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Aufsatz
Lukas Grawe
Albion an Holsteins Küsten?
Der preußische Generalstab und die
Furcht vor einer britischen Landung in
Norddeutschland und Dänemark, 1905–1914
https://doi.org/10.1515/mgzs-2020-0002
1. Einleitung
»Fisher kommt!« Dieser und ähnliche Rufe waren Anfang 1907 in Kiel und Umge-
bung zu hören. Sie verursachten eine Panik unter der deutschen Zivilbevölkerung,
die auch die Berliner Börse nicht unbeeindruckt ließ. Vorsichtige Eltern nahmen
ihre Kinder gar für zwei Tage aus der Schule, ehe sich das Gerücht als falsch
erwies.1 Fisher – gemeint war der britische Admiral und First Sea Lord John
1 Arthur Marder, From the Dreadnought to Scapa Flow. The Royal Navy in the Fisher Era,
1904–1919, vol. 1, London 1961, S. 114.
Arbuthnot Fisher – kam nicht und sollte vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
auch nicht mehr kommen. Die Furcht vor einer amphibischen Landungsoperation
durch britische Marine‑ und Heeresverbände auf deutschem Boden blieb jedoch
und beschränkte sich nicht nur auf deutsche Zivilisten in Nord‑ und Ostseenähe.
Auch im küstenfernen Berlin, in den höchsten Regierungskreisen, im Admiralstab
und in den Gedanken Kaiser Wilhelms II. fasste sie ab 1905 Fuß.2 Rasch griff der
Ausdruck »perfides Albion«3 um sich, attestierten Teile der Berliner Öffentlichkeit
Großbritannien doch ein hinterhältiges Verhalten. Weitaus bedeutsamer für die
kontinentale Militärpolitik des Deutschen Reichs war es, dass die Angst vor
Fisher, seiner Marine und den britischen Landungstruppen sogar im preußisch-
deutschen Generalstab Einzug hielt. Schließlich konnte eine britische Landung
den deutschen Plan für einen Zweifrontenkrieg maßgeblich beeinflussen.
Die Befürchtung, ein starkes britisches Expeditionskorps könnte in Schles-
wig-Holstein oder Dänemark ausgeschifft werden, sich des Nordostseekanals
bemächtigen und anschließend auf Kiel und Hamburg vorstoßen, beruhte vor
allem auf den Enthüllungen des ehemaligen französischen Außenministers Théo-
phile Delcassé, die anonym vom 5. bis zum 7. Oktober 1905 in der französischen
Tageszeitung »Matin« erschienen. Darin behauptete Delcassé, der britische
Außenminister Lansdowne habe ihm auf dem Höhepunkt der ersten Marokko-
krise die mündliche Zusage erteilt, im Falle eines deutschen Angriffs auf Frank-
reich den Nordostseekanal zu besetzen und mit 100 000 Mann in Schleswig-Hol-
stein zu landen.4 Obwohl die britische Regierung das Bestehen derartiger Verspre-
2 Wilhelm II. an Bülow, 29.12.1905, abgedruckt in: Die große Politik der europäischen Kabinette
1871–1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes [im Weiteren: GP]. Hrsg.
von Johannes Lepsius [u. a.], 40 Bde, Berlin 1922–1927, hier: GP, Bd 20/2, Nr. 6887. Siehe auch John
C. G. Röhl, Wilhelm II., Bd 3: Der Weg in den Abgrund 1900–1941, München 2008, S. 450–453, und
Martin Mayer, Geheime Diplomatie und öffentliche Meinung. Die Parlamente in Frankreich,
Deutschland und Großbritannien und die erste Marokkokrise 1904–1906, Düsseldorf 2002 (= Bei-
träge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 133), S. 237–248. Zur
Furcht des Admiralstabs vor einem britischen Überraschungsangriff siehe Jonathan Steinberg, Der
Kopenhagen-Komplex. In: Kriegsausbruch 1914. Hrsg. von Walter Laqueur, München 1970,
S. 31–59.
3 Das Wort »Albion« geht auf die keltische Bezeichnung für Großbritannien bzw. England zurück.
Die politischen Mächte Europas, allen voran Spanien, Frankreich und später auch Deutschland,
attestierten der britischen Außenpolitik bereits seit dem späten 17. Jahrhundert ein hohes Maß an
Opportunismus und Hinterhältigkeit. Auf diese Weise entstand der Begriff »perfides Albion«, der
Anfang des 20. Jahrhunderts seine Blüte im deutschen Sprachgebrauch erlebte und während des
Zweiten Weltkrieges von der nationalsozialistischen Propaganda aufgegriffen wurde. Siehe
Thomas Kielinger, Großbritannien, München 2009, S. 170 f.
4 Maximilian von Montgelas, Die englische »Garantie« an Frankreich April–Oktober 1905. In:
Berliner Monatshefte, 6 (1928), S. 978–992; Mayer, Geheime Diplomatie (wie Anm. 2), S. 237–248.
28 Lukas Grawe OLDENBOURG
8 Zu den deutsch-britischen Beziehungen siehe Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns. Großbri-
tannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1993, und Paul
M. Kennedy, The Rise of the Anglo-German Antagonism, 1860–1914, 3. ed., London 1990.
9 Samuel R. Williamson, The Politics of Grand Strategy. Britain and France Prepare for War,
1904–1914, Cambridge 1969, S. 59–88, und Hew Strachan, The British Army, Its General Staff and
the Continental Commitment, 1904–14. In: The British General Staff. Reform and Innovation,
1890–1939. Ed. by David French and Brian Holden Reid, London, Portland, OR 2002, S. 75–94.
10 Shawn T. Grimes, Strategy and War Planning in the British Navy, 1887–1918, Woodbridge 2012,
S. 62.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 29
11 Gerhard Ritter, Der Schlieffenplan. Kritik eines Mythos, München 1956, und Der Schlieffenplan.
Analysen und Dokumente. Hrsg. von Hans Ehlert, Michael Epkenhans und Gerhard Paul Groß,
Paderborn [u. a.] 2006 (= Zeitalter der Weltkriege, 2).
12 Nur zwei Studien gehen kurz darauf ein: Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk,
Bd 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich (1890–1914), München 1960,
S. 195 f., und Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz
und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt a. M. 1967, S. 201–213.
13 Am 1.6.1914 äußerte sich Moltke gegenüber dem Diplomaten Hermann von Eckardstein, was
Großbritannien »im Kriegsfalle tun wird, können wir im übrigen ruhig abwarten«. Hermann von
Eckardstein, Lebenserinnerungen und politische Denkwürdigkeiten, Bd 3, Leipzig 1921, S. 186.
Sorgen bereitete aber die Versorgung der deutschen Zivilbevölkerung, sollte die britische Marine
eine Blockade vornehmen. Siehe dazu Stephen Schröder, Die englisch-russische Marinekonven-
tion. Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Tripelentente am Vorabend des Ersten
Weltkriegs, Göttingen 2006 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, 76), S. 573 f. und S. 639 f.
30 Lukas Grawe OLDENBOURG
Hatten sich Szenarien einer britischen Landung an deutschen Küsten bis 1905
immer in einem theoretischen Rahmen bewegt,14 verdeutlichten die außenpoliti-
schen Spannungen der deutsch-britischen »navy scare« im Winter 1904/05,15 wie
schnell eine gespannte internationale Lage in einem Krieg eskalieren konnte. Die
Krise enthüllte gleich mehrere generalstabsinterne Probleme: Da die britische
Armee innerhalb der für Großbritannien zuständigen 3. Abteilung bislang kaum
beobachtet worden war und ganz im Schatten der Frankreichaufklärung stand,16
mangelte es an grundlegenden Militärinformationen über das Empire. Zugleich
fehlte es dem Generalstab an operativen Lösungen für einen möglichen Krieg
gegen das Inselreich. Eine Landung auf dem britischen Festland war angesichts
der britischen Flottenüberlegenheit unausführbar.17 Zugleich glaubten die füh-
renden Generalstabsoffiziere zu diesem Zeitpunkt aber auch noch nicht an eine
britische Landung in Europa, in deren Rahmen deutsche Truppen Schlachten-
erfolge gegen das britische Heer hätten erzielen können.
Schlieffen brachte im Winter 1904/05 daher die sogenannte »Faustpfand-
Theorie« ins Spiel: Konnte man Großbritannien nicht angreifen, musste man
einen seiner europäischen Verbündeten besiegen, um das Empire auf diese Weise
zu Verhandlungen zu zwingen.18 Der Generalstabschef dachte dabei an eine
14 Bereits 1896 befasste sich Schlieffen erstmals mit einer britischen Landung an der deutschen
Nordflanke: Taktisch-strategische Schlussaufgabe 1896, abgedruckt in: Alfred von Schlieffen,
Dienstschriften, Bd 1: Die taktisch-strategischen Aufgaben aus den Jahren 1891–1905, Berlin 1938,
S. 31–41, hier S. 31. Im Rahmen der in Mecklenburg stattfindenden Kaisermanöver des Jahres 1904
simulierte Schlieffen die Landung eines britischen Korps in Schleswig-Holstein, während die deut-
sche Armee an der Grenze zu Russland gebunden war. Siehe dazu Die Kaisermanöver bei der deut-
schen Flotte und Armee 1904. Internationale Revue über die gesamten Armeen und Flotten.
Beiheft, Dresden 1905, S. 6.
15 Dazu Ivo Nikolai Lambi, The Navy and German Power Politics, 1862–1914, Boston, MA 1984,
S. 241–245.
16 Zur Tätigkeit der 3. Abteilung siehe Grawe, Deutsche Feindaufklärung vor dem Ersten Welt-
krieg (wie Anm. 7), S. 37–53.
17 Darauf hatte Schlieffen bereits 1897 in einem Schreiben an den kommandieren Admiral Eduard
von Knorr hingewiesen. Friedrich-Christian Stahl, Armee und Marine im kaiserlichen Deutschland.
In: Die Entwicklung des Flottenkommandos. Vorträge der 7. Historisch-Taktischen Tagung der
Flotte am 5. und 6.12.1963. Hrsg. von Friedrich Forstmeier, Darmstadt 1964, S. 31–48, hier S. 41.
18 Lambi, The Navy and German Power Politics (wie Anm. 15), S. 243–245.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 31
den Besitz von einigen schwach besetzten Punkten, die nicht allzu fern vom Ort
der Ausschiffung der Armee liegen, zu setzen und diese bei günstigem Gelände in
hartnäckigster Weise auch gegen einen überlegenen Feind zu verteidigen«, doch
seien »weitgehende Offensivbewegungen« von ihr nicht zu erwarten.31 Damit
hatte Heydebreck direkt zu Beginn seiner Ausführungen betont, ein britisches
Expeditionskorps könne nicht auf Hamburg oder gar Bremen vorstoßen. Er
schrieb diese Tatsache dem fehlenden Offensivgeist zu: Offensives Denken galt
als Voraussetzung für operative Erfolge und war im Generalstab unter Schlieffens
Ägide geradezu zu einem Dogma geworden.32
Im zweiten Teil seiner Denkschrift beschäftigte sich Heydebreck mit den
denkbaren Ausschiffungsorten eines 100 000 Mann umfassenden britischen
Expeditionsheeres. Die Möglichkeit einer Landung in Frankreich schloss der Offi-
zier aus, denn eine britische Armee würde so zu »einer verhältnismässig unbe-
deutenden Hilfstruppe heruntersinken, eine Rolle, die dem englischen Selbst-
bewusstsein schwerlich zusagen wird«.33 Als weitaus wahrscheinlicher stufte er
eine Landung in Antwerpen und eine direkte Unterstützung Belgiens ein.34
Ausführlich kam Heydebreck aber auch noch auf eine dritte Möglichkeit zu
sprechen: eine Landung an Deutschlands Nordflanke. »So fernliegend ein solcher
Plan auch auf den ersten Anschein scheinen möchte, so gewinnt er doch bei
näherer Betrachtung an Wahrscheinlichkeit«, sei hier doch der britischen Armee
mit der Vernichtung der deutschen Flotte und des Nordostseekanals ein verhei-
ßungsvolles Ziel gegeben. Dass Kiel zur Landseite nicht befestigt sei, erhöhe die
Erfolgsaussichten einer britischen Unternehmung:
»Ihr glücklicher Ausfall würde doch einen ganz anderen Erfolg für England bedeuten als die
Hilfe, die eine englische Landung in Nordost-Frankreich oder Belgien möglicherweise dem
verbündeten Frankreich bringen könnte. Dazu kommt noch, dass die Engländer vielleicht
hoffen mögen, gleichzeitig mit der Vernichtung der deutschen Flotte auch dem deutschen
Wirklichkeit. Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d.Ä. bis Heusin-
ger, Paderborn [u. a.] 2012 (= Zeitalter der Weltkriege, 9), S. 68 f. Dass der deutsche Generalstab
damit nicht allein war, verdeutlicht Jack L. Snyder, The Ideology of the Offensive. Military Decision
Making and the Disasters of 1914, Ithaca, NY 1989.
33 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/
1605, Bl. 36–51, hier Bl. 44.
34 Ebd.
34 Lukas Grawe OLDENBOURG
Handel den Todesstoss geben zu können, wenn sie ausser Kiel auch Hamburg besetzen und
die dort liegenden Handelsschiffe wegnehmen würden, was zweifellos den englischen
Wünschen besonders entsprechen würde.«35
Eine solche Landung war damit aus Heydebrecks Sicht jene Lösung, die der briti-
schen Militärführung am sympathischsten war.
Als einzigen geeigneten Hafen für einen solchen Plan nannte der General-
stabsoffizier das dänische Esbjerg. Von dort aus sei ein Marsch auf Kiel in sieben
Tagen ausführbar. Heydebreck stufte aber die Erfolgsaussichten eines solchen
Unternehmens insgesamt als gering ein. Schließlich sei es den deutschen Vertei-
digern rasch möglich, örtliche Reservedivisionen nach Norden zu beordern, ohne
die Front gegen Frankreich schwächen zu müssen. Auf diese Weise würden die
Nachschubverbindungen eines britischen Expeditionskorps bedroht.36
Zusammenfassend hielt Heydebreck fest, »dass die englische Feldarmee auch
bei einer Unternehmung nach Holstein hinein wenig Aussicht auf Erfolg hat,
dagegen sehr leicht der Vernichtung anheimfallen könnte. Trotzdem ist kein Zwei-
fel, dass die englischen massgebenden Stellen sich mit einer solchen Verwendung
der Armee wenigstens beschäftigt haben.« Schließlich seien die Enthüllungen
Delcassés wohl kaum gänzlich aus der Luft gegriffen. Auch könne das Anlaufen
von Esbjerg37 »geradezu als ein Versuch im grossen bezeichnet werden, wie sich
der dortige Hafen als Flottenstützpunkt bewähren würde«.38 Angesichts des
großen Wagnisses werde die britische Regierung aber wohl eine Feldarmee nach
Antwerpen entsenden.39
Schlieffen zeigte sich von den Ausführungen Heydebrecks vollauf überzeugt.
In seinem letzten Kriegsspiel als Generalstabschef war eine britische Landung
daher nicht in Jütland vorgesehen, da sich ein Expeditionskorps dort »etwas
einsam fühlen« würde.40 Lange nach seinem Rücktritt, im Jahr 1909, veröffentliche
Schlieffen in der »Deutschen Revue« den Aufsatz »Der Krieg in der Gegenwart«,
der auch über seine Einschätzungen über die britischen Absichten Aufschluss
36 Ebd.
37 Im September 1905 hatte die britische Flotte in Esbjerg geankert. Der Besuch an der westdäni-
schen Küste war allerdings lange im Vorfeld geplant und keine Reaktion auf die Marokkospannun-
gen. Röhl, Wilhelm II. (wie Anm. 2), S. 450.
38 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/
1605, Bl. 36–51, hier Bl. 49 f.
39 Ebd., Bl. 50.
40 Schlieffens Bemerkungen bei seinem letzten Kriegsspiel vom 23.12.1905, BArch, PH 3/646,
Bl. 1 f. Siehe auch Wilhelm von Hahnke, Die militär-politische Einstellung Graf Schlieffens zu
gibt. Ehe das Empire »die angekündigte Landung in einem jütischen Hafen«
ausführe, werde »es Telegramme aus Afrika, Indien, Ostasien und Amerika abwar-
ten. Wenn es die Welt in Brand steckt, hat es Besseres zu tun, als seine Armee [...]
arretieren zu lassen.«41 Schlieffen griff damit ein Topos auf, das bereits seit der
Bismarck-Zeit in der deutschen Militärführung kursierte.42 Zugleich stellte er das
Erscheinen britischer Truppen in Europa generell in Frage. Auch zur Zeit des
Jahreswechsels 1905/06 dürften die Ansichten Schlieffens ähnliche gewesen sein.
Dass eine britische Landung in Dänemark ein großes Wagnis war, bestätigte auch
der deutsche Militärattaché in London, Friedrich von der Schulenburg. Seiner
Ansicht nach werde »nur dann eine Landung in unserem Norden zu gewärtigen
sein, wenn Frankreich im Verein mit dem englischen ein Landungskorps dorthin
schickt«.43
Anfang 1906 wurde Schlieffen durch Helmuth von Moltke d.J. als General-
stabschef ersetzt. Seinem Nachfolger übergab er, gewissermaßen als Handlungs-
anweisung, die Denkschrift »Krieg gegen Frankreich«. Die Rolle Großbritanniens
wurde darin allerdings mit keiner Silbe erwähnt. Um Moltke auch in Bezug auf
die Haltung des Empires seine Ansichten mitzuteilen, verfasste Schlieffen im
Februar 1906 ein Zusatzmemorandum. Ausdrücklich warnte der scheidende
Generalstabschef seinen Nachfolger davor, deutsche Truppen aus dem Kampf
gegen Frankreich abzuziehen, um einem britischen Expeditionskorps in Esbjerg
entgegenzutreten. Ohnehin würden die Briten den Verlauf der ersten Schlacht
abwarten, ehe sie sich zum Einschreiten entschlössen. Falle diese zugunsten
Deutschlands aus, »so werden die Engländer wahrscheinlich ihr aussichtslo-
ses Unternehmen aufgeben«. In Erwartung eines britischen Expeditionskorps
»auf einem entlegenen zukünftigen Kriegsschauplatz eine Armee, ein Korps,
eine Division zurückzulassen, die den Franzosen gegenüber die Entscheidung
bringen könnten«, wäre ein verhängnisvoller Fehler, so Schlieffen. Gegen eine
gelandete britische Expeditionsstreitmacht müsste der deutsche Generalstab
vielmehr »alle noch im Lande befindlichen Kräfte, und es sind deren noch im-
mer recht beträchtliche, zusammenziehen und die eingedrungenen Engländer
erdrücken«.44
41 Schlieffen, Der Krieg in der Gegenwart, 1909, abgedruckt in: Alfred von Schlieffen, Gesammelte
Schriften, Bd 1, Berlin 1913, S. 11–22, hier S. 21.
42 Siehe Kap. 3.
43 Schulenburg an das preuß. Kriegsministerium, 31.1.1906, Politisches Archiv des Auswärtigen
Amts, Berlin (PA-AA), R 5492, Bl. 66–78, hier Bl. 71 f.
44 Zusatzmemorandum Schlieffens vom Februar 1906, abgedruckt in: Ritter, Der Schlieffenplan
(wie Anm. 11), S. 174–178, hier S. 177 f.
36 Lukas Grawe OLDENBOURG
45 Siehe Moltkes Brief an seine Frau, 18.6.1904, abgedruckt in: Helmuth von Moltke, Erinne-
rungen – Briefe – Dokumente 1877–1916. Ein Bild vom Kriegsausbruch, erster Kriegsführung und
Persönlichkeit des ersten militärischen Führers des Krieges. Hrsg. von Eliza von Moltke, Stutt-
gart 1922, S. 292.
46 Ferdinand von Schmerfeld, Moltkes Ansichten über feindliche Landungen an den deutschen
Küsten. In: Vierteljahrshefte für Truppenführung und Heereskunde, 3 (1906), S. 87–99, hier S. 87.
47 Vgl. auch Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk (wie Anm. 12), S. 195.
48 Stefan von Velsen, Bild auf Bild, 1950/51, BArch, MSG 2/10949, S. 28. Dazu auch Stefan von
Velsen, Deutsche Generalstabsoffiziere im 1. Weltkrieg 1914–1918. Erinnerungen. In: Die Welt als
Geschichte, 16 (1956), S. 250–293, hier S. 251.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 37
»aber nicht erreicht werden durch den alleinigen Einsatz der Flotte. Dazu sei auch der
Einsatz der Landarmee erforderlich. Die Heranführung der Landarmee sei geplant:
entweder – nach Vernichtung der deutschen Flotte – nach der jütischen oder schleswig-
schen Küste, oder – wenn die Vernichtung der deutschen Flotte nicht gelungen sei – nach
der belgischen oder holländischen Küste.«52
49 Bis 1908/09 nahm Moltke sogar keinerlei Veränderungen an der Kriegsplanung Schlieffens vor.
Erst danach setzte er auch eigene Ideen um. Siehe Annika Mombauer, Der Moltkeplan: Modifika-
tion des Schlieffenplans bei gleichen Zielen? In: Der Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 79–99.
50 Annika Mombauer, Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, Cambridge,
New York 2001, S. 58–66.
51 Siehe Konrad Canis, Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902–1914, Paderborn
[u. a.] 2011, S. 169–190.
56 Für einen Stärkevergleich der deutsch-britischen Flotten siehe Andreas Rose, Zwischen Empire
und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin, Boston, MA 2011 (= Ver-
öffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 70), S. 214 (1903), 390 (1906), 412
(1909).
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 39
57 Zur britischen Planung in den Jahren 1905/06 und zum Strategiestreit siehe Marder, From the
Dreadnought to Scapa Flow (wie Anm. 1), S. 116–119; William N. Summerton, The Development of
British Military Planning for a War against Germany, 1904–1914, London 1970, S. 23–297; Grimes,
Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 41–75; Andrew Lambert, The German North Sea
Islands, the Kiel Canal and the Danish Narrows in Royal Navy Thinking and Planning, 1905–1918.
In: The Danish Straits and German Naval Power 1905–1918. Ed. by Gerhard P. Groß and Michael
Epkenhans, Potsdam 2010, S. 35–62, und David G. Morgan-Owen, The Fear of Invasion. Strategy,
Politics, and British War Planning, 1880–1914, Oxford 2017, S. 99–127.
58 Fisher an Esher, 19.11.1903, zit. nach: Morgan-Owen, The Fear of Invasion (wie Anm. 57), S. 113.
59 Fisher an Landsdowne, 22.4.1905, zit. nach: Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10),
S. 62. Dazu auch Lambert, The German North Sea Islands (wie Anm. 57), S. 38–44.
60 Wilson an die Admiralität, 27.6.1905, zit. nach: Morgan-Owen, The Fear of Invasion (wie
Anm. 57), S. 122 f.
61 Zu den Reformen der britischen Armee nach dem Burenkrieg siehe Paul Kluke, Heeresaufbau
und Heerespolitik Englands. Vom Burenkrieg bis zum Weltkrieg, München, Berlin 1932 (= Histori-
sche Zeitschrift. Beihefte, 27), S. 77–136, und Ian Beckett, Timothy Bowman and Mark Connelly,
The British Army and the First World War, und Cambridge 2017, S. 7–12.
40 Lukas Grawe OLDENBOURG
Soldaten binden könne,62 änderte die Führung der Landstreitkräfte im Herbst ihre
Meinung. Fortan hielt man die deutsche Verteidigung im Norden für viel zu stark,
um mit einem Expeditionskorps Erfolge erzielen zu können. Außerdem glaubte
der britische Generalstab nicht mehr daran, dass eine Operation in Schleswig-
Holstein genügend deutsche Truppen von der Westfront abziehen würde.63 Statt-
dessen konzentrierten sich die Landstreitkräfte nun auf die im Winter 1905 begin-
nenden Stabsgespräche mit Frankreich und auf die im Januar 1906 anlaufenden
Verhandlungen mit dem belgischen Generalstab.64 Da die französische Armeefüh-
rung ohnehin eine direkte Verstärkung der französischen Front befürwortete,65
hatte sich die Army zu diesem Zeitpunkt für eine Strategie entschieden. Entschei-
dend für ihren Sinneswandel war der Bedeutungszuwachs, den das Heer im Falle
einer Landung in Frankreich erhielt: Während man auf diese Weise die britische
Strategie vorgeben konnte, war man im Falle einer amphibischen Operation an
der deutschen Nordflanke lediglich das Anhängsel der Navy.66
Die Entscheidung zwischen maritimer und Kontinentalstrategie fällte im
Januar 1906 das Committee of Imperial Defence (CID), das neben den wichtigsten
militärischen auch die zentralen politischen Entscheidungsträger umfasste und
dem die Rolle des obersten Entscheidungsorgans zugedacht war.67 Zwischen
Dezember 1905 und Januar 1906 tagte es viermal. Es entschied sich schließlich
aus militärstrategischen und politischen Gründen für die Pläne des britischen
Generalstabs.68 Obwohl damit eine Entscheidung zugunsten des Heeres gefallen
war, wollte sich die Flottenführung nicht mit ihrer Niederlage abfinden. In den
folgenden Jahren sahen Planspiele der Marine nach wie vor Landungsunter-
nehmen an der deutschen Nordflanke vor. Während der deutsche Generalstab
62 British Military Action in Case of War with Germany, 28.8.1905, The National Archives, Kew
(TNA), WO 106/46, Bl. 50–52.
63 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 69 f. Siehe auch Possibilities of British
Offensive Actions against Germany, Gleichen an Lascelles, 3.11.1905, TNA, WO 106/46, Bl. 99–107,
und das Memorandum on the Feasibility of landing a British Force of 100,000 Men on the Coast of
Germany, in the Event of Great Britain being in active Alliance with France in a War against
Germany, and the probable Effect on the Military Situation, 10.11.1905, ebd., Bl. 88 f.
64 Kluke, Heeresaufbau und Heerespolitik Englands (wie Anm. 61), S. 148–159, und Daniel
H. Thomas, The Guarantee of Belgian Independence and Neutrality in European Diplomacy,
1830’s–1930’s, Kingston 1983, S. 425–448.
65 Williamson, The Politics of Grand Strategy (wie Anm. 9), S. 77.
66 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 70 f.
Bereits unter Schlieffen leitete der Generalstab eine erste, bedeutende Maßnahme
zur Abwehr einer britischen Landung ein: Den Ausbau des strategischen Eisen-
bahnnetzes in Schleswig-Holstein. Die drei wichtigen Nord-Süd-Trassen befanden
sich fast ausnahmslos in preußischem Staatsbesitz, waren in der Regel eingleisig
und somit wenig leistungsfähig. Wirtschaftliche Gründe hatten einen Ausbau
der Linien bislang nicht notwendig erscheinen lassen. Die wachsenden Span-
nungen mit dem Empire und die Enthüllungen Delcassés führten Ende 1905
zu einem raschen Umdenken. Erstmals schienen die von der generalstabsinternen
Eisenbahnabteilung bereits zuvor geplanten Ausbaumaßnahmen politisch durch-
setzbar zu sein.78 Ende Dezember 1905 kam es im Reichseisenbahnamt in Berlin
zu ersten Verhandlungen, an denen vonseiten des Generalstabs der Chef der
Eisenbahnabteilung, Hermann von Staabs, teilnahm. Aufgefordert, die Gründe
für einen Ausbau der Strecken darzulegen, betonte Staabs, die Provinz Schleswig
sei in einem Krieg äußerst gefährdet, und zwar nicht nur durch einen Einfall aus
dem Norden, sondern auch durch eine Landung feindlicher Truppen von See aus.
»Das wirksamste und einzig mögliche Mittel, solchen feindlichen Unterneh-
mungen entgegenzutreten, bestände darin, im gegebenen Fall eine genügende
Truppenmacht überraschend schnell nach den bedrohten Gegenden zu werfen«,
führte Staabs aus. »Die Leistungsfähigkeit der hierfür in Betracht kommenden
Eisenbahnen böte aber keine Gewähr für das Gelingen eines solchen Planes.«79
Folglich forderte der Chef der Eisenbahnabteilung den Bau zweiter Gleise für die
wichtigen Nord-Süd-Trassen.80
Die Ausführungen Staabs’ trafen auf keinerlei Widerstand. Das Reich erklärte
sich bereit, Preußen bei den Kosten des Projekts, die immerhin auf 6,5 Millionen
Reichsmark veranschlagt wurden, zu unterstützen.81 Auch Bülow setzte sich für
die Verwirklichung des Ausbaus ein: Im Januar 1906 schrieb der Reichskanzler an
Wilhelm II.:
78 Staabs betont in der Rückschau: »Durch zufällige Umstände konnte über die bewilligten
Jahressummen hinaus eine Forderung durchgesetzt werden, die für die ›dritte Front‹ sehr bedeu-
tungsvoll war.« Hermann von Staabs, Aufmarsch nach zwei Fronten. Auf Grund der Operations-
pläne von 1871–1914, Berlin 1925, S. 36.
79 Verhandlungen im Reichseisenbahnamt, 30.12.1905, Geheimes Staatsarchiv Preußischer
Kulturbesitz, Berlin (GStA-PK), I. HA, Rep. 151, Nr. 1318, ohne Folierung.
80 Ebd.
81 Das preuß. Ministerium für auswärtige Angelegenheiten an den preuß. Finanzminister,
23.2.1906, GStA-PK, I. HA, Rep. 151, Nr. 1318, ohne Folierung.
44 Lukas Grawe OLDENBOURG
»Während es bisher als ausreichend erachtet werden konnte, die Leistungsfähigkeit des
deutschen Eisenbahnnetzes im Interesse der Landesverteidigung nach der West‑ und der
Ostgrenze hin zu erhöhen, haben die Ereignisse des letzten Sommers darauf hingewiesen,
daß auch darauf Bedacht genommen werden muß, die Küstengebiete des Reichs durch
einen strategischen Ausbau verschiedener Eisenbahnlinien gegen die Möglichkeit einer
Landung feindlicher Streitkräfte besser zu sichern.«82
Ein Promemoria des Reichseisenbahnamts räumte ganz offen ein, dass der
Ausbau für »den gewöhnlichen Verkehr allein [...] nicht erforderlich«, sondern
vielmehr im »Interesse der Landesverteidigung geboten« sei.83
Die Schilderungen von Staabs zeitigten Erfolg. Bereits im März 1906 wurden
die Nachtragsforderungen abgesegnet. Auch bei den Beratungen der Budgetkom-
mission des Reichstags warb der Chef der Eisenbahnabteilung noch einmal
für die Maßnahme.84 Letztlich stimmte der Reichstag den geforderten Baumaß-
nahmen zu,85 die 300 Kilometer zusätzliche Gleise bedeuteten. In Zukunft konnte
der Generalstab daher auf eine zweigleisige Verbindung im Westen und in der
Mitte Schleswig-Holsteins zurückgreifen, während die eingleisige östliche Nord-
Süd-Strecke erheblich verbessert worden war.86
Mit diesen Ausbaumaßnahmen gab sich der Generalstab nicht zufrieden.
Vielmehr ergriff er ein Jahr später die nächste sich bietende Gelegenheit, um das
Bahnnetz noch leistungsfähiger zu gestalten: den Ausbau des Nordostseekanals.
Dieser war nur zwölf Jahre nach Fertigstellung des Kanals nötig geworden, da ihn
die immer größer werdenden Großkampfschiffe der deutschen Marine mit ihrem
Tiefgang nicht mehr durchfahren konnten.87 Im Rahmen der kommissarischen
Beratungen über das Erweiterungsprojekt am 6. Februar 1907 im Reichsamt des
Innern waren daher nicht nur Vertreter der Marine anwesend, sondern auch zwei
Offiziere des Großen Generalstabs. Diese setzten sich für einen Ausbau der
unzureichenden Kanalbrücken ein. Man lege größten Wert darauf, dass »der
planmäßige Verlauf der Mobilmachung nicht durch Störungen an den Kanalbrü-
cken in Frage gestellt werde und daß auch ein etwaiger Aufmarsch im nördlichen
Schleswig-Holstein unbedingt sichergestellt sei«. Bei einem Angriff aus dem
Norden würden »größere Truppenansammlungen nach dort geworfen werden,
Unternehmungen von den Küsten oder auch von Dänemark her können schleu-
nige Truppenversammlungen nördlich des Kanals erforderlich machen, deren
Transport bei den jetzigen Übergangsverhältnissen [...] nicht genügend gesichert
erscheine«.88 Anstelle von den störungsanfälligen Drehbrücken warben die
Generalstabsoffiziere daher für den Bau von Hochbrücken über den Nordostsee-
kanal und setzten sich damit durch. Die von den Militärs gewünschte Hochbrücke
bei Rendsburg wurde in Angriff genommen und 1913 fertiggestellt.89 Damit sorgte
sie für eine weitere Leistungssteigerung der Eisenbahnverbindungen.
89 Erich Thiesen, Die Rendsburger Hochbrücke mit Schwebefähre, Berlin 2014, S. 6–70.
90 Schäfer, Generalstab und Admiralstab (wie Anm. 75), S. 3–20; Kapitän zur See Weniger, Die
Entwicklung des Operationsplanes für die deutsche Schlachtflotte. In: Marine-Rundschau, 35
(1930), S. 1–10, 51–59; Friedrich-Christian Stahl, Der Große Generalstab, seine Beziehungen zum
Admiralstab und seine Gedanken zu den Operationsplänen der Marine. In: Wehrkunde, 12 (1963),
S. 6–12, und Stahl, Armee und Marine (wie Anm. 17).
91 Stahl, Armee und Marine (wie Anm. 17), S. 47.
92 Moltke an Baudissin, 2.4.1909, zit. nach: Zusammenarbeit zwischen Heer und Marine vor dem
Kriege und im Jahr 1914, BArch, RH 61/142, Bl. 13.
93 Zuletzt in: Chef des Generalstabes der Armee, Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, PA
AA, R 995.
46 Lukas Grawe OLDENBOURG
verhindern, als äußerst gering ein.94 Dem Generalstab war eine Landung der briti-
schen Streitkräfte auf dem Kontinent sogar recht sympathisch, glaubte er auf diese
Weise doch eine Möglichkeit gegeben, die britische Armee abseits der Heimat
vernichten zu können.95 Angenehmer war es allerdings, wenn eine Vernichtung
der britischen Truppen im Zuge des Westfeldzuges durchgeführt werden konnte,
ohne auch noch Truppen nach Norddeutschland abstellen zu müssen.
Ungeachtet dieser Einschränkungen informierten sich beide Behörden über
Möglichkeiten einer amphibischen Operation Großbritanniens und tauschten
Informationen miteinander aus.96 Außerdem nahm die deutsche Flotte eine nicht
unbedeutende Rolle in den Abwehrplänen des Generalstabs ein. Schließlich ging
er davon aus, dass eine britische Landung in Norddeutschland oder Dänemark
erst nach der Vernichtung der deutschen Seestreitkräfte möglich sei.97 In Bespre-
chungen mit Admiralstabschef Friedrich von Baudissin drängte Moltke 1907 die
Marineführung daher zu einer defensiveren Strategie, da »es für die Heeresfüh-
rung ungünstig sei, wenn die Engländer bald nach Beginn des Krieges die un-
bestrittene Seeherrschaft in der Nordsee und damit die Möglichkeit, nach be-
liebigen Richtungen Truppen zu transportieren, erlangten«.98 Derartige Bitten
um Beschränkung des maritimen Offensivgeistes blieben indes nur eine kurze
Episode. Bereits ein Jahr später erhob Moltke keinerlei Einwände mehr gegen
die neue offensive Planung des Admiralstabs.99 Die Flotte solle sich durch die
Möglichkeit einer britischen Landung nicht in ihren Planungen einschränken
lassen,100 lautete nun das Credo des Generalstabschefs.
RM 5/1606, Bl. 7. Auch schickte der Generalstab die Denkschrift Heydebrecks und das Memo-
randum über das britische Expeditionskorps von 1912 an den Admiralstab. Zu nennen sind darüber
hinaus die Fühlungnahmen zwischen Georg von Waldersee und Behncke, 5.11.1913, BArch, RM 5/
1615, Bl. 102, und RM 5/1630, Bl. 52.
97 Moltke an Bülow, 23.2.1906, abgedruckt in: GP, Bd 21/2, Nr. 7226.
98 Randbemerkung Baudissins zum Operationsbefehl von 1907, zit. nach: Weniger, Die Entwick-
lung des Operationsplanes (wie Anm. 90), S. 3.
99 Ebd.
100 Moltke an Baudissin, 9.3.1908, BArch, RM 5/1606, Bl. 7. Siehe auch Walther Hubatsch, Der
Admiralstab und die obersten Marinebehörden in Deutschland 1848–1945, Frankfurt a. M. 1958,
S. 142 f.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 47
Die wachsende Stärke der deutschen Flotte beeinflusste auch die Ansichten
innerhalb des Generalstabs. Zwar konnte der Vorsprung Großbritanniens bei
Weitem nicht eingeholt werden, wohl aber wurde es für die britische Flotte zuneh-
mend riskanter, einen Angriff auf deutsche Häfen oder Küstenstädte zu wagen.101
Die deutsche Flotte war schließlich in erster Linie als Drohinstrument und nicht
als Offensivwaffe konzipiert worden. Dieser »Risikotheorie« zufolge sollte die
deutsche Flotte so groß sein, dass ein (britischer) Angriff viel zu riskant und
verlustreich gewesen wäre. Statt den Verlust der Suprematie zur See zu riskieren,
werde die britische Regierung eher ein Bündnis mit dem Deutschen Reich suchen,
war die Annahme des Architekten der deutschen Flotte Alfred von Tirpitz.102 Dies
wirkte sich auch auf etwaige britische Landungspläne in Dänemark aus: Allein
der Transport der Truppen nach Esbjerg war angesichts der wachsenden deut-
schen Hochseeflotte ein Wagnis. Enge Absprachen zwischen General‑ und Admi-
ralstab waren daher kaum nötig, bot doch bereits das Wachstum der deutschen
Flotte eine gewisse Gewähr, dass das Empire eine Landung an der Nordflanke des
Reichs unterließ.
Von dieser Annahme ausgehend, hätte der Generalstab eigentlich eine weitere
Vergrößerung der deutschen Seestreitkräfte fordern oder zumindest unterstützen
müssen. Dass die Behörde dies nicht tat, verdeutlicht die untergeordnete Bedeu-
tung der deutschen Nordflanke: Im Falle eines Krieges waren die Anstrengungen
gegen Frankreich und Russland wesentlich wichtiger als mögliche Operationen in
Schleswig-Holstein. Folglich machte eine gesteigerte Flottenrüstung zwar eine
britische Landung an Deutschlands Nordflanke unwahrscheinlicher, doch entzog
sie dem Heer finanzielle Mittel, die dieses im Zweifrontenkrieg benötigte. Eine
enge Kooperation zwischen Heer und Marine bzw. zwischen Generalstab und
Admiralstab musste daher bereits an den unterschiedlichen Prioritäten scheitern.
c) Taktisch-operative Gegenmaßnahmen
Um seine Offiziere auf einen Krieg vorzubereiten, führte der Generalstab Kriegs-
spiele und Generalstabsreisen durch und vermittelte mithilfe von taktischen
101 Für einen Stärkevergleich der deutsch-britischen Flotten siehe Rose, Zwischen Empire und
Kontinent (wie Anm. 56), S. 214 (1903), 390 (1906), 412 (1909).
102 Aus der umfangreichen Literatur seien hier genannt: Volker R. Berghahn, Der Tirpitz-Plan.
Genesis und Verfall einer innenpolitischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971
(= Geschichtliche Studien zu Politik und Gesellschaft, 1), und Rolf Hobson, Maritimer Imperialis-
mus. Seemachtideologie, seestrategisches Denken und der Tirpitzplan 1875 bis 1914, München
2004 (= Beiträge zur Militärgeschichte, 61), v. a. S. 231–269.
48 Lukas Grawe OLDENBOURG
103 Arden Bucholz, Moltke, Schlieffen, and Prussian War Planning, New York 1991, S. 12–15,
28–38, 75–83 und S. 242–254, sowie Werner Knoll, Das Kriegsspiel als Übungs‑ und Ausbildungs-
methode. Zu seiner Entwicklung und Anwendung in deutschen Heeren des 19. und 20. Jahrhun-
derts. Allgemeiner Überblick von seiner Entstehung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Zeit-
schrift für Heereskunde, 76 (2012), S. 168–179.
104 Da das dänische Korps mit 30 Bataillonen Infanterie, 12 Eskadrons Kavallerie und 96 Ge-
schützen angegeben wird, ist für das britische Landungskorps eine ähnliche Größe anzunehmen.
105 Taktisch-strategische Schlussaufgabe 1896, abgedruckt in: Schlieffen, Dienstschriften (wie
Anm. 14), S. 31–41.
106 Groß, Mythos und Wirklichkeit (wie Anm. 32), S. 61–98.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 49
107 Kriegsspiel der Eisenbahnabteilung, April 1907, BArch, N 46/102, Bl. 94-108. Siehe auch die
taktische Aufgabe der 1. Abteilung, 19.1.1905, ebd., Bl. 20–25, die ebenfalls mit einer britischen
Landung rechnete. Dazu auch: Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Welt-
krieg. Hrsg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957 (= Deutsche Geschichts-
quellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 41), S. 103.
108 Heydebreck, Unternehmung Englands gegen Deutschland zu Lande, 2.12.1905, BArch, RM 5/
1605, Bl. 36–51, hier Bl. 49.
109 Schlussaufgaben des Generalstabschefs, März 1908, BArch, PH 3/438, Bl. 67–70.
110 Moltke, Besprechung der Schlußaufgaben 1908, 17.3.1908, ebd., Bl. 71–78, hier Bl. 72–74. Im
Jahr 1910 veranstaltete der Generalstab sogar eine Generalstabsreise in Schleswig-Holstein. Leider
lassen sich weder in den Akten noch in der Memoirenliteratur Einzelheiten über die Reise finden.
Chef des Generalstabes der Armee, Bestimmungen für die große Generalstabsreise 1910, BArch,
PH 3/658, Bl. 176–179. Dazu auch Erich Ludendorff, Mein militärischer Werdegang. Blätter der
Erinnerung an unser stolzes Heer, Berlin 1933, S. 125 f.
50 Lukas Grawe OLDENBOURG
d) Heerespersonelle Maßnahmen
In seiner gesamten Amtszeit als Generalstabschef hatte sich Schlieffen stets gegen
eine Zersplitterung der Kräfte ausgesprochen und betont, jeder Mann müsse an
der entscheidenden Front – nämlich gegen Frankreich – zusammengezogen
werden.112 Dieser Ansicht seines Vorgängers schloss sich Moltke an. Allein auf die
vor Ort befindlichen Verbände wollte sich der neue Generalstabschef aber nicht
verlassen. Stattdessen warb er bereits kurz nach seinem Dienstantritt in einem
Schreiben an das preußische Kriegsministerium für die Bildung einer »Besat-
zungs-Armee«, um den Einbruch feindlicher Kräfte »in ungeschützte Landesteile«
zu verhindern. Die »Besatzungs-Armee« sollte bereits im Frieden formiert werden
und sich aus den in jedem Armeekorpsbezirk vorhandenen überzähligen Ersatz-
bataillonen bilden.113 Das preußische Kriegsministerium lehnte eine solche
Zusammenfassung der Ersatzbataillone aber ab, waren diese im Kriegsfall doch
für die Auffüllung der Verluste der Feldtruppen vorgesehen.
113 Moltke an das Allgemeine Kriegsdepartement, 6.4.1906, abgedruckt in: Kriegsrüstung und
Kriegswirtschaft. Die militärische, wirtschaftliche und finanzielle Rüstung Deutschlands von der
Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges, Anlagenband. Hrsg. vom Reichsarchiv, Berlin
1930, S. 94 f., hier S. 94. Siehe auch Moltke an das preuß. Kriegsministerium, 1.7.1910, ebd.,
S. 118–120.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 51
Moltke ließ aber nicht locker und wiederholte in einem weiteren Schreiben
seine Forderungen. Er wolle nicht das gesamte Ersatzheer mobilmachen, sondern
habe »die beantragten Vorbereitungen für den Schutz Schleswig-Holsteins in den
Vordergrund gestellt, weil sich dort eine Lücke am empfindlichsten geltend«
mache, teilte er Kriegsminister Josias von Heeringen am 20. August 1910 mit. Vom
Ersatzheer erwarte er keine großangelegten Operationen, sondern lediglich
entschiedenen Widerstand an vorbereiteten Verteidigungslinien an der Eider und
der Schlei.114 Moltkes intensive Warnungen zeigten nun den gewünschten Erfolg:
Das Kriegsministerium lenkte ein und genehmigte im Rahmen des »Gesetzes über
die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres« vom 27. März 1911 die Aufstel-
lung mobiler Ersatzformationen.115 Diese waren fortan auch dafür da, mögliche
Landungsaktionen der Briten an Deutschlands Nordflanke zu vereiteln.
Dass Moltke die Bedrohung durch ein britisches Expeditionskorps höher
einschätzte als sein Vorgänger, verdeutlicht auch die Anfertigung eines Nordauf-
marsches, mit dem ab 1906/07 begonnen wurde. »Gegen den Einmarsch einer in
Jütland gelandeten Armee« sollten ab dem 9. bzw. 10. Mobilmachungstag das
IX. Reservekorps, das IX. Ersatzkorps und die 34. gemischte Landwehrbrigade
bei Kappeln/Flensburg, Schleswig, Eckernförde und Rendsburg aufmarschie-
ren.116 Ab 1909/10 erhielten die in Schleswig-Holstein aufmarschierenden Trup-
pen die Bezeichnung »Nordarmee«.117 Im Mobilmachungsjahr 1914/15 sollten
schließlich neben dem IX. Reservekorps noch vier gemischte Landwehrbrigaden
in Schleswig-Holstein aufmarschieren. »Tritt eine Bedrohung der deutschen
Küste nicht ein«, betonte der Mobilmachungs-Terminkalender, »so wird das IX.
K. und unter Umständen auch die Nordbrigade nach einem anderen Kriegsschau-
platz beordert.«118
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, marschierten diese Truppen
vom 8. bis zum 10. Mobilmachungstag gemäß dem Plan im Osten Schleswig-Hol-
steins zwischen der Flensburger Förde und der Eckernförder Bucht sowie nördlich
des Nordostseekanals auf.119 Erst am 22. August erhielt der Generalstab sichere
Nachrichten von der Landung des britischen Expeditionsheeres in Frankreich;
114 Moltke an das preuß. Kriegsministerium, 20.8.1910, abgedruckt in: ebd., S. 123–125. Der
Generalstab plante Zerstörungen von Bahnlinien und Kanälen, um den britischen Vormarsch
aufzuhalten. Aufmarsch 1906/07, abgedruckt in: Der Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 409–417,
hier S. 417.
115 Manfred Nebelin, Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 78.
116 Aufmarsch 1906/07, abgedruckt in: Der Schlieffenplan (wie Anm. 11), S. 409–417, hier S. 417.
117 Aufmarsch 1909/10, abgedruckt ebd., S. 432–442, hier S. 441 f.
120 Ebd., S. 432, und Klaus-Jürgen Bremm, Armeen unter Dampf. Die Eisenbahnen in der europäi-
schen Kriegsgeschichte 1871–1918, Paderborn [u. a.] 2013, S. 41.
121 Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 14.
122 Folkert Krieger, Deutsch-dänische Beziehungen 1901–1914, Bonn 1974, S. 197; auch Patrick
Salmon, Scandinavia and the Great Powers, 1890–1940, New York 1997, S. 53–82, und Michael
Epkenhans, Germany and Denmark before 1914. In: The Danish Straits and German Naval Power
(wie Anm. 57), S. 3–12.
123 Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 14 f., und Troels Fink, Deutschland als
125 Jens Ole Christensen, The Lütken talks between the Danish Government and General Moltke.
In: The Danish Straits and German Naval Power (wie Anm. 57), S. 27–34, hier S. 32.
126 Aufzeichnung von Lütkens über das Treffen mit Moltke, 19.2.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet
om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 237–240. Deutsche Auszüge finden sich bei Köhler,
Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 17.
127 Ebd.
128 Lindencrone an Raben, 31.3.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie
Anm. 73), S. 253–255. Deutsche Auszüge finden sich bei Köhler, Deutschland und das dänische
Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 19 f.
54 Lukas Grawe OLDENBOURG
Instruktion versehen, in der es hieß, Dänemark werde sein Territorium mit aller
Macht gegen einen Angriff verteidigen. Man erwarte im Gegenzug aber eine
öffentliche Erklärung des Deutschen Reichs, die Neutralität Dänemarks zu
respektieren.129 Am 2. und 3. Juli 1906 trafen sich Moltke und Lütken erneut,
dieses Mal in Berlin. Doch obwohl der dänische Unterhändler nun mit Hand-
lungsanweisungen versehen war, änderte sich die Haltung des deutschen
Generalstabschefs nicht: »Im Falle eines deutsch-englischen Krieges würde
Deutschland die kathegorische [sic] Frage stellen: Feind oder Freund?«130 Eine
öffentliche Erklärung, die Neutralität Dänemarks zu achten, schloss Moltke aus.
Auch lehnte er eine Militärkonvention ab, da ihm mit der Rückgabe Schleswigs
der aufgerufene Preis als zu hoch erschien. Stattdessen forderte er Lütken erneut
auf, die dänische Wehrkraft zu erhöhen, um eine britische Landung abwehren zu
können.131
Im Frühjahr 1907 kam es zum entscheidenden Treffen zwischen Moltke und
Lütken. Nachdem Moltke in den vorangehenden Monaten einen deutschen
Angriff angedroht hatte, machte der dänische Verhandlungsführer nun jene
Zusagen, die der deutsche Generalstabschef erwartete. Lütken betonte, Dänemark
werde »unter keinen Umständen auf der Seite von Deutschlands Feinden stehen«.
Falls die dänische Neutralität nicht aufrechterhalten werden könne, werde Däne-
mark mit Deutschland gehen. Lütken sagte darüber hinaus den Ausbau des
dänischen Militärpotenzials zu.132 Vertraglich fixiert wurden die Ergebnisse aller-
dings nicht. Dennoch zeigte sich Moltke sehr zufrieden. In einem späteren Brief
betonte der deutsche Generalstabschef, »das Wort eines Ehrenmannes« wiege für
ihn schwerer »als geschriebene Verträge«.133 Dem Staatssekretär des Äußeren,
129 Instruktion Lütkens, 29.6.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie
Anm. 73), S. 260 f. Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Köhler, Deutschland und das
dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 31 f. Dort auch eine umfassende Analyse, S. 21–37.
130 Aufzeichnung Moltkes über das Treffen mit Lütken, 3.7.1906, abgedruckt in: Fink, Spillet om
Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 265. Dazu auch die Aufzeichnung Lütkens über das Treffen mit
Moltke am 2. und 3.7.1906, abgedruckt in: ebd., S. 262–265. Deutsche Auszüge bei Köhler, Deutsch-
land und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 42.
131 Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 52 f. Moltke ließ
anschließend sogar einen Bündnisentwurf ausarbeiten, wonach das Deutsche Reich eine Verteidi-
gung bei Esbjerg übernehmen sollte. Dies belegt, wie intensiv der Generalstab an Vorbereitungen
für eine Abwehr britischer Landungsversuche arbeitete. Bündnisentwurf des Generalstabs,
10.2.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 275 f.
132 Aufzeichnung Lütkens über das Treffen mit Moltke, 28.3.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om
Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 279–282. Deutsche Auszüge finden sich bei Köhler, Deutsch-
land und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 76.
133 Moltke an Lütken, 7.5.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73),
S. 291 f.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 55
Heinrich von Tschirschky, und Bülow berichtete er nicht ohne Stolz, er habe die
Zusage erhalten, dass »Dänemark, statt wie bisher beabsichtigt, seine ganze
Armee auf Seeland zu versammeln, eine Division in Jütland stehenlassen wolle,
die genügen wird, eine Landung in Esbjerg zu verhindern«.134
Bis heute ist umstritten, ob Lütken mit dieser Zusage seine Kompetenzen
überschritten oder ob er im Sinne Christensens gehandelt hat.135 Immerhin hielt
sich Dänemark an die Zusage und verstärkte ab 1909 die Festung Kopenhagen
und seine Armee nachhaltig.136 Allerdings überschätzte Moltke den Wert der
Abmachungen. Schließlich hatte Lütken nicht nur einen förmlichen Vertrag abge-
lehnt, sondern auch betont, seine Versprechungen besäßen nur in der Ära Chris-
tensen Gültigkeit.137 Da der dänische Ministerpräsident und seine Regierung
jedoch bereits im Oktober 1908 über eine Finanzaffäre stürzten,138 blieben die
dänischen Einlassungen von begrenztem Wert. Moltke sah sich daher in der
Folgezeit mit der Kritik konfrontiert, kein bindendes Abkommen mit Dänemark
zustande gebracht zu haben.139
Trotz der umfangreichen Drohungen war sich Moltke aber auch bewusst, dass
das Deutsche Reich geringfügige Zugeständnisse machen musste, sollten die
Beziehungen zu Dänemark verbessert werden. Anfang 1906 warb Moltke daher
bei Bülow dafür, der deutschen Politik gegenüber Dänemark, gerade in Schles-
wig-Holstein, die Schärfe zu nehmen.140 Seine Initiative setzte bilaterale Ge-
spräche in Gang, die ein Jahr später zu einem handfesten Erfolg führten: Das
Reich und sein nördliches Nachbarland einigten sich am 11. Januar 1907 auf den
Abschluss eines Optantenvertrags. Darin verpflichtete sich Dänemark zur Aner-
kennung der deutsch-dänischen Grenze und damit auch zum endgültigen Ver-
zicht auf eine Wiedereingliederung Schleswigs. Im Gegenzug sagte das Deutsche
134 Moltke an Bülow, unklares Datum, zit. nach: Köhler, Deutschland und das dänische Neutra-
litätsproblem (wie Anm. 72), S. 79, sowie Moltke an Tschirschky, 30.4.1907, PA AA, R 5325,
Bl. 257–263.
135 Karl Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage, Bd 2: Die schleswigsche Frage und der Welt-
krieg, Neumünster 1926–1929, S. 52 f.
136 Michael H. Clemmesen, The Danish Armed Forces 1909–1918. Between Politicians and Stra-
tegic Reality, Kopenhagen 2007, S. 9–15, und Michael H. Clemmesen, The Army in Positional
Defence Against the Developing Political Reality. In: The Danish Straits and German Naval Power
(wie Anm. 57), S. 167–188.
137 Notiz Lütkens über seinen Brief an Moltke vom 25.5.1907, abgedruckt in: Fink, Spillet om
Dansk Neutralitet (wie Anm. 73), S. 292 f.
138 Pertti Luntinen, The Baltic Question 1903–1908, Helsinki 1975, S. 111.
139 Ebd., S. 111 f.
141 Der Text des Vertrages findet sich in PA AA, R 5214, Bl. 57–60. Siehe auch Gosewinkel, Einbür-
gern und Ausschließen (wie Anm. 124), S. 208–210.
142 Lütken an Moltke, 22.4.1907, Moltke an Lütken, 27.4.1907, sowie Lütken an Moltke, 28.4.1907.
Diese drei Schreiben fungieren als Beilagen zu einem Brief von Moltke an Tschirschky, 30.4.1907,
PA AA, R 5325, Bl. 257–263.
143 Ebd.
144 Ebd., und Moltke an Tschirschky, 3.5.1907, PA AA, R 5325, Bl. 270 f.
den dänischen Gesprächen insgesamt sehr zufrieden sein. Zwar war es ihm nicht
gelungen, ein festes Bündnis zu initiieren,147 doch war eine britische Landung in
Esbjerg angesichts der dänischen Heeresverstärkungen weitaus unwahrscheinli-
cher geworden.
147 Köhler, Deutschland und das dänische Neutralitätsproblem (wie Anm. 72), S. 85–87.
148 Moltke an Bülow und das AA, 23.2.1908, PA AA, R 995, und Moltke an Baudissin, 9.3.1908,
BArch, RM 5/1606, Bl. 7.
149 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 13.5.1908, PA AA, R 5496, und 4.6.1908, BArch,
RM 5/1600, Bl. 81–83.
150 Generalkommando des IX. Armeekorps, Beobachtung der englischen Flotte vor Esbjerg vom
27.–30. Juni 1908, Preuß. Kriegsministerium an Admiralstab, 7.7.1908, BArch, RM 5/1177,
Bl. 33–35.
151 Moltke an Lütken, 1.5.1909, abgedruckt in: Fink, Spillet om Dansk Neutralitet (wie Anm. 73),
S. 317 f.
58 Lukas Grawe OLDENBOURG
»Eine schleunige Mobilmachung wäre nur für die erstgenannte Aufgabe erforderlich. Diese
Aufgabe scheidet aber wohl als unwahrscheinlich aus. In den anderen Fällen wird sich
England vermutlich Zeit nehmen und mehr auf das eigene Interesse als auf das des Verbün-
deten bedacht sein.«156
Die Marokkokrise gab dem Generalstab indes neue Veranlassung, die britischen
Handlungsoptionen durchzuspielen.157 Mit der Marineführung setzte sich der
Generalstab im Januar 1912 zusammen, wobei beide Behörden zu dem Schluss
kamen, eine britische Landung finde in den französischen Kanalhäfen statt.158
Diese Meinung unterstrich Moltke in einem Schreiben an den neuen Admiral-
stabschef August von Heeringen.159 Auch Heeringen war der Ansicht, eine Lan-
dung in Frankreich sei wesentlich leichter zu sichern als eine Landung in Däne-
mark und daher weitaus wahrscheinlicher.160 In seiner Rückschau auf die Span-
nungen um Marokko war sich auch Ostertag sicher:
»Die Landung hätte wohl in Frankreich stattgefunden. Für uns wäre es freilich bei weitem
die glücklichste Lösung, wenn die Engländer und Franzosen in einem Zukunftskriege wirk-
lich Schulter an Schulter gegen uns zu kämpfen beabsichtigten. So könnte mit beiden
gleichzeitig abgerechnet werden, und wir brauchten unsere Streitkräfte nicht zu teilen.«161
157 Ende September 1911 und Ende Februar 1912 verfasste die 3. Abteilung umfangreiche Denk-
schriften, die auch an den Admiralstab geschickt wurden. Leider finden sich in den Admiralstabs-
akten nur noch die Anschreiben. Siehe 3. Abteilung, Unternehmungen Englands zu Lande gegen
Deutschland, Montgelas an Heeringen, 23.9.1911, BArch, RM 5/1152, Bl. 177–179, und Aktennotiz
zur Generalstabsdenkschrift Landungsunternehmungen der Engländer im Kriegsfalle, 23.2.1912,
ebd., Bl. 205.
158 Admiralstab, Englische Landung in einem englisch-französisch-deutschen Kriege. Zur
Besprechung mit dem Großen Generalstabe, 23.1.1912, BArch, RM 5/1614, Bl. 173–175.
159 Moltke an Heeringen, 2.2.1912, ebd., Bl. 193.
160 Heeringen an Moltke, 28.2.1912, ebd., Bl. 194–196.
161 Ostertag an das preuß. Kriegsministerium, 15.2.1912, PA AA, R 5511.
162 Gegen die Behauptung, der deutsche Generalstab habe die britische Armee unterschätzt,
siehe Kuhl, Der deutsche Generalstab (wie Anm. 6), S. 83–95.
163 Williamson, The Politics of Grand Strategy (wie Anm. 9), S. 186–204.
60 Lukas Grawe OLDENBOURG
»British military operations against Germany itself are impossible under present conditions
[...] British military assistance in alliance with France for the preservation of Belgium neutra-
lity would be more usefully given in Belgium or in France than in Denmark.«164
Allerdings waren die Kontakte zur französischen Militärführung nach den Bespre-
chungen von 1906 längst eingeschlafen. Erst der neue Director of Military Opera-
tions, Henry Hughes Wilson, belebte die Gespräche wieder. Wilson avancierte in
der Folge zum energischsten Verfechter einer direkten militärischen Unterstüt-
zung Frankreichs.165 Obwohl die neuen Absprachen mit der französischen Militär-
führung die britische Kontinentalstrategie der Army weiter verfestigten,166 stand
sie politisch bis zuletzt auf wackeligen Beinen. Die endgültige Entscheidung für
eine Landung der britischen Streitkräfte in Frankreich fiel erst Anfang August
1914, ohne dass Großbritannien eine geeignete Armee für diese Strategie besaß.167
Vom anhaltenden Strategiestreit in der britischen Militärführung wusste der
deutsche Generalstab nichts. Dies enthüllt das umfangreiche Memorandum »Das
englische Expeditionskorps«, das Moltke Ende Mai 1912 an die Reichsleitung und
an den Admiralstab schickte und das, soweit aktenkundig, die letzte größere
Ausarbeitung zu diesem Sachverhalt vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges
darstellt.168 Darin vertraten Moltke und die 3. Abteilung erneut die Ansicht, Groß-
britannien werde Frankreich als »Festlandsdegen« verwenden: »England kann
mithin aus Rücksicht auf die Lage in seinen überseeischen Reichsteilen sein
Expeditionskorps auf dem Kontinent, wenn überhaupt, nur mit großer Vorsicht
einsetzen.« Während »die anderen Kriegführenden mit Volksheeren um ihr
Dasein kämpfen, wird es sich für England nur um einen mit einem Söldnerheer
164 Major Grant Duff, Military Policy in a War against Germany, 2.7.1908, TNA, WO 106/46,
Bl. 42 f.
165 Strachan, The British Army (wie Anm. 9), S. 76 f., und Williamson, The Politics of Grand Stra-
tegy (wie Anm. 9), S. 167–204. Zu Wilson siehe Keith Jeffery, Field Marshal Sir Henry Wilson. A
Political Soldier, Oxford, New York 2006.
166 Grimes, Strategy and War Planning (wie Anm. 10), S. 74.
167 Strachan, The British Army (wie Anm. 9), S. 79 und S. 94. Nach Ausbruch des Krieges
sondierte die britische Marineführung hingegen die Möglichkeiten einer gemeinsamen russisch-
britischen Landung in Pommern, verwarf diese jedoch wieder, da hierfür zunächst die deutsche
Marine entscheidend geschlagen werden musste. Schröder, Die englisch-russische Marinekonven-
tion (wie Anm. 13), S. 300–302. Eine russische Landung in Pommern hielt Moltke ebenfalls für
möglich, wenngleich für nicht sehr wahrscheinlich. Moltke an Heeringen, 9.10.1912, BArch,
RH 61/142.
168 Die Denkschrift »Die Versorgung des englischen Expeditionskorps« vom September 1912
widmet der Frage nur wenige Zeilen. Sie geht davon aus, dass ein britisches Expeditionskorps
aufgrund der verwundbaren Nachschublinien nur in einem verbündeten Staat an Land gehen
werde. BayHStA-KA, Gstb 146.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 61
geführten Kabinettskrieg handeln. Jede andere Art des Operierens könnte ihm
verhängnisvoll werden«.169 Folglich mehrten »sich neuerdings die Anzeichen
dafür, daß das englische Expeditionskorps, wenn überhaupt, in den französi-
schen Häfen Dünkirchen, Calais und Boulogne ausgeschifft werden soll«.170
Der Landung eines britischen Expeditionsheeres an Deutschlands Nordflanke
räumte die Denkschrift hingegen nur noch wenig Raum ein. Eine solche sei nicht
»besonders wahrscheinlich, aber immerhin möglich«, ihr Ziel wäre »die Zerstö-
rung des Nordostseekanals und vielleicht die Einnahme von Kiel und Hamburg«.
Allerdings wäre die Transportflotte »auf der Fahrt und bei der Ausschiffung in
Jütland erheblichen Gefahren ausgesetzt«171 – eine Folge der Aufrüstung der deut-
schen Marine. Alles in allem könnten die Hoffnungen der Franzosen auf eine
Unterstützung der britischen Armee leicht enttäuscht werden, betonte das Fazit
des Memorandums:
Das Memorandum der 3. Abteilung dürfte bei der Reichsleitung seinen Eindruck
nicht verfehlt haben.173 Moltke und seine Mitarbeiter hatten damit dem militäri-
schen Potenzial, das von einem britischen Kriegseintritt ausging, eindeutig den
Bedrohungscharakter genommen. Während die britische Flotte fast gar nicht
erwähnt wurde, beschränkte man die Rolle des britischen Heeres auf das Führen
169 Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, Moltke an Kiderlen-Wächter, 30.5.1912, PA AA,
R 995, hier S. 8. Zur Bewertung der Denkschrift siehe Grawe, Deutsche Feindaufklärung vor dem
Ersten Weltkrieg (wie Anm. 7), S. 313 f.
170 Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, PA AA, R 995, hier S. 9. Eine ähnliche Einschät-
zung führte Moltke auch ein Jahr später an. Siehe Verhalten Deutschlands in einem Dreibund-
kriege, nach Februar 1913, abgedruckt in: Erwin Hölzle, Quellen zur Entstehung des Ersten Welt-
krieges. Internationale Dokumente 1901–1914, Darmstadt 1978 (= Ausgewählte Quellen zur
deutschen Geschichte der Neuzeit, 27), S. 153–159, hier S. 157 f.
171 Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, PA AA, R 995, hier S. 13.
172 Ebd., hier S. 14. Ein ähnliches Urteil fällte noch im Mai 1914 das von der 3. Abteilung bearbei-
tete »kleine Orientierungsheft über das englische Heer«, S. 46, BayHStA-KA, Gstb 146.
173 Zwei Jahre später, im Frühjahr 1914, sorgte sich die Reichsleitung hingegen über die britisch-
russischen Marinegespräche, die eine »Einkreisung« Deutschlands zu komplettieren drohten. Über
diese Gespräche war der Generalstab aber nicht unterrichtet. Dazu umfassend Schröder, Die
englisch-russische Marinekonvention (wie Anm. 13), S. 539–690.
62 Lukas Grawe OLDENBOURG
5. Fazit
Nur sechs Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich vom 3. August
1914 gingen die ersten britischen Soldaten in Boulogne und Le Havre an Land.
Anders als vom deutschen Generalstab erwartet, führte das Empire keinen »Kabi-
nettskrieg«, sondern beteiligte sich in den folgenden vier Jahren mit seiner
ganzen militärischen und wirtschaftlichen Macht am Ersten Weltkrieg. Irrte der
Generalstab demnach vollständig mit seinen Einschätzungen hinsichtlich briti-
scher Landungsoperationen? Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt,
dass eine solche Feststellung zu undifferenziert wäre. Schließlich war die briti-
sche Militärführung bis zum August 1914 geteilter Meinung, wo eine Landung
stattfinden und wie groß ein britisches Engagement auf dem Kontinent ausfallen
sollte. Letztlich fiel die endgültige Entscheidung für eine Landung in Frankreich
erst Anfang August 1914.
Angesichts der britischen Uneinigkeit musste es auch dem deutschen
Generalstab schwerfallen, die Absichten des Empires im Konfliktfall zu evaluie-
ren. Spätestens seit den Enthüllungen Delcassés im Oktober 1905 hielt man eine
britische Landung in Dänemark mit anschließendem Vorstoß nach Schleswig-
Holstein für möglich, doch maß ihr Schlieffen keine kriegsentscheidende Bedeu-
tung zu. Während der Generalstabschef gebetsmühlenartig darauf hinwies, keine
174 Siehe Das englische Expeditionskorps, Mai 1912, Moltke an Kiderlen-Wächter, 30.5.1912, PA
AA, R 995, hier S. 8. Zum Unterschied zwischen »Kabinetts‑« und »Volkskrieg« siehe Stig Förster,
Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871–1914. Metakritik eines Mythos.
In: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 54 (1995), S. 61–95, S. 71 f.
175 Besprechung über die Überführung des englischen Expeditionskorps zwischen Behncke und
Waldersee, 5.11.1913, BArch, RM 5/1615, Bl. 102, und RM 5/1630, Bl. 52.
OLDENBOURG Albion an Holsteins Küsten? 63
Truppen von der französischen Front abzuziehen, stufte sein Nachfolger gerade
zu Beginn seiner Amtszeit eine amphibische Operation Großbritanniens durchaus
als ernstzunehmend ein. Bis 1908 hielt der Generalstab eine britische Landung in
Dänemark sogar für weitaus wahrscheinlicher als Unternehmungen in Belgien
oder Frankreich. Zweifel wurden indes laut, ob sich das Empire überhaupt an
einem europäischen Konflikt beteiligen oder nicht lieber einen »Festlandsdegen«
für sich kämpfen lassen würde.
Ungeachtet dessen hatte der Generalstab mögliche operative Ziele Großbri-
tanniens in Schleswig-Holstein richtig erkannt: Vor allem der Nordostseekanal
und die Großstädte Kiel und Hamburg mit ihren Werften und Marinebasen waren
bei einem britischen Angriff gefährdet. Der Große Generalstab entwarf daher eine
Reihe von Abwehrmaßnahmen, die nicht nur militärische, sondern auch außen-
politische, innenpolitische und wirtschaftliche Belange des Deutschen Reichs
betrafen. Während die Zusammenarbeit mit dem Admiralstab rudimentär blieb
und die taktisch-operativen Gegenmaßnahmen nicht von den allgemeinen
Ansichten des Generalstabs abwichen, erforderten heerespersonelle Maßnahmen
und der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Schleswig-Holstein einen hohen finan-
ziellen Aufwand. Gerade die Erweiterung der norddeutschen Trassen beruhte auf
den Befürchtungen vor einer britischen Landung, ließen sich die Baumaßnahmen
doch nicht mit wirtschaftlichen Argumenten legitimieren. Obwohl die Kosten
mehr als 6,5 Millionen Reichsmark betrugen, hielten sie sich im Vergleich zu
anderen strategischen Bahnbauprojekten der Vorkriegszeit in Grenzen. Dass der
Bahnbau in Schleswig-Holstein unersetzbare Ressourcen verschlang, die besser
an der deutschen West‑ oder Ostgrenze investiert worden wären, lässt sich
demnach nicht behaupten.
Ähnliches trifft auf die anfängliche Zurückhaltung des IX. Reservekorps in
Schleswig-Holstein zu. Nachdem im Generalstab Mitte August 1914 gesicherte
Nachrichten von einer britischen Landung in Frankreich eingegangen waren,
konnte das Korps nach Belgien verlegt werden und traf dort am 24. August ein.
Für die entscheidenden Schlachten im September 1914 kam es demnach nicht zu
spät, die strategischen Auswirkungen der Maßnahmen gegen eine britische
Landung an der deutschen Nordflanke waren demnach gering.
Große innen‑ und vor allem außenpolitische Bedeutung kam den Verhand-
lungen Moltkes mit dem dänischen Offizier Louis Carl Frederik Lütken zu. Obwohl
die Initiative zu den Gesprächen von dänischer Seite ausging, erkannte der deut-
sche Generalstabschef schnell die Gelegenheit, mit dänischer Hilfe eine britische
Landung an Deutschlands Nordflanke zu vereiteln. Damit die Gespräche Früchte
trugen, wirkte Moltke sogar auf die preußische Innenpolitik ein. Mehrfach warb er
gegenüber Bülow, Tschirschky und Bethmann Hollweg für ein Entgegenkommen
gegenüber Dänemark. Die Schilderungen Moltkes, im Falle eines Krieges gegen
64 Lukas Grawe OLDENBOURG
das Empire brauche man dänische Unterstützung, wogen letztlich schwerer als
die Ansichten der schleswig-holsteinischen Oberpräsidenten, die mehrfach durch
ihre harte Linie gegenüber dem deutschen Nachbarland aufgefallen waren.
Ein Umschwung der Einschätzungen setzte im Generalstab erst im Winter
1907/08 ein. Angesichts der wachsenden Größe der deutschen Flotte erschien
eine britische Landung in Esbjerg zunehmend riskant, zumal auch Dänemark
seine militärischen Anstrengungen erhöhte, um einem britischen Angriff ge-
wachsen zu sein. Fortan glaubte der Generalstab eher an eine Ausschiffung briti-
scher Truppen in Frankreich, ohne die »dänische Option« gänzlich zu verwerfen.
Wie das Memorandum vom Mai 1912 jedoch enthüllt, erwartete der Generalstab
vom britischen Empire keinen erbittert geführten Kampf, sondern lediglich einen
geringen Beitrag, um das Gesicht des Landes und der britischen Regierung zu
wahren. Diese abschätzige Sicht auf Großbritanniens möglichen Kriegsbeitrag
hing in wesentlichem Maße mit den Einschätzungen des Generalstabs über eine
britische Landung an Deutschlands Nordflanke zusammen. Aus seiner Sicht war
dieses Szenario nämlich jene Option, die von der britischen Militärführung am
meisten befürwortet wurde. Einzig die geringen Erfolgsaussichten schreckten die
britischen Militärs nach Meinung des deutschen Generalstabs von einer Landung
in Esbjerg ab. Da die deutschen Generalstabsoberen einen Anschluss britischer
Truppen an die französische Armee, bei dem Großbritannien zu einem Anhängsel
der Dritten Republik degradiert werde, schon immer für unwahrscheinlich ge-
halten hatten, konnte der britische Beitrag in einem kommenden Krieg nur gering
ausfallen.
Festzuhalten bleibt demnach, dass der Generalstab sich von dem Szenario
einer britischen Landung an der deutschen Nordflanke zwar nicht von seiner
Zweifrontenkriegsstrategie ablenken ließ, die diesbezüglichen Einschätzungen
aber viel dazu beitrugen, den britischen Beitrag im Fall eines europäischen
Krieges zu unterschätzen. Dies zeigte sich nicht nur in den Ausführungen des
ohnehin skeptischen Schlieffen, sondern auch in den Urteilen anderer General-
stabsoffiziere wie Heydebreck und Waldersee. Selbst recht objektive Beobachter
wie Ostertag konnten sich von diesen Einschätzungen nicht frei machen. Letztlich
erfassten sie sogar Moltke, der anfangs einer britischen Landung an der Nord-
flanke durchaus Bedrohungspotenzial attestiert hatte.