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Handlungsspielräume von Akteuren in Situationen auch nicht immer

gleich aus. Die Möglichkeiten von Akteuren Handlunsspielräume zu


erkennen hängen also zunächst davon ab inwiefern die Artikulation
von Handlungsgründen zu einem gegebenen Zeitpunkt ausfällt.
Darüber hinaus ist aber auch der soziale Kontext entscheidend. So
determinieren die normativen Möglichkeiten die soziale
Gemeinschaften und Kontexte bieten und die damit verbundenen
sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten auch das Ausmaß von
möglichen Handlungsspielräumen. Darauf komme ich noch einmal in
Abschnitt 2.3 zurück. Wichtig ist hier aber vor allem, dass
Subjektivität und vernünftiges Handeln grundlegend
zusammengehören. Es gibt kein übergreifend sinnvolles Handeln
außerhalb der Möglichkeiten von Individuen ihre eigenen
Handlungsgründe als Maßstab zugrunde zu legen. Vernünftig
handeln soziale Akteure auf der Basis auf welcher sie ihren
Handlungen gute Gründe zuschreiben. Und diese wiederum sind an
verschiedene Voraussetzungen geknüpft und grundlegend durch die
internalisierten Wertstrukturen der Akteure geformt. Mit dieser
Perspektive können wir nun einen ersten Blick auf die soziale
Situation werfen in der wahnhafte Störungen wie Schizophrenie
entsteht.

2.2 Eine alternative Interpretation von Wahn

Mit der Annahme, dass menschliches Handeln durchweg auf


vernünftigen Gründen basiert, können wir uns nun das soziale Klima
anschauen in welchem wahnhaftes Verhalten entsteht. Dazu möchte
ich den Fokus in diesem Abschnitt vor allem auf schizophrenes
Verhalten legen. Dazu soll anhand der Doppelbindungstheorie die
komplexe Dynamik schizophrenen Verhaltens untersucht werden.
Die Doppelbindungstheorie ist ein kommunikationstheoretisches
psychodynamisches Lernmodell zur Erklärung schizophrenen
Verhaltens. Das Erklärungsmodell wurde von verschiedenen

10
Kommunikationsforschern, Psychoanalytikern, Psychiatern,
Kulturanthropologen und Sozialpsychologen entwickelt, erweitert und
abgewandelt. Im Kern enthält es die Idee einer Doppelbindung
(Double Bind) als eine Paradoxie zwischenmenschlicher
Kommunikation in welcher zwei unterschiedliche
Handlungsaufforderungen insofern diametral entgegengesetzt sind,
dass es unmöglich ist sie beide gleichzeitig einzuhalten. Ein häufig
erwähntes Beispiel ist der Besuch einer Mutter ihres an
Schizophrenie erkrankten Sohnes in der psychiatrischen Anstalt bei
dem der Sohn die Mutter umarmen will, als diese das Zimmer betritt
und die Mutter durch eine aversive starre Geste eine Abneigung
signalisiert, als der Sohn ihr einen Arm auf die Schulter legt.
Daraufhin bricht der betroffene Sohn seine Handlung ab woraufhin
die Mutter ihn für dieses Verhalten anklagt und ihm vorwirft er würde
sie nicht mehr lieben, weil er seine Umarmung abbricht.11 Auch wenn
sich dieses Beispiel nur innerhalb eines trivialen Kontexts abspielt
und an Umfang und Komplexität ermangelt, gibt es einen Einblick in
die prekäre psychodynamische Verwirrung innerhalb derer sich
Betroffene befinden. Der Sohn befindet sich in einer Situation in
welcher er es der Mutter nicht recht machen kann. Die Mutter
signalisiert auf der einen Seite, dass es ihr unangenehm ist, wenn ihr
Sohn sie umarmt. Auf der inhaltlichen Seite kommuniziert sie aber
eine entgegengesetzte Botschaft bzw. Klagt ihn für das
Nicht-Umarmen an. Innerhalb der Doppelbindungstheorie wird
angenommen, dass es Konflikte solcher Art sind, die Betroffene in
ihrer Sozialisation prägen. Diese Konflikte werden innerhalb
familiärer Lebensformen erzeugt. Der Psychiater Robert D. Laing
nimmt als Ursache für solche Konflikte sogenannte Mystifizierungen
an. Mystifizierungen sind illusionär- verdrehte Interpretationen von
Handlungen von Akteuren innerhalb der Familie. Mystifizierungen
gehen häufig von den familiären machttragenden Eltern aus und
verdrehen zugunsten dieser die erlebte Realität der Situation. Im

11
Vgl. Stanley (1996), S. 29
11
eben genannten Beispiel wird die vom betroffenen Sohn erlebte
Situation durch die Aussage der Mutter mystifiziert, dass der Sohn
die Mutter nicht umarmen möchte. Mystifizierungen verblenden die
eigentlichen Ursachen bestimmter Konflikte zugunsten von
Scheinerklärungen, die die Konflikte durch eine falsche Ausweisung
der eigentlichen Probleme und der mangelnden Fähigkeiten dies
durch Metakommunikation, durch welche diese Muster falscher
Ursachenzuschreibung zur Sprache gebracht werden könnten,
unlösbar machen:

„Es wird unmöglich zu erkennen, was wirklich erlebt oder


getan wird oder was vor sich geht, und es wird
unmöglich, die tatsächlichen Streitpunkte festzustellen
und zu unterscheiden. Die Folge ist, daß richtige
Auffassungen hinsichtlich dessen, was erlebt oder getan
wird (Praxis) bzw. Vor sich geht (Prozeß), durch falsche
Auffassungen ersetzt und Scheinfragen als die
tatsächlichen Streitobjekte ausgegeben werden.“ (Schiz.
S. 275)

Innerhalb pathogener familiärer Sozialsysteme spielen


Mystifizierungen laut Laing eine entscheidende Rolle. Mit dem bisher
besprochenen möchte ich nun auf ein Fallbeispiel schauen, anhand
dessen die Verbindung zwischen Handlungsgründen betroffener
Akteure und den im ersten Teil besprochenen psychotischen
Symptomen, deutlich gemacht werden soll.

2.3 Fallbeispiel

Das hier vorgestellten Fallbeispiel ist der therapeutischen Praxis der


psychiatrischen Forschung des Psychiaters Robert D. Laing
entnommen.

12
Ruby12

Ruby war bei ihrer klinischen Einweisung im Alter von 18 Jahren in


vollkommen katatonem Zustand. Als typisches Negativsymptom der
Schizophrenie ist ein katatonischer Stupor eine Extremform der
Katatonie, bei welchem Betroffene fast bewegunglos, nicht
ansprechbar und motorisch inaktiv sind. Darüber hinaus aß Ruby
nach ihrer Einweisung zunächst erst einmal nichts. Nachdem dieses
Symptom nach einigen Tagen Klinikaufenthalt nachließ begann sie
unzusammenhängend und desorganisiert zu sprechen: „So sagte sie
zum Beispiel, ihre Mutter liebe sie, und im nächsten Augenblick, ihre
Mutter wolle sie vergiften.“ Darüber hinaus wurden auch
Wahnvorstellungen und akustische Halluzinationen bei ihr
nachgewiesen:

„Sie klagte über Hämmern im Kopf und über Stimmen


außerhalb des Kopfes, die sie als „Schlampe“, „dreckig“
und „Prostituierte“ beschimpften. Sie nahm an, „die
Leute“ würden schlecht von ihr reden. Sie sagte sie sei
die Jungfrau Maria und die Frau von Elvis Presley.“13

Dazu kamen eine Vielzahl weiterer psychotischer Symptome, die alle


mit schizophrenem Verhalten in Verbindung gebracht werden. Die
Annahme, dass hinter all diesen zunächst einmal absurd
anmutenden Verhaltensweisen vollkommen gute Gründe liegen, die
auf angelernten Bedeutungsstrukturen basieren erscheint vielleicht
erst einmal kontraintuitiv. Die Forschung von Laing gewährt im
Vergleich zu vielen modernen psychologischen Ansätzen einen sehr
tiefen Einblick in die Familiendynamik und betrachtet die „Betroffene“
Ruby nicht isoliert. Bei näherem Hinsehen ist den Psychiatern
zunächst einmal aufgefallen, dass die familiären Zuschreibungen die
innerhalb der Familie gebraucht wurden, nicht mit den jeweiligen

12
Vgl. Laing, Robert D. (1996), S. 295
13
Laing (1996), S. 296
13
biologischen Zuschreibungen übereinstimmten. So wurde der
eigentliche Vater als Onkel bezeichnet, wogegen sowohl Tante als
auch die leibliche Mutter als Mütter bezeichnet wurden. Der Onkel
wurde als Vater bezeichnet. Das war nur eine von vielen konfusen
Kommunikationsstrukturen innerhalb der Familie. Rubys Familie litt
wie viele andere Familien von Betroffenen unter Ängsten, die sich
auf das gerechtwerden gesellschaftlicher Normen bezogen. Ruby
hatte wie bereits gesagt, Angst dass die Leute schlecht über sie
reden würden. Die Gemeinschaft in der Ruby aufwuchs tat dies
tatsächlich und die Angst davor und der damit verbundene Druck
wurden auf Ruby übertragen. Die Familie wollte Ruby beruhigen und
vermittelte ihr daher das Gefühl, dass sie sich diese Dinge nur
einbildete. An dieser Stelle wird das Dillemma einer Doppelbindung
sehr deutlich: Ruby hat gute Gründe anzunehmen, dass die Leute
über sie sprechen, da sie dies tatsächlich tun bzw. Die Angst darüber
direkt durch ihre Familie an sie übermittelt wird. Darüber hinaus
präsentiert die Familie Ruby genau entgegengesetzt das
Nichtvorhandensein dieses Tatbestands als Faktum: „Die ganze
Familie hatte das beklemmende Gefühl von Schmach und Schande.
Immer wieder bekam Ruby das von ihren Angehörigen vorgehalten,
aber wenn sie selbst die Befürchtung äußerte, die Leute würden über
sie reden, dann sagte man ihre, sie solle sich nicht solche Sachen
einbilden.“14 Ihr empfinden für das was real und wahr ist wird hier
einer schwierigen Belastungsprobe unterzogen. Wenn solche
Mystifizierungen nicht durchschaut werden, scheint eine sinnvolle
und ganzheitliche psychische Integration solcher widersinniger
Realitätsauffassungen nur mit scheinbar desorganisierten
Handlungsäußerungen einhergehen zu können. Hier ein weiteres
Beispiel der Mystifikationspraxis innerhalb Rubys Familie:

„In ihrem zerrütteten, „paranoiden“ Zustand sagte sie,


Mutter, Tante, Onkel und Cousin könnten sie nicht leiden,

14
Laing (1996), S. 299
14
hackten auf ihre herum, hänselten und verachteten sie.
Als sie sich „besserte“, schämte sie sich sehr, solch
schreckliche Dinge gedacht zu haben, und sagte, ihre
Familie sei „wirklich gut“ zu ihr gewesen und sie habe
eine „liebenswerte Familie“. Tatsächlich gab ihr die
Familie allen Anlaß, Schuldgefühle zu haben wegen
dieser Art, sie zu sehen, indem sie sich erschreckt und
entsetzt darüber zeigte, daß das Mädchen meinen
könnte, man würde es nicht lieben. In Wirklichkeit
erzählten sie uns, sie sei eine Schlampe und kaum
besser als eine Dirne - und sie sagten uns das mit
Heftigkeit und hitzig. Sie versuchten, das Mädchen dazu
zu bringen, sich wegen der Wahrnehmung der wirklichen
Gefühle ihnen gegenüber schlecht oder verrückt zu
fühlen.“15

Hiermit bekommen wir eine Vorstellung davon wie das soziale Klima
aussieht in welchem wahnhaftes Verhalten entstehen kann. Ich
möchte als nächstes untersuchen unter welchen Voraussetzungen
eine solche psychosoziale Atmosphäre zustande kommt, die
Realitätskonflikte der hier besprochenen Art hervorruft.

2.4 Schizophrenie als Krise von Lebensformen

In Rubys Fall lässt sich beobachten, dass Erwartungshaltungen


scheinbar eine große Rolle gespielt haben. Dies lässt sich auch auf
viele andere psychotische Fälle übertragen. Die
Erwartungshaltungen die die Eltern durch bestimmte Handlungen an
die Kinder und die Familie insgesamt herantragen, werden von deren
eigenen Handlungsgründen gespeist. Aus Abschnitt 2.1 geht hervor,
dass Handlungsgründe eng damit verknüpft sind, inwiefern die
eigenen internalisierten Bedeutungs- und Wertstrukturen beschaffen
sind. Die Gesamtheit der damit einhergehenden Handlungsbündel
aus sozialen Praktiken von Gemeinschaften bezeichnet die
Sozialphilosophin Rahel Jaeggi als Lebensformen:

15
Laing (1996), S. 298
15
„Lebensformen stellen sich dar als Bündel von sozialen
Praktiken, oder, wie Lutz [25]Wingert formuliert, als
»Ensemble von Praktiken und Orientierungen« und
Ordnungen sozialen Verhaltens. Sie umfassen
Einstellungen und habitualisierte Verhaltensweisen mit
normativem Charakter(…).“16

Ich führe diesen Begriff an dieser Stelle ein, weil dieser Abschnitt
einen Versuch darstellt, Schizophrenie als soziale Pathologie bzw.
als eine Krise von Lebensformen zu begreifen. Um dies näher zu
erläutern hilft ein weiterer Blick auf die soziale Situation
schizophrener Familien. In dem Aufsatz „Pseudo-Gemeinschaft in
den Familienbeziehungen von Schizophrenen“ stellen die Autoren
fest, dass die Gemeinschaftlichkeit in schizophrenen Familien
illusionär ist.17 Sie sehen eine starke Nicht-Komplementarität in
schizophrenen Familien. Diese Nicht-Komplementarität kann aber
nicht anerkannt werden sondern wird mystifiziert. So bleibt die
Gemeinschaft eine Gemeinschaft trotz Inkohärenz, weil sie sich als
solche nicht in Frage stellen kann. Das Ergebnis dieses Prozesses
ist die an Schizophrenie erkrankte Person, in welcher die familiären
Konflikte zum Ausdruck kommen. Dabei halten Ezra Vogel und
Norman Bell fest, dass schizophrene Kinder häufig ein direktes
Kompensationsmittel pathogener Familien sind:

„Die Wahl des Sündenbocks steht in engem


Zusammenhang mit den Ursachen der Spannung. Wo
Konflikte auf der Ebene der Wertorientierung bestanden,
wurde das Kind gewählt, das diese Konflikte am besten
symbolisierte. Stand zum Beispiel die Leistung im
Mittelpunkt der Konflikte, dann könnte ein Kind, dessen
Leistungen nicht den erwartungen entsprachen, zum
Symbol des Versagens werden. Oder es wurde ein Kind
gerade deshalb zum geeigneten Objekt, weil es

16
Jaeggi (2014), S. 61
17
Vgl. Wynne, Lyman C. (1996)
16
selbständige Leistungen vollbrachte und damit gegen die
Normen der Loyalität gegenüber der Gruppe verstieß.“18

Die Autoren stellten dabei fest, dass in allen 9 von Ihnen


untersuchten schizophrenen Familien Konflikte auftraten die mit
Erwartungshaltungen zu tun hatten, die Eltern aufgrund ihrer
Wertorientierungen in die Familien brachten:

„Sehr verallgemeinert läßt sich sagen, daß eine der


Hauptursachen ein Konflikt auf der Ebene der kulturellen
Wertorientierungen war. (…) Jeder einzelne kann in
widersprüchlichen oder wirren Verhältnissen erzogen
worden sein und ist nun unfähig, die Kluft zu
überbrücken. Die Ehepartner können in verschiedenen
Verhältnissen erzogen worden sein und von
verschiedenen Voraussetzungen ausgehen. Alle
gestörten Familien hatten Probleme dieser Art. Einige
versuchten, damit fertigzuwerden, indem sie rasch
Einstellungen übernahmen, ohne sie gänzlich zu
internalisieren und ohne die bisherigen Einstellungen
außer Kraft zu setzen. Andere versuchten, mit
widerstreitenden Orientierungen zu leben. Ein
allgemeines Beispiel für Konflikte auf der Ebene von
Kulturwerten ist der Konflikt, in dessen Mittelpunkt die
Probleme der individuellen Leistung stehen. Erhebliche
Anstrengungen wurden von den Eltern gemacht, den
Leistungsmaßstäben der amerikanischen Mittelklasse zu
entsprechen.“19

Dies bringt uns schließlich an den Punkt wo wir von einer Krise von
Lebensformen sprechen können. Lebensformen geraten laut Jaeggi
dann in Krisen, wenn sie immanent defizitär sind d.h. Wenn sie ihren
eigenen Ansprüchen aufgrund der in Ihnen angelegten sozialen
Praxis unmöglich gerecht werden können. Jaeggi bezeichnet
defizitäre Lebensformen auch als unlebbar. Die Unlebbarkeit rührt

18
Vogel (1996), S. 253
19
Vogel (1996), S. 249
17
daher, dass sie ihre eigenen Krisen selbst erzeugen indem sie nicht
ihrem Begriff entsprechen d.h. Paradoxien erzeugen in denen ihre
Handlungsansprüche unmöglich erfüllt werden können. Es handelt
sich also um einen Konflikt zwischen normativen Ansprüchen und
sozialer Praxis. Dieser Konflikt ist aber immanent mit den
Handlungsansprüchen der Lebensform verknüpft und nicht bloß als
eine noch nicht eingefordertes Ideal zu verstehen. Der Konflikt wird
in der sozialen Praxis der Lebensform reproduziert:

„Das Defizit einer Lebensform oder eines sozialen


Praxiszusammenhangs zeigt sich dann am Misslingen
und an der Krisenhaftigkeit der in ihr implizierten
Praktiken. Die Erosion und das Obsoletwerden sozialer
Praktiken oder ganzer Lebensformen ist ein Misslingen in
zugleich ethischer wie funktionaler Hinsicht. Mit einem
Ausdruck von Terry Pinkard sind solche Lebensformen
„nichtlebbar“ sie sind „inhabitable“, unbewohnbar,
geworden. Wie die kurzhalsige Giraffe nicht gut
überleben kann, so sind auch die Demokratie, die Stadt
oder die Familie, die nicht ihrem Begriff entsprechen, in
jeweils unterschiedlichen Hinsichten unbewohnbare
Gebilde - Gebilde, die sich selbst unterlaufen. (…) Es ist
ein normatives Misslingen, ein faktisches Scheitern, wenn
auch ein Scheitern innerhalb eines durch normative
Ansprüche konstituierten Gebildes.“20

Meine zentrale These lautet nun: das Phänomen Schizophrenie kann


nicht als individuelle Pathologie nachvollzogen werden sondern kann
nur als soziale Pathologie als eine nicht lebbare Beziehung innerhalb
einer Pseudo-Gemeinschaft bzw. Einer defizitären Lebensform
nachvollzogen werde, innerhalb derer die eigentlichen
Handlungszusammenhänge aufgrund der selbst geforderten
Handlungsansprüche verschleiert bzw. Mystifiziert werden. Oder
anders: Mystifizierte Lebensformen sind immanent pathologisch, weil
sie soziale Praktiken beinhalten, die Probleme unlösbar machen, die

20
Jaeggi (2014), S. 157
18
von ihnen aufgeworfen werden. Ein Beispiel hierfür ist das limitierte
mystifizierte Verständnis das betroffene Akteure von der Situation
haben und die damit verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten, die sie
haben um die Situation sinnvoll verstehen zu können. Dies ist ein
nicht zu unterschätzendes Hindernis wenn es um das antizipierende
Problemverständniss geht. Gerade weil mystifizierte Lebensformen
durch ihren ideologischen Charakter eine illusorische Realität
erzeugen, bieten sie betroffenen Akteuren eben auch nur die
kommunikativen Mittel ihrer Mystifizierung an. So wird Sprache und
die damit verbundene limitierende und konstitutive Wirkung der
Erzeugung und Begrenzung von Realität zu einem essentiellen
Bestandteil des Mystifizierungsprozesses. Ganz nach Wittgensteins
berühmter Formel begrenzt Sprache die Wirklichkeit von
Lebensformen und limitiert ihr Konflikterschaffungs- bzw
Lösungspotential auf die Möglichkeiten der metakommunikativen
Möglichkeiten die diese bieten, innerhalb der sozialen Praktiken von
Lebensformen adäquate Lösungen für auftretende Konflikte finden
zu können. Defizitäre Lebensformen präsentieren sich also durch
ihre Eigenschaft Handlungsspielräume zu beschränken und durch
diese Beschränkungen Konflikte zu erzeugen. Die Potentiale
wiederum, die innerhalb dieser „Pseudo“-Gemeinschaften ein
solches Klima limitierter Ausdrucksmöglichkeiten verursachen
müssen selbst in den Gründen und Erwartungen liegen, die die
einzelnen sozialen Akteure an diese Gemeinschaften herantragen.
Es müssen Gründe sein, die mit den normativen Erwartungen der
Akteure zusammenhängen und die in ihrer Gesamtheit im
Handlungsgeschehen Paradoxien erzeugen, die wiederum eine
Sprache nötig machen, die diese Paradoxien zumindest scheinbar
beseitigt bzw. mystifiziert. In Rubys Familie z.B. trug die Scham, die
innerhalb der Wertstruktur ihrer Gemeinschaft und in jedem
Familienmitglied selbst tief verankert war, zu einer sprachlichen
Verschleierung bei, die von der Unerfüllbarkeit ihrer normativen
Vorgaben erzeugt wurde. Die Inkohärenz von Rubys

19
Schwangerschaft zu dem von der Familie angenommenen normativ
korrekten Verhalten konnte bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des
bürgerlichen Ideals und der mit der Familienauflösung
einhergehenden Scham nur zu einem Konflikt führen, indem der
sinnvollste Weg für die Akteure die Erschaffung einer mystifizierten
Ideologie war, die zumindest die Illusion einer Harmonie der
Gemeinschaft erschuf. Doch der Konflikt und die damit
einhergehenden Handlungsparadoxien gehörten weiterhin zur
sozialen Praxis der Gemeinschaft. Rubys „gestörtes“ und
„wahnhaftes“ Verhalten wurde innerhalb der Familie als krankhaft
angesehen, weil es eine Gefahr für die Illusion darstellte bzw. ein
klares Anzeichen für eine Krise darstellte, die im Rahmen der
kollektiven Mystifikation verdeckt bleiben sollte, weil sonst die
Pseudo-Gemeinschaft aufgedeckt werden würde, was wiederum
angesichts der internalisierten Scham dieser Gemeinschaft keine
Option war.

Fazit

Wenn man wahnhafte- und andere psychische Störungen im


argumentativen Rahmen des hier Vorgebrachten als eine soziale
Pathologie begreift, führt deren Institutionalisierung im Namen eines
naturwissenschaftlich-dogmatischen Pathos durch die rein
deskriptiv-symptomorientierten Kriterienkataloge der ​American
Psychiatric Association und der WHO und ein häufig damit
verbundenes biologistisch- ätiologisches Verständnis von Störungen
als ein Phänomen funktionaler Abweichung, auf einen prekären
Irrweg. Darüber hinaus erscheint der Begriff einer individuellen
Funktionsstörung oder Pathologie problematisch, wenn Phänomene
wie Schizophrenie durch eine bestimmte familiäre Konfliktsituation
ausgelöst werden, die wiederum in eine bestimmte soziale
Handlungsstruktur bestimmter Lebensformen eingebettet ist. Als

20
Pathologisch im Sinne von krankhaft, defizitär oder gestört
erscheinen dann vielmehr die funktionalen Anforderungen von
Lebensformen und deren normativen Implikationen die die
Reproduktion von Krisen bzw. Paradoxien unabwendbar machen.  

21
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