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KATRIN MOELLER

Aufgeklärter Hexenglaube? Schadenszauber und


dämonische Magie nach der Hexenverfolgung

Wenn der Teufel einen Güterzug voll Lügen durch die Welt bringen will, dann spannt er eine
Lokomotive der Wahrheit davor. An uns ist es, nicht über den Zug, der so stolz und kühn durch
die Welt fährt und überall seine Ware ablädt, uns zu entsetzen und zu lamentieren, sondern
dem Teufel die gestohlene Lokomotive der Wahrheit abzuhaken und seinen großen Güterzug
der Lüge irgendwo auf totem Gleis ihm stehen zu lassen, bis er zusammenkracht und all seine
Ware ihm verdirbt. Die abgehakte Lokomotive aber spannen wir vor unseren eigenen Zug und
fahren künftig etwas besser und schneller durch die Welt.1

Dieses Zitat des Hamburger Pfarrers Eduard Juhl aus dem Jahr 19262 koppelt wun-
dervoll bildhaft zwei Dinge aneinander, welche die historische Forschung bis in
die 1990er Jahre hinein sorgfältig voneinander zu scheiden suchte: den Teufels-
glauben als Ausdrucksform magisch-religiösen Denkens und die Metaphern der
Moderne. Kaum eine Etikettierung der vielfältigen Muster und Strömungen der
Aufklärung zu einem stringenten, zielorientierten Globalprozess3 hat sich einen so
nachhaltigen Platz im historischen Gedächtnis verschaffen können wie ihre Be-
wertung als fundamentaler Säkularisierungsprozess und umfassende „Entzaube-
rung der Welt“ (Max Weber). Formen eines modernen Magieglaubens fanden in
solchen Modellen keinen Platz.
Seit einiger Zeit sind jedoch gegen die Proklamation der Aufklärung als religiö-
sem Rationalisierungsprozess überaus kritische Töne zu hören.4 Mit dem neuen
Anspruch der Geschichtswissenschaften Begrifflichkeiten kritischer in ihrer Zeit-
gebundenheit zu hinterfragen, verabschiedete sich die Wissenschaft in den vergan-
genen Jahren weitgehend von modernisierungstheoretischen Konstrukten, identifi-
ziert und entziffert zunehmend eigene Geschichtsbilder und -mythen. Seither ver-
weist die Forschung zunehmend auf die Brüchigkeit dogmatischer Begrifflichkei-

1 Eduard Juhl: Im Ringen mit Satans Reich. Aberglaube und Zauberei. Berlin 1926, S. 19.
2 Zu dieser Zeit war Juhl Pfarrer der evangelischen Auferstehungsgemeinde St. Pauli. Birgit
Siekmann: Eduard Juhl. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Friedrich-
Wilhelm Bautz (†), fortgef. v. Traugott Bautz. Bd. 21. Nordhausen 2003, Sp. 733–739.
3 Vgl. Fred E. Schrader: Soziabilitätsgeschichte der Aufklärung. Zu einem europäischen For-
schungsproblem. In: Francia 19 (1992), S. 177–194, bes. S. 179f.
4 Olaf Blaschke: Abschied von der Säkularisierungslegende. Daten zur Karrierekurve der Reli-
gion (1800–1970) im zweiten konfessionellen Zeitalter. Eine Parabel. In: Zeitenblicke 5/1
(2006), URL: http://www.zeitenblicke.de/2006/1/Blaschke/index_html, URN: urn:nbn:de:
0009-9-2691 [01.06.2011]; Nils Freytag, Diethard Sawicki: Verzauberte Moderne. Kulturge-
schichtliche Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert. In: Wunderwelten. Religiöse Eks-
tase und Magie in der Moderne. Hg. v. dens. München 2006, S. 7–24; Monika Neugebauer-
Wölk: Esoterik im 18. Jahrhundert – Aufklärung und Esoterik. Eine Einleitung. In: Aufklärung
und Esoterik. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarb. v. Holger Zaunstöck. Hamburg
1999 (Studien zum 18. Jahrhundert 24), S. 1–37.

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ten und Verabsolutierungen von ‚Aufklärung‘, in denen sich Rationalitäts- und


Fortschrittsgläubigkeit als Mantra der Moderne offenbart. Dazu wird intensiv nach
dem Werdegang von religiösen Ideen und Denkfiguren, nach rezeptiven Mustern
im Austausch zwischen gesellschaftlichen Milieus gefahndet, und ständeübergrei-
fende oder subjektorientierte Diskurse und Kommunikationsmöglichkeiten werden
analysiert, die religiöses Denken im historischen Längsschnitt prägten. In diese
Analyse sind zahlreiche Varianten des Esoterik- und Magieglaubens als Ausdruck
eines individuellen Religionsverständnisses eingegangen, der Werdegang des
spätfrühneuzeitlichen bzw. modernen Hexenglaubens blieb dabei jedoch – eher
forschungsgeschichtlich als inhaltlich begründet5 – meist ausgespart.6
Wenn im Folgenden das Verhältnis von Hexenglauben und Aufklärung betrach-
tet wird, könnte man entlang des vorgezeichneten Mythos unterstellen, es handle
sich hier um Antonyme.7 Als Produkt emanzipatorischer Bildung,8 als Beseitigung
des tumben bäuerlichen Aberglaubens,9 vor allem aber als Befreiung von den
zahllosen „Justizmorden“10 feierten Aufklärer die noch im 18. Jahrhundert durch-
aus nicht gesicherte Beendigung der Hexenverfolgung und verstanden sich dabei
zum Teil geradezu als Protagonisten einer Befreiungsbewegung.11 Scharfe Debat-
ten, in denen die Kritiker publizistisch so glanzvoll triumphierten, schlossen sich
jeweils an die späten punktuellen Prozesse an.12 Wie intensiv sich hier am Ende
des 18. Jahrhunderts die Vorzeichen der Verfolgung geändert hatten, zeigt als Mo-
mentaufnahme plastisch der letzte zum Todesurteil führende Schweizer Hexen-
prozess gegen Anna Göldi. Das Verfahren geriet zu einer Geheimveranstaltung
unter Pressezensur, um die von vornherein befürchtete Prozesskritik wenigstens
rudimentär zu begrenzen. Immer wieder gibt es Mutmaßungen, die offizielle Klas-
sifizierung des Verfahrens als Vergiftungsprozess habe zur Verschleierung des

5 Monika Neugebauer-Wölk: Wege aus dem Dschungel. Betrachtungen zur Hexenforschung. In:
Geschichte und Gesellschaft 29/2 (2003), S. 316–347, hier S. 322.
6 Als größere Studien vor allem: Nils Freytag: Aberglauben im 19. Jahrhundert. Preußen und
seine Rheinprovinzen zwischen Tradition und Moderne (1815–1918). Berlin 2003; Felix Wie-
demann: Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuhei-
dentum und Feminismus. Würzburg 2007.
7 Dazu ausführlich: Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im
Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992, hier bes. S. 262–265.
8 Eva Labouvie: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemein-
den des Saarraumes (16.–19. Jahrhundert). St. Ingbert 1992, S. 211, 302–312.
9 Johannes Dillinger: Hexen und Magie. Eine historische Einführung. Frankfurt a.M., New York
2007, S. 143.
10 August Ludwig von Schlözer: Abermaliger JustizMord in der Schweiz. In: Stats-Anzeigen 2/7
(1783), S. 273–277, hier S. 273.
11 Pott: Aufklärung (wie Anm. 7), S. 262.
12 Georg Schwaiger: Das Ende der Hexenprozesse im Zeitalter der Aufklärung. In: Teufelsglaube
und Hexenprozesse. Hg. v. dems. München 1987, S. 150–180, hier S. 161; Elisabeth Korrodi-
Aebli: Auf den Spuren der ‚letzten Hexe‘. Anna Göldi – Der Fall – Die Presseberichte. Wis-
senschaftliche Qualifizierungsarbeiten zum Hexen- und Magieglauben. In: Historicum.net
2010. URL: http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/7443/ [01.06.2011].

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faktischen Hexenprozesses gegenüber der Regierung gedient.13 Allerdings miss-


lang dieser Versuch kläglich. Selbst innerhalb der kleinen Gruppe der professionell
engagierten Prozessbeteiligten besaß das Verfahren eine so mangelhafte Legitima-
tion, dass die Gerichtsakten trotz aller Strafandrohungen zügig an die Öffentlich-
keit gelangten. Sie führten zu einem europaweiten Aufschrei nach der Hinrichtung
Göldis am 13. Juni 1782,14 was letztlich auch die gesetzliche Entkriminalisierung
der Hexerei vorantrieb.
Viele Regierungen verzichteten allerdings auf die konsequente Beseitigung
strafrechtlicher Vorschriften zur Hexerei. Weil das Delikt in der Kriminalgerichts-
barkeit kaum mehr Bedeutung entfaltete und ein größerer Handlungsdruck aus-
blieb, suchte man Änderungen mit ungewissen Folgewirkungen zu vermeiden. Das
Ende der Verfolgung ist jedoch kaum mit dem Ende des Hexenglaubens zu asso-
ziieren. Welche Wechsel- und Folgewirkungen die neuen Rahmenbedingungen auf
den Hexenglauben hatten, ist bisher dennoch eher unbeleuchtet geblieben. Die
Frontstellung von aufklärerischer ‚Bewegung‘ und Hexenglauben blieb nicht nur
dem Mainstream der bildungsbürgerlichen Eliten des 18. und 19. Jahrhunderts
vorbehalten, sondern etablierte sich über diesen Diskurs fest in das Gefüge der
wissenschaftlichen Erkenntnis über das Ende der Hexenverfolgung im Rahmen des
sogenannten ‚Rationalistischen Paradigmas‘.15
Erst in den 1980er und 1990er Jahren konstatierte die Forschung, dass sich
schwerlich ein plattes Reaktionsschema von Aufklärung und Beendigung der He-
xenverfolgung herstellen lässt.16 So mag vielleicht die späte gesetzliche Aufhebung
der Hexenverfolgung in England 1736, Schweden 1779, in der Habsburger Monar-
chie 1787 oder in Irland 1821 für eine solche Korrelation sprechen:17 Die großen
Verfolgungen endeten jedoch bereits weit zuvor während des Dreißigjährigen
Krieges bzw. bis zu den 1680er Jahren.18 Nach 1700 bedeuteten Hexenprozesse im
hier betrachteten Raum Mitteleuropas fast immer eine Ausnahmesituation mit
spezifischen Rahmenbedingungen, die schnell die Legitimationsgrenzen der ver-
schiedenen Handlungsebenen von Verdachtsgenese, Strafprozess, politischem
Handeln und Dämonologie erreichten.19 Möglicherweise lieferte gerade die
Praxiserfahrung, dass der Verzicht auf die Hexenverfolgung und konsequente

13 Schwaiger: Das Ende (wie Anm. 12), S. 177.


14 Korrodi-Aebli: Spuren (wie Anm. 12), S. 71–123.
15 Dazu pointiert Wiedemann: Rassenmutter (wie Anm. 6), S. 36–55.
16 Pott: Aufklärung (wie Anm. 7), S. 263; Dillinger: Hexen (wie Anm. 9), S. 143f. Mit diametral
entgegengesetzter Argumentation: Brian Paul Levack: Hexenjagd. Die Geschichte der Hexen-
verfolgungen in Europa. München 1995, S. 223–229.
17 Dillinger: Hexen (wie Anm. 9), S. 150f.
18 Rita Voltmer, Walter Rummel: Hexen und Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit. Darmstadt
2008, S. 127; Levack: Hexenjagd (wie Anm. 16), S. 222.
19 Dazu vor allem der demnächst erscheinende Tagungsband des Arbeitskreises für Interdiszipli-
näre Hexenforschung zu den späten Hexenverfolgungen. Ich danke den Autoren, die mir ihre
Manuskripte bereits vor Herausgabe des Bandes zur Verfügung gestellt haben.

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Deliktahndung ohne größere negative soziale Folgen und göttliches Strafgericht


gangbar war, die entscheidende Voraussetzung für die ideelle Neukonstruktion des
vormaligen dämonischen Verbrechens, die sich dann mit den Schriften der Kritiker
seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Bahn brach.20 Es bleibt darauf zu verweisen,
dass die Kriminalisierung des Hexenglaubens und der Hexenglauben selbst zwei
unterschiedliche gesellschaftliche Handlungsfelder repräsentieren, die zwar mitein-
ander korrespondieren, jedoch einen durchaus verschiedenen Werdegang besitzen.

I Erklärungsansätze zum Verschwinden der Hexenverfolgung

Insgesamt sind die Umstände des Verschwindens des ‚terroristischen Superverbre-


chens‘ der Frühen Neuzeit besonders im Hinblick auf seine vergleichsweise gut er-
forschten Anfänge bisher geradezu unterbelichtet.21 Entfaltet wird dabei – erstaun-
licherweise – ein sehr ähnliches Ursachengeflecht, wie es auch für die Anfänge der
Hexenverfolgung in Betracht gezogen wird.
Im Bündel der vielfältigen Faktoren, die zur Entdramatisierung des Hexereide-
likts führten, ragt in der Forschungslandschaft die Diskussion um die rechtlichen
Grundlagen und die Prozesspraxis im Zeitalter staatlicher Verdichtung und Arron-
dierung als relativ scharf konturiertes Moment heraus. Die im Zuge der staatlichen
Verdichtungsprozesse zunehmend professionell organisierte Justiz, die individuelle
Ermessenspielräume von Verfolgungsprotagonisten und Laienrichtern marginali-
sierte, Standards der Prozessführung etablierte und zugleich einklagte, führte lang-
fristig zur besseren Kontrolle und Eindämmung der Verfolgungen.22 Man darf
unterstellen, dass der im 16. Jahrhundert überaus fundamentale Prozess der Ver-
rechtlichung den Beginn der Hexenverfolgung auf ähnliche Weise erst befeuert
und ermöglicht hatte.23 Die humanitäre Kritik an der Folter und die kritische Refle-
xion der mangelnden Indiziengrundlage, auf der besonders die okkulten Verbre-
chen basierten, veränderten die Ansprüche an eine akzeptable Beweisführung nicht
nur in der bevorzugt dargestellten juristischen Diskussion des späten 17. und frü-
hen 18. Jahrhunderts, sondern führten auch in der Verfolgungspraxis zu spürbaren
Veränderungen.24 Wie bereits bei der Übernahme des Inquisitionsverfahrens als

20 Vgl. dazu den Beitrag von Markus Meumann in diesem Band.


21 Erste Erklärungsversuche finden sich in: Das Ende der Hexenverfolgung. Hg. v. Sönke Lorenz
u. Dieter R. Bauer. Stuttgart 1995.
22 Levack: Hexenjagd (wie Anm. 16), S. 221–223.
23 Katrin Moeller: Dass Willkür über Recht ginge. Hexenverfolgungen in Mecklenburg im 16.
und 17. Jahrhundert. Bielefeld 2007, S. 471f.
24 Mathias Schmoeckel: Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und
die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß- und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter. Köln
2000; Christine Petry: Das Parlement de Metz und das Ende der lothringischen Hexenverfol-
gung. In: Hexenprozesse und Gerichtspraxis. Hg. v. Herbert Eiden u. Rita Voltmer. Trier 2002,
S. 227–252; Gerhard Schormann: Der Krieg gegen die Hexen. Das Ausrottungsprogramm des

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typische frühneuzeitliche Prozessform besaß der Hexenprozess auch hier eine


komplizierte Vorreiterrolle, da die Auseinandersetzung um das Austarieren von
schwieriger Beweisführung, Schwere des Verbrechens und des umfänglichen Ein-
griffs in die individuellen Persönlichkeitsrechte eine intensive Diskussion pro-
vozierte. Die fundamentale Kritik an der Folter und ihr Beitrag zur Beweisführung
im kaum zu erweisenden Hexereidelikt mündete in eine umfassende Diskussion
über die Tauglichkeit der Folter, deren Abschaffung (auf das Reich bezogen) sich
über den langen zeitlichen Korridor zwischen 1740 (Preußen) und 1831 (Baden)
hinzog.25 Als allgegenwärtiges Fazit konstatiert jedenfalls nicht nur die rechts-
historische Forschung, dass keineswegs die Widerlegung des Hexenglaubens oder
die Überwindung der Dämonologie, sondern lediglich die prozessrechtlichen Ein-
schränkungen der Deliktverfolgung zum Abklingen der Hexenverfolgung führten,
sich also an Vorbehalten der juristischen Durchführung von Hexenprozessen ori-
entierten. Die Diskussion um den Teufelspakt und die dämonologische Fundamen-
tierung des Hexenglaubens sei dagegen lange ausgeblendet, Kritiker ausgegrenzt
und negiert worden.26 Die Überwindung des Hexenglaubens als Wissenskonzept
kam erst in einer zweiten Etappe der Aufklärung hinzu.27
Betrachtet man diese Argumentation genauer, könnte man zugespitzt formulie-
ren, die Gesellschaft des späten 17. Jahrhunderts bediente sich eines vorgeschobe-
nen Arguments – nämlich der Folter- und Prozesskritik –, um das eigentliche Ziel
der Überwindung der Hexenverfolgung zu erreichen, deren Herleitung aus dem
Hexenglauben nicht mehr legitim erschien, aber auch noch nicht öffentlich verhan-
delbar war. Das gesellschaftlich Unsagbare – der Zweifel an der Richtigkeit des
Hexenglaubens – käme uns hier also kodiert in Folterkritik, Prozessmaximen und
Regierungshandeln entgegen. Was sich per se schon unplausibel anhört, lässt sich
anhand der Debatte um die Aufhebung der Folter noch unterstreichen. Sie bedeu-
tete für die überwiegende Zahl der Juristen bis weit in die Mitte des 18. Jahrhun-
derts hinein nicht weniger als das Ende des Abendlandes: Der freiwillige Verzicht
auf eine durch das Beweisrecht fundierte Strafrechtspflege, ohne dass ein adäqua-
ter Ersatz für das ‚bewährte‘ System zur Verfügung stand. Kritiker der Folter ka-
men bevorzugt aus dem Argumentationskontext von Philosophie und Theologie,

Kurfürsten von Köln. Göttingen 1991, S. 153–169; Wolfgang Behringer: Hexen, Glaube, Ver-
folgung, Vermarktung. München 2009, S. 84–91; Dillinger: Hexen (wie Anm. 9), S. 144–148;
Boris Fuge: Das Ende der Hexenverfolgungen in Lothringen, Kurtrier und Luxemburg im 17.
Jahrhundert. In: Hexenwahn. Ängste der Neuzeit, Hg. v. Rosmarie Beier-de Haan. Wolfrats-
hausen 2002, S. 164–175.
25 Robert Zagolla: Art. Folter. In: Lexikon zur Geschichte der Hexenverfolgung. Hg. v. Gudrun
Gersmann, Katrin Moeller u. Jürgen Michael Schmidt. In: Historicum.net (URL: http://
www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/4012/ [21.02.2011]).
26 Winfried Trusen: Rechtliche Grundlagen der Hexenprozesse und ihrer Beendigung. In: Das
Ende der Hexenverfolgung (wie Anm. 21), S. 203–226, hier S. 203.
27 Jeanne Favret: Hexenwesen und Aufklärung. In: Die Hexen der Neuzeit. Hg. v. Claudia
Honegger. Frankfurt a.M. 1978, S. 336–366, hier S. 345f.

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stützten sich also auf ganz andere Deutungs- und Interpretationsebenen.28 Man
könnte daher argumentieren, es sei diesen Protagonisten leichtgefallen, Forderun-
gen und Schlussfolgerungen zu ziehen, die ihren eigenen Deutungshorizont nicht
berührten. Allerdings scheint wenig eingängig, dass hier an die Stelle des gesell-
schaftlich Unsagbaren (Ablehnung des Hexenglaubens) nun ein wohl kaum weni-
ger umstrittenes gesellschaftliches Konfliktfeld (Abschaffung der Folter im He-
xenprozess) trat, selbst wenn die Gegnerschaft zu Hexenprozess und Folter am
Ende des 17. Jahrhunderts häufig in Personalunion betrieben wurde.29
Ähnlich unscharf fällt die Diskussion bei einem zweiten großen Ursachenkom-
plex aus, nämlich der Verknüpfung von Klimawandel, Agrarkrise und Hexenglau-
ben, der gleichermaßen für den Beginn wie für das Ende der Hexenverfolgung als
entscheidende Argumentation herangezogen wird. Dass es hier Wechselwirkungen
mit dem Einsetzen des Klimawandels gab, scheint – trotz der bedenkenswerten
Einsprüche von Rainer Walz30 und Monika Neugebauer-Wölk31 – angesichts der
zahlreichen Forschungsergebnisse evident. Dasselbe gilt für große Seuchenzüge.
Der Vorwurf des Schadenszaubers an Mensch und Tier repräsentiert die Konstante
des Verbrechens, die als Transferleistung der mittelalterlichen Zaubereidefinition
ihren Platz im inhaltlich erweiterten Hexereiverbrechen fand und gerade für die
populäre Verdachtsgenese konstitutiv blieb. Überaus deutlich lässt sich dieser
Zusammenhang in den großen Hexenverfolgungen der 1570er bis 1620er Jahre in
Augenschein nehmen, wo einzelne Subsistenzkrisen und Epidemien nach einer
anfänglichen Etablierungsphase der Hexenverfolgung tatsächlich zum Anstieg der
Verfolgungen führen konnten.32 Mit dem Siegeszug des Hexenverbrechens und
seiner Normalisierung oder Veralltäglichung veränderten sich jedoch zugleich die
Rahmenbedingungen, unter denen Verdächtigungen entstanden. Beschuldigungs-
szenarien koppelten sich zunehmend von der tatsächlichen individuellen Ver-
dachtsgenese ab, die auf konkreten Mutmaßungen bei Krankheit beruhten. Der
‚Massenprozess‘ des 17. Jahrhunderts hatte kaum noch etwas mit dem auf Scha-
denszauber orientierten Verfahren des 16. Jahrhunderts gemein.33 Wolfgang
Behringer spricht in diesem Zusammenhang von der Spiritualisierung des Hexerei-

28 Schmoeckel: Humanität (wie Anm. 24), S. 474 u. 505.


29 Ebd., S. 511. Überaus reflektiert dazu auch: Levack: Hexenjagd (wie Anm. 16), S. 223–228.
30 Rainer Walz: Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Die
Verfolgungen in der Grafschaft Lippe. Paderborn 1993, S. 515.
31 Neugebauer-Wölk: Wege aus dem Dschungel (wie Anm. 5), S. 320ff.
32 Katrin Moeller: Hexenverfolgung als Kulturtransfer. Zur Übernahme und Adaption von
Verfolgungsmustern auf herrschaftsrechtliche und gemeindliche Interessen am Beispiel Meck-
lenburgs. In: Hexenverfolgung und Herrschaftspraxis. Hg. v. Rita Voltmer. Trier 2005, S. 307–
331, hier S. 326f.
33 Wolfgang Mährle: ‚O wehe der armen seelen‘. Hexenverfolgungen in der Fürstpropstei Ell-
wangen (1588–1694). In: Johannes Dillinger, Thomas Fritz u. Wolfgang Mährle: Zum Feuer
verdammt. Die Hexenverfolgungen in der Grafschaft Hohenberg, der Reichsstadt Reutlingen
und der Fürstpropstei Ellwangen. Stuttgart 1998 (Hexenforschung 2), S. 325–500, hier
S. 399ff.

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delikts,34 welches sich rasch vom Boden der Zaubereiverfolgung entfernte und
zwar ideell, jedoch kaum substantiell weiterhin auf das Schadenszauberkonzept
aufsattelte. Barbara Groß hat jüngst zusätzlich auf den unterschiedlichen Charakter
von sozialer Kommunikation der Verdächtigungen und sozialer Logik der Prozesse
verwiesen.35 Es wirkt daher fast paradox, dass gerade der Schadenszauberglaube in
der wissenschaftlichen Ursachensuche für die Einstellung der Hexereiverfolgung
als markanter Faktor gilt. Wer zur Erklärung mit dem strukturellen agrarischen und
sozialen Wandel argumentiert, müsste erst einmal glaubhaft nachweisen, dass
Erntekrisen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an Häufigkeit und vor allem
an Schrecklichkeit – z.B. in Form sinkender Mortalitätsrisiken – verloren und die
prozessinitiierende Verknüpfung mit der Schadenszauberimagination tatsächlich
noch eine vitale Funktionalität besaß.36 Bereits eine sehr holzschnittartige Aneinan-
derreihung von Erkenntnissen der Wirtschafts- und Demografiegeschichte erbringt
hier ebenso wichtige Einsprüche wie für den Beginn der Verfolgungen.
Die ‚Kleine Eiszeit‘ entließ Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts keineswegs aus ihrem Klammergriff, sondern sorgte gerade zwischen den
entscheidenden Jahren zwischen 1670 und 1710 für eine zweite große Kälteperi-
ode, zumal nun vor allem die für die empfindliche Aussaat wichtigen Frühlings-
monate überaus eisig ausfielen. Die Klimadaten vermitteln jedenfalls den Ein-
druck, dass man in der Rückschau die erste Kältephase zwischen 1570 und
1600/31 vielleicht sogar noch als vergleichsweise milde bezeichnen könnte.37 Wie
fundamental unterschied sich also das frühe 18. Jahrhundert in demografisch-kli-
mahistorischer Sicht vom 17. Jahrhundert?
Zwar verschwand die – anders als in die Judenverfolgung nie direkt in den
Hexenglauben verwobene – Pest nicht zuletzt aufgrund verbesserter Präventions-,
Isolations- und Hygienemaßnahmen. Fundamentale Auswirkungen auf eine allge-
mein höhere Lebenserwartung oder sinkende Sterblichkeit besaß dies jedoch nicht,
da sich nun unter anderem ‚neue‘ epidemische Krankheiten (Pocken, Masern)
ausbreiteten.38 Wirklich einschneidende Wandlungsprozesse erkennt die Demogra-

34 Wolfgang Behringer: Hexenverfolgung in Bayern. Volksmagie, Glaubenseifer und Staatsräson


in der frühen Neuzeit. München 1997, S. 124f. Peter Oestmann: Hexenprozesse am Reichs-
kammergericht. Köln, Weimar u. Wien 2002, S. 434ff.; Günther Jerouschek: Die Hexen und
ihr Prozeß. Die Hexenverfolgung in der Reichsstadt Esslingen. Sigmaringen 1992, S. 40; Jür-
gen Michael Schmidt: Das Hexereidelikt in den kursächsischen Konstitutionen von 1572. In:
Benedict Carpzov. Neue Perspektiven zu einem umstrittenen sächsischen Juristen. Hg. v.
Günter Jerouschek, Wolfgang Schild u. Walter Gropp. Tübingen 2000, S. 111–135.
35 Barbara Groß: Hexerei in Minden. Zur sozialen Logik von Hexereiverdächtigungen und
Hexenprozessen (1584–1684). Münster 2009, S. 25ff.
36 Die in diesem Sinne geführte Diskussion wird mit den etwas anders konturierten Argumenten
von Johannes Dillinger gut zusammengefasst: Dillinger: Hexen (wie Anm. 9), S. 149–152.
37 Rüdiger Glaser: Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen.
Darmstadt 2001, S. 93–95.
38 Christian Pfister: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800. München
1994, S. 42–48.

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fie- und Wirtschaftsgeschichte erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Gerade das
Alte Reich ist bekannt für den relativ spät einsetzenden Prozess der demografi-
schen Transition, der Hinweise auf eine grundlegend veränderte Mortalität gibt.39
Besonders sinnfällig erweist sich die Grobschlächtigkeit solcher Argumentationen
an der unterschiedlichen Lebenserwartung in Stadt und Land. Zum bis heute in der
Hexenforschung gern bemühten Topos von der ländlich-bäuerlichen Prägung des
Hexenglaubens40 scheint nun gar nicht zu passen, dass die Bäuerin durchschnittlich
zwanzig Jahre länger lebte als ihre historische Weggefährtin aus der städtischen
Oberschicht, der eine kritischere Distanz zum Hexenglauben zugesprochen wird.41
Dass die dramatischen strukturellen Veränderungsprozesse in den dörflichen
und städtischen Gemeinden nach dem Dreißigjährigen Krieg keineswegs zielge-
richtet zu einer neuen zurückhaltenden Einstellung zum Hexenprozess führen
mussten, zeigen die Beispiele ausgedehnter Hexenverfolgungen in den 1650er bis
1680er Jahren, die vor allem im Norden und Osten Europas stattfanden. Besonders
intensive und ideell übersteigerte Verfolgungswellen fanden unmittelbar im An-
schluss an den Krieg statt. Pintschovius hat diesen Zusammenhang selbst für die
Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges nachgewiesen.42 Insgesamt festhalten darf
man daher wohl, dass sich die Änderungen, die zu einer allmählichen Entkrimina-
lisierung der Hexerei geführt haben, weniger als fundamentale Transformations-
prozesse von Klima, Urbanisierung, Wirtschaft und Demografie darstellen. Was
sich vielmehr änderte, war der Bewertungs- und Deutungszusammenhang, in dem
sich Hexerei als gesellschaftliches Bedrohungspotential konstituierte oder eben
nicht.
Zentrales Problem der skizzierten Argumentationsstränge bleibt, dass sie sich
nicht mit dem Kern des Hexenglaubens selbst beschäftigen, sondern Wechselwir-
kungen zu anderen gesellschaftlichen Krisenphänomenen herstellen und diese zur
ursächlichen Erklärung heranziehen. Ob sich jedoch einzelne Wechselwirkungen
tatsächlich voneinander separieren und dann auch noch in ein Ursache-Wirkung-
Modell einordnen lassen, scheint mehr als fraglich. Zudem bleibt offen, welche
direkten Auswirkungen die Veränderungen beispielsweise im Recht auf den He-
xenprozess einerseits und auf den Hexenglauben andererseits hatten. Für viele
Territorien wurde festgestellt, dass die Verfolgungen durch eine rechtliche Ein-
schränkung von Folter und Kriminalprozessen ihr Ende fanden. Gleichzeit kann
man beobachten, dass die Hexenverfolgungen nicht einfach allmählich ausliefen.

39 Josef Ehmer: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800–2000. München


2004, S. 34–40.
40 Meiner Meinung nach ein Relikt der Aufklärungspropaganda!
41 Pfister: Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 38), S. 43.
42 Hans-Joska Pintschovius: ‚Heute wie zu allen Zeiten …‘ Hexerei vor deutschen Gerichten. In:
Hexen heute. Magische Traditionen und neue Zutaten. Hg. v. Dieter R. Bauer u. Dieter Harme-
ning. Würzburg 1991, S. 79–86.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 689

Meist erfolgte das Ende der Verfolgungen relativ abrupt von einem hohen Verfol-
gungsniveau aus.
Diese Beobachtung verweist auf den Selbstperpetuierungsmechanismus des
Sektenverbrechens, der die Hexenverfolgung einerseits anfachte, andererseits aber
auch sozial unattraktiv machte. Die Verfolgungen selbst stießen jeweils einen,
wenn auch lokal begrenzten, innergesellschaftlichen Erkenntnisprozess an, der
nicht so sehr vom Hexenglauben als vielmehr von der sozialen Destruktion durch
die Prozesse bestimmt war. Die soziale Sprengkraft, mit der sich ein individuelles
Verbrechen in einen umfassenden gesellschaftlichen Flächenbrand verwandeln
konnte, Bezichtigungen gesicherte Mechanismen sozialer Distinktion, Macht- und
Prestigewahrnehmung außer Kraft setzten und ein eklatantes Konflikt- und Eska-
lationspotential über alle gesellschaftlichen Schranken hinweg entfalteten, ist durch
zahlreiche Studien zur Hexenverfolgung minutiös nachgezeichnet worden. Die
unersättliche Logik des Ausnahmeverbrechens, die zur Generierung immer neuer
Verbrechenskomplizen führte, erzeugte einen Sog, der nicht nur Vertreterinnen der
Unterschichten, sondern im 17. Jahrhundert zunehmend auch Akteure aus der
sozialen Mitte oder gar Eliten mit in den Abgrund riss. Was insgesamt für die
historische Entwicklung der Hexenverfolgung gilt, findet sich als typisches Muster
lokaler Abläufe der Hexenjagd wieder.43 Dörfliche und städtische Gesellschaften
standen nach den intensiven Treibjagden gegen die Hexerei vor den Trümmern
ihres Gemeinwesens. Es wäre in dieser Hinsicht vielleicht nützlich, die Hypothese
vom historischen Gedächtnis der lokalen Gesellschaften einmal genauer zu unter-
suchen, die ein Auftreten von Hexenjagden in lokalen Gemeinschaften in einem
Abstand von einer Generation nahelegt. Immer dann, wenn das Wissen um die
gemeinschaftsschädlichen Folgen der Hexenverfolgung in Vergessenheit geraten
sei, hätten sich neue Chancen für die Akzeptanz eines Magieverdachts eröffnet.44
Innerhalb der Hexenverfolgung setzte über die ‚Massenprozesse‘ ein Entkopp-
lungsvorgang ein, der die realen Schadenszauberprozesse vom Hexenglauben
löste. Interessanterweise mehrten sich am Ende des 17. Jahrhunderts Fälle, die
Schadenszauberdelikte ohne die umfängliche Kopplung eines Hexenprozesses
abhandelten, da sie mit zahlreichen Verweisen auf die ‚natürliche Magie‘ agier-
ten.45 Daneben gab es zunehmend Prozesse, die dezidierte Teufelsbündner aburteil-
ten, bei denen Schadenszaubervorwürfe lediglich eine untergeordnete Rolle spiel-
ten46 oder aber Teufelsbündner über religiöse Rituale von ihrem Pakt befreit wur-

43 Johannes Dillinger: Böse Leute. Hexenverfolgungen in Schwäbisch-Österreich und Kurtrier im


Vergleich. Trier 1999, S. 206–229; Jerouschek: Hexen (wie Anm. 34), S. 73f. Dagegen Walz:
Hexenglaube (wie Anm. 30), S. 295–298.
44 H. C. Erik Midelfort: Witch hunting in Southwestern Germany 1562–1684. The social and
intellectual Foundations. Stanford 1972, S. 190–194. Dort auch zur sozialen Ausweitung der
Verfahren.
45 Moeller: Willkür (wie Anm. 23), S. 130–132.
46 Gabor Rychlak: Hexenfieber im Erzgebirge – Die Annaberger Krankheit 1712–1720. Mainz
2009. URN: urn:nbn:de:hebis:77-21590 [01.06.2011], S. 255–272, bes. S. 256f.

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690 Katrin Moeller

den, ohne dass eine Kriminalisierung erfolgte.47 Hier setzte also eine differenzierte
Behandlung von Zauberei als ‚natürlicher Magie‘ einerseits und Hexerei anderer-
seits ein, die sich nicht unmittelbar mit der rechtlichen Einschränkung von Hexen-
prozessen erklären lässt, sie aber begleitete. Sowohl im sozialen Bezugsrahmen des
Rechts wie der gemeindlichen Verdachtsgenese lassen sich so Wandlungsprozesse
ausmachen, die vielleicht ebenfalls eher nebeneinander existierten als unmittelbar
direkt interagierten. Um hier nach den Wechselwirkungen zwischen beiden Teil-
systemen zu fragen, ist eine genaue Analyse der neuen Bilder von Magie, Zauberei
und Hexerei notwendig.
Auf gleiche Weise wäre damit auch definierbar, wie weit sich die Aufklärung
überhaupt als Rationalisierungsleistung in den Hexenglauben integrieren konnte.
Diese Frage lässt sich vermutlich am genauesten untersuchen, wenn man nicht so
sehr die sozialen Funktionen betrachtet, die der Hexenglaube annehmen konnte
(aber ja nicht zwangsläufig musste), sondern die verschiedenen Wahrnehmungs-
und Deutungsmuster der Hexerei im 18. Jahrhundert untersucht. Immerhin ist der
Forschungsstand zum modernen Hexenglauben mittlerweile so weit gediehen, dass
sich hier eine erhebliche Diversifizierung hexereispezifischer Deutungen und
Handlungen im 18. und 19. Jahrhundert ausmachen lässt. Der Hexenglaube ver-
schwand nicht zugleich mit den Hexenprozessen, er veränderte sich jedoch erheb-
lich. Durch die Entkriminalisierung des Delikts der Hexerei seit dem späten
17. Jahrhundert eröffneten sich neue Möglichkeiten zu einer positiv besetzten Be-
schäftigung mit Magie. Es gehört zu den historischen Konstellationen des
18. Jahrhunderts, dass es zur Entwicklung magischer Vorstellungen kam, die zwar
inhaltlich mit Themen der vormaligen Hexerei verknüpft, in ihren äußeren Formen
und Begrifflichkeiten jedoch so gar nicht mehr als Hexenglauben zu identifizieren
sind. In diesem Sinne wirkte der aufklärerische Diskurs ausdifferenzierend auf
hexereiaffine Handlungen, die nun aber nicht mehr als Hexerei wahrgenommen
wurden. Problematisch für eine genaue definitorische Scheidung von ‚weißer‘ und
‚schwarzer‘ Magie waren die strikte Kompression und das negative Konnotieren
jeglicher Magie durch die Hexereiverfolgung. Dies galt vordergründig für die
gesamtgesellschaftlich ‚ungefährlichen Varianten‘ magischer Rituale, die zwar
während der Hexenverfolgung als ‚Hexerei‘ subsummiert wurden, letztlich jedoch
wenig mit schwarzmagischen Ritualen gemein hatten. Die sich in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildenden Strömungen etwa des Mesmerismus,48

47 Katrin Moeller: Art. Andreas Weiss und das ‚Wunder von Muskau‘. In: Lexikon (wie Anm.
25), URL: http://www.historicum.net/no_cache/persistent/artikel/6963/ [01.06.2011].
48 Frank A. Pattie: Mesmer and animal magnetism. A chapter in the history of medicine. Hamil-
ton, NY 1994; Gereon Wolters: Mesmer und sein Problem. Wissenschaftliche Rationalität. In:
Franz Anton Mesmer und der Mesmerismus. Wissenschaft, Scharlatanerie, Poesie. Hg. v.
dems. Konstanz 1988, S. 121–138.

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der Homöopathie49 und des Spiritismus50 grenzten sich deutlich von hexereispezifi-
schen Terminologien und Techniken ab und eröffneten ganz neue Diskurse. Dem-
gegenüber erlebten schwarzmagische Handlungsfelder offenbar eine erheblich
längere Abstinenzphase, bevor sie erneut gesellschaftliche Attraktivität entfalte-
ten.51

II Rückblick: Die Neudefinition von Hexerei im 15./16. Jahrhundert

Obwohl es sicherlich höchst spannend wäre, diese Neufassung von ‚positiver‘


Magie im Hinblick auf ihre Separierung vom Hexenglauben zu verfolgen, sollen
hier nicht die neuen magischen Vorstellungen im Mittelpunkt stehen. Vielmehr
möchte ich im Anschluss an den traditionellen Hexereibegriff die eben angespro-
chene Entflechtung von Schadenszaubervorstellungen und dämonischer Magie seit
dem späten 17. Jahrhundert verfolgen. Ziel ist eine Analyse der hypothetisch ange-
nommenen Entdämonisierung des Hexereiverbrechens und der Auswirkungen auf
den originären Hexenglauben im 18. Jahrhundert. Welche Folgewirkungen hatte
die allmähliche – wenn auch noch nicht immer normative, so doch faktische –
Entkriminalisierung des Magieglaubens bei gleichzeitiger Negierung und Stigmati-
sierung zentraler schwarzmagischer Wissensbestände durch die Aufklärung? Wel-
che Konzepte des Schadenszaubers, welche Phänomenologie der Hexerei lässt sich
unter den neuen Rahmenbedingungen des 18. Jahrhunderts überhaupt finden?
Um den Wandel des Hexereikonzepts im 18. Jahrhundert besser zu verstehen,
ist eine kurze Reflexion des Hexereibegriffs als Neuschöpfung des 15. Jahrhun-
derts in Erinnerung zu rufen. Hier entstand mit der aufkommenden Dämonologie
erstmals ein rational-religiöses Erklärungsangebot für den Schadenszauber, indem
man das Zaubereikonzept um den Dämonenglauben erweiterte.52 Es ist daher nach
gegenwärtigem Forschungsstand falsch, bereits vor dem 15. Jahrhundert von Hexe-
rei zu sprechen. Inwieweit schwarzmagisches Denken bereits zuvor im mitteleuro-
päischen Raum verbreitet war und welche magischen Wissenskonglomerate sich
hinter älteren Schadenszauberkonzepten verbargen, steht in der neueren Forschung

49 Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventio-
nellen Therapien von heute. München 1996, S. 179–220. Alternative Medizin basiert auf dem
Ähnlichkeitsprinzip des Lehrkonzepts von Sympathie und Antipathie, welches gleichfalls als
ein Erklärungsansatz von Schadenszauberpraktiken diente.
50 Corinna Treitel: A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern.
Baltimore, London 2004; Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Ent-
stehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900. Paderborn u.a. 2002.
51 Dagmar Fügmann: Zeitgenössischer Satanismus in Deutschland. Eine religionswissenschaftli-
che Untersuchung bei Mitgliedern satanistischer Gruppierungen und gruppenunabhängigen
Einzelnen. Hintergründe und Wertvorstellungen. Würzburg 2008, S. 19.
52 Gerd Schwerhoff: Rationalität im Wahn. Zum gelehrten Diskurs über die Hexen in der frühen
Neuzeit. In: Saeculum 37 (1986), S. 45–82, 60ff.

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grundsätzlich zur Debatte,53 wie insgesamt die Reichweite magischen Denkens des
16./17. Jahrhunderts im Vergleich mit anderen Epochen kritisch hinterfragt wird.54
Interpretationen reichen hier von der Konstitution eines umfassenden animisti-
schen Weltbildes als Kennzeichen jeder vormodernen Gesellschaft55 bis hin zur
Wiederentdeckung antiker Magietraditionen in der Renaissance, die erst ab dieser
Zeit zu einer umfassenden Entfaltung magischen Denkens in Mitteleuropa führ-
ten.56 Aus diesem Forschungsdesign muss man nun die Konsequenz ziehen, dass
die Trennung von Schadenszauber und dämonischer Magie seit dem späten 17. Jahr-
hundert wiederum eine neue Fassung des Begriffes repräsentiert, die einer neuen
Bezeichnung bedürfte.
Die Dämonologie des 15. bis 17. Jahrhunderts hatte sich umfänglich bemüht,
den Hexenglauben als religiöses Bezugssystem zu etablieren, welches sich trotz
erheblicher Widersprüche mit dem christlichen Monotheismus vereinbaren ließ.57
Permissio Dei – also Gottes Zulassung der Hexerei – und die erheblich angewach-
senen Mächte des Teufels formten aus der noch im Spätmittelalter selbstbewusst
aus eigener Kraft agierenden Zauberin ein entmachtetes Werkzeug in Teufels bzw.
Gottes Händen. Damit gelang die Einpassung von Hexe und Teufel in den christli-
chen Glauben als Agenten des göttlichen Heilsplans. Man wird festhalten dürfen,
dass die selbstbestimmte Hinwendung zu schwarzmagischen Praktiken damit er-
heblich an Attraktivität verlor. Diese Tatsache potenzierte sich aufgrund der radi-
kalen Kriminalisierung und Verfolgung von Hexerei, die zudem eine intensive
Standardisierung von Narrativen und Imaginationen mit sich brachte. Das vormals
wahrscheinlich (!) ambivalente Deutungssystem magischer Wunderpraktiken, das
negative ebenso wie positive Wirkungen kannte, reduzierte sich zunehmend auf
den Schadenszauber.
Im Hexenmotiv eingelagert finden sich somit zahlreiche Elemente der Deindivi-
dualisierung, die aus der Selbstermächtigung des Magiers nun einen abhängigen
Akteur formten. Nicht nur in dieser Hinsicht bildete der Hexenglaube mit seinen

53 Neugebauer-Wölk: Wege aus dem Dschungel (wie Anm. 5), passim.


54 Katrin Moeller: Gestörte Kommunikation. In: Europäische Hexenverfolgung und Landesge-
schichte. Methoden – Regionen – Vergleiche. Hg. v. Rita Voltmer. Trier 2013 (im Druck).
55 Bernd Roeck: Die Verzauberung des Fremden. Metaphysik und Außenseitertum in der frühen
Neuzeit. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. v. Hartmut
Lehmann u. Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1999, S. 319–336, hier S. 326f. u. 330–332; Re-
bekka Habermas: Wunder, Wunderliches, Wunderbares. Zur Profanisierung eines Deutungs-
musters in der frühen Neuzeit. In: Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturfor-
schung. Hg. v. Richard van Dülmen. Frankfurt a.M. 1988, S. 38–66.
56 Neugebauer-Wölk: Wege aus dem Dschungel (wie Anm. 5), bes. S. 177f. Dazu auch: Gerd
Schwerhoff: Esoterik statt Ethnologie? Mit Monika Neugebauer-Wölk unterwegs im Dschun-
gel der Hexenforschung, 2007. In: Hexenforschung/Forschungsdebatten. Hg. v. Katrin Moel-
ler. Historicum.net (URL: http://www.historicum.net/no_cache/de/persistent/artikel/5505/
[01.06.2011]), hier Abschnitt 2.
57 Schwerhoff: Rationalität (wie Anm. 52), S. 58; Stuart Clark: Thinking with demons. The idea
of witchcraft in early modern Europe. Oxford, New York 1997, S. 437ff.

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Motiven des Teufelspaktes und Hexensabbats mehr als eine Verkehrung katholi-
scher Kirchlichkeit ab, die der klassischen Häresieverfolgung und später dem indi-
viduellen Glaubensverständnis der Reformation als Argumentationsfolie diente,58
sondern entfaltete darüber hinaus ein auffälliges Gegenprogramm zur Hermetik.
Während die Selbstbestimmung und damit die Steuer- und Beherrschbarkeit
übernatürlicher Kräfte ein wesentliches Argument der frühneuzeitlichen Esoteriker
zur Legitimation ihres Wirkens blieb, schuf die Dämonologie mit der machtlosen,
wenig willensstarken Hexe als Spielball zwischen Himmel und Hölle das Inversi-
onsmotiv hermetischen Selbstverständnisses.59
Eine weitere wichtige Aufgabe bleibt es, die verschiedenen Impulse dieser Neu-
definition als gegenläufige Verchristlichungs- und Entchristlichungsprozesse60 im
Kontext der reformatorischen Strömungen des 15. und 16. Jahrhunderts noch ein-
mal neu zu systematisieren und zu interpretieren. Allein der Anspruch auf die
Einordnung des Magieverständnisses in christliche Referenzsysteme verweist auf
die gewachsenen Legitimationsbedürfnisse im vorreformatorischen und reformato-
rischen Diskurs, der kaum geradlinig ausfiel. Auf der einen Seite unterhöhlte der
faktische Dualismus von Gott und Teufel den christlichen Monotheismus, behin-
derten magische Denkformen abseits kirchlicher Magie die stringente Dominanz
der christlichen Religion. Auf der anderen Seite führte die umfassende Auseinan-
dersetzung um den Teufels- und Hexenglauben und die Einordnung in das christli-
che Deutungsschema zu einer genaueren begrifflich-rituellen Scheidung von Ma-
gie und Religion, die sich auf allen Handlungsebenen der Gesellschaft beobachten
lässt. Die Impulse des Hexenglaubens für das religiöse Denken blieben daher wi-
dersprüchlich, gegenläufig und somit von überaus individueller Performanz. Die
religionsphänomenologische sorgfältige Einordnung von Elementen und Erklä-
rungskonzepten des Schadenszauberglaubens auf dem Weg in die Moderne bietet
daher einen anders gelagerten Blick auf die Sog- und Prägekraft des Christentums.
Obwohl der Hexenglaube somit zur Konjunktur eines sehr eng gefassten magi-
schen Denkens führte, beinhaltete der Diskurs zugleich eine fundamentale gesell-
schaftliche Auseinandersetzung, die insofern zur Rationalisierung führte, als Magie
und Religion schließlich sehr rigide als zwei verschiedene Deutungsebenen fixiert
wurden. Es ist daher überaus kurzschlüssig, lediglich die Aufklärung als Rationali-
sierungsprozess des Magischen zu begreifen.61

58 Kathrin Utz Tremp: Von der Häresie zur Hexerei. ‚Wirkliche‘ und imaginäre Sekten im Spät-
mittelalter. Hannover 2008, S. 384ff.
59 Vgl. Hermeticism and the Renaissance. Intellectual History and the Occult in Early Modern
Europe. Hg. v. Ingrid Merkel u. Allen G. Debus. Washington, London u. Toronto 1988, bes.
die Beiträge v. Brian Copenhaver, Paola Zambelli u. Leland L. Estes.
60 Keith Thomas: Religion and the decline of magic. Studies in popular beliefs in sixteenth and
seventeenth century England. Harmondsworth 1978, S. 469ff.; Robert Muchembled: Die Kul-
tur des Volks, die Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung. Stuttgart
1982, S. 158ff.; Neugebauer-Wölk: Wege aus dem Dschungel (wie Anm. 5), S. 340f.
61 Dazu schon Schwerhoff: Rationalität (wie Anm. 52), passim.

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Auffällig bemühte sich die Dämonologie um die Kreation und Durchsetzung


eines dezidiert christlich geformten Hexen- und Magieglaubens, die – orientiert
man sich am gegenwärtigen Forschungsstand – überaus erfolgreich war. Strengge-
nommen müsste sich daher mit der Aufhebung des Teufelsglaubens im 18. Jahr-
hundert62 auch die Vorstellung des christlichen Schadenszaubers erledigt haben
bzw. mussten andere Erklärungskonzepte der Magie an seine Stelle treten, die in
diesem Sinne neue Irrationalität bedeuten konnten. Ohne Teufelspakt und -buhl-
schaft war eine Ausübung magischer Fähigkeiten im christlichen Dämonologiedis-
kurs theoretisch undenkbar.

III Hexerei im Kontext des aufklärerischen Diskurses (18. Jahrhundert)

Die Genese des Hexen- und Schadenszaubers im 18. Jahrhundert zu verfolgen, fällt
abseits des dämonologischen Diskurses um die Realpräsenz des Teufels und trotz
der intensiven aufklärerischen Debatte aus zwei wesentlichen Gründen nicht leicht.
Der Hexenglaube, der noch im frühen 17. Jahrhundert scheinbare Lösungen für
soziale Konflikte geboten hatte, entfaltete im späten 17. Jahrhundert in dieser Hin-
sicht kaum noch Prestige. Somit hinterließ er auch weniger überlieferte Spuren.
Erst am Ende des 18. Jahrhunderts eröffnete die Entkriminalisierung des Delikts
eine selbstbestimmte, aktive Magienutzung, die wiederum vermehrt Egodoku-
mente und Beschreibungen von Magiesystemen hervorbrachte. Mit dem Versiegen
der klassischen Quellen der Hexenprozesse endete ein breiter, systematischer In-
formationsstrom über angebliche magische Rituale. Grundsätzlich blieb zwar die
gängige Täter-Opfer-Konstellation im Rahmen von Hexereiverdächtigungen exis-
tent, im Kontext der juristischen Verfolgung vollzog sich seit dem späten 17. Jahr-
hundert aber ein erheblicher Perspektivwechsel. Standen zuvor die imaginierten
Akteure von Hexerei im Zentrum der Untersuchung, zielten Strafverfolgungen
jetzt vorwiegend auf das Milieu der Hexereibeschuldiger und vor allem Hexenban-
ner, die in zivilgerichtlichen Injurienprozessen Rede und Antwort stehen mussten.
Streitgegenstand war damit nicht mehr das eigentliche Hexereidelikt, sondern die
Beschimpfung oder Verdächtigung. Sie thematisierten häufig weder die Hinter-
gründe und Ursachen noch die damit zusammenhängenden Rituale der vermuteten
Zauberei. Dennoch lassen sich über die Injurienfälle, Verfahren um Totenruhe,

62 Zusammenfassend dazu Renko Geffarth: Teufel, Geister, Dämonen. Magisches Denken in


aufklärerischen Debatten. In: Grenzüberschreitungen. Magieglaube und Hexenverfolgung als
Kulturtransfer. Hg. v. Katrin Moeller, Gudrun Gersmann u. Jürgen Michael Schmidt (im
Druck); Gustav Roskoff: Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den
Anfängen bis ins 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993, S. 479ff.; Heinz Dieter Kittsteiner: Die Ab-
schaffung des Teufels im 18. Jahrhundert. Ein kulturhistorisches Ereignis und seine Folgen. In:
Die andere Kraft. Zur Renaissance des Bösen. Hg. v. Alexander Schuller u. Wolfert von
Rahden. Berlin 1993, S. 55–92; Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Philosophy and the
Making of Modernity 1650–1750. Oxford 2001, bes. S. 375–405.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 695

Körperverletzung und Brandstiftung eine nicht unbeträchtliche Zahl von Strafver-


folgungen mit ‚okkultem‘ Hintergrund für das späte 18. bis 20. Jahrhundert nach-
weisen, ohne dass diese für Deutschland bisher umfassend zusammengetragen und
analysiert worden wären.63
Andererseits gibt es bisher nur wenige dezidierte Studien zum ‚wissenschaftli-
chen‘ bzw. publizistischen64 ebenso wie zum populären65 Hexenglauben der Mo-
derne. Hier bleibt es für den deutschsprachigen Forschungsraum nach wie vor eine
wichtige Aufgabe, die verschiedenen Facetten und Bilder des aufgeklärten Hexen-
glaubens zueinander zu bringen. Einer der wenigen direkten Anknüpfungspunkte
ist die umfangreiche Studie zur saarländischen Popularmagie zwischen dem 16.
und 18. Jahrhundert von Eva Labouvie, die allerdings nur einen sehr knappen
Ausblick auf die Moderne gibt. Sie konstatiert den Erhalt der traditionellen Fülle
magischer Rituale im gesamten 18. Jahrhundert, die in ihrer dominanten christli-
chen Prägung keinerlei Einschnitte erlitt. Einen hohen Bedeutungsverlust machten
zwar aufgrund der generellen Entkriminalisierung Rituale der Hexereiidentifika-
tion und -abwehr durch, wie auch einige kollektive Magiebräuche im Rahmen von
Schutzpraktiken verschwanden. Alle anderen Praktiken des Schaden- und Heilzau-
bers blieben jedoch Labouvie zufolge konstant bestehen. Einen intensiven Wandel
stellte die Autorin hingegen bei den Formen magischer Rituale heraus. Hier mar-
kiert sie einen gegenläufigen Wechsel, der sich an verschiedenen funktional be-
stimmten Magiepraktiken festmacht: Einerseits wichen zeichenhaft praktizierte
Schadenszauber (Amulette, Symbole) im 18. Jahrhundert zunehmend der schriftli-
chen bzw. mündlichen Verfluchung/Verwünschung.66 Andererseits gab es einen
gegenläufigen Ersatz von christlichen und ‚volksmagisch‘ basierten Systemen.
Während bei Heilzaubern die eher christlich inspirierte Form des Segnens von
Anwendungsformen kosmischer Sympathie verdrängt wurde, skizziert Labouvie
für die Behandlung von Besessenheit einen Rückzug individueller Rituale zuguns-
ten kirchlicher Exorzismen.67
Ein anderer direkter Zugriff ist über die essentielle Diskussion des Hexenglau-
bens in der Publizistik der aufklärerischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts mög-

63 Bisher vor allem für das 20. Jahrhundert: Inge Schöck: Hexenglaube – noch heute? In: Hexen
heute (wie Anm. 42), S. 41–54; Herbert Schäfer: Der Okkulttäter. Hexenbanner – Magischer
Heiler – Erdenstrahler. Hamburg 1959.
64 Hier vor allem für das 19. und 20. Jahrhundert die informative Studie von Wiedemann: Rassen-
mutter (wie Anm. 6).
65 Owen Davies: Witchcraft, magic and culture 1736–1951. Manchester, New York 1999; Bengt
Ankarloo, Stuart Clark: Witchcraft and Magic in Europe. Bd. 5: The Eighteenth and Nineteenth
Centuries. Philadelphia 1999; Beyond the witch trials. Witchcraft and magic in Enlightenment
Europe. Hg. v. Owen Davies u. Willem de Blécourt. Manchester 2004; Freytag: Aberglauben
(wie Anm. 6), bes. S. 165–189.
66 Dazu auch: Stephan Bachter: Anleitung zum Aberglauben. Zauberbücher und die Verbreitung
magischen ‚Wissens‘ seit dem 18. Jahrhundert. Hamburg 2007. URN: urn:nbn:de:gbv:18-
32213, S. 162.
67 Labouvie: Verbotene Künste (wie Anm. 8), S. 300f.

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lich. Um die entscheidenden Argumentationsfiguren dieser Debatte zu identifizie-


ren, erfolgte eigens für diese Darstellung eine Durchsicht der von der Universität
Bielefeld digitalisierten 160 Zeitschriften zur Aufklärung zwischen 1750 und
181568 sowie wichtiger flankierender Abhandlungen zum ‚Aberglauben‘. Über die
effektiven Möglichkeiten der Volltext-Schlagwortsuche förderte diese Analyse
etwa 300 einschlägige Artikel zutage, die sich dem Thema der Hexerei widmen.
Allen Artikeln gemeinsam ist das moralisierende Anliegen, Hexerei (unter Zuhil-
fenahme oftmals stark überzeichneter Stereotype) als ‚Aberglaube‘ in neue Erklä-
rungszusammenhänge einzubetten. In dieser Hinsicht ähneln sie als Quelle dem
standardisierenden gelehrten Traktatdiskurs der Dämonologie des 15. bis 17. Jahr-
hunderts, berücksichtigt man die differierende inhaltliche Stoßrichtung beider
Textgattungen. Ähnlich problematisch ist in beiden Quellensorten die Narration
von konstruierten Exempeln, die nicht im Sinn einer Realfiktion zu verstehen sind.
Dennoch ermöglichen diese Texte Einblick in die Existenz und Verbreitung spezi-
fischer Topoi des aufklärerischen Hexereidiskurses, die hier vor allem in ihrer
Abgrenzung zur Diskussion während der Hexenverfolgung analysiert werden
können.
Markant ist der glatte Bruch zu den Narrativen und Stereotypen des Hexenglau-
bens im Kontext der Hexenprozesse und Injurien des 17. Jahrhunderts. Überaus
sinnfällig steht dafür das im 18. Jahrhundert einsetzende Stereotyp der alten, rotäu-
gigen bzw. triefäugigen69 sowie insgesamt körperlich überaus auffälligen Hexe.70
Fast keine Schilderung aus der Zeit der Aufklärung kam ohne entsprechende Ver-
bildlichungen aus. Wohl erst Mitte des 19. Jahrhunderts trat noch das eher mär-
chenhafte Motiv der großen, krummen und warzenbesiedelten Nase hinzu.71 Kaum
zufällig erscheinen hier die klar vernehmbaren antisemitischen Töne Mitte des 19.
Jahrhunderts, da nun die Herkunft des Hexenglaubens aus den kabbalistischen

68 Retrospektive Digitalisierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften


des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum. Universitätsbibliothek Bielefeld
2000–2008, URL: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufklaerung/index.htm [01.06.2011].
Vgl. dazu Sabine Rahmsdorf: Zeitschriften der Aufklärung im Netz – Retrospektive Digitali-
sierung wissenschaftlicher Rezensionsorgane und Literaturzeitschriften. In: Geschichte im
Netz. Praxis, Chancen, Visionen. Beiträge der Tagung. hist 2006. Teilband 2007. Hg. v. Daniel
Burckhardt. Berlin 2007, S. 308–321.
69 Dieses Motiv findet sich sowohl in zahlreichen aufklärerischen Schriften wie auch in den
weitgehend im 19. Jahrhundert entstandenen Märchen und Sagensammlungen, so z.B. in Jacob
und Wilhelm Grimms Kinder- und Hausmärchen. Vgl. Wiedemann: Rassenmutter (wie Anm.
6), S. 59. In den aufklärerischen Zeitschriften prägnant: Vom Aberglauben zu Osterode am
Harze. In: Journal von und für Deutschland 5 (1788), S. 425–431; Beytrag zum Aberglauben in
und um Bielefeld in Westfalen. In: Journal von und für Deutschland 7/10 (1790), S. 389f.; Ein
Hexenschwank. In: Lausizisches Wochenblatt 1/2 (1790), S. 8f. (Beiträge, die ohne Ver-
fasserangabe erschienen sind, werden hier und im Folgenden nur mit dem Titel zitiert).
70 Zusammenfassend dazu Hermann Heinrich Ploss: Das Weib in der Natur- und Völkerkunde.
Anthropologische Studien. Bd. 2. Berlin 1927, S. 554ff.
71 Burghart Schmidt: Ludwig Bechstein und die literarische Rezeption frühneuzeitlicher
Hexenverfolgungen im 19. Jahrhundert. Hamburg 2004, S. 101ff.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 697

Schriften Überbetonung erfuhr.72 Dass die Assoziierung der Juden als Stifter des
Hexenglaubens letztlich auch die Übertragung des Motivs der langen Nase von den
Juden auf die Hexen initiierte, bleibt an dieser Stelle allerdings eine reine Mutma-
ßung.73 Die Motivbildung der physischen Markierung der Hexe hebt sich deutlich
von Narrativen aus der Zeit der Hexenverfolgung ab. Dort war zwar die körperli-
che Zeichnung der Hexen durch das Teufelsmal ebenfalls präsent, dieses war je-
doch weder öffentlich sichtbar noch vom bloßen Augenschein her zu beurteilen
und symbolisierte damit den okkulten Charakter der Hexerei. Vor allem die
Schmerzunempfindlichkeit dieser Körperzeichen taugte in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts lokal begrenzt als gerichtliches Indiz. Dabei war die Rotäugigkeit
der Hexen durchaus gelegentlich Diskussionsgegenstand der antiken und frühneu-
zeitlichen Dämonologie:74 Für den öffentlichen Diskurs oder gar die nachbar-
schaftliche Verdachtsgenese blieb das Aussehen der Hexen jedoch völlig unterge-
ordnet.
Die hässliche Hexe lediglich als Metapher für ihre Bösartigkeit im Sinne der
Märchen zu lesen, ginge allerdings an den Interpretationsansätzen des 18. Jahrhun-
derts vorbei. Die Neuausrichtung des Hexereistereotyps steht für eine ganz sub-
stantiell gedachte Pathologisierung und Pädagogisierung des Magieglaubens. Die
falsche Erziehung führte im neuen Verständnis zur Unordnung der Körpersäfte und
-strömungen, die ihrerseits wiederum eine Verwirrung des Geistes und damit zum
magischen Denken als einer Geisteskrankheit führte.75 Das Immaterielle ließ sich
auf diese Weise weiterhin in materielle Daseinsformen überführen. Nicht die
Existenz materieller und imaginärer Sphären findet sich daher aufgehoben, sondern
lediglich der Mechanismus der Konvertierung von der einen Daseinsform in die
andere. Bereits am Ende des 17. Jahrhunderts finden sich Argumentationsmuster,
welche diese Pathologisierung betrieben und Hexerei als Produkt falscher Erzie-
hung mit eklatant wahrnehmbaren psychisch-physischen Folgen deuteten.76
Die Einfallschneise solcher Erklärungsansätze bildeten zunächst die im Hexe-
reidiskurs intensiv betriebenen Systematisierungsbemühungen von magischen und
natürlichen Krankheiten. Wie auch in England lässt sich im deutschsprachigen
Raum eine klarer werdende Ausdifferenzierung spezifisch magisch verursachter
Krankheiten ausmachen, deren sorgfältige Herleitung zur Legitimierung von Hexe-
reiverdächtigungen im späten 17. Jahrhundert betrieben wurde. Dies betraf etwa

72 Wiedemann: Rassenmutter (wie Anm. 6), S. 48–50.


73 Eine andere Erklärung favorisiert die Maskenträger „abergläubischer“ Heischebräuche. Vgl.
dazu Marianne Rumpf: Perchten. Populäre Glaubensgestalten zwischen Mythos und Kate-
chese. Würzburg 1991, S. 179.
74 Siegfried Seligmann: Die Zauberkraft des Auges und das Berufen. Ein Kapitel aus der Ge-
schichte des Aberglaubens. Hamburg 1922, S. 233f.
75 Exemplarisch: Die schädlichen Folgen der Rockenphilosophie. Eine wahre Geschichte. In:
Hannoverisches Magazin 28 (1790), S. 865–876; Uebergang des Aberglaubens in Wahnwitz.
In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 9, 2. St. (1792), S. 26–40.
76 Moeller: Willkür (wie Anm. 23), S. 130f.

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698 Katrin Moeller

Krampfanfälle (Epilepsie), Alpdruck77 und Halluzinationen. Genau diese Krank-


heiten, die zuvor als Ausdruck magischer Wirkungen galten, gerieten bereits im
späten 17. Jahrhundert daher auch in den Fokus der Gegner des Hexenglaubens.
Der Leipziger Medizinprofessor Andreas Petermann etwa deutete den ‚Alpdruck‘
1701 medizinisch unter Verweis auf Johann Weyers De praestigiis daemonorum
(1583) als Erklärungskonzept für Imaginationen von Anfechtungen des Teufels
um, da die Schlafparalyse Empfindungen einer vermeintlichen Teufelsbesitzung
nahelegte:
Der Alp ist ein Zufall einer verminderten Action (nehmlich) des Athemholens welcher die
Schlaffenden mit der grausamsten Dreng- und Zwengung der Brust / Verhinderung der Rede
und falschen Einbildung, als wenn ihnen etwas schweres auff der Brust lege beföllet herrüh-
rende von denen convulsionen (Zuckungen) derer jungen Musculen (Mäuslein) welche zur Re-
spiration dienen, man siehet daß dergleichen Patienten denen so die schwere Noth haben, nicht
ungleich sind, denn sie bemühen sich zwar öffters Athem zu holen, aber alles vergebens.78

Ein weiteres Beispiel repräsentieren Krankheiten um ‚Herzangelegenheiten‘, die


im 18. Jahrhundert weit prominenter als zuvor Liebeszauberimaginationen veran-
lassten79 bzw. an die sich neue medizinische Erklärungskonzepte anschlossen. Der
Liebeszauber etablierte sich auf diese Weise als eine der dominanten Formen des
Schadenszaubers überhaupt. Im Sinne der ganzheitlichen Interpretation bewirkten
auch hier psychisch-seelische Prozesse körperliche Veränderungen bzw. Auswir-
kungen. Einen sehr ähnlichen Werdegang erfuhr die Besessenheit, die weitgehend
als Hysterie Deutung fand.80 In ihren Erklärungen blieben die neuen medizinischen
Einsichten noch an das Objekt des Schadenszaubers, also den Schaden, bzw. an
Imaginationen des Hexenglaubens gebunden. Erst im 19. Jahrhundert suchte man
nun weitergehend nach den Ursachen solcher Krankheitsbilder, die etwa in sexu-
ellem Missbrauch oder der Wirkung halluzigener Drogen gefunden wurden.81
Interessanterweise übernehmen die Aufklärer damit genau die Argumentations-
prinzipien, welche zuvor für die Begründung von Zauberpraktiken82 Anwendung
fanden. Hier lässt sich also weit weniger eine Rationalisierungsleistung als viel-
mehr ein rasanter Prozess der diskursiven Verkehrung ausmachen. Magie degene-

77 Ähnlich auch Bachter: Anleitung, (wie Anm. 66), S. 167.


78 Andreas Petermann: Curiose Gedancken von Alpe. Dresden 1701, bes. S. 9.
79 Owen Davies: Hexereivorwürfe im England des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In:
Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne. Hg. v. Nils Freytag u. Diethard
Sawicki. München 2006, S. 143–162, hier S. 157ff.
80 H. C. Erik Midelfort: Exorcism and Englightenment. Johann Joseph Gassner and the demons
of eighteenth-century Germany. New Haven 2005, S. 87ff. Vgl. auch Renko Geffarth: Von
Geistern und Begeisterten. Semler und die ‚Dämonen‘. In: Aufklärung und Esoterik. Rezep-
tion – Integration – Konfrontation. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk u. Mitarb. v. Andre Ru-
dolph. Tübingen 2009 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 37), S. 115–130.
81 Wiedemann: Rassenmutter (wie Anm. 6), S. 53. Insgesamt bedeutet dies jedoch nicht, dass die
Argumente völlig neu waren.
82 Ausführlich etwa zur physiologischen Erklärung des ‚Bösen Blicks‘ Seligmann: Zauberkraft
(wie Anm. 74), S. 460–466.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 699

riert in diesem Verständnis zur pathologischen Erkrankung des Schädigenden und


äußert sich im krankhaften Erscheinungsbild des Akteurs. Darin wird der grundle-
gend geänderte Status der Hexe sichtbar: Aus einer vormals im Geheimen agieren-
den Sekte von gefährlichen Schadenszauberinnen erwuchs aus der Sicht der Auf-
klärer eine überaus klar zu identifizierende Gruppe krankhaft Magiegläubiger mit
markanter Physiognomie. In dieser Hinsicht beendete der Diskurs der Aufklärung
rigoros jeden Anklang an Okkultismus oder gar an eine Geheimsekte. Eine ähnli-
che soziale Logik entfaltete vermutlich auch das im gesamten 18. Jahrhundert
häufiger zu findende Stereotyp der Sichtbarmachung des Hexenfluges durch spezi-
fische neue Methoden der Hexereiidentifikation83 und seine Eingrenzung auf die
Walpurgisnacht mit klarem Ziel des Harzer Blocksbergs.84 Das Treiben der Hexen
unterliegt hier einer strikten Einhegung und Reglementierung. Anklänge an Kon-
zepte der ‚Andersartigkeit‘ der Hexen lassen sich bis in die moderne historische
Forschung verfolgen, etwa wenn die Hexen zu den Randgruppen gezählt werden,
gleich einer anhand deskriptiver Merkmale zu klassifizierenden Gruppe.85
Allein ihre öffentliche Sichtbarkeit machte die Hexe allerdings noch lange nicht
ungefährlich, sondern auch dieses Motiv erfuhr eine Verkehrung: So markierten
viele Aufklärer Hexerei als lediglich gefährlich für die Verursacher der Zauberei.
Statt der Opfer starben in den neuen Narrativen der Aufklärung die Urheber und
Nutzer der Magie aufgrund ihrer kaum tauglichen ‚Aftermedizin‘ oder eben ge-
sundheitsgefährlichen Praktiken: Beispielsweise Wahrsagepraktiken, bei denen der
Proband seinen Kopf in einem abgedichteten Raum über Nacht ins Ofenrohr
steckte und erstickte. Rigoros konstruierte der Text hier Ritualtechniken, die dem
moralisierenden Zweck angemessen erschienen. Viel häufiger gerieten die Aber-
gläubischen jedoch derart in Gefühlswallungen, dass sie aufgrund dieser Ektase
oder Hysterie verstarben.86 Auch hier gerät die Magiegläubigkeit zu einem psychi-

83 C. U. Grupen: Anmerkung von der Hexenfahrt nach den Broccen. In: Hannoverische Gelehrte
Anzeigen 1 (1751), S. 829f.; J. St. Tychsen: Aberglauben in Holstein. In: Schleswig-Holsteini-
sche Provinzialberichte 11/2 (1797), S. 234–245.
84 Thomas P. Becker: Mythos Walpurgis. URL: http://www.thomas-p-becker.de/TPB/Hexen/
walpurgis.html, 2007 [01.06.2001].
85 Gerd Treige: Hexen – Opfer theologischer Konstruktion und sozialer Alltagskonflikte. In:
Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Hg. v. Bernd-Ulrich Hergemöller. Waren-
dorf 1990, S. 277–315. Dem widersprechend bereits Walz: Hexenglaube (wie Anm. 30),
S. 513f.
86 Vgl. hierzu beispielsweise: Macht der Vorurtheile und des Aberglaubens. In: Journal von und
für Franken 3 (1791), S. 333–340; Aberglauben und Mißbräuche am Mittelrhein. In: Journal
von und für Deutschland 7, 10. St. (1790), S. 348–350; Ein Beytrag zur Geschichte des Aber-
glaubens. In: Hannoverisches Magazin 16 (1778), S. 533–544; G. F. Palm: Die Schazgräber.
Ein Auszug aus Criminalakten. In: Deutsches Magazin 15 (1798), S. 200–210; Versuch an mo-
ralischen Schilderungen. In: Hannoverische Beyträge zum Nutzen und Vergnügen 3 (1761),
S. 1305–1314; D. Nootnagell: Vorschlag Aberglauben und Vorurtheile auszurotten. In: Deut-
sches Museum 1 (1778), S. 148–155; A. F. E. Langbein: Kriminalgeschichten. In: Für Aeltere
Litteratur und Neuere Lectüre 3/7 (1785), S. 68–72; K. W. Brumbey: Etwas über Revolutionen

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schen Zustand, der die physische Existenz des Individuums unterminierte. Die
geistige Verfassung bestimmt damit die Materie.
Besonders gut belegt ist für das 18. bis 20. Jahrhundert die Tätigkeit von
Hexenbannern,87 die oftmals im Zentrum von Beleidigungsklagen standen oder
deren Tätigkeit mediales (aufklärerisches) Interesse erfuhr. In der Zaubereiliteratur
dieser Zeit stellen Gegenzaubermaßnahmen und Hexereiidentifikation häufig die
einzigen Bezüge zum Schadenszauber überhaupt her,88 sieht man von den unter
rigider Zensur stehenden dezidierten Zauberbüchern ab.89 Bemerkenswert sind die
stark individualisierten und damit überaus spezifischen Verhaltensregeln, die zur
Identifikation von Hexerei und Bannung derselben dienen.90 Sie deuten auf das
stark kriminalisierte Umfeld, in dem Hexenbannerei nunmehr stattfand. Eine An-
knüpfung an einen überregional geformten Berufsstand mit normierten und tra-
dierten Praktiken war unter solchen Umständen offenbar weniger möglich.
Fast paradox wirkt es aufgrund dieser Stigmatisierung des Hexenglaubens, dass
die Aufklärung zugleich das weiträumige, temporeiche Zurückweichen der schädi-
genden Hexerei gegenüber zahlreichen Formen des Hilfs- und Heilzaubers fort-
schrieb. Selbst aus der Perspektive der Aufklärer bildete der Schadenszauber in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum noch Anlässe, um sich mit der Thematik
der Hexerei zu beschäftigen. Schwarze Magie gehörte damit nicht mehr in erster
Linie zu den Anknüpfungspunkten des Hexenglaubens, obwohl gerade dieser ja
dazu geeignet war, sich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen. Dennoch bot das
gleichzeitige Ziel der Entkriminalisierung des Hexereiverbrechens hier offenbar
wenig argumentativen Spielraum.
Weit mehr Raum als schwarzmagische Künste nehmen so positiv besetzte For-
men der Heilmagie, des Hilfszaubers oder des Schutzzaubers ein, die sich rasch
weiter ausdifferenzierten und neue ‚moderne‘ Spielarten (etwa Kaffeesatzleserei

der Gemüther bey jetzigen Revolutionen der Erde und dahin einschlagenden Sachen. In: Aller-
neueste Mannigfaltigkeiten 3 (1784), S. 465–476.
87 Johann Kruse: Hexen unter uns? Magie und Zauberglauben in unserer Zeit. Hamburg 1951;
Inge Schöck: Hexen heute. Traditioneller Hexenglaube und aktuelle Hexenwelle. In: Hexen-
welten. Magie und Imagination. Hg. v. Richard van Dülmen. Frankfurt a.M. 1987, S. 282–305;
Hexen heute (wie Anm. 42); Thomas Hauschild: Hexen in Deutschland. In: Der Wissenschaft-
ler und das Irrationale. Hg. v. Hans Peter Duerr. Bd. 1: Beiträge aus Ethnologie und Anthro-
pologie. Frankfurt a.M. 1981, S. 537–564; Willem de Blécourt: Four Centuries of Frisian
Witch Doctors. In: Witchcraft in the Netherlands from the fourteenth to the twentieth century.
Hg. v. Marijke Gijswijt-Hofstra u. Willem Frijhoff. Rotterdam 1991, S. 157–166; Jürgen
Scheffler: Hexenglaube in der ländlichen Gesellschaft. Lippe im 19. und 20. Jahrhundert. In:
Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich. Hg. v. Gisela
Wilbertz, Gerd Schwerhoff u. Jürgen Scheffler. Bielefeld 1994, S. 263–296, hier S. 271–276.
88 Bibliothek der Zauber=Geheimniß und Offenbarungs-Bücher und der Wunder-Hausschatz=Li-
teratur aller Nationen in allen ihren Raritäten und Kuriositäten. Hg. v. Johann Scheible. Bd. 15:
Die sympathetisch-magnetische Heilkunde in ihrem ganzen Umfange oder die Lehre von der
Transplantation der Krankheiten […]. Stuttgart 1851, S. 308–314.
89 Freytag: Aberglauben (wie Anm. 6), S. 157f.
90 Dazu auch Davies: Hexereivorwürfe (wie Anm. 80), S. 148f.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 701

oder Liebeszauber) entwickelten. Dies gilt sowohl für die Durchsicht der Zauber-
literatur des 18./19. Jahrhunderts,91 als auch für einschlägige Ritualpraktiken.92
Insgesamt gibt es wohl mehr Neuansätze, als dass an älteren Formen des Magieri-
tuals angeknüpft wurde. Der Klassiker des frühneuzeitlichen Schadenszauberritu-
als, der Unwetterzauber, scheint im späten 18. Jahrhundert etwa kaum noch ir-
gendeine Attraktivität zu entfalten. In den Beiträgen der Aufklärungszeitschriften
erscheint er überaus selten, vor allem noch im Kontext von Ausführungen zur
Aufstellung von Blitzableitern ab 1769.93 Stattdessen richten sich die aufklärenden
Stimmen gelegentlich gegen den aufkommenden Zweig der ‚Wetterpropheten‘,
deren Bemühungen zur Vorhersage des Wetters als einem der abergläubischen
Praxis fast analogen Verfahren disqualifiziert werden.94 Ansonsten dienen
Wetterzeichen allenfalls als sehr allgemeines Prognostikum für Epidemien95 oder
taugen zur Erläuterung als natürliche Phänomene, was nicht heißt, dass sich diese
von modernen Erklärungen nicht deutlich unterschieden.96
Auch andere typische Schadenszaubergebräuche lassen sich in den öffentlichen
Medien des 18. Jahrhunderts nicht mehr antreffen. Ist vor allem im 16. Jahrhundert
der Zauberguss – als phänomenologische Herleitung aus der Vergiftung97 – gän-
gige Methode des von der Hexe eigenmächtig verübten Schadenszaubers, verän-
derten sich die Imaginationen hier bereits im 17. Jahrhundert erheblich. Sukzessiv
übernahm der Teufel den eigentlichen magischen Akt, indem er über das Anblasen,
Stoßen oder Zermartern ein nicht eindeutig definiertes Gemisch von physisch-
magischen Gewalttaten gegen die Opfer richtete. Hier lässt sich im 18. Jahrhundert
eine wesentliche Humanisierung des Schadenszauberwirkens ausmachen: Magi-
sche Gewaltakte wichen, wie auch von Eva Labouvie herausgestellt, der nun klas-

91 Bachter: Anleitung (wie Anm. 66), S. 137f.


92 Freytag: Aberglauben (wie Anm. 6), S. 252–315.
93 Von Wetterableitern und dem hierüber noch immer im Schwange gehenden Aberglauben. In:
Ephemeriden der Menschheit 2 (1783), S. 618–622; Natürliche Zeichen der Witterung. In: Oe-
konomische Beiträge und Bemerkungen zur Landwirthschaft 3 (1772), S. 1–21. Zur Einseitig-
keit der Debatte in den aufklärerischen Zeitschriften auch: Playing with fire. Histories of the
lightning rod (2002 conference on the history of the lightning rod at the Bakken Museum). Hg.
v. Peter Heering, Oliver Hochadel u. David J. Rhees. Philadelphia 2002; Olaf Briese: Die
Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung. Stuttgart
1998.
94 Ein Wort über Wetter und Witterung. In: Schleswig-Holsteinische Provinzialberichte 12
(1798). Bd. 2, S. 267–271.
95 G. H. Piepenbring: ,Ueber Aberglauben insgesammt‘. In: Oeconomische Nützlichkeiten 1
(1790), S. 81–92.
96 Zur Erklärung des Gewitters : „Es entsteht, wenn eine Menge brennbarer Dünste von der Erde
in die Luft gestiegen sind, sich in Wolken sammeln und verdicken, durch den Wind getriben
sich an einander reiben, sich entzünden, und verbrennen“; G. H. Piepenbring: ,Ueber Aberglau-
ben insgesammt‘. In: Oeconomische Nützlichkeiten 3 (1791), S. 105–121, hier S. 117.
97 Dagmar Unverhau: Von ‚Toverschen‘ und ‚Kunstfruwen‘ in Schleswig 1548–1557. Quellen
und Interpretationen zur Geschichte des Zauber- und Hexenwesens. Schleswig 1980, S. 37–42.

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sisch werdenden fernmagischen Beschreiung und Berufung durch die Hexe bzw.
wurden nun unter Rückgriff auf den Vorwurf der Vergiftung erklärt.98
Mit dieser Neuformatierung erfolgte eine Ordnung von Schadenszauberanläs-
sen, die sich vor allem an demografisch wichtigen Ereignissen von Geburt, Hoch-
zeit und Tod festmachten. Alle drei Lebensstationen galten nun als Einflugschnei-
sen ‚abergläubischen‘ Handelns, sind sie doch häufig mit besonderen Verhaltens-
maßregeln und Sinnsprüchen versehen. Auch hier entwickelte das Aufklärungs-
zeitalter eine systematischere Imagination der Schadenszauberanlässe als die Zeit
der Hexenverfolgung. War Schadenszauber zuvor unberechenbar, da er letztlich in
jeder Lebenssituation Anwendung finden konnte, konzentrieren sich magische
Handlungen nun auf einschneidende Lebensereignisse. Bereits hier lässt sich eine
Art Vorformulierung der These von der Hebamme als weiser Frau finden, die
allerdings eher einer rigiden Kritik am latent magieaffinen Berufsstand gleicht.99
Der Teufel, wiewohl im späten 18. Jahrhundert selbst in zahlreichen Berichten
der Aufklärer präsent, wird durch eine Motivik ersetzt, die für die Zeit der Hexen-
verfolgung häufig ohne jeden Beleg vermutet wird: Er findet seinen diesseitigen
Doppelgänger im Betrüger. Eine drastische Erzählung im Hannoverischen Maga-
zin berichtet etwa von einer Tochter aus durchaus gutem Hause, die über falsche
Erziehung auf die ‚wahnhafte‘ Bahn des Aberglaubens geriet. Ihre Vermählung
fand schließlich nicht mit dem Teufel, sondern mit einem ‚realen‘ Betrüger und
Hochstapler statt, der sie anschließend nicht nur um ihren Besitz, sondern zugleich
um Ehre und Anstand brachte.100 Die Symbolik gleicht damit dem typischen
Teufelspakt, der hier aber vollkommen auf die diesseitige Handlungsebene verla-
gert wird. Insgesamt ist erstaunlich, wie oft das Wirken des Teufels in einer reinen
Umdefinition als Gespenster- bzw. Geisterglauben gipfelt, der seinerseits durch
zahlreiche natürlich-magische Phänomene zu erklären war. Unter Verweis auf
Optik, Mechanik, Elektrizität und Akustik entstanden zahlreiche Aufklärungs-
schriften, die nicht das Vorkommen von ‚Gespenstererscheinungen‘ demontierten,
sondern die Phänomene mittels eines natürlich-magischen anstelle eines dämo-
nisch-magischen Erklärungsmodells deuteten.101 Auf diese Weise umging die
aufklärerische Publizistik noch im späten 18. Jahrhundert anhaltende Debatten

98 Verzeichniß einiger, theils sonderbaren, Theils abergläubischen Gewohnheiten und Meinungen


des Westphälischen Landmanns. In: Westphälisches Magazin zur Geographie, Historie und
Statistik 3/12 (1787), S. 710–721; Tychsen: Aberglauben (wie Anm. 83); Aberglaubische Mei-
nungen und Gebräuche, welche in Thüringen, besonders in dem Herzogthum Saalfeld herr-
schend sind. In: Journal von und für Deutschland 7/7 (1790), S. 26–30; Carl Friedrich Pockels:
Volksaberglauben. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 6/1 (1788), S. 17–26.
99 Ebd., sowie: Louis-Sébastien Saucerotte: Untersuchung vieler Vorurtheile und Mißbräuche,

welche die Schwangern, Kindbetterinnen, und die zartesten Kinder betreffen. Erfurt 1780.
100 Folgen (wie Anm. 76).
101 Bachter: Anleitung (wie Anm. 66), S. 189f.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 703

über die Präsenz des Teufels, indem sie das neue Motiv des Gespenstes radikal in
andere Sinnbezüge einpasste.102
In den aufklärerischen Schriften taucht das Motiv des Teufels als Akteur des
Schadenszaubers nicht mehr auf. Auch hier findet keine Auseinandersetzung mit
dem Diskurs des christlichen Schadenszaubers statt, sondern man ersetzt diesen
stattdessen durch natürlich-magische Repräsentationsformen, die weitgehend seit
dem späten 17. Jahrhundert kursieren. Der tendenziell antiklerikale Diskurs der
Aufklärung befeuert auf diese Weise zusätzlich die Entchristlichung der Magiebe-
gründung, weil er strikt auf solche Erklärungsansätze baut.103
Ein geläufiger Erzähltopos des Schadenszaubers im späten 18. Jahrhunderts ist
der Federkranz, der sich im Bett der Geschädigten findet und das Symbol der Ver-
hexung repräsentiert. Gelegentlich bleibt es nicht allein bei dieser Verballung der
Bettfedern, sondern es finden sich zusätzlich Fremdkörper und Materialien, die
kaum etwas in einem weichen Kissen zu suchen haben und damit die bewirkte
Magie exemplarisch symbolisieren. In einem aus dem Münsterland stammenden
Fall zählt der Berichterstatter etwa neben den gebundenen Kränzen Holzsplitter,
kleine Nägel und Knochen sowie Kohlen auf.104 Solche Imaginationsformen äh-
neln in bemerkenswerter Weise Schilderungen von Besessenen aus dem 17./18.
Jahrhundert.105 Diese relativ neue Form des Schadenszaubers bot zweierlei Vor-
teile. Einerseits lässt sich hier problemlos die negative mechanisch-physische
Wirkung des Phänomens darstellen, andererseits konnte das Wirken von Magie
unabhängig von dämonischen Einflüssen erklärt werden. Konstruiert sind solche
Wirkungsweisen analog der physischen Veränderungen durch den moralisch ver-
werflichen Hexenglauben.
Ganz ähnliche Grundzüge zeigen sich im Übrigen in den späten Hexenprozes-
sen, obwohl hier der Teufel immerhin eine Nebenrolle besetzt. Überaus exempla-
risch fielen etwa die Hexereibeschuldigungen und ihre Bewertungen gegen Daniel
Schleyermacher, Mitbegründer der radikal-pietistischen Sekte der Zioniten in
Ronsdorf (Wuppertal) und Großvater des berühmten Theologen Friedrich Schlei-
ermacher, im Jahr 1750 aus.106 Diese gipfelten im Vorwurf, er hätte „mit einem

102 Ulrich Stadler: Gespenst und Gespenster-Diskurs im 18. Jahrhundert. In: Moritz Baßler, Bet-
tina Gruber u. Martina Wagner-Egelhaaf: Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien.
Würzburg 2005, S. 127–140.
103 Ähnlich beobachtet für das 19. Jahrhundert: Wiedemann: Rassenmutter (wie Anm. 6), S. 40–

50.
104 G. A. Gramberg: Krankheit aus Aberglauben. In: Blätter vermischten Inhalts 1 (1787), S. 128–

135, hier S. 130 u. 132.


105 Rychlak: Hexenfieber (wie Anm. 46), S. 55, 62 u.a.
106 Die Anschuldigungen werden vom Verfasser der Schrift, Knevels, klar als Instrumentalisierung

beklagt. Elias Eller, Prophet der Sekte, steuerte danach die Anschuldigungen gegen Schleyer-
macher und andere Abtrünnige der Sekte über einen Kinderprozess. 160 kurpfälzische Soldaten
sollten schließlich die tumultuarischen Zustände in Ronsdorf beenden und die Verdächtigen
verhaften. Diese entflohen jedoch in die Niederlande. Johann Werner Knevels: Geheimnis der

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704 Katrin Moeller

großen Dorn in der Hand, oder mit einer Mistgabel sich zu Ronsdoff auf die
Schornsteine“ gesetzt und Gift in die Häuser, Brunnen und Gärten geworfen. Teil-
weise schrieben die Denunzianten diese Variation des Brunnenvergiftungsmotivs
auch dem Teufel zu. Überdies verdächtigte man Schleyermacher der Tierver-
wandlung. Die beiden gutachtenden Instanzen, die Juristenfakultät Marburg und
die Theologische Fakultät Herborn, kamen hier zu höchst unterschiedlichen Er-
gebnissen, indem sie einerseits die physische Existenz des Teufels bekräftigten
(Marburg), andererseits verneinten (Herborn). Beide jedoch bestätigten die Un-
möglichkeit der Bewirkung eines Schadens durch Zauberei oder die Tierverwand-
lung. In Berufung auf Spener argumentierten etwa die Marburger Juristen, dass
„die Zauberer nicht anders als durch Beibringung gewissen Gifts in den Leib oder
mit äusserlicher Applicirung, nicht aber aus blosem Anwünschen Schaden zu thun
vermögen“.107 Überaus plastisch erweist sich in solchen und ähnlichen Argumenta-
tionen, dass Teufels- und Schadenszauberglauben hier nicht nur vollkommen
auseinanderfallen, die Ablehnung des Schadenszauberglaubens erfolgte weit kon-
sequenter als die der physischen Existenz des Teufels.
Ebenso wie sich die Formen und Rituale des Schadenszaubers verändern, gelten
nunmehr auch neue Bestandteile als Ingredienzen der Magie. Fanden noch im 16.
Jahrhundert vor allem Gifte bzw. als Gifte imaginierte Substanzen Verwendung,
waren dies im 17. Jahrhundert meist dämonisch geweihte spezifische Mittel wie
Teufelsdreck oder Neunerleikraut. Die Aufklärer dagegen verweisen dezidiert auf
menschlichen und tierischen Kot und Urin als wichtige Zutaten der Heil- und
Schadenszaubermagie.108 Hier bleibt allerdings unklar, ob sich diese Analogie eher
neueren alternativmedizinischen bzw. naturalmagischen Konzepten109 oder der von
der Aufklärung durchaus inszenierten Diskreditierung der ‚Aftermedizin‘ verdankt.
Zusammenfassend lässt sich eine dezidierte Rückführung des Schadenszaubers auf
das Vergiftungsmotiv aus dem Blickwinkel der aufklärerischen Publizistik bele-
gen. Nicht zuletzt erweist dies etwa die Präsentation eines Vergiftungsprozesses,
dem zwar alle Elemente eines Hexenprozesses fehlen, der in seiner Logik jedoch
sehr exakt einem Liebeszauberprozess folgt.110 Zwar erinnern diese Prozesse stark
an die Anfänge der Verfolgung in puncto veneficii [wegen Vergiftung] im 15. und
16. Jahrhundert, in denen eine klare Zuordnung als Vergiftungs- oder Zaubereifall

Bosheit der Ellerianischen Secte zu Ronsdorff im Herzogtum Berg, worinnen derselben Irrtü-
mer, Ursprung, Wachstum und Verfall entdeckt werden. Marburg 1751, S. 618f.
107 Ebd., S. 657.
108 Osterödisches Wunderkind. In: Journal von und für Deutschland 3/9 (1786), S. 237–240, hier
S. 239: „man trinkt seinen Urin auf echt Tibertanisch“; Aberglauben in medicinischen Dingen.
In: Almanach für Aerzte und Nichtaerzte (1782), S. 151–178; Tychsen: Aberglauben (wie
Anm. 84), S. 234–245; A. W. Roth: Vom Vieh, das bezaubert seyn soll. In: Blätter vermischten
Inhalts 2 (1788), S. 131–138.
109 Jütte: Geschichte (wie Anm. 49), S. 23–26.
110 E. F. Klein: Urthel über die Vergifterin Frickin, nebst Anmerkungen des Herausgebers über

diesen Rechtsfall. In: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit 15 (1797), S. 3–30.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 705

schwerfällt, die Phänomenologie des Schadenszauberprozesses ist jedoch eine um-


fassend andere. Hier wird eine Vergiftung nicht mehr als schwarzmagische Hand-
lung eingeordnet, sondern in einen natürlich-magischen Zusammenhang gerückt.
Damit wird der Schadenszauber zwar nicht rationaler im Sinne Webers erklärt,
denn in beiden Fällen bleibt es bei einer ‚magischen‘ Verortung der Erklärung. Der
Schadenszauber wird jedoch humanisiert, da er an Schrecklichkeit verliert und auf
den Kompetenzbereich des menschlichen Individuums in einer ganzheitlichen
Wirkung von Geist und Materie zielt.
Grundsätzlich lässt sich also ein funktionales Aufsplittern des Hexereidenkens
beobachten. Dämonische Magie und Schadenszauberwirkung traten weit auseinan-
der. Der Schadenszauber selbst machte allerdings schon für sich eine intensive
Legitimationskrise durch, da seine Wirksamkeit nicht aus konzeptionell passfähi-
gen Erklärungssystemen der Zeit der Hexenverfolgungen herzuleiten war. Der
ursprüngliche Definitionsraum der Hexerei zerfiel in ganz unterschiedliche Teilbe-
reiche magisch konnotierter Wissensräume. Dies zeigt sich beispielhaft in Beiträ-
gen zur Beantwortung der 1783 von der Akademie der Wissenschaften in Berlin
gestellten Frage nach der besten Art der Aberglaubensbekämpfung in zivilisierten
und unzivilisierten Kulturen. Hier sortierte etwa der Aufklärer und Philanthrop
Friedrich Eberhard von Rochow (1734–1805) die Teufels- und Gespensterlehre in
ein anderes Handlungssystem als Magie, Sympathie und Astrologie.111 Sympathie
(als nunmehr gängiges System von Heil-, Schutz- und Schadenszauber) und Teu-
felslehre erscheinen als vollkommen bezugslose Bereiche des ‚Aberglaubens‘. Der
Aufklärer wendet sich zwar gegen den Aberglauben, gleichzeitig wirkt er jedoch
an einer neuen Systematik und Auffächerung magischen Denkens mit, die letztlich
eine Trennung von Teufelsglauben und Schadenszauber vorantreiben.
Resümierend lässt sich feststellen, dass neue Argumente intensiv die Ausgestal-
tung des Hexenglaubens am Ende des 17. Jahrhunderts prägten. Als weiterfüh-
rende Fragestellung zur Entfaltung des christlich-dämonischen Magieglaubens der
Neuzeit bleibt konzeptionell die Verknüpfung von Teufels- und Schadenszauber-
glauben zu hinterfragen. Beim gegenwärtigen Stand der Forschungen lässt sich die
Hypothese aufstellen, dass sich wesentliche Differenzierungen bereits im späten
17. Jahrhundert in einer Trennung von Teufelspakttheorie und Schadenszauber-
glauben manifestierten. Dabei scheint mir noch längst nicht ausgemacht, ob tat-
sächlich die von Balthasar Bekker und Christian Thomasius pointiert geführte
Diskussion um die Realpräsenz des Teufels112 mit langen Ausläufern im 18.

111 Friedrich Eberhard von Rochow: Beantwortung der Frage, welche die Academie der Wissen-
schaften zu Berlin fürs Jahr 1783 aufgegeben hat. In: Braunschweigisches Journal 1 (1788),
S. 45–64, hier S. 59.
112 Siehe dazu den Aufsatz von Markus Meumann in diesem Band.

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706 Katrin Moeller

Jahrhundert113 den einzigen zentralen bzw. dominanten Reibungspunkt zwischen


Hexenglaube und ‚Aufklärung‘ markierte. Auch wenn diese Diskussion prominent
geführt (und historiografisch verarbeitet) wurde, weil sie ein wichtiges Themenfeld
im Schnittpunkt zur christlichen Religion besetzte, erfolgte – vielleicht sogar zeit-
lich vorgelagert – bereits die Etablierung neuer Schadenszauberkonzepte, die dem
dämonischen Hexenglauben sukzessive Legitimationskraft entzogen. Ihnen wäre
durch die Forschung wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Die Verbrei-
tung von Hinweisen auf die natürliche Magie als nichtdämonisches, dennoch
durchaus magisches und zugleich sukzessiv schwindend okkultes Phänomen lässt
sich in rasantem Tempo verfolgen.
In diesem Kontext wandelten sich die Form und der Inhalt des Schadenszaubers
erheblich. Sollte der hier skizzierte Diskurs der aufklärerischen Zeitschriften des
18. Jahrhunderts sogar Anleihen bei der ‚Volksmagie‘ machen, zeigt sich, wie
Magie als wenig persistentes, vielmehr höchst dynamisch und flexibles System auf
die neuen Rahmenbedingungen reagierte. Dominante Symboliken des Schadens-
zaubers wie der Schadenszauberguss, der Milch- und Wetterzauber oder die Schä-
digung durch den Teufel verschwanden, weil Erklärungsmodelle offenbar nicht
erfolgreich in die neuen Argumentationsstrategien der Aufklärung eingepasst wer-
den konnten bzw. auf diese Weise klassische Erklärungskonzepte negiert werden
konnten. Das 18. Jahrhundert vollzog einen Bruch mit Stereotypen und Symboli-
ken des dämonischen Hexenglaubens, indem neue Magieformen Ausbildung fan-
den, die sich vom Hexenglauben absetzten, bzw. alte Motive des Hexenglaubens
eine radikale Inversion erlebten. Insgesamt verlor der Schadenszauber erheblich an
Attraktivität. Stattdessen etablierten sich dominant Magieformen mit Event-, Hilfs-
und Heilcharakter.
Dieser Prozess der Neuausrichtung des ‚Schadenszaubers‘ lässt sich nur sehr
bedingt als Rationalisierungsleistung beschreiben, wohl aber als Modernisierung
des Magieglaubens. Einerseits erfolgte eine dezidierte Neusystematisierung in
dämonische, magisch-natürliche, theologisch konforme und experimentell bestä-
tigte physikalisch-chemische Erklärungsansätze, die entlang des zeitgenössischen
Wissens vorgenommen wurden. Kennzeichen der neuen Systematik war die ideelle
Ablehnung dämonischer Magie, während andere Spielarten magischen Denkens
eine Aufwertung und breitere Anhängerschaft erfuhren. Andererseits offenbart
etwa der Topos von der aufgrund ihres magischen Denkens physiognomisch ge-
zeichneten Hexe die tiefe Verankerung aufklärerischen Wissens in Kontexten, die
eine ganzheitliche Sichtweise von Körper (Natur) und Geist entfalten. Auf diese
Weise etablierte die Aufklärung zwar eine entdämonisierte Magie, zugleich passte
sie jedoch die Formen, Inhalte und Ingredienzen des Schadenszaubers nunmehr

113 Wolfgang Behringer: Der ‚Bayerische Hexenkrieg‘. Die Debatte am Ende der Hexenprozesse.
In: Das Ende der Hexenverfolgung (wie Anm. 21), S. 287–313; Geffarth: Von Geistern und
Begeisterten (wie Anm. 81); ders.: Teufel, Geister, Dämonen (wie Anm. 62).

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Aufgeklärter Hexenglaube? 707

dem Wesen des ‚Afterglaubens‘ an. D.h. auch jetzt folgten die Symboliken und
Signaturen der spezifischen Vorstellung als Entsprechungen eines ganzen Deu-
tungskosmos und damit Prinzipien spiritueller Vorstellungen. Das äußerliche We-
sen der Hexen im Aufklärungszeitalter repräsentierte eine Offenbarung.114 Insofern
könnte man das Hexenbild der Aufklärung zwar als Produkt einer entchristlichten
oder entdämonisierten Projektion bezeichnen, es erfuhr aber eine neue spirituelle
Signierung. Die Diskussion um den Hexenglauben bewegte sich damit immer auch
in einem religiösen Kontext. Während sich in der christlichen und spirituellen
Deutung teuflischer Mächte und Kräfte die pluralen Stimmen der Aufklärung bei
verschiedenen religiösen Protagonisten und Strömungen markant abzeichneten,
war im Kontext der ‚natürlichen‘ Deutung des Schadenszaubers offenbar mehr
Übereinstimmung herzustellen.
Den markantesten Bruch erfuhr der Hexenglaube jedoch weder auf der Ebene
von Teufelspaktvorstellungen noch auf der Ebene von Schadenszaubertheorien,
sondern in seiner Interpretation als häretisches Kollektivverbrechen. Während über
den Teufelspakt und mit deutlichen Abstrichen über den Schadenszauber das ganze
18. Jahrhundert intensiv gestritten wurde, geriet der Aspekt des Sektenverbrechens
nach Einstellung der ‚Massenverfolgung‘ im 17. Jahrhundert scheinbar spurlos ins
Abseits. Im Kontext religiöser Devianz verwob der Hexenprozess völlig neu ge-
wichtete Elemente des kollektiven Sammelverbrechens (Häresie) mit Elementen
der individuellen Zuschreibung. Künftige Forschungen zur religiösen Devianz der
Frühen Neuzeit sind daher aufgefordert, die Genese vom Kollektiv- zum Individu-
alverbrechen aufzuzeigen, was vermutlich wesentliche Einsichten im Zusammen-
hang mit generellen Prozessen der Individualisierung erbringen dürfte.115

IV Moderner Hexenglauben: Ein Ausblick

Der Dämonen- bzw. Schadenszauberglaube ‚alten‘ Typs, also im Sinne der zuge-
schriebenen Hexerei, verschwand zwar nicht – wie sich am Beispiel von Hexen-
bannern, Besessenheit und Exorzismus, kommerziell motiviertem Betrug sowie
Beleidigungsklagen wegen Hexerei bis in die Gegenwart zeigt. Ihm gesellten sich
jedoch sukzessiv Varianten der selbstermächtigenden Hexerei hinzu, die sich ge-
rade nicht an traditionelle Formen der Hexereivorstellung anschlossen. Im Gegen-
satz zu den Teufelsbündnern des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts weisen
neuere Bezüge auf den Hexenglauben seit dem frühen 19. Jahrhundert weitgehend
auf das positiv gedeutete und zunehmend romantisch-mythisch verklärte ‚okkulte‘

114 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer


Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998, S. 16ff.
115 Zu beachten sind hier sicherlich die Ergebnisse des Teilprojekts des SfB 804: Gottlosigkeit und

Eigensinn. Religiöse Devianz in der Frühen Neuzeit (URL: http://www.sfb804.de/index.php?


id=47) unter Leitung von Gerd Schwerhoff.

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708 Katrin Moeller

Wissen der Hexen hin. Wegbereiter einer von aufklärerischer Religionskritik,


romantischer Naturphilosophie, konfessionellen Streitigkeiten sowie nationalisti-
schen Volkstums- und Germanenideologien geprägten Etablierung des romanti-
schen Hexenbildes wurden vor allem Jacob Grimm (1785–1863), Johann Jakob
Bachofen (1815–1887) und Jules Michelet (1798–1874).116 Entlang von
naturphilosophischen und vor allem pantheistischen Vorstellungen eines erlösen-
den Heilwissens durch die ganzheitliche Wahrnehmung und Interaktionen der
beseelten Natur griffen solche Entwürfe vorzugsweise auf hermetisches bzw. eso-
terisches Wissen und – im Sinne kritischer Rekurse – auf aufklärerische Hexenbil-
der zurück. Die rezeptiven Wurzeln der Romantik offenbaren sich zudem in der
spezifischen Verknüpfung von Weiblichkeit und Magie. Die romantisch ideali-
sierte Rolle der Mutter als Lebensspenderin, Urmutter und Schöpferin fand hier in
vielfältiger Weise eine Einschreibung in den Magieglauben. Gleichzeitig finden
sich erste Überlegungen zur Rolle der Hexe als Sozialrebellin.117
Während positiv konnotierte Selbstermächtigungsstrategien bereits in der
Romantik Seherinnen und Schamanen hervorbrachten, fehlen solche Entwürfe
entlang der dämonischen Magie vermutlich ganz. Okkultismus im Sinne eines
dezidierten Satanismus blieb bis zum späten 19. Jahrhundert offenbar unpopulär.118
In verschiedenen Intensitätsphasen rezipierten zahlreiche heterogene okkultistische
Strömungen119 und Einzelpersonen des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts die
romantischen Mythen zunehmend als vermeintlich historisch verbürgte Deutungen
der Hexen.
Seit den 1960er Jahren definieren sich Frauen und Männer selbst nicht nur
zunehmend als Hexen, sondern versammeln sich für bestimmte Ritualpraktiken
oder organisieren sich in Gruppen, etwa neuheidnische und schamanistische Strö-
mungen bzw. Wicca.120 Zum Teil gehen sie nicht nur von der realen Existenz
eigenbestimmter historischer Hexensekten aus, sondern berufen sich auf diese
magische – allerdings erst in der Aufklärungskritik konstruierte – Tradition. Sie
nutzen zudem synkretistische Ritualpraktiken und Magieformen, die auf den dezi-
diert antichristlichen Charakter ihrer Glaubensformen verweisen. Der Anklang an
vormoderne Ritualtechniken bleibt rein nominell. Die ‚Freifliegenden Hexen‘
heute markieren mit der Bezeichnung ihre persönliche Ungebundenheit, längst
aber keine inhaltlichen Prägungen.
In dieser Hinsicht gleicht auch der moderne Satanismus mit seinen zahlreichen
auch institutionell angelegten Organisationen den ‚Hexenkulten‘, obwohl er mit

116 Wiedemann: Rassenmutter (wie Anm. 6), S. 115ff.


117 Ebd., S. 335.
118 Fügmann: Zeitgenössischer Satanismus (wie Anm. 51), S. 19–21.
119 Etwa Treitel: Science (wie Anm. 50), bes. S. 217ff. u. 241ff.
120 Kathrin Fischer: Das Wiccatum. Volkskundliche Nachforschungen zu heidnischen Hexen im
deutschsprachigen Raum. Würzburg 2007; Birgit Neger: Moderne Hexen und Wicca. Auf-
zeichnungen über eine magische Lebenswelt von heute. Wien u.a. 2009.

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Aufgeklärter Hexenglaube? 709

seiner Zelebrierung des Individuums anders akzentuierte Rezeptionsmuster der


Aufklärung nahelegt. Im Mittelpunkt stehen vor allem der Mensch, als sein eigener
Gott, und das Ausleben eines kontrollierten Hedonismus. Insgesamt ist der Sata-
nismus auf das Diesseits orientiert und verfolgt zum Teil strikt antichristliche Prä-
missen (etwa die Verkehrung der sieben Todsünden in Lebensmaximen).121 Der
Bezug auf den Teufel markiert hier vorwiegend die diskursive Verkehrung christli-
cher Moralvorstellungen. Ins Extreme übersteigert erscheinen in dieser Weise
Motive von Individualität, die im historischen Hexenglauben geradezu negiert
wurden.
Beide Formen des gegenwärtigen ‚Hexenglaubens‘ lassen sich auf diese Weise
als rezeptive Muster einer modernen Fassung von ‚esoterisch inspirierter Hexerei‘
identifizieren, die nicht substantiell mit der vormodernen dämonischen Interpreta-
tion von Schadenszauber und dem konstitutiven Charakter des Teufelspakts in
Verbindung zu bringen sind. Aus der Negierung des gelehrten Konzepts des dä-
monischen Schadenszaubers erwuchs eine Vielzahl synkretistischer Erklärungs-
konzepte. Eine Zunahme von Rationalität lässt sich in der Vielfalt des modernen
Schadenszauber- und esoterischen Hexenglaubens aber wohl nicht konstatieren.

121 Fügmann: Zeitgenössischer Satanismus (wie Anm. 51), S. 335.

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