eine erfolgreiche Anlandung von 100 000 britischen Soldaten. Auch
wiederholte er den Hinweis, eine Landung in Dänemark oder Schleswig-Holstein
finde nur statt, sofern die im Aufbau befindliche deutsche Flotte zuvor blockiert
oder vernichtet worden sei.55 Diese war Anfang 1906 keinesfalls in der Lage, sich
mit der britischen Navy zu messen.56 Ihre Ausschaltung oder Blockierung schien
durchaus möglich zu sein. Die Mitteilung Moltkes war demnach auch eine ernste
Mahnung an den Admiralstabschef, die Kräfte zusammenzuhalten und auf ein-
zelne Offensivunternehmungen zu verzichten, um eine amphibische Landung des
Empires verhindern zu können.
Wie nah aber kamen die Einschätzungen des Generalstabs den wirklichen
britischen Plänen? Tatsächlich herrschte innerhalb des britischen Militärs ein

53 Moltke an Büchsel, 24.2.1906, BArch, RM 5/1605, Bl. 54–58, hier Bl. 56.


54 Ebd.
55 Ebd., Bl. 56 f.

56 Für einen Stärkevergleich der deutsch-britischen Flotten siehe Andreas Rose, Zwischen Empire
und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin, Boston, MA 2011 (= Ver-
öffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 70), S. 214 (1903), 390 (1906), 412
(1909).
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 39

ausgewachsener Strategiestreit, wie Großbritannien in einen europäischen Krieg


eingreifen sollte. Während das Heer um den neugegründeten Generalstab für eine
Landung britischer Expeditionstruppen in Frankreich oder Belgien warb und
damit eine Kontinentalstrategie befürwortete, machte sich die Marineführung für
eine maritime Strategie stark, in deren Rahmen auch Landungen in Schleswig-
Holstein oder Dänemark ins Auge gefasst wurden.57 Fisher, der die Army ohne-
hin immer als Projektil ansah, das von der Flotte abgefeuert werden musste,58
hatte bereits im April 1905 von einer »golden opportunity« zum Losschlagen
gesprochen und betont: »We should have the German fleet, the Kiel Canal, and
Schleswig-Holstein within a fortnight.«59 Auch der Oberbefehlshaber der Chan-
nel-Fleet, Arthur Wilson, stimmte diesen Ansichten im Sommer 1905 zu und warb
für eine amphibische Operation und einen Angriff auf den Nordostseekanal.60
Ob die Marineführung aber bereits zu diesem Zeitpunkt an die Anlandung eines
100 000 Mann starken Expeditionsheeres oder eher an kleinere amphibische
Operationen dachte, bleibt fraglich. Schließlich befand sich die britische Armee
nach den Ernüchterungen des Zweiten Burenkrieges (1899–1902) in einem gro-
ßen Umbruch. Ein schlagkräftiges Expeditionsheer mit mehr als 100 000 Mann
musste erst noch geformt werden.61
Als im Sommer 1905 ein Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich
drohte, kam es zwischen britischem Heer und Marine zu ersten Fühlungnahmen.
Hatte ein Memorandum des britischen Generalstabs zunächst noch Kompromiss-
bereitschaft erkennen lassen und betont, eine Landung in Schleswig-Holstein
bedeute für die Franzosen eine große Unterstützung, die bis zu 400 000 deutsche

57 Zur britischen Planung in den Jahren 1905/06 und zum Strategiestreit siehe Marder, From the
Dreadnought to Scapa Flow (wie Anm. 1), S. 116–119; William N. Summerton, The Development of
British Military Planning for a War against Germany, 1904–1914, London 1970, S. 23–297; Grimes,
Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 41–75; Andrew Lambert, The German North Sea
Islands, the Kiel Canal and the Danish Narrows in Royal Navy Thinking and Planning, 1905–1918.
In: The Danish Straits and German Naval Power 1905–1918. Ed. by Gerhard P. Groß and Michael
Epkenhans, Potsdam 2010, S. 35–62, und David G. Morgan-Owen, The Fear of Invasion. Strategy,
Politics, and British War Planning, 1880–1914, Oxford 2017, S. 99–127.
58 Fisher an Esher, 19.11.1903, zit. nach: Morgan-Owen, The Fear of Invasion (wie Anm. 57), S. 113.
59 Fisher an Landsdowne, 22.4.1905, zit. nach: Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10),
S. 62. Dazu auch Lambert, The German North Sea Islands (wie Anm. 57), S. 38–44.
60 Wilson an die Admiralität, 27.6.1905, zit. nach: Morgan-Owen, The Fear of Invasion (wie
Anm. 57), S. 122 f.

61 Zu den Reformen der britischen Armee nach dem Burenkrieg siehe Paul Kluke, Heeresaufbau
und Heerespolitik Englands. Vom Burenkrieg bis zum Weltkrieg, München, Berlin 1932 (= Histori-
sche Zeitschrift. Beihefte, 27), S. 77–136, und Ian Beckett, Timothy Bowman and Mark Connelly,
The British Army and the First World War, und Cambridge 2017, S. 7–12.
40 Lukas Grawe OLDENBOURG

Soldaten binden könne,62 änderte die Führung der Landstreitkräfte im Herbst ihre
Meinung. Fortan hielt man die deutsche Verteidigung im Norden für viel zu stark,
um mit einem Expeditionskorps Erfolge erzielen zu können. Außerdem glaubte
der britische Generalstab nicht mehr daran, dass eine Operation in Schleswig-
Holstein genügend deutsche Truppen von der Westfront abziehen würde.63 Statt-
dessen konzentrierten sich die Landstreitkräfte nun auf die im Winter 1905 begin-
nenden Stabsgespräche mit Frankreich und auf die im Januar 1906 anlaufenden
Verhandlungen mit dem belgischen Generalstab.64 Da die französische Armeefüh-
rung ohnehin eine direkte Verstärkung der französischen Front befürwortete,65
hatte sich die Army zu diesem Zeitpunkt für eine Strategie entschieden. Entschei-
dend für ihren Sinneswandel war der Bedeutungszuwachs, den das Heer im Falle
einer Landung in Frankreich erhielt: Während man auf diese Weise die britische
Strategie vorgeben konnte, war man im Falle einer amphibischen Operation an
der deutschen Nordflanke lediglich das Anhängsel der Navy.66
Die Entscheidung zwischen maritimer und Kontinentalstrategie fällte im
Januar 1906 das Committee of Imperial Defence (CID), das neben den wichtigsten
militärischen auch die zentralen politischen Entscheidungsträger umfasste und
dem die Rolle des obersten Entscheidungsorgans zugedacht war.67 Zwischen
Dezember 1905 und Januar 1906 tagte es viermal. Es entschied sich schließlich
aus militärstrategischen und politischen Gründen für die Pläne des britischen
Generalstabs.68 Obwohl damit eine Entscheidung zugunsten des Heeres gefallen
war, wollte sich die Flottenführung nicht mit ihrer Niederlage abfinden. In den
folgenden Jahren sahen Planspiele der Marine nach wie vor Landungsunter-
nehmen an der deutschen Nordflanke vor. Während der deutsche Generalstab

62 British Military Action in Case of War with Germany, 28.8.1905, The National Archives, Kew
(TNA), WO 106/46, Bl. 50–52.
63 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 69 f. Siehe auch Possibilities of British

Offensive Actions against Germany, Gleichen an Lascelles, 3.11.1905, TNA, WO 106/46, Bl. 99–107,
und das Memorandum on the Feasibility of landing a British Force of 100,000 Men on the Coast of
Germany, in the Event of Great Britain being in active Alliance with France in a War against
Germany, and the probable Effect on the Military Situation, 10.11.1905, ebd., Bl. 88 f.

64 Kluke, Heeresaufbau und Heerespolitik Englands (wie Anm. 61), S. 148–159, und Daniel
H. Thomas, The Guarantee of Belgian Independence and Neutrality in European Diplomacy,
1830’s–1930’s, Kingston 1983, S. 425–448.
65 Williamson, The Politics of Grand Strategy (wie Anm. 9), S. 77.
66 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 70 f.  

67 Franklyn A. Johnson, Defence by Committee: The British Committee of Imperial Defence,


1885–1959, London, New York 1960, und William J. MacDermott, British Strategic Planning and the
Committee of Imperial Defence, 1871 to 1907, Toronto 1970.
68 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 71 f.

OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 41

also fieberhaft nach dem Landungsort eines britischen Expeditionsheeres suchte,


besaß die britische Armee in den kritischen Monaten der Jahre 1905/06 keine
Gesamtstrategie, die beide Teilstreitkräfte, Heer und Flotte, gemeinsam unter-
stützten.69
Auch nach 1906 blieb die außenpolitische Lage in Europa angespannt. Vor
allem die im selben Jahr verabschiedete deutsche Flottennovelle, mit der das Deut-
sche Reich auf die rüstungstechnischen Fortschritte Großbritanniens im Bereich
des Schlachtschiffbaus (den sogenannten »Dreadnought«-Sprung) reagierte,70
trübte das deutsch-britische Verhältnis. Folglich blieb auch die Möglichkeit einer
britischen Landungsoperation bestehen. Erhärtet wurden die Befürchtungen
Moltkes im Februar 1907 durch ein brisantes Schreiben, das der Generalstab von
einem anonymen deutschen Informanten aus Großbritannien erhalten hatte. Der
mit dem Titel »Englische Rüstungen gegen Deutschland« überschriebene Brief
malte die Gefahr, die vom Empire für Deutschland ausging, in den grellsten
Farben. Ausführlich kam der Informant auch auf britische Unternehmungen in
Dänemark zu sprechen, allen voran der Ausbau des Hafens von Esbjerg. Dass
englische Marineoffiziere und Ingenieure, »entweder von der Admiralität inspi-
riert oder gar in direktem Auftrag derselben, bei den Entwürfen für Hafen‑ und
Bahnanlagen mitgewirkt haben«, sei eine Tatsache. Eine derart enorme Erweite-
rung der Hafenanlagen, wie sie geplant sei, könne nur von militärischem Interesse
getragen sein.71
Finanzierte die britische Regierung den Ausbau des Hafens von Esbjerg, um
dort ein britisches Expeditionskorps ausladen zu können? Dagegen sprach, dass
Großbritannien nicht nur die Erlaubnis der dänischen Regierung benötigt hätte,
sondern in diesem Fall auch der Mitwisserkreis viel zu groß war, um die Ge-
heimhaltung einer britischen Landung zu gewährleisten.72 Dennoch hielt Moltke
den Wahrheitsgehalt des Briefs für derart bedenkenswert, dass er ihn an den
Reichskanzler weiterleitete. Zudem erkundigte er sich bei einem befreundeten
dänischen Offizier, Louis Carl Frederik Lütken, nach Esbjergs Hafenanlagen und
den dortigen Baufortschritten.73
Insgesamt maß Moltke einer britischen Landung in Dänemark bis zum Herbst
1907 eine wesentlich höhere Bedeutung bei als Schlieffen. Das zeigen nicht nur

69 Williamson, The Politics of Grand Strategy (wie Anm. 9), S. 66.


70 Massie, Die Schalen des Zorns (wie Anm. 8), S. 407–431.
71 »Englische Rüstungen gegen Deutschland«, Moltke an Bülow, 18.2.1907, GP, Bd 21/2, Nr. 7212.
72 Rudolf Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem von 1906 bis zum 8. August
1914, Kiel 1958, S. 12.
73 Moltke an Lütken, 17.3.1907, abgedruckt in: Troels Fink, Spillet om Dansk Neutralitet
1905–1909. L. C. F. Lütken og Dansk Udenrigs‑ og Forsvarspolitik, Arhus 1959, S. 276 f.
     
42 Lukas Grawe OLDENBOURG

die zahlreichen Stellungnahmen, die er an den Admiralstab und an die Reichs-


leitung weiterleitete, sondern auch sein Engagement in den Verhandlungen mit
Dänemark.74 Aus der Sicht des Generalstabschefs und seiner 3. Abteilung schien
ein Zusammenstoß zwischen deutschen und britischen Truppen entlang des
Nordostseekanals somit keinesfalls ausgeschlossen zu sein, im Gegenteil: Nicht
Calais, Dünkirchen oder Antwerpen, sondern Esbjerg hatte man als den wahr-
scheinlichsten Landungshafen für ein britisches Expeditionskorps ausgemacht.75

3. Entwurf von Gegenmaßnahmen


Die Vorstellung einer britischen Landung an der deutschen Nordflanke war
keineswegs eine Idee des jungen 20. Jahrhunderts. Bereits im Krieg Preußens und
Österreichs gegen Dänemark 1864 drohte die britische Regierung mit einer
Landung von Truppen auf dem Kriegsschauplatz. »Was würden Sie tun, wenn
England 100 000 Mann in Schleswig-Holstein landen würde?«, fragte ein briti-
scher Diplomat Otto von Bismarck. Der preußische Ministerpräsident – darüber
unterrichtet, dass die britische Armee für ein solches Unternehmen gar nicht
gerüstet war – antwortete: »Dann würde ich den Gendarm beauftragen, sie zu
verhaften.«76 Das geflügelte Wort Bismarcks aufgreifend, stellte Moltke, nachdem
er im August 1914 die Nachricht von der Landung des britischen Expeditionskorps
in Nordfrankreich erhalten hatte, abschätzig fest: »Die arretieren wir!«77 Doch
anders als solche Aussprüche vermuten lassen, ging der deutsche Generalstab
zwischen 1905 und 1914 zunächst nicht derart leichtfertig mit der Möglichkeit
einer britischen Landung in Norddeutschland oder Dänemark um.

74 Siehe Kap. 3. e).


75 Vgl. Theobald von Schäfer, Generalstab und Admiralstab. Das Zusammenwirken von Heer und
Flotte im Weltkrieg, Berlin 1931, S. 18. Dass der Generalstab unter Moltke auch eine Landung in
Schleswig-Holstein selbst nicht gänzlich ausschloss, verdeutlicht: 3. Abteilung, Auszug aus dem
Orientierungsheft für England, 24.12.1907, S. 32, Bayerisches Hauptstaatsarchiv-Kriegsarchiv,
München (BayHStA-KA), Gstb 146.
76 Die Episode ist zum geflügelten Wort geworden. Verschiedene Versionen finden sich in
Douglas MacGregor, Margin of Victory: Five Battles That Changed the Face of Modern War,
Annapolis, MD 2016, S. 9, und Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und
1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden‑ und Doku-
mentensammlung zur Zeitgeschichte, Bd 18. Hrsg. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler,
Berlin 1973, S. 302, Anm. 23.
77 Holger Afflerbach, Die militärische Planung des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. In: Der
Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Hrsg. von Wolfgang Michalka, München 1994,
S. 280–317, hier S. 282.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 43

a) Ausbau des strategischen Bahnnetzes

Bereits unter Schlieffen leitete der Generalstab eine erste, bedeutende Maßnahme
zur Abwehr einer britischen Landung ein: Den Ausbau des strategischen Eisen-
bahnnetzes in Schleswig-Holstein. Die drei wichtigen Nord-Süd-Trassen befanden
sich fast ausnahmslos in preußischem Staatsbesitz, waren in der Regel eingleisig
und somit wenig leistungsfähig. Wirtschaftliche Gründe hatten einen Ausbau
der Linien bislang nicht notwendig erscheinen lassen. Die wachsenden Span-
nungen mit dem Empire und die Enthüllungen Delcassés führten Ende 1905
zu einem raschen Umdenken. Erstmals schienen die von der generalstabsinternen
Eisenbahnabteilung bereits zuvor geplanten Ausbaumaßnahmen politisch durch-
setzbar zu sein.78 Ende Dezember 1905 kam es im Reichseisenbahnamt in Berlin
zu ersten Verhandlungen, an denen vonseiten des Generalstabs der Chef der
Eisenbahnabteilung, Hermann von Staabs, teilnahm. Aufgefordert, die Gründe
für einen Ausbau der Strecken darzulegen, betonte Staabs, die Provinz Schleswig
sei in einem Krieg äußerst gefährdet, und zwar nicht nur durch einen Einfall aus
dem Norden, sondern auch durch eine Landung feindlicher Truppen von See aus.
»Das wirksamste und einzig mögliche Mittel, solchen feindlichen Unterneh-
mungen entgegenzutreten, bestände darin, im gegebenen Fall eine genügende
Truppenmacht überraschend schnell nach den bedrohten Gegenden zu werfen«,
führte Staabs aus. »Die Leistungsfähigkeit der hierfür in Betracht kommenden
Eisenbahnen böte aber keine Gewähr für das Gelingen eines solchen Planes.«79
Folglich forderte der Chef der Eisenbahnabteilung den Bau zweiter Gleise für die
wichtigen Nord-Süd-Trassen.80
Die Ausführungen Staabs’ trafen auf keinerlei Widerstand. Das Reich erklärte
sich bereit, Preußen bei den Kosten des Projekts, die immerhin auf 6,5 Millionen
Reichsmark veranschlagt wurden, zu unterstützen.81 Auch Bülow setzte sich für
die Verwirklichung des Ausbaus ein: Im Januar 1906 schrieb der Reichskanzler an
Wilhelm II.:

78 Staabs betont in der Rückschau: »Durch zufällige Umstände konnte über die bewilligten
Jahressummen hinaus eine Forderung durchgesetzt werden, die für die ›dritte Front‹ sehr bedeu-
tungsvoll war.« Hermann von Staabs, Aufmarsch nach zwei Fronten. Auf Grund der Operations-
pläne von 1871–1914, Berlin 1925, S. 36.
79 Verhandlungen im Reichseisenbahnamt, 30.12.1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer
Kulturbesitz, Berlin (GStA-PK), I. HA, Rep. 151, Nr. 1318, ohne Folierung.
80 Ebd.
81 Das preuß. Ministerium für auswärtige Angelegenheiten an den preuß. Finanzminister,
23.2.1906, GStA-PK, I. HA, Rep. 151, Nr. 1318, ohne Folierung.
44 Lukas Grawe OLDENBOURG

»Während es bisher als ausreichend erachtet werden konnte, die Leistungsfähigkeit des
deutschen Eisenbahnnetzes im Interesse der Landesverteidigung nach der West‑ und der
Ostgrenze hin zu erhöhen, haben die Ereignisse des letzten Sommers darauf hingewiesen,
daß auch darauf Bedacht genommen werden muß, die Küstengebiete des Reichs durch
einen strategischen Ausbau verschiedener Eisenbahnlinien gegen die Möglichkeit einer
Landung feindlicher Streitkräfte besser zu sichern.«82

Ein Promemoria des Reichseisenbahnamts räumte ganz offen ein, dass der
Ausbau für »den gewöhnlichen Verkehr allein [...] nicht erforderlich«, sondern
vielmehr im »Interesse der Landesverteidigung geboten« sei.83
Die Schilderungen von Staabs zeitigten Erfolg. Bereits im März 1906 wurden
die Nachtragsforderungen abgesegnet. Auch bei den Beratungen der Budgetkom-
mission des Reichstags warb der Chef der Eisenbahnabteilung noch einmal
für die Maßnahme.84 Letztlich stimmte der Reichstag den geforderten Baumaß-
nahmen zu,85 die 300 Kilometer zusätzliche Gleise bedeuteten. In Zukunft konnte
der Generalstab daher auf eine zweigleisige Verbindung im Westen und in der
Mitte Schleswig-Holsteins zurückgreifen, während die eingleisige östliche Nord-
Süd-Strecke erheblich verbessert worden war.86
Mit diesen Ausbaumaßnahmen gab sich der Generalstab nicht zufrieden.
Vielmehr ergriff er ein Jahr später die nächste sich bietende Gelegenheit, um das
Bahnnetz noch leistungsfähiger zu gestalten: den Ausbau des Nordostseekanals.
Dieser war nur zwölf Jahre nach Fertigstellung des Kanals nötig geworden, da ihn
die immer größer werdenden Großkampfschiffe der deutschen Marine mit ihrem
Tiefgang nicht mehr durchfahren konnten.87 Im Rahmen der kommissarischen
Beratungen über das Erweiterungsprojekt am 6. Februar 1907 im Reichsamt des
Innern waren daher nicht nur Vertreter der Marine anwesend, sondern auch zwei
Offiziere des Großen Generalstabs. Diese setzten sich für einen Ausbau der
unzureichenden Kanalbrücken ein. Man lege größten Wert darauf, dass »der
planmäßige Verlauf der Mobilmachung nicht durch Störungen an den Kanalbrü-
cken in Frage gestellt werde und daß auch ein etwaiger Aufmarsch im nördlichen
Schleswig-Holstein unbedingt sichergestellt sei«. Bei einem Angriff aus dem
Norden würden »größere Truppenansammlungen nach dort geworfen werden,

82 Bülow an Wilhelm II., 9.1.1906, BArch, R 43/107, Bl. 22 f.


83 Promemoria des Reichs-Eisenbahn-Amts, 19.1.1906, Anlage 1: Ergänzungsetat für 1906, BArch,


R 43/107, Bl. 25–27. Staabs hingegen verkaufte die Baumaßnahmen in der Rückschau auch als
wirtschaftlich notwendig. Staabs, Aufmarsch nach zwei Fronten (wie Anm. 78), S. 38.
84 Kommission des Reichshaushalts-Etats, 30.3.1906, BArch, R 101/2964, Bl. 255.
85 Reichstagsdebatte, 85. Sitzung, 5.4.1906, Stenographische Berichte, Bd 216, S. 2657.
86 Staabs, Aufmarsch nach zwei Fronten (wie Anm. 78), S. 38.
87 Salewski, Die militärische Bedeutung (wie Anm. 21), S. 108–110.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 45

Unternehmungen von den Küsten oder auch von Dänemark her können schleu-
nige Truppenversammlungen nördlich des Kanals erforderlich machen, deren
Transport bei den jetzigen Übergangsverhältnissen [...] nicht genügend gesichert
erscheine«.88 Anstelle von den störungsanfälligen Drehbrücken warben die
Generalstabsoffiziere daher für den Bau von Hochbrücken über den Nordostsee-
kanal und setzten sich damit durch. Die von den Militärs gewünschte Hochbrücke
bei Rendsburg wurde in Angriff genommen und 1913 fertiggestellt.89 Damit sorgte
sie für eine weitere Leistungssteigerung der Eisenbahnverbindungen.

b) Zusammenarbeit zwischen General‑ und Admiralstab

Für die Verhinderung von feindlichen amphibischen Landungsoperationen spielt


die Zusammenarbeit zwischen Heer und Flotte des Verteidigers eine zentrale Rolle.
Im Falle des Deutschen Reichs fiel diese Kooperation jedoch eher gering aus.90 Die
Chefs des Admiral‑ und Generalstabs standen zwar in regelmäßigem Briefkontakt,
tauschten sich aber lediglich über operative Detailfragen aus. Eine gemeinsame
Gesamtstrategie während eines europäischen Krieges wurde nicht ausgearbeitet.91
Moltke stand seit Beginn seiner Amtszeit auf dem Standpunkt, dass die deutsche
Flotte der Armee im Falle eines Krieges am besten dienen könne, wenn sie »mit
allen Kräften den feindlichen Seestreitkräften den größten Schaden zufügt, ohne
sich für Nebenaufgaben [...] zu zersplittern«.92 Auch Transport‑ und Landungs-
möglichkeiten eines britischen Expeditionsheeres waren von den beiden Teilstreit-
kräften wiederholt analysiert worden.93 Angesichts der maritimen Überlegenheit
Großbritanniens bezifferte der deutsche Admiralstab die Möglichkeit, eine briti-
sche Landung auf dem Kontinent noch vor der Ausschiffung der Truppen zu

88 Kommissarische Beratungen über das Erweiterungsprojekt für den Kaiser-Wilhelm-Kanal,


6.2.1907, BArch, RM 5/1925, Bl. 89 f.

89 Erich Thiesen, Die Rendsburger Hochbrücke mit Schwebefähre, Berlin 2014, S. 6–70.
90 Schäfer, Generalstab und Admiralstab (wie Anm. 75), S. 3–20; Kapitän zur See Weniger, Die
Entwicklung des Operationsplanes für die deutsche Schlachtflotte. In: Marine-Rundschau, 35
(1930), S. 1–10, 51–59; Friedrich-Christian Stahl, Der Große Generalstab, seine Beziehungen zum
Admiralstab und seine Gedanken zu den Operationsplänen der Marine. In: Wehrkunde, 12 (1963),
S. 6–12, und Stahl, Armee und Marine (wie Anm. 17).
91 Stahl, Armee und Marine (wie Anm. 17), S. 47.
92 Moltke an Baudissin, 2.4.1909, zit. nach: Zusammenarbeit zwischen Heer und Marine vor dem
Kriege und im Jahr 1914, BArch, RH 61/142, Bl. 13.
93 Zuletzt in: Chef des Generalstabes der Armee, Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, PA
AA, R 995.
46 Lukas Grawe OLDENBOURG

verhindern, als äußerst gering ein.94 Dem Generalstab war eine Landung der briti-
schen Streitkräfte auf dem Kontinent sogar recht sympathisch, glaubte er auf diese
Weise doch eine Möglichkeit gegeben, die britische Armee abseits der Heimat
vernichten zu können.95 Angenehmer war es allerdings, wenn eine Vernichtung
der britischen Truppen im Zuge des Westfeldzuges durchgeführt werden konnte,
ohne auch noch Truppen nach Norddeutschland abstellen zu müssen.
Ungeachtet dieser Einschränkungen informierten sich beide Behörden über
Möglichkeiten einer amphibischen Operation Großbritanniens und tauschten
Informationen miteinander aus.96 Außerdem nahm die deutsche Flotte eine nicht
unbedeutende Rolle in den Abwehrplänen des Generalstabs ein. Schließlich ging
er davon aus, dass eine britische Landung in Norddeutschland oder Dänemark
erst nach der Vernichtung der deutschen Seestreitkräfte möglich sei.97 In Bespre-
chungen mit Admiralstabschef Friedrich von Baudissin drängte Moltke 1907 die
Marineführung daher zu einer defensiveren Strategie, da »es für die Heeresfüh-
rung ungünstig sei, wenn die Engländer bald nach Beginn des Krieges die un-
bestrittene Seeherrschaft in der Nordsee und damit die Möglichkeit, nach be-
liebigen Richtungen Truppen zu transportieren, erlangten«.98 Derartige Bitten
um Beschränkung des maritimen Offensivgeistes blieben indes nur eine kurze
Episode. Bereits ein Jahr später erhob Moltke keinerlei Einwände mehr gegen
die neue offensive Planung des Admiralstabs.99 Die Flotte solle sich durch die
Möglichkeit einer britischen Landung nicht in ihren Planungen einschränken
lassen,100 lautete nun das Credo des Generalstabschefs.

94 Schäfer, Generalstab und Admiralstab (wie Anm. 75), S. 17–20.


95 So Schlieffen in seinem Zusatzmemorandum vom Februar 1906, abgedruckt in: Ritter, Der
Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 174–178, hier S. 176. Moltke soll sich gegenüber Marineoffizieren
geäußert haben, »wenn das englische Expeditionskorps auf das Festland komme, wäre ihm das
nur erwünscht; dann würde England gleich mit auf dem Land besiegt«. Schäfer, Generalstab und
Admiralstab (wie Anm. 75), S. 19.
96 Schlieffen an Büchsel, 3.11.1905, und Büchsel an Schlieffen, 10.12.1905, BArch, RM 5/1605,
Bl. 31 f.; Moltke an Büchsel, 24.2.1906, ebd., Bl. 54–58, sowie Moltke an Baudissin, 9.3.1908,

RM 5/1606, Bl. 7. Auch schickte der Generalstab die Denkschrift Heydebrecks und das Memo-
randum über das britische Expeditionskorps von 1912 an den Admiralstab. Zu nennen sind darüber
hinaus die Fühlungnahmen zwischen Georg von Waldersee und Behncke, 5.11.1913, BArch, RM 5/
1615, Bl. 102, und RM 5/1630, Bl. 52.
97 Moltke an Bülow, 23.2.1906, abgedruckt in: GP, Bd 21/2, Nr. 7226.
98 Randbemerkung Baudissins zum Operationsbefehl von 1907, zit. nach: Weniger, Die Entwick-
lung des Operationsplanes (wie Anm. 90), S. 3.
99 Ebd.
100 Moltke an Baudissin, 9.3.1908, BArch, RM 5/1606, Bl. 7. Siehe auch Walther Hubatsch, Der
Admiralstab und die obersten Marinebehörden in Deutschland 1848–1945, Frankfurt a. M. 1958,

S. 142 f. 
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 47

Die wachsende Stärke der deutschen Flotte beeinflusste auch die Ansichten
innerhalb des Generalstabs. Zwar konnte der Vorsprung Großbritanniens bei
Weitem nicht eingeholt werden, wohl aber wurde es für die britische Flotte zuneh-
mend riskanter, einen Angriff auf deutsche Häfen oder Küstenstädte zu wagen.101
Die deutsche Flotte war schließlich in erster Linie als Drohinstrument und nicht
als Offensivwaffe konzipiert worden. Dieser »Risikotheorie« zufolge sollte die
deutsche Flotte so groß sein, dass ein (britischer) Angriff viel zu riskant und
verlustreich gewesen wäre. Statt den Verlust der Suprematie zur See zu riskieren,
werde die britische Regierung eher ein Bündnis mit dem Deutschen Reich suchen,
war die Annahme des Architekten der deutschen Flotte Alfred von Tirpitz.102 Dies
wirkte sich auch auf etwaige britische Landungspläne in Dänemark aus: Allein
der Transport der Truppen nach Esbjerg war angesichts der wachsenden deut-
schen Hochseeflotte ein Wagnis. Enge Absprachen zwischen General‑ und Admi-
ralstab waren daher kaum nötig, bot doch bereits das Wachstum der deutschen
Flotte eine gewisse Gewähr, dass das Empire eine Landung an der Nordflanke des
Reichs unterließ.
Von dieser Annahme ausgehend, hätte der Generalstab eigentlich eine weitere
Vergrößerung der deutschen Seestreitkräfte fordern oder zumindest unterstützen
müssen. Dass die Behörde dies nicht tat, verdeutlicht die untergeordnete Bedeu-
tung der deutschen Nordflanke: Im Falle eines Krieges waren die Anstrengungen
gegen Frankreich und Russland wesentlich wichtiger als mögliche Operationen in
Schleswig-Holstein. Folglich machte eine gesteigerte Flottenrüstung zwar eine
britische Landung an Deutschlands Nordflanke unwahrscheinlicher, doch entzog
sie dem Heer finanzielle Mittel, die dieses im Zweifrontenkrieg benötigte. Eine
enge Kooperation zwischen Heer und Marine bzw. zwischen Generalstab und
Admiralstab musste daher bereits an den unterschiedlichen Prioritäten scheitern.

c) Taktisch-operative Gegenmaßnahmen

Um seine Offiziere auf einen Krieg vorzubereiten, führte der Generalstab Kriegs-
spiele und Generalstabsreisen durch und vermittelte mithilfe von taktischen

101 Für einen Stärkevergleich der deutsch-britischen Flotten siehe Rose, Zwischen Empire und
Kontinent (wie Anm. 56), S. 214 (1903), 390 (1906), 412 (1909).
102 Aus der umfangreichen Literatur seien hier genannt: Volker R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan.
Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971
(= Geschichtliche Studien zu Politik und Gesellschaft, 1), und Rolf Hobson, Maritimer Imperialis-
mus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914, München
2004 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 61), v. a. S. 231–269.

48 Lukas Grawe OLDENBOURG

Aufgaben das dafür notwendige theoretische Wissen.103 Während die taktischen


Aufgaben eher für die Generalstabsoffiziere mit niedrigem Dienstalter gedacht
waren, konnten die Abteilungschefs und Oberquartiermeister ihre Fähigkeiten
vor allem bei den Generalstabsreisen beweisen, die jährlich im östlichen und
westlichen Grenzgebiet des Reiches stattfanden und denen vor allem ein Zwei-
frontenkrieg gegen Russland und Frankreich als Szenario zugrunde lag. Wieder-
holt wurde aber auch eine britische Landung in Schleswig-Holstein oder Däne-
mark in Kriegsspiele oder Übungsreisen miteinbezogen.
Bereits 1896 legte Schlieffen den subalternen Offizieren seiner Behörde eine
Schlussaufgabe vor, in der ein dänisches Korps auf den Nordostseekanal vor-
rückte, unterstützt von einem – im Text nicht so bezeichneten – britischen Expe-
ditionskorps. Wie groß dieses Korps geschätzt wurde, geht aus der Aufgaben-
stellung allerdings nicht hervor.104 Schlieffen betonte in seiner Lösung, ange-
sichts der numerischen Unterlegenheit der deutschen Verteidiger müssten diese
die feindlichen Korps isoliert schlagen. Das dänische Korps müsse mit allen
verfügbaren Kräften vernichtet werden, ehe die britischen Verstärkungen lande-
ten. Auf diese Weise könne man die Briten vielleicht sogar ganz von einer
Ausschiffung ihrer Truppen abhalten.105 Unschwer lassen sich hier Schlieffens
Glaubenssätze erkennen: Um gegen einen numerisch überlegenen Gegner zum
Erfolg zu kommen, mussten an entscheidender Stelle eine Überzahl erzielt und
die getrennten Korps einzeln geschlagen werden.106
Der Entwurf taktisch-operativer Gegenmaßnahmen war indes nicht nur Chef-
sache. Auch in den einzelnen Abteilungen ließen die jeweiligen Leiter Kriegs-
spiele und taktische Aufgaben durchführen. So hielt die Eisenbahnabteilung 1907
ein ähnliches Kriegsspiel ab, bei dem britische und französische Truppen in
Jütland landeten und in Schleswig-Holstein einmarschierten. Die Eisenbahnabtei-
lung legte ihr Hauptaugenmerk bei der Lösung des Szenarios vor allem auf Trans-
portfragen. Mithilfe von eilends herangeführten Verstärkungen, die sich aus
Landwehreinheiten und sonstigen Ersatztruppen zusammensetzten, sollten die
feindlichen Landungstruppen möglichst rasch aufgehalten werden, ohne aktive

103 Arden Bucholz, Moltke, Schlieffen, and Prussian War Planning, New York 1991, S. 12–15,
28–38, 75–83 und S. 242–254, sowie Werner Knoll, Das Kriegsspiel als Übungs‑ und Ausbildungs-
methode. Zu seiner Entwicklung und Anwendung in deutschen Heeren des 19. und 20. Jahrhun-
derts. Allgemeiner Überblick von seiner Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Zeit-
schrift für Heereskunde, 76 (2012), S. 168–179.
104 Da das dänische Korps mit 30 Bataillonen Infanterie, 12 Eskadrons Kavallerie und 96 Ge-
schützen angegeben wird, ist für das britische Landungskorps eine ähnliche Größe anzunehmen.
105 Taktisch-strategische Schlussaufgabe 1896, abgedruckt in: Schlieffen, Dienstschriften (wie
Anm. 14), S. 31–41.
106 Groß, Mythos und Wirklichkeit (wie Anm. 32), S. 61–98.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 49

Formationen aus dem Kampf gegen Frankreich abzuziehen.107 Schon Heydebreck


hatte in seiner umfassenden Denkschrift betont, bis feindliche Truppen in die
Gegend von Schleswig vorgedrungen seien, werde es »der deutschen Leitung
wahrscheinlich gelungen sein, weitere zum Küstenschutz etwa in Mecklenburg
und Hannover zurückgelassene Reserve-Divisionen mit der Bahn heranzufüh-
ren«.108 Innerhalb des Generalstabs war man demnach recht optimistisch, trotz
des Aufmarschs eines Großteils des deutschen Heeres an der Westfront in Nord-
deutschland rasch die numerische Überlegenheit über ein feindliches Expediti-
onskorps zu erreichen.
Generalstabschef Moltke beschäftigte sich in seinen taktischen Schlussauf-
gaben des Jahres 1908 ebenfalls mit einer britischen Landung an der deutschen
Nordflanke. Darin führte Deutschland Krieg gegen Frankreich und Russland,
während ein 100 000 Mann starkes britisches Expeditionskorps in Jütland lan-
dete und auf den Nordostseekanal zumarschierte.109 Moltke betonte in seiner
Musterlösung, eine feindliche Landungsarmee werde sich auf ihrem Weg von
Jütland nach Süden aufgrund der geografischen Begebenheiten teilen müssen:
ein Armeekorps werde westlich, zwei würden östlich der Eider vorrücken. Trotz
numerischer Unterlegenheit dürften sich die deutschen Verteidiger, in erster Linie
Landwehr und Reserveeinheiten, unter keinen Umständen zurückziehen, viel-
mehr gelte es, den Nordostseekanal keinesfalls kampflos aufzugeben. Einer feind-
lichen Landungsarmee gegenüber sei »energische Offensive immer geboten. Ihre
Basis sind die Schiffe. Wird sie geschlagen und verfolgt, so kann ihr die Wieder-
einschiffung unmöglich gemacht werden«, mahnte der Generalstabschef. Folg-
lich stimmte er jenen Generalstabsoffizieren zu, die in ihren Lösungsansätzen
»ohne Zögern angreifen wollen«.110

107 Kriegsspiel der Eisenbahnabteilung, April 1907, BArch, N 46/102, Bl. 94-108. Siehe auch die
taktische Aufgabe der 1. Abteilung, 19.1.1905, ebd., Bl. 20–25, die ebenfalls mit einer britischen
Landung rechnete. Dazu auch: Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Welt-
krieg. Hrsg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957 (= Deutsche Geschichts-
quellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 41), S. 103.
108 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/
1605, Bl. 36–51, hier Bl. 49.
109 Schlussaufgaben des Generalstabschefs, März 1908, BArch, PH 3/438, Bl. 67–70.
110 Moltke, Besprechung der Schlußaufgaben 1908, 17.3.1908, ebd., Bl. 71–78, hier Bl. 72–74. Im
Jahr 1910 veranstaltete der Generalstab sogar eine Generalstabsreise in Schleswig-Holstein. Leider
lassen sich weder in den Akten noch in der Memoirenliteratur Einzelheiten über die Reise finden.
Chef des Generalstabes der Armee, Bestimmungen für die große Generalstabsreise 1910, BArch,
PH 3/658, Bl. 176–179. Dazu auch Erich Ludendorff, Mein militärischer Werdegang. Blätter der
Erinnerung an unser stolzes Heer, Berlin 1933, S. 125 f.

50 Lukas Grawe OLDENBOURG

Fasst man die taktisch-operativen Gegenmaßnahmen zusammen, ergibt sich


ein klares Bild, das nicht von den restlichen Grundsätzen des deutschen General-
stabs abweicht.111 Trotz numerischer Unterlegenheit sollte die Offensive gesucht
und der Gegner einzeln geschlagen werden, um auf diese Weise eine schnelle
Entscheidung an der Nordflanke herbeizuführen. Eine Vernichtung des Gegners
mithilfe einer eindeutigen Schwerpunktbildung an entscheidender Stelle schien
gegenüber einem britischen Expeditionskorps auch daher erfolgsversprechend zu
sein, da dessen Rückzugsweg abgeschnitten werden konnte: Landungskorps waren
immer auf die verwundbare Verbindung zu ihren Schiffen angewiesen. Gestützt auf
das deutsche Bahnnetz und damit wesentlich beweglicher als der Gegner, sollten
die deutschen Truppen ihrem Feind in die Flanke fallen. Insofern waren jene Gegen-
maßnahmen, die der deutsche Generalstab für einen schleswig-holsteinischen
Kriegsschauplatz entwarf, identisch mit seinen Plänen für den Zweifrontenkrieg
gegen Frankreich und Russland. Lediglich der Maßstab wurde angepasst.

d) Heerespersonelle Maßnahmen

In seiner gesamten Amtszeit als Generalstabschef hatte sich Schlieffen stets gegen
eine Zersplitterung der Kräfte ausgesprochen und betont, jeder Mann müsse an
der entscheidenden Front – nämlich gegen Frankreich – zusammengezogen
werden.112 Dieser Ansicht seines Vorgängers schloss sich Moltke an. Allein auf die
vor Ort befindlichen Verbände wollte sich der neue Generalstabschef aber nicht
verlassen. Stattdessen warb er bereits kurz nach seinem Dienstantritt in einem
Schreiben an das preußische Kriegsministerium für die Bildung einer »Besat-
zungs-Armee«, um den Einbruch feindlicher Kräfte »in ungeschützte Landesteile«
zu verhindern. Die »Besatzungs-Armee« sollte bereits im Frieden formiert werden
und sich aus den in jedem Armeekorpsbezirk vorhandenen überzähligen Ersatz-
bataillonen bilden.113 Das preußische Kriegsministerium lehnte eine solche
Zusammenfassung der Ersatzbataillone aber ab, waren diese im Kriegsfall doch
für die Auffüllung der Verluste der Feldtruppen vorgesehen.

111 Groß, Mythos und Wirklichkeit (wie Anm. 32), S. 61–104.


112 Zusatzmemorandum Schlieffens vom Februar 1906, abgedruckt in: Ritter, Der Schlieffenplan
(wie Anm. 11), S. 174–178, hier S. 177 f.

113 Moltke an das Allgemeine Kriegsdepartement, 6.4.1906, abgedruckt in: Kriegsrüstung und
Kriegswirtschaft. Die militärische, wirtschaftliche und finanzielle Rüstung Deutschlands von der
Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges, Anlagenband. Hrsg. vom Reichsarchiv, Berlin
1930, S. 94 f., hier S. 94. Siehe auch Moltke an das preuß. Kriegsministerium, 1.7.1910, ebd.,

S. 118–120.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 51

Moltke ließ aber nicht locker und wiederholte in einem weiteren Schreiben
seine Forderungen. Er wolle nicht das gesamte Ersatzheer mobilmachen, sondern
habe »die beantragten Vorbereitungen für den Schutz Schleswig-Holsteins in den
Vordergrund gestellt, weil sich dort eine Lücke am empfindlichsten geltend«
mache, teilte er Kriegsminister Josias von Heeringen am 20. August 1910 mit. Vom
Ersatzheer erwarte er keine großangelegten Operationen, sondern lediglich
entschiedenen Widerstand an vorbereiteten Verteidigungslinien an der Eider und
der Schlei.114 Moltkes intensive Warnungen zeigten nun den gewünschten Erfolg:
Das Kriegsministerium lenkte ein und genehmigte im Rahmen des »Gesetzes über
die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres« vom 27. März 1911 die Aufstel-
lung mobiler Ersatzformationen.115 Diese waren fortan auch dafür da, mögliche
Landungsaktionen der Briten an Deutschlands Nordflanke zu vereiteln.
Dass Moltke die Bedrohung durch ein britisches Expeditionskorps höher
einschätzte als sein Vorgänger, verdeutlicht auch die Anfertigung eines Nordauf-
marsches, mit dem ab 1906/07 begonnen wurde. »Gegen den Einmarsch einer in
Jütland gelandeten Armee« sollten ab dem 9. bzw. 10. Mobilmachungstag das
IX. Reservekorps, das IX. Ersatzkorps und die 34. gemischte Landwehrbrigade
bei Kappeln/Flensburg, Schleswig, Eckernförde und Rendsburg aufmarschie-
ren.116 Ab 1909/10 erhielten die in Schleswig-Holstein aufmarschierenden Trup-
pen die Bezeichnung »Nordarmee«.117 Im Mobilmachungsjahr 1914/15 sollten
schließlich neben dem IX. Reservekorps noch vier gemischte Landwehrbrigaden
in Schleswig-Holstein aufmarschieren. »Tritt eine Bedrohung der deutschen
Küste nicht ein«, betonte der Mobilmachungs-Terminkalender, »so wird das IX.
K. und unter Umständen auch die Nordbrigade nach einem anderen Kriegsschau-
platz beordert.«118
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, marschierten diese Truppen
vom 8. bis zum 10. Mobilmachungstag gemäß dem Plan im Osten Schleswig-Hol-
steins zwischen der Flensburger Förde und der Eckernförder Bucht sowie nördlich
des Nordostseekanals auf.119 Erst am 22. August erhielt der Generalstab sichere
Nachrichten von der Landung des britischen Expeditionsheeres in Frankreich;

114 Moltke an das preuß. Kriegsministerium, 20.8.1910, abgedruckt in: ebd., S. 123–125. Der
Generalstab plante Zerstörungen von Bahnlinien und Kanälen, um den britischen Vormarsch
aufzuhalten. Aufmarsch 1906/07, abgedruckt in: Der Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 409–417,
hier S. 417.
115 Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 78.
116 Aufmarsch 1906/07, abgedruckt in: Der Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 409–417, hier S. 417.
117 Aufmarsch 1909/10, abgedruckt ebd., S. 432–442, hier S. 441 f.

118 Mobilmachungs-Terminkalender 1914/15, abgedruckt ebd., S. 478–484, hier S. 479.


119 Der Weltkrieg 1914 bis 1918, Bd 1: Die Grenzschlachten im Westen. Hrsg. vom Reichsarchiv,
Berlin 1925, S. 70 f.

52 Lukas Grawe OLDENBOURG

eine Bedrohung im Norden war damit obsolet geworden. Das IX. Reservekorps


und die gemischten Landwehrbrigaden wurden daher sofort verladen und trafen
am 24. August im Raum Brüssel ein,120 kamen also für die Entscheidung im
Westen nicht zu spät.

e) Verhandlungen mit Dänemark

Die außenpolitisch bedeutsamste Gegenmaßnahme fiel dem Generalstab in den


Schoß, ging die dazugehörige Initiative doch von der liberalen dänischen Regie-
rung um Ministerpräsident Jens Christian Christensen aus.121 In der Zeit zuneh-
mender deutsch-britischer Spannungen fürchtete Christensen, die Neutralität
Dänemarks könne von einer der beiden Mächte verletzt werden.122 Um die deut-
sche Haltung im Falle eines deutsch-britischen Konflikts zu erkunden, baute der
dänische Ministerpräsident auf die Sondierungen seines Vertrauensmannes Louis
Carl Frederik Lütken. Der Berufsoffizier hatte sich 1902/03 vergeblich um den
dänischen Militärattachéposten in Berlin beworben, während eines Aufenthaltes
in der deutschen Hauptstadt aber die Bekanntschaft mit vielen hochrangigen
deutschen Generalen gemacht. Dazu gehörte auch Helmuth von Moltke.123
Über die Rolle Dänemarks in einem deutsch-britischen Krieg hatte indes auch
der neue deutsche Generalstabschef nachgedacht. Bereits kurz nach seinem
Amtsantritt stellte Moltke Überlegungen an, wie das Deutsche Reich die Bezie-
hungen zu seinem nördlichen Nachbarn verbessern könnte. Diese waren seit dem
Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 und der Grenzziehung im Frieden von Wien
angespannt. Hinzu kam die ungeklärte Optantenfrage, die auf beiden Seiten für
Verstimmungen sorgte.124 Landete ein britisches Expeditionskorps in Esbjerg, war

120 Ebd., S. 432, und Klaus-Jürgen Bremm, Armeen unter Dampf. Die Eisenbahnen in der europäi-
schen Kriegsgeschichte 1871–1918, Paderborn [u. a.] 2013, S. 41.

121 Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 14.
122 Folkert Krieger, Deutsch-dänische Beziehungen 1901–1914, Bonn 1974, S. 197; auch Patrick
Salmon, Scandinavia and the Great Powers, 1890–1940, New York 1997, S. 53–82, und Michael
Epkenhans, Germany and Denmark before 1914. In: The Danish Straits and German Naval Power
(wie Anm. 57), S. 3–12.
123 Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 14 f., und Troels Fink, Deutschland als

Problem Dänemarks. Die geschichtlichen Voraussetzungen der dänischen Außenpolitik, Flens-


burg 1968, S. 98.
124 Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörig-
keit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001 (= Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft, 150), S. 202–211, und Matthew P. Fitzpatrick, Purging the
Empire. Mass Expulsions in Germany, 1871–1914, Oxford 2015, S. 143–176.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 53

das Deutsche Reich aber auf die Verteidigungsbereitschaft und den Verteidi-


gungswillen Dänemarks angewiesen.
Da Moltke bemüht war, Dänemark in seine Abwehrmaßnahmen gegen eine
britische Landung miteinzubeziehen, griff er Anfang 1906 das Gesprächsangebot
der dänischen Regierung begierig auf. Lütken, inzwischen Departmentschef im
dänischen Kriegsministerium, fungierte dabei als Sprachrohr Christensens. Beide
Seiten gingen mit unterschiedlichen Zielen in die Gespräche: Während es der
dänischen Regierung wichtig war, aus einem deutsch-britischen Krieg heraus-
gehalten zu werden, benötigte Moltke eine Garantie, dass Dänemark nicht als
Sprungbrett für einen britischen Angriff auf Deutschland diente.125 Am 18. Feb-
ruar 1906 trafen sich Moltke und Lütken zum ersten Mal in Kopenhagen. Der deut-
sche Generalstabschef machte seine Position unmissverständlich klar: Gehe
Dänemark mit Großbritannien, »erlauben Sie England, Ihr Territorium zu
benutzen oder leisten Sie nur fingierten oder unzureichenden Widerstand, ja,
dann hat nach meiner Überzeugung Dänemarks letzte Stunde geschlagen«. Dass
Dänemark im Falle eines deutsch-britischen Krieges seine Neutralität nicht werde
wahren können, stand für Moltke fest: »Bricht ein Krieg aus, so kommen Sie
sowieso in die Lage, Partei beziehen zu müssen [...] Sie sollten sich viel lieber
darüber klar werden, welchen Weg Sie gehen wollen, dann können wir vorher
unsere Absprachen treffen.«126
Moltke wies darüber hinaus auf die mögliche britische Landung bei Esbjerg
oder am Limfjord hin, auf die sich Dänemark unbedingt vorbereiten müsse. Wenn
die dänische Armee ihren Abwehrwillen offen demonstriere, würden die Briten
ihre Landungsabsichten möglicherweise von vornherein aufgeben, betonte der
deutsche Generalstabschef.127 Ähnliche Töne schlug er nach seiner Rückkehr nach
Berlin auch gegenüber dem dänischen Botschafter Johann Hegermann-Linden-
crone an.128
Die Deutlichkeit Moltkes hinterließ bei Lütken, Christensen und den wenigen
eingeweihten Mitgliedern der dänischen Regierung tiefe Beunruhigung. Man
einigte sich darauf, die Sondierungen fortzuführen. Lütken wurde mit einer

125 Jens Ole Christensen, The Lütken talks between the Danish Government and General Moltke.
In: The Danish Straits and German Naval Power (wie Anm. 57), S. 27–34, hier S. 32.
126 Aufzeichnung von Lütkens über das Treffen mit Moltke, 19.2.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet
om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 237–240. Deutsche Auszüge finden sich bei Köhler,
Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 17.
127 Ebd.
128 Lindencrone an Raben, 31.3.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie
Anm. 73), S. 253–255. Deutsche Auszüge finden sich bei Köhler, Deutschland und das dänische
Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 19 f.

54 Lukas Grawe OLDENBOURG

Instruktion versehen, in der es hieß, Dänemark werde sein Territorium mit aller
Macht gegen einen Angriff verteidigen. Man erwarte im Gegenzug aber eine
öffentliche Erklärung des Deutschen Reichs, die Neutralität Dänemarks zu
respektieren.129 Am 2. und 3. Juli 1906 trafen sich Moltke und Lütken erneut,
dieses Mal in Berlin. Doch obwohl der dänische Unterhändler nun mit Hand-
lungsanweisungen versehen war, änderte sich die Haltung des deutschen
Generalstabschefs nicht: »Im Falle eines deutsch-englischen Krieges würde
Deutschland die kathegorische [sic] Frage stellen: Feind oder Freund?«130 Eine
öffentliche Erklärung, die Neutralität Dänemarks zu achten, schloss Moltke aus.
Auch lehnte er eine Militärkonvention ab, da ihm mit der Rückgabe Schleswigs
der aufgerufene Preis als zu hoch erschien. Stattdessen forderte er Lütken erneut
auf, die dänische Wehrkraft zu erhöhen, um eine britische Landung abwehren zu
können.131
Im Frühjahr 1907 kam es zum entscheidenden Treffen zwischen Moltke und
Lütken. Nachdem Moltke in den vorangehenden Monaten einen deutschen
Angriff angedroht hatte, machte der dänische Verhandlungsführer nun jene
Zusagen, die der deutsche Generalstabschef erwartete. Lütken betonte, Dänemark
werde »unter keinen Umständen auf der Seite von Deutschlands Feinden stehen«.
Falls die dänische Neutralität nicht aufrechterhalten werden könne, werde Däne-
mark mit Deutschland gehen. Lütken sagte darüber hinaus den Ausbau des
dänischen Militärpotenzials zu.132 Vertraglich fixiert wurden die Ergebnisse aller-
dings nicht. Dennoch zeigte sich Moltke sehr zufrieden. In einem späteren Brief
betonte der deutsche Generalstabschef, »das Wort eines Ehrenmannes« wiege für
ihn schwerer »als geschriebene Verträge«.133 Dem Staatssekretär des Äußeren,

129 Instruktion Lütkens, 29.6.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie
Anm. 73), S. 260 f. Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Köhler, Deutschland und das

dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 31 f. Dort auch eine umfassende Analyse, S. 21–37.

130 Aufzeichnung Moltkes über das Treffen mit Lütken, 3.7.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet om
Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 265. Dazu auch die Aufzeichnung Lütkens über das Treffen mit
Moltke am 2. und 3.7.1906, abgedruckt in: ebd., S. 262–265. Deutsche Auszüge bei Köhler, Deutsch-
land und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 42.
131 Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 52 f. Moltke ließ

anschließend sogar einen Bündnisentwurf ausarbeiten, wonach das Deutsche Reich eine Verteidi-
gung bei Esbjerg übernehmen sollte. Dies belegt, wie intensiv der Generalstab an Vorbereitungen
für eine Abwehr britischer Landungsversuche arbeitete. Bündnisentwurf des Generalstabs,
10.2.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 275 f.

132 Aufzeichnung Lütkens über das Treffen mit Moltke, 28.3.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om
Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 279–282. Deutsche Auszüge finden sich bei Köhler, Deutsch-
land und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 76.
133 Moltke an Lütken, 7.5.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73),
S. 291 f.

OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 55

Heinrich von Tschirschky, und Bülow berichtete er nicht ohne Stolz, er habe die
Zusage erhalten, dass »Dänemark, statt wie bisher beabsichtigt, seine ganze
Armee auf Seeland zu versammeln, eine Division in Jütland stehenlassen wolle,
die genügen wird, eine Landung in Esbjerg zu verhindern«.134
Bis heute ist umstritten, ob Lütken mit dieser Zusage seine Kompetenzen
überschritten oder ob er im Sinne Christensens gehandelt hat.135 Immerhin hielt
sich Dänemark an die Zusage und verstärkte ab 1909 die Festung Kopenhagen
und seine Armee nachhaltig.136 Allerdings überschätzte Moltke den Wert der
Abmachungen. Schließlich hatte Lütken nicht nur einen förmlichen Vertrag abge-
lehnt, sondern auch betont, seine Versprechungen besäßen nur in der Ära Chris-
tensen Gültigkeit.137 Da der dänische Ministerpräsident und seine Regierung
jedoch bereits im Oktober 1908 über eine Finanzaffäre stürzten,138 blieben die
dänischen Einlassungen von begrenztem Wert. Moltke sah sich daher in der
Folgezeit mit der Kritik konfrontiert, kein bindendes Abkommen mit Dänemark
zustande gebracht zu haben.139
Trotz der umfangreichen Drohungen war sich Moltke aber auch bewusst, dass
das Deutsche Reich geringfügige Zugeständnisse machen musste, sollten die
Beziehungen zu Dänemark verbessert werden. Anfang 1906 warb Moltke daher
bei Bülow dafür, der deutschen Politik gegenüber Dänemark, gerade in Schles-
wig-Holstein, die Schärfe zu nehmen.140 Seine Initiative setzte bilaterale Ge-
spräche in Gang, die ein Jahr später zu einem handfesten Erfolg führten: Das
Reich und sein nördliches Nachbarland einigten sich am 11. Januar 1907 auf den
Abschluss eines Optantenvertrags. Darin verpflichtete sich Dänemark zur Aner-
kennung der deutsch-dänischen Grenze und damit auch zum endgültigen Ver-
zicht auf eine Wiedereingliederung Schleswigs. Im Gegenzug sagte das Deutsche

134 Moltke an Bülow, unklares Datum, zit. nach: Köhler, Deutschland und das dänische Neutra-
litätsproblem (wie Anm. 72), S. 79, sowie Moltke an Tschirschky, 30.4.1907, PA AA, R 5325,
Bl. 257–263.
135 Karl Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage, Bd 2: Die schleswigsche Frage und der Welt-
krieg, Neumünster 1926–1929, S. 52 f.

136 Michael H. Clemmesen, The Danish Armed Forces 1909–1918. Between Politicians and Stra-
tegic Reality, Kopenhagen 2007, S. 9–15, und Michael H. Clemmesen, The Army in Positional
Defence Against the Developing Political Reality. In: The Danish Straits and German Naval Power
(wie Anm. 57), S. 167–188.
137 Notiz Lütkens über seinen Brief an Moltke vom 25.5.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om
Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 292 f.

138 Pertti Luntinen, The Baltic Question 1903–1908, Helsinki 1975, S. 111.
139 Ebd., S. 111 f.

140 Aufzeichnung Bülows, 29.1.1906, PA AA, R 5261, Bl. 154 f.



56 Lukas Grawe OLDENBOURG

Reich zu, den in Preußen wohnhaften staatenlosen Optantenkindern die deutsche


Staatsangehörigkeit zu gewähren.141
Trotz des Vertrags kam es auch in den Monaten nach der Unterzeichnung zu
weiteren Zwischenfällen. Die lokale preußische Verwaltung widersetzte sich
wiederholt den Bestrebungen Berlins, Dänemark in einigen Punkten entgegen-
zukommen. Lütken wies Moltke in mehreren Briefen darauf hin, dass die
dänische Öffentlichkeit eine Annäherung an das Deutsche Reich nicht befür-
worten werde, sofern die deutsche Regierung nichts unternehme, um die Streitig-
keiten im Grenzland beizulegen.142 Da Moltke »im militärischen Interesse den
grössten Wert darauf« legte, »ein Zusammengehen Dänemarks mit Deutschland«
zu sichern, wandte sich der Generalstabschef an Staatssekretär Tschirschky.
Stehe Dänemark auf Deutschlands Seite, »so wird uns damit eine Flankensiche-
rung gegen englische Landungen gewahrt, die es uns gestattet, unsere gesamte
Heereskraft gegen unseren militärisch stärksten Gegner im Westen einzuset-
zen«.143 Um diesen Idealzustand zu erreichen, müsse man Dänemark politisch
aber noch einmal entgegenkommen, beispielsweise in der Optantenfrage. Die
»kleinen Opfer die wir ja diesem Zweck vielleicht im Frieden bringen«, würden –
da war sich Moltke sicher – »im Kriegsfall ihre reichlichen Zinsen tragen«.144
Moltkes Bemühungen entfalteten rasch ihre Wirkung: Im Rahmen einer
Sitzung am 12. Mai 1907, an der neben dem Staatssekretär des Innern Theobald
von Bethmann Hollweg, Tschirschky, dem deutschen Botschafter in Kopenhagen,
Viktor Henckel von Donnersmarck, und dem Oberpräsidenten von Schleswig-Hol-
stein, Detlev von Bülow, auch Moltke teilnahm, vereinbarten die Anwesenden
weiteres Entgegenkommen gegenüber Dänemark.145 Dass der Chef des General-
stabs dabei das Recht zur Mitgestaltung einer innen‑ und außenpolitischen Ange-
legenheit erhielt, verdeutlicht nicht nur seine Autorität als oberster militärischer
Berater der Reichsleitung, sondern auch, wie sehr die Furcht vor einer britischen
Landung in Esbjerg auf Berliner Regierungskreise übergegriffen hatte.
Die deutsch-dänischen Beziehungen verbesserten sich indes nur geringfügig
und blieben bis zum Ersten Weltkrieg angespannt.146 Dennoch konnte Moltke mit

141 Der Text des Vertrages findet sich in PA AA, R 5214, Bl. 57–60. Siehe auch Gosewinkel, Einbür-
gern und Ausschließen (wie Anm. 124), S. 208–210.
142 Lütken an Moltke, 22.4.1907, Moltke an Lütken, 27.4.1907, sowie Lütken an Moltke, 28.4.1907.
Diese drei Schreiben fungieren als Beilagen zu einem Brief von Moltke an Tschirschky, 30.4.1907,
PA AA, R 5325, Bl. 257–263.
143 Ebd.
144 Ebd., und Moltke an Tschirschky, 3.5.1907, PA AA, R 5325, Bl. 270 f.

145 Protokoll Bethmann Hollwegs, 12.5.1907, PA AA, R 5215, Bl. 141–143.


146 Krieger, Deutsch-dänische Beziehungen 1901–1914 (wie Anm. 122), S. 258–294.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 57

den dänischen Gesprächen insgesamt sehr zufrieden sein. Zwar war es ihm nicht
gelungen, ein festes Bündnis zu initiieren,147 doch war eine britische Landung in
Esbjerg angesichts der dänischen Heeresverstärkungen weitaus unwahrscheinli-
cher geworden.

4. Wandel der Einschätzungen: Eine britische


Landung in Frankreich rückt in den Fokus,
1908–1914
Im Winter 1907/08 ging Moltke nicht länger davon aus, eine Operation an der
deutschen Nordflanke sei die erfolgversprechendste britische Handlungsoption,
auch wenn er sie nach wie vor als jene Möglichkeit einstufte, die der britischen
Militärführung grundsätzlich am sympathischsten erschien.148 Obwohl der neue
deutsche Militärattaché in London, Roland Ostertag, in den folgenden Wochen
mehrfach neues Material lieferte, das für eine Landung in Esbjerg sprach,149 und
die britische Flotte im Sommer 1908 erneut die dänische Hafenstadt anlief,150
schien Moltke nun auch anderen Möglichkeiten mehr Beachtung zu schenken.
Dieser Wandel hing mit mehreren Faktoren zusammen: Die erfolgreichen
Verhandlungen mit Dänemark hatten Moltke davon überzeugt, dass Deutsch-
lands nördliches Nachbarland alles tun werde, um eine britische Landung in
Esbjerg zu vereiteln.151 Auch der begonnene Ausbau des schleswig-holsteinischen
Eisenbahnnetzes machte eine britische Landung an der deutschen Nordflanke
unwahrscheinlicher, konnten deutsche Truppen doch fortan weitaus schneller
nach Norden verschoben werden. Die vom Generalstab eingeleiteten Gegenmaß-
nahmen änderten somit auch die Einschätzungen der Behörde hinsichtlich des
britischen Verhaltens.
Weitere entscheidende Faktoren gesellten sich dazu. Vor allem der Stärke-
zuwachs der deutschen Marine, bedingt durch die Flottennovelle von 1906,

147 Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 85–87.
148 Moltke an Bülow und das AA, 23.2.1908, PA AA, R 995, und Moltke an Baudissin, 9.3.1908,
BArch, RM 5/1606, Bl. 7.
149 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 13.5.1908, PA AA, R 5496, und 4.6.1908, BArch,
RM 5/1600, Bl. 81–83.
150 Generalkommando des IX. Armeekorps, Beobachtung der englischen Flotte vor Esbjerg vom
27.–30. Juni 1908, Preuß. Kriegsministerium an Admiralstab, 7.7.1908, BArch, RM 5/1177,
Bl. 33–35.
151 Moltke an Lütken, 1.5.1909, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73),
S. 317 f.

58 Lukas Grawe OLDENBOURG

machte eine britische Landung unwahrscheinlicher. Zwar war die Hochseeflotte


ihrem britischen Pendant nach wie vor deutlich unterlegen, doch konnte die
Royal Navy anders als noch 1905/06 nicht mehr damit rechnen, die deutschen
Seestreitkräfte im Falle eines Krieges rasch in ihren Häfen einzuschließen oder
zu vernichten. Ostertag berichtete daher von französischen Stimmen, die zu einer
Abkehr der britischen Esbjerg-Strategie mahnten. Großbritannien könne Frank-
reich mit einer solchen Operation nicht helfen: »Zu einer derartigen Landung
müsse England die See beherrschen.« Eine Erringung der Seeherrschaft werde
aber längere Zeit dauern, »als die für das deutsche Heer zur Niederkämpfung der
französischen Grenzbefestigungen und zur Invasion Frankreichs erforderliche.
Setze Deutschland aber seine Anstrengungen weiter fort, so sei es noch unbewie-
sen, ob es zur See überhaupt von England geschlagen werden würde«.152 Folglich
ging auch Ostertag fortan von zwei Landungsmöglichkeiten für ein britisches
Expeditionsheer aus: Dänemark und Frankreich.153
Neue Erkenntnisse über britisch-französische Militärabsprachen machten
eine britische Landung in Frankreich ebenfalls wahrscheinlicher. Ostertag be-
tonte, es bestehe wohl bislang kein bindendes Abkommen, der britische Kriegs-
minister Richard Haldane habe aber betont, England werde »›zur Erhaltung des
europäischen Gleichgewichts‹ im Falle eines deutsch-französischen Konflikts eo
ipso auf französischer Seite zu finden sein«.154 Die zweite Marokkokrise, die im
Sommer 1911 erneut für Kriegsgefahr sorgte, erhärtete die Aussagen Haldanes,
trat die britische Regierung doch offen für die französische Position ein.155 Moltke
schwenkte während der Krise ein Stück weit auf den Pfad seines Vorgängers ein.
In einer Stellungnahme für die Reichsleitung betonte er, ein britisches Expediti-
onskorps werde, »wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht auf dem Kontinent
eingesetzt werden.« Es könne im unmittelbaren Anschluss an die französische
Armee kämpfen, in Belgien landen oder in Jütland operieren.

»Eine schleunige Mobilmachung wäre nur für die erstgenannte Aufgabe erforderlich. Diese
Aufgabe scheidet aber wohl als unwahrscheinlich aus. In den anderen Fällen wird sich
England vermutlich Zeit nehmen und mehr auf das eigene Interesse als auf das des Verbün-
deten bedacht sein.«156

152 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 8.9.1908, PA AA, R 5497.


153 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 30.4.1909, PA AA, R 5499.
154 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 25.2.1911, abgedruckt in: GP, Bd 29, Nr. 10520,
Anm. **.
155 Jost Dülffer, Martin Kröger und Rolf-Harald Wippich, Vermiedene Kriege. Deeskalation von
Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg (1865–1914), München 1997,
S. 615–640, und Canis, Der Weg in den Abgrund (wie Anm. 51), S. 403–456.
156 Chef des Generalstabs der Armee, Die militärpolitische Lage, 7.9.1911, PA AA, R 995.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 59

Die Marokkokrise gab dem Generalstab indes neue Veranlassung, die britischen
Handlungsoptionen durchzuspielen.157 Mit der Marineführung setzte sich der
Generalstab im Januar 1912 zusammen, wobei beide Behörden zu dem Schluss
kamen, eine britische Landung finde in den französischen Kanalhäfen statt.158
Diese Meinung unterstrich Moltke in einem Schreiben an den neuen Admiral-
stabschef August von Heeringen.159 Auch Heeringen war der Ansicht, eine Lan-
dung in Frankreich sei wesentlich leichter zu sichern als eine Landung in Däne-
mark und daher weitaus wahrscheinlicher.160 In seiner Rückschau auf die Span-
nungen um Marokko war sich auch Ostertag sicher:

»Die Landung hätte wohl in Frankreich stattgefunden. Für uns wäre es freilich bei weitem
die glücklichste Lösung, wenn die Engländer und Franzosen in einem Zukunftskriege wirk-
lich Schulter an Schulter gegen uns zu kämpfen beabsichtigten. So könnte mit beiden
gleichzeitig abgerechnet werden, und wir brauchten unsere Streitkräfte nicht zu teilen.«161

Der recht objektiv berichtende Militärattaché in London schaute demnach eher


geringschätzig auf die Stärke der britischen Armee. Damit konnte er sich auf die
opinio communis innerhalb des deutschen Generalstabs berufen.162
Tatsächlich waren aber die britischen Landungsabsichten nach wie vor offen.
Seit den britisch-französischen Stabsgesprächen und der Entscheidung des
Committee of Imperial Defence, der Kontinentalstrategie der Army den Vorzug vor
den Plänen der Navy zu geben, hatten sich beide Teilstreitkräfte noch immer nicht
auf eine gemeinsame Linie festlegen können. Fisher und die Marine bevorzugten
auch 1911 eine Landung an der deutschen Küste.163 Memoranden der Army kamen
hingegen zu dem Schluss:

157 Ende September 1911 und Ende Februar 1912 verfasste die 3. Abteilung umfangreiche Denk-
schriften, die auch an den Admiralstab geschickt wurden. Leider finden sich in den Admiralstabs-
akten nur noch die Anschreiben. Siehe 3. Abteilung, Unternehmungen Englands zu Lande gegen
Deutschland, Montgelas an Heeringen, 23.9.1911, BArch, RM 5/1152, Bl. 177–179, und Aktennotiz
zur Generalstabsdenkschrift Landungsunternehmungen der Engländer im Kriegsfalle, 23.2.1912,
ebd., Bl. 205.
158 Admiralstab, Englische Landung in einem englisch-französisch-deutschen Kriege. Zur
Besprechung mit dem Großen Generalstabe, 23.1.1912, BArch, RM 5/1614, Bl. 173–175.
159 Moltke an Heeringen, 2.2.1912, ebd., Bl. 193.
160 Heeringen an Moltke, 28.2.1912, ebd., Bl. 194–196.
161 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 15.2.1912, PA AA, R 5511.
162 Gegen die Behauptung, der deutsche Generalstab habe die britische Armee unterschätzt,
siehe Kuhl, Der deutsche Generalstab (wie Anm. 6), S. 83–95.
163 Williamson, The Politics of Grand Strategy (wie Anm. 9), S. 186–204.
60 Lukas Grawe OLDENBOURG

»British military operations against Germany itself are impossible under present conditions
[...] British military assistance in alliance with France for the preservation of Belgium neutra-
lity would be more usefully given in Belgium or in France than in Denmark.«164

Allerdings waren die Kontakte zur französischen Militärführung nach den Bespre-
chungen von 1906 längst eingeschlafen. Erst der neue Director of Military Opera-
tions, Henry Hughes Wilson, belebte die Gespräche wieder. Wilson avancierte in
der Folge zum energischsten Verfechter einer direkten militärischen Unterstüt-
zung Frankreichs.165 Obwohl die neuen Absprachen mit der französischen Militär-
führung die britische Kontinentalstrategie der Army weiter verfestigten,166 stand
sie politisch bis zuletzt auf wackeligen Beinen. Die endgültige Entscheidung für
eine Landung der britischen Streitkräfte in Frankreich fiel erst Anfang August
1914, ohne dass Großbritannien eine geeignete Armee für diese Strategie besaß.167
Vom anhaltenden Strategiestreit in der britischen Militärführung wusste der
deutsche Generalstab nichts. Dies enthüllt das umfangreiche Memorandum »Das
englische Expeditionskorps«, das Moltke Ende Mai 1912 an die Reichsleitung und
an den Admiralstab schickte und das, soweit aktenkundig, die letzte größere
Ausarbeitung zu diesem Sachverhalt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges
darstellt.168 Darin vertraten Moltke und die 3. Abteilung erneut die Ansicht, Groß-
britannien werde Frankreich als »Festlandsdegen« verwenden: »England kann
mithin aus Rücksicht auf die Lage in seinen überseeischen Reichsteilen sein
Expeditionskorps auf dem Kontinent, wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht
einsetzen.« Während »die anderen Kriegführenden mit Volksheeren um ihr
Dasein kämpfen, wird es sich für England nur um einen mit einem Söldnerheer

164 Major Grant Duff, Military Policy in a War against Germany, 2.7.1908, TNA, WO 106/46,
Bl. 42 f.

165 Strachan, The British Army (wie Anm. 9), S. 76 f., und Williamson, The Politics of Grand Stra-

tegy (wie Anm. 9), S. 167–204. Zu Wilson siehe Keith Jeffery, Field Marshal Sir Henry Wilson. A
Political Soldier, Oxford, New York 2006.
166 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 74.
167 Strachan, The British Army (wie Anm. 9), S. 79 und S. 94. Nach Ausbruch des Krieges
sondierte die britische Marineführung hingegen die Möglichkeiten einer gemeinsamen russisch-
britischen Landung in Pommern, verwarf diese jedoch wieder, da hierfür zunächst die deutsche
Marine entscheidend geschlagen werden musste. Schröder, Die englisch-russische Marinekonven-
tion (wie Anm. 13), S. 300–302. Eine russische Landung in Pommern hielt Moltke ebenfalls für
möglich, wenngleich für nicht sehr wahrscheinlich. Moltke an Heeringen, 9.10.1912, BArch,
RH 61/142.
168 Die Denkschrift »Die Versorgung des englischen Expeditionskorps« vom September 1912
widmet der Frage nur wenige Zeilen. Sie geht davon aus, dass ein britisches Expeditionskorps
aufgrund der verwundbaren Nachschublinien nur in einem verbündeten Staat an Land gehen
werde. BayHStA-KA, Gstb 146.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 61

geführten Kabinettskrieg handeln. Jede andere Art des Operierens könnte ihm
verhängnisvoll werden«.169 Folglich mehrten »sich neuerdings die Anzeichen
dafür, daß das englische Expeditionskorps, wenn überhaupt, in den französi-
schen Häfen Dünkirchen, Calais und Boulogne ausgeschifft werden soll«.170
Der Landung eines britischen Expeditionsheeres an Deutschlands Nordflanke
räumte die Denkschrift hingegen nur noch wenig Raum ein. Eine solche sei nicht
»besonders wahrscheinlich, aber immerhin möglich«, ihr Ziel wäre »die Zerstö-
rung des Nordostseekanals und vielleicht die Einnahme von Kiel und Hamburg«.
Allerdings wäre die Transportflotte »auf der Fahrt und bei der Ausschiffung in
Jütland erheblichen Gefahren ausgesetzt«171 – eine Folge der Aufrüstung der deut-
schen Marine. Alles in allem könnten die Hoffnungen der Franzosen auf eine
Unterstützung der britischen Armee leicht enttäuscht werden, betonte das Fazit
des Memorandums:

»Die Engländer werden Bedenken tragen, ihr kleines Expeditionskorps rücksichtslos


einzusetzen. Sie werden bei einem europäischen Krieg voraussichtlich vor allem ihre alte
Taktik verfolgen, möglichst ihre Verbündeten die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen.
Der Einsatz ihres Expeditionskorps auf dem Kontinent wird, wenn überhaupt, so nur mit
großer Vorsicht und jedenfalls unter sorgfältiger Festhaltung ihrer rückwärtigen Verbin-
dungen nach den Einschiffungspunkten geschehen.«172

Das Memorandum der 3. Abteilung dürfte bei der Reichsleitung seinen Eindruck
nicht verfehlt haben.173 Moltke und seine Mitarbeiter hatten damit dem militäri-
schen Potenzial, das von einem britischen Kriegseintritt ausging, eindeutig den
Bedrohungscharakter genommen. Während die britische Flotte fast gar nicht
erwähnt wurde, beschränkte man die Rolle des britischen Heeres auf das Führen

169 Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, Moltke an Kiderlen-Wächter, 30.5.1912, PA AA,
R 995, hier S. 8. Zur Bewertung der Denkschrift siehe Grawe, Deutsche Feindaufklärung vor dem
Ersten Weltkrieg (wie Anm. 7), S. 313 f.

170 Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, PA AA, R 995, hier S. 9. Eine ähnliche Einschät-
zung führte Moltke auch ein Jahr später an. Siehe Verhalten Deutschlands in einem Dreibund-
kriege, nach Februar 1913, abgedruckt in: Erwin Hölzle, Quellen zur Entstehung des Ersten Welt-
krieges. Internationale Dokumente 1901–1914, Darmstadt 1978 (= Ausgewählte Quellen zur
deutschen Geschichte der Neuzeit, 27), S. 153–159, hier S. 157 f.

171 Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, PA AA, R 995, hier S. 13.
172 Ebd., hier S. 14. Ein ähnliches Urteil fällte noch im Mai 1914 das von der 3. Abteilung bearbei-
tete »kleine Orientierungsheft über das englische Heer«, S. 46, BayHStA-KA, Gstb 146.
173 Zwei Jahre später, im Frühjahr 1914, sorgte sich die Reichsleitung hingegen über die britisch-
russischen Marinegespräche, die eine »Einkreisung« Deutschlands zu komplettieren drohten. Über
diese Gespräche war der Generalstab aber nicht unterrichtet. Dazu umfassend Schröder, Die
englisch-russische Marinekonvention (wie Anm. 13), S. 539–690.
62 Lukas Grawe OLDENBOURG

eines – wie es Moltke 1912 formuliert hatte – begrenzten »Kabinettskrieges«.174


Der deutsche Generalstab stellte sogar die Frage in den Raum, ob die britische
Regierung wirklich den Willen aufbringe, ein Expeditionskorps auf den Kontinent
zu senden.175 Die Furcht, die Moltke noch bei seinem Amtsantritt einer Operation
des Empires an der deutschen Nordflanke entgegengebracht hatte, war nun der
behördenintern vorherrschenden Geringschätzung gewichen. Ohne eine vollstän-
dige, und was noch wichtiger war, rasche Vernichtung der deutschen Flotte
glaubte der Generalstab nicht mehr ernsthaft daran, britische Truppen am Nord-
ostseekanal aufhalten zu müssen. Ob sich Großbritannien überhaupt an einem
europäischen Krieg militärisch engagieren würde, hielt die Behörde wie am Ende
der Amtszeit Schlieffens ebenfalls für fraglich.

5. Fazit
Nur sechs Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich vom 3. August
1914 gingen die ersten britischen Soldaten in Boulogne und Le Havre an Land.
Anders als vom deutschen Generalstab erwartet, führte das Empire keinen »Kabi-
nettskrieg«, sondern beteiligte sich in den folgenden vier Jahren mit seiner
ganzen militärischen und wirtschaftlichen Macht am Ersten Weltkrieg. Irrte der
Generalstab demnach vollständig mit seinen Einschätzungen hinsichtlich briti-
scher Landungsoperationen? Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt,
dass eine solche Feststellung zu undifferenziert wäre. Schließlich war die briti-
sche Militärführung bis zum August 1914 geteilter Meinung, wo eine Landung
stattfinden und wie groß ein britisches Engagement auf dem Kontinent ausfallen
sollte. Letztlich fiel die endgültige Entscheidung für eine Landung in Frankreich
erst Anfang August 1914.
Angesichts der britischen Uneinigkeit musste es auch dem deutschen
Generalstab schwerfallen, die Absichten des Empires im Konfliktfall zu evaluie-
ren. Spätestens seit den Enthüllungen Delcassés im Oktober 1905 hielt man eine
britische Landung in Dänemark mit anschließendem Vorstoß nach Schleswig-
Holstein für möglich, doch maß ihr Schlieffen keine kriegsentscheidende Bedeu-
tung zu. Während der Generalstabschef gebetsmühlenartig darauf hinwies, keine

174 Siehe Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, Moltke an Kiderlen-Wächter, 30.5.1912, PA
AA, R 995, hier S. 8. Zum Unterschied zwischen »Kabinetts‑« und »Volkskrieg« siehe Stig Förster,
Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871–1914. Metakritik eines Mythos.
In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 54 (1995), S. 61–95, S. 71 f.

175 Besprechung über die Überführung des englischen Expeditionskorps zwischen Behncke und
Waldersee, 5.11.1913, BArch, RM 5/1615, Bl. 102, und RM 5/1630, Bl. 52.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 63

Truppen von der französischen Front abzuziehen, stufte sein Nachfolger gerade
zu Beginn seiner Amtszeit eine amphibische Operation Großbritanniens durchaus
als ernstzunehmend ein. Bis 1908 hielt der Generalstab eine britische Landung in
Dänemark sogar für weitaus wahrscheinlicher als Unternehmungen in Belgien
oder Frankreich. Zweifel wurden indes laut, ob sich das Empire überhaupt an
einem europäischen Konflikt beteiligen oder nicht lieber einen »Festlandsdegen«
für sich kämpfen lassen würde.
Ungeachtet dessen hatte der Generalstab mögliche operative Ziele Großbri-
tanniens in Schleswig-Holstein richtig erkannt: Vor allem der Nordostseekanal
und die Großstädte Kiel und Hamburg mit ihren Werften und Marinebasen waren
bei einem britischen Angriff gefährdet. Der Große Generalstab entwarf daher eine
Reihe von Abwehrmaßnahmen, die nicht nur militärische, sondern auch außen-
politische, innenpolitische und wirtschaftliche Belange des Deutschen Reichs
betrafen. Während die Zusammenarbeit mit dem Admiralstab rudimentär blieb
und die taktisch-operativen Gegenmaßnahmen nicht von den allgemeinen
Ansichten des Generalstabs abwichen, erforderten heerespersonelle Maßnahmen
und der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Schleswig-Holstein einen hohen finan-
ziellen Aufwand. Gerade die Erweiterung der norddeutschen Trassen beruhte auf
den Befürchtungen vor einer britischen Landung, ließen sich die Baumaßnahmen
doch nicht mit wirtschaftlichen Argumenten legitimieren. Obwohl die Kosten
mehr als 6,5 Millionen Reichsmark betrugen, hielten sie sich im Vergleich zu
anderen strategischen Bahnbauprojekten der Vorkriegszeit in Grenzen. Dass der
Bahnbau in Schleswig-Holstein unersetzbare Ressourcen verschlang, die besser
an der deutschen West‑ oder Ostgrenze investiert worden wären, lässt sich
demnach nicht behaupten.
Ähnliches trifft auf die anfängliche Zurückhaltung des IX. Reservekorps in
Schleswig-Holstein zu. Nachdem im Generalstab Mitte August 1914 gesicherte
Nachrichten von einer britischen Landung in Frankreich eingegangen waren,
konnte das Korps nach Belgien verlegt werden und traf dort am 24. August ein.
Für die entscheidenden Schlachten im September 1914 kam es demnach nicht zu
spät, die strategischen Auswirkungen der Maßnahmen gegen eine britische
Landung an der deutschen Nordflanke waren demnach gering.
Große innen‑ und vor allem außenpolitische Bedeutung kam den Verhand-
lungen Moltkes mit dem dänischen Offizier Louis Carl Frederik Lütken zu. Obwohl
die Initiative zu den Gesprächen von dänischer Seite ausging, erkannte der deut-
sche Generalstabschef schnell die Gelegenheit, mit dänischer Hilfe eine britische
Landung an Deutschlands Nordflanke zu vereiteln. Damit die Gespräche Früchte
trugen, wirkte Moltke sogar auf die preußische Innenpolitik ein. Mehrfach warb er
gegenüber Bülow, Tschirschky und Bethmann Hollweg für ein Entgegenkommen
gegenüber Dänemark. Die Schilderungen Moltkes, im Falle eines Krieges gegen
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das Empire brauche man dänische Unterstützung, wogen letztlich schwerer als
die Ansichten der schleswig-holsteinischen Oberpräsidenten, die mehrfach durch
ihre harte Linie gegenüber dem deutschen Nachbarland aufgefallen waren.
Ein Umschwung der Einschätzungen setzte im Generalstab erst im Winter
1907/08 ein. Angesichts der wachsenden Größe der deutschen Flotte erschien
eine britische Landung in Esbjerg zunehmend riskant, zumal auch Dänemark
seine militärischen Anstrengungen erhöhte, um einem britischen Angriff ge-
wachsen zu sein. Fortan glaubte der Generalstab eher an eine Ausschiffung briti-
scher Truppen in Frankreich, ohne die »dänische Option« gänzlich zu verwerfen.
Wie das Memorandum vom Mai 1912 jedoch enthüllt, erwartete der Generalstab
vom britischen Empire keinen erbittert geführten Kampf, sondern lediglich einen
geringen Beitrag, um das Gesicht des Landes und der britischen Regierung zu
wahren. Diese abschätzige Sicht auf Großbritanniens möglichen Kriegsbeitrag
hing in wesentlichem Maße mit den Einschätzungen des Generalstabs über eine
britische Landung an Deutschlands Nordflanke zusammen. Aus seiner Sicht war
dieses Szenario nämlich jene Option, die von der britischen Militärführung am
meisten befürwortet wurde. Einzig die geringen Erfolgsaussichten schreckten die
britischen Militärs nach Meinung des deutschen Generalstabs von einer Landung
in Esbjerg ab. Da die deutschen Generalstabsoberen einen Anschluss britischer
Truppen an die französische Armee, bei dem Großbritannien zu einem Anhängsel
der Dritten Republik degradiert werde, schon immer für unwahrscheinlich ge-
halten hatten, konnte der britische Beitrag in einem kommenden Krieg nur gering
ausfallen.
Festzuhalten bleibt demnach, dass der Generalstab sich von dem Szenario
einer britischen Landung an der deutschen Nordflanke zwar nicht von seiner
Zweifrontenkriegsstrategie ablenken ließ, die diesbezüglichen Einschätzungen
aber viel dazu beitrugen, den britischen Beitrag im Fall eines europäischen
Krieges zu unterschätzen. Dies zeigte sich nicht nur in den Ausführungen des
ohnehin skeptischen Schlieffen, sondern auch in den Urteilen anderer General-
stabsoffiziere wie Heydebreck und Waldersee. Selbst recht objektive Beobachter
wie Ostertag konnten sich von diesen Einschätzungen nicht frei machen. Letztlich
erfassten sie sogar Moltke, der anfangs einer britischen Landung an der Nord-
flanke durchaus Bedrohungspotenzial attestiert hatte.

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