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J. S.

Bach 449

pädagogische Anwendung von ~Schopfbeutler,Kopfstückeln und OhrenreißenN zu


verzichten, wenn sie dazu verhalfen, seine Schüler zum Arbeiten, zum Uben und
sogar nur zum Verstehen zu bringen. U n d er hatte Erfolg damit: Man braucht sich
lediglich daran zu erinnern, wie unübertrefflich und überragend so viele seiner
Söhne waren und besonders Philipp Emanuel, der, wie ich glaube, ungeheure
Kontrapunlctlcenntnisse besessen haben muß. Vermutlich hatte Johann Sebastian auf
ihn all seine Geheimnisse, wie man seinen Weg durch die verborgenen Eigenheiten
der Töne findet, übertragen. Ich bin sicher, er hätte so groß wie sein Vater werden
können, wenn er dessen Stil nicht als veraltet angesehen und wenn er dessen
Ich pflegte zu sagen: Bach ist der erste Zwölftonkomponist. Das war natürlich ein Erfindungs- und Ausdruckskraft und dessen Persönlichkeit besessen hätte.
Scherz. Ich wußte nicht einmal, o b nicht jemand vor ihm diesen Titel verdiente. Ich nehme an, daß er technisch die Geheimnisse gekannt haben muß, die den
Aber die Wahrheit, auf der diese Feststellung beruht, ist, daß die Fuge Nr. X X I V i n Alten befähigten, gegen den Rat der Theoretiker auf einem gebrochenen Dreiklang
h-Moll aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers mit einem Dux beginnt, all die verschiedenen Themen seiner Kunst der Fttge aufzubauen, die all diese
in dem alle zwölf Töne erscheinen. Ich habe versucht, ein weiteres Beispiel dieser kanonischen Imitationen, direkte, umgekehrte und krebsförmige, augmentierte und
Art zu finden, aber ohne Erfolg. Allerdings konnte ich nur einen Teil seines diminuierte, zulasseil.
gesamten Werkes durchsehen. Er rnuß das gewußt haben; und - was sogar noch mehr ist - er wußte auch das
Es ist ein Ausnahn~efall:selbst in dieser Fuge besteht der Comes nur aus elf Gegenteil: er wußte, was zu tun und zu lassen war, wenn ein 'Thema hergestellt
verschiedenen Tönen und von den zwölf Wiederholungen und Transpositionen sind werden sollte, das sich zu keinerlei Behandlung dieser Art hergab. Aus diesem
nur sieben vollständig, während fünf einen oder zwei der zwölf Töne auslassen. Grund glaube ich, daß er, Philipp Emanuel, der Urheber des ))königlichenThemas*
Vielleicht könnte die Untersuchung der Kontrasubjekte und der Episoden weitere war.
interessante Tatsachen zutage fördern. Aber, was hier wichtiger ist: die Fuge O b eigene Bosheit ihn verleitete oder ob der )>Spaß«vom König bestellt war, läßt
verdient die Bezeichnung nCliroinatische Fuge« viel mehr zu Reche als diejenige, die sich vermutlich nur psychologisch nachweisen: der große König wußte, wie man
gewöhnlich so genannt wird. Sie nähert sich einen? chromatischen Stil auf eine von sich nach einer gewonnenen Schlacht fühlt, iind er wollte sehen, wie ein anderer
Bachs üblichem Verfahren abweichende Weise. Iin allgemeinen erscheinen chroma- Großer sich nach einer verlorenen Schlacht benahm. Er wollte die Verlegenheit
tische Alterationen als auf- oder absteigende künstliche Leittöne wie in den Takten eines Mannes sehen, der nur gewonnene Schlachten erlebt hatte. Er wollte sich an
I--2 der FLge Nr. X I V , Bd. I; oder in Halbtonfortscl~reitun~en wie in den Takten 6, der Hilflosiglceit des Opfers seines Spaßes weiden, wenn die hochgepriesene Kunst
1 2 und anderen der Fuge N r , X X I I , Bd. TI, oder in der Fuge Nr. X , Bd. I. - Es gibt der Itnprovisation die Schwierigkeiten einer gut vorbereiteten Falle nicht zu mei-
im ersten Band zwei Fälle von einer gewissen Ähnlichkeit: Nu. X V I I I in gis-Moll stern vermochte. Eine Falle war es: Philipp Emanuel hatte ein Thema lconstruiere,
und besonders Nr. X I I in f-Moll. Doch die Takte 33-34 der Fuge Nr. X I X sind das Johann Sebastians Vielseitigkeit widerstand. In der Ifilnst der Ftage bot ein
weniger chromatisch, als sie aussehen. Sie stehen in h-Moll, wobei sich Merkmale Molldreilclang so viele kontrapunktische Eröffnungen; das königliche Thema, eben-
der aufsteigenden und normal absteigenden Skala mit Bachs eigentümlicher Form falls ein Molldreiklang, ließ nicht eine einzige lcanonische Imitation zu. All die
einer absteigenden 'Mollskala vermischen. Wunder, die das »Musikalische Opfer« aufweist, werden durch Kontrasubjelcte,
In dieser Fuge sind die chromatisch alterierten Töne weder Auswechslungen noch Gegenmelodien und andere Hinzufügungeri von außen erreicht.
Bestandteile von Skalen. Sie besitzen deutlich eine Unabhängigkeit, die derjenigen Der königliche Spaß hatte durch Philipp Emanuels Kunstfertigkeit Erfolg gehabt.
der nicht aufeinanderbezogenen Töne der chromatischen Skala in einer Grundreihe Aber Johann Sebastian muß den üblen Scherz durchschaut haben. Daß er sein Werk
einer Z w ö l f t ~ n k o i n ~ o s i t i oähnelt.
n Der einzige wesentliche Unterschied zwischen ein »Musikalisches Opfer« nannte, ist sonderbar; denn das Wort Opfer hat eine
ihrer Natur und der modernen Chromatik besteht darin, dai3 sie ihre Mehrdeutig- doppelte Bedeutung: einmal in1 Sinne von »Opfer darbringen« und einmal iin Sinne
keit als Mittel eines modulatorischen Richtungswechsels nicht ausnutzen. von »Opfer sein*. - Johann Sebastian wußte, daß er das Opfer des Spaßes eines
,,grand seigneur« geworden war.

Ich habe immer eine hohe Meinung von Bachs Unterrichtsweise gehabt. Zweifellos
besaß er einen riefen Einblick in die verborgenen Geheimnisse von Tonbeziehun-
gen. E r vermochte seine Gedanken gewiß klar und verständlich darzustellen. Aber
ich bin auch überzeugt, daß er nicht zu empfindlich war, um auf die zeitgenössische
410 Aufsitze zur Mnsik

Viele Musilrer neigen heutzutage dazu, Vorzüge, die selbst für die geringeren unter Ich habe viele Vermutungen angestellt über die Tatsache, daß Bach einerseits so viele
den durchschnittlichen Geistern augenfällig sind, überzubewerten auf Kosten sol- Fugen schreibt, in denen die kompliziertesten kontrapunktischen Kombinationen
cher Vorzüge, die weniger hell leuchten. Ich unterschätze weder die Kunst des aus Kanons aller Art und mehrfachem Kontrapunkt von Kontrasubjekten behandelt
Kontrapunkts, noch überschätze ich andere Techniken. Betrachtet man diese Unter- werden. Andererseits gibt es viele Fugen, in denen sich nichts Derartiges beobachten
schiede des Stils nicht als solche der Techniken, sondern der Ausdruclisweise, wird läßt und die einer höchst oberflächlichen Vorstellung von mehreren sich gegenseitig
man auch den Eigenheiten anderer Darstellungsweisen gerecht. Wagners harmoni- fliehenden Themeneinsätzen zu entsprechen scheinen. Solche Beispiele sind im
sches Gleichgewicht in einem Stil, der zu seiner Zeit noch als modulatoriscl~ ersten Band unter anderem NY.111, VVI, IX, X, XVII.
anerkannt war, die Bildkraft seiner Instrumentierung, die emotionale Qualität seiner Es fällt schwer zu glauben, daß hier nicht die gleiche hohe Kunst vertreten sein
Melodien - Brahms' strukturelle Feinheiten, der Reichtum seiner Fundamenthar- sollte, die wir in den Stücken wahrnehmen, in denen sie ganz augenfällig ist. Ich
rnonik, die Schönheit seiner Melodien, Beethovens Logik, Originalität der Erfin- glaube eher, daß es ein verborgenes Geheimnis gibt, das bisher noch nicht entdeckt
dung, seine impulsive Persönlichkeit, der Reichtum seiner Richtungen - Schuberts worden ist. Ich habe häufig versucht, ein Prinzip darin zu entdecken, aber verge-
Fähigkeit, recht einfache strukturelle Mittel zu benutzen und dabei trotzdem bens. Dennoch spüre ich immer, daß etwas vorgeht, was meine Aufmerksamkeit
Volkstümliches in seinen Melodien zu veredeln, Mozarts einzigartiges Vermögen, fesselt. Was ist das?
heterogene Elemente auf engstem Raum zu verknüpfen - all dies sind Vorzüge, die Ich möchte vorschlagen, daß begabte und erfahrene Musiker versuchen sollten,
genausoviel Lob verdienen wie diejenigen der kontrapunktischen Errungcnschaften. dieses Problem zu lösen. Ich selbst nehme an, daß der Ursprung eines dieser
U n d obwohl man mir glauben darf, daß ich der letzte bin, der die Vorzüge Prinzipe in dem mehrfachen Kontrapunkt der Sekunde, Terz, Quart, Sext und
ltontrapunktischer Schreibweise herabsetzen will, muß man auch bedenlien, daß Septime zu entdecken wäre (NY. V, Bd. I, vergleiche die Talrte 9-10 mit 18-19). O b
Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, den Meriten eines wirklichen Meisters nun eine solche Behandlung einem ganzen 'Illeina oder nur einem Teil davon oder
keinen Abbruch tun konnten. Für den wirklichen Meister gibt es keine Schwierig- sogar nur seinen Ilaupttönen oder einem Kontrasubjekt oder dem Material einer
lieit, und was ein Laie oder Musiker so nennt, ist für ihn keine: er spricht seine Episode widerfahrt: sie könnte die Themen, Konfigurationen, Kombinationen und
Muttersprache. Für den einen ist das Kontrapunlit, für den anderen Orchesterfarbe Varianten hervorbringen, die nötig sind, um all die Gegensätze, die Vielfalt und den
und reiche Harmonilt oder Logilt oder Schönheit und so fort. Fluß kines Stückes zu bewirken. Eine Untersuchung dieser Probleme sollte eher
Ich habe das Glück, einige Tatsachen erfahren zu haben, die mir ein Freund unter dein Gesichtspunkt der Kompositionstechnilt als der Ästhetik stattfinden.
berichtet hat. Er war ein Kon~ponist,der an seine Inspiration glaubte, o b sie ihm Dementsprechend könnte es eine Hilfe bedeuten, wenn ich hiermit meine eigene
nun Musik diktierte, die mit Theorie und Asthetilt im Einlilang stand oder nicht. Br Theorie vom Wesen der Irontrapunlitischen Koinposition anbiete.'
erzählte mir, er habe in einer Anzahl von Fällen zuerst nur die Melodie eines Musik im homophon-melodischen Kompositionsstil, das heißt: Musik mit einen1
ziemlich langen Abschnitts geschrieben. Danach pflegte er auf einem zweiten Hauptthema, das von Harmonien begleitet wird und sich auf sie stützt, bringt ihr
System eine Begleitstimme hinzuzufügen, ohne auch nur einen Blick auf das erste Material durch, wie ich es nenne, entwickelnde Variation hervor. Das bedeutet:
System zu werfen; nach dem gleichen Verfahren setzte er allmählich so viele Variation der charakteristischen Züge einer Grundeinheit erzeugt all die themati-
Stimmen hinzu wie für die Vollständigkeit des Satzes nötig waren. Das Resultat war schen Gebilde, die für den Fluß, die Kontraste, die Vielfalt, die Logik und die
erstaunlich: niemand entdeckte je, daß das Ganze auf so unübliche Weise, unter so Einheit einerseits und für den Charakter, die Stimmung, den Ausdruck und jegliche
außergewöhnlichen Umständen entstanden war. notwendige Differenzierung andererseits sorgen und so den Gedanken eines Stüli-
E r fürchtete, die Leute würden glauben, was er geschrieben habe, sei reiner ltes ausarbeiten.
Unsinn oder die ganze Geschichte sei nicht wahr. Er versicherte tnir, einige dieser In1 Gegensatz dazu schafft sich die kontrapunktische Kompositionsweise ihr
Fälle seien mindestens ebensogut, wenn nicht besser als andere, und er müsse in Material nicht durch Entwicltlung, sondern durch ein Verfahren, das eher als
einer Art Entrückung gewesen sein. Er hatte das Gefühl, als habe er nur von einem Abwicklung zu bezeichnen ist. Das heißt: eine Gnindfiguration oder Grundltombi-
Modell, das er vor sich sah - oder hörte - abgeschrieben.
I Ich bin nicht sicher, ob all dies nicht schon von kundigen Theoretilcern beschrieben
N u r dies, scheint mir, vermag Wunder wie die der Kunst der Fuge und alle worden ist. Aber, wie ich schon in meiner Harinonielel~regesagt habe: >>Ich habe all dies nicht
ähnlichen Wunder, die große Meister vollbracht haben, zu erklären. Dies sind durch Lesen, sondern durch Nachdenken gelernt: daher ist es mein Eigentum.« Es scheint mir
Wunder, die kein menschliches I-Iirn hervorbringen ltann. Der Künstler ist nur das jedoch, daß die heutige rnusilcalische Ausbildung aus der Tradition der großen Reihe der
Sprachrohr einer Macht, die diktiert, was er tun tnuß. Wiener Lehrer und Theoretiker, der Porpora, Fux, Albrechtsberger, Sechter, Bruckner und
Schenker, nicht immer Nutzen zieht. Anscheinend haben nur Musiker davon pofitiert, die
Da Bach in dieser Sprache geboren war, übersetzte er den Willen dieser Macht in
fünf oder sechs Jahre jünger oder älter waren als ich. Viele von ihnen sind tot, seltsamerweise
menschlichen Kontrapunkt. war keiner von ihnen ein fortgeschrittener Komponist.
452 Aufsätze zzrr Mmik

nation, die auseinandergenommen und in anderer Anordnung wieder zusammenge- I


rogramm-Anmerkungen zu Verklarte
setzt wird, enthält alles, was später anders klingende Gebilde als das ursprüngliche
liefert. So kann ein Kanon zu zwei oder mehr Stimmen auf einem einzigen System
geschrieben werden und liefert doch vielfältige Klänge. Wenn mehrfacher Kontra-
punkt verwendet wird, bietet die Kombination von drei Stimmen, die in die Oktave, I
die Dezime und die Duodezime umkehrbar sind, so viele Kombinationen, daß selbst
längere Stücke daraus entstehen können.'"

Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren Detlev von Liliencron, Hugo von
Hofmannsthal und Richard Dehmel die vordersten Vertreter des »Zeitgeistes« in
der Lyrik. In der Musik hingegen folgten nach dem Tod von Brahms viele junge
Komponisten dem Vorbild von Richard Strauss und komponierten Programmusik.
Gemäß dieser Theorie sollte man nicht erwarten, daß in solchen Fugen neue Dies erklärt den Ursprung der Verkliirten Nacht: es ist Programmiisili, die das
Themen auftreten, sondern daß es auch hier eine Grundliombination als Quelle aller Gedicht von Richard Dehmel schildert und zum Ausdruck bringt.
anderen Kombinationen gibt. Meine Komposition unterschied sich vielleicht etwas von anderen illustrativen
Ich kann nicht glauben, was die meisten Musilier glauben: daß der Autor der Kompositionen erstens, indem sie nicht für Orchester, sondern für Kammerbeset-
K~tnstdeu fitge hier nur Klavierstücke gegeben hat, die lediglich auf den äußerlichen zung ist, und zweitens, weil sie nicht irgendeine Handlung oder ein Drama
und oberflächlichen Charaliteristil<a aufeinatlderfolgender 'Themeneinsätze beru- schildert, sondern sich darauf beschränlit, die Natur zu zeichnen und menschliclle
hen. Zumindest würde er sie nicht Fugen genannt haben, sondern vielleicht Suiten, Gefühle auszudrücken. Es scheint, daß meine Komposition aufgrund dieser Hal-
Inventionen, Partiten etc. tung Qualitäten gewonnen hat, die auch befriedigen, wenn man nicht weiß, was sie
schildert, oder, mit anderen Worten, sie bietet die Möglichkeit, als »reines Musili
geschätzt zu werden. Daher vermag sie einen vielleicht das Gedicht vergessen zu
lassen, das mancher heutzutage als ziemlich abstoßend bezeichnen könnte.
Dessenungeachtet verdient vieles von dem Gedicht Anerkennung wegen seiner in
höchstem Maße poetischen Darstellung der Gefühlsregungen, die durch die Schön.-
heit der Natur hervorgerufen werden, und wegen seiner bemerlcenswerten morali-
schen Haltung bei der Behandlung eines erschütternd schwierigen Problems.
Bei einem Spaziergang in einem Park
Beispiel r

I I I I I I

in einer klaren, kalten Mondnachi-


Beispiel 2

'I Ich habe irn ersten Satz ineiner Suite (in1 alten Stil) fiir Streichorchester, die ich als

~Lxhrstückafür meine Kornpositionsschüler geplant hatte, von derartigen Möglichkeiteii


Gebrauch gemach^, natürlich unter Auslassung solcher Kombinationen, die nicht interessan~
genug sind.

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