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ZEITSCHRIFT
FÜR DEUTSCHES ALTERTUM
UND DEUTSCHE LITERATUR

HERAUSGEGEBEN VON

FRANZ JOSEF WORSTBROCK

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122. BAND . 1993

FRANZ STEINER VERLAG· STUTIGART

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HELD UND KOlLEKTIV

von KLAus VON SEE

Congratulate yourself if you have done some·


thing strange and extravagant and broken the
monotony of a decorous age.
Ralph Waldo Emerson, in: Heroism (Essays
[1,18411, New York 1951,S. 185)

Die Vorstellung vom Helden, das Bedürfnis nach Heldenruhm und Helden-
verehrung, ist, so scheint es, ein nahezu universales Phänomen, vielen Kulturen in
vielerlei Formen geläufig. Selbst unter den sog. Naturvölkern registriert die
Ethnologie ihr Fehlen als befremdliche Ausnahme: So gilt - oder galt zumindest
noch vor einem Menschenalter - bei den Tongas in Somalia das Weglaufen in
Augenblicken der Gefahr als durchaus situationsgerechtes Verhalten, und
Stammesangehörige, die bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der briti-
schen Polizei 1963 den Tod fanden, verehrte man nicht etwa als Volkshelden oder
Märtyrer, sondern sah in ihnen nichts anderes als unglückliche Opfer einer Fehl-
einschätzung der gegnerischen Kampfbereitschaft. Von Teilnehmern, die überleb-
ten, berichtet die Ethnologin Elizabeth Colson: "They amused one another by
arguing the honour ofbeing the first to run".! Alles Heldische fehlt also im System
der Tonga-Ethik, - offenbar ein Ausnahmefall, der immerhin die Vermutung
nahelegt, die Vorstellung vom Helden in ihren zahlreichen Varianten sei doch
wohl erst ein Ergebnis unterschiedlicher kultureller Entwicklungen oder Ent-
wicklungsstufen.
Um so schwieriger denn auch die Definition des 'Helden': Es geht dabei
zunächst um die Frage, ob und mit welcher Strenge man unterscheiden darf
zwischen einer vielleicht primären, eigentlichen Bedeutung, bezogen auf den
Protagonisten einer 'Heldensage', und anderen, vielleicht erst sekundären
Verwendungsweisen: Kann der Held im engeren Sinne nur ein Mann in Waffen
sein oder auch, wie Thomas Carlyle es will, ein Prophet, ein Dichter, ein Philo-
soph? Ist der "Held der Arbeit", den die DDR kreierte, ein wirklicher Held? Und

I E. COLSON, Heroism, Martyrdom, and Courage. An Essay on Tonga Ethics, in: The
Translation of Culture. Essays to E. E. Evans-Pritchard. London 1971. S. 19-35, Zitat S. 25.
2 VON SEE Held und Kollektiv 3

weiter: Ist der Held zu allen Zeiten etwas Singuläres - ein Achill, ein Siegfried, ein hen soll, daß die Heldensage zunächst dem Gemeinschaftsbewußtsein eines Vol-
Roland -, oder kann er auch scharen- und massenweise auftreten wie die namen- kes oder Stammes diente und später, als diese gentilen Einheiten in größeren
losen Frontkämpfer beider Weltkriege oder die Demonstranten des Jahres 1989 in politischen Gebilden aufgingen, von der "dadurch mediatisienen Führungsschicht
der flugs danach benannten "Heldenstadt Leipzig"? Ist viellt~icht sogar jeder tote [...] als adlige 'Hausüberlieferung'" weitergepflegt wurde. 3 .
Soldat ein Held, wie es die Ausdrücke 'Heldentod', 'Heldenfriedhof', 'Helden-
Hauck spricht dieser Überlieferung - im Sinne der Kontinuitätstheorie - sogar "religiösen
gedenktag' suggerieren? Damit zusammenhängend: Gibt es überhaupt den lautlos Charakter" zu und bezeichnet die Iring-Sage, die er zur Hausüberlieferung der sächsischen
leidenden, "stillen Helden", oder gehört nicht doch zum Helden per detmitionem Liudolfinger zählt, als zum "sakralen Bereich" gehörig, indem er erldllrt, lring trage "einen der
der Ruhm und die Selbstberuhmung? Könnte es also sein, daß der Held immer Wodansnamen". Zum Beweis genügt ein rascher Griff in die altnordische Schatztruhe: Hauck
irgendwie einer Öffentlichkeit bedarf, wie ja auch der 'Star' - als Verehrungs- beruft sich auf den Namen tjungrltrungr, der ein einziges Mal in einer apokryphen Namensliste
objekt eine modeme Entsprechung des Helden - zwar ein guter Sänger sein mag, unter den Odinsnamen auftaucht (Skj.A 1,682) und vielleicht gar nicht mit dem deutschen Namen
zum 'Star' aber erst durch sein Publikum wird? Daran anschließend dann die Iring identisch ist, aber selbst dann, wenn dies der Fall wäre, keineswegs die ursprüngliche
Göttlichkeit des Sagenhelden beweisen kann. Denn in der Liste ist ganz heterogenes Material
spezielle Frage: In welchem Verhältnis stehen Held und Kollektiv zueinander? zusammengeflossen, und tjungrl'l rungr kann schon wegen seiner -ung-(-ing-)Endung kein alter
Schafft sich das heldische Individuum seine Öffentlichkeit selbst, oder tmdet es Göttername sein. - Ähnlich wie Hauck verflihrt auch Wenskus: Er bezeichnet den Namen des
seine Erfüllung allein in einer bereits vorgegebenen Gemeinschaft? Ist der Held - Sagenhelden Ingeld, den er als "Haushelden" einer Familie im Elbe-Saale-Raum zu Beginn des 9.
als Repräsentant einer solchen Gemeinschaft - durchweg ein "positiver Held", ein Jahrhunderts identifizieren will, als einen "theophoren Namen". Die einzige Begründung hierfür
Vorbild an Verantwortungsbewußtsein, der selbst noch in einer exzessiven Tat die ist, daß das zweite Namenselement mit Wörtern verwandt ist, die in der religiOsen Terminologie
Ehre seiner Gefolgschaft, seines Stammes, seines Vaterlandes wahn und rettet? des Heidentums "Opfer/opfern" bedeuten. Diese Wörter haben aber auch andere, durchaus profane
Bedeutungen, und sie sind im altsächsischen Heliand unzählige Male belegt Schon deshalb ist die
Oder gewinnt er seine Faszination gerade dadurch, daß er seinen Selbst-
Annahme verfehlt, der Name Ingeld kOnne "in der zweiten Silbe die Erinnerung an heidnische
behauptungswillen bedenkenlos auslebt, also n ich t nach den Regeln einer Riten wachrufen".4
Gemeinschaftsethik handelt, sondern so, wie es sich der gemeine Mann nicht Etwas unklar bleibt, welche F 0 r m denn die "Hausüberlieferung" gehabt haben soll. Hauck
erlauben darf? Und kann sich der Ruhm vielleicht ebendeshalb, weil er nicht an die zitiert aus dem Epilog der 'Klage' zum 'Nibelungenlied', Bischof Pilgrim von Passau habe durch
Interessen eines bestimmten Kollektivs, sondern allein an die Person des Helden liebe der nevell sill ein lateinisches Nibelungenepos schreiben lassen (V.2146). "Hausüber-
gebunden ist, über die engeren Grenzen seines Volkes so mühelos ausbreiten? lieferung" kann dieser Passus - das Hauptzeugnis der ganzen Theorie! - ernstlich nicht beweisen,
doch besagt er immerhin, daß es sich in diesem Fall um D ich tun g handelt. Im übrigen aber
Solange man die Heldensagentexte vornehmlich nach literarisch-ästhetischen
zeichnet sich die Theorie gerade dadurch aus, daß sie - wie gesagt- mit "ungeformter" Überliefe-
Gesichtspunkten interpretierte, sorgte man sich wenig um solche Probleme. Erst rung rechnet Es scheint sogar, daß "Haustradition" meist nur aus dem bloßen Rohstoff der Sage
als man seit den 1930er Jahren - unter dem Eindruck zei«ypischer Gemeinschafts- bestehen soll, denn ihr wichtigstes Indiz sind die Namen. Nicht als Zeugnis bloßer Namenmoden,
ideologien - nach der sozialen "Lebenswirklichkeit" der Heldensage, genauer: sondern als Zeugnis heldischer "Haustradition" sollen sie deshalb gelten, weil sie auf bestimmte
nach einer kultisch institutionalisierten Heldenverehrung zu fragen begann, ruckte Familien beschrllnkt seien, -auf Familien allerdings, die zum Teil erst mit Hilfe dieser Namen als
das Problem "Held und Kollektiv" in den Mittelpunkt. Und da mehr und mehr Familien rekonstruiert sind. Die Methode ist fragwürdig und das Ergebnis ohnehin nicht stringent
auch - zumal seit den 1950er Jahren unter dem Einfluß der angloamerikanischen genug: Weder ist die Konzentration auf bestimmte, eingegrenzte Sagenkreise in diesen angebli-
chen Familien mit der wünschenswerten Eindeutigkeit belegt noch die Konzentration der Namen
oral-poetry-Forschung - das Literarisch-Ästhetische, d.h. der konkret überliefene
aufbestimmte und wenige Familien. Und es bleibt zum Schluß immer noch die Frage: Was ist denn
Text in seiner einmaligen dichterischen Formung, als bloß "individuelle" Kunst- eigentlich "Haustradition", und was ist ein "Hausheld"?
leistung an Interesse verlor, sprach man jetzt weniger von der" Wir k u n g " der
Heldensage als von deren " F un k t ion ". Karl Haucks Theorie von der Dieser streng gemeinschaftsbezogenen, "funktionalistischen" Interpretation
"ungeformten" Heldensage als "haus- und sippengebundener" Überlieferung mit- der Heldensage habe ich schon bei früheren Gelegenheiten - zuerst in einem
telalterlicher Adelsgeschlechter, 1954 zuerst veröffentlicht, gilt noch heute als Forschungsbericht 1966 - eine Definition des Helden entgegenzustellen versucht,
frühes Zeugnis einer notwendigen, schon zur literatursoziologischen Methode die vom politisch-sozialen Milieu ausgeht, in dem Heldensagen zu entstehen
hinlenkenden Forschungswende. 2 Hauck und - in seinem Gefolge - Reinhard
Wenskus konstruierten eine Kontinuität hinsichtlich der Funktion, die darin beste- 3 R. WENSKUS, Wie die Nibelungen-Überlieferung nach Bayern kam, Zs. f. bayer.
Landesgesch. 36 (1973) 393-449. J. HEINZLE, AfdA 91 (1980) 3f., sieht in dieser und ähnlichen
2 K. HAUCK, Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter, von Arbeiten den Weg vorgezeichnet, den die germanistische Forschung zu gehen habe!
Adelssatiren des 11. und 12. Jahrhunderts her erläutert, in: W. LAMMERS (Hg.), Geschichtsdenken 4 R. WENSKUS, Das südliche Niedersachsen im frühen Mittelalter, in: Fs. für H. Heimpel, 3.
und Geschichtsbild im Mittelalter (Wege der Forschung 21), Darmstadt 1961, S. 165-199. Bd., 1972, S. 348-398, Zitat S. 364.
4 VON SEE Held und Kollektiv 5
pflegen: Es zeigt sich, daß die heroic ages meist Zeiten des Umbruchs sind, in [...] die einfachen Gesetze einer archaischen Gesellschaftsordnung übersieht" (S.
denen sich alte kollektive Bindungen ethnischer und religiöser Art lockern und 475).7 Weber ist ein Anhänger der literatursoziologischen und ideologiekritischen
lösen - die Zeit nach der Dorischen Wanderung bei den Griechen, die Völker- Methode im Stile Leo Löwenthais, Georg Lukacs' und Lucien Goldmanns, wird
wanderungszeit bei den Germanen, die Wikingerzeit im Norden, die Zeit der also das 'individualistische' Heldenbild für ein ideologisches Phänomen des
Reconquista in Spanien und der serbokroatisch-türkischen Kleinkriege auf dem "bourgeoisen Überbaus" halten wollen. 8 Mit Recht erklärt er, daß die "gemein-
Balkan -, Zeiten, in denen sich das Individuum gegenüber dem Kollektiv stärker schaftsbezogene" Heldenvorstellung der 30er und 40er Jahre "nicht schon notwen-
als sonst zur Geltung bringen kann. Daher erklärt sich, wie ich meine, die unge- dig falsch" sei, weil sie aus der NS-Ideologie stammt (S. 450). Anders aber als die
wöhnliche Zählebigkeit und Wanderfreudigkeit der Heldensage nicht allein oder Heldensagenforschung der 50er und 60er Jahre, 'die nur oberflächlich an die
sogar am wenigsten aus der Rolle, die sie für das Selbstgefühl einzelner ethnischer seinerzeit moderne Literatursoziologie anzuschließen ist und eher noch zu den
und sozialer Gruppen zu spielen vermag. Vielmehr erlebt sich im Helden der Nachzüglern der 'völkischen' Auffassung zählt, steht Weber jetzt, ohne dies
Mensch am frühesten und nachhaltigsten als ein in der Geschichte handelndes, freilich zu erläutern, auf dem Boden eines 'semiotisch' orientierten Struktura-
seiner selbst mächtiges Wesen. Und so ist auch das, was am Helden fasziniert, vor lismus. Von dieser Position aus unterzieht er meine Arbeiten zur Heldensage einer
allem die exorbitante Demonstration eben dieser Selbstmächtigkeit. 5 fundamentalen Kritik: Das individuell erscheinende, faszinierende "Wie" einer
Die Zeitläufte der 1960er und 70er Jahre waren einer solchen These nicht eben Heldentat werde hier, so meint er, mit dem "Was", ihrem "eigentlichen Aussage-
günstig: Literatursoziologie, 'antiautoritäre' Bewegung, Abkehr vom 'Euro- kern", verwechselt, denn jede Heldentat sei nicht nur "gesellschaftlich" bedingt,
zentrismus', dadurch intensiviertes Interesse an oral tradition, - alles das stand sondern wurzele geradezu in einem "kollektiven Normensystem" (S. 452) und sei
einer 'individualistischen' Konzeption von vornherein sehr fern. Speziell war es eine "dieses System [...] stabilisierende Artikulation" (S. 453), diene also dem
der französische Strukturalismus, der - am Beispiel der indianischen Kultur im "Erhalt des Ganzen", so daß durch die heroische Tat "das Kollektiv zusammen mit
Mato Grosso - ein Gesellschaftsmodell propagierte, das für den 'Helden' als einen dem Heroen seine kollektive 'Ehre' - denn Ehre des Einzelnen ist nur da möglich,
selbstrnächtig Handelnden wenig Platz hat: herrschaftlich-hierarchisch nur wo alle Ehre haben - zurückgewinnt oder behält" (S. 454).
schwach entwickelt und daher eher auf wechselseitigem Ausgleich basierend, also Zwei Zauberwörter geistern durch Webers Aufsatz, die alles erklären sollen,
auch, wie Claude Uvi-Strauss sagt, nicht "vom Geist des Wettbewerbs geprägt", selbst aber nicht erklärt werden: 'archaisch' und 'reziprok'.
dazu noch im Zustand der Mündlichkeit verharrend - Schriftlichkeit und Schul- Nach üblichem Sprachgebrauch sollte 'archaisch' eigentlich eine früh-
pflicht sind für Uvi-Strauss nur ein Mittel der Herrschaft und der Ausbeutung -, geschichtliche Phase meinen, tendiert bei Weber aber dahin, zu einem über-
überhaupt von 'Geschichte' kaum berührt, sich ewig gleichbleibend und wieder- zeitlichen, ganz und gar abstrakten Terminus zu werden. Zumindest große Teile
holend wie der Mensch selbst, also anti-'individualistisch' im weitesten Sinne, so des Mittelalters sind nach Webers Definition immer noch 'archaisch', und in einer
daß es naheliegt, die konkreten, jeweils geschichtlich bedingten Ereignisse und der eben zitierten Formulierungen werden 'archaisch' und 'Neuzeit' als komple-
Zustände als zeitlos gültiges System von 'Zeichen' zu beschreiben: "Was das Dorf mentäre Begriffe gebraucht (S. 475). Andere Äußerungen lassen eher darauf
ausmacht", sagt Uvi-Strauss einmal, seien "weniger seine Erde und seine Hütten, schließen, daß 'archaisch' so etwas wie einen geschichtslosen Idealzustand be-
sondern eine bestimmte Struktur".6 zeichnen soll: "Jede archaische Kultur" gebe sich, heißt es da, "die gleichen
Spielregeln, die beherrscht und beachtet werden müssen, will der Mensch bleiben,
* was er ist" (S. 456, vgl. S. 468), - eine Formulierung, die argwöhnen läßt, daß es
selbst noch in der Gegenwart 'Archaisches' gibt (vorausgesetzt man weiß, "was
Alle diese mehr oder weniger zeittypischen Tendenzen bündelt Gerd Wolfgang der Mensch ist", und daß es sich lohnt, dies auch zu "bleiben").
Weber neuerdings zu einem Generalangriff auf das eben beschriebene Heldenbild, Der Eindruck überzeitlicher, geschichtsferner Abstraktheit verstärkt sich noch,
indem er es zu entlarven sucht als bloße "Chimäre eines individualistischen wenn man die 'Reziprozität' hinzunimmt. Im wissenschaftlichen Gebrauch ist
Deutungsansatzes, der über die Fixierung auf den Individuumsbegriff der Neuzeit

7 G. W. WEBER. "Sem konungr skyldi". Heldendichtung und Semiotik. Griechische und


S Ausführlicher darüber K. VON SEE, Edda. Saga. Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavi- germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur, in: Helden
schen Literatur des Mittelalters, Heidelberg 1981, S. 184ff., 192f., 534f. und Heldensage. Ouo Gschwantler zum 60. Geburtstag, Wien 1990, S. 447-481.
6 C. L~V1-STRAUSS, Traurige Tropen [Tristes tropiques, 1955, dt 1960/1970]. Frankfurt 1979, 8 So über die Rezeption der Isl1lndersagas im 20. Jahrhundert G. W. WEBER in: J. LlNDOW etc.
S.313.292f(,224( (00.), Structure and Meaning in Old Norse Literature, Odense 1986. S. 418, Anm. 18.
6 VON SEE Held und Kollektiv 7

Reziprozität ein Begriffder Ethnologie, etabliert in den 1920er Jahren von Richard Helden ja allesamt eingebunden sind in ein "kollektives Normensystem", durch
Thumwald und Bronislaw Malinowski, den Begründern der funktionalistischen das Lehrhafte, das Enieherische, und man darf sich fragen. ob sie nicht dadurch
Lehre, die bestrebt ist, Vorgänge primitiver Zivilisationsstufen, da sie politisch, vom Regen in die Traufe. nämlich in die Subalternität. geraten sind.
juristisch und ökonomisch noch nicht institutionalisiert sind. nach ihrer Funktion Zumindest der Zusammenhang der ReziproziUltstheorie mit einer zeitlypischen Erscheinung.
im tatsächlichen Lebenszusammenhang zu beschreiben.9 Dabei entdeckte man die der 'antiautoriUlren' Bewegung, iSl kaum zu leugnen (vgl. S. 451): In dreien der vierlnrerpretatio-
Reziprozität, das do-ut-des-Prinzip, als den wesentlichen Selbstregulierungs- nen werden die perfiden und unwürdigen Könige - "Agamemnon und Konsorren" (5. 480)! - durch
mechanismus besonders in akephalen, sozial noch wenig differenzierten Gesell- die rangniederen "Helden" im Diensre des kollektiven Normensystems einem förmlichen - und
schaften. Leicht stellt sich hier dann die rousseauistisch-romantische lllusion ein, sogar "schmerzhaften" - ''Erziehungsprozeß unrerworfen" (5. 459, 467. 476), dadurch zur
ReziproziUlt "gezwungen" (5. 467), "geprüft" und "zur Einsicht gebracht" (S. 457) oder kurzer-
daß gerade in solchem mehr oder weniger herrschaftsfreien Milieu alle sozialen
hand liquidiert (5. 462). Man scheint sogar von einer zeitlosen AktualiUlt solcher Maßnahmen zu
Beziehungen reibungsloser, zwangfreier und "menschlicher" funktionieren als in wissen, da sich doch, wie ein ahphilologischer Kollege Webers meint, "eine modeme Universität
hierarchisch organisierten Staatswesen. IO So droht 'Reziprozität' zu einem manchmal gar nicht allzu sehr von der homerischen Gesellschaft" unrerscheide. 12
geschichtslosen, wohlfeilen Moralbegriff zu werden, der - bezogen auf das allge-
meine Gebot. Gutes mit Gutem zu vergelten - jegliche Prägnanz und damit auch
*
jegliche wissenschaftliche Brauchbarkeit verliert. In diesem Sinne erklärt Weber,
die "gerechte Reziprozität, die Anerkennung des Anderen", gehöre zu einem Die erste der vier Interpretationen. die des C i d - Epos, ist nur eine Art
"System von Werten, die [...] für das Fortbestehen je d w e der menschlichen Vorspiel, denn der Cid in seiner maßvoll-beharrlichen Haltung ist (darin bin ich
Sozietät unverzichtbar sind" (S. 455f.), wie es überhaupt in Webers Aufsatz um mit Weber einig) kein eigentlich typischer "Held", aber das Epos soll (darin bin ich
nichts Geringeres geht als den "seine humane - weil gesellschaftsreziproke - mit Weber uneinig) das Reziprozitätsprinzip in geradezu idealer Weise dokumen-
Identität ('Ehre') wahren könnenden Me n s ehe n sc h lee h t hin" (S. 481. tieren. Schon Menendez Pidal habe - wie Weber formuliert: "ungeachtet der hier
Hervorhebung von mir). I I außer acht bleiben könnenden Fragwürdigkeit" einzelner Detailthesen - die
Sein neues, kollektiv gebundenes Heldenbild exemplifiziert Weber nun an vier "identitätsschaffende. die Idee einer spanischen Nation aus der Geschichte heraus
Interpretationsmodellen, die er vier verschiedenen Kulturkreisen entnimmt: das legitimierende Funktion" der Cid-Figur "als den eigentlichen Nucleus" des Epos
erste dem romanischen. das zweite dem kontinentalgermanischen, das dritte dem erkannt (S. 456). Meiner Ansicht, das Epos wolle zeigen, wie sich der Cid in der
skandinavischen, das vierte dem griechischen. Alle vier Kulturkreise gelten für vorbehaltlosen, unbeirrbaren Treue gegenüber seinem König selbst im Zustand der
Weber als 'archaisch' und daher von den "gleichen Spielregeln", speziell vom Ungnade bewähre. setzt Weber die These entgegen, "der Akzent des ganzen Epos"
Reziprozitätsprinzip, beherrscht, und bei allen vier 'Helden' - nicht nur beim Cid. liege auf der "Unzulänglichkeit" des Königs: Nicht um die Reintegration des Cid
sondern auch bei Iring, Gunnarr und Achill - wird das Exorbitant-Faszinierende gehe es, "sondern um die - in der unzulänglichen Figur des 'Königs' repräsentierte
ihres Handeins auf eine bloße Äußerlichkeit. auf das "Wie", reduziert. Das - gestörte Ordnung des gesamten Gemeinwesens" (S. 457).
Faszinosum ist für Weber ohnehin etwas "Pueriles" (S. 451); ersetzt wird es. da die Beide Themen. die Weber für die zentralen hält - die "Unzulänglichkeit" des
Königs und die Wiederherstellung der "Ehre Spaniens", des nationalen Kollektivs
- scheinen mir im Epos gerade nie h t thematisiert zu sein (ebensowenig übrigens
9 R. SCH01T, Die Funktion des Rechts in primitiven Gesellschaften, Jb. f. Rechtssoziologie u. der Gedanke der Reconquista). Die Intention zielt auf etwas anderes: Das Epos ist
Rechtstheorie 1 (1970) 107-174. DERS., Anarchie und Tradition. in: U. NEMBAOI (Hg.), Begrün- ein Plaidoyer rür den - im Cid verkörperten - Wert des niederen Adels, seiner
dungen des Rechts. Göttingen 1979, S. 22-48. CHR. S[GRIST, Regulierre Anarchie, Frankfurt 21979, Kampfbereitschaft und Königstreue. Über den König fällt kein böses Wort, Abnei-
S. 112ff. U. WESEL, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften,'Frankfurt 1985, S.
233. 322, weist darauf hin. daß schon in segmentären Gesellschaften die ReziproziUlt nicht mehr
gung und Verachtung gelten allein den Vertretern des Hochadels, ihrer
"die fundamentale RoUe" spielt wie in der Sammler- und Jägerkultur. Untüchtigkeit, ihrer Feigheit und ihrem ungerechtfertigten Hochmut (V. 2286ff.,
[0 Daß reziprokes VerhaIren oft von der puren Angst vor gewailUltiger Reaktion bestimmt ist. 2534ff., 2681, 2735ff.. 3248f.. 3705).13 Es widerspricht dem Text, mit Hilfe der
zeigt WESEL [Anm. 91, S. 32Iff.; nüchtern und ohne falsches Moralpalhos urteilend auch B.
MAuNoWSKI, Sille und Verbrechen bei den Naturvölkern, Bem o.J., S. 30. VgI. ferner K. VON SEE,
Spätfrüchre der 1968er-Bewegung. skandinavistik 15 (1985) 141-156, bes. S. 149, 155.
11 Der sog. "Mensch schlechthin" schon S. 455. - Über die Neigung des Strukturalismus zu 12 W. NlCOLAI, Wirkungsabsichten des I1iasdichters, in: Gnomosyne. Fs, Walrer Marg, Mün-
ahistorischen und rousseauistischen Vorsrellungen vgI. A. SOIMIUT, Der strukturalistische Angriff chen 1981, S. 81-101, Zitat S. 97 (s. auch unten Anm. 32).
13 EI Cantar de Mio Cid. Übers. und eingel. von H. J. NEUSaIAFER (Klass. Texre des roman.
auf die Geschichte, in: ders. (Hg.), Beiträge zur marxist Erkenntnistheorie, Frankfurt 0.1., S. 194-
265, bes. S. 216f. Milrelalrers 4), München 1984,
8 VON SEE Held und Kollektiv 9

semiotischen Methode König und Hochadel "symbolisch" zu identifizieren (S. te Berechnung der Kriegsbeute und die schriftliche Buchführung über die Vergabe
457), - man braucht hier nur an den Satz zu erinnern, den der König zu einem der Gewinnanteile (V. 49lf., 51Of., 1216f., 1234, 1257ff., 2467, 2509), schließlich
Vertreter des Hochadels spricht: "Laßt diese [schmähende] Rede, denn er [der Cid] der Stolz auf das erworbene Vennögen und die - zu dieser Zeit noch als "gute
dient mir in jeder Weise besser als Ihr" (V. 1349). Schon von Anfang an entlastet Partie" betrachtete - Einheirat der Töchter in den höheren sozialen Stand (V.
der Cid seinen König: "Dies ist das Werk meiner bösen Feinde" (V. 9). Und auch 2494ff.). Nur von sich selbst spricht der Cid in dieser Zwischenbilanz und kein
bei der Verheiratung der Cid-Töchter an die Infanten von Carri6n bleibt der König Wort über irgendeine Reziprozität oder die Wiederherstellung der "Ehre Spani-
frei von jedem moralischen Vorwurf: "Dem guten König Don Alfonso tat das von ens". Auch der Satz am Schluß des Epos: "Heute sind die Könige von Spanien
Herzen leid" (V. 2825, 2954ff.). Zwar erkennt er die Unangemessenheit seines seine Verwandten" (V. 3724), bezieht sich nicht auf die Idee des nationalen
Handelns - "Ich wies den tapferen Campeador außer Landes und tat ihm Böses, Kollektivs, sondern will nichts anderes als den sozialen Aufstieg des Cid demon-
und er tat mir viel Gutes" (V. 189Of.) -, aber es ist beachtenswert, daß die strieren, bringt also noch einmal das Thema des Epos auf die kürzeste Formel: Es
Beurteilung dieses Verhaltens im Epos nicht zur Debatte steht. Den vielzitierten geht darum, Wert und Verdienst, Treue und Kriegstüchtigkeit des niederen Adels
Vers: "Gott, welch guter Vasall, wenn er einen guten Lehnsherm hätte!" (V. 20), - verkörpert im Cid - gegenüber dem untüchtigen und dünkelhaften Hochadel ins
spricht nicht etwa einer der Männer des Cid, und es ist auch nicht ein emphatischer rechte Licht zu rücken.
Kommentar des Epikers selbst (wie V. 806), sondern den Satz sprechen "die
Bürgerinnen und Bürger" von Burgos, die "an den Fenstern stehen" (V. 17). Die *
Größe des Cid liegt darin, daß ihn die Parteinahme der "Öffentlichkeit" nicht in
Hochmut verfallen läßt, daß er sich in seinem Vertrauen auf die gute, nur zeitwei- Erst die folgende zweite Interpretation, die der I r i n g - Sag e , führt ins
lig irritierte Gesinnung des königlichen Dienstherm nicht beirren läßt und durch Zentrum des Problems, denn ein unbefangener Leser Widukinds von Corvey
beharrliche Treue seine hochadligen Verleumder Lügen straft, also irgendeine könnte diese Sage geradezu für ein Paradestück der Exorbitanz-Theorie halten. 14
'Reziprozität' gerade nie h t einklagt (V. 1240, 1275, 1339, 1820, 1847f., Weber rüstet sie sich auf zweierlei Weise zu, um sie für sei n e Theorie tauglich
1950ff.). Dementsprechend äußert der König auch keinerlei Reue, - nicht etwa zu machen: 1. indem er unterstellt, bereits Widukind habe vom Standpunkt seiner
deshalb, weil er (wie Weber vermuten könnte) verstockt ist, sondern weil dies "Vasallenethik" - ähnlich wie der "modeme" Betrachter - das noch in den Regeln
nicht zum Thema des Epos gehört und weil der Dichter ihn ohnehin schon kraft des einer 'archaischen' Gesellschaft, also in 'Reziprozität' begründete Verhalten
Amtes jenseits aller Schuld stehen läßt. Und so kann auch - dieser Intention Irings als "Verrat" gedeutet und damit gröblich mißverstanden, und 2. indem er die
entsprechend - der König bis zuletzt den formalen Standpunkt wahren: Die Sage auf "semiotischer Ebene", d.h. symbolisch-zeichenhaft, interpretiert (S. 460).
Aussöhnung kommt dadurch zustande, daß der König seinem treuen Vasallen In der Prosternationsszene, der Kemszene der Sage, sieht Weber den Thüringer-
"Verzeihung" gewährt (perdon, V. 1899, aqul vos perdono, V. 2034, vgl. V. könig Irminfrid vor dem Frankenkönig "im Staube liegen", während Iring "hinter
2152). Irgendeine "Erziehung" zur Anerkennung seiner Reziprozitätspflicht, die seinem vor ihm liegenden Nicht-mehr-König steht": Irrninfrid recke also "dem
Weber dem König angedeihen lassen möchte, liegt nicht im Plan des Epos. hinter ihm stehenden lring (als [dem] Vertreter des thüringischen Volkes) sein
Die drei Beutelieferungen des Cid empfangt der König mit sorgfältig dosier- Hinterteil entgegen", und die "weiblich sexuelle Konnotation" dieser Haltung
tem, stetig steigendem Wohlwollen (V. 88lff., 1340ff., 1855ff.). Sie dokumentie- bedeute "mit dem von ihr angezeigten Verlust der Virilität zugleich Verlust aller
ren die Kriegstüchtigkeit des Vasallen, zeigen zugleich aber auch, daß der männlichen Eigenschaften" (S. 461). Das wiederum heißt: "Iring tötet [...] einen
geldliche Reichtum die Voraussetzung nicht nur der königlichen "Gnade", son- Unwürdigen. Zugleich stellt er damit wieder die Würde ('Ehre') der Thüringer
dern auch des sozialen Aufstiegs überhaupt ist. Man hat daher gelegentlich den Cid symbolisch her [ ...] Wo der König als primus inter pares versagt, muß ein anderer,
"a kind of bourgeois hero" genannt, - für Weber "eine eher abstruse Idee", der Held, die 'Ehre' aller restituieren" (S. 462).
Ausdruck der "bourgeoisen Maßstäbe des Exegeten und nicht solche des Textes" Den aufmerksamen Leser wird es zunächst einmal verwundern, daß die
(S. 458). Gerade der Text aber legt die zitierte Kennzeichnung durchaus nahe: "feudale spanische" Gesellschaft des 12. Jahrhunderts noch ganz "auf Reziprozität
Dahin gehören das städtisch-bürgerliche Ambiente des Epos (Burgos, Valencia), ausgerichtet" gewesen sein soll (S. 458), während Widukind mit seiner "Vasallen-
erklärbar wohl nicht zuletzt aus der christlich-jüdisch-islamischen Mischkultur ethik" schon im 10. Jahrhundert die Reziprozität nicht mehr verstanden habe.
Spaniens, dann - nicht zu vergessen - auch der Kreditschwindel, mit dem der Cid
seine Unternehmung finanziert, die Übertölpelung der jüdischen Firma Raquel &
Vidas in Burgos (V. 89ff., 122ff., 16Off., 143lff.), vor allem die ständig wiederhol- 14 Widukindi res geslae Saxonicae 1,9-13, iat./dt. in: Quellen zur Gesch. der sächs. Kaiser-
zeit, neu bearb. von A. BAUER/ R. RAu, Darmsladt1971, S. 28-43.
10 VON SEE Held und Kollektiv 11

"Feudale Ethik" und "Vasallenethik" sind doch wohl dasselbe? Und wie sollen thüringischen Ehre ist eine "abstruse Idee", - interessant nur insofern, als sie die
sich "Vasallenethik" und "Reziprozitätsethik" unterschieden haben? Gemeint ist Gefährlichkeit der "semiotischen" Methode demonstriert: Die Semiotik läßt die
offenbar, daß die Treuepflicht gegenüber dem Gefolgsherm zurückzutreten habe einzelne Szene - hier sogar die "Stellung" im sexologischen Sinne - zu einem
.hinter die Reziprozitätspflicht gegenüber dem völkischen Kollektiv. Aber auch in Momentbild erstarren, isoliert sie von ihrer Vor- und Nachgeschichte, entkleidet
einem solchen Fall- abgesehen davon, daß so etwas nirgendwo belegt ist - würde sie ihrer in der Sagenhandlung begründeten Motivation und setzt sie dadurch
doch wohl der Eindruck dominieren, daß Iring ein Verräter ist, also durchaus willkürlichen Interpretationen aus (ein ähnlich problematischer Fall, Achills
untauglich, als "Vertreter des thüringischen Volkes" im Namen des "kollektiven Waffenleihe an Patroklos, wird später noch zu besprechen sein).16 In Wahrheit ist
Normensystems" seinen "unwürdigen" König hinzurichten. Und inwiefern ist Iring - nicht nur in der Charakteristik, die Widukind expressis verbis von ihm
König Irminfrid ein "Unwürdiger''? Das Schicksal, einen Krieg verloren zu haben, liefert, sondern auch durch seine Rolle in der Sagenhandlung - das genaue Gegen-
teilt er mit vielen Königen. In die mißliche Situation aber, die ihn zur Prostemation teil dessen, was Weber aus dieser Figur macht: energisch und mit der Fähigkeit
vor dem Frankenkönig zwang, hat ihn der Verräter Iring selbst gebracht, indem er begabt, "anderen das einzureden, was er will" (facilis ad suadendum quae vellet,
ihn ins Lager der Franken lockte. Und "unwürdig" wird die Prosternationsszene 1,9), also ein Mann, der ganz nach seinem eigenen Willen handelt und andere
überhaupt erst durch Webers Interpretationskunst. Denn der Widukind-Text weiß Menschen diesem Willen zu unterwerfen weiß, daher eher zwischen den Fronten
nichts davon, daß Iring während dieser Szene - wie Weber zweimal behauptet _ stehend und alles andere als der Hüter eines kollektiven Reziprozitätssystems und
"hinter" seinem König gestanden habe. Dort heißt es nur: stans secus "in der Nähe Vollstrecker des thüringischen Volkswillens. Es ist eben diese extreme Selbst-
stehend", bei BauerlRau situationsgerecht übersetzt mit "danebenstehend", da mächtigkeit, die Exorbitanz seines Handeins, die Iring zum 'Helden' macht und
Iring als Vermittler des Zusammentreffens sicherlich ne ben bei den Köni- die nicht nur den Sachsen Widukind fasziniert, sondern auch sonst - bezeugt in der
gen stand - oder genauer: zwischen ihnen mit leichtem Abstand zur Seite hin - und Benennung der Milchstraße als [ringes weg - über die Grenzen des Thüringer-
wohl auch nur aus dieser Position heraus unmittelbar nacheinander beide Könige reichs witkt (1.,13).J7
erschlagen konnte.
Angesichts solches eindeutigen Textbefundes erübrigt sich die weitere Frage, *
was das angebliche Ausstrecken des Hinterteils hätte bedeuten können. Deshalb
nur eine kurze Anmerkung: Der Altphilologe Detlev Fehling, der sich unter dem "Und nun Gun n a r r ", das dritte Modell: Auch hier erfasse "die
Titel "Leck mich" mit diesem ethologischen Problem beschäftigte, kommt zu dem 'individualistische' Deutung ... zwar das wie von Heldendichtung, aber nicht ihr
Ergebnis, daß es semiotisch durchaus unklar sei: bei Altweltaffen eine Unter- was" (S. 462). Und das "Was" der Burgundensage, wie noch die eddische Atlakvi-
werfungsgeste, beim Weißohr-Pinseläffchen eine "rangbehauptende Geste", eine öa zeigt, ist - nach Webers Meinung -, daß der König gerade nicht als Individuum,
"anale Drohung", wie der Ethologe sagt, bei Götz von Berlichingen die Geste sondern als "kollektives Symbol" der natio oder gens auftritt und daß der faktische
eines Rangniederen, die bedeuten soll, "daß man sich von der Überlegenheit des Untergang symbolisch gestaltet wird als "ethischer Sieg", der die gens von dem
andern nicht beeindrucken läßt".15 Wieviel unklarer müßte angesichts dieser Makel befreit, "etwa 'zu Recht' untergegangen zu sein, 'weil' sie keinen - die jede
Vieldeutigkeit die Geste sein, wenn sie - wie in der Weberschen Choreographie _ Gemeinschaft begründenden ethischen Normen repräsentierenden - Protagonisten
nur als unbeabsichtigter Nebeneffekt der Prostemation erschiene! Und was hätte mehr aufzuweisen gehabt habe" (S. 463). "Im Bild des [... ] das eigene Höchste,
denn auch beispielsweise der Cid, als er die Prosternation vor seinem König das Leben, einsetzenden 'Königs'" leben die Burgunden weiter als "intakte -
machte, den hinter ihm Stehenden mit seinem Hinterteil signalisieren sollen (EI ethisch intakt gebliebene - Einheit 'König-Volk'" (S. 465). Konstituiert werde
Cantar de Mio Cid, V. 202lff.)? diese Einheit durch das Prinzip der Reziprozität: "Im Untergang der gesamten
Kurzum: die Theorie von der Doppelfunktion der Prosternation, vom gens muß der König ihr das zurückgeben, was sie ihm, solange sie existierte,
"unmännlichen" und daher unwürdigen Irminfrid und von Iring als dem Retter der ihrerseits gegeben hatte: die Bereitschaft zum Sterben für das Ganze" (S. 465).
Die Liedfabel selbst gibt ein völlig anderes Bild. Sie ist insofem extrem
'individualistisch', als sie ganz und gar konzentriert ist auf das Brüderpaar
IS D. FEffilNG, Ethologische Überlegungen aufdem Gebiet der Altertumskunde (Zetemata 61),
München 1974, S. 29ff. Es ist kaum noch notwendig, darauf hinzuweisen, daß das Ausstrecken des
Hinterteils als Unterwerfungsgeste, also sozusagen eine um 180 gedrehte Prostemation oder 16 Zur prinzipiellen Fragwürdigkeit der Methode, mit "semiotischen Ketten" und "Strukturen"
Proskynese, literarisch nirgendwo belegt ist, vgl. Theol. Wb. zum Neuen Testament 6, 1959, S. zu arbeiten (WEBER S. 458, 460 u.ö.), vgl. A. NESCHKE-HEN1'scHKE, Poetica 10 (1978) 148ff.
759ff., F. AL1lIEIM, Geschichte der Hunnen, Berlin 1960, darin das lange Kapitel über Proskynese 17 Vgl. die Belege - Ekkehard von Aura und Magdeburger Schöppenchronik - bei R.
S. 125ff., W. SUNDERMANN, Mitt. des Instituts f. Orientforschung IO (1964) 275ff. ME!sSNER. Iringes weg. ZfdA 56 (1919) 77ff.
12 VON SEE Held und Kollektiv 13

Gunnarr und Högni, das seinen einsamen Tod am Hunnenhof stirbt, - ja, das Lied Kontinents, der Völkerwanderungszeit, in manchen Zügen ähnelt -, und daß uns
treibt die heroische Ichbezogenheit noch dadurch auf die Spitze, daß es Gunnarr aus der Wikingerzeit einige Zeugnisse bewahrt sind, die veranschaulichen können,
erst in dem Augenblick triumphieren läßt, als sein eigener Bruder Högni getötet ist was mit den zitierten Worten in Wahrheit gemeint ist.
und jetzt nur noch er all ein vom Versteck des Nibelungenhortes weiß: Ey var Snorri erzählt in seiner Heimskringla die Anekdote von der Begegnung des
mir tjia, melIan vilJ tveir lifliom, / nu er mer engi, er ec einn liftc. "Immer war mir Norwegerkönigs Olaf (des späteren Heiligen) mit seiner Mutter und seinen drei
Zweifel, während wir zwei lebten, I jetzt ist mir keiner mehr, da ich allein lebe" jungen Brüdern. Auf die Frage Olafs, was die Brüder am meisten begehrten,
(Str. 27).18 Auf diese letzten Worte Gunnarrs, auf diesen Triumph hin ist der antwortete der erste: "Kornfelder", der zweite: "Kühe", der dritte: "Gefolgsleute"
heroische Tod komponiert. Vom Volk aber, dem der König angeblich 'Rezi- (hUskarlar) - und zwar so viele, daß sie alle Kühe des zweiten Bruders auf einmal
prozität' schuldet, ist überhaupt keine Rede. Schon der Beginn des Liedes spricht essen könnten. Da lachte Olaf und sagte: "In diesem wirst du einen König aufzie-
allein von der Halle Gunnars und dem Gehöft der Königsfamilie; sogar der Name hen, Mutter" (Mr muntu konung upp fcelIa, m6lJir, 01. helg. k. 76). Das 'heroische'
des Vaters, nach dem die Königsfamilie benannt ist, wird hier überliefert: Giuca Wikingerkönigtum, das nur den persönlichen Ruhm und die Beute kennt und keine
garlIar "die Höfe GjUkis" (Str. 1). Auch die Gegner, die Hunar, werden - insge- Gemeinschaftspflichten, kann nicht besser als mit dieser Anekdote charakterisiert
samt neunmal - mit ihrem Volksnamen genannt und dazu noch ihr Gebiet, die werden. Ursprünglich war es wohl die herausfordernde Keckheit des Jungen, die
Hunmorc (Str. 13). Über die Volkszugehörigkeit Gunnars und Högnis aber hier imponieren sollte, aber bei Snorri, der die Anekdote gegenüber seiner Vorlage
herrscht Unklarheit! Schon allein diese Tatsache widerlegt Webers These, es sei geradezu auf eine Definition des Königtums zuspitzt, mag bereits die Kritik an der
der Sinn der Heldenfabel, die Burgunden als "ethisch intakt gebliebene Einheit Verachtung friedlicher bäuerlicher Arbeit im Vordergrund stehen. - In dieselbe
'König-Volk'" in der Geschichte weiterleben zu lassen (S. 465). Denn bereits im Kerbe schlägt eine berühmte Sentenz, die .Snorri einem anderen Norwegerkönig,
Laufe der Überlieferung scheint die Kenntnis von diesem Volk längst verwirrt Magnuss berfretr, in den Mund legt: Auf die Vorhaltung, daß er unvorsichtig sei,
oder verlorengegangen zu sein, ohne daß dies der Verbreitung der Sage Abbruch "wenn er im Ausland heere", habe Magnuss geantwortet, "daß man einen König
getan hätte, und auch der Dichter der Atlakviöa interessierte sich nicht dafür: zum Ruhm haben solle und nicht zum langen Leben" (til frcegtJar skai konung
Mehrere Namen - Niflungar, Gotnar und Borgundar - konkurrieren auf undurch- hafa, en ekki tillanglifis, Heimskr., Magn. berf. k. 26). Daß Snorri, ein Mann des
sichtige Weise miteinander, und nur an einer einzigen Stelle des Liedes taucht so 13. Jahrhunderts, ein solches 'heroisches' Königtum als nicht mehr zeitgemäß
etwas wie das "Volk" auf, zumindest dessen Vertreter: neben den Verwandten des empfindet, läßt er deutlich erkennen: Magnuss sei, erklärt er kurz zuvor. den
Königs die Ratgeber und Magnaten (Str. 9). Erwähnt werden sie allein deshalb, Bauern "hart", d.h. streng und schroff, erschienen und habe ihnen große Mühen
weil der Dichter sagen will, daß Gunnarr ihre Warnungen in den Wind schlägt. und Kosten durch seine auswärtigen Kriegszüge auferlegt (k. 26); auch habe er,
Gunnarr tut dies nicht etwa, wie Weber meint, aus einer Zwangssituation heraus, heißt es an anderer Stelle, den selbstherrlichen - für Snorri schlechthin disquali-
weil durch Högnis unbedachte Worte die Gefährlichkeit der hunnischen Einladung fizierenden - Ausspruch getan, "daß Recht wäre, was er bestimmte" (at pat var
"öffentlich" geworden sei und es daher kein Zurück mehr gegeben habe (S. 464). rett, er hann saglJi, k. 19). Ob die stolze Sentenz über den Ruhm dazu dienen soll,
Vielmehr läßt er goldene Trinkschalen in die Halle tragen (Rfstu nu, Fiormr ..., Herrschaft zu legitimieren - und zwar allein aus der Sicht der Herrschenden -,
Str. 10) und spricht erst dann, also ganz aus der Hochstimmung des Gelages heraus wird später noch im Zusammenhang mit einer Rede Sarpedons in der Ilias
- das jedenfalls sind die Signale, die der Dichter dem Semiotiker gibt -, im (XII,31Off.) zu besprechen sein. Bezeichnend ist zunächst einmal, daß die Sentenz
rauschhaft-vermessenen Übermut (af m6lJi st6rom) seinen Schwur, mit dem er sich nicht von einem Vertreter der Bauern gesprochen wird, sondern vom König selbst,
verpflichtet, die hunnische Herausforderung anzunehmen (Str. 11). Und ausdrück- und daß die Gemeinschaft, die einen solchen ruhmreichen König "haben soll"-
lich fügt nun der Dichter hinzu, Gunnarr handle, sem konungr skyldi "wie es ein pj6tJ, land, b(Endr oder was auch immer - gar nicht benannt wird, sondern sich in
König sollte". Weber findet in diesen Worten einen Beleg für seine Reziprozitäts- einem unpersönlichen skai "man soll" verbirgt: Es geht eben in Wahrheit allein um
theorie, und er hält ihn offenbar für so überzeugend, daß er ihn zum Titel seines den Ruhm des königlichen Helden und nicht um die Teilhabe des Volkes an
Aufsatzes macht: Gunnarr handle "wie ein König", indem er die Forderung der diesem Ruhm oder gar um irgendein "kollektives Normensystem".
Reziprozität einlöst und damit die "Einheit König-Volk" als "ethisch intakt"
erweist (S. 464f.). Ich dagegen meine, daß diese Szene ganz aus dem Geist der *
Wikingerzeit gedichtet ist - des nordischen heroic age, das dem heroic age des
Die I I i a s , das letzte der vier Interpretationsmodelle, scheint Weber für sein
bestes Beweisstück zu halten (S. 465-480). Er liefert hier eine völlig neue Deutung
18 Edda, hg. von G. NECXEL, 5. Aufl. von H. KUHN. Heidelberg 1983. S. 240ff.
14 VON SEE Held und Kollektiv 15

der Protagonisten Achill, Agamemnon und Hektor im Sinne seiner Reziprozitäts- emotionsgeladener Vorgang. Man denke an eine berühmte Szene, die Gregor von
theorie, ohne dabei die bisherige Homer-Forschung einer Beachtung für wert zu Tours erzählt: Chlodovech habe bei der Beuteverteilung in Soissons als Zugabe
halten (auf den 15 Seiten fehlt jeglicher Hinweis auf graezistische Sekundär- ein kostbares Gefaß gefordert, das ihm ein "unbedachtsamer Mann" verweigerte,
literatur). Der Zorn Achills ist für ihn nichts anderes als die gerechte Reaktion auf indem er es mit der Axt in Stücke schlug; daraufhin habe der König wiederum den
das Verhalten Agamernnons, der "versucht, die Spielregeln der auf Reziprozität Mann mit der Axt erschlagen und dadurch allen Anwesenden große Furcht ein-
gegründeten Gesellschaft außer Kraft zu setzen" (S. 465), genauer formuliert: gejagt (magnum timorem statuens, Hist. II,27). Interessant für den Achill-
Agamernnon "überhebt sich, Achill aber widersetzt sich dem und wird damit [...] Agamemnon-Streit ist dazu noch die Bemerkung in Snorris Heimskringla, daß es
zum Vollstrecker des Willens aller, also der Gemeinschaft" (S. 465)! Und so soll "nicht Brauch" sei, "Kriegsbeute erst zu verteilen, wenn man wieder zu Hause ist"
es auch "nicht die grollende Kampfverweigerung Achills aus individueller 'ge- (at pat var eigi silJvenja at skipta herfangi eigifyrr en heima, Heimskr., 01. helg. k.
kränkter Ehre'" sein, die "das Heer der Griechen in größten Jammer und Gefahr 133). Daraus ergibt sich der ungeheuerliche Affront, der in der Verweigerung des
stürzt, '" sondern Agamernnons Versuch, den ihm nach Troja folgenden Männern sofortigen Ausgleichs liegt: Ausgerechnet Agamemnon als Oberkönig soll "allein
will kür 1ich zu gebieten" (S. 465). Es nützt dem armen Homer wenig, daß er unter seinem Volk ohne Ehrengeschenk" dastehen und bis zum ungewissen
schon im zweiten Vers seines Epos nicht etwa die Willkür Agamemnons, sondern Kriegsende vertröstet werden (ayEpaOTOS", 1,118f., 133f.)! Selbstverständlich kann
den Zorn Achills ausdrücklich einen "verderblichen, unseligen" nennt, "der den Agamemnon diese Situation nicht hinnehmen, aber er kann sich ebensowenig den
Achaiern zehntausend Leiden brachte": - die Reziprozitätstheorie weiß es besser. Ersatz von irgendeinem "Mann des Volkes" holen, sondern er muß ihn von den
Was sind ihre Gründe? Vornehmsten fordern (1,138f.). Und ebenso selbstverständlich muß Achili gegen
Die Ursachen des Streites zwischen Achill und Agamernnon erklärt Weber die Wegnahme seines ylpas- protestieren: Es ist eben die Kunst des Dichters, die
folgendermaßen: "Statt dem Apollo-Priester Chryses, dessen Tochter Agamem- Protagonisten in eine Zwangssituation geführt zu haben, in der jeder von ihnen
non geraubt hatte, diese gegen 'reiche' Buße zurückzugeben - also ohne Ehr- Recht und zugleich Unrecht hat.
verlust, behält Agamernnon tyrannisch das Mädchen und verstößt damit gegen ein Unüberhörbar aber ist in Achills Worten darüber hinaus noch der Wille zur
'göttliches' Gebot" (S. 469). An diesem Satz ist alles falsch: Denn Agamemnon bewußten Provokation (1,122, 149): Die homerischen Epen spielen in einer Um-
hat die Priestertochter nicht "geraubt", sondern sie ist ihm bei der offiziellen bruchszeit, in der die altüberkommene Macht des Königtums nicht mehr wider-
Beuteverteilung zugesprochen worden, an der auch Achill beteiligt war (und also standslos akzeptiert wird. Weber stellt sie in einen falschen historischen Zusam-
auch "mitschuldig" wurde!). Und das "göttliche Gebot" Apolls, das die Rückgabe menhang, wenn er meint, Agamemnon gebärde "sich bereits im Sinne des
der Priestertochter fordert, ist durchaus kein Ausdruck "göttlicher Normen", mit sophokleischen Kreon: als Tyrann" (S. 469). Die Tyrannis gehört in die Auf-
denen die Reziprozität "institutionalisiert" wurde (S. 470,475). Vielmehr handeln lösungsphase des Adelsstaates und den Beginn der Polisdemokratie, das homeri-
die Götter in den alten Epen nicht weniger subjektiv-impulsiv als die menschli- sche Königtum dagegen steht noch in der Tradition der mykenischen Zeit: Seine
chen Helden, und ähnlich wie diese rächen sie sich für die Kränkung ihres nahezu unbeschränkte Machtfülle ist nicht angemaßt, sondern rechtens (vgl.
Ansehens (vgl. Odyssee XIII,I44), - ebendies tut Apoll, weil seinem Priester Odyssee IV,691) -von 'Reziprozität' kann keine Rede sein -, aber diese Autorität
Schaden zugefügt worden war. 19 Und es ist auch keineswegs so, daß Agamernnon ist, wie gesagt, mittlerweile gefährdet. Daher geht es denn auch im Verhalten
die Priestertochter "ohne Ehrverlust" hätte zurückgeben können. Nachdem Apolls Agamemnons weniger um persönliche Schwächen und Charakterfehler als viel-
Rache die Seuche ins Griechenheer gebracht hatte, ist Agamemnon durchaus mehr um ein - politisch begründetes - trotziges Beharren auf den ererbten Vor-
bereit zu verzichten, - allerdings nur gegen "sofortigen" Ausgleich (1,108). Gerade rechten (z.B. 1,186f.). 20 Weber allerdings macht - gegen die einwandfreien Aussa-
diesen aber verweigert Achill ihm in herausfordernder Weise, indem er erklärt, gen des Textes - Agamemnon zu einem tyrannischen Bösling, der sich die Briseis,
alles sei bereits verteilt und Agamemnon könne den Ersatz erst dann erhalten, das Beutemädchen Achills, aus bloßer "Buhlsucht" und Lüsternheit, zur "Befriedi-
"wenn irgendwann einmal" Troja zerstört und der Krieg beendet sei (1,125ff.). gung seiner persönlichen Gier" angeeignet habe (S. 471, 474,479). In Wahrheit
Bekanntlich ist die Verteilung der Kriegsbeute und zumal die Zuerkennung der aber läßt der Dichter den König einen feierlichen Eid schwören, daß er nie das
y€pm, der "Ehrengeschenke", an die Heerftihrer allüberall ein äußerst heikler,

20 V gI. F. GsCHNITZER, Politische Leidenschaft im homerischen Epos, in: H. GoIl.GEMANNs/E.A.

19 V gl. allgemein H. FRÄNXFl., Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München SCHMIDT (Hgg.), Studien zum antiken Epos, Meisenheim 1976. S. 1-21, bes. 4f.: C. FRIES, Rhein.
1962, S. 60, 70, F. JACOBY, Die Antike 9 (1933) 185, J.lRMSCIIER, Göuerzom bei Homer, Leipzig Mus. N.F. 78 (1929) 145ff., M. P. NU-SSON, Die Antike 14 (1938) 24f., 1. LATAcz, Gymnasium 91
1950, S. 39ff., H. ERBSE, Antike und Abendland 16 (1970) IlOff. (1984) 26. Zur Tyrannis grundlegend H. BERVE, HZ 177 (1954) Uf.
16 VON SEE Held und Kollektiv 17

Lager der Briseis geteilt und sie in seinem Zelt "unberührt" gelassen habe Weber führt allerdings noch ein weiteres Argument ins Feld, um dem 'Helden'
(XIX,261ff., zweimal ist schon vorher vom Angebot dieses Eides die Rede: ein Gefühl der Verantwortung für die Gemeinschaft zusprechen zu können: Er will
IX,132f., IX,274ff.)! Das heißt: Der Dichter legt Wert darauf zu zeigen, daß auch zeigen, daß Achills Bereitschaft, wieder in den Kampf einzugreifen, nicht erst
für Agamemnon - ebenso wie für Achill - der Besitz der Priestertochter nichts urplötzlich durch den "persönlichen Haß" auf den Töter seines Freundes Patroklos
anderes als eine Sache der 'Ehre' ist. Außerdem behauptet Weber, Agamemnon sei geweckt werde, sondern sich längst vorher - in "einer Kette abgestufter Reaktio-
ein Feigling, der nur andere für sich sterben lasse und - bis zur Handlung des elften nen auf die Notlage der Griechen" - bemerkbar mache (S. 476). Weber zitiert
Buches - "noch nie selbst in den Kampf eingegriffen" habe (S. 474), obwohl schon hierzu eine Bemerkung Achills während der Bittgesandtschaft, aber er zitien sie
vorher zweimal ausdrücklich von einer Kampfbeteiligung Agamemnons die Rede ungenau (IX,650ff.): Achill erklärt nämlich, er werde "nicht eher" an Kampf
ist (II,477ff., IV,223ff.).2t denken, ehe nicht Hektor zu den Schiffen der Griechen gelangt sei und sie
Webers Versuch, Agamemnon abzuwerten, ist dabei nur die Kehrseite seiner niedergebrannt habe, d.h. erst dann, wenn die äußerste Notsituation eintreten
These, Achill sei der wahre "Repräsentant des Volkes (der Held als dessen werde, die den Griechen die Möglichkeit zur Rückkehr in die Heimat versperrt, -
Vorkämpfer und Sprachrohr)" (S. 471). Als Beweis dient ihm die Thersites-Szene eine Situation also, in der auch das ureigenste Interesse Achills betroffen ist (die
(II,211-277), die den "häßlichen Narren" als einen "Verbündeten" Achills in der aber, wie er sogleich vermutet, gar nicht eintreten werde, IX,654f.). Achills Rede
Auflehnung gegen Agamemnon zeige: "Wie pervertiert muß ein König sein, wenn ist also in Wahrheit eine deutliche Absage, und auch die Abgesandten - Odysseus
Held und Narr ihm das gleiche vorwerfen!" (S. 471). In Wahrheit dient die und Diomedes - müssen sich eingestehen, daß Achill gerade durch das Entgegen-
Thersites-Szene einem gänzlich anderen Zweck: Sie soll die Auflehnung Achills kommen Agamemnons und das überreiche Angebot in seinem "Hochmut" eher
gegen Agamemnon auf den persönlichen Konflikt, auf den Rangstreit zwischen noch bestärkt sei (IX,700). Bald tritt dann tatsächlich die gefährliche Situation ein,
Aristokraten, eingrenzen und den Angriff auf die Institution des Königtums, der und Achill, der immer noch nicht selbst mitkämpfen will, leiht dem Freunde
darin involviert sein könnte, als ungebührlich, töricht und peinlich diskreditieren. Patroklos seine berühmten Waffen (XVI,64ff.), - für Weber "ein wichtiges
Immerhin hatte ja Achill selbst schon dadurch politische Einsicht bewiesen, daß er semiotisches Detail" insofern, als es anzeige, daß Patroklos nur der Stellvertreter
sich auf den passiven Widerstand des "Zorns" zurückzog und so das "Recht des und Achill bereits der eigentliche Kämpfer sei (S. 477). Auch hier ist wiederum
Stärkeren" akzeptierte (von dem man mit einigen guten Gründen gesagt hat, daß es das Gegenteil richtig. Wie schon im früher behandelten Fall sieht die Semiotik nur
"ein Grundgesetz homerischer Gesellschaftsordnung" sei).22 Die Thersites-Szene das starre Momentbild - "Patroklos in Achills Waffen" - und blendet die Vor-
gibt nun Odysseus, dem eigentlichen Vertreter politischer Raison im Epos, Gele- geschichte aus: Nimmt man sie hinzu, so zeigt sich, daß die Idee der Waffenleihe
genheit, allen aufmüpfigen "Männern des Volkes" auf handgreifliche Weise den gar nicht von Achill selbst stammt, sondern zunächst von Nestor (XI,798) und
Grundsatz einzubleuen: "Nichts Gutes ist Vielherrschaft: einer soll Herr sein, / dann von Patroklos, der geradezu flehentlich um die Waffen bittet (XVI,21ff.).
Einer König" (II,204f.). Die Heeresversammlung verspottet daraufhin den gede- Wie unwillig Achill diesem Drängen nachgibt, äußert sich darin, daß er seinem
mütigten Thersites (l1,270ff.), Odysseus hält eine Rede, "die an die Argumentation Freund strenge Beschränkungen auferlegt, damit nur ja sein eigener Ruhm nicht
der Agamemnonschen anknüpft" (11,284ff.), und Nestor schließlich "fordert geschmälert werde (XVI,90). Patroklos ist jetzt - mit Achills Waffen ausgerüstet-
Agamemnon auf, wie bisher sein Führeramt auszuüben" (lI,337ff.).23 So bekräftigt eher Konkurrent als Stellvertreter: Nicht ganz zu Unrecht stellt sich hier einem
die Thersites-Szene das politisch institutionalisierte Prestige Agamemnons, das Interpreten die Frage, "ob Achill nicht einem überspannten, durch Eitelkeit
durch den Streit mit Achill nicht tangiert sein solL Achill, für den die Masse nur verdüsterten Ehrbegriff huldigt, ja eben dabei ist, den besten Freund einem solchen
aus "Nullen" besteht (II,231), eignet sich ohnehin nicht als "Repräsentant des Idol zu opfem".2s Auch beim anschließenden Zeusopfer erklärt Achill nochmals
Volkes".24 kategorisch seine Nichtbeteiligung. Im entscheidenden Vers hebt Weber das Wort
"noch" durch Kursivierung hervor: "Ich zwar habe noch vor, im Bereich der
21 Vgl. dazu die ansatzweise ähnliche, aber weitaus differenzienere Agamemnon-Kritik bei E.
KAuNKA. Agamemnon in der ßias. in: Wiener SB, Phil.-hist. Kl. 221.4. Wien/Leipzig t943.
22 M. PuE1.MA, Museum Helveticum 29 (1972) 104. Auch H. STRASBURGER. Der Einzelne und
die Gemeinschaft im Denken der Griechen, HZ 177 (1954) 227-248, findet in der Ilias "die
Überzeugung vom natürlichen Willkürrecht des Stärkeren" (S. 236).
23 W. KULLMANN, Die Probe des Achaierheeres in der I1ias, Museum Helveticum 12 (1955) Volkes und seinen Zorn als einen Einsatz im Interesse der Gemeinschaft betrachtete. zeigt das
253-273. Zitat S. 257. Der WEBERschen Thersites-Vorstellung am nächsten kommen einige 'Achilleis'-Fragment des Aischylos: Dort wollen die Achaier ihn als einen Verräter steinigen. falls
Deutungen aus der früheren DDR: J. EBERT, Die Gestalt des Thersites in der Ilias, Philologus 113 er weiterhin die Teilnahme am Kampf verweigere.
(1969) 159-175, bes. S. 163. 25 H. ERBSE, Antike und Abendland 16 (1970) 100. Vgl. auch A. LESKY, Ges. Schriften. Bern/
24 Daß die Antike den 'Helden' Achill keineswegs im Sinne WEBERS als Repräsentanten des München 1966. S. 72ff., K. REINHARDr, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, S. 318.
18 VON SEE Held und Kollektiv 19

Schiffe zu bleiben" (XVI,239). Gerade dies Wort aber, das ein bevorstehendes ihm die Rückgabe der Briseis mittlerweile völlig gleichgültig geworden sei
Eingreifen signalisiert, steht nicht im Original, - es stammt aus Rupes Überset- (XIX, 147ff., vgl. schon XIX,59f.)!27
zung! Es gibt nur eine einzige Figur in der Ilias, die zum Objekt der Reziprozitäts-
Gleich darauf behauptet Weber dann, es komme mit A.chills schließlichem theorie taugen könnte: Hektor, dessen Rede kurz vor dem Zusammenstoß mit
Wiedereintritt in den Kampf - also nach dem Tod des Patroklos - "sogleich ein Achill Weber in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt (XXII,99ff., S. 466). Er
'nationaler' Zug hervor: gegen das Durcheinander der Troer die geschlossene mißversteht sie als Antwort an den Vater - in Wahrheit ist sie ein Selbstge-
Einmütigkeit der Griechen" (S. 477; XVII,266f.). Auch das ist falsch, denn solche spräch -, und so mißversteht er wohl auch von vornherein deren Inhalt (S. 466).
Gegenüberstellung ist ein gängiges Klischee der Barbarenbeschreibung und er- Denn das, was Hektor hier sagt, würde er kaum offen zu seinem Vater sagen: Es
scheint in der Ilias vorher schon vi e r mal, hat also an dieser Stelle - hinsichtlich handelt sich nicht um eine Erklärung der Kampfbereitschaft und des "Verantwor-
einer nun endlich eingelösten Reziprozität - gar keine spezielle SignifIkanz tungsgeflihls" (S. 467), sondern um eine Selbstanklage, ein Bekenntnis der Scham
(III,Hf., IV,427ff., XIII, 126ff., XVI,212ff.)! Außerdem soll die Wiederherstellung über seine heroische Unbesonnenheit, die den Troern große Verluste brachte.
der Ordnung dadurch semiotisch sichtbar werden, daß "der Thron als Symbol der Überhaupt f"ällt es auf, daß selbst ein Mann wie Hektor, den schon sein sprechender
freiwillig an ihn delegierten Macht aller wieder mit Agamemnon besetzt" sei (S. Name zum Heimatverteidiger macht (vgl. XXII,729f.) und der erstmals in der
479). Weber beruft sich auf den llias-Vers, in dem es angeblich heißt, daß jetzt Weltliteratur den Tod fürs Vaterland preist (XV,496f.), eben doch die typisch
auch Agamemnon rede, "Doch vom eigenen Sitz und nicht in der Mitte der heroischen Züge der ichbezogenen Ruhmsucht und der "Unvernunft" immer
Männer" (XIX,77. Hervorhebung von Weber). Die semiotische Ausdeutung wieder durchschlagen läßt. Sehr deutlich wird dies in einer früheren (und berühm-
macht insofern stutzig, als Könige und Heerführer bei offiziellem Anlaß sonst teren) Rede Hektors - der Antwort auf Andromaches Klage -, die unüberhörbar
nicht im Sitzen, sondern im Stehen und "in der Mitte der Männer" zu sprechen mit der eben zitierten Rede in Beziehung steht (VI,44 1ff.). In dieser früheren Rede
pflegen (II,IOOf., XXIlI,566ff., Odyssee II,36ff. usw.). Das Herrschaftszeichen ist erklärt Hektor, daß ihn beim Untergang Trojas das Leid der Troer nicht kümmern
im übrigen nicht ein Thron, sondern das Szepter. Und so stellt sich denn auch werde, sondern allein das der Andromache, - gewiß nur eine rhetorische Formel,
heraus, daß der" e i gen e Sitz", den Weber durch Kursivierung hervorhebt, eine die das besondere Verhältnis zur Gattin herausstellen soll, aber in ihrer Unver-
ErfIndung des Übersetzers Rupe ist. In wörtlicher Übersetzung lautet der Vers: blümtheit doch bemerkenswert ist. Und auch als er sich dann die drohende
"Sogleich aus dem Sitzen heraus und nicht in die Mitte getreten". Gemeint ist also Versklavung Andromaches ausmalt, bezieht er sie sogleich auf sich selbst und
das Gegenteil dessen, was der Semiotiker darin sehen will: Agamemnon spricht seinen Kriegerruhm, - es könne jemand sagen: "Die da ist Hektors Frau, der der
hier gerade n ich t ex officio, sondern spontan und unmittelbar, ohne vorher
aufzustehen und in die Mitte der Männer zu treten. Überflüssig zu sagen, daß - wie
27 Insgesamt scheint es, daß das auf jede talSllchliche oder auch nur vermeintliche Kränkung
schon beim Vers XVI,239 - nur der Originaltext und nicht die Übersetzung als empfindlich reagierende Selbstwertgefühl der homerischen Helden mit gemeinschaftsver-
Beleg dienen kann. pflichteter 'Reziprozität' wenig zu tun hat. H.-J. GEHRKE, Die Griechen und die Rache, Saeculum
Im Sinne der Reziprozitätstheorie müßte die "intakte Struktur Volk-König" in 38 (1987) 121-149, betont das subjektive Moment im Rachegefüh1 und dessen Ursprung im
dem Augenblick wiederhergestellt sein, in dem Achill die Briseis zurückerstattet Geltungsstreben und Konkurrenzdenken, was dazu führt, daß man "in der Rache über das Erlittene
hinauszugehen" liebt (S. 136) und die Rache bis hin zur Leichenschändung genießt (S. 137), "es sei
bekommt, der 'Held' als Repräsentant des Volkes also wieder in seine 'Ehre'
denn, man wurde durch eine stärkere Macht zur Zurückhaltung gezwungen" (5. 144, vgl. dazu oben
eingesetzt ist. Und in der Tat hat man den Eindruck, daß Weber die eigentliche Anm. 22). Diese "Tendenz zur Unversöhnlichkeit, Permanenz und Grenzenlosigkeit" bewirkt. daß
llias-Handlung mit dem Schlußvers des XIX. Buches beendet sein läßt (S. 480). der "identitätsstiftende, die Gruppe stärkende Effekt der Rache" gering einzuschätzen ist (vgl. S.
Aber das Thema der llias ist eben nicht die Verletzung und Wiederherstellung 138, Anm. 13, S. 147). Zorn und Rache führen eher - wie bei AchilI - in die Absonderung und
Vereinzelung. W.-H. FRIEDRICH, Medeas Rache, in: E.-R. SCHWINGE (Hg.), Euripides (yIege der
irgendeiner Reziprozität, sondern der Zorn Achills in seinen wechselnden Phasen
Forschung 89), Dannstadt 1968, S. 177-237, nennt die aU6a8la der Medea - im engeren Sinne:
vom ersten Aufflammen im I. Buch bis zur schließlichen Beschwichtigung im 'Selbstgefälligkeit, Anmaßung' -eine Haltung "des sich verhärtenden, trotzig sich abschließenden,
XXIV. Buch. 26 Und das einzige, was seit dem XVIII. Buch den Zorn Achills auf niemand, am wenigsten auf sich selbst, Rücksicht nehmenden Menschen" (S. 234). Man denke
beherrscht und die Wiederaufnahme des Kampfes begründet, ist die Rache für den auch an den Zorn des Aias, hervorgerufen dadurch, daß ein Schiedsspruch nicht ihm, sondern dem
Odysseus die Waffen des toten AchilI zugesprochen hatte, - ein Zorn, der Aias in den Wahnsinn
Tod des Patroklos (XIX,209ff., 319ff., 345, 367,403): Ausdrücklich erklärt er, daß
und in den Selbstmord treibt und der ihn selbst im Totenreich nicht verläße "Einzig blieb nur die
Seele des Telamoniers Aias / Abseits stehen, von Groll noch erfüllt" (Odyssee XI,543f.), - und
sogar noch nach den versöhnenden Worten des Odysseus: " ... doch er erwiderte gar nichts und
26 K. DEICHGRÄBER, Der letzte Gesang der Bias (Akad. d. Wiss. u. der Lit, Abh. der Geistes- u. ging dann / Hinter anderen Seelen der abgeschiedenen Toten / Weg in die Tiefe und grollte"
Sozialwiss. KI. 1972, Nr. 5), Wiesbaden 1972. (XI,562ff.).
20 VON SEE
Held und Kollektiv 21

Beste war im Kampf' (VI,460).28 Noch deutlicher wird dann diese Einstellung, deten Hektor folgen, nennt der Dichter schlichtweg "Dummköpfe" (XVIII,3 I 1),
wenn einige Zeit später Hektor die Achaier zum Zweikampf herausfordert: Er und das Wort lCaK6s' "gemein", das Weber auf "jeden" von Hektors Kriegern als
spricht nicht etwa vom Gewinn, den sein Sieg den Troern bringen könnte, sondern partnern des Normenkollektivs bezieht (XII,106; S. 469), bezeichnet in den
ist allein besorgt um seinen persönlichen Ruhm (VII,67ff.). Und er bezieht diesen homerischen Epen zwar den einfachen Volksgenossen, den "gemeinen Mann" (S.
Ruhm nicht einmal auf die eigene Gemeinschaft, also die Troer, sondern spricht 455), ist aber eben doch ein Wort, das eine starke Verachtung ausdrückt: "gemein"
von einem räumlich und zeitlich unbegrenzten Ruhm: " I r gen dei n e r der im Sinne von "unedel, schlecht, unfahig, böse, nichtswürdig".30 Auch in den
nachgeborenen Menschen" (ns...) - offenbar ein Landfremder, der mit dem Kampfschilderungen ist die Masse nur Hintergrund: "Der Ablauf des Massen-
Schiff am Ufer vorüberrudert - werde vor dem Grabmal des getöteten Gegners kampfes [...] wird nicht verfolgt; auch die Vorstellung eines von einheitlichem
ausrufen, diesen habe der "strahlende Hektor" erschlagen. Daher dann der heraus- Willen gelenkten Heereskörpers müssen wir fernhalten".31 Alles das läßt nicht
fordernde Schlußvers: "M ein Ruh m wird niemals vergehen" (VII, 91). Sogar darauf schließen, daß das Kollektiv und damit auch die Reziprozität als Element
Hektors vielzitiertes Wort, es gelte, "die väterliche Erde zu schützen", ist - eines kollektiven Normensystems in der Dias eine wesentliche Rolle spielen.32
innerhalb des Kontextes, in dem es gesprochen wird - weniger ein Bekenntnis zur Nur an einer einzigen Stelle - merkwürdigerweise von Weber nicht erwähnt-
vaterländischen Pflichterfüllung als ein Ausdruck heroischer Eigensinnigkeit. scheint so etwas wie ein Reziprozitätsverhältnis zwischen König und Volk ge-
Denn Hektor mißachtet hier im siegessicheren, verblendeten Kampfrausch den meint zu sein: "Darum", sagt Sarpedon, König der Lykier und Anführer eines die
warnenden Hinweis auf ein von Zeus gesandtes Vogelzeichen, einen Adler mit Troer unterstützenden Heereskontingents, vor der Schlacht zu seinem rang-
einer blutroten Schlange in den Hingen:" Ein Vogel ist der beste (d.h. für mich gleichen Mitstreiter Glaukos, "darum müssen wir [...] jetzt unter den Ersten
gilt nur die ein e Losung): die väterliche Erde zu schützen" (XII,243), - ein stehen", damit die Lykier von uns sagen können: "Waltrhaftig! nicht ruhmlos
stolzes, aber vor allem ein blasphemisch vermessenes, unbesonnenes Wort. 29 herrschen in Lykien I Unsere Könige und speisen fette Schafe I Und Wein,
Ohnehin ist Hektors wesentliche Charaktereigenschaft gerade nicht, wie Weber auserlesenen, honigsüßen [...]" (XII,31Off.). Die Rede erinnert an die vorhin
meint, die besonnene Umsicht (S. 467), sondern die Maßlosigkeit: Er ist der von zitierte Sentenz des Norwegerkönigs Magnuss, daß "man einen König zum Ruhm
Raserei Ergriffene, der Wahnwitzige (XIII,53), von Ungestüm erfaßt (VI,407), haben soll": Bezeichnenderweise sind es in bei den Fällen die Könige selbst, die
feuergleich wütend und mit Schaum vor dem Mund (XV,605ff.), menschlich hier sprechen, und nicht die Vertreter ihres Volkes, und so geht es wohl auch nicht
anrührend in seiner Verirrung deshalb, weil er - anders als Achili - nicht von den zufällig bei deMale um heroischen Ruhm und dazu noch bei deMale um
Göttern behütet, sondern ganz auf sich selbst gestellt ist (XXII,213). Und kriegerische Unternehmungen fernab des eigenen Landes, die mit den Interessen
Pulydamas, dessen Warner-Rolle Weber herunterspielt, ist nicht nur "in diesem des Volkes gar nichts zu tun haben. Diese Sprüche sollen also eher der Herr-
einen Augenblick" - gemeint ist die Situation nach dem Tod des Patroklos - eine schaftslegitimation dienen - und zwar einer Legitimation ganz aus der Sicht der
"ad-hoc"-Verkörperung der Besonnenheit (S. 467); vielmehr sind die ins- Herrschenden selbst - , als daß sie eine echte Reziprozität zwischen König und
ge sam t d re i Warnungen des Pulydamas geradezu ein Leitmotiv der Kämpfe Volk im Auge haben.
im mittleren Teil der Dias (XII,21Off., XIII,726ff., XVIII,249ff.).
Alles Licht der Ilias fallt auf die heroischen Individuen; die Gemeinschaft, der *
sie angeblich durch Reziprozitätspflichten verbunden sind, bleibt - wie immer sie
geartet sein mag: griechische Nation, Stamm oder Heeresformation - dem- Webers Versuch, mit Hilfe der vier exemplarisch interpretierten Heldensagen-
gegenüber namenlos und ohne Kontur. Die Angehörigen des Agamemnon-Heeres texte einen kollektiv gebundenen, "positiven Helden" zu etablieren, scheint mir
beschimpft Achill als "Nullen" (11,231), die troischen Krieger, die dem verblen-

2& H. STRASBURGER [Anm. 22J, S. 236, nennt im Hinblick auf diese Stelle die Gemeinschaft 30 Vgl. G. M. CAillOUN, Classes and Masses in Homer, Classical Philology 29 (1934) 192-208,

eine "Folie für die Ruhmsucht des starken Individuums". Zur Fonn des 'Selbstgesprächs' R. 301-316, hier S. 202ff.. ferner H. STRASBURGER [Anm. 22], S. 231, 24lf., J. V. ANDREEv, Volk und
GASKlN, Classical Quarterly 40 (1990) 3. Adel bei Homer, Klio 57 (1975) 281-291, bes. S. 287.
29 W. SCHADEWAIDT, Hellas und Hesperien, 1. Bd., Zürich/Stuttgan 1960, S. 32, ähnlich schon 31 W. MARG, Kampf und Tod in der llias, Würzburger Jahrbücher 2 (1976) 7-19, Zitat S. 8. J.

F. MOI.J..ER, Das Heldentum in Homers I1ias, in: H. v. SOloENEBECK/W. KRAIKER (Hgg.), Hellas, LATACZ, Kampfparänese, KampfdarsteIlung und Kampfwirklichkeit in der I1ias, bei Kallinos und
Burg b.M. 1943, S. 11-18. hier S. 15. Vgl. E. WOLFF, Gnomon 5 (1929) 395f. Eine gar nicht Tyrataios, München 1977, S. 121,203,243, will- wenig überzeugend - dem Massenkampf schon
notwendige "Ehrenrettung" Hektors versucht -vom falschen Ideal des maßvollen, verantwonungs- in der Ilias eine große Bedeutung neben den heroischen Einzelkämpfen einräumen.
bewußten 'Helden' ausgehend - H. ERBSE, Hektor in der llias, in: Kyklos. Rudolf Keydell zum 90. 32 Verfehlt scheint mir die These N1C01J\IS [Anm. 12], S. 96, es sei das vielfach variierte

Geburtstag, Berlin/New York 1978, S. 1-19. Hauptlhema der I1ias, "daß die Gemeinschaft die Fehler ihrer Führer ausbaden muß."
22 VON SEE Held und Kollektiv 23

voll und ganz mißlungen. Alles das, was der Arbeit eine gewisse 'Eingängigkeit' erklärt. daß er im Kampf zwar unvergleichlich, im Rat aber anderen unterlegen sei
beim nicht informierten Leser verleihen könnte - die abstrakte, nur in sich selbst (XVIII, 105f.). Im Rolandslied heißt es kurz und bündig: Rollant est proz et Oliver
schlüssige, geschichtsferne Reziprozitätstheorie, die unter dem Stichwort 'archa- est sage ("Roland ist kühn, und Oliver ist weise", V. 1093), und ähnlich pointiert
isch' alle KultuITäume über einen Kanun schert, dazu die semiotische Methode, äußert sich der besonnene Sörli in den eddischen HamOism:il: Hugr hefr [Hs.
mit der schon die theologischen Exegeten des Mittelalters den Texten Deutungen heftJir] pu, ef pu heftJir hyggiandi ("Mut hast du, Hamdir, wenn du nur auch
zu applizieren wußten, die in den Texten selbst nicht intendiert waren, daraus Verstand hättest", V. 27).
resultierend ein Desinteresse am konkreten historischen Milieu, kurz gesagt: die Gelegentlich scheint die historische Realität dieses Schema sogar selbst zu liefern, - so in den
totale Unterwerfung der Texte unter die vorgegebene Theorie -, alles das ist eben beiden Hauptakleuren des italienischen Risorgimento, in Cavour und Garibaldi, augenfällig vorge-
auch ihr wesentlicher Mangel. 33 führt in zahlreichen Denkmälern: Cavour mit Embonpoint in Rednerpose stehend, Garibaldi hoch
Mißlungen scheint mir speziell Webers Versuch, die unleugbare Exorbitanz, zu Roß in Freischärlerhaltung. Und dieses Schema wirkt auch weiler bis in den modernen Western-
Maßlosigkeit und Unbesonnenheit manchen heldischen Verhaltens als ein bloßes und Kriminalfilm. Man denke an eine Femsehserie mit dem Titel "Ein Fall für Zwei" oder an den
"Wie", ein bloßes Akzidenz, abzutun und diesem dann das "Was", den angeb- Weslern, in dem James Slewart einen prinzipienfesten, etwas weltfremden jungen Advokaten
spielt, der beim Schußwechsel mit einem berüchtiglen Gangster heimliche Hilfe vom lebens- und
lichen "Wesenskern" des Helden, nämlich seinen Bezug auf ein kollektives
kampferfahrenen Sheriff John Wayne erhält, später dann als Gouverneur zu hohem Ansehen
Normensystem, gegenüberzustellen. Sicherlich gibt es nicht wenige Beispiele kommt, aber im Alter erfahren muß, daß sein Ruhm nicht etwa auf seiner sicherlich gemein-
"gemeinschaftsbezogener", der Ehre und dem Nutzen des Kollektivs dienender nützigen politischen Tätigkeit beruht. sondern allein aufder Heldentat, bei der ihm sein Mentor und
Helden, aber diese Eigenschaften teilt der Held in einem solchen Fall mit vielen Nebenbuhler einst geholfen hat: Er ist immer noch "The man, who shot Liberty Valance". Nicht die
anderen: mit Staatsmännern, Kolonisatoren, Entdeckern, Erfindern, Feldherren, sapientia der politischen Tätigkeit machle den Mann berühmt, sondern die fortitudo der frühen
während das, was nach Webers Meinung ein bloßes Akzidenz des Helden sein soll, Heldentat im heroie age des amerikanischen Weslens und hier wiederum nicht die - unbestreitbare
_ Gemeinnützigkeit der Tat, sondern der "exorbitanle" Wagemut, mit dem der junge, unerfahrene
eben das Spezifische, das ihm alle i n Zu kom m end e ist. Einige Male wird
Advokat für seine Überzeugung zu kämpfen bereit war (wobei die hier bewiesene Gesinnung
diese spezifisch 'heldische' Qualität noch dadurch profiliert, daß dem Helden ein sicherlich eine größere Rolle spielte als der tatsächliche Erfolg, der für die Außenslehenden
Freund und Kampfgenosse beigegeben ist, der zwar auch tapfer, vor allem aber - gänzlich unerwartele Ausgang des Duells).
anders als der Held - besonnen und vernünftig ist. Der Ilias-Dichter nennt die
Troer ausdrücklich "Dummköpfe" (vf)mOl), "denn dem Hektor stimmten sie zu, Daß Verstand und guter Rat in Wahrheit der Gemeinschaft dienlicher sein
der Schlechtes riet, I dem Pulydamas aber keiner, der guten Rat bedachte" können als kühner Heldenmut, weiß schon die Ilias: Es ist nicht die "kriegerische
(XVIII,3llff.). Doch nicht der verständige Warner gilt als der Held, sondern der Tat", sondern allein der "tüchtige Verstand", von dem Pulydamas - und durch
"wütende, rasende, feuergleiche" Hektor. Die Kombination von Weisheit und seinen Mund wohl auch der Dichter - erklären kann, daß er "vielen Menschen
Tapferkeit - geläufig in der Formel sapientia et fortitudn - entsprach wohl kaum, Nutzen bringt" (XIII,732f.). Auch sonst ist von alledem, was Weber für den
wie Ernst Robert Curtius meint, der "idealen Norm" des Helden. 34 AuffaIlig ist "Wesenskern" der heroischen Tat hält - von der Gemeinnützigkeit, von der
vielmehr die Tendenz, sapientia undfortitudo auf zwei Figuren zu verteilen und Restituierung einer kollektiven 'Ehre' (S. 462), vom Opfertod, der auch dem
dem Helden allein die fortitudo zu lassen. Schon in der Ilias gilt dies nicht nur für "gemeinen Mann" die Reziprozität bewußt macht (S. 465) -, in den Texten
Pulydamas und Hektor, sondern auch für Odysseus und AchiIl, der von sich selbst nirgendwo die Rede, nicht einmal vom Stolz einer Gemeinschaft, die sich in
"ihrem" Helden repräsentiert findet! Vielmehr ist der Heldenruhm - wie schon die
Hektor-Rede zeigt - allein auf den Helden selbst bezogen und daher frei von jeder
33 Zu ganz ähnlichen Einwänden gegen frühere Arbeilen WEBERS vgI. K. VON SEE, Mythos und Bindung an ein politisches, ethnisches oder soziales Kollektiv: Er ist ein KXEoS"
Theologie im skandinavischen Hochmiuelaller, Heidelberg 1988, und ders., skandinavistik 20 EUPU, ein "weiter, weitverbreiteter, d.h. räumlich unbegrenzter Ruhm".
(1990) Illff. Vgl. allgemein H. FROMM, Von der Verantwortung des Philologen, DVjs. 55 (1981) Die aumHlige "Unparteilichkeit" vieler Heldensagen hängt mit dieser Bin-
543-566, ferner W. SCHRODER, PBB 93 (1971) 416.
34 E. R. ÜJRTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mitlelalter, Bern 1948, S. 174ff. -
dungslosigkeit zusammen. In der Ilias finden sich 'nationale', d.h. parteiliche Züge
Auch der schweizerische Nationalheld Wilhelm Tell ist kein Repräsentant der sapientia ("Wär ich zwar in der Beschreibung der Heeresverbände, also des Volkes, dagegen bei den
witzig, hieß ich nicht der Tell"). Vielmehr gewinnt er seine spezifisch 'heldische' Qualität gerade 'Helden' gerade nicht! Von der Alboin-und-Turisind-Sage berichtet Paulus
dadurch, daß er kein Politiker, sondern ein affektiv handelnder Einzelgänger ist: ÄGIDlUS TSCHUDI in Diaconus, daß die Langobarden nicht nur die audacia, die provokative Verwegen-
seinem 'Chronicon Helveticum' rügt Teils Verhallen "als das nicht unbedenkliche Vorgehen eines
Einzelnen vor dem festgelegten Zeitpunkt", durch das er "das abgesprochene Vorgehen der heit, Alboins priesen, sondern ebenso auch die maxima fides, die übergroße
Bundesgenossen gefilhrdet". Vgl. J. R. V. SAUS in: Tell. Werden und Wandern eines Mythos, Bern/ Selbstzucht, die ihr Gegner, der Gepidenkönig Turisind, in der Wahrung seiner
Stuttgart 1973, S. 26, 28.
24 VON SEE Held und Kollektiv 25

Gastherrenpflicht bewiesen hatte (Hist. Lang. 1,24).35 Die Überlieferung der Entwicklung der Heldensage als einen "Prozeß im literarisch geschlossenen Raum".36 Aber was
Horatiersage soll sogar, wie Livius bezeugt, im Unklaren darüber gewesen sein, heißt hier "Privatisierung", da doch die frühe Zeit eine Unterscheidung von "öffentlich" und
"privat" gar nicht kannte? Jedenfalls entsprach eine Art "Personalisierung" durchaus dem vor-
welchen der beiden verfeindeten Völkerschaften, den Römern oder den Albanern,
modemen Geschichtsverständnis (und dies nicht nur in der Heldensage, sondern z.B. auch in der
die Horatier einerseits und die Curiatier andererseits denn eigentlich zuzuordnen Legende: Der hl. Nepomuk, der Widersacher König Wenzels im Kampf um die Unabhängigkeit
seien (Ab urbe condita 1,24). Und das Hildebrandslied, das Vater und Sohn untar der Kirche, wurde zur Legendenfigur erst dadurch, daß er als Beichtvater der Königin dem
herium tuem "zwischen zwei Heeren" aufeinandertreffen läßt, hält es nicht einmal mißtrauischen Ehemann den Verrat des Beichtgeheimnisses verweigert haben soll). Merkwürdig
für nötig zu erwähnen, um welche Heere es sich eigentlich handelt, obwohl im ist dazu noch das Vorurteil, Heldendichtung führe eher zur Enthistorisierung als ungeformte Sage,
übrigen die historisch-politische Situation sehr präzis erfaßt ist. denn gerade in der gebundenen Versform haben sich historische Reminiszenzen am ehesten
erhalten (z.B. Hild. 18: forn her OSlar giweit, floh her Olachres nid, Akv. 17: rosmofwll Rfnar,
Diese Tendenz zur Unparteilichkeit führt auf eine weitere Eigentümlichkeit
Hunn. 9: ci slo(Jom Danpar). Aber nicht nur dies, - vor allem Haugs "Gegenentwurf" selbst steckt
vieler Heldensagen: ihre extreme Wanderfreudigkeit, die sich wohl nur dadurch voller handfester Prämissen.3' Da ist zunächst die Behauptung, das Heldenlied der Frühzeit sei
erklären läßt, daß rür die Rezipienten im Stoff und Gehalt der Sagen etwas anderes überhaupt nicht mehr erschließbar, obwohl doch die ahd. und aengl. Bruchstücke und die reiche
wesentlich gewesen sein muß als irgendwelche Volks- und Stammestraditionen. anord. Überlieferung, dazu mehrere Prosareferate, die günstigsten Voraussetzungen zu seiner
Beispiele erübrigen sich, - erwähnt seien nur die gotischen und burgundischen Rekonstruktion bieten. Es mag sein, daß Heusler den zügig und sprunghaft erzählenden Atlakvillt·
Sagenstoffe im hohen Norden, die Beowulf- und die Walthersage in England und Typ gegenüber dem eher "episodischen" Typ des Hildebrandsliedes allzu rigoros verabsolutiert
schließlich die ebengenannte langobardische Alboin-Sage, von der Paulus Dia- hat - im großen und ganzen ist an der Richtigkeit der Rekonstruktion gar nicht zu zweifeln. Daran
schließt die weitere Prämisse, mündliche Heldenlieder habe es allenfalls in Form von oral
conus sagt, sie werde "noch jetzt bei Baiern, Sachsen und anderen Menschen ihrer
performaw::es, also als unfeste Improvisationsdichtung, gegeben. Schon ein flüchtiger Blick auf die
Sprache ... in deren Liedern gefeiert" (1,27). eddischen Heldenlieder zeigt aber, daß sie - obwohl unzweifelhaft oral poetry - auffällig frei sind
Leicht könnte sich hier das Mißverständnis einstellen, die politisch-ethnische von allen Formeln und traditionellen Versatzstücken, wie sie für mündliche Improvisation kenn-
Bindungslosigkeit sei gleichbedeutend mit einer apolitischen, ahistorischen Hal- zeichnend sind. Überhaupt scheint es, daß eben deshalb, weil der Held ein nicht problemloser
tung der Heldensage überhaupt, - ein Mißverständnis oder besser noch: ein Charakter ist und weil es mehr um Gesinnung als um physische Stärke geht, die Heldensagenfabel
Mißtrauen, das sich in noch stärkerem Maße gegen die Heuslersche These richtet, sich besser in bewußt gestalteter Dichtung als in ungeformter Prosa oder Improvisationsdichtung
realisieren läßt. Zumindest im germanischen Raum lassen alle überlieferten Liedtexte - vom ahd.
Heldensage sei in erster Linie Heldendichtung. Jedenfalls ist das modeme Interes-
Hildebrandslied bis zu den anord. HarnOismaI -erkennen, daß sie nicht irgendwelche zufällig aufs
se an ungefonnter, nicht-dichterischer oral tradition nicht zuletzt in der Furcht Pergament gespülte Versionen von oral performances sind, sondern sehr bewußt ausformuliene,
begründet, eine ästhetisch-literarisch orientierte Interpretation werde die politisch- sich vornehmlich in Rede und Dialog entfaltende und auf eine sinngebende "Idee" hin komponierte
soziale Lebenswirklichkeit verfehlen, in der die Heldensage steht. Schöpfungen.31 Damit ist sogleich schon die dritte Prämisse angesprochen: die Behauptung, daß
die "Verschriftlichung mündlicher Tradition" eine "prinzipielle Wende" bedeute - und zwar
So erklärt Walter Haug in einem forschungsgeschichtlich bedeutsamen Aufsatz, das
insofern, als erst jetzt "die Reflexion auf das historisch-kritische Bewußtsein" einsetze. 39 Wieder-
Heuslersche Modell "entpolitisiere" und "privatisiere" das historische Ereignis und verstehe die
um sind es die Eddalieder, die zeigen, daß es solche "Reflexion" bereits in verschiedenen Perioden
der mündlichen Tradition gibt. So entrückt die Atlakvilb, das ältere der beiden Atlilieder, die
Sagenhandlung in eine halbmythische Ferne und gibt ihr dadurch einen Zug von unheimlich-
zwanghafter Schicksalsgebundenheit, während die jüngeren Atlamäl sie in lokal begrenzte, quasi
35 Zur Alboin-und-Turisind-Sage O. GscHwAmUR, Versöhnung als Thema einer heroischen
Sage, PBB 97 (1975) 23~262. GscHWANItiR will in seiner sorgfllltig recherchierenden Untersu-
chung beweisen, daß der Zug Alboins ins Lager des Gegners nicht eine verwegene Mutprobe
gewesen sei, sondern eine Geste der Versöhnung: Alboin habe den Gepidenkönig gebeten, ihn als
"Waffensohn" zu adoptieren, um auf diese Weise ein Bündnis zwischen Langobarden und Gepiden 36 W. HAUG, Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf,
zu stiften. Die beigebrachten Parallelen zeigen aber, daß der "Waffensohn" immer der Besiegte ZfdA 104 (1975) 273-292, wiederabgedr. in: W. H., Strukturen als Schlüssel zur Welt, Tübingen
oder der Niederrangige ist und nicht - wie im Falle Alboins - der Sieger. Außerdem wird von der 1990, S. 277ff.
Gepflogenheit, daß der Töter an die Stelle des von ihm erschlagenen Sohnes tritt, um die ausgefal· 37 Vgl. dazu W. SamoDER, ZfdA 120 (1991) 250ff., fernerTH. M. ANoERSSON, Walter Haug's
lene Arbeitskraft zu ersetzen (S. 247: ganga i sonar statf), nur im bäuerlichen Norden und auch dort Heldensagenmodell, in: D. G. CALDER IT. CRAIG CHRISTY (Hgg.), Germania. Comparative Studies,
nur in jungen, schon "romantisch" gefarbten Sagas erzählt. Die beiden Institutionen der Waffen- Wolfeboro 1988, S. 127-141, der zeigen will, daß HAUG die Abweichung von HEUSLER stark
sohnschaft und der SohneserselZung sind also nicht kombinierbar, und daher läßt sich Alboins Zug überbetont, also mit seinem eigenen Modell wenig Neues bietet.
ins Gepidenlager nicht als Versöhnungsgeste interpretieren. Vielmehr scheint es, daß er die 38 Zum Verhältnis von Lieddichtung und danebenstehender Prosaüberlieferung ausführlicher
Institution der "Waffensohnschaft" (vgl. S. 238: in arlWl sibi eum adoptavit) bewußt "pervertiert", K. VON SEE [Anm. 5). S. 506f., 534f. Darüber, daß die mit Vorkenntnissen rechnenden Liedtexte
indem er sie dem Vater des von ihm Erschlagenen anbietet: Dar i n liegt der anmaßende, nicht unbedingt auf mündliche Erzählprosa schließen lassen, vgl. K. VON SEE, Germanische
herausfordernde Übermut Alboins, - bezeichnenderweise spricht ja Paulus Diaconus von audacia Heldensage, Frankfurt 1971,21981, S. l04ff.
und nicht vonfortitudiJ. 39 HAUG [Anm. 36], S. 285.
26 VON SEE Held und Kollektiv 27

großbäuerliche Verhältnisse stellen und mit volkstümlichen, genrehaften Zügen ausstatten. 40 Auch Aspekt" falle weitgehend aus: "Man bewegt sich im geschlossenen Zeitraum des
die allmähliche 'Anschwellung' vom Lied zum Kleinepos wird im Vergleich der 43strophigen Heroie Age."44 Das hört sich an, als zählten die heroie ages nicht zur Geschichte.
Atlalcvi~ mit den 105strophigen Atlamal sichtbar. Haugs wohlmeinender Vermittlungsvorschlag,
Dabei läßt sich ihr geschichtliches Milieu in politischer, sozialer und geographi-
die Eddalieder zu einem "Sonderfall" zu erlclären, indem er sie schon in die "Wende zur
Schriftlichlceit" stellt und außerdem mit der Übernahme einer "fremden poetischen Tradition" scher Hinsicht einigermaßen detailliert erfassen, - wenn auch eher in ideal-
rechnet, läßt sich aus a1tnordistischer Sicht leider nicht nachvollziehen, denn die Eddalieder lebten typischer Form und ohne Verbindlichkeit für den Einzelfall: Meist sind es Zeiten
schon zwei bis vier Jahrhunderte hindurch in der Mündlichkeit, bevor sie "verschriftlicht" wurden, der Loslösung von alten Wohnsitzen und Kultstätten, also Zeiten der Wanderung,
und von einer 'fremden' Tradition - um welche sollte es sich handeln? - ist nichts zu spüren.4 \ Am der kriegerischen Expansion, der Landnahme; günstig sind ihnen kleinräumig-
wunderlichsten ist schließlich die vierte der Haugschen Prämissen: die Annahme, daß die Helden- 'kantonal' gegliederte Landschaften, d.h. zerklüftete Gebirgs- und Küsten-
sage unter dem Einfluß "literarischer Schemata" entstanden und daß daher "das literarische gegenden, nicht selten Grenzgebiete mit Kulturmischungen; dominierend ist eine
Schema in gewisser Weise das Primäre" gewesen sei. 42 Woher sollen diese frei ventigbaren
kriegerisch-bäuerliche, viehzüchtende Aristokratie, während die staatliche Zen-
Schemata herangeflogen sein? Und auf welche Weise sollen sie entstanden sein? Sicherlich gibt es
eine starlce Tendenz zur Stilisierung - man denke etwa an die dreistufige Steigerung in der Art und tralgewalt fehlt, weit entfernt oder schwach entwickelt ist, daher Selbsthilfe, Fehde
Weise, wie Hjalli, Högni und Gunnarr in der AtIalcvi~ihren Tod bestehen -, aber ein Blick auf das und Blutrache eine große Rolle spielen. 45 In diesem Milieu etabliert sich der Typ
Gesamteorpus der germanischen Heldensage zeigt, daß es zumindest in der frühen Phase erstaun- des 'Helden' und der 'Heldensage', den die jeweils folgenden Zeiten tradieren und
lich frei ist von WandermOliven und Szenenklischees. weiterentwickeln, immer wieder aktualisieren und dabei mit neuen 'Funktionen'
Haug will die Heusiersehe "Autonomie und Geschlossenheit der literarischen ausstatten: So sollen die anord. BjarkanuH - epigonal in der Outrierung des
Sphäre" aufbrechen und "die Heldenepik in ihrer konkreten geschichtlichen Funk- Heldenideals durch die Herauskehrung des ridens-moriar-Motivs - offenbar dazu
tion ernst nehmen", aber er selbst argumentiert eminent "innerliterarisch": Immer dienen, die Aristokratie auf die Unbedingtheit der Gefolgsmannenpflicht gegen-
wieder werden Sagenfabeln auf gemeinsame Strukturmuster zuruckgetrimmt, wo- über dem Königtum einzuschwören, während sich die anord. HamOismal bereits
bei die Vergleiche ihre Plausibilität nicht so sehr aus der konkreten geschichtli- kritisch mit dem heroischen Ethos auseinandersetzen, indem sie seine Wider-
chen Erscheinungsform des jeweils Verglichenen beziehen als vielmehr aus der sinnigkeit, seine das natürliche Gefühl vergewaltigende Starre demonstrieren. 46
vorausgesetzten Richtigkeit des StrukturmodelIs: Auf diese Weise wird der In peripheren Räumen vermag sich sogar bis ins 20. Jahrhundert hinein ein
Wunderkessel im Mabinogi von Branwen zu einem "Herrschaftssymbol" allein vorstaatliches Milieu zu konservieren, das zumindest ansatzweise immer noch den
deshalb, weil er angeblich am gleichen Platz im Strukturmodell steht wie der alten Heldentyp hervorbringt, so in der inneren Bergwelt Sardiniens den juori-
Nibelungenhort der Burgundensage. Außerdem wird nicht deutlich, auf welche /egge, den man nicht zu Unrecht mit dem isländischen Greuir des I I. Jahrhunderts
Weise mit Hilfe solcher Strukturmodelle eine konkrete geschichtliche Verbind- verglichen hat.47 Gelegentlich können sich unter historischen Ausnahmebe-
lichkeit der Heldensage hergestellt werden könnte. Im Gegenteil: Man hat den dingungen auch Zustände regenerieren, die dem heroie age ähneln: So führen die
Eindruck, daß sich die Burgundenkönige weniger mit der rauhen Wirklichkeit der Partisanenkämpfe auf dem Balkan während des Zweiten Weltkrieges zu einer
Völkerwanderungszeit herumzuschlagen hatten als mit den Finessen des Haug- Wiederbelebung der alten serbokroatischen Heldenliedtradition. 48 Und es kann
sehen StrukturmodelIs: So "gelingt es den Burgunden zwar", der "Gesetzlichkeit" schließlich noch im Ambiente einer modernen Materialschlacht spezielle Situatio-
des invertierten Brautwerbungsschemas "noch einmal zu entgehen", doch das nen geben, die den 'individualistischen' Heldentyp reaktivieren, so im Ersten
Haugsche Modell kennt kein Pardon, denn bald darauf schon "greift das Schema Weltkrieg die Fliegerei, ein quasi-aristokratisches, militärisch eigentlich überflüs-
mit ganzer unerbittlicher Konsequenz". Von der "Gesetzlichkeit" und "Mechanik" siges Kriegsspiel, das aus den Luftkämpfen homerische Aristien macht.
der Schemata ist ständig die Rede, und man ist schon froh, in dieser papiernen
Welt einmal das Wort "Vasallenthematik" zu hören, um wieder an eine historische 44 HAUG [Anm. 36], S. 312f. HAUGS Kritilc ist um so merkwürdiger, als in seiner eigenen
Wirklichkeit erinnert zu werden. 43 Theorie die "weitere Entwicklung" zu einem "innerliterarischen Vorgang" im HEUSLERschen Sinne
Allerdings hindert dies nicht, daß Haug meinen Heldensagen-Interpretationen - wird, gekennzeichnet durch die "Eigengesetzlichkeit des Erzählens". S. 320.
45 Ausführlicher VON SEE [Anm. 5]. S. 178ff. Vgl. auch allgemein C. M. BoWRA, The Meaning
ähnlich wie den Heuslerschen Thesen - den Vorwurf macht, "der geschichtliche
of a Heroic Age, in: ders., In General and Parlicular. London 1964. S. 63-84.
46 VON SEE [Anm. 5], S. 274.228. 257f., 537.
40VON SEE [Anm. 38], S. 54f., 134ff. 47 B. HEIDERlCH, Das Banditenwesen im Inneren Sardiniens. Zs. f. vergl. Rechtswissenschaft
4\W. HAUG in: Idee-Gestalt-Geschichte. Festsehr. Klaus von See, Odense 1988. S. 150, 67 (1965) 189-202.
Anm.9. 41 M. BRAUN. Das serbolcroatische Heldenlied, Göttingen 1961, S. IlOf. Vgl. auch G.
42 HAUG [Anm. 36], S. 281, 292. GESEMANN, Heroische Lebensform. Zur Literatur und Wesenslcunde der ballcanischen Patri-
43 HAUG [Anm. 36], S. 316. Anm. 31,319.321. archalität, Berlin 1943.
r-

28 VON SEE Held und Kollektiv 29

Mit dem Ende des heroic age und dem Aufkommen politisch und militärisch die Römer den Begriff des 'Helden' nicht - heros ist ein Lehnwort aus dem
durchorganisierter Staatswesen verliert der Held seinen eigentlichen Lebens- Griechischen -, und auch eine eigentliche Heldensage haben sie nicht hervorge-
hintergrund, - er überlebt zwar, wie eben angedeutet, diese Veränderungen in bracht: Mucius Scaevola ist - wohl nicht zufällig - ein leidender Held, der das pati
vielfältiger Weise, aber er wird doch, aufs Ganze gesehen, ein Unzeitgemäßer. Das fortia als römische Tugend demonstriert, die Horatier-Sage noch in Jacques Louis
gilt flir den alternden Western-Helden ebenso wie für den Freiherm v. Richthofen, Davids 'Schwur der Horatier' ein Exempel vaterländischer Opferbereitschaft und
und am deutlichsten wird dies schon in der griechischen Antike. Im Schlagwort Mannschaftsdisziplin und Vergils Aeneas kein griechischer Heldenjüngling, son-
vom "ehrenvollen Tod fürs Vaterland", zuerst bezeugt in einer Elegie des Kallinos dern ein verantwortungsbewußt handelnder, reifer Mann, pius Aeneas, pater
aus dem 7. Jahrhundert vor Chr., scheint die Gemeinschaftsbezogenheit des Hel- Aeneas. 51 Dazu paßt, daß der römische 'Ruhm', die gloria, anders als das räumlich
den, die Verbindung von Heroismus und Patriotismus, ihren prägnantesten Aus- unbegrenzte KAlOS. durchweg auf die Gemeinschaft und deren Nutzen bezogen
druck gefunden zu haben. Aber das Schlagwort ist nicht in der aristokratisch- und der 'Triumph' als dessen höchster Ausdruck eine von Staats wegen verordnete
heroischen Welt Homers zu Hause - selbst Hektor spricht darüber mit geringerer Institution ist. 52 Und aus dem Römischen stammt schließlich auch der Spruch, der
Emphase (XV,496) -, sondern es stammt erst aus dem republikanischen Geist der die Gemeinschaftsbezogenheit des Kriegertodes und des Kriegerruhmes auf eine-
Polisdemokratie, und bezogen ist es daher nicht auf den 'Helden', sondern auf den zumindest für heutiges Empfinden - geradezu anstößige Weise anzupreisen
wehrpflichtigen Polisbürger.49 Der politischen Egalisierung entspricht die militäri- scheint, der berühmte Horaz-Vers: Dulce et decorum est pro parria mori. 53
sche: Die endgültige Ausbildung der Hoplitenphalanx verlangt nach einer neuen,
auf das Kollektiv bezogenen Kriegermoral. Nicht mehr die Ruhmbegierde des *
heroischen Einzelkämpfers ist gefragt, sondern der Gemeinschaftsgeist und die
Solidarität des in den Schlachtreihen mauergleich zusammengeschlossenen Gerade dieser Horaz-Vers nun mitsamt der Vorstellung vom "süßen Tod fürs
Truppenverbandes. 50 Perikles in seiner berühmten - von Thukydides überlieferten Vaterland" erlebt im 18. Jahrhundert, in der Zeit des wachsenden National-
- Totenrede beurteilt den Einsatz und den Tod des Kriegers daher allein nach bewußtseins, eine erstaunliche Resonanz und beeinflußt dabei auch das modeme
dessen konkreter Leistung für das Gemeinwesen: Auch Männern, die sonst wenig Bild des 'Helden'. Deutlich macht sich hier zugleich der republikanisch-bürgerli-
taugen, solle man ihre "im Krieg für das Vaterland bewiesene Mannhaftigkeit che Ursprung dieser antiken Vorstellung bemerkbar: Thomas Abbt jedenfalls in
zugute halten" (Thuk. II,42). Den Kriegertod bezeichnet er als lpavos, eigentlich seiner Abhandlung 'Vom Tode für das Vaterland' (1761) meint eigens beweisen
so etwas wie "Vereinsbeitrag", für den der Tote den "Ruhm empfange" (II,43),- zu müssen, daß die Bereitschaft zur "Aufopferung unsers Lebens, welche das
sozusagen als >-i'j\1a "Gewinnanteil". Platon wendet diese Vorstellung geradezu ins Vaterland zuweilen fordert", nicht nur für Republiken gelte, sondern auch für
Frivole, wenn er Sokrates im 'Menexenos' sagen läßt, der Kriegertod könne schön Monarchien, denn auch in Monarchien könnten sich die Angehörigen aller Stände
sein, weil manja Lob ernte, selbst wenn man ein Taugenichts gewesen sei (234c). "unter dem vormals so herrlichen Namen eines Bürgers darstellen".54 Held und
Das alles macht deutlich, daß in der - auf wechselseitige Gemeinschaftspflichten Heldentum verbinden sich von jetzt ab mehr und mehr mit der Vorstellung des
eingestellten - Polis-Ideologie irgendein heroisches Charisma, eine vom Helden 'Vaterlandes' und werden eben dadurch auch mehr und mehr zum Ausdruck
ausgehende Faszination, keinen rechten Platz mehr hat. ausschließlich positiver Werte, die Kriegstoten als Vaterlandshelden zum Gegen-
Dieselbe - sozusagen republikanische, gemeinschaftsbezogene - Vorstellung stand geradezu kultischer Verehrung. Schon Abbt zitiert eines der frühesten Zeug-
vom Kriegertod und Kriegerruhm findet sich auch bei den Römern. Auch hier
bedeutet die geschlossene Phalanx mehr als der verwegene Einzelkampf.
Homerisches Heldentum ist der römischen Mentalität ohnehin fremd, kriegerische SI VON SEE [Anm. 33], S. 58ff., PH. BORDES in: Triumph und Tod des Helden [Ausstellungs-

Tätigkeit nichts anderes als durus labor. Selbst gefährliche Schlachtsituationen katalog]. Zürich 1987, S. 112f.
52 Zur gloria: U. KNOCHE. Der röm. Ruhmesgedanke, in: ders., Vom Selbstverständnis der
werden mit beherrschter Sachlichkeit erlaßt: res ad triarios venit. Daher kennen Römer, Heidelberg 1962, S. 13-30, bes. S. 20.
53 Zu den Bemühungen, den Spruch und darin zumal das befremdliche dulce zu "entschärfen",
vgl. H. HOMMEL, Dulce et decorum ..., Rhein. Museum N.F. 111 (1968) 219-252. D. LOHMANN.
Dulce et decorum [...], in: Schola Anatolica. Freundesgabe für H. Steinthai, Tübingen 1989, S.
49 C. W. MÜllER, Der schöne Tod des Polisbürgers. Gymnasium 96 (1989) 317-340. R. 336-372, versucht - kaum recht überzeugend -, die Anstößigkeit vollends zu beseitigen, indem er
LEIMBACH, Kallinos und die Polis. Hermes 106 (1978) 265-279. den Spruch aus dem epikureischen Geist des Dichters als Ironisierung pueriler Phantasien mit
50 Die herkömmliche. von LATACZ [Anm. 31] prinzipiell kaum erschütterte Ansicht zum Tyrtaios- und Pindar-Reminiszenzen deuteL
"Phalanx-Problem" bei M. P. NILSSON. Die Hoplitentaktik und das Staatswesen, Klio 22 (1929) 54 TH. ABBT, Vom Tode für das Vaterland. 2. Ausg., Frankfurt/Leipzig 1783. S. 20. Die
240-249, bes. S. 245. folgenden Zitate S. 130,68.
30 VON SEE Held und Kollektiv 31

nisse der Schwännerei rur den vaterländischen Heldentod - Ewald von KIeists nützigkeit, Verzicht auf Lebensgenuß - ihre bürgerlich-puritanische Herkunft
"Wie gern sterb' ich ihn auch, den edlen Tod" -, und ebenso spricht er schon verraten, akzeptiert es Burckhardt ohne Bedenken, daß sein 'großes Individuum',
davon, daß die Schlachtfelder von Zomdorf und Kunersdorf "unsern Nachkom- der homerische Held ebenso wie der Renaissancemensch, an das kollektive
men heilig seyn müssen". Etwa ein Jahrhundert später, am 19. N~vember 1863, Normensystem nicht gebunden ist: Man billige ihm, heißt es, eine "merkwürdige
weiht dann Lincoln einen Soldatenfriedhof - den ersten überhaupt - auf dem Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz" zu, "das offene Gewähren-
Schlachtfeld von Gettysburg ein: 'The brave men living and dead who struggled lassen seiner Leidenschaften [...], weil man ahnt, daß in ihm der ganze Lebens-
here, have consecrated it".55 Auch in Europa werden seit dem Ersten Weltkrieg prozeß viel heftiger und gewaltiger vor sich gehe als bei den gewöhnlichen
eigene Soldatenfriedhöfe als 'Heldenhaine' angelegt, und 1934, bereits ein Jahr Naturen.''60 Ganz herausgelöst ist der 'Held' dann erst bei Nietzsche. Er selbst
nach der 'Machtergreifung',läßt die NS-Regierung auf Veranlassung des 'Volks- sieht sich als Philoktet, als einsamer 'Held', der weiß, daß seine Stunde kommen
bundes für KriegsgräberfÜfSorge' das Wort 'Volkstrauertrag' durch 'Helden- wird: "Ohne meine Pfeile wird kein Dion erobert!''61 Das "Volk" ist daher für ihn
gedenktag' ersetzen.56 nichts anderes als "der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben großen Männern
An Kollektive gebunden sind die 'Helden' zunächst auch noch auf einer ganz zu kommen".62 Und im Gefolge Nietzsches hebt der George-Kreis den "grossen
anderen Ebene, nämlich dort, wo sie seit Beginn des 19. Jahrhunderts in ge- menschen", den "heros", schließlich in den geradezu sakralen Rang eines
schichtsphilosophischen Entwürfen auftreten: als 'Great Men' bei Carlyle, als "Kulturheilandes": Ihm komme, wie Friedrich Gundolf 1911 schreibt, "nach dem
'Representative Men' bei Emerson, als 'große Individuen' bei Burckhardt. In zerfall der ökumenischen einheiten Reich und Kirche" die Aufgabe zu, eine neue
Thomas Carlyles Vorlesungen 'On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in "synthese" zu vollziehen, "in sich" die verlorene "kultureinheit" wiederherzustel-
History' (1840) sind die Verehrer des Helden nicht minder wichtig als der Held len und "um sich her kultur zu schaffen", zum "binder und bildner" zu werden.
selbst. Heldenverehrung wird zum gemeinschaftskonstituierenden Prinzip der Dabei zählen die "vielen einzelwesen" für solche "gotthaften, gotthaltigen mitten"
Weltgeschichte schlechthin: "Society is founded on Hero-Worship".57 Von nur als "stoff und werkzeug", denn "erst von ihnen aus und durch sie" gewinnen
Carlyle inspiriert ist Ralph Waldo Emerson, der die 'great men' - speziell vom die Vielen ihren "sinn und wert".63
Standpunkt eines gerade entstehenden amerikanischen Kulturbewußtseins aus - Gemeinsam ist all diesen 'heroischen' Geschichtsvorstellungen von Carlyle bis
als "Non-Konformisten", als Befreier von erstarrten Gesellschaftszuständen und zum George-Kreis, daß sie mehr oder minder "unzeitgemäß" sein wollen: Gegen-
überlebten Bildungstraditionen sieht "Let us [...] wake Thor and Woden, courage entwürfe gegen den demokratischen, gleichmacherischen Geist der Zeit und gegen
and constancy, in our Saxon breasts," heißt es im Essay 'Self-Reliance' und die modeme Zivilisation insgesamt. Carlyle vernimmt bereits die "cries of
erläuternd dazu im 'Heroismus' -Essay (1841): "To this military attitude of the soul Democracy, Liberty and Equality" und fUrchtet, "that in these days Hero-Worship
we give the name ofHeroism."58 An Carlyle erinnert auch Jacob Burckhardt, wenn
er erklärt, daß "die als Ideale fortlebenden großen Männer [...] einen hohen Wert
für die Welt und für ihre Nation insbesondere" haben: "Sie geben denselben ein 60 J. BURCKHARDT [Anm. 59], S. 186f. (= S. 401). Vgl. dazu das Kap. 'Der heroische Mensch'
Pathos, einen Gegenstand des Enthusiasmus."59 Während allerdings die Carlyle- in der Griech. Kulturgeschichte (Gesamtausg.. 11. Bd.), Stuugart/BerlinJLeipzig 1931, S. 23-59,
sehen 'Helden' in manchen ihrer Charakterzüge - Aufrichtigkeit, Uneigen- bes. S. 32.
61 Nietzsches Briefwechsel mit Heinrich v. Stein zeigt, wie sehr beide Briefpartnef in
heroischen Bezügen denken: Nietzsche, der sich mit Steins "heroischer Grundstimmung" verwandt
fühlt- "Endlich, endlich ein neuer Mensch, der zu mir gehön" -, spricht am 18.9.1884 von seinem
55 Die berühmte 'Gel.tysburg Address' in: A. LINCOLN, His Speeches and Writings, ed. by R. P. "Philoktet-Glauben". Darauf antwonet Stein am 1.12.1884, daß er diesen Glauben teile, aber er
BASLER, ClevelandlNew York 1946, S. 734ff. fügt hinzu: "Glaubt NeoplOlemos darum weniger, daß der tot eHe I d den größten Anteil an der
56 C. BERNING, Vom 'Abstammungsnachweis' zum 'Zuchtwart'. Vokabular des Nationalsozi- Eroberung Trojas habe?" (H. v. Sn:/N, Idee und Welt, hg von G. RAus, Stuugartl940, S. 160, 163,
alismus, Berlin 1964, S. 104. Vgl. auch G. L. MOOSE, Soldatenfriedhöfe und nationale Wieder- 169). Der "lOte Held" ist Achill, und mit ihm ist- sicherlich zum Mißvergnügen NielZSChes - kein
geburt. Der Gefallenenkult in Deutschland, in: K. VONDUNG (Hg.), Kriegserlebnis, Göttingen 1980, anderer als der im Jahr zuvor verstorbene Richard Wagner gemeint.
S.241-261. 62 FR. NIETZSCIIE, Werke, hg. von K. SCHLEOITA, Bd. 2, München 61969, S. 633. Nietzsche
57 The Works ofTHOMAS CARLYLE, Vol. V, London 1897, S. 12. Vgl. allgemein F. BRIE, Helden bespöttelt daher auch den Carlyleschen "Heroen-Kultus", S. 1101.
und Heldenverehrung bei Thomas Carlyle, Universitas I (1946) 202-224. 63 FR. GUNDOLF. Vorbilder, in: Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hg. von
S8 R. W. EMERSON, Essays, New York 1951, S. 52, 177, ferner 33, dazu 59 die Polemik gegen G. P. LANDMANN, Stullgart 21980, S. 173-186, Zitat 177f. Zur Einstellung des George-Kreises vgl.
die europäischen Bildungsreisen. Vgl. allgemein J. O. MAcCORMlCI:, Emerson' s Theory of Human auch F. WOLlERS, Vom Geist und Leben der Germanischen Heldendichtung, ebdt. S. 312-325. mit
Greatness, The New England Quarterly 1953, S. 291-314. dem Schlußwon, daß heute, im "Alter der Maschine und Zeitung", nur im Dichter "der HeldengeiSl
59 J. BURCKHARDT, Weltgeschichtl. Betrachtungen (Gesamtausg. 7. Bd.), Berlin/Leipzig 1929, sich drohend gegen die Widerwelt heben" könne; "Ich bin gesandt mit fackel und mit stahl ..." (wie
S. 190 (= J. B., Über das Studium der Geschichte, hg. von P. GANZ, München 1982, S. 4(4). zu erwarten, ein George-Zitat).
32 VON SEE Held und Kollektiv 33

[...] professes to have gone out", Burckhardt meint, daß "sich das vorherrschende Müller, der 1940 über "das griechische und das nordische Heldenideal" spricht,
Pathos unserer Tage, das Besserlebenwollen der Massen, unmöglich zu einer kennt als Pendant im Zweiten Weltkrieg nur das "Ausharren der todesbereiten
wahrhaft großen Gestalt verdichten" könne, und Nietzsche schließlich möchte es Kämpfer von Narvik", und er zitiert dazu "einen unserer Generale" mit den
Napoleon, "dieser Synthesis von Unmensch und Übermensch", als Verdienst Worten: "Wir wissen nichts von Heldentum, wir tun nur unsere Pflicht.''68
zurechnen, "daß der Man n in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Trotz solcher Hemmung, das Wort 'Held' im konkreten Einzelfall zu verwen-
Philister geworden ist; vielleicht sogar über 'das Weib' [... ]"64 Einen pointiert den, spielt es - wie gesagt - in der NS-Geschichtsideologie gleichwohl eine
politischen Akzent erhält diese 'heroische' Geschichtsauffassung - als Gegen- zentrale Rolle. "Held und Volk", schreibt Julius Petersen 1934, seien "zwei Worte
position zum westeuropäischen 'Rationalismus' - spätestens in der NS-Zeit. Zu- des Glaubens", die "der Weckruf unserer Zeit vereint" habe, die aber "in materia-
grunde liegt eine schon aus der schockierenden Erfahrung des Ersten Weltkrieges listischer Weltanschauung geradezu als Gegenpole angesehen werden konnten.''69
gewonnene Ideologie, die den Geschichtsverlauf geprägt sieht von einer ständigen Ebendies ist bemerkenswerterweise nicht richtig: Denn nicht nur im Nationalsozi-
Auseinandersetzung des Eigenen mit dem Fremden, einer ewigen Abfolge von alismus, sondern auch in den kommunistischen Gesellschaften sind Held und Volk
Situationen der Bedrohung und des Überstandenhabens. Weder im christlichen "vereinte" Worte: Gerade dort treibt man - bei allem Kollektivismus - den
'Heilsplan' noch im materialistischen 'Fortschritt' sucht man den Sinn der Ge- Personenkult so sehr auf die Spitze, daß der 'Held' sogar zum offiziell verliehenen
schichte, sondern allein in der Formung eines Menschentums, das sich immer Titel avanciert -, und zwar befreit von allen herkömmlichen Konnotationen und
wieder dem unerbittlichen 'Schicksal' stellt und sich noch im Untergang durch die nur noch verstanden als idealer Repräsentant des Volkes und des gesellschaftli-
heroische Tat "bewährt". Die seinerzeit vielzitierte Hitler-Sentenz "Wer ein Volk chen Fortschritts. Den psychisch komplizierten, dekadenten Roman- und Drarnen-
retten will, kann nur heroisch denken", ist ein präziser Ausdruck dieser Ge- helden der westeuropäischen Literaturen ersetzt man durch den klassenbewußten
schichtskonzeption. 65 'positiven Helden', der unbeirrt und von keinen Zweifeln angekränkelt - da es ja
In der Lebenswirklichkeit des Krieges war der 'Held' allerdings längst zum "im Sozialismus keine ökonomischen Krisen geben kann" - im Sinne seiner
Anachronismus geworden. Schon im Ersten Weltkrieg ist 'Heldentum' für Ernst sozialistischen Ideale denkt und handelt. 7o In der Literaturkritik der DDR wird der
Jünger nur noch eine bourgeoise Phrase, denn aus dem Elementarerlebnis der sog. 'positive Held' allerdings schon bald - gegen Ende der 50er Jahre - zum
Materialschlachten sieht er einen ganz neuen Menschentyp hervorwachsen: den Gegenstand der Diskussion und Kritik, weil seine Faszinationslosigkeit unüber-
"eisenbeladenen Tagelöhner des Todes", den "Krieger", dessen "Arbeit" das sehbar ist. 71 Die Subaltemität teilt dieser literarische 'Held' mit dem 'Helden' der
Töten ist. 66 Das Ideal der Zeit ist nicht mehr der nach eigenen Verhaltensregeln, oft realen Arbeitswelt. Daß die Begriffe 'Held' und 'Arbeiter' mehr und mehr zusam-
subjektiv-irrational handelnde 'Held', sondern der hart und entschlossen, aus menwachsen, wurde schon angedeutet: Wie der kriegerische Held zum' Arbeiter'
strengem Mannschaftsgeist handelnde Kämpfer. 67 Der Altphilologe Friedrich wird, so der Arbeiter zum 'Helden'. Denn nicht nur der Umgang mit den Maschi-

64 CARLYLE [Anm. 57], S. 12, BURCKHARDT [Anm. 59], S. 191 (= S. 405), NIETZSCHE [Anm. 62], 68 Mannesturn und Heldenideal, Marburg 1942, S. 4. In der Einleitung zu diesem Vortrags-
S.797,236. zyklus der Universität Marburg 1940 schreibt der Historiker THEODOR MAVER. ein strammer NS-
6S Vgl. etwa E. KRIECK, Germanische Grundzüge im deutschen Geschichtsbild, HZ 159 (1939) Sympathisant: "Für uns gibt es heute nur das Ideal des Volksgenossen, dessen Rechte und Pflichten
524-537. In der Art und Weise, wie man sich die kollektive Bindung des Helden vorstellt - in der sich aus seiner organischen Eingliederung in die Gemeinschaft ergeben." MAYERS Versuch, in
Trennung von "Wie" und "Was" -, gibt es genaue Vorwegnahmen der von mir kritisierten dieses NS-Volksgenossen-Ideal das "urzeitliche" Heldentum einzubinden, bleibt reine Rhetorik (S.
'Reziprozitätstheorie'. So heißt es bei W. PIcHr, Die Wandlungen des Kämpfers, Berlin 1938, S. VIII).
45: "Mag der Held das Seine suchen - seine Taten sind ungewollt ein Geschenk an die Volks- 69 J. PETERSEN, Held und Volk in Schillers Drama,Zs. f. Dt Bildung 10 (l934) 577-591, Zitat
gemeinschaft, die sich in ihm geehrt und erhöht fühlt und sich an seinem Bilde steigert." Die S.577.
Kombination von Heldentum und Führerturn äußert sich in Vorträgen wie W. KEuEt, Carlyle und 70 W. DREHER, Der positive Held historisch betrachtet, Neue deutsche Literatur 10 (l962) 81-
der Führergedanke, Zs. f. franz. u. engt. Unterr. 33 (l934) 137-153, früher schon A. SCffiJLTEN, 91, Zitat S. 90.
Held und Volk (Erlanger Universitäts-Reden 2), Erlangen 1928: "Der Held kann sein Volk aus 71 Das Ostberliner Kabarett 'Die Distel' führt 1960 die folgende Szene auf: Ein ausführliches
tiefer Not zur Größe führen [...] Wann aber wird der Held kommen?" (S. 14, 22). Referat, vor Betriebsangehörigen gehalten, wird dadurch gestört, daß sich unter den Lauschenden
66 E. JüNGER, In Stahlgewittem, Berlin 51924, S. VIII, vgt. S. 210; ders., Feuer und Blut, Berlin leise das Gerücht verbreitet, im Konsum gebe es Kalbsleber zu kaufen. Nach und nach schleichen
1929, S. 38: "Unsere Arbeit heißt töten, und es ist unsere Pflicht, diese Arbeit gut und ganz zu tun." sich alle Versammlungsteilnehmer fort, um einzukaufen. Bald ist nur noch ein unscheinbarer Mann
67 Vgt. K. VON SEE, Politische Männerbund-Ideologie von der Wilhelminischen Zeit bis zum übrig, der erst dadurch auffällt, daß er brav und ergeben als einziger sitzen bleibt. Als der
Nationalsozialismus, in: Männerbünde-Männerbande. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, schließlich resignierende Referent den reglos Dasitzenden fragt, warum er nicht auch in den
Bd. I, Köln 1990, S. 93-102, 347; ders., Das Nibelungenlied -ein Nationalepos?, in: J. HE!NzLE/ Konsum gehe, bekommt er die Antwort: "Ich bin in dieser Szene der positive Held." - Vgl. E.
A. WALDSCHMIDT (Hgg.), Die Nibelungen, Frankfurt 1991, S. 43-110, bes. S. 85ff.: In der BRAEMER, Problem 'Positiver Held', Neue deutsche Literatur 9 (l961) 41-65, CHR. BERGER. Der
Nibelungenrezeption tritt Hagen als Vorbildfigur an die Stelle Siegfrieds. Autor und sein Held, (Ost-}Berlin 1983, S. 3lff.
Po

34 VON SEE Held und Kollektiv 35


nen gerade in der Frühphase der Industrialisierung gibt Möglichkeiten zur totalitären Macht auf das Prestige des Helden."7s Kann man aber heute noch - mit
Heroisierung des Arbeiters - man denke an Menzels 'Eisenwalzwerk' -, sondern Reinhardt - an die Möglichkeit glauben, daß der 'Held' als eine "abendländische
vor allem der revolutionäre Kampf. Marx heroisiert die im Barrikadenkampf Form" menschlicher Selbstbewußtheit, Belastbarkeit und Selbsterkenntnis zu ret-
gefallenen "Männer, Weiber und Kinder" der Pariser Kommune 1871, da er ten sei? Sollte hier mehr gemeint sein als eine Art Geistesaristokratismus ("Bei
diesem Phänomen - einer "Stegreif-Inszenierung, die aus dem Raster der meiner Liebe und Hoffnung beschwöre ich dich: wirf den Helden in deiner Seele
Marx'schen Eschatologie fiel" - mit ökonomischen Kategorien nicht beikommen nicht weg!"), sollte der Held also mehr sein als eine bloße Metapher, so wird man
kann,n der Anarchokommunist Fürst Kropotkin will durch eine imitatio heroica, feststellen müssen, daß es in der Gegenwart kaum noch angemessene Lebens- und
durch bewaffneten Gewaltakt "selbständig denkender, entschlossener Minderhei- Aktionsräume für Helden gibt. Den Beweis liefern - halb unfreiwillig - Film-
ten", die neue Gesellschaft heraufführen,73 und Maxim Gorki heroisiert schließlich helden wie James Bond, der sich an Hotelbars und Swimmingpools tummelt, oder
die Arbeit selbst, indem er 1934 als Leitbild der Sowjetmenschen und zugleich als der halbnackte Rambo, der im Dschungel mit Pfeil und Bogen gegen Helicopter
Gegenbild zum unterdrückten Arbeiter der kapitalistischen Gesellschaft den "Hel- kämpft.76 Daß der 'Individualismus' des Helden, seine Eigensinnigkeit und seine
den der Arbeit" kreiert, - sozusagen das Nonplusultra in der Erfüllung des kollek- Verweigerung der Nützlichkeit, in die Gefahr geraten kann, nur noch als exzentri-
tiven Normensystems. Ein Jahr darauf schon wird dem Grubenarbeiter Alexej sche Narrheit wahrgenommen zu werden, wußte schon Erich Kästner, als er "nach
Stachanow dieser Titel für die "Heldentat" verliehen, die tägliche Arbeitsnorm um einer wahren Begebenheit" über den Turner dichtete, der einen "Handstand auf der
1400 Prozent überboten zu haben. Die DDR folgt dem sowjetischen Vorbild: Loreley" machte:
erster Titelträger wird hier der Steinkohlenhäuer Adolf Hennecke, der die Norm
um 380 Prozent überbietet. Eine Dokumentation vom Jahre 1951, die ungewollt Man frage nicht: Was hatte er für Gründe?
die trostlose Banalität dieser "Helden unserer Zeit" offenbart, nennt "drei unerläß- Er war ein Held. Das dürfte wohl genügen.
liche Voraussetzungen" für die Titelverleihung: "I. Leistung, 2. Leistung, 3. Und Kästner wußte auch, daß der eigentliche Held meist ein toter Held ist und daß
Leistung".74 in der Aura seines Ruhmes kein Platz ist für die Interessen irgendeines Kollektivs:
PS. Eines wäre allerdings noch nachzutragen:
* Der Turner hinterließ uns Frau und Kind.
Sind die Tage des 'Helden' endgültig gezählt? Ist die Politisierung und Hinwiederum, man soll sie nicht beklagen,
Kollektivierung des Heldenbegriffs die letzte Station seiner langen Geschichte? Weil im Bezirk der Helden und der Sagen
Sicherlich ist Karl Reinhardt im Recht, wenn er in solcher Einvernahme einen Die Überlebenden nicht wichtig sind.
Angriff auf das Eigentliche des Helden - seine Eigenständigkeit - sieht: "Der Ruf
Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Klaus von See
nach dem positiven Helden, unter Hitler wie in Rußland, ist der Anschlag der Schumannstr. 53
W~ Frankfurt/M. I (0-60325 Frankfurt)

72 Pariser Kommune 1871, Bd. 2 [Texte vonJ Marlt, Engels, Lenin und Trotzki, hg. von D. M.
SCHNEIDER, Reinbek 1971, S. 39ff. Zitat: M. NAUMANN, Strukturwandel des Heroismus, Königstein
1984,S. 50.
73 PirrER KRoPOTKIN, Worte eines Rebellen, Reinbek 1972. Vgl. M. NAUMANN [Anm. 72J, S.
41fT.
74 Helden der ArbeiL Aus dem Leben und Wirken der Helden unserer Zeit [hg. von G.
GRÜNBERG], (Ost-)Berlin 1951, S. 42. Nicht verwunderlich ist es, daß sich die linientreue DDR-
Gennanistik in ihren Thesen zur gennanischen Heldensage an diesem kollektiv gebundenen
'positiven' Heldenbild orientiert: K. H. IHLENBURG, Die gesellschaftliche Grundlage des
germanischen Heldenethos und die mündliche Überlieferung heroischer Stoffe, Weimarer Beiträge
2 (1971) 140-169, sieht die Heldensage und deren Ethos nicht erst in der Aristokratie der 75 K. REoowurr, Die Krise des Helden, in: ders., Tradition und Geist, Göttingen 1960, S. 420-
Völkerwanderungszeit, sondern schon in der früheren Gentilverfassung, also im "allgemeinen 427, Zitat S. 425.
Volksbewußtsein", verwurzelt und nennt als heroische Tugenden Ehre und Treue, "die von dem 76 H. eH. BUCH. James Bond oder der Kleinbürger in Waffen, Der Monat 17 (1965) Heft 203,
einzelnen ein Absehen von der eigenen Person im Dienste einer überpersönlichen Gemeinschaft S. 39-49, P. BUORA, Rambo in the Garden, Literature/Film Quarterly 18 (1990) 188-192; A LoIBL,
forderten", S. 150,153. Zur Übereinstimmung mit der von mir kritisierten Theorie vgl. auch Anm. Der Zelluloid-Partisan. Rambo als politischer Mythos, in: H. MllNKLER (Hg.), Der Partisan.
23 und 65. Opladen 1990, S. 381-391.

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