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Literarhistoriker untar heriun tuem

Ernst S. Dick zum sechzigsten Geburtstag

Die Mediävistik hat eine natürliche Neigung zu einem gewissen Positivismus, und das
ist ihr nicht schlecht bekommen. Nicht, daß sie dadurch gegen alle ideologischen Ver-
einnahmungen gefeit gewesen wäre, aber sie hatte immer einen sachlich legitimierten
Bezirk, in dem solide Philologie gefordert war und wohin man sich zu nutzbringender
Kleinarbeit zurückziehen konnte, um modisches Geschrei zu überdauern. Sowenig
man auch nur im geringsten von dieser Basis abrücken darf, sosehr sollte man jedoch
stets ihre Vorläufigkeit bedenken. Der wissenschaftliche Positivismus bringt eine
Kurzsichtigkeit mit sich, die, wenn man sie nicht bewußt auf sich nimmt, um sie
schließlich zu überwinden, elementaren Schaden anrichtet. Will man polemisch sein,
so kann man den Positivismus geradezu von dieser Kurzsichtigkeit her definieren; so
Jürgen Habermas, der gesagt hat: Positivismus, das sei nichts anderes als die Verleug-
nung der Reflexion.1 Er meinte damit, daß eine wissenschaftliche Haltung, die sich
allein der sogenannten Logik der Fakten anvertraut, es versäumt, die Prämissen des
eigenen Fragens der Reflexion zu unterwerfen, und dies nicht etwa aus mangelnder
Einsicht, sondern als bewußtes Programm. Und es geht bei der Positivismusdiskussion
um dieses Programmatische, und nur dagegen ist Front zu machen. Das aber heißt für
die historischen Wissenschaften, daß man, so unabdingbar die positive Bereitstellung
und Bearbeitung der Daten sein muß, ebenso unabdingbar von dieser vorbereitenden
Phase aus zur Reflexion ihrer Prämissen weiterzugehen und sie damit zu übersteigen
hat. Nur dieser Reflexionsakt öffnet den Weg zu einem hermeneutischen Verfahren,
durch das historische Erkenntnis erst sinnvoll werden kann.
Man mag meinen, das seien Selbstverständlichkeiten und es sei unnötig, sie hier
einmal mehr auszubreiten. Insbesondere der neueren Mediävistik könne man kaum
vorwerfen, daß sie es versäumt habe, in die Reflexion ihrer Bedingungen einzutreten,
ja der große Aufschwung, den sie in den letzten drei Jahrzehnten genommen habe,
beruhe vor allem auf einem hohen theoretischen Bewußtsein, und dies gerade bei
gleichzeitigen höchst eindrucksvollen positiven Leistungen in der Aufarbeitung un-
erschlossener Materialien und in der Präsentation der Daten, wie sich dies etwa bei-
spielhaft im neuen Verfasserlexikon niederschlägt.
Trotzdem erscheint es immer wieder notwendig, darauf zu dringen, daß in jedem
Bezirk, auch noch in seinen allerletzten Winkeln, nicht davor haltgemacht wird, un-
nachgiebig nach den jeweiligen Prämissen des Fragens zu fragen. Ein Gebiet, auf dem
diese Forderung besonderen Schwierigkeiten begegnet, scheint der Bereich der ger-
manisch-deutschen Heldensage zu sein. Hier gibt es noch immer wissenschaftstheore-
tische Fronten, zwischen denen eine Versöhnung offenbar auf Widerstände stößt, de-

' HABERMAS 1968, S. 9: „Daß wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus.

91
ren Ursachen nicht ohne Mühe aufzudecken sind. Es mag an den spezifischen For-
schungsbedingungen und den hier in besonderer Weise eingefahrenen Methoden hän-
gen, daß auch Wissenschaftler, deren Arbeiten sich grundsätzlich auf einem sehr ho-
hen Reflexionsniveau bewegen, gerade auf diesem Gebiet eine gewisse positive
Hemmschwelle nur schwer zu überschreiten bereit sind. Um so eher aber lohnt es sich,
hier in das Gespräch einzutreten, denn es geht ja nicht darum, Billiges zu verwerfen,
sondern sich einem strengen Ernst zu stellen.
Ich wähle als Demonstrationsobjekt das Hildebrandslied. Die positiven wissen-
schaftlichen Aufgaben ergeben sich hier mit Selbstverständlichkeit aus der Art und
Weise, in der der Text auf uns gekommen ist. Da Lücken zu vermuten sind und der
Schluß nicht erhalten ist, sieht sich der Philologe als erstes zur Rekonstruktion des
ursprünglichen Wortlauts - was immer das heißen mag - aufgefordert. Und diese Ar-
beit prägte denn auch die Forschung zu diesem singulären Denkmal seit ihren Anfän-
gen. Die Bemühungen, im überlieferten Text Lücken ausfindig zu machen und sie
mehr oder weniger einfallsreich zu füllen, gehen ins Uferlose. Glücklicherweise hat
hier in jüngster Zeit eine Ernüchterung Platz gegriffen. Man hat erkannt, wie unver-
bindlich-müßig die Lückenfüllerei ist, denn um sie zu rechtfertigen, müßte man wis-
sen, welchen - vor allen Dingen formalen - Ansprüchen das Lied bei seiner Entste-
hung zu genügen hatte. Aber da wir nicht mit Sicherheit sagen können, wann und wo
es entstanden ist, und wir, selbst wenn dies möglich wäre, nur Mutmaßungen über die
poetischen Regeln, die dann und dort in Geltung waren, anstellen könnten, sollte
dieses Kapitel der Hildebrandsliedforschung endgültig abgeschlossen sein. So gut wie
alles, was sie erbracht hat, ist als Makulatur zu betrachten. Ist man sich aber darüber
einig, daß man, so weit es sinnvoll möglich ist, den Text so nehmen sollte, wie er sich
uns darbietet, so bleiben - abgesehen von den dann immer noch zahlreichen Detail-
problemen - zwei übergreifende positive Aufgaben. Zum einen geht es um die Frage,
wie man sich den verlorenen Schluß zu denken hat, zum andern, wie sich das Lied in
den Zusammenhang der Sage von Dietrichs Flucht und Heimkehr stellt. Auch diese
Fragen haben die Hildebrandsliedforschung von Anfang an beschäftigt; sie sind immer
wieder neu gestellt, aber immer wieder anders beantwortet worden; ein Konsens hat
sich nicht ergeben.
Beide Fragen sind jüngst in dem Sammelband >Althochdeutsch< in souveräner
Kenntnis der Sachlage nocheinmal durchdiskutiert worden; die erste von Ernst A.
Ebbinghaus, die zweite von Joachim Heinzle.2 Ich beziehe mich im folgenden kritisch
referierend auf diese beiden Beiträge, ohne jeweils die gesamte Forschungsvorge-
schichte erneut aufzurollen - man findet sie dort.
Erste Frage: das Ende des Liedes. Ebbinghaus' Argumentationsbasis läßt an kla-
rer Logik nichts zu wünschen übrig. Er sagt: Wenn zwei Krieger miteinander kämpfen,
so sind theoretisch vier Ergebnisse möglich: 1. die Kämpfenden können sich versöh-
nen, 2. sie können sich gegenseitig tödlich verwunden und also beide umkommen, 3. A
kann B töten oder 4. B kann A töten. Es gibt natürlich noch gewisse Varianten: Sieg mit
Gefangennahme, Eingriff dritter Personen usw., aber am Ende wird man es immer mit
den vier Grundlösungen des Konfliktes zu tun haben.

2
EBBINGHAUS 1987, HEINZLE 1987.

92
Für den Ausgang des Vater-Sohn-Kampfes im Hildebrandslied sind im Laufe der
Forschungsgeschichte alle vier Lösungen in Betracht gezogen und mehr oder weniger
überzeugend begründet worden. Im allgemeinen wird jedoch angenommen, daß der
Vater den Sohn tötet. Die Argumentation lief auf drei Ebenen, ohne daß man sie aber
immer sauber auseinandergehalten hätte: 1. Man kann nachprüfen, ob es anderweitig
direkte oder indirekte Zeugnisse zum Hildebrandsstoff gibt, die etwas über das Ende
des Kampfes aussagen. 2. Man kann dem allgemeinen Thema des Vater-Sohn-Kampfes
und seiner Typen in der Erwartung nachgehen, daß jener Typus, dem das Hildebrands-
lied zuzuordnen ist, einen ganz bestimmten Schluß fordert. 3. Man kann von der
Konzeption des Liedes, soweit sie aus dem Fragment ersichtlich wird, oder wenigstens
von seiner Handlungslogik, seinem dramatischen Gefälle, ja von seinem Ton ausgehen
und ein bestimmtes Ende aus der inneren Stringenz plausibel zu machen versuchen.
Ebbinghaus hat alle drei Argumentationswege beschritten, sie freilich etwas verwir-
rend miteinander verflochten. Wenn man sie auseinanderlegt, finden die drei Fragen
bei ihm folgende Antworten:
Ad 1: Die einzige weitere deutsche Behandlung der Hildebrandssage liegt im Jün-
geren Hildebrandslied vor. Aber sein versöhnlich-burlesker Schluß wird allgemein als
sekundäre Änderung angesehen. Für das Ältere Hildebrandslied sei von daher also
nichts zu gewinnen. 3 Nun taucht der Name Hildebrand auch in nordischer Überlie-
ferung auf, aber da, wo überhaupt von einem tragischen Kampf mit dem Sohn die
Rede ist, seien, so sagt Ebbinghaus, die Umstände so dunkel, daß man ihnen nichts
entnehmen könne, was Licht auf den Schluß des Hildebrandsliedes zu werfen ver-
möchte. Er leugnet zwar nicht, daß es Zusammenhänge gibt, aber er sieht sich nicht in
der Lage, sie an dieser Stelle zureichend zu erörtern. 4
Ad 2: Der Vater-Sohn-Kampf ist eine Wanderfabel. 5 Es gibt eine Gruppe von ent-
sprechenden Sagen, die mit dem Hildebrandslied so nahe übereinstimmen, daß ein
historisch-geographischer Zusammenhang angenommen werden muß. Es handelt sich
um die persische Sage von Rustam und Sohrab, um die irische Sage vom Kampf Cu-
Chulainns mit seinem Sohn und um die russische Bylinen von Ilja Murometz. In allen
drei Fällen hat der Vater in der Ferne mit einer fremden Frau einen Sohn gezeugt.
Herangewachsen macht dieser sich auf, um den Vater zu suchen; er trifft schließlich
mit ihm zusammen; die beiden verwickeln sich, ohne sich zu erkennen, in einen
Kampf, in dessen Verlauf der Vater seinen Sohn tötet. Das Hildebrandslied dreht diese
Situation um. Hier ist es der Vater, der aus der Ferne kommt. Es stellt sich also die
Frage, ob dabei am Tod des Sohnes festgehalten worden ist oder ob der Dichter sich an
der neuen Situation orientierte, das heißt, daß auch hier derjenige, der seine Heimat

'EBBINGHAUS 1987, S. 673.


4
Ebd., S. 674.
5
Ich trage keine Bedenken, damit der Auffassung von VAN DER LEE 1957 zu folgen. Vgl. dem-
gegenüber ROSENFELD 1952/1987 und DE VRIES 1953/1961. Hellmut Rosenfeld und Jan de
Vries lehnen die These, daß es sich um eine Wanderfabel handelt, ab und nehmen stattdessen
indogermanisches Erbgut an. Zu den Vorläufern van der Lees (Andreas Heusler, Hermann
Schneider, Georg Baesecke) vgl. Jan DE VRIES 1953/1961, S. 249. Die Vorbehalte von Rosenfeld
und de Vries gegenüber der Wanderungsthese wird niemand teilen können, der sich etwas
eingehender mit dem vorliterarischen Austausch von Motivkomplexen befaßt und festgestellt
hat, daß immer wieder mit der Weitergabe von Erzählstoffen über große Distanzen hinweg
gerechnet werden muß.

93
verteidigt, den fremden Eindringling tötet. Im letzteren Fall müßte der Sohn den Vater
erschlagen haben. Die verwandten Sagen jedenfalls lassen eine solche Lösung, für die
Ebbinghaus dann weitere Gründe ins Feld führt, durchaus zu.6
Was demgegenüber die dritte Möglichkeit - gegenseitige Tötung oder Tod des einen
und Selbstmord des Siegers - betrifft, so ist sie sagengeschichtlich nicht zu belegen,7
und ebensowenig läßt sich von daher die These eines versöhnlichen Schlusses stützen:
der Typus verlange - so sagt Ebbinghaus dezidiert - einen tragischen Schluß8. Doch
damit bewegt man sich im Grunde schon auf der dritten Argumentationsebene, denn
es stellt sich nun die Frage, nach welcher inneren Gesetzlichkeit und in welcher Rich-
tung das Geschehen sein tragisches Ziel erreicht.
Somit denn ad 3: Zwei Gesichtspunkte haben in der Forschung eine Rolle gespielt.
Zum einen hat man gefragt, welcher der beiden Kontrahenten eher den Tod verdiene,
das heißt, wo die eigentliche Schuld liege, und zum andern ist überlegt worden, welche
Lösung dem tragischen Bewußtsein des heroischen Liedes am ehesten entsprechen
könnte. Beide Fragen sind kontrovers beantwortet worden. Wenn Ebbinghaus sich ge-
gen die Mehrheit der Interpreten für ein Ende entscheidet, bei dem Hadubrand seinen
Vater erschlägt, so führt er dafür zwei Gründe an. Der erste: das Motiv der unwissent-
lichen Tötung sei ein wesentliches Moment der Sage vom Vater-Sohn-Kampf. Im
Hildebrandslied aber wisse der Vater, wen er vor sich habe. Die tragische Enthüllung
der ungeheuren Tat sei nur möglich, wenn Hadubrand siege.9 Der zweite Grund: der
Text selbst enthalte einen indirekten Hinweis auf einen Ausgang in dieser Richtung,
denn schon die Verse 46ff. böten eine Klage Hildebrands. Eine weitere Klage des Vaters
an der Leiche des Sohnes am Schluß des Gedichts sei deshalb undenkbar. Anders
gesagt: die Klage des Vaters an der betreffenden Stelle mache nur einen Sinn, wenn das
letzte Wort Hadubrand gehöre, der schließlich erkenne, was er getan habe.10
Gegenüber dieser Lösung würde eine gegenseitige Tötung sehr viel weniger Raum
für ein tragisches Bewußtsein bieten. Die Möglichkeit schließlich, daß der Sieger sich
hinterher selbst getötet haben könnte, sei kaum plausibel zu machen. Ist Hildebrand
der Sieger, so hätte er jedenfalls wenig Grund, sich umzubringen.11
Überprüft man diese Argumentation auf der Basis der Logik, mit der sie operiert, so
läßt sich folgendes einwenden:
Ad 1: Sowohl das Zeugnis des Jüngeren Hildebrandsliedes wie die Hinweise in der
nordischen Literatur werden von Ebbinghaus allzu schnellfertig beiseite geschoben.
Auch wenn das Jüngere Hildebrandslied nicht tragisch endet, so belegt es immerhin
eine Version, nach der der Vater den Sohn zwar nicht tötet, aber doch besiegt. In der
Äsmundar saga kappabana wird berichtet, daß auf dem Schild Hildebrands die Män-
ner abgebildet gewesen seien, die er getötet habe. Der letzte darunter ist sein eigener
Sohn: Liggrpar inn sväsisonr at höfdi}1 Das ist eine zwar knappe, aber klare Aussage.
Nicht erwähnt hat Ebbinghaus schließlich, daß es auch im Süden einen Hinweis auf

6
EBBINGHAUS 1987, S. 672f., im Anschluß an GREIN 1858.
7
Zu den Vertretern dieser Auffassung: EBBINGHAUS 1987, S. 672.
8
Ebd., S. 673: „no Student of heroic poetry will consider the conciliatory ending possible."
' Ebd., S. 675.
10
Ebd.
" Ebd., S. 673.
I2
JÖNSSON 1950 I, S. 406.

94
den Tod des Sohnes gibt. Der Marner spricht im 13. Jahrhundert von des jungen
Albrandes tdt.
All dies sind Zeugnisse dafür oder zumindest Hinweise darauf, daß es eine tragische
Variante gegeben hat, in der der Vater den Sohn erschlug. Für den Tod des Vaters durch
die Hand des Sohnes gibt es hingegen kein einziges externes Indiz. Trotzdem beweist
all dies noch nicht, daß es im Hildebrandslied nicht doch so gewesen sein könnte.
Warum sollte es neben einer versöhnlichen Variante nicht zwei unterschiedliche tra-
gische Fassungen gegeben haben?
Ad 2: Die Verwandten des Vater-Sohn-Kampfes aus Persien, Irland und Rußland
enden durchwegs mit dem Tod des Sohnes. Das ist nicht ohne Gewicht. Doch Ebbing-
haus hält dem zu Recht entgegen, daß die Änderung der Personenkonstellation auch
zu einem andern Ende geführt haben könnte. Die Varianten sagen somit weder in der
einen noch in der andern Richtung etwas über die Lösung aus, die der Dichter des
Hildebrandsliedes geboten hat. Auch auf der Argumentationsebene des Sagenver-
gleichs ist also eine sichere Entscheidung nicht möglich.
Ad 3: Wenn aber die Varianten nicht beweiskräftig sind, dann vermögen sie auch
kein Argument dafür zu liefern, daß nur derjenige der Töter sein könne, der bei der
Tat nicht wisse, wen er vor sich habe. Wenn man trotzdem mit diesem Argument
operieren wollte, müßte man klar sagen können, was für ein Konzept von Tragik dem
heroischen Lied germanisch-deutscher Tradition zugrunde lag. Zwar wird in der For-
schung immer wieder mit einem solchen Konzept operiert, aber was wissen wir tat-
sächlich über das tragische Bewußtsein, das in der heroischen Poesie der Völker-
wanderungszeit lebte und über seine möglichen Wandlungen im Laufe der folgenden
Jahrhunderte?
So bleibt das Argument, daß unser Text schon die Klage Hildebrands enthalte und
daß man sich eine Wiederholung am Ende schwerlich denken könne. Doch wer wollte
behaupten, daß die Einfallskraft eines Dichters immer nur so weit ginge wie diejenige
seines Interpreten? Warum könnte am Ende nicht z. B. eine stumme Geste des Vaters
gestanden haben - um nur eine von vielen denkbaren Möglichkeiten zu nennen?
Wenn man also auf jener Basis, die Ebbinghaus vorgegeben hat, die Argumenta-
tionsmöglichkeiten in Hinblick auf den Schluß des Hildebrandsliedes stringent durch-
denkt, so ergibt sich, daß mit den Mitteln der Textanalyse, des Sagen- und Typenver-
gleichs wie auch aufgrund direkter oder indirekter stofflicher Hinweise nichts Sicheres
darüber auszusagen ist, wie das Ende des Hildebrandsliedes ausgesehen hat. Ohne dies
aber zu wissen, ist es kaum möglich, das Lied auch nur einigermaßen zureichend zu
analysieren und zu verstehen.
Es erscheint nun nicht undenkbar, daß man aus dem Sagenzusammenhang, in dem
das Hildebrandslied steht, aus dem Zusammenhang der Dietrichsage also, Aufschlüsse
gewinnen könnte, die eine Lösung erlauben und damit eine Interpretation des Liedes
möglich machen. Ich komme damit zur zweiten Frage: Hildebrandslied und Dietrich-
sage.
Man hat bislang meist angenommen, daß das Hildebrandslied eine Art Sproßfabel
der Dietrichsage darstelle. Konkret vorgegeben war die Heimkehr Dietrichs aus dem

13
Zu Alebrant als mhd. Namensform für Hadubrand vgl. GILLESPIE 1973, S. 4. - Der Hinweis auf
den Marner, ebd., S. 57 Anm. 1.

95
hunnischen Exil. Man hat offensichtlich die Wanderfabel vom Vater-Sohn-Kampf
aufgegriffen und so abgewandelt, daß sie in die Exilsituation paßte, d. h., der Heim-
kehrer war nun nicht wie in den Varianten aus Persien, Irland und Rußland der Sohn,
sondern der Vater. Die Umstände dachte man sich konkret so, daß die beiden Kämpfer
im Zusammenhang von Dietrichs Heimkehr aufeinandertreffen. Der Kampf spielt
sich untar heriun tuem ab, zwischen dem Heer Dietrichs und dem Heer seines Gegners.
Es liegt nahe, sich eine Situation vorzustellen, wie sie uns im Epos von >Dietrichs
Flucht< und der >Rabenschlacht< überliefert ist. Heinzle hat die Daten zu diesem Zu-
sammenhang nocheinmal kritisch überprüft und festgehalten, was das Hildebrandslied
an stichhaltigen Informationen hergibt14: Hildebrand ist, vertrieben von Otacher, mit
Dietrich ins Exil gezogen - eine Aussage, an der er zu Recht gegenüber Herbert Kolbs
abweichender These festhält.15
Ferner: Dietrich kehrt mit einem Heer - aller Wahrscheinlichkeit nach einem hun-
nischen - zurück, um sein angestammtes Land in einer kriegerischen Aktion wieder in
Besitz zu nehmen. Der Vater-Sohn-Kampf spielt zwischen dem Heer Dietrichs und
dem Heer des Usurpators Otacher. Der Sohn steht also auf der Seite jenes Mannes, vor
dem Hildebrand einst geflohen ist, wobei er seine Frau und sein Kind - den nun
herangewachsenen Hadubrand - zurücklassen mußte. Eine weitere Konkretisierung ist
aufgrund des Hildebrandsliedes nicht möglich, d. h., die Frage, unter welchen genaue-
ren Umständen Dietrich hier heimkehrt, bleibt offen. Haben wir es wirklich mit der
Situation der >Rabenschlacht< zu tun, also mit des Berners vergeblicher Heimkehr, wie
sie uns in der späteren Dietrichepik überliefert ist? Oder handelt es sich um Dietrichs
endgültige Heimkehr? Und müßte letzteres nicht konsequenterweise den Burgunden-
untergang am Hunnenhof voraussetzen, denn in der Dietrichsage kehrt der Berner ja
nach der Rabenschlacht wieder an den Hunnenhof zurück, und dort kann er dann
noch seine Rolle in der Nibelungentragödie spielen; erst hinterher folgt Dietrichs und
Hildebrands endgültige Heimkehr. Norbert Wagner hat dafür plädiert, daß man diesen
Zeitpunkt für das Hildebrandslied anzunehmen habe.16 Doch Heinzle kann Wagners
Argumente überzeugend widerlegen. Die angeblichen Hinweise im Text auf Vorgänge
beim Burgundenuntergang sind nicht stichhaltig, die entscheidende Stelle:
23 , des sid Detrihhe darbä gistuontun
fateres mines: dat uuas so friuntlaos man.'
ist nicht so zu verstehen, daß Dietrich alle seine Mannen (beim Burgundenuntergang)
verloren habe, sondern daß er Hildebrand nötig hatte als ein friuntlaos man, d. h. als
einer, der im Exil keine Verwandten und Freunde mehr besaß.17 Diese Deutung der
Stelle sollte ein für allemal (nach Rosemarie Lühr und gegen Elisabeth Karg-Gaster-
städt)18 festgehalten werden. Eine Rückkehrsituation nach dem Ende der Nibelungen-
tragödie hat also keine Anhaltspunkte im Text des Liedes. Heinzle überprüft darauf
auch die Möglichkeit einer Einbettung in den Rahmen der >Rabenschlacht<, und er
kommt zum Schluß, daß sich auch dafür nichts Spezifisches beibringen lasse. Man
14
HEINZLE 1987, S. 680f.
15
KOLB 1979. - Die Kritik von HEINZLE 1987, S. 677f. Anm. 5.
16
N.WAGNER 1980.
17
HEINZLE 1987, S. 681 ff.
18
KARG-GASTERSTÄDT 1945; LÜHR 1982 II, S. 521 ff.

96
dürfe zwar mit einiger Gewißheit annehmen, daß Dietrich mit einem hunnischen
Heer zurückkomme, doch dies sei die einzige Übereinstimmung mit der >Raben-
schlachK. Und er schließt: „Es ist keineswegs ausgemacht, daß die Rabenschlacht-
Fabel zur Zeit der Abfassung des Hildebrandsliedes bereits ausgebildet war, und selbst
wenn dies der Fall wäre, ginge es nicht an, in ihr den Rahmen der Rückeroberungs-
situation des Hildebrandsliedes zu sehen. Wenn wir nicht den Boden unter den Füßen
verlieren wollen, müssen wir den Text, so wie er ist, als Zeugnis der Sage ernst nehmen
- und das bedeutet: Wir müssen anerkennen, daß er eine Version von Dietrichs Heim-
kehr bezeugt, in der dieser sein Erbreich mit Heeresmacht zurückeroberte".19 Man
müßte dann freilich noch einen Schritt weitergehen: denn wenn dies am Ende von
Dietrichs Exil geschah und Dietrich, wie Heinzle argumentiert, nach dem großen Mor-
den an Etzels Hof kein hunnisches Heer mehr zur Verfügung gehabt hätte,20 wäre ein
Exil Dietrichs anzusetzen, das noch nicht mit der Burgundensage verbunden war. Es
ergäbe sich also eine Frühstufe der Sagenentwicklung, bei der es einfach um eine
Heimkehr Dietrichs aus dem Exil ging, und zwar ohne die tragischen Ereignisse des
Flucht-Rabenschlacht-Komplexes und ohne eine Verflechtung mit der Burgundentra-
gödie. Heinzle sagt dies nicht ausdrücklich, aber man kann eine solche Konsequenz
schwerlich vermeiden.
Es mag im übrigen sein, daß Heinzle bei seiner These von einer Frühstufe der
Dietrichsage auch durch die Figurenkonstellation des historischen Rahmens bestärkt
worden ist. Im Hildebrandslied wird ja Otacher als Gegner Dietrichs genannt, was den
geschichtlichen Tatsachen entspricht, während in der späteren Dietrichsage Ermana-
rich/Ermrich die Stelle des Usurpators einnimmt. Nach gängiger Meinung fassen wir
in der Personenkonstellation Dietrich - Otacher die älteste Schicht. Und Heinzle ver-
teidigt diese traditionelle Ansicht gegen Wagner, der Ermrich für den ursprünglichen
Sagengegner Dietrichs hält und die Figur Otachers als eine nachträgliche Angleichung
an die Geschichte versteht. Da Otacher, außer im Hildebrandslied, nirgendwo in der
Sagenüberlieferung als Gegner Dietrichs erscheint - nur die Quedlinburger Annalen
setzen ihn an die Stelle von Ermanarichs bösem Ratgeber Sibich -, mag man versucht
sein, Wagners These doch nicht so ohne weiteres abzuweisen. Es gibt ja bekanntlich
bislang keine zureichende Erklärung für die Merkwürdigkeit, daß der historische
Theoderich, siegreicher Eroberer Norditaliens, in der Sage zu einem Flüchtling wird,
dessen Versuche, sein Erbe vom Usurpator zurückzugewinnen, mehrfach scheitern.
Eine Erklärung dafür ließe sich nur in der Hypothese finden, daß Theoderich in ein
vorgegebenes heroisches Schema eingesetzt worden ist. Man könnte an ein Schema
denken, das Völkerschlachten als Kämpfe zwischen Verwandten, insbesondere zwi-
schen Halbbrüdern, einem echtbürtigen und einem Bastard, darstellte. Man findet dies
- vor dem Hintergrund der gotisch-hunnischen Auseinandersetzung - im Hun-
nenschlachtlied, auch in der >Brävallaschlacht<, ja noch in fernerliegenden Varianten.
Der Konflikt zwischen dem zu den Hunnen geflüchteten und mit Hunnen heimkeh-
renden Dietrich und seinem Onkel Ermrich könnte sich einem solchen Schema ver-
danken.21 Jedenfalls ist nicht ohne weiteres auszuschließen, daß Ermrich der ursprüng-

19
HEINZLE 1987, S. 681.
20
Ebd.
21
HAUG 1971 [a].

97
Bayerische
Staatsbibliothek
München
liehe Sagengegner Dietrichs war und Otacher eine sekundäre Korrektur mit Rücksicht
auf die historischen Fakten darstellt.
Und noch ein letztes Bedenken ist gegenüber Heinzles Position anzuführen. Wenn
die historische Dietrichsage ursprünglich nichts weiter berichtete, als daß Dietrich von
Otacher vertrieben worden sei, daß er an den Hunnenhof flüchtete, um nach 30 Jahren
mit einem hunnischen Heer heimzukehren und sein Erbland zurückzuerobern, so
fragt es sich, ob man damit wirklich einen heroischen Stoff vor sich hätte. Ein solcher
Vorgang ließe sich zwar sehr wohl als Erfindung eines Geschichtsschreibers denken,
der damit Theoderichs Einfall in Oberitalien legitimieren wollte; Vertreibung und
Rückkehr allein ergeben jedoch noch keinen brauchbaren Vorwurf für ein Heldenlied.
Daß wir es aber nicht einfach mit einer historiographischen Manipulation zu tun ha-
ben, sondern daß tatsächlich sagenhafte Überlieferung vorliegt, das beweist das Motiv
der Flucht zu den Hunnen, eine anachronistische Vorstellung, die sich ein Historiker
wohl kaum geleistet hätte. Wenn also eine Sage von Dietrichs Rückkehr im Hinter-
grund des Hildebrandsliedes steht, so muß diese auch etwas heroisch Erzählenswertes
berichtet haben, und was könnte dies anderes gewesen sein als eine Rückkehr mit
tragischer Implikation? So kann man sich denn der Folgerung nur schwer entziehen,
daß dem Hildebrandslied eine Sagensituation zugrunde liegt, wie sie uns in dem spä-
teren Flucht- und Rabenschlacht-Epos überliefert ist. Und damit würde man zugleich
eine Ratio für den Einbau der Wanderfabel vom Vater-Sohn-Kampf in den Rahmen
der Dietrichsage gewinnen. Es wäre in diesem Fall die Tragik der Dietrichheimkehr
gewesen, die die verwandte Thematik von der tragischen Heimkehr des Sohnes ange-
zogen und zugleich dazu geführt hätte, daß die Personenkonstellation passend zur
Exilsage umgedreht wurde.22 Wenn es aber so war, daß die thematische Parallelität
zwischen Dietrichheimkehr und Vater-Sohn-Kampf den Anstoß zur Verknüpfung ge-
geben hat, dann müssen einem erhöhte Zweifel in Hinblick auf Ebbinghaus' These
zum verlorenen Schluß kommen. Denn nur wenn der Vater den Sohn tötet, haben wir
auch hier, wie in der Dietrichsage, einen heimkehrenden Sieger, dessen Sieg sich als
erfolglos, ja als sinnlos erweist.
Wenn man also Heinzles Fragestellung nocheinmal bis in alle ihre Konsequenzen
hinein durchdenkt, kommt man auch in Hinblick auf die Überlegungen, die Ebbing-
haus zum Ende des Liedes angestellt hat, wenigstens einen kleinen Schritt weiter. Die
gewohnte Auffassung, daß der Vater den Sohn erschlägt, gewinnt wieder an Wahr-
scheinlichkeit.
22
Gegen diese Argumentation hat Heinzle in einem Gespräch eingewendet, daß die Erwähnung
des dreißigjährigen Exils im Hildebrandslied doch auf die endgültige Heimkehr Dietrichs
hinweise. Im übrigen sei eine solche definitive Heimkehr mit hunnischer Heeresmacht gut
bezeugt (Quedlinburger Annalen, Heldenbuchprosa). Es müsse also eine entsprechende Sage
gegeben haben, das heißt eine Heimkehrsage unabhängig vom Burgundenuntergang. Es ließe
sich diese Situation aber durchaus mit meiner These in Einklang bringen, daß der Einbau des
Vater-Sohn-Kampfes in den Rahmen der Dietrichsage nur vom Motiv der tragischen Heim-
kehr her verständlich zu machen sei. Dies in folgender Weise: Es wäre denkbar, daß man den
Kampf zwischen Hildebrand und Hadubrand in die endgültige und siegreiche Heimkehr einge-
baut hat, um auch ihr noch jene tragische Note zu geben, die für den >Flucht<->Ra-
benschlacht(-Komplex so charakteristisch ist: auch noch der letzte Sieg Dietrichs ist über-
schattet. Zugleich gewänne die definitive Heimkehr damit das erforderliche heroisch-erzäh-
lenswerte Moment. - Mir scheint diese Abwandlung meiner Thesen so überzeugend, daß ich
sie mir dankbar zu eigen mache.

98
Prinzipiell ergibt sich aus all dem, daß es nicht unnütz ist, in einem dezidiert posi-
tivistischen Verfahren die gegebenen Daten auf das hin zu überprüfen, was sie für die
offenen Fragen, hier: für die Frage nach dem fehlenden Schluß und die Frage nach
dem sagengeschichtlichen Zusammenhang, ergeben. Doch es bleiben Unsicherheiten,
weil wir mit allzu vielen Unbekannten rechnen müssen, und man gerät immer wieder
in Gefahr, daß man sich mit unreflektierten Prämissen einen Boden herrichtet, der
letztlich nicht trägt. Es ist also auch hier unabdingbar, die Perspektive zu wenden und
diese Prämissen mit in die Diskussion zu bringen. Worin sie bestehen, hat sich andeu-
tungsweise schon bei der Besprechung der Ebbinghaus'schen Argumente gezeigt. Der
entscheidende Punkt ist der, daß wir bei einem solchen Verfahren, wie es eben be-
schrieben und diskutiert worden ist, das Hildebrandslied als ein genuines germanisches
Heldenlied auffassen und die Fragen, die sich stellen, unter dem Blickwinkel dieses
Typus zu lösen versuchen, ohne die gravierenden Implikationen eines solchen Ansatzes
weiter zu reflektieren. Wendet man sich ihnen aber zu, so wird man als erstes sagen
müssen, daß wir so gut wie nichts von der heroischen Poesie der germanischen Völ-
kerwanderungszeit wissen. Es ist kein einziges Lied aus dieser Zeit erhalten geblieben,
und was wir indirekten Zeugnissen entnehmen können, ist nur, daß es den Typus
gegeben haben muß. Das wenige, was wir an direkten frühen Zeugnissen besitzen,
neben dem Hildebrandslied vor allem die Waldere-Bruchstücke und das >Finnsburg<-
Fragment, ist Jahrhunderte jünger, gar nicht zu reden von den eddischen Liedern, die
erst im 13. Jahrhundert niedergeschrieben worden sind, und von den großepischen
Umgestaltungen heroischer Stoffe, wie dem Nibelungenlied, den Dietrichepen usw.,
die jedenfalls den Typus, wie immer er ausgesehen haben mag, radikal verändert ha-
ben, oder gar von den noch späteren Ausläufern, die z. T dermaßen zerrüttet sind, daß
sie ohnehin mehr Rätsel aufgeben als lösen. Was uns durch all dies bezeugt wird, ist
aber immerhin eine lebendige mündliche Heldendichtung, die neben der um 1200
breit einsetzenden Verschriftlichung noch jahrhundertelang weiter existiert hat. Das
sollte uns aber zugleich ins Bewußtsein rufen, daß wir es hier mit einer Tradition zu
tun haben, die uns prinzipiell unzugänglich ist. Denn was uns die indirekten Zeugnisse
(Stoffreferate bei den Historikern) und die schriftliterarischen Überlieferungen bieten,
sind ja in keinem Fall die Lieder selbst. Denn die heroische Liedkunst lebt in der
mündlichen Improvisation, und so erlaubt uns das, was sich davon schriftlich nieder-
geschlagen hat, bestenfalls, die narrativen Schemata zu fassen, die die Grundlage für
die mündliche Gestaltung abgegeben haben dürften: das Schema des Vater-Sohn-
Kampfes, das Schema der verräterischen Einladung (Nibelungensage und anderweitig),
das Schema von Flucht und Verfolgungskampf (z. B. in der Walthersage, in der
Hildesage), usw.23
Die Feststellung, daß uns die Heldensage in ihrer lebendigen Mündlichkeit unzu-
gänglich ist, mag trivial klingen. Aber hat man diese Trivialität je einmal in all ihren
Konsequenzen ernst genommen? Die Konsequenzen für das Hildebrandslied z. B. sind
die, daß es nicht einfach als eine heroisch-mündliche Dichtung verstanden werden
darf, so, als ob die Improvisation eines Sängers niedergeschrieben worden wäre. An-
zunehmen, daß es im Frühmittelalter Sammler von Heldenliedern gegeben habe, ist
ein vollkommen anachronistischer Gedanke. Denn es besteht kein Grund, eine Dich-

23
Vgl. HAUG 1975 [a] [= Strukturen, S. 277-292] und 1981 [a] [= Strukturen, S. 308-325].

99
tung, die in mündlicher Tradition lebt, aufzuzeichnen, ja der Übergang zur Schriftlich-
keit gerät sogleich in Konflikt mit der Improvisationstechnik.24 Der Sänger kann nicht
problemlos zum schriftlichen Dichter werden. Und wenn es dennoch dazu kommt, daß
jemand ein Lied in eine schriftliche Form überführt, so verändert dies dessen Charak-
ter radikal. An die Stelle des vergänglich-einmaligen Wortlauts tritt der fixierte Text.
Und dieser Text ist nicht mehr eingebettet in die lebendige Tradition der betreffenden
Sagenüberlieferung und ihres thematischen Umkreises, sondern er existiert nun abge-
löst von der Vortragssituation. Und zugleich ist der Akt der Verschriftlichung getragen
von einer bestimmten Intention, über die das Thema mit einer spezifischen Akzentuie-
rung festgeschrieben wird. Beim mündlichen Vortrag bilden Stoff, Interpretation und
Verständnis eine unmittelbare Einheit. Der Sinn liegt in dem, was sich durch alle
improvisierenden Wiederholungen durchhält. Das schriftliche Erzeugnis ist demge-
genüber zugleich aus der Entstehungssituation abgelöst und konserviert, und das gilt
auch für seinen Sinn; es gibt kein unmittelbares Verständnis mehr, sondern es ist eine
individuelle interpretierende Rezeption erforderlich, die durch das Werk mit den Mit-
teln der schriftlichen Form vorbereitet, aber nicht absolut determiniert ist; es wird
vielmehr ein offener Verständnisprozeß angestoßen, der dem mündlichen Vortrag ge-
genüber völlig undenkbar wäre.
So gilt denn auch für das Hildebrandslied, daß es nicht mit einem Heldenlied im
ursprünglichen Sinne gleichgesetzt werden darf, daß hier vielmehr eine literarische
Stilisierung auf der Basis eines heroischen Stoffes vorliegt. Als solche tritt sie in we-
sentlich neue Zusammenhänge ein, in jene Zusammenhänge nämlich, die einem
schriftkundigen Publikum gegenwärtig waren. Und von daher bestimmt sich auch das
neue Interesse. Denn wer an Heldenliedern interessiert war, der ließ sie sich von Sän-
gern vortragen. Wer hingegen ein Heldenlied niederschrieb, der distanzierte sich damit
nicht nur von dieser Einbindung in die mündliche Tradition, sondern auch von dem,
was sie kulturell bedeutete, d. h., die Niederschrift ist nur als kritische Umformulie-
rung denkbar. Beim Hildebrandslied wäre etwa zu berücksichtigen, daß das Motiv der
Heimkehr auf eine christliche Metaphorik traf, die mit ihr einen höchsten Sinn ver-
band: die Heimkehr ins Paradies. Eine profane Heimkehr mit tragischen Implikatio-
nen mußte von daher als Exempel für eine Heimkehr ohne Sinn erscheinen.25
Gegen eine solche Auffassung läßt sich einwenden, daß das Hildebrandslied doch
unverkennbar mit Mitteln arbeite, die für die Darstellung eines genuin heroischen
Geschehens kennzeichnend seien, am auffälligsten und immer wieder hervorgehoben:
die dramatische Zuspitzung über einen sich steigernden Dialog. Zuletzt hat Ernst S.
Dick nachdrücklich diese Führung der Wechselrede mit ihren pathetischen und aggres-
siven Zügen herausgearbeitet. Er spricht von einem heroischen Sog, in den die beiden
Kontrahenten hineingerieten und der zu einer solchen Kampfwut hintreibe, daß es
keinen Ausweg mehr gebe.26 Diese Beobachtungen sind zweifellos treffend, doch kön-
nen die genannten Züge in der schriftlichen Fassung schwerlich mehr ungebrochen
heroisch sein, sie fungieren hier vielmehr als Zitat einer Mechanik, die den mündli-
chen Typus kennzeichnete. Das Sinnlos-Überzogene der Reizreden signalisiert diesen
Zitatcharakter.
24
Vgl. zum Grundsätzlichen: HAUG 1988 [c], S. 147ff. [in diesem Band, S. 3-16, hier S. 7ff.].
25
Vgl. HAUG 1984 [C], S. 8ff.
26
DICK 1984.

100
Man kann deshalb geradezu sagen, das Hildebrandslied sei ein antiheroisches Lied.
Dies wird unabweisbar, sobald man seine politische Pointe erkennt. Wir verdanken
diese Einsicht Hugo Kuhn, der als erster die entscheidenden Verse 46ff. in dieser Per-
spektive interpretiert hat.27 Hildebrand sagt hier zu seinem Sohn: „Du hast zu Hause
einen guten Herrn. Du mußtest nicht aus diesem Reich fliehen und in die Verbannung
gehen". Wenn Hildebrand dies feststellt, so ist ihm aufgegangen, weshalb Hadubrand
ihn verleugnet; er hat erkannt, daß er in ihm einen Kollaborateur vor sich hat, der,
weil er sich mit dem Feind arrangierte, nur einen toten Vater brauchen kann. Ein
lebender Vater würde seine gesellschaftliche und moralische Identität vernichten. Dar-
um darf Hadubrand auch keinen Gedanken an die Möglichkeit in sich aufkommen
lassen, daß der Fremde sein Vater sein könnte. Und da Hildebrand, spätestens in die-
sem Augenblick, die politische Sachlage klar durchschaut, bleibt ihm nichts, als sich
damit abzufinden: er hat seinen Sohn an den Erzfeind verloren, und es gibt nun keine
Chance mehr für eine friedliche Lösung. In dieser Ausweglosigkeit also erklärt sich
Hildebrand zum Kampf bereit, und deshalb schwenkt er auch in die traditionelle Reiz-
rede ein, d. h., beide spielen nun das übliche verbale Ritual der heroischen Steigerung
mit den gewohnten Effekten durch. Man weicht also ins Klischee aus, weil sich nichts
anderes mehr anbietet. Aber im Grunde ist die Heroik tot, denn der Kampf ist sinnlos
geworden. Wenn Hadubrand siegt, dann hat er sein Ziel, sich seine Position und das ihr
entsprechende Bewußtsein nicht in Frage stellen zu lassen, erreicht. Und er würde sich
sehr wohl hüten, den Vater, gesetzt den Fall, er würde ihn töten, im Nachhinein an-
zuerkennen, er würde, auch wenn Hildebrand ihm seine Identität sterbend noch be-
weisen könnte, die Augen politisch davor verschließen. Nur wer wie Ebbinghaus den
völlig veränderten Status des schriftlichen Liedes verkennt, kann im Falle von Ha-
dubrands Sieg noch mit heroisch-tragischen Vorstellungen operieren. Wenn Hilde-
brand siegt, und das ist auch unter den neuen Bedingungen das wahrscheinlichste, so
vernichtet er damit in seinem Sohn sich selbst, d. h., er löscht sein Geschlecht aus. Und
wie wird er unter die Augen seiner Frau treten können? Er geht, wie gesagt, in einen
Kampf, der von vornherein keinen Sinn mehr haben kann.
Aber genau darum ging es dem Autor der schriftlichen Fassung. Das Hildebrands-
lied ist ihm ein Beispiel für die Sinnlosigkeit der heroischen Poesie, die den Kampf
verherrlicht, hier einen Kampf, der durch die neue politische Pointierung radikal ent-
leert wird. Das Heroische hat seinen Glanz verloren, es erscheint als ein Ausweichen
ins Klischee, es wird diffamiert im Blick auf die nüchterne politische Realität.
Es ist offenkundig, daß diese Seite des Hildebrandsliedes einem Interpreten unzu-
gänglich bleiben muß, der es mit einem genuinen heroischen Lied verwechselt. Nur
wer den radikalen Bruch, zu dem die Verschriftlichung führt, berücksichtigt, vermag
zu begreifen, in welchem Maße sich dieses Werk von allem unterscheidet, was ger-
manisch-heroische Tradition gewesen sein mag, und deshalb gehen auch alle Überle-
gungen ins Leere, die darauf zielen, von der Frage nach dem Wesen heroischer Tragik
das Problem des Schlusses zu lösen.
Aber auch die Versuche, anhand des überlieferten Textes das Verhältnis des Liedes
zur Dietrichsage zu fassen, erscheinen in einem veränderten Licht. Es dürfte kaum
zufällig sein, daß das Hildebrandslied, bis auf unbestimmte Andeutungen, die Bezüge

Hugo KUHN 1969 [C],S. 132f.

101
zur Sage von Dietrichs Heimkehr unterschlägt. Wenn es richtig ist, daß es in seiner
mündlichen Form mit der Thematik der tragischen Heimkehr Dietrichs zusammen-
spielte, d. h. diese Thematik mit neuen Figuren variierte, so mußte dem Autor der
schriftlichen Neudeutung daran gelegen sein, diese Thematik zugunsten der politi-
schen Pointierung fernzuhalten; der sagengeschichtliche Zusammenhang wird unwich-
tig, ja, er wird störend. Deshalb bleibt er fast völlig ausgeblendet; und von daher
verstärkt sich nun auch die Vermutung, daß Otacher gegen die Sagentradition im Sinne
der neuen politischen Perspektive sekundär eingeführt worden ist.
Was hier über die uneingestandenen Prämissen in der Forschung zum Hildebrands-
lied zu sagen war, das wäre im Prinzip für die Forschung im Bereich der germanisch-
deutschen Heldensage insgesamt zu wiederholen. Ich habe 1975 einen Versuch ge-
macht, diese Prämissen generell aufzudecken, und zwar in Auseinandersetzung mit
jenem Erklärungsmodell, das maßgeblich für das gängige Bild von der Entstehung und
Entwicklung der Gattung verantwortlich ist: dem Heldensagenmodell Andreas Heus-
lers.28 Denn mit diesem Modell sind auch seine Vorentscheidungen weitgehend un-
reflektiert von der Forschung übernommen worden und haben die Interpretationen,
insofern sie entwicklungsgeschichtlich argumentierten, mitgeprägt. Man war sich zwar
zunehmend bewußt geworden, daß Heuslers Modell in verschiedener Hinsicht unzu-
reichend war, und so hatte man sich denn bemüht, es zu korrigieren, aber man hatte
das Entscheidende versäumt, nämlich, es von seinen Prinzipien her in Frage zu stellen.
Mein Vorstoß hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Zur grundsätzlichen Zu-
stimmung, etwa in Joseph Harris' >Eddic Poetry<,29 stellt sich eine kritische Replik von
Theodore M. Andersson.30 Sie versteht sich nicht als 'Reizrede', sondern als Auf-
forderung zum Dialog zwischen den Fronten.
Ich hatte es in der genannten Studie unternommen, Heuslers gattungsgeschichtli-
chen Entwurf von drei Vorentscheidungen her - ich meinte, geradezu von 'Axiomen'
sprechen zu dürfen - verständlich zu machen. Die erste besteht in der Annahme, daß
es sich bei der Entstehung der germanisch-deutschen Heldendichtung um einen Ab-
lösungsprozeß insbesondere von den historischen Fakten handelt, die dem Geschehen
zugrunde liegen. Dieser Prozeß läßt sich als Literarisierungsvorgang fassen, bei dem
das Konkret-Historische zugunsten allgemein menschlicher Konflikte zurückgelassen
wird. 2. Der dadurch entstehende literarische Typus 'Heldenlied' schließt sich gegen-
über andern dichterischen Gattungen ab. Das heißt: wenn man bei andern Gattungen,
beim Märchen, beim Mythos usw., Anleihen macht, so werden sie soweit wie möglich
dem heroischen Typus entsprechend umgeformt und integriert. 3. Die Geschlossenheit
des Typus hat zur Folge, daß die weitere Entwicklung nur aufgrund von dezidierten
individuellen Umstrukturierungen denkbar ist. Die Geschichte der einzelnen Stoffe ist
deshalb, soweit wir sie noch fassen können, als eine Folge von Neukonzeptionen zu
verstehen. Das Paradebeispiel ist Heuslers Darstellung der Geschichte der Nibelun-
gensage.
Andersson wendet sich nun gegen den axiomatischen Charakter der genannten drei
Prämissen. So weist er nach, daß Heusler keineswegs so dogmatisch verfährt, wie mei-

28
HAUG 1975 [a] [- Strukturen, S. 277-292].
29
HARRIS 1985, S. 90f.
30
ANDERSSON 1988 [b].

102
ne sog. Axiome dies insinuieren würden, vielmehr sei sein Umgang mit der helden-
epischen Dichtung nicht nur in praxi, sondern auch in theoretischer Hinsicht sehr viel
differenzierter und flexibler, als ich glauben machen wolle. Heusler habe keineswegs
übersehen, daß bei der Entstehung von Heldensagen neben historischen Ansätzen
auch fiktionale Elemente eine Rolle spielten. Er rechne zudem immer mit einer ge-
wissen Offenheit des Typus, mit Wechselbeziehungen zwischen den Gattungen und
Uminterpretationen entsprechend den sich wandelnden geschichtlichen Situationen.
Wenn man Heusler genau lese, so zeige sich, daß er weitgehend schon so offen-unvor-
eingenommen dem Material gegenüber sei, wie ich es fordere. Man könne Heusler nur
gerecht werden, wenn man die ganze Komplexität seines Verfahrens berücksichtige
und es nicht simplifiziere und theoretisch reduziere, um es dann um so leichter ver-
werfen zu können. In Anderssons eigenen Worten: „Haug has some success in pointing
out the danger of oversimplification in Heusler's arrangement of the data, but there is
also a danger of oversimplifying Heusler. Future attempts at revision should strive for
as broad and close an account of Heusler's work as possible . . . Any critic of Heusler
must confront the peculiar nature of his work. It is not primarily a theory erected on
particular concepts but a set of specialized and interlocking investigations that have
subsequently been construed as a theory in order to make them more easily compre-
hensible."31 Wenn dem so ist - und man wird dies schwerlich ganz von der Hand
weisen können -, mag man sich freilich darüber wundern, daß diese nachträgliche
Theorie sich dermaßen überzeugend dargestellt hat, daß sie auch heute noch vehe-
mente Verteidiger findet. Sie dürfte also sowohl allgemeinen wissenschaftlichen Vor-
urteilen entgegengekommen sein wie auch in Heuslers Verfahren doch eine nicht ge-
ringe Stütze gefunden haben. In dieser Korrespondenz vermute ich jedenfalls die Ur-
sache dafür, daß das Heuslersche Modell so widerstandsfähig ist, und ich würde des-
halb zögern, Andersson zuzustimmen, wenn er fortfährt: „it could also be argued that
Heusler's very largely monographic and pragmatic work is in the final analysis not
susceptible to theoretical criticism."32 Wenn damit jedoch gemeint sein sollte, daß viel
von dem, was Heusler erarbeitet hat, bleiben wird, auch wenn 'sein Modell' nicht
überzeugt, so würde auch ich dem nicht widersprechen wollen.
Anderssons Kritik läuft schließlich auf ein Angebot hinaus, das statt auf Opposition
auf ein versöhnendes Zusammenspiel zielt: „It seems to me that Haug's Heldensagen-
modell ist compatible with Heusler's, at least as I understand it. I am inclined to see it
in terms of continuity rather than of Opposition. That is not to value it less, rather
more, but to the extent that we replace Heusler with a new set of suppositions, these
suppositions must be clearly distinguishable from his. We must be careful to ask oursel-
ves in each case not only how our views differ from Heusler's but how they are anti-
cipated by or are inherent in his work."33 Kann man dieses Angebot akzeptieren?
Geben wir zu, daß Andersson recht hat, wenn er sagt, Heusler sei in erster Linie ein
pragmatischer Literarhistoriker gewesen, er habe selbst keine explizite Theorie zur
Entstehung und Entwicklung der germanisch-deutschen Heldensage vorgelegt und das
sog. Heuslersche Modell stelle eine Konstruktion seiner Kritiker dar. Aber auch wenn

31
Ebd., S. 138.
32
Ebd., S. 138f.
33
Ebd., S. 139.

103
man all dies konzediert und vernachlässigt, daß Heusler doch immer wieder - insbe-
sondere in >Nibelungensage und Nibelungenlied<34 - sehr stark schematisiert hat, so
bleibt doch ein großes Bedenken. Denn man kann, ja, man muß diese Feststellungen
aus der Gegenperspektive sehen, und dann erst kommt man auf den springenden
Punkt meiner Kritik: Gerade die Abstinenz von theoretischer Reflexion ist Heuslers
entscheidender Mangel. Darf man wirklich sagen, ein Werk, das einem monogra-
phisch-pragmatischen Verfahren verpflichtet sei, sei „in the final analysis not suscep-
tible to theoretical criticism"? Auch wer noch so voraussetzungslos an seinen Gegen-
stand heranzugehen meint, trifft implizit doch unumgänglich bestimmte theoretische
Vorentscheidungen. Und wer behauptet, keine Theorie zu haben, der arbeitet eben mit
theoretischen Prämissen, die ihm nicht bewußt sind, und sie werden dadurch nicht
unproblematischer und ungefährlicher, daß er, durch die Praxis gezwungen, sich ge-
genüber den impliziten Prinzipien gewisse Unscharfen erlaubt. Es gibt, wie ich anhand
der Forschung zum Hildebrandslied zu zeigen suchte, sicherlich eine positive Logik
der Fakten, aber es gibt auch immer jenen Punkt, an dem jedem, der unbeirrbar
weiterfragt, bewußt werden muß, daß diese Logik in einer Perspektive steht, der ge-
genüber sie selbst blind ist. Diese Perspektive ist für die Heldensagenforschung im
allgemeinen dieselbe wie für die spezielle Forschung zum Hildebrandslied. Sie besteht
darin - und es lassen sich meine drei 'Axiome' damit auf einen einzigen Punkt bringen
-, daß man die überkommenen wie die rekonstruierten Heldenlieder als feste Größen
im Sinne fixierter Texte behandelt. Oder genauer: man betrachtet einerseits die über-
kommenen Texte als aufs Pergament geratene mündliche Lieder, und man behandelt
anderseits diese konstruierten Lieder der mündlichen Tradition so wie schriftlich-feste
Texte. Diese Einebnung der radikalen Differenz zwischen mündlicher und schriftli-
cher Darstellung und Überlieferung hat sich schon für das Verständnis des
Hildebrandsliedes als fatal erwiesen. Man stößt bei der Diskussion um das Heuslersche
Modell erneut auf diese unreflektierte Prämisse. Das heißt: man hat es hier mit einem
blinden Fleck zu tun, der aus einem ganz bestimmten literarhistorischen Traditions-
zusammenhang resultieren dürfte. Er ist wohl letztlich auf die Intention zurückzufüh-
ren, für die germanische Frühzeit eine heroisch-tragische Poesie anzusetzen, die sich
nach Größe und Geist der griechischen Heldenepik an die Seite stellen ließe. Dabei
spielte auch die Tragödientheorie des 19. Jahrhunderts eine nicht unbedenkliche Rolle:
die Rekonstruktion der Heldenlieder ließ sich von der Suche nach den unversöhnlich-
tragischen Konflikten leiten, die diese Theorie forderte. So sah man im Hildebrands-
lied, in der Walthersage, in der Nibelungensage usw. allenthalben Konflikte zwischen
Kriegerehre und Sippenrücksicht, zwischen Gefolgschaftstreue und Familien- oder
Freundesbindung, zwischen Rachepflicht und persönlicher Liebe usw. Wenn es gelang,
einen Widerstreit der Pflichten in einem heroischen Stoff zu finden, so hatte man
damit auch schon die ursprüngliche Form wiedergewonnen!35 Dem sei nocheinmal
entgegengehalten, daß uns das Heldenlied der Völkerwanderungszeit nicht zugänglich
ist und daß wir deshalb kaum etwas Konkretes über diesen Typus auszusagen vermö-

HEUSLER 1955.
Ein Beispiel für viele: HEUSLER 1943, S. 6: „Weigert er [der Vater] den Kampf, steht er als
Feigling da. . .. Diese Kriegsethik überwindet die Sohnesliebe ... Es ist eine seelische Frage-
stellung ...: Wie sich das Sippegefühl beugt dem Ehrgebote."

104
gen. Andersson stellt zwar fest, wir besäßen „an extant corpus, however meager, of
heroic poetry". Gewiß, aber, was er daraus folgert, ist problematisch: „This corpus
conveys a sense of the rules that govern the genre. The story of Rosimund in Paul the
Deacon's Historia Langobardorum can, for example, be identified as Germanic heroic
poetry because the issues, social groupings, emotions, scenes, and general sense of dra-
ma are characteristic of the genre as a whole and consonant with the texts we know."36
Das Korpus, von dem Andersson spricht, besteht jedoch aus heterogenen Zeugnissen,
von denen keines authentisch in dem Sinne ist, daß es uns die Poesie der Völker-
wanderungszeit in ihrer lebendigen Wirklichkeit zu vermitteln vermöchte. Was wir
demgegenüber fassen, sind entweder indirekte Referate oder schriftliche Bearbeitun-
gen, und dies zudem in einer so großen zeitlichen und geographischen Streuung, daß
man sich fragen muß, wie jemand hoffen kann, daraus den ursprünglichen Typus zu
rekonstruieren. Wie gewinnt man denn jene „rules that govern the genre"? Doch nur
dadurch, daß man vorweg schon eine Vorstellung davon hat, was für den Typus der
germanischen Heldendichtung konstitutiv war, konkret: welche Konflikte ihn be-
stimmt haben, unter welchen sozialen Konstellationen diese abliefen, durch welche
Emotionen sie angetrieben und anhand welcher Szenen sie dargestellt worden sind.
Was wir bestenfalls fassen können, sind - wie gesagt - abstrakte Handlungsmuster
und vielleicht bis zu einem gewissen Grad ein Fundus traditioneller Formeln und
stereotyper szenischer Versatzstücke. Wir wissen aber nicht, wie diese Muster in der
jeweiligen Improvisation durch den Sänger realisiert und akzentuiert worden sind. Wir
können nicht einmal sagen, ob diese Lieder vorwiegend eine tragische Note besaßen.
Ich will nicht darüber hinweggehen, daß Andersson in seiner Kritik meiner Kritik
durchaus gesehen hat, worin die letztlich entscheidende Differenz zwischen Heuslers
und meiner Position besteht, nämlich in der unterschiedlichen Auffassung von der
Existenzform mündlicher Dichtung: Heusler rechnet nicht mit einem improvisieren-
den Vortrag; für ihn sind auch die mündlichen Lieder poetische Entwürfe mit fester
Form. Doch Andersson bietet die betreffenden Bemerkungen als eine Art Nachtrag am
Ende seiner Überlegungen, und so können sie für die kritische Auseinandersetzung
nicht mehr fruchtbar werden. Sein letztes Wort lautet: „The most fundamental dis-
agreement between Heusler und Haug may therefore be their conflicting views on the
nature of Germanic poetic tradition, a matter that remains to be resolved".37 Da er im
übrigen in einer Fußnote anmerkt, daß ich meine These vom Primat des fiktionalen
Schemas besser als anderweitig am Hildebrandslied hätte demonstrieren können,38
habe ich mir erlaubt, gerade von daher die strittigen Fragen nocheinmal anzugehen
und das Ergebnis zugleich ehrend einem andern in den USA tätigen Mediävisten zu
widmen, der sich bei seinen Forschungen auf dem Gebiet der germanisch-deutschen
Heldensage insbesondere mit diesem Lied beschäftigt hat.

ANDERSSON 1988 [b], S. 135.


Ebd., S. 140.
Ebd., S. 141 Anm. 6.

105

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