Sie sind auf Seite 1von 466

C r o s s C u lt u r a l

C o m m u n i Cat i o n

Sabine Egger / Withold Bonner /


Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.)

TRANSITRÄUME
UND TRANSITORISCHE
BEGEGNUNGEN IN LITERATUR,
THEATER UND FILM
In Literatur und Medien sind Bahnhöfe, Flughäfen, Häfen, Parkplätze (und die
damit assoziierten Verkehrsmittel) allgegenwärtig. Das gilt auch für Flüchtlings-
lager und deren Umgebungen. Angesichts transnationaler Mobilität als Alltags-
erfahrung sind ‚Transiträume‘ (Foucault), ‚Räume‘ (de Certeau), ‚Nicht-Orte‘
(Augé) und ‚liminale‘ Räume (Turner) im ‚Grenzbereich‘ (Lotman) zu einem
unübersehbaren Topos geworden. In der Sprach-, Literatur- und Kulturtheorie
trägt das Konzept des spatial turn dieser Entwicklung Rechnung. Transitori-
sche Begegnungen in Grenzbereichen sind zugleich eine Herausforderung für
das offene Konzept der Interkulturalität. Dies diskutiert der vorliegende Band
anhand von Fragen wie diese: Was für Begegnungen finden in Transiträumen
statt? Stellen derartige Begegnungen bestehende Identitätskonzepte in Frage?
Kann ein Transitraum einen Rahmen für Transdifferenz oder Hybridität bilden?
Wie beeinflusst die Bewegung in verschiedenen Transportmitteln sinnliche und
kulturelle Perspektiven? Wie unterscheiden sich Räume in verschiedenen Gat-
tungen, Medien oder Künsten? Wie stehen sie miteinander in Bezug? Experten
interkultureller Germanistik aus aller Welt antworten darauf in ihren Beiträgen
aus literatur-, kultur- und medienwissenschaftlicher Sicht.

Withold Bonner, Lektor f. dt. Literatur u. Kultur, Fakultät f. Kommunikationswis-


senschaften, Univ. Tampere, Finnland.
Sabine Egger, Dozentin, Institut f. Germanistik, Leiterin d. Irish Centre for Trans-
national Studies, Mary Immaculate College (University of Limerick), Irland.
Ernest Hess-Lüttich, Ordinarius f. Germanistik Univ. Bern (1991-2014); Hon.
Prof. f. Linguistik TU Berlin (2015-), Hon. Prof. of German at Stellenbosch Univ.
(2007-2017), o.Prof. em. (2014-).
Transiträume und transitorische Begegnungen
in Literatur, Theater und Film
CROSS CULTURAL COMMUNICATION
Edited by Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Lüttich

VOL. 31

Publikationen der
Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG)

Vol. 21
Sabine Egger / Withold Bonner / Ernest W.B. Hess-Lüttich
(Hrsg.)

Transiträume und transitorische


Begegnungen
in Literatur, Theater und Film

Redaktion:
Ernest W.B. Hess-Lüttich (Berlin/Kapstadt),
Britta C. Jung & Sandra Wagner (Limerick)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit großzügiger Unterstützung des


Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).

ISSN 0945-9588
ISBN 978-3-631-71690-8 (Print)
E-ISBN 978-3-631-72601-3 (E-PDF)
E-ISBN 978-3-631-72602-0 (EPUB)
E-ISBN 978-3-631-72603-7 (MOBI)
DOI 10.3726/b11320
© Peter Lang GmbH
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 2017
Alle Rechte vorbehalten.
Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH.
Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles ·
New York · Oxford · Warszawa · Wien
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Diese Publikation wurde begutachtet.
www.peterlang.com
Zum Geleit

Genau 10 Jahre vor der Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik in
Limerick, aus der die hier vorgelegte Band hervorgegangen ist, wurden die Film-
festspiele von Venedig mit dem Film „Terminal“ von Stephen Spielberg eröffnet,
mit Tom Hanks und Catherine Zeta-­Jones in den Hauptrollen. Er handelte von
dem authentischen Fall eines Reisenden, der im Transitbereich eines Flughafens
strandet und weder einreisen darf (Sicherheitschef Dixon: „America is closed“)
noch in seine Heimat zurückgeschickt werden kann. Die Idee zu dem Film basierte
auf dem Schicksal des Iraners Mehram Karimi Nasseri, der von 1988 bis 2006 auf
dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle lebte. Mit seinem Film bezog Spielberg
programmatisch Stellung gegen die post-9/11-Paranoia der US-­Regierung unter
George W. Bush mit der Gründung des ‚Heimatschutzministeriums‘ (US Depart-
ment of Homeland Security) und dessen von Misstrauen gegenüber Fremden und
Migranten geprägte Abschottungspolitik.
An diesen Film musste ich bei der Lektüre der Beiträge zu diesem Buch wieder
denken, und daran, wie schnell unser „nomadisches Dasein zwischen Ländern
und Metropolen, zwischen Urlaub und Dienstfahrt, Transitlounge und Hotel“ – so
schrieb Dirk Schümer seinerzeit in seiner Kritik für das Feuilleton der Frankfurter
6 Zum Geleit

Allgemeine (04.10.2014) – „unbehaust“ werden kann.1 Ich dachte aber auch an den
Fall des chinesischen Menschenrechtlers Feng Zhenghu, dem die chinesischen
Sicherheitsbehörden die Rückreise in seine Heimat verweigerten und der des-
halb monatelang im Transitbereich des Flughafens Tokio-­Nerita festsaß; an die
zahllosen „sans papiers“ in Frankreich oder in der Schweiz, die immer auf der
Hut ein Dasein im Zwischenreich von Broterwerb und Abschiebung fristen; an
die nach ‚Asylschnellverfahren‘ in den Un-­Orten der Rückführungszentren kon-
zentrierten Flüchtlinge und Migranten, die in vager Zukunftshoffnung vergeblich
Grenzen zu überwinden trachteten.
Wie entfernt und aus anderen Zeiten klingt da der berühmte Satz eines deut-
schen Bundespräsidenten: „Nicht ein Europa der Mauern kann sich über Grenzen
hinweg versöhnen, sondern ein Kontinent, der seinen Grenzen das Trennende
nimmt“. 32 Jahre nach der historischen Rede Richard von Weizsäckers am 8. Mai
1985 aus Anlass des 40. Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus ist der
Satz aktueller denn je. Von Grenzen, alten und neuen, ist in jüngster Zeit wieder
sehr viel die Rede. Hanno Rauterberg schaut (in der Zeit 72.11 v. 09.03.2017: 38)
auf die Landkarte und sieht beklommen überall Mauern wachsen. Der amerika-
nische Präsident will „the wall“ an der Südgrenze, 3144 km lang, „and the Me-
xicans will pay for it!“. Der türkische Präsident hat schon mal seine Südgrenze
zubetoniert, 221 km, die Rechnung ging an Brüssel. Ungarn baut die Grenz-
zäune, die es im Westen einst durchschnitt, im Süden wieder auf. Israel baut
emsig an 900 km Grenzmauern gen Süden und Osten. Indien rüstet die Grenze
zu Bangladesh weiter auf, 4000 km feste Wehr. Tunesien erhöht die Grenzzäune
gegen Libyen, Kenia gegen Somalia, Saudi-­Arabien gegen Irak. Frontex bewacht
die Südgrenzen der Festung Europa, was deren Insassen mittlerweile Milliarden
kostet, wie die Süddeutsche Zeitung ausgerechnet hat.2 Allein nach dem Fall der
innerdeutschen Grenze habe sich die Zahl wehrhafter Grenzbefestigungen mehr
als verdreifacht, rechnet die kanadische Geographin Elisabeth Vallet (2014: 2) vor;
inzwischen summierten sie sich (je nach Zählweise) auf gut 40‘000 km (ibid.) – ein
Erdgürtel aus Mauerwerk und Stacheldraht.
Gut, Nationen definieren sich in der Regel nach dem Territorialprinzip über
die Abgrenzung nach außen, und deren Funktion wurde schon immer baulich
bekräftigt (architectura militaris), seit sesshafte Gemeinwesen sich abzugrenzen
wünschten, in Mesopotamien im dritten vorchristlichen Jahrhundert ebenso wie

1 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/video-filmkritiken/kino-leben-im-transit-
tom-hanks-in-spielbergs-terminal-1105469.html [05.04.2017]
2 http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingspolitik-so-viel-kostet-die-festung-
europa-1.2516084 [24.03.2017]
Zum Geleit 7

in China mit der Großen Mauer oder im Römischen Reich mit Limes und Hadri-
answall gegen Goten und Germanen im Norden, mit den Grenzwällen gegen die
Sassaniden des Partherreiches und die Sturmtruppen der Perser.
Seit durch Globalisierung und Digitalisierung eine gefühlte Ent-­Grenzung
droht, verstärkt sich offenbar das Bedürfnis nach Abgrenzung und Vergewisse-
rung des Eigenen. Wenn selbst ehedem linke Philosophen wie Régis Jules Debray
das Lob der Grenzen singen (Debray 2016; „éloges des frontières“, Vortrag Tokyo
2010) und die postmoderne Theorie der Deterritorialisierung (Gilles Deleuze
usw.) als etwas voreilige Ideologie entlarven, wird das Paradies der Grenzenlosig-
keit zum Traum. Erst Grenzen ordnen die Welt, belehren uns Staatsrechtler (wie
Klaus Gärditz) – und die scheint aus den Fugen, seit die Folgen der Migration ins
öffentliche Bewusstsein drängen und die Internationale der Nationalisten darauf
ihr rechtspopulistisches Süppchen kocht.
‚Grenzenlosigkeit‘ lautete das Thema einer kürzlichen Germanistentagung im
ungarischen Pécs, in jenem Land, in dem die ‚Begrenzung‘ des ‚grenzenlosen‘
Zustroms von Flüchtlingen zur Staatsraison gehört (obwohl es dort [2017] nur 536
Asylsuchende gibt). Mit dem Thema ‚Grenzenlosigkeit‘ verbinden wir in Europa
seit dem Herbst 2015 und Frühjahr 2016, Stichworte wie Außengrenzen, Binnen-
grenzen, Obergrenzen. Abgrenzung, Ausgrenzung. Es geht um die Begrenzung
der Migration, insbesondere der Immigration nach Europa aus Afrika und dem
islamischen Krisenbogen. Zumal in Ungarn, Polen, Tschechien, in Holland, Bel-
gien, Frankreich, in Dänemark, England, Deutschland und anderen Ländern, in
denen rechtspopulistische Parteien und Bewegungen mit fremdenfeindlichen
Parolen Zustimmung heischen. Die täglichen Medienbilder von Flüchtlingen, die
auf der Flucht vor Krieg und Hungersnot verzweifelt gegen die Grenzsicherungen
anrennen oder in Schlauchbooten an den Küsten des Kontinents zu landen ver-
suchen, können christliche Politiker und deren Wähler nicht in ihrem (wie der
Papst in den Tagen der Abfassung dieses Geleitworts gegenüber der polnischen
Regierungschefin Beata Maria Szydło bemerkt) nicht ganz so christlichen Ein-
satz für die „Festung Europa“ und deren wehrhafte Umzäunung beirren. Dabei
vergessen sie, dass die Grenze nicht nur eine regulative Funktion hat (Abwehr,
Kontrolle), sondern zugleich ein soziopolitisches Zeichen ist: sie ist das Symptom
krasser Ungleichheit, woran Rauterberg (2017: 38) mit Georg Simmel (1901)
erinnert: „Die Grenze ist nicht die eine räumliche Tatsache mit soziologischen
Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“. –
Genau diese Verbindung zwischen Raum und Zeichen, „Gesellschaften in
Bewegung“ (Hess-­Lüttich, v. Maltzan & Thorpe eds. 2016) und ihrer kulturellen
Repräsentanz sucht dieses Buch herzustellen. Denn literarische Autoren sind
8 Zum Geleit

bekanntlich sensible Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen ihrer Zeit,


Regisseure greifen in ihren Filmen aktuell brisante Stoffe auf. Erst allmählich
finden die täglichen Eindrücke (massen-)medial vermittelter Umbrüche ihren
Niederschlag in Sprache („postfaktisch“ wählte die Gesellschaft für deutsche
Sprache zum Wort des Jahres), Literatur und Film. Dass das Thema indes eines
nicht ohne Tradition ist, stellt der Band ebenso eindrucksvoll unter Beweis. Er
hätte freilich nicht erscheinen können ohne einen namhaften Zuschuss zu den
Druck- und Versandkosten, für den dem Deutschen Akademischen Austausch-
dienst nachdrücklich gedankt sei, und auch nicht ohne den selbstlosen Einsatz
von so vielen, die an seinem Entstehen beteiligt waren, nicht zuletzt den Autoren
aus aller Welt, den Mitherausgebern in Irland und Finnland, den studentischen
Hilfskräften, die sich an der Redigierung der Manuskripte beteiligt haben, der
strengen Setzerin des Verlags in ihrer bewährten Sorgfalt. Ihnen allen sei für ihre
unschätzbaren Dienste für die ‚gute Sache‘: die Wissenschaft in ihrer interna-
tionalen und transdisziplinären Verflechtung, von Herzen gedankt.

Literatur
Debray, Régis Jules 2016: Lob der Grenzen [éloges des frontières], Hamburg: Laika
Hess-­Lüttich, Ernest W.B., Carlotta v. Maltzan & Katherine Thorpe (eds.) 2016:
Gesellschaften in Bewegung. Literatur und Sprache in Krisen- und Umbruch-
zeiten [Symposion Johannesburg 2013] (= Cross Cultural Communication 29 =
Publikationen der GiG 20), Frankfurt/Main etc.: Peter Lang
Rauterberg, Hanno 2017: „Das geht doch schöner“, in: Die Zeit 72.11 v. 09.03.2017: 38
Rietzschel, Antonie 2016: „So viel kostet die Festung Europa“, in Süddeutsche
Zeitung v. 18.06.2015, im Internet unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/
fluechtlingspolitik-so-viel-kostet-die-festung-europa-1.2516084 [24.03.2017]
Schümer, Dirk 2004: „Leben im Transit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v.
06.10.2004, im Internet unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/
video-filmkritiken/kino-leben-im-transit-tom-hanks-in-spielbergs-terminal-
1105469.html [05.04.2017]
Simmel, Georg 1901: „Der Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesell-
schaft“, in: id. 1901: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesell-
schaftung, Kap. IX, Berlin: Duncker & Humblot, 460–526
Vallet, Elisabeth 2014: Borders, Fences and Walls. State of Insecurity?, London /
New York: Routledge
Bern / Berlin / Kapstadt, im Herbst 2014 und im Frühjahr 2017
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-­Lüttich
Vorwort

Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind hervorgegangen aus der Konferenz
der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik, die vom 29.5.-1.6.2014 am
Mary Immaculate College, Universität Limerick (Irland), in Zusammenarbeit
mit dem Irish Centre for Transnational Studies und der Universität Tampere
(Finnland) stattfand. Die Konferenz unter dem Thema „Begegnungen in Tran-
siträumen – Transitorische Begegnungen“ stellte mit über 90 Vortragenden aus
30 verschiedenen Ländern eine der größten germanistischen Fachtagungen in
der Konferenzsprache Deutsch dar, die bisher in Irland und Großbritannien statt-
gefunden haben.
Wie im ‚Call for Papers‘ hervorgehoben wurde, hat sich in den letzten 25 Jahren
in der Literatur, im Film und in anderen Medien der deutschsprachigen Länder
ein kulturelles Raumbewusstsein herausgebildet, in dessen Folge dichotomische
Konzepte des ‚Anderen‘ bzw. ‚Fremden‘ und ‚Eigenen‘ zunehmend brüchig ge-
worden sind und alles in Bewegung geraten zu sein scheint, was einhergeht mit
einer Ästhetik der Bewegung, Hybridität und Transnationalität. Der Fall des Ei-
sernen Vorhangs, die Osterweiterung der Europäischen Union sowie die großen
Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten Jahre haben verstärkt Aus- und
Einwanderung auf europäischer und globaler Ebene mit sich gebracht. Angesichts
derartiger transnationaler, freiwilliger wie erzwungener Mobilität als Alltags-
erfahrung sind ‚Transiträume‘ (Foucault), ‚Räume‘ (de Certeau) bzw. ‚Nicht-­
Orte‘ (Augé) wie verschiedene Transportmittel, Bahnhöfe, Flughäfen, Häfen,
aber auch Flüchtlingslager und deren Umgebungen und schließlich ‚liminale‘
Räume (Turner) im ‚Grenzbereich‘ (Lotman) zu einem unübersehbaren Topos
in den deutschsprachigen Literaturen und anderen Medien geworden. Diesen
Entwicklungen trägt insbesondere der ‚Spatial Turn‘ in den Literatur-, Kultur-
und Sprachwissenschaften Rechnung. Gleichzeitig stellen derartige transitorische
Begegnungen im Grenzbereich eine Herausforderung für das offene Konzept der
Interkulturalität dar, das fortwährender Diskussion und Aktualisierung bedarf.
Von den Organisatoren der Konferenz wurden in diesem Kontext u. a. die fol-
genden Fragen formuliert: Was für Begegnungen finden in Transiträumen statt?
Stellen derartige Begegnungen bestehende Identitätskonzepte in Frage? Kann
ein Transitraum einen Rahmen für Transdifferenz oder Hybridität bilden? Wie
beeinflusst die Bewegung in verschiedenen Transportmitteln sinnliche und kul-
turelle Perspektiven? Wie unterscheiden sich Räume in verschiedenen Gattungen,
Medien oder Künsten? Wie stehen sie miteinander in Bezug?
10 Vorwort

Die Auseinandersetzung der Autoren des vorliegenden Bandes mit diesen Fra-
gen wurde von den Herausgebern in vier Sektionen zusammengefasst. Während
die ersten drei thematisch definiert sind, bildet für letztere das gewählte Medium
den gemeinsamen Nenner. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Sektionen
(1) Transitraum Heimat, (2) Transitraum Exil, (3) Transitraum Heterotopie /
Utopie und (4) Transitraum Theater und Film.
Aufgrund der hohen Zahl und Qualität der im Anschluss an die Konferenz zur
Veröffentlichung eingereichten Beiträge, die sehr unterschiedliche Perspektiven
auf das übergreifende Thema eröffnen, erschienen 2016 neben dem Konferenz-
band zwei weitere Publikationen mit Beiträgen aus der Limericker Konferenz:
Das Jahrbuch der German Studies Association of Ireland Germanistik in Ireland
11 (2016) hat als Schwerpunktthema „Transit oder Transformation“, und die Zeit-
schrift für interkulturelle Germanistik widmet ihren Band 7.2 (2016) ebenfalls dem
Thema „Transiträume“.
Die Ausrichtung einer Veranstaltung in dieser Größenordnung wäre nicht
möglich ohne die Unterstützung durch verschiedene Organisationen und In-
stitutionen. Gefördert wurde die Konferenz durch die Botschaften Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz sowie vom Deutschen Akademischen Austausch-
dienst (DAAD), vom Goethe-­Institut Irland, Fáilte Ireland, der Universität
Limerick und dem Mary Immaculate College. Die Herausgeber sind diesen In-
stitutionen für deren Hilfe zu großem Dank verpflichtet, ebenso dem Centre for
Irish-­German Studies für seine Kooperation. Dank gilt außerdem dem Institut
für German Studies, dem Arts Office und der Research and Graduate School am
Mary Immaculate College für die tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung
der Konferenz, insbesondere Britta C. Jung, die zusammen mit Sandra Wagner
auch bei der Endkorrektur der Kapitel dieses Bandes mitgearbeitet hat.
Berlin / Kapstadt / Limerick / Tampere, im Oktober 2016 / März 2017
Sabine Egger, Withold Bonner, Ernest W.B. Hess-­Lüttich
Inhalt

Ernest W.B. Hess-­Lüttich
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen
Bericht über das GiG-­Colloquium Ende Mai 2014 in Limerick, Irland ...........  15

I Transitraum Heimat

Núria Codina (Chemnitz)


Transiträume in den Romanen Emine Sevgi Özdamars und
Feridun Zaimoğlus ...................................................................................................  33

Nergis Pamukoğlu-­Daş (Izmir)


Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos: Orte,
Nicht-­Orte und Räume in Selim Özdoğans Romanen
Die Tochter des Schmieds und Heimstraße 52 .......................................................  47

Kathleen Thorpe (Johannesburg)


Zur Synchronie der Lebenswelten
Überlegungen zur Dynamik im Third Space ........................................................  61

Garbiñe Iztueta (Vitoria-­Gasteiz)


Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller ..........  71

Elena Polledri (Udine)


W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen:
eine „unheimliche Heimat“ ....................................................................................  87

Elena Giovannini (Bologna)


Begegnungen und Bewegungen im ‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder:
Heinrich Bölls Der Bahnhof von Zimpren ...........................................................  101

Stephan Mühr (Pretoria)


Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits ...............................  111
12 Inhalt Inhalt
Inhalt
II Transitraum Exil

Thomas Pekar (Tokyo)


Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration.
Versuch einer Zusammenführung .................................................................................. 131

Theresa Specht (Osaka)


Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens ....  145

Hala Farrag (Kairo)


Ästhetisierung von Verlust?
Raum und Verräumlichung zwischen Statik und Dynamik in
ausgewählter Vertreibungsprosa von Josef Mühlberger und Ġassān
Kanafānī ...................................................................................................................  159

Astrid Henning-­Mohr (Oldenburg)


Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit ........  189

Almut Constanze Nickel (Kassel)


Transitorische Zeiterfahrung. Zum Vertigo temporis in Günther Anders’
Tagebuch aus dem amerikanischen Exil .............................................................  207

Julia Augart (Windhoek)


Erinnerungsraum als Transitraum?
Zur literarischen Rauminszenierung Afrikas in Stefanie Zweigs
Kenia-­Romanen  ......................................................................................................  221

Yoshito Takahashi (Kyoto)


Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und
Naturreligion ...........................................................................................................  231

III Transitraum Heterotopie/Utopie

Claudia Gremler (Birmingham)


Wurzellos und zeitenthoben? Schweden als Transitraum und deutsche
Heterotopie im Werk Antje Rávic Strubels .........................................................  249

Marja-­Leena Hakkarainen (Turku)


Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern in Yoko Tawadas
jüngster Prosa .........................................................................................................  263
Inhalt 13

Şebnem Sunar (Istanbul)


Ist die Realität nur der Transitraum in die Dystopie? Die Welt
zerstreuter Träume in Christian Krachts Roman
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ....................................  279

Neeti Badwe (Pune)


Räumlichkeit und Mobilität bei Kafka im Lichte der Raumtheorien ..............  289

Astrid Starck-­Adler (Mulhouse)


Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete ...............................  299

Hiltrud Arens (Missoula, MT, USA)


Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation in
Carmen-­Francesca Bancius Berlin ist mein Paris ...............................................  313

Swati Acharya (Pune)


Nachtgestalten der Großstädte
Bordelle als Transiträume ......................................................................................  329

Aleya Khattab (Kairo)


Seelische Befreiung Im Taxi. Unterwegs in Kairo: Chaled al-­Chamissis
literarische Prophezeiung der Revolution vom 25. Januar 2011
in Ägypten ...............................................................................................................  343

IV Transitraum Film und Theater

Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus (Dortmund)


Transiträume der deutsch-­türkischen Migration zwischen Ort und
Nicht-­Ort am Beispiel von Almanya – Willkommen in Deutschland ..............  361

Alan Corkhill (Queensland)


Transiträume zwischen Einreise und Abschiebung
Die Problematik der Asylbewerbung in H. Kutlucans Ich Chef,
Du Turnschuh und A. Maccarones Fremde Haut ...............................................  375

Mahmut Karakuş (Istanbul)


Die Vielschichtigkeit der Heimatvorstellungen in Martina Priessners
Film Wir sitzen im Süden (2010) ..........................................................................  387
14 Inhalt

Joachim Warmbold (Tel Aviv)


The Invisible Men: Tel Aviv als Gegen- und Transitraum für schwule
Palästinenser ...........................................................................................................  397

Dieter Hermann Schmitz (Tampere)


Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch. Zur filmischen Darstellung von
Idyllen ......................................................................................................................  409

Ana R. Calero Valera (València)


Alamania aus heterotopischer Sicht: Die Tür und das Theater ........................  423

Norbert Mecklenburg (Köln)


Transit Tauris-­Tenochtitlán-­Türkei: Iphigenia als kulturelle Überläuferin
und transkulturelle poetische Spielfigur .............................................................  435

Svetlana Bartseva (Berlin)


Die Transformation von Dostoevskijs „Krisenräumen“ in der
Inszenierung von Frank Castorfs „Der Idiot“ ....................................................  445

Anschriften der Autoren .......................................................................................  455


Ernest W.B. Hess-­Lüttich

Begegnungen in Transiträumen /
Transitorische Begegnungen
Bericht über das GiG-­Colloquium Ende Mai 2014 in
Limerick, Irland1

1 Das Thema
Irland im kalten, dunklen, regennassen November: das trübe, gaben die Organi-
satoren in Limerick zu bedenken, aus rein meteorologischen Gründen vorher-
sehbar die Stimmung ein. Das sei einer Tagung möglicherweise nicht zuträglich.
Man solle sich doch lieber im Wonnemonat Mai versammeln, da seien alle sicher
bester Laune. Das hat mir sofort eingeleuchtet. Die ursprünglich für Ende 2014
geplante Konferenz der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) wurde
vorverlegt und fand im Mary Immaculate College der University of Limerick in
Verbindung mit dem Irish Centre for Transnational Studies, dem Centre for Irish-­
German Studies und dem Department for German Studies vom 29. Mai bis zum
1. Juni 2014 statt. Womit der Termin zum Jahresende wieder frei wurde für eine
weitere, ebenfalls aus lokalen Gründen (dem 2014 begangenen Centenniums-­
Jubiläum der Germanistik in Indien) von 2015 auf den Dezember 2014 vorver-
legte Tagung im tropischen Mumbai.
Unsere Einladung zur Tagung hatte ein unerwartet großes Echo gefunden,
es hatten sich über 120 Teilnehmer angemeldet (etliche weitere Anmeldungen
konnten nach Ablauf der Fristen aus Kapazitätsgründen nicht mehr angenom-
men werden), über 90 Referenten trugen aktuelle Erträge Ihrer Forschung zum
Thema der Tagung vor, zu dem deren Organisatoren Sabine Egger (Limerick),
Withold Bonner (Tampere) und ich in der Einleitung zum Programm noch ein-

1 Der Bericht erschien zuerst in der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5.2 (2014):
191–204. Absatz 4 wurde maßgeblich von Anna Stiepel (Oranienbaum-­Wörlitz) ver-
fasst: Mein Dank dafür fand in ihrer Co-­Autorschaft des Berichts in der ZiG ihren
kaum zureichenden Ausdruck. Aus dokumentarischen Gründen und den bisherigen
Usancen in der GiG gemäß sei er hier noch einmal unverändert abgedruckt, zumal
die auf den Zeitpunkt der Tagung bezogenen kritischen Anmerkungen angesichts der
politischen Entwicklung seither an Aktualität (und vielleicht kontroverser Brisanz)
eher noch gewonnen haben.
16 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

mal festgehalten hatten, dass sich in der Literatur, im Film und anderen Medien
der deutschsprachigen Länder in den letzten 25 Jahren ein kulturelles Raumbe-
wusstsein herausgebildet habe, in dem dichotomische Konzepte des ‚Anderen‘
bzw. ‚Fremden‘ und ‚Eigenen‘ zunehmend brüchig geworden seien und alles in
Bewegung geraten scheine. Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Erweiterung der
Europäischen Union und manch andere Formen der Globalisierung hätten das
Phänomen der Migration auf europäischer und globaler Ebene verstärkt, was
sich teilweise auch in einer Ästhetik der Bewegung, Hybridität und Transnatio-
nalität niedergeschlagen habe. Die (auch medial vermittelte) Alltagserfahrung
transnationaler Mobilität nicht nur innerhalb des ‚neuen Europa‘ habe zur Folge
gehabt, dass ‚Transiträume‘ (Foucault) oder ‚Räume‘ (de Certeau) wie Züge, Bahn-
höfe, Flughäfen und ihre direkten Umgebungen zu einem Topos in den deutsch-
sprachigen Literaturen und anderen Medien geworden seien. Der ‚spatial turn‘
in den Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaften trage dem zwar Rechnung,
aber zugleich erwüchsen daraus neue Fragestellungen.
Die Tagung hat sich daher zum einen befasst mit der Repräsentation solcher
Transiträume in Texten verschiedener Epochen innerhalb vor allem der neueren,
aber auch der älteren deutschsprachigen Literatur sowie anderer Medien oder
Diskurse aus inter-/transkultureller Sicht. Zum anderen hat sie die Relevanz des
Konzepts eines Transitraums – und damit des Übergangs, des Transitorischen,
der Transformation, des Hybriden bzw. der Bewegung – aus der Perspektive der
Sprachwissenschaften und des DaF-­Unterrichts exponiert. Die Referenten aus
Europa, Asien, Afrika, Nordamerika und Australien setzten sich im Rahmen
der Tagung mit diesen Fragen auseinander, die hier auf knappem Raum nicht
angemessen resümiert werden können. Ich beschränke mich daher im Folgen-
den auf eine Wiedergabe meiner kurzen Ansprache zur Eröffnung der Tagung
(Abs. 2), die Zusammenfassung der Plenarvorträge (Abs. 3) und den Hinweis
auf das kulturelle Rahmenprogramm (Abs. 5); Anna Stiepel wird kurz über den
Verlauf der Tagung und ausgewählte Referate berichten (Abs. 4).2

2 Es versteht sich, dass in Abs. 4 nicht alle 91 Referate angemessen gewürdigt werden
können; die Auswahl der hier erwähnten Vorträge ist kein Qualitätsindikator, sondern
reflektiert auch ein wenig die Interessen der Berichterstatterin Anna Stiepel, die bei
vier parallelen Sektionssträngen nicht überall zugleich anwesend sein konnte, sich
dafür aber auch der Zuarbeit anderer Hörer/innen versicherte. Ein Teil der Beiträge
erschien in Bonner et al. (eds.) 2016 sowie in Egger et al. (eds.) 2016 (s. u.).
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 17

2 Die Eröffnung
Nach den Grußworten des Präsidenten des Mary Immaculate College Michael
Hayes und der Direktorin des Department of German Studies Christiane Schön-
feld eröffnete der Präsident der GiG mit einem engagierten persönlichen State-
ment den Kongress, das auf vielfachen Wunsch hin hier auch für diejenigen Leser
noch einmal dokumentiert sei, die nicht Mitglieder der GiG sind und die nicht
an der Tagung teilnehmen konnten. Vorauszuschicken ist, dass die Tage in Li-
merick noch ganz unter dem Eindruck von drei unmittelbar vorausgegangenen,
aber völlig unterschiedlichen Ereignissen standen, die gleichwohl für die Ein-
stellung, Identität und Selbstwahrnehmung der Völker Europas zum Symptom
wurden: Die Wahlen zum europäischen Parlament mit der ersten Direktwahl
des Präsidenten der Europäischen Kommission, die russische Aggression gegen
ein zaghaft sich Europa zuwendendes Nachbarland, die Ukraine, was vielen den
Sinn der europäischen Gemeinschaft erst wieder jäh ins Bewusstsein hob, und
schließlich, fast zeitgleich, die unbeschwerte Feier der europäischen Jugend im
freundschaftlich ausgetragenen Gesangswettbewerb, dem European Song Con-
test, dessen Ergebnis die europäische Botschaft liberaler Werte der bürgerlichen
Aufklärung in die Welt trug und ihr die Bereitschaft signalisierte, für diese Werte
gegen alle Widerstände einzustehen. Diesem aktuellen dissonanten Dreiklang galt
meine kurze Ansprache zum Auftakt.
„Irlande douze points. Ireland twelve points“. Zwölf Punkte, die Bestwertung,
vergab das einst erzkatholische Irland beim Grand Prix Eurovision de la Chanson
in Kopenhagen an Tom Neuwirth, einen jungen Mann mit Vollbart aus Bad Mit-
terndorf in der Steiermark, der „in full drag“ in einer Lichtkathedrale auf der
Bühne stand und im Stile von Shirley Bassey einem begeisterten Publikum sein
Lied „Rise like a Phoenix“ entgegenschmetterte. „Die erste Frau mit Bart beim
Eurovision Song Contest“ gewann als „Conchita Wurst“ den europaweiten Wett-
bewerb und wurde (z. B.) von der Zeit (Nr. 21 v. 15.05.2014) zu Europas bärtiger
Königin, zur Queen of Europe gekürt.
Das Votum für Conchita oder Tom ist eine politisch bedeutsame Botschaft
in doppelter Hinsicht. Erstens: die sexuelle Orientierung eines Menschen ist
für die Beurteilung der Person oder ihrer Leistung „wurst“, egal, einerlei, un-
erheblich. Ein Mensch im Übergang zwischen den binären Modellen stereotyper
Geschlechtsrollen, die ‚Transe‘ im Transitraum zwischen Mann und Frau, stellt
Gender-­Grenzen in Frage. Die irritierende Grenzüberschreitung ist im (mehr
oder weniger klangvollen) Künstlernamen kondensiertes Programm: ‚Conchita‘,
im colloquialen Spanisch ein Kosewort für Vagina, und die konische Form der
‚Wurst‘ assoziiert für manche im Deutschen durchaus spezifisch Männliches. Die
18 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

semiotische Verkoppelung von femininem Outfit und maskulinem Bart lässt im


Sinne Platons die von den Göttern getrennten Halbwesen zu einem androgynen
Ganzen verschmelzen.
Das Befremdende dieser hybriden Ästhetik der provokanten Inszenierung ei-
ner transitorischen Identität ist für viele eine Herausforderung, die mit zuverlässig
erwartbarer Konsequenz angenommen wird. Abgeordnete der russischen Duma,
wie (stellvertretend für viele) der einschlägig berüchtigte Wladimir Schirinowski,
twittern ihren Furor umgehend in die Welt: „Unsere Empörung ist grenzenlos.
Das ist das Ende Europas!“ Einst habe die sowjetische Armee Österreich besetzt,
es freizugeben, das sehe man ja jetzt, sei ein Fehler gewesen.
Und damit bin ich bei der zweiten Botschaft, die von diesem Votum für den
jungen Tom vom oberösterreichischen Traunsee ausgeht: Wir Europäer wollen ein
liberales, freiheitliches, rechtsstaatliches modernes Europa, in dem Minderheiten
rechtlichen Schutz vor Diskriminierung genießen. Wir haben die Nase voll von
den homophoben Sprüchen und xenophoben Ausfällen der Putins und der Patri-
archen, von den selbstgerechten Pharisäern und bornierten Reaktionären, die aus-
grenzen, was immer ihrem vernagelten Weltbild widerspricht, von den Hassern
und Hetzern, die aus aggressiv verteidigtem Unwissen und im Namen archaischer
Traditionen oder missverstandener religiöser Ideologien gleich welcher Branche
zu vernichten fordern, was immer ihnen fremd erscheint und anders ist als sie.
„Wider die Natur!“, schreien sie, die Ahnungslosen, und klerikal-­konservative Au-
toren (wie Jürgen Elsässer oder Matthias Matussek) donnern im Chor: „Entartete
Kunstfigur!“. Das ist der Sound der lingua tertii imperii, der manchem offenbar
schon wieder wie Wohllaut klingt. Wir haben genug von Popen, Priestern und
Politbonzen, die auf Transvestiten mit Würgreflexen reagieren, genug von evan-
gelikalen Cowboys, islamistischen Einpeitschern und katholischen Exorzisten, die
Teufelswerk wittern hinter allem, was nicht in die verstaubten Schubläden ihrer
Schädel passt. Das war die Botschaft des 25-jährigen Tom, der seinen Song und
Sieg all jenen widmete, „die an eine freie und friedliche Welt glauben“.
Schnitt. Zwei Wochen später der Rückschlag. Wieder eine Wahl in Europa.
Das Ergebnis wird in diesen Tagen [Ende Mai 2014] ausgewertet und ausgedeutet.
Schwache Wahlbeteiligung, was immer die rechten Ränder stärkt (13 % in der
Slowakei, ganze 22 % der Polen, obwohl sie zu 86 % pro-­europäisch sind). Die
Mehrheit der Deutschen zu lahm und zu faul, am letzten Wochenende zur Wahl
zu gehen, statt stumpf in den Stadtparks zu lagern und Grilldunst zu atmen. Der
rechte Front National stärkste Partei in Frankreich, „Ukip Earthquake rocks La-
bour and Tories“, titelt der britische Telegraph, die offen antisemitisch-­rassistische
Jobbik-­Partei von Gábor Vona auf Platz zwei in Ungarn, die rechtspopulistische
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 19

FPÖ holt mehr als ein Fünftel aller Stimmen in demselben Österreich, das eben
noch im Triumph seines Landeskindes sich sonnte, Twelve Points for Tom, den
Transvestiten.
Sie wittern Morgenluft, die Feinde des liberalen Europas, Rechtspopulisten wie
Marine Le Pen in Frankreich, Geerd Wilders in Holland, Heinz-­Christian Strache
in Österreich, Bernd Lucke in Deutschland, Viktor Orbán in Ungarn (oder auch
Christoph Blocher in der Schweiz) finden zunehmend Gehör für ihre simplen
Parolen. Voller Bewunderung pilgerten Marie Le Pen und andere zu Wladimir
Putin, der russische Macho-­Held ist ihr Vorbild: stark, männlich, breitbeinig,
triefend von Testosteron, zupackend, der weiß, was ‚normal‘ ist und was nicht,
der sich nimmt, was er für sein Eigenes hält, der für Tradition steht und für die
alten Werte – und das ganz alte Denken. Was für eine bizarre unheilige Allianz!
An solchen Leuten und denen, die ihnen folgen, scheint völlig vorbeigegangen,
was in Europa im letzten Vierteljahrhundert geschehen ist und nicht nur dort.
Die jungen Europäer haben mit Erasmus-­Programmen den Kontinent bereist,
sie haben ihren Horizont erweitert und ihr Denken durchgelüftet in der Be-
gegnung mit Fremden, mit Menschen, die anders sind und doch wie Du und
Ich. Der europäische Raum ist für sie nicht mehr Ferne und Fremde, sondern
Heimat und Identität. Als bekennender Kosmopolit und überzeugter Europäer
setze ich meine letzte Hoffnung auf die aufgeklärte Generation ‚Erasmus‘, die
sich von den gestrigen Sprüchen der Alten und Unbelehrbaren, aber leider auch
manchen jungen ‚Neo-­kons‘ und Neo-­Nazis, nicht mehr einschüchtern lässt, die
Globalisierung nicht als Drohung, sondern als Chance begreift, die lernend sich
einlässt auf Neues und Anderes, die Vertrautes in Frage stellt und stellen lässt und
sich nicht auf die unbefragt-­ewigen Wahrheiten derer beruft, die sich aller Recht-
fertigungspflichten meinen entziehen zu dürfen. Dafür hat Conchita gesungen,
der die Gender-­Grenzen ‚wurst‘ sind.
Neugier, Offenheit, Toleranz, Respekt vor dem Anderem, Einsicht in die ei-
genen Grenzen und Begrenztheiten – und der „Mut, den eigenen Verstand zu
gebrauchen“: das wünsche ich den Jungen und geistig jung Gebliebenen. Kants
Definition der Aufklärung, die meine Studenten, gerade auch die aus anderen und
fernen Ländern, auswendig lernen müssen, wenn sie bei mir Examen machen
wollen, ist für mich immer noch das stärkste Band, das den Kontinent zusammen-
hält3:

3 Immanuel Kant 1975 [1784]: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: id.
1975: Werke in zehn Bänden, ed. Wilhelm Weischedel, vol. 9, Darmstadt: Wiss. Buch-
ges., 53–61, zit. 53 [Hervorh. i.d. zit. Ausg. gesperrt, EHL].
20 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen
zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht
am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner
ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Das sapere aude des Horaz ist für Kant und uns der „Wahlspruch der Aufklärung“.
Er verleiht die Kraft, den Sirenengesängen der Populisten und Prediger zu wider-
stehen. Er ist der Impuls zu selbstständigem kritischen Denken. Die Aufklärung
bietet das Rüstzeug geistiger Mobilität, die Bedingung ist für die Erfahrung der
Welt. Die Welt im wörtlichen Sinne zu ‚er-­fahren‘, kann dabei helfen. Leben ist
unterwegs sein. Der Mensch ist keine Topfpflanze, kein sessiler Tiefseeschwamm.
Er ist ein durch Umwelt und Erfahrung lernendes System. Er weiß: Europa ist
nicht überall. Europäische Werte sind fragil, sie sind – historisch mühsam genug
errungen in Jahrhunderten – nun zu verteidigen und immer neu zu erklären. Eu-
ropa nicht als Festung, an dessen Dublin-­II-­Mauern die Flüchtenden zerschellen,
wie sie uns die Medien täglich vor Augen führen und wie sie in Elfriede Jelineks
jüngstem Stück „Die Schutzbefohlenen“ auf bitterste Weise zu Wort kommen,
sondern Europa als Campus, Forum, Agorá, Raum des gemeinsamen Gesprächs
über Gesichertes und Strittiges. In der Scientific Community funktioniert das auch
weltweit schon ganz gut. Werden wir nicht müde, darin auch für andere ein selbst-
kritisches Vorbild zu werden im Bewusstsein der Vorläufigkeit unseres Wissens,
das wir nicht mit Wahrheit verwechseln.
Soweit mein Gruß an die Teilnehmer der GiG-­Tagung 2014, die vom Vorläu-
figen und Transitorischen handelte, von Hybridität und Transnationalität, es ging
um die Ästhetik der Bewegung und die Pluralität der Perspektiven, um Identität
und ‚Transdifferenz‘, um Versuche der Verständigung über Grenzen hinweg, um
die Suche nach Ähnlichkeiten in der Verschiedenheit. Die Stichworte aus der Einla-
dung zu diesem Col-­loquium und die Themen des Programms boten reichen Stoff
zum colloquor, zum Reden miteinander, innerhalb und außerhalb des Hörsaals,
zum dialegesthai im Sinne der ‚Alten‘, die ‚miteinander etwas ins Klare zu bringen‘
strebten, und der Jungen, die neugierig auf Fremdes nach Limerick kamen, viele
zum ersten Mal, in das idyllische Städtchen, das, wer weiß, vielleicht einer lyrischen
Form den Genre-­Namen gab, als dessen Meister bekanntlich Edward Lear gilt,
dessen berühmten „Limerick No. 1“ ich für die bärtige Lady verfremde:
Es war mal ’ne Lady mit Bart
Besorgt, was an Vögeln sich paart
An Lerchen, Pirolen
An Eulen und Dohlen:
„Sie alle tun’s in meinem Bart!“
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 21

Und für die Gebildeten unter den Lesern, die jetzt an das 20. Sonett von Shake-
speare denken, hier noch als Zugabe dessen Parodie in der strengen Form des
Limericks:
Ein hermaphroditisches Wesen
wär‘ mir was Apartes gewesen,
da fand ich ’n Teil,
das macht‘ mich ganz geil,
an diesem befremdlichen Wesen.

3 Die Plenarvorträge
Den eigentlichen Auftakt zur Tagung in Limerick machte dann anschließend der
brilliante indische Germanist, Kompararatist und Kulturwissenschaftler Anil
Bhatti von der renommierten Jawaharlal Nehru University in New Delhi. An-
gesichts des großen öffentlichen Publikums über den engeren Bezirk der Germa-
nistik hinaus sprach er in freier Rede auf Englisch über „Overlapping Worlds and
Similarity (Ähnlichkeit): Space-­time Displacement and Cultural Translation in a
World of Migration“. Er fragte nach den Antworten der Kulturtheorie auf die Lage
der durch Mobilität und Migration geprägten Welt voller Grenzen, Barrieren,
Hürden – und die oft vergeblichen Versuche ihrer Überwindung. In nüchternem
Blick auf die faktischen Machtverhältnisse und ihre Folgen plädierte er für ein
‚neues Denken‘ mit dem Ziel, die bisherige ‚Hermeneutik der Differenz‘ (von
Eigenem und Fremdem) zu ergänzen oder gar zu überwinden durch die (durch-
aus empirisch gemeinte) Suche nach Analogien und das subversive Aufspüren
von ‚Ähnlichkeiten‘. Das erlaube es nämlich, mit transitorischen Prozessen und
Transiträumen fruchtbarer umzugehen und von der Linearität der Abgrenzung
zur Simultaneität des Verschiedenen zu gelangen. Macht bediene sich nicht selten
des Gestus der Abgrenzung, während die Überschneidungen des Unterschiedli-
chen ein Kontinuum erzeugten, eine Zone des Übergangs (‚fuzzyness‘), was das
Betongefüge der Macht unterminiere. Die daraus entstehenden ‚Transiträume‘
schüfen gleichsam Freiräume für Veränderungen, im Glücksfalle auch für die
Unterminierung autoritärer Machtstrukturen. Die kulturtheoretisch daraus dann
abzuleitenden methodologischen Konsequenzen würden uns besser befähigen,
mit der Topologie des Heterogenen umzugehen, mit Polylingualität, Plurikul-
turalität und Multireligiosität, wovon er sich eine Stärkung säkularer und in-
tegrativer, vielleicht synkretischer Positionen erhofft. (Am Rande der Tagung
stand Bhatti den postgraduate students diverser Fächer zur Verfügung, um mit
ihnen das Thema in einem Workshop zu vertiefen.).
22 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

Der zweite Plenarvortrag trug den Titel „Vom Finden und Suchen von Transit-
räumen: Zur Theorie und Praxis von Forschungsprojekten im Kontext der Reise-,
Exil- und Migrationsliteratur“: Gisela Holfter von der gastgebenden Univer-
sity of Limerick stellte ein Projekt (German Traces) des Centre for Irish-­German
Studies vor, das nach Brasilien und Israel, Bratislava und Stockholm nun auch in
Irland „Deutsche Spuren“ aufzufinden und der Öffentlichkeit in Form von Text-,
Audio- und Videodateien zugänglich zu machen sucht.
Der dritte Plenarvortrag von Arnd Witte von der irischen Maynooth Uni-
versity im schönen County Kildare war dem Thema „Fremdsprachenlernen und
Dritte Orte: Verstrickung und Entfaltung des interkulturellen Selbst“ gewidmet.
Sein Interesse galt der individuellen Erfahrung eines Menschen in fremden Kul-
turräumen vor dem Hintergrund seiner sozialisatorischen Prägung durch seine
eigene Kultur, die, wiewohl ihm selbst möglicherweise nur teilweise bewusst,
seine Wahrnehmung gleichwohl sowohl kognitiv als auch emotional beeinflusst.
Im Kontext von raumtheoretischen Ansätze des sog. ‚conceptual blending‘ und
des ‚third space‘ bzw. ‚third place‘ zog Witte daraus Schlussfolgerungen für eine
neue Konzipierung der Vermittlung von Fremdsprachen, die auf eine Verschmel-
zung mentaler Räume ziele, die mit benachbarten Räumen netzartige Strukturen
herausbildeten, was semantische Ähnlichkeiten zwischen Mutter- und Fremd-
sprache abzurufen erlaube.

4 Die Sektionsvorträge
Liminalität, Überlappungen sowie Zwischenräume wurden von Neeti Badwe
(Pune) in Texten Kafkas als Orte symbolischer Interaktion herausgearbeitet. Die
gewonnenen Erkenntnisse zu untersuchten Transiträumen lassen sie als ambi-
valente Bereiche erscheinen, an denen sich nicht nur Mobilität, Hybridität und
transnationale Grenzüberschreitungen ablesen lassen, sondern auch der Verlust
von Zeit- und Raumbewusstsein, wie Ute Seiderer an Péter Esterházys Roman
Donau abwärts (1992) zeigte, sowie die Umkehr von Bewegung in statisches
Warten, wie in Yoko Tawadas Schwager in Bordeaux (2008) (Yvonne Dudzik,
Bochum). Es wurde danach gefragt, wie sich die Wahrnehmung von Ferne und
Mobilität in der literarischen Moderne wandelt und wie dadurch sinnliche und
kulturelle Perspektiven verändert werden. Die umfassende Mobilität generiert ne-
ben Freiräumen jedoch auch Einschnitte in Biografien (Carmen Schier, Coburg),
die Erschütterung bestehender Identitätskonzepte und die Ausbildung hybrider
Identitäten. Das Motiv der Lebensreise, von Adalbert von Chamisso bis hin zu
Yadé Kara, Radek Knapp oder Feridun Zaimoğlu, war Thema von Michael Ewerts
(München) Untersuchung. Interessant war in diesem Kontext auch der Vortrag
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 23

Christina Jurcics (Oviedo), die den Ansatz der feministischen Philosophin Sara
Ahmed zu emotionalen Ökonomien in transnationalen Gesellschaften auf Be-
wegung in den Texten Melinda Nadj Abonjis, Yade Karas und Ulrike Ulrichs
anwandte. Während in Krisenzeiten oft Tendenzen bestehen, individuelles Glück
in nostalgische Bilder von Sesshaftigkeit und geringer physischer und sozialer
Mobilität zu übersetzen, ermöglicht das Zulassen von Unglück „eMotion“, d. h.
eine Form der Bewegung, die positive Veränderungen in transnationalen Gesell-
schaften zulässt. Zwei weitere Vorträge zu Nadj Abonjis Tauben fliegen auf zeigten,
wie der Roman selbst (Jürgen Barkhoff, Dublin) bzw. das Auto darin (Elin Nesje
Vestli, Oslo) zu einem transitorischen Raum wird, von dessen Rücksitz aus Spiel-
arten eines transitorischen Daseins ausprobiert werden.
In den Vorträgen wurde deutlich, dass Transiträume in vielfältiger Gestalt
in Literatur und Film reflektiert und/oder codiert werden. Dabei kann es sich
um Länder, Städte, Bahnhöfe, Flugplätze, Transportmittel, Varietés, Hotellobbys,
Büroräume oder Bordelle handeln. Ein Hauptcharakteristikum der untersuchten
Transiträume ist, dass sie Berührungspunkte und Begegnungen zwischen Be-
kanntem und Unbekanntem, Eigenem und Fremden ermöglichen, die als Kon-
sequenz eines Kontakts Veränderungen des Individuum und/oder des Ortes nach
sich ziehen. Dabei wurde den Fragen nachgegangen, welche Begegnungen und
Interaktionen sich in und durch Transiträume aufgrund ihres inhärenten Werte-
systems ergeben, und inwieweit Transiträume sich durch die Handlungen der sich
in diesem Raum befindenden Individuen konstituieren.
Als zwischenkontinentaler, nicht dauerhaft bewohnbarer Aufenthaltsraum,
bzw. als symbolischer Raum, der Nationen und Kulturen gleichzeitig voneinander
abgrenzt und miteinander verbindet (Marja-­Leena Hakkarainen, Turku), wur-
de das Meer bzw. der Ozean vorgestellt. Das Wasser kann zudem geopoetische
Konzepte und semiotische Stereotype befördern. Das trifft auch auf das Eis zu,
dem sich der Reisende in literarischen (Dmitrij Dobrovol’skij & Artem Šarandin,
Moskau) und filmischen Texten (Dorit Müller, Berlin) in Polarregionen gegen-
über sieht, und das sowohl als leere Naturlandschaft als auch in Gestalt seiner
indigenen Bewohner extreme Fremdheit repräsentieren kann. Doch gerade auf-
grund dieser Fremdheit widerstrebt es konventionellen Mustern der medialen
Inszenierung und kann so zur Folie instabiler und oszillierender Ordnungen
werden. Am Beispiel deutscher Afrika-­Reiseberichte aus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts ermittelte Florian Krobb (Maynooth), dass der zu Studienzwe-
cken durchquerte Raum über die Begegnungsszenen als instabil definiert wurde,
um die Notwendigkeit einer Stabilisierung durch europäisches Eingreifen nach-
zuweisen und so koloniale Bestrebungen zu legitimieren.
24 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

Groß- und Hauptstädte werden von Zuziehenden als Niederlassungsorte er-


sehnt oder als Durchgangsstation gedacht und erlebt, so in Josef Roths Essay
„Juden auf Wanderschaft“ (Astrid Starck-­Adler, Bern). Vor allem Berlin wird
in neueren Texten, wie denen von Carmen-­Francesca Banciu, zum Raum der
Transformation, und – durch das Erleben des Individuums – zum kulturellen
Bedeutungsträger, wodurch der Transitraum nicht nur Durchgangsort, sondern
Handlungsraum wird (Hiltrud Arens, Montana). Umgekehrt können historisch
als polyglotte Begegnungsräume wahrgenommene Städte wie Berlin in Fern-
sehserien aufgrund dieser Bedeutung zugleich als Schauplatz und Hauptakteur
fungieren, wie Jonas Nesselhauf und Markus Schleich (Saarbrücken) anhand
von Dominik Grafs zehnteiliger Fernsehserie Im Angesicht des Verbrechens über-
zeugend zeigten.
Begegnungen und Grenzüberschreitungen, d. h. die geografische und soziale
Mobilität des Individuums, erfahren in Transportmitteln und Verkehrsknoten-
punkten oft eine Intensivierung. Verkehrsknotenpunkte, allen voran Bahnhöfe,
sind das Ergebnis kultureller (Margit Dirscherl, Bristol) und wirtschaftlicher Pro-
zesse, die den Raum und die Gesellschaft markieren. Elena Giovannini (Bologna)
strich heraus, dass der Bahnhof ein polyfunktionaler Transitraum ist, ein Knoten-
punkt im Verkehrs- und Wirtschaftsnetz, der den Übergang zum Kapitalismus
und die darauffolgenden soziale Transformationen verräumlicht. Verliert der
Bahnhof jedoch seine transitorische Funktion, dann erhält er den Status einer
peripheren Abweichungsheterotopie. Der Flughafen kann dagegen aufgrund
seiner Ortlosigkeit zum Ausgangs- und Ankunftspunkt für Landesgrenzen über-
schreitende Bewegungen und zum Katalysator für die Reise in eigene Innenwelten
werden (Agata J. Łągiewka, Barcelona). Aleya Khattab (Kairo) sprach über das
Taxi in den tragikomischen Geschichten von Chalid Al-­Chamissi als literarische
Projektionsfläche für Leid und Wut, aber damit auch als Raum des Aufbegehrens
der Mehrheit in Ägypten.
Transportmittel spielen als Transiträume, als Zwischen- und Grenzräume im
Übergang zwischen Abfahrts- und Zielort eine zentrale Rolle. In literarischen
Repräsentationen von Zügen und Zugreisen von DDR-­Autoren werden sie als
Symbole des Übergangs und als heterotopischer Raum par excellence entworfen
(Withold Bonner, Tampere). Sabine Egger (Limerick) untersuchte die Bahnfahrt
in Herta Müllers Roman Reisende auf einem Bein (1989) als zentrale Metapher
des Vagabundentums und die aktive/passive Rolle des Subjekts in der dabei ent-
stehenden Dynamik im Kontext zeitgenössischer Vagabondage-­Texte. In Müllers
transmedialen Collagen entsteht Bewegung durch zentrale Figuren wie die „ich-­
Verteilmaschinerie“ und Text-­Bild-­Relationen, auf die Iulia-­Karin Patrut (Trier)
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 25

einging. Gerald Bär (Lissabon) untersuchte frühe fiktionale und empirische Flug-
berichte über die entgrenzende Erfahrung des Aufstiegs mit dem Fesselballon als
neuem Transportmittel.
Öffentliche oder halböffentliche Begegnungsorte wie Varietés, Hotellobbys,
Büroräume oder Bordelle können ebenfalls zu Transiträumen werden. Die Ho-
tellobby mit ihrer Drehtür in Verfilmungen von Vicky Baums Menschen im Hotel
(1929) wurde von Christiane Schönfeld (Limerick) als Metapher für das Tran-
sitorische des Lebens und das Flüchtige des Seins, und damit zu Spiegel und Maß
der Gesellschaft interpretiert. Ebenso die Varietés der 20er und 30er Jahre, in
denen vor allem die Lust an der Durchbrechung gesellschaftlicher Tabus im Vor-
dergrund stand. Mit Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie (1917) als Ana-
lysewerkzeug warf Herbert Uerlings (Trier) einen Blick auf die Karriere Josephine
Bakers und fragte, inwiefern für sie das Varieté im Paris der 20er Jahre zum Tran-
sitraum für ihre Flucht vor Rassismus wurde, ihre Performance als Inszenierung
unauflöslicher Ambivalenzen und des kolonialen Begehrens.
Corinna Albrecht (Göttingen) und Monika Shafi (Delaware) zeigten in ihren
Vorträgen auf, wie die Kernfragen des Globalisierungsdiskurses in deutschspra-
chigen Gegenwartstexten räumlich verhandelt werden. In inszenierten Tran-
siträumen wie Büros, Messehallen, Ferienresorts und Restaurants werden nicht
nur Begegnungssituationen, sondern auch ökonomische und kulturelle Globali-
sierungsprozesse manifest. Dabei geht es vor allem um die Auseinandersetzung
mit den Auswirkungen transitorischer Erfahrungen auf individuelle Lebensent-
würfe der Protagonisten, welche durch eben jene transitorischen Orte produziert,
problematisiert und gespiegelt werden.
Die Thematisierung von Reise, „Transmigration“, aber auch Sehnsucht nach
‚Heimat‘ steht im Zentrum neuer interkultureller Literatur, wie verschiedene
Vorträge zeigten (u. a. Nuria Codina, Chemnitz/Tübingen; Gunther Pakendorf,
Stellenbosch; Szilvia Lengl, Limerick), und in der ‚Vertreibungsliteratur‘. Ver-
treibung, Identitätsverlust sowie die nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen
Heimat und die Wiederbegegnung damit sind Themen dieser Literatur. Für viele
Vertriebene ist jeder Ort jenseits der Heimat, ob Flüchtlingslager, Unterschlupf
auf dem Fluchtweg oder das neue Zuhause nicht nur ein Raum zur Begegnung
mit fremden Menschen und Kulturen, sondern auch mit dem verfremdeten,
sich erinnernden bzw. im Hinblick auf kulturelle und soziale Identität neu wahr-
genommenen Selbst (Hala Farrag, Kairo; Johnny Johnston, Dublin; Julia Augart,
Windhoek).
In der Gegenwartsliteratur werden virtuelle Bewegungsräume entworfen, in
denen Protagonisten gender-­Identität vergegenwärtigen, performativ konstruie-
26 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

ren, aber auch entgrenzen, wie von Björn Hayer (Landau) anhand ausgewählter
Texte aus der Perspektive von gender-­Studies und Medialitätstheorien gezeigt
wurde. Das Internet ermöglicht es durch seine Anonymität, störungsfrei den Ge-
schlechterwechsel zu vollziehen, es übernimmt im Hinblick darauf eine ähnliche
Funktion wie Aufenthalte in der Illegalität es für homosexuelle Palästinenser tun
können (Joachim Warmbold, Tel Aviv). Zehra İpşiroğlu (Duisburg-­Essen) unter-
suchte Stücke des heutigen interkulturellen Theaters, in denen Gender-­Fragen
gemeinsam mit kulturell, sozial und individuell bedingten Konflikten behandelt
werden. Die Theaterstücke aus der Perspektive des Transit-­Konzepts zu unter-
suchen stellt dabei einen innovativen Ansatz dar.
Norbert Mecklenburg (Köln) verglich in seinem Vortrag mit Hilfe von inter-
und transkulturellen wie auch postkolonialen Ansätzen zwei nicht-­europäische
Adaptationen von Euripides‘ Iphigeneia mit der Goethes im Hinblick auf die Kon-
frontation von Griechen und ‚Barbaren‘ darin. Inszeniert der mexikanische Autor
Alfonso Reyes seine Ifigenia cruel (1923) als kulturelle Überläuferin, ist die Ifigenia
Tauris’te (1942) des türkischen Autors Selahattin Batu gezielt anti-­orientalistisch
konzipiert, wobei beide aus interkultureller Sicht problematisch seien. Das treffe
nicht auf Perikızı zu, Emine Sevgi Özdamars Bearbeitung von Homers Odyssee,
mit der sie am Projekt Odyssee Europa der Ruhr.2010 teilnahm, wie Ana Calero
(Valencia) ausführte. Die junge Heldin, Perikızı, begibt sich darin durch einen
Spiegel von ihrem Zuhause in Istanbul (Ithaka) nach Europa und macht damit die
Bühne zu einem – interkulturellen –Transitraum, wie ihn Foucault in Verbindung
mit der Heterotopie definiert.
Betrachtet man das Konzept des Transitraums als Metapher für einen Über-
gang, in dem eine Transition von einem Status in den anderen stattfindet, er-
öffnen sich hier auch neue Blickwinkel auf Adoleszenzprozesse. Dabei stellte sich
heraus, dass auch ‚totale‘ Bildungs- und Erziehungsanstalten als transitorische
Räume interpretiert werden können, beispielsweise in Josef Holubs Lausige Zeiten
(1997) (Britta Jung, Groningen/Limerick) oder Joseph Zoderers Das Glück beim
Händewaschen (1979) (Anna Stiepel, Limerick). Transportmittel, Wege, Reisen
sind laut Cornelia Zierau (Paderborn) in der Adoleszenzliteratur zunehmend als
Transiträume zu finden, in denen soziale, religiöse und sexuelle Differenzen auf
ästhetisch anspruchsvolle Weise verhandelt werden. Insofern sollten diese Texte
nicht nur im Kontext der Kinder- und Jugendliteratur untersucht werden.
Im Themenschwerpunkt der Intermedialen Sprachräume ging Peter Colliander
(Kopenhagen) der Frage nach, ob die deutsche Sprache eine engere Beziehung
von Zeit und Raum im lexikalischen sowie morphosyntaktischen Bereich zum
Ausdruck bringe. Nachgewiesen wurde dies u. a. am Beispiel der Kasusrektion
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 27

der Präposition ‚in‘, die lokale und temporäre Zusammenhänge regiert und somit
eine Beziehung zu Raum und Zeit entwirft. Unter dem Stichwort ‚Mehrsprachig-
keit‘ arbeitete Csaba Földes (Erfurt) arbeitete mit Hilfe von empirischen Daten
eines kontaktlinguistischen Feldforschungsprojektes bilinguale kommunikative
Praktiken im aktuellen ungarndeutschen Sprachgebrauch heraus. Daraus ging
hervor, dass in transkulturellen Kommunikationssituationen mitunter eine ‚dritte
Größe‘, ein ‚hybridisierter Code‘ entsteht, der für die Symbolisierung sozialer
Identität der Ungarndeutschen von Bedeutung ist. Andrea Bogner und Barbara
Dengel (Göttingen) aktualisierten in ihrem Beitrag de Certeaus ‚space‘ als ‚prac-
ticed place‘ und schrieben ihn anknüpfend an das Konzept des kommunikativen
Raumes fort. Yüksel Ekinci-­Kocks (Bielefeld) stellte ein Projekt vor, in dem die
sukzessive Erweiterung eines mehrsprachigen Wortschatzes von Schülern mit der
Zweitsprache Deutsch untersucht wurde. Die DaZ-­Lerner erschaffen sich lernend
einen dritten, transkulturellen sprachlichen Raum.
Im Bereich der Übersetzungswissenschaften gingen Beiträge den Transferleis-
tungen nach, die bei der Übersetzung von literarischen Texten, insbesondere
literarischen Texten, in denen eine interkulturelle Konstellation verhandelt wird,
zu erbringen sind. Texte wurden dabei als Transitraum in den Blick genommen,
in dem nicht nur Begegnungen möglich sind, sondern auch kontinuierlich Aus-
tauschprozesse ablaufen für die das Vorübergehende bzw. Übergängige ästhetisch
und inhaltlich selbst konstitutiv wird (Dieter Heimböckel, Luxemburg; Sabine
Strümper-­Krobb, Dublin). Die Übersetzung vermittelt einerseits den Eindruck
eines fremden kulturellen Raumes, andererseits muss sie das polyphone ‚Fremde‘,
das schon an sich transitorische Effekte aufweist, vor dem Hintergrund des ‚Ei-
genen‘ verständlich machen, um die adäquate Rezeption des Werkes zu gewähr-
leisten. Es ist zu fragen, ob dies als überbrückender oder eher als dynamischer
Transferprozess zu denken ist. Turgut Gümüşoğlu (Istanbul) nahm die eigenen
Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums für Irland, welche die Er-
fahrung anderer Teilnehmer aus ‚östlichen‘ Ländern außerhalb der EU spiegelten,
als praktisches Beispiel für Hindernisse im Prozess ‚kulturellen Übersetzens‘,
dem Transfer der Vorstellungen und Denkweisen eines Lebensraumes in einen
anderen.

5 Das Rahmenprogramm
Das reichhaltige kulturelle Rahmenprogramm bot in entspannter Atmosphäre
vielfältige Gelegenheit zum Austausch über das am Tage Gelernte. Am Abend des
ersten Tages lud der deutsche Botschafter, seine Exzellenz Dr. Eckhard Lübkemei-
er, zu einem Empfang auf den schön gelegenen Plassey Campus. Anschließend las
28 Ernest W.B. Hess-­Lüttich

der vielfach ausgezeichnete Münchener Schriftsteller Hans Pleschinski aus sei-


nem jüngsten Bestseller, dem virtuosen und von der Kritik zu Recht hochgelobten
Roman Königsallee (2013 bei C.H.Beck erschienen), der kunstvoll Thomas Manns
Lotte in Weimar im Nachkriegsdeutschland 1954 re-­inszeniert und nach dem
Vorbild der späten Begegnung zwischen Goethe und Charlotte Kestner, geborene
Buff, 1816 in Weimar, den gefeierten Großschriftsteller im Düsseldorfer Breiden-
bacher Hof unversehens auf Klaus Heuser treffen lässt, seinen „Geliebten von
einst“ (wie das Tagebuch am 29.08.1954 diskret notiert). Die mit lässiger Eleganz
vorgetragene Lesung von Passagen des ebenso kenntnisreich-­quellenbelesenen
wie ironisch-­sublimen Romans quittierte das animierte Publikum mit anhalten-
dem Applaus.
Einen Empfang einschließlich eines üppigen Dinners im Dolan’s spendierte
die Botschafterin der Schweiz Marie-­Claude Meylan am zweiten Abend. Da-
nach ließen sich die Teilnehmer verzaubern von einer durch gälische Sean-­
Nós-­Gesänge, vorgetragen von der ebenso begabten wie schönen Sängerin Saili
NiDhroighneains, gerahmten Lesung Ilma Rakusas, die auf Deutsch und Eng-
lisch aus ihrer Lyrik und Prosa las, vor allem Auszüge aus Mehr Meer (2009) und
aus ihrem neuen Erzählband Einsamkeit mit rollendem „r“ (2014).
Den Abschluss der Tagung bildete ein wunderbarer Akkord aus klassischem
Konzert, Mozarts Divertimenti in der College Chapel, ein Empfang der Botschaft
Österreichs in Anwesenheit des Gesandten und Botschaftsrates Ralf Hospodarsky,
und ein Abendessen mit anschließendem Spaziergang durch die eindrucksvollen
Lichtinstallationen „Particles of Waves?“. Wer zwischendurch noch Zeit fand,
konnte am Tage auch noch andere Projekte irischer und internationaler Künstler
bestaunen, Filme, Ausstellungen, die im Rahmen von Limerick als nationaler
‚City of Culture 2014‘ bildlich und akustisch auf Transiträume Bezug nahmen,
etwa eine sich zwischen Malerei und Fotocollagen bewegende Ausstellung Tran-
sient Spaces, oder Kurzfilme und Fotografien von in und um Limerick ansässigen
Künstlern wie Patrick Horgan oder Gottfried Helnwein, oder die im Rahmen
der Limerick-­Konferenz über Urban Soundscapes and Critical Citizenship im
April 2914 entwickelte Installation Soundscapes: Echo Location – The Sounds of
Elsewhere (http://limericksounds.wordpress.com/echo-location/).
Die GiG-­Tagung 2014 in Limerick war mit insgesamt über 120 Teilnehmern
eine der größten germanistischen Fachtagungen in der Konferenzsprache Deutsch
überhaupt, die bisher in Irland oder Großbritannien stattgefunden haben. Sie
wurde vom DAAD, vom Goethe-­Institut, von den Botschaften Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz sowie von Fáilte Ireland unterstützt. In diesem Zu-
sammenhang ist aus der Sicht des GiG-­Präsidenten auch die umsichtige Vor- und
Begegnungen in Transiträumen / Transitorische Begegnungen 29

Nachbereitung der Tagung durch Sabine Egger lobend hervorzuheben, die die
Sponsoren gewann und etwa die zuständige Abteilung des DAAD mit perfekten
Anträgen und Abrechnungen beglückte.

Literatur
Bonner, Withold, Sabine Egger & Ernest W.B. Hess-­Lüttich (eds.) 2016 b: Tran-
siträume (= Themenheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7.2),
Bielefeld.: transcript
Egger, Sabine, Withold Bonner & Ernest W.B. Hess-­Lüttich (eds.) 2016 a: Tran-
sit oder Transformation? Sprachliche und literarische Grenzüberschreitungen /
Transit or Transformation? Border Crossings in Language and Literature (= Ger-
manistik in Ireland. Jahrbuch der / Yearbook of the German Studies Association
of Ireland 11/2016), Konstanz: Hartung Gorre
Kant, Immanuel 1975 [1784]: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in:
id. 1975: Werke in zehn Bänden, ed. Wilhelm Weischedel, vol. 9, Darmstadt:
Wiss. Buchges., 53–61
Pleschinski, Hans 2013: Königsallee, München: C.H. Beck
I
Transitraum Heimat
Núria Codina (Chemnitz)

Transiträume in den Romanen Emine Sevgi


Özdamars und Feridun Zaimoğlus

Abstract: By examining Emine Sevgi Özdamar’s novels Das Leben ist eine Karawanserei
and Die Brücke vom Goldenen Horn as well as Feridun Zaimoğlu’s epistolary novel Liebes-
male, scharlachrot, this contribution explores the role that places of transience play in
contemporary German-­Turkish literature. Traditionally static spaces such as the homeland
or the parental house become places of transience which question fixed notions of culture
and identity. In Özdamar’s works, migration is depicted as a fundamental human experi-
ence with nomadism becoming a positive, liberating way of life. In Zaimoğlu’s novel, the
protagonist’s temporary stay in Turkey serves not only to stress the differences that have
alienated him from his parents, but also to express his sense of belonging to Germany.

1 Transiträume in der deutsch-­türkischen Literatur


In seiner Studie Non-­lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité
(1992) stellt der Ethnologe Marc Augé im Zuge der Globalisierung und der In-
dividualisierung der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts eine Zunahme von Nicht-­
Orten fest. Während anthropologische Orte eine identitätsstiftende, relationale
und historische Funktion haben, fungieren die für die Übermoderne charakte-
ristischen Nicht-­Orte als Symbole „der einsamen Individualität, der Durchreise“
(Augé 2012: 83). Sie besitzen keine besondere Identität und zeichnen sich durch
ihren funktionalen und provisorischen Charakter aus. Als Beispiele nennt Augé
Transiträume (Flughäfen, Bahnhöfe, Flüchtlingslager), Orte, die aus dem Netz
von Verkehrsmitteln und sonstigen Infrastrukturen entstanden sind (Raststätten,
Flugzeuge, Bahnlinien, Parkplätze) sowie Konsum- und Freizeiträume (Hotelket-
ten, Feriendörfer, Einkaufszentren). Obwohl Nicht-­Orte laut Augé die Möglich-
keit bieten, sich von den Zwängen des Alltags zu befreien, werden sie primär
aus einer kulturkritischen Perspektive als Räume der Einsamkeit beschrieben, in
denen der Mensch seine eigene Identität und seine Individualität aufgibt.
In der deutsch-­türkischen Literatur sind Nicht-­Orte ein wichtiger Topos, an
dem sich eine signifikante Entwicklung dieser Literatur ablesen lässt: Während
Transiträume wie Bahnhöfe oder Fabriken in den Texten der ersten und zweiten
Generation deutsch-­türkischer Autoren1 eher negativ konnotiert waren und

1 In seinem Aufsatz „Von der Identitätskrise zu einer ethnografischen Poetik. Migration


in der deutsch-­türkischen Literatur“ teilt Özkan Ezli die deutsch-­türkische Literatur
34 Núria Codina

„Heimweh, Kälte, Unverständnis“ (Ezli 2006: 62) zum Ausdruck brachten, werden


diese in den Texten der dritten Generation neu definiert. In den Romanen Emine
Sevgi Özdamars und Feridun Zaimoğlus, die dieser dritten Generation angehö-
ren, sind Transiträume weniger Orte der Einsamkeit und des Identitätsverlusts als
vielmehr Orte des Durchgangs, die durch Bewegung gekennzeichnet sind und in
denen Identität ausgehandelt wird. Transiträume sind nicht nur Verkehrsmittel
wie Flugzeuge, Züge oder Schiffe, sondern auch die eigene Heimat, die verlassen,
bereist und mit neuen Augen entdeckt wird, oder das Elternhaus, das den Pro-
tagonisten zwar vertraut ist, aber in dem sie sich nur vorübergehend aufhalten.
Özdamars und Zaimoğlus Texte stellen den Begriff des Nicht-­Orts in Frage, indem
sie Transiträumen eine positive und produktive Dimension verleihen. Sie dienen
dazu, eine kritische Distanz gegenüber der Elterngeneration auszudrücken, die
hybride Identität der Protagonisten zu betonen und territoriale Vorstellungen
von Kultur zu hinterfragen. Die symbolische und sich wandelnde Bedeutung von
Transiträumen in der deutsch-­türkischen Literatur trägt dazu bei, den Blick für
die literaturwissenschaftliche Analyse von Raumfigurationen zu schärfen. Durch
den vom Spatial Turn eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Literaturwissen-
schaft rückt die Deterritorialisierung von Kulturen und Literaturen zunehmend
in den Vordergrund.
Im vorliegenden Beitrag werden in einem ersten Schritt einige neuere Raum-
konzepte der Kultur- und Literaturwissenschaft vorgestellt, die dem dynamischen
Charakter von Özdamars und Zaimoğlus Raumkonstruktionen Rechnung tragen
und diese beschreibbar machen. Es wird auch gezeigt, wie in Özdamars Romanen
Das Leben ist eine Karawanserei und Die Brücke vom Goldenen Horn Bewegung
durch das permanente Umziehen und Pendeln der Figuren als eine grundlegende
menschliche Erfahrung dargestellt wird. Während bei Özdamar Heimatlosigkeit
postuliert und als eine positiv konnotierte Lebensform inszeniert wird, dienen

in drei Phasen ein. Die ersten zwei Autorengenerationen, die jeweils von Anfang der
1970er bis zu Beginn der 1980er Jahre sowie von Ende der 1980er bis Mitte der 1990er
Jahre reichen, thematisieren die Erfahrung des Fremdseins in Deutschland. Insbeson-
dere in den Texten der ersten Generation, zu der Autoren wie Nevzat Üstun, Bekir
Yıldız oder Yüksel Pazarkaya gehören, steht der „Verlust der Heimat“ (Ezli 2006: 62) im
Vordergrund. In der zweiten Generation ist dieses Thema noch präsent, es überwiegt
jedoch die Erfahrung der gespaltenen Identität, wie es zum Beispiel in den Texten Aras
Örens, Alev Tekinays oder Akif Pirinçci deutlich wird. Die Autoren der dritten Phase
der deutsch-­türkischen Literatur, die in den 1990er Jahren beginnt, repräsentieren
„nicht mehr Probleme zwischen den Kulturen und Identitäten, ihre Sprache hinterfragt
vielmehr, verfremdet die Abbildung realer Zustände, hebt die kulturellen Differenzen
auf eine andere Ebene und macht deren Zuordnung unmöglich.“ (Ezli 2006: 67).
Transiträume in den Romanen E. S. Özdamars und F. Zaimoğlus 35

Transiträume in Feridun Zaimoğlus Liebesmale, scharlachrot dazu, die Zugehörig-


keit des Protagonisten zu seiner Heimat zu betonen. Trotz der scheinbar divergen-
ten Funktionen von Transiträumen in ihren Werken wird bei beiden Autoren ein
Raumverständnis deutlich, für das Ambivalenz kennzeichnend ist. Unterschiede
zwischen der Türkei und Deutschland sind zwar erkennbar, jedoch können diese
Räume weder durch klare Oppositionen definiert werden, noch bringen sie eine
homogene Kultur zum Ausdruck.

2 Dynamische Raumkonzepte in der Kultur- und


Literaturwissenschaft
Mit dem sogenannten Spatial Turn rückt die Kategorie Raum ins Zentrum der
kulturwissenschaftlichen Debatte. Der Raum bildet nun keinen leeren „Behäl-
ter“ (Schroer 2008: 135) mehr, in dem sich Geschichte lediglich abspielt. Er wird
auch nicht mehr als neutrale Kulisse oder als etwas Totes und Fixiertes (cf. Soja
2008: 245) aufgefasst, sondern als eine Konstruktion, die veränderlich ist und
dem steten Wandel unterzogen ist. So befreit Henri Lefebvre den Raum in sei-
ner marxistisch inspirierten Studie La production de l’espace (1974) von seiner
Passivität und Materialität und versteht diesen als ein Produkt der menschlichen
Handlungen und Bewegungen, also der aktiven Aneignung durch den Menschen.
Auch Michel Foucault betont den dynamischen Charakter von Raum: In der
Gegenwart erkennt er das Zeitalter des Raums, das der französische Philosoph
als das „Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und
Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten“ (Foucault 2006: 317) definiert.
Räumliche Bezugssysteme existieren dementsprechend niemals voneinander iso-
liert, sondern stehen im permanenten Kontakt und bilden ein gemeinsames Be-
wegungsmuster, das Foucault als ein „Netz“ (ibid.) imaginiert, in dem alle Punkte
miteinander verbunden sind.
Dank der Impulse von Lefebvre und Foucault etablierte sich in der Raum-
theorie ein dynamisches Raumkonzept, demzufolge Bewegung als eine zentrale
Raumpraxis anzusehen ist. Solche dynamische Raumvorstellungen ermöglichen
es, die sozialen Neukonfigurationen zu erfassen, die durch Migration und globale
Kulturkontakte entstehen.
Auch wenn literarisch inszenierte Räume in den Literaturwissenschaften schon
lange vor dem Spatial Turn auf ihre Semantisierungen hin analysiert wurden,2 so
hat dieser Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften noch einmal deutlich

2 Vgl. dazu Jurij M. Lotmans Überlegungen in Lotman 1972.


36 Núria Codina

den Blick für die Funktionen von Raum in der Literatur geschärft. Dabei wird die
Rolle von Bewegung bei der Charakterisierung und Konstitution von literarischen
Räumen betont und in die literarische Analyse integriert (cf. Hallet & Neumann
2009: 16). In diesem Sinne entwirft der Romanist Ottmar Ette eine „Poetik der
Bewegung“ (Ette 2005: 18), die die Überlagerung von Raumbezügen und Rela-
tionen zwischen Räumen fokussiert und anhand literarischer Beispiele sichtbar
macht. Um diese räumlichen Prozesse zu bezeichnen, bedient sich Ette des Prä-
fixes trans-. Transspatiale Strukturen sollen laut Ette die „ständigen Querungen
und Kreuzungen“ (Ette 2005: 22) zwischen Räumen zum Ausdruck bringen.
Indem Räume ständig durchquert werden, werden sie automatisch zu Transit-
räumen. Ausgehend von diesem dynamischen Raumkonzept zielt Ette darauf, die
„Vektorisierung aller (Raum-) Bezüge“ (Ette 2005: 19) und die Speicherung von
Bewegungsmustern in literarischen Texten beschreibbar zu machen. Aus dieser
Poetik ergibt sich ein transkulturelles Literaturkonzept, das Literaturen jenseits
von Nationalgrenzen und somit als „Literaturen ohne festen Wohnsitz“ (Ette
2005: 14) versteht. Die Texte Emine Sevgi Özdamars und Feridun Zaimoğlus,
die sich zwischen verschiedenen Kulturen hin- und her bewegen und vom Ver-
hältnis von Raum und Identität erzählen, lassen sich als Beispiele für eine solche
grenzüberschreitende Literatur verstehen.

3 Emine Sevgi Özdamar: Heimatlosigkeit und Leben im


Transit
Die vielfältigen Bewegungsmuster in Emine Sevgi Özdamars Trilogie Sonne auf
halbem Weg beinhalten Überschreitungen sowohl nationalstaatlicher als auch
sprachlicher Grenzen. Nicht nur steht die Migrationsgeschichte der Protagonistin
im Mittelpunkt des Werks, sondern diese wird auch – insbesondere im ersten und
zweiten Band – in einer hybriden Sprache erzählt, in der Deutsch und Türkisch
ineinandergreifen. Özdamars Trilogie handelt vom ständigen Umherziehen in-
nerhalb der Heimat (Das Leben ist eine Karawanserei), vom Hin- und Herreisen
zwischen Deutschland und der Türkei (Die Brücke vom Goldenen Horn) sowie
vom Pendeln zwischen Ost- und Westberlin (Seltsame Sterne starren zur Erde).
Ihr Werk ist somit von translokalen (innerhalb Berlins und Istanbuls), trans-
regionalen (innerhalb der Türkei), transnationalen (zwischen der Türkei und
Deutschland) und transkontinentalen (zwischen Europa und Asien) Bewegungen
geprägt (cf. Ette 2005: 199). Die permanenten Ortswechsel im Laufe der Trilogie
inszenieren das Transitorische als Normalzustand und spiegeln die Entwicklung
und zunehmende Emanzipation der Protagonistin wider. Auf der Metaebene
des Textes stellt Bewegung den logischen Zusammenhang zwischen den ver-
Transiträume in den Romanen E. S. Özdamars und F. Zaimoğlus 37

schiedenen Teilen der Trilogie her: Der zweite Roman Die Brücke vom Goldenen
Horn erzählt von der Emigration nach Deutschland. Indem rückblickend die
Zugreise nach Berlin beschrieben wird, wird eine Verbindung zum früheren Text
Das Leben ist eine Karawanserei hergestellt, der mit der Schilderung der Zug-
fahrt nach Deutschland endet. Auch in Seltsame Sterne starren zur Erde wird die
zu Beginn des Romans skizzierte und in der Türkei verortete Vorgeschichte der
Ich-­Erzählerin durch die Beschreibung der Zugfahrt mit den Erfahrungen der
Protagonistin als Regieassistentin in Ostdeutschland verbunden. Die Narration
entsteht also durch Bewegung und wird durch die Erinnerung an die Dynamik
der Reise vorangetrieben.
Im Topos der Zugreise treffen die verschiedenen Orte aufeinander und bil-
den ein gemeinsames „Netz“ (Foucault 2006: 317), in dem sich Gegenwart und
Vergangenheit, In- und Ausland, Fremde und Heimat vermischen. Die Bahn-
schienen symbolisieren eine der vielen Raumüberlagerungen, die Özdamars
Romane prägen. Räume sind im Werk der Autorin keineswegs homogene und
einheitliche Konstruktionen, sondern enthalten vielfältige und paradoxe Orte
mit unterschiedlichen Konnotationen. Özdamars Raumfigurationen erinnern an
Edward W. Sojas Konzept des Dritten Raums, das der amerikanische Geograph
in Anlehnung an Jorge Luis Borges Erzählung El Aleph definiert. Das Aleph ver-
körpert in Borges’ Geschichte einen Ort, an dem alle Orte des Universums sich
vermischen (Borges 2011). In diesem Sinne soll Sojas Dritter Raum jenen Raum
bezeichnen, „in dem alle Orte sind“ (Soja 2005: 96) und in dem „das Abstrakte
und das Konkrete, das Reale und das Imaginäre“ (ibid.) zusammenkommen. Mit
seinem Konzept des Dritten Raums, der jede Binarität überschreitet, nimmt Soja
Homi Bhabhas Theorie des Dritten Raums oder Zwischenraums (Bhabha 2009)
vorweg, welcher durch die Vermischung heterogener Kategorien und kultureller
Einflüsse entsteht und sich durch Hybridität auszeichnet.
Ähnlich wie im theoretischen Konzept des Dritten Raums sind in Özdamars
Werk die materiellen Raumüberlagerungen von der Erfahrung der Alterität un-
trennbar. In Das Leben ist eine Karawanserei wird dies anhand der türkischen
Republikhauptstadt Ankara und ihrer vielfältigen Landschaften sehr gut deutlich.
Die Vorstadtviertel werden mit der öden Steppe assoziiert. Dort lebt die Pro-
tagonistin in einem Ziegelsteinhaus, das mitten im Nirgendwo steht: „Wo das
Ziegelsteinhaus stand, war keine Straße, keine Gasse. Es stand einfach auf der
Steppe, ohne Tür“ (Özdamar 2008a: 287). Überdies wird der Luna-­Park als eine
autonome Welt innerhalb Ankaras charakterisiert, da er der Ich-­Erzählerin „so
groß wie eine Stadt“ (ibid.: 292) erscheint und sie an die Stadt Bursa erinnert. Im
gleichen Raum sind immer heterogene, weit entfernte und sogar erinnerte Orte
38 Núria Codina

enthalten, die durchkreuzt und durch die Bewegungen der Protagonistin mit-
einander verbunden werden. Gleichzeitig steht das imposante, elegante Atatürk-­
Mausoleum im krassen Gegensatz zu den weiten und einsamen Landschaften, die
sie bisher von der Hauptstadt kannte. Diese Disparität führt zur Desorientierung
der Ich-­Erzählerin, die sich für kurze Zeit nicht mehr im Raum verorten kann,
ihre Identität vergisst und immer wieder die drei gleichen Fragen stellt: „Wer bin
ich? Wie heiße ich? Wie alt bin ich?“ (ibid.: 313). Das Vertraute kommt der Ich-­
Erzählerin so fremd vor, als betrachtete sie es mit anderen Augen.
Die kulturelle Hybridität, die den Räumen eingeschrieben ist, betont Hansjörg
Bay in seinem Aufsatz „Der verrückte Blick“, indem er auf die vielfältigen Figuren,
Diskurse und kulturellen Praktiken aufmerksam macht, denen die Protagonistin
in Das Leben ist eine Karawanserei begegnet und die von traditionellen türkischen
Legenden bis zu amerikanischen Filmen reichen (cf. Bay 1999: 32). In diesem von
heterogenen Einflüssen durchzogenen Raum bleiben laut Bay bestimmte Grenzen
bestehen, wie etwa zwischen „Ost- und Westtürkei, Stadt und Land oder auch
zwischen Tradition und Moderne, Religion und Kemalismus“ (Bay 1999: 35).
Dennoch können diese Unterschiede „weniger als starre Gegensätze denn als all-
täglich verhandelte und überschrittene Differenzlinien“ (ibid.) verstanden werden,
die durch die permanenten Bewegungen und das aktive Handeln der Protago-
nistin relativiert werden.
Dieses Aushandeln von Grenzen und kulturellen Differenzen, das mit der
Überlagerung von Räumen einhergeht, wird in Özdamars Folgeroman Die
Brücke vom Goldenen Horn erneut aufgegriffen. Dort wird Istanbul zunächst
in Opposition zu Berlin beschrieben. Während die Erzählerin das Elternhaus
als einengend wahrnimmt und dieses mit einem Hotel assoziiert, vergleicht sie
Berlin mit der Weite und Freiheit des Außenraums: „Berlin war für mich wie eine
Straße gewesen. […] Von Berlin war ich in mein Elternhaus zurückgekehrt, aber
jetzt war es für mich wie ein Hotel, ich wollte wieder auf die Straße“ (Özdamar
2008b: 193). Bald öffnen sich jedoch innerhalb Istanbuls neue Räume und Mög-
lichkeiten, die die Opposition zwischen beiden Städten relativieren. Ähnlich wie
im Karawanserei-­Roman bleiben die Unterschiede zwischen und innerhalb von
beiden Städte bestehen, werden aber durch die Bewegungen der Protagonistin
überwunden (cf. Ette 2005: 199). Es entsteht ein neuer, subjektiver Raum, in dem
die ursprünglichen Gegensätze verhandelt werden und für die Protagonistin keine
Rolle mehr spielen. Sie pendelt zwischen der asiatischen Seite der Stadt, in der
sich das Elternhaus befindet, und der europäischen Seite. Dort besucht sie die
Schauspielschule, die Cinemathek oder das Restaurant Kapitän – allesamt Orte,
die als Freiräume fungieren und ihr die Freiheit bieten, die sie verloren glaubte.
Transiträume in den Romanen E. S. Özdamars und F. Zaimoğlus 39

Laut Ottmar Ette wird das Pendeln zu einer selbstverständlichen Erfahrung, die
fest etablierte Grenzen zum Schwanken bringt:
Die Trennung zwischen Asien und Europa erscheint auf den ersten Blick als fundamental,
bietet der Protagonistin zweifellos auch Schutz, gehört zugleich aber zu einer Alltags-
erfahrung, die sie mit Tausenden von Pendlern auf den Schiffen teilt. Wie Weberschiff-
chen halten die Dampfer die beiden Seiten Istanbuls im Leben der jungen, gerade erst
zwanzigjährigen Frau zusammen und bilden das Gewebe, den Text eines ständigen Über-
Setzens, das sich nicht im „Dazwischen“ fest etabliert. Vielmehr wird der ZwischenRaum
zwischen den Kontinenten und Stadtteilen zu einem Bewegungs-­Raum, der von einem
unablässigen raumzeitlichen Hin und Her erfüllt wird […] (Ette 2005: 194).

Schließlich ist dieses Aufzeigen und Dekonstruieren von Grenzen auch in Selt-
same Sterne starren zur Erde präsent. Dort wird die Protagonistin von einer Freun-
din mit dem Vorwurf konfrontiert, die Mauer zwischen Ost- und Westberlin zu
normalisieren und als selbstverständlich zu betrachten (cf. Özdamar 2004: 182).
Obwohl die politische Dimension der Grenze im Text etwas in den Hintergrund
gerät, wird die Mauer durch das permanente Pendeln der Protagonistin in Frage
gestellt, wie Ette bemerkt:
Die bald bei den Grenzbehörden bekannte Grenzgängerin mit türkischem Paß, West-­
Berliner Aufenthaltsgenehmigung und Ost-­Berliner Visum wird zu einer ständigen
Grenzverletzerin, die durch ihr Hin- und Herpendeln zwischen den beiden Deutsch-
lands, den beiden Berlins und ihren jeweils so unterschiedlichen Sprachen unermüdlich
übersetzt (Ette 2005: 200).

So legt das ironische Staunen der Protagonistin über die gleichen Wetterbedin-
gungen auf beiden Seiten Berlins die Willkür der Grenze bloß:
Der Winter war auf beiden Berlin-­Seiten sehr kalt. Die Straßen waren glatt wie ein Spiegel,
und an den Mercedes-­Autos und den Trabants wurden morgens die Fenster freigekratzt.
In beiden Teilen der Stadt hörte ich die gleichen Geräusche. Schnee lag auf den Ost- und
Westberliner Wimpern, niesende Menschen in beiden Berlin, über den vereisten West-
berliner Seen und der Ostberliner Spree liefen die Enten und hoben einen ihrer Füße
wegen der Kälte hoch (Özdamar 2004: 61).

In der gesamten Trilogie kommt es nicht zu einer eindeutigen Zuordnung der


Protagonistin zu einem konkreten Raum. Im Gegensatz zu den Romanen der
früheren deutsch-­türkischen Literatur wird der permanente Ortswechsel nicht
als traumatische Entwurzelungserfahrung wahrgenommen, sondern als Voraus-
setzung und Katalysator für die Entfaltung einer komplexen Persönlichkeit erlebt.
Identität erweist sich als keine feste, abgeschlossene Kategorie, sondern als ein
Prozess, der durch die Raumaneignung konstruiert wird. Sie wird nicht an einem
40 Núria Codina

festen Ort ausgehandelt, sondern im Unterwegssein, im Grenzraum, der sich


zwischen der asiatischen und europäischen Seite Istanbuls sowie zwischen der
Türkei und Deutschland auftut, wie Ette beobachtet:
Die Überblendtechnik, das Ineinanderschreiben von Istanbul und Berlin, von „Osten“
und „Westen“, „Orient“ und „Okzident“ erfolgt freilich von keinem festen Ort und noch
nicht einmal aus dem lokalisierbaren Zwischenraum eines third space im Sinne Homi
K. Bhabhas heraus, sondern von den vielfältigen (und immer wieder oszillierenden)
Bewegungen her, welche die scheinbaren Gegensätze miteinander verweben, ohne sie
doch aufzuheben und zu homogenisieren (Ette 2005: 199).

Die Protagonistin definiert sich weder über eine Rückkehr zu ihrer ursprüng-
lichen Herkunft noch über die absolute Integration bzw. Ansässigkeit im neuen
Raum, sondern über das produktive Spiel mit bzw. zwischen kulturellen und
räumlichen Grenzen. Orts- und Heimatlosigkeit wird im Gegensatz zur ersten
und zweiten Phase der deutsch-­türkischen Literatur nicht mehr als innerer Kon-
flikt erlebt (cf. Ezli 2006: 63). Vielmehr wird sie als eine positive Lebensform
inszeniert, die Glück und persönliche Entwicklung mit sich bringt.

4 Feridun Zaimoğlu: Heimat und Transiträume


Anders als bei Özdamar, in deren Werk Bewegung mit (einer positiv konnotier-
ten, weil identitätsstiftenden) Heimatlosigkeit einhergeht, dienen Transiträume
in Feridun Zaimoğlus Liebesmale, scharlachrot dazu, die Zugehörigkeit des Pro-
tagonisten zu seiner Kieler Heimat zu betonen. Somit wird nicht vom ständigen
Ortswechsel erzählt, sondern von der Identifikation mit einem festen Ort.
Im Zentrum von Zaimoğlus Briefroman steht die Korrespondenz zwischen
dem „Deutschländer“ Serdar (Zaimoğlu 2004: 271), der für einige Monate vor
emotionalem Stress in die Türkei geflohen ist, und seinem Freund Hakan. Von der
Ägäis aus berichtet Serdar von seinen Erlebnissen und Fremdheitserfahrungen
als sogenannter Deutschländer in der Heimat seiner Eltern. Der Aufenthalt des
Protagonisten steht von Anfang an im Zeichen des Provisorischen: Nicht nur sein
Urlaub hat einen vorübergehenden Charakter, sondern auch die Ferienwohnung,
in der die Familie sich aufhält, ist eine Art Transitraum. Es handelt sich um einen
künstlich erschaffenen Raum, zu dem die Familie für den Sommerurlaub zurück-
kehrt und in dem die Eltern später ihre Rentenzeit verbringen. Diese vorüber-
gehend bewohnten Orte verkörpern den Zustand des Provisorischen, wie ihn
Tom Holert und Mark Terkessidis anhand von Feriensiedlungen beschreiben.
Diese Wohnkomplexe machen die Auswirkungen von Migration und Tourismus
auf den Raum sichtbar:
Transiträume in den Romanen E. S. Özdamars und F. Zaimoğlus 41

Diese anwesende Abwesenheit [der Migranten] schreibt sich in den Raum ein. Wenn
die Migranten in der Sommerzeit anreisen, dann ist ihr Raum zweifellos durch Ver-
trautheit charakterisiert. Sie besitzen ein eigenes Haus, sie kennen das Viertel, und der
überwiegende Teil hat auch Familie gleich in der Nähe. Doch das Leben im Herkunfts-
land hat auch etwas Anonymes für die Auswanderer. Denn sie leben in einem Raum am
Rande einer Stadt, aus der sie oft gar nicht selbst stammen. Dieser Raum ist temporär, er
entsteht während des Sommerurlaubs, und man muss nationale Grenzen überschreiten,
um diesen Raum zu erreichen (Holert & Terkessidis 2006: 130).

Durch den Raum der Ferienwohnung werden in Zaimoğlus Roman die Unter-
schiede zwischen dem Protagonisten und der Elterngeneration verdeutlicht.
Während der Aufenthalt in der Türkei für Serdar eine bloße Freizeitbeschäftigung
und einen Übergangszustand darstellt, ist für die Elterngeneration, die Serdar
„brave Gastarbeiter auf Heimreise“ (Zaimoğlu 2004: 9) nennt, die Reise in die
Türkei der sinnstiftende Moment ihres Lebens. Die lange Zeit in Deutschland ist
von Schmerz, Fremdheit und Heimweh geprägt und fungiert als ein unendliches
Warten auf das wahre Glück. Die Türkei hingegen verkörpert einen idyllischen
Ort und fungiert im Unterschied zum Gastland als einzige Heimat. So wundert
sich der Protagonist über die große Anziehungskraft, die dieser Raum auf die
Elterngeneration ausübt: „Sollten unsere Väter und Mütter etwa Recht haben,
deren Wehwehchen schlagartig vorbei waren, als sie einen ihrer Füße auf Heimat-
boden setzten?“ (Zaimoğlu 2004: 10)
Bei Serdar sind solche klaren Einordnungen nicht mehr möglich: Der Versuch
einer dichotomischen Einteilung in Einheimisches und Fremdes oder Bekanntes
und Unbekanntes scheitert. Die Türkei ist für den Protagonisten vertraut und
fremd zugleich. Das Reisen bedeutet für ihn keine Rückkehr zum Ursprung, son-
dern wird zu einer kulturellen Praxis, durch die Ähnlichkeiten und Unterschiede
erfahren werden können. Bewegung hinterfragt in diesem Roman ein territoriales
Verständnis von Kultur und zeichnet einen Raum, in dem Ambivalenz konstitutiv
ist. Obwohl Serdar die Orte, die Sprache und die Traditionen im Land der Eltern
teilweise vertraut sind, muss er sich in der Türkei mit neuen sozialen Praktiken
auseinandersetzen und Fremdbilder kodieren. Manche Sitten im Dorf bedeuten
für ihn wahre Fremdheitserfahrungen, die er wie ein Anthropologe zu erschließen
versucht:
Tja, wie du siehst, ich habe meine Augen überall und versuche, all diesen tanzenden Der-
wischen, die den Taranteltanz der siebzig Schleier aufführen, ihre Masken vom Gesicht
zu reißen und ihren nackten Leib auf gut und schlecht abzuklopfen (Zaimoğlu 2004: 55).

Serdar kann sich weder völlig mit der türkischen Kultur identifizieren noch ist
sie ihm ganz fremd. Trotzdem wird er in beiden Ländern von außen als Fremder
42 Núria Codina

wahrgenommen, da er die nationalstaatliche, einheitliche Vorstellung von Spra-


che, Kultur und Territorium zum Schwanken bringt. So wird er für die lokale
türkische Bevölkerung zum Objekt der Neugierde und des Misstrauens. Als
Deutschländer wird er aufgrund seines Verhältnisses mit der einheimischen Rena
zum Unruhestifter, der mit dem Moralkodex der Gemeinschaft in Konflikt gerät
(cf. Zaimoğlu 2004: 192). Aber auch in Deutschland, seiner eigentlichen Heimat,
wird Serdar als Außenseiter und als „sanfte[r] Exot-­Kanak[e]“ (ibid.: 171) wahr-
genommen. In seiner Korrespondenz bezieht er sich humorvoll auf die Stereotype,
die ihm zugewiesen werden, und eignet sich diese spielerisch an. Durch seine
ironische Selbstikonisierung inszeniert er sich ex negativo als das, was er nicht
ist. So bezeichnen sich Serdar und sein Freund Hakan gegenseitig als „Prinz aus
dem Morgenland“ (ibid.: 12), „Imam im Gnadenstand der Erkenntnis“ (ibid.: 36)
oder „leuchtender Stern des Orient-­Festlands“ (ibid.: 47), wobei diese komischen
Periphrasen die magische Welt des Orients evozieren sollen.
Am Transitort werden die verschiedenen Positionierungen der Eltern- und
Kindergeneration im Raum sichtbar. Die Eltern befinden sich in einem schmerz-
haften Dazwischen (cf. Adelson 2006), wobei Herkunfts- und Gastland sich
unverrückbar gegenüberstehen. Bei der Kindergeneration kommt ein neues Zu-
gehörigkeitsgefühl zum Ausdruck, das feste, territoriale Vorstellungen von Kultur
überwindet. Obwohl bei der Aushandlung von Identität die Familiengeschichte
und die Heimat der Eltern durchaus eine Rolle spielen, ist Identität nicht ver-
bindlich an die kulturelle Herkunft gebunden. Serdar hat in Kiel seinen festen
Wohnsitz und seine Heimat. Gleichzeitig stellt er durch seine ironische Selbst-
inszenierung als Kanake und Orientale die Homogenität der deutschen Kultur
und des nationalstaatlichen Territoriums in Frage. Eine ähnliche Kulturkritik kam
bereits in Zaimoğlus erster Publikation Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der
Gesellschaft (1995) zum Tragen, in der „‚Gastarbeiterkinder‘ der zweiten und vor
allem der dritten Generation“ (Zaimoğlu 2000: 9), welche in Deutschland leben
und geboren wurden, das Wort ergreifen. Die sogenannten Kanaken betonen auch
die Unterschiede, die sie von ihren Eltern trennen. So kritisiert der Dichter Memet
die Haltung seines Vaters, der schon immer seinen Aufenthalt in Deutschland als
temporär angesehen hat und „von nichts anderem als von diesem verdammten
haus geredet [hat], und von der endgültigen rückkehr [sic]“ (Zaimoğlu 2000: 111).
Trotz ihrer Identifikation mit Deutschland werden aber Zaimoğlus Figuren in
ihrer eigentlichen Heimat als Außenseiter wahrgenommen. Als Antwort auf die
soziale Diskriminierung nehmen die Kanaken die von außen projizierten Stereo-
type auf und inszenieren sich dementsprechend, um ihr Selbstbewusstsein aus-
zudrücken: „Solange dieses land uns den wirklichen eintritt verwehrt, werden
wir die anomalien und perversionen dieses landes wie ein schwamm aufsaugen
Transiträume in den Romanen E. S. Özdamars und F. Zaimoğlus 43

und den dreck ausspucken [sic]“ (ibid.: 113). Indem sie ihre Differenz provokativ
vorführen, fordern die Figuren ihren Platz in der deutschen Gesellschaft ein.
Anhand der Figur des Serdar sowie der sogenannten Kanaken wird in Zai-
moğlus Werken das Konzept von Heimat neu definiert: Sie wird nicht als eine
„ethnische und sprachlich homogene, territorial geschlossene Einheit“ (Kimmich
2009: 294) verstanden, sondern wird von der Muttersprache, vom Geburts- und
Herkunftsort losgelöst. Dadurch wird sie von der nationalistischen und traditi-
onsorientierten Ideologie befreit, mit der sie im frühen 20. Jahrhundert verfälscht
wurde (cf. Hüppauf 2007: 109). Heimat trägt die Spur des Anderen in sich und
wird durch transnationale Bewegungen konfiguriert, die auf entfernte Orte und
fremde Sprachen verweisen. Heimat ist ein Ort der Übergänge.

5 Kultur und Raum revisited


Während die Erfahrung des Transitorischen bei Özdamar Heimatlosigkeit mit
sich bringt, dient sie in Zaimoğlus Liebesmale, scharlachrot dazu, Beheimatung
auszudrücken. Bei Özdamar ist Identität ortslos, bei Zaimoğlu ist sie durch einen
festen Wohnsitz geprägt. Dennoch offenbart sich bei beiden Autoren ein Raum-
verständnis, in dem Grenzen nicht einfach aufgelöst werden, sondern vielmehr
durch Bewegung neu verhandelt werden. Istanbul und Berlin, die Türkei und
Deutschland bleiben zwar unterschiedlich, können aber weder bei Özdamar noch
bei Zaimoğlu durch klare Gegensätze definiert werden. Traditionelle Kartierun-
gen der Welt, die symbolische, subjektive, sogar unsichtbare Verbindungslinien
verkennen und nur nationalstaatliche Trennungslinien betonen, werden in Frage
gestellt. Diese Ambivalenz des Raums, die die Differenz zwischen dem Hier und
dem Dort, zwischen dem Vertrauten und dem Fremden sprengt, wird in den
Identitätskonstruktionen der Romane sichtbar: Serdar ist ein Deutschländer, der
sich zum Kanaken stilisiert und Hybridität provokativ vorführt. Die anonyme
Ich-­Erzählerin in Özdamars Romanen Das Leben ist eine Karawanserei und Die
Brücke vom Goldenen Horn spricht eine hybride Sprache, die das Deutsche von
innen heraus transformiert und verfremdet. Räume des Transits wurden lange
Zeit in der Literatur als unbedeutende, leere Strukturen betrachtet. Özdamars
und Zaimoğlus Texte zeigen jedoch, dass gerade in diesen Räumen Identität und
Sprache ausgehandelt werden. Sie offenbaren schließlich auch die transkulturelle
Wende der heutigen Gesellschaften, die das Verhältnis von Identität und Kultur
tiefgreifend verändert hat. Diesem Wandel muss auch die Literaturwissenschaft
Rechnung tragen, indem sie ihre Beschreibungsmodelle entsprechend modifiziert
und die Kategorie des Raums ins Zentrum der Analyse rückt.
44 Núria Codina

Literatur
Primärliteratur
Özdamar, Emine Sevgi 2004: Seltsame Sterne starren zur Erde. Köln: Kiepenheu-
er & Witsch
Özdamar, Emine Sevgi 72008a: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus
einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Özdamar, Emine Sevgi 32008b: Die Brücke vom Goldenen Horn. Köln: Kiepen-
heuer & Witsch
Zaimoğlu, Feridun 52000: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft.
Hamburg: Rotbuch
Zaimoğlu, Feridun 22004: Liebesmale, scharlachrot. Köln: Kiepenheuer & Witsch

Sekundärliteratur
Adelson, Leslie A. 2006: „Against Between. Ein Manifest gegen das Dazwischen“,
in: Arnold (ed.) 2006: 26–46
Arnold, Heinz Ludwig (ed.) 2006: Literatur und Migration, München: Edition
Text + Kritik
Augé, Marc 32012: Nicht-­Orte, München: Beck
Bay, Hansjörg 1999: „Der verrückte Blick. Schreibweisen der Migration in Öz-
damars Karawanserei-­Roman“, in: Sprache und Literatur 83.1 (1999): 29–46
Bhabha, Homi K. 32009: The Location of Culture. New York: Routledge
Borges, Jorge Luis 2011: Das Aleph, Frankfurt a. M.: Fischer
Döring, Jörg & Tristan Thielmann (eds.) 2008: Spatial Turn. Das Raumparadigma
in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript
Dünne, Jörg & Stephan Günzel (eds.) 2006: Raumtheorie. Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Ette, Ottmar 2005: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz,
Berlin: Kadmos
Ezli, Özkan 2006: „Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen Poetik.
Migration in der deutsch-­türkischen Literatur“, in: Arnold (ed.) 2006: 61–73
Ezli, Özkan  & Dorothee Kimmich  & Annette Werberger, (eds.) 2009: Wider
den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld:
transcript
Foucault, Michel 2006: „Von anderen Räumen“, in: Dünne  & Günzel (eds.)
2006: 317–239
Transiträume in den Romanen E. S. Özdamars und F. Zaimoğlus 45

Gebhard, Gunther & Oliver Geisler & Steffen Schröter(eds.) 2007: Heimat. Kon-


turen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld: transcript
Hallet, Wolfgang & Birgit Neumann 2009: „Raum und Bewegung in der Literatur:
Zur Einführung“, in: Hallet & Neumann (eds.) 2009: 11–32
Hallet, Wolfgang & Birgit Neumann (eds.) 2009: Raum und Bewegung in der Li-
teratur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript
Holert, Tom & Mark Terkessidis 2006: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von
Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer & Witsch
Hüppauf, Bernd 2007: „Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein
Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung“, in: Gebhard & Geisler &
Schröter (eds.) 2007: 109–140
Lefebvre, Henri 1974: La production de l’espace, Paris: Anthropos
Lotman, Jurij M. 1972: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink
Kimmich, Dorothee 2009: „Öde Landschaften und die Nomaden in der eigenen
Sprache. Bemerkungen zu Franz Kafka, Feridun Zaimoğlu und der Welt-
literatur als ‚littérature mineure‘“, in: Ezli  & Kimmich  & Werberger (eds.)
2009: 297–315
Schroer, Markus 2008: „Bringing space back in. Zur Relevanz des Raums als sozio-
logische Kategorie“, in: Döring & Thielmann (eds.) 2008: 125–148
Soja, Edward W. 2005: „USA, 1990: Die Trialektik der Räumlichkeit“, in: Stock-
hammer (ed.) 2005: 93–126
Soja, Edward W. 2008: „Vom Zeitgeist zum Raumgeist. New Twists on the Spatial
Turn“, in: Döring & Thielmann (eds.) 2008: 241–262
Stockhammer, Robert (ed.) 2005: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Re-
präsentation und Konstruktion von Räumen, Paderborn: Fink
Nergis Pamukoğlu-­Daş (Izmir)

Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und


topos: Orte, Nicht-­Orte und Räume in Selim
Özdoğans Romanen
Die Tochter des Schmieds und Heimstraße 52

Abstract: The aim of this article is to analyse Selim Özdoğan’s novel Die Tochter des
Schmieds and its sequel Heimstraße 52 in terms of transit-­spaces, places, and nonplaces in
the process of modernisation. While Die Tochter des Schmieds discribes the Turkish mod-
ernisation process between 1940–1960, Heimstraße 52 depicts the period between 1960
and 1980 in Germany. The modernisation processes of both countries are the backdrop
against which the story of the protagonist, Gül, unfolds and which form the basis of her
experiences of the world. Marc Augé and Michel de Certeaus’ theories form the point of
departure of the analysis.

1 Moderne – Übermoderne; Orte – Nicht-­Orte;


Einsamkeit-­Entfremdung
Der 1971 in Köln geborene und aufgewachsene Autor Selim Özdoğan behandelt
in seinem Roman Die Tochter des Schmieds (2005)1, der 2007 im Türkischen er-
schienen ist (Demircinin Kızı)2, die Geschichte einer türkischen Familie in den
1940er, 50er und 60er Jahren in Anatolien aus der Perspektive der Hauptfigur Gül,
und zwar von deren Geburt bis zu ihrer Reise nach Deutschland: sie sitzt im Zug
und fährt zu ihrem Mann Fuat, ihre beiden Töchter lässt sie bei ihrer Schwieger-
mutter und deren Familie. Der Folgeroman Heimstraße 52 (2011),3 beginnt mit
der Ankunft der weiblichen Hauptfigur auf dem Bahnhof in Deutschland und
stellt Güls Lebensgeschichte in Deutschland, ihre Erfahrungen und Erlebnisse
als Frau und Mutter in der Fremde dar sowie ihre Rückkehr in die Heimat und
schließlich ihre Rückreise nach Deutschland, wo ihr Mann Fuat weiterhin lebt.
So endet der Roman, wie er beginnt: mit der Ankunft in Deutschland, d. h. in der

1 Im Weiteren werden Zitate aus diesem Buch direkt im Text mit dem Sigel TS und
Seitenzahl angegeben.
2 Selim Özdoğan: Demircinin Kızı, übersetzt v. İlhan Pınar. Istanbul: İstiklal Yay.
3 Im Weiteren werden Zitate aus diesem Buch direkt im Text mit dem Sigel H und
Seitenzahl angegeben.
48 Nergis Pamukoğlu-­Daş

Heimstraße 52. Innerhalb der Werke von Selim Özdoğan nehmen diese zwei Ro-
mane eine besondere Stellung ein, insofern sich der Autor darin mit dem Thema
der Migration auseinandersetzt. Seine sonstigen als Popliteratur4 bezeichneten
Werke dagegen handeln von Themen wie Jugend, Sexualität, Liebe, oder aber
auch von Erfahrungen mit Yoga und der Buddhismus-­Lehre wie z. B. im Buch
Kopfstand im „Karma-­Taxi“ (Özdoğan 2012).
Bei dem historischen Ereignis der Migration aus der Türkei nach Deutsch-
land handelt es sich nicht nur um eine Reise, eine Bewegung zwischen Kulturen
und Sprachen, sondern auch um eine zwischen unterschiedlichen Modellen des
Modernisierungsprozesses, die möglicherweise auch als Stadien der Moderne zu
bezeichnen wären: zwischen der Modernisierung, dem Verwestlichungsprozess
in der Türkei in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Türkischen Re-
publik im Jahre 1923 und der Modernisierung in den 60er und 70er Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland. Hier sollen die genannten Romane hinsichtlich der
Modernisierung als ein Prozess untersucht und dabei soll nachgezeichnet werden,
wie sich dieser Prozess als Erfahrung aus der Sicht des Einzelnen zeigt.
Die Erfahrung der Moderne auf der individuellen Ebene kristallisiert sich in den
Begriffen der Entfremdung und Einsamkeit und sie zeigt sich bzw. drückt sich aus
in den Orten, Nicht-­Orten, Räumen und Transiträumen der Moderne und „Über-
moderne“ – so Marc Augés Begriff dessen, was als Postmoderne bezeichnet wird.
Ausgehend von Marc Augés „Ethnologie der Einsamkeit“(cf. Augé 1994) als
Erfahrung des 21. Jahrhunderts in Nicht-­Orten der Übermoderne sollen im Fol-
genden die in Özdoğans Romanen beschriebenen Prozesse der Modernisierung
und deren individuelle Erfahrung in Orten bzw. Nicht-­Orten untersucht werden.
Marc Augé stellt in seinen „Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsam-
keit“ im Kontext der Ethnologie des Hier und Jetzt, des sozusagen europäischen
Blickes auf sich selbst, dem „anthropologischen“ Ort der Moderne des 20. Jahr-
hunderts den „Nicht-­Ort“ der Übermoderne, des 21. Jahrhunderts gegenüber.
Denn den „Archetypus“ der Erfahrung der Einsamkeit in den Nicht-­Orten sieht
er in der Erfahrung der städtischen Subjektposition in den Orten der Moderne
des 20. Jahrhunderts (cf. Augé 1994: 109), indem er auf Michel de Certeaus Werk
Kunst des Handelns zurückgreift, das hier auch herangezogen werden soll. Dabei
kommt im Kontext der Moderne besonders den Begriffen von Sprache, Schrift
und Lektüre eine wichtige Bedeutung zu, die vor allem im Rahmen von Michel
de Certeaus Studie gesehen werden sollen.

4 Cf. Karakuş 2007: 141; cf. auch Hofmann 2007: 157 sowie Sarıçoban 2012 und Yağcı
2014.
Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos 49

Augé unterscheidet zwischen dem anthropologischen Ort und dem Nicht-­Ort,


insofern er die Übermoderne anhand von drei Elementen und deren Fülle oder
richtiger gesagt, Überfülle beschreibt. Dabei spricht er von der „Figur des Über-
maßes“, die er in Verbindung mit drei Wandlungsprozessen der Gegenwart nennt,
welche die „Situation der Übermoderne“ kennzeichnen: Das Übermaß der Ge-
schichte, der „‚Beschleunigung‘ der Geschichte“, die „sich tatsächlich in der ver-
mehrten Zahl von Ereignissen“ bekundet (Augé 1994:37), des Raumes (ibid.: 40 f.)
und der „Figur des Ich, des Individuums“ (ibid.: 46). „Das Übermaß“ des Raumes
beschreibt Augé mit dem „Zeitalter eines Wechsels der Größenordnungen“, die er
in der „Schnelligkeit“ der „Verkehrsmittel“ sieht, den Bildern „(i)n der Intimität
unserer Wohnungen“, dem „augenblicklichen und oft zeitgleichen Blick auf Er-
eignisse, die gerade am anderen Ende der Welt stattfinden“, in der „Mattscheibe“
des Fernsehers, die eine „Scheinvertrautheit“ produziert (ibid.: 40 f.).
Nachdem Augé durch die „Figur des Übermaßes“ die Gegenwart, das 21. Jh.
beschreibt, stellt er den Ort der Moderne vor, den er sozusagen aus dem an-
thropologischen Ort entwickelt. Zunächst der anthropologische Ort, der zu
untersuchende Ort aus der traditionellen ethnologischen Perspektive: er wird
als „identisch, relational und historisch“ verstanden (Augé 1994: 64).5 Die Un-
terscheidung von Ort und Nicht-­Ort im dritten Teil der Studie erfolgt schließlich
durch eine Gegenüberstellung, in der der Terminus Transitraum auftaucht:
So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert
ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch
bezeichnen läßt, einen Nicht-­Ort. Unsere Hypothese lautet nun, daß die „Übermoder-
ne“ Nicht-­Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind
und […] die alten Orte nicht integrieren; registriert, klassifiziert und zu „Orten der Er-
innerung“ erhoben, nehmen die alten Orte darin einen speziellen, festumschriebenen
Platz ein. Eine Welt, die Geburt und Tod ins Krankenhaus verbannt, eine Welt, in der
die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen unter luxuriösen oder
widerwärtigen Bedingungen unablässig wächst […], eine Welt, in der sich ein enges
Netz von Verkehrsmitteln entwickelt, die gleichfalls bewegliche Behausungen sind, wo
der mit weiten Strecken, automatischen Verteilern und Kreditkarten Vertraute an die
Gesten des stummen Verkehrs anknüpft, eine Welt, die solcherart der einsamen Indivi-
dualität, der Durchreise, dem Provisorischen und Ephemeren überantwortet ist, bietet
dem Anthropologen ein neues Objekt, dessen bislang unbekannte Dimensionen zu er-
messen wären, bevor man sich fragt, mit welchem Blick es sich erfassen und beurteilen
läßt (Augé 1994: 93).

5 Es sei angemerkt, dass Augé über den anthropologischen Ort in Pluralform spricht:
„Sie verstehen sich (sie werden verstanden) als identisch, relational und historisch.“
(Augé 1994: 64)
50 Nergis Pamukoğlu-­Daş

Die Identität der Nicht-­Orte, so z. B. der Duty-­free-­Raum (cf. Augé 1994: 119), die
Flughäfen, Bahnhöfe, der Supermarkt, die Einkaufszentren, Hotels, Tankstellen,
Autobahnen (cf. ibid.: 125) ist eine „geteilte Identität“, geteilt mit allen, die sich im
Transit befinden, und zwar in der Anonymität (cf. ibid.: 120), eine „provisorische
Identität“ (ibid.: 118), weil vorübergehend. Gleichzeitig aber befreie der Nicht-­Ort
dadurch den Einzelnen von seiner Identität: „Der Raum des Nicht-­Ortes befreit
den, der ihn betritt, von seinen gewohnten Bestimmungen. Er ist nur noch, was
er als Passagier, Kunde oder Autofahrer tut und lebt“ (ibid.: 120).
Ein weiteres Merkmal des Nicht-­Ortes der Übermoderne ist, dass er auch nicht
von der Geschichte und der Relation besetzt ist, sondern eher geprägt durch
„Nachrichten […], Worte und Bilder aus dem unerschöpflichen Vorrat einer
unversiegbaren Geschichte der Gegenwart“ (ibid.: 123). Der Passagier, Kunde,
Sonntagsfahrer (cf. ibid.: 118) oder Reisende der Nicht-­Orte stößt auf sein Selbst-
bild an der „Grenzkontrolle, der Zahlstelle oder der Kasse des Supermarkts. […]
Der Raum des Nicht-­Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere
Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit“ (ibid.: 121). In der millionen-
fachen Einsamkeit wiederholt sich die Begegnung mit sich selbst als verzerrtes
und fremdartiges Selbstbild. Und damit ist auch der zentrale Begriff gefallen:
„Die Übermoderne drängt sich in der Tat dem individuellen Bewußtsein der
gänzlich neuen Erlebnisse und Erfahrungen von Einsamkeit auf, die in einem
unmittelbaren Zusammenhang stehen mit dem Auftreten der Vermehrung von
Nicht-­Orten“ (Augé 1994: 109 f.).
Es ist genau diese Erfahrung von Einsamkeit und im Zusammenhang damit
die der Entfremdung (cf. ibid.: 100), welche den Knotenpunkt bildet zu Augés Be-
trachtung, dass der „Raum des Reisenden“ des 20. Jh. den „Archetypus des Nicht-­
Ortes“ (ibid.: 103, [Hervorh. im Original]) bildet. Diese Einsamkeit sieht Augé
„bei den einsamen ‚Reisenden‘ des letzten Jahrhunderts“ (ibid.: 103) als „prophe-
tische Beschwörung des Raumes […], in der weder Identität noch Relation, noch
Geschichte wirklich Sinn haben, in der die Einsamkeit als Überschreitung oder
Entleerung der Individualität empfunden wird […]“ (ibid.). Diese Vorhersage der
Erfahrung der Einsamkeit erblickt Augé in einer „Pose“ des Reisenden, nämlich
„die Erfahrung dessen, der angesichts einer Landschaft, die einfach betrachtet
werden muß und die zu betrachten er gar nicht umhin kann, ‚die Pose einnimmt‘
und aus diesem Bewußtsein dieser Pose einen eigentümlichen und zuweilen me-
lancholischen Genuß zieht.“ (ibid.) Es handelt sich um die „Pose“, welche Bau-
delaire einnimmt: die „ganz eigentümliche und sehr moderne Erfahrung von
Einsamkeit“ (ibid.: 109). So spricht Augé von Baudelaire und nennt Benjamin;
und zwar stützt er sich in seiner Überlegung, dass in „der Moderne von gestern“
Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos 51

(ibid.: 110) die Übermoderne vorweggenommen sei, auf Benjamins Erkenntnis,


dass die Architektur des 19. Jh. aus Glas und Stahl die Architektur des nach-
folgenden Jahrhunderts als Traum „oder antizipierte Realität“ vorwegnahm (cf.
ibid.: 110). Was sich nach Augé im „Raum des Reisenden“ des 20. Jahrhunderts
als Voraussage einer Erfahrung des 21. Jahrhunderts ankündigt, das ist wiederum
vorweggenommen in Baudelaires Moderne des 19. Jahrhundert: die Erfahrung
von Einsamkeit und Entfremdung, die als solche in ihrem Hang zur Melancholie
erst mit Benjamins Blick auf Baudelaire lesbar werden (cf. Pamukoğlu-­Daş 2009).
In diesem Sinne ließen sich die Orte der Moderne als „Archetypus der Nicht-­
Orte“ der Übermoderne lesen. Mit der Lesetätigkeit ist hier eine weitere Ebene
bezeichnet, welche die Moderne und die Erfahrung der Moderne prägt. Sie ist
aber noch zu ergänzen durch einen wesentlichen Begriff: die Schrift.

2 Schrift, Lektüre, Moderne


Das Lesen wird in Michel de Certeaus Studie Kunst des Handelns zum einen als
eine Alltagspraktik betrachtet, eine alltägliche Tätigkeit von Konsumenten, auf
deren Untersuchung sich die Studie richtet: es geht um die Handlungsweisen
von Kulturkonsumenten im Alltag, wie z. B. Lesen, Kochen, Gehen (cf. Certeau
1988: 15). Zum anderen wird die Tätigkeit des Lesens bei Certeaus Definition von
Ort und Raum in Bezug zu diesen Begriffen gesetzt:
Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die
Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum ver-
wandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem
Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet (Certeau 1988: 218).

Wie die leere Straße der (Groß)Stadt, so ist ein ungelesener Text; erst die Lektüre
als Umgang macht aus dem Ort der Schrift einen Raum: einen Schrift-­Raum.
Doch auch die Betrachtung der Literatur selbst als Schrift-­Ort macht erst den
literaturwissenschaftlichen Terminus topos zum einen in seiner buchstäblichen
Bedeutung und zum anderen im übertragenen Sinne von Motiv und Thema deut-
lich: das Lokale, der Ort, die Stelle, wo „feste Denk- oder Ausdrucksschemata“
übertragen erscheinen (cf. Meyers Kleines Lexikon Literatur 1986: 413. Zugleich
bildet jedoch die Stadt als Stätte der Moderne einen Schrift-­Ort: die Stadt ist der
„Held der Moderne“ (Certeau 1988: 185).
Certeau führt denn auch in seiner Studie die europäische Moderne im Kontext
von Schrift und ihrer Bedeutung auf das 16./17. Jh. zurück und betrachtet die
Entstehung des modernen Subjektes in Verbindung zum Schrift-­Raum: es macht
sich selber zum „Erzeuger der Schrift“ (ibid.: 252). In diesem Sinne ist die Rede
52 Nergis Pamukoğlu-­Daş

von einem Roman, in dem das moderne Subjekt sich durch Schrift konstituiert:
Robinson Crusoe von Daniel Defoe:
Es handelt sich um einen Roman über die Schrift. Denn bei Defoe vollzieht sich die
Bekehrung Robinsons zur kapitalistischen Eroberungsarbeit der Beschreibung seiner
Insel durch die Entscheidung, ein Tagebuch zu schreiben, um dadurch einen Herrschafts-
raum über Zeit und Dinge zu sichern und mit der leeren Seite eine erste Insel zu schaffen,
auf der sein Wille sich vollziehen kann (Certeau 1988: 249).

So führt Michel de Certeau die Analogie zwischen der leeren Seite und der Insel
zu einer pointierten Formulierung weiter, die das Verhältnis von Schrift, Subjekt
und Moderne ausdrückt:
Jedes Kind wird vor seinem weißen Blatt bereits in die Position des Industriellen, des
Städtebauers oder des cartesianischen Philosophen versetzt – in die Position, den eigenen
und abgetrennten Raum organisieren zu müssen, in dem ein eigenes Wollen ins Werk
gesetzt werden soll (Certeau 1988: 246).

Der Leser von Romanen hat die Möglichkeit, in einem – so Certeau – „Zoo der
Alltagspraktiken“ (Certeau 1988: 157) zu wandern. Die Literatur bildet in diesem
Sinn einen Bereich, der Aufschlüsse gibt über die alltäglichen Handlungsweisen
und Praktiken. Hier wird vor allem der realistische Roman des 19. Jh. als Bei-
spiel genannt (cf. ibid.: 145). Mit diesen Hinweisen von Certeau zu Literatur und
Roman, Schrift, Lektüre und Moderne soll nun die Reise in die Romanwelt von
Selim Özdoğan angetreten werden.

3 Orte und Nicht-­Orte in den Romanen von Özdoğan


Zwischen Großstadt, Kleinstadt und Dorf in Anatolien bewegt sich der Hand-
lungsraum in Özdoğans Roman Die Tochter des Schmieds und endet schließlich
mit der Reise nach Deutschland an einem Nicht-­Ort, dem Bahnhof in Istanbul.
Die Zeit umfasst die 1940er und 1950er bis zum Beginn der 1960er Jahre, die
ersten Jahrzehnte der Modernisierung nach der Gründung der Türkischen Re-
publik im Jahre 1923. Der Text schildert aus der Perspektive der Hauptfigur Gül,
der ältesten Tochter des Schmieds Timur, über drei Generationen die Geschichte
von dessen Familie. Mit Güls Blick beobachtet der/die LeserIn das Heranwachsen
eines kleinen Mädchens, dessen Mutter erkrankt und stirbt, als es noch klein ist.
Gegenüber ihren zwei Schwestern und später noch ihren zwei Stiefgeschwistern
übernimmt Gül als Abla, als große Schwester, die mütterliche Verantwortung,
heiratet als junge Frau und folgt nach einigen Jahren ihrem Mann in die Fremde,
nach Deutschland. Doch auch die Großstadt Istanbul ist Gül fremd, die sie wie
New York nur aus Filmen kennt, und fremd ist auch der Bahnhof:
Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos 53

Gül war noch nie in einer großen Stadt, sie hat New York im Kino gesehen und auch
Istanbul, doch den Lärm, das Chaos, das Kreischen der Züge, die vielen Menschen, das
hat sie sich vorgestellt wie das Gewusel am Markttag, doch die Markttage in ihrer Heimat-
stadt sind ruhig, verglichen mit diesem Bahnhof in Istanbul (TS 314).

Für Güls Vater Timur aber, der in einer Kleinstadt aufgewachsen ist, jedoch auch
auf dem Dorf gelebt hat, hatte die Großstadt, diesmal Ankara, eine Anziehungs-
kraft als ferner Ort, wo die reichen Menschen leben: „[D]ort gibt es Sesamkringel
groß wie Kutschräder“ (TS 11). Zeitweise fährt Timur in die große Stadt, um sie zu
„genießen, Autos [zu] sehen, die Häuser der Reichen, die Geräusche und Gerüche,
die Menschenmassen“ (TS 20), um sich zu amüsieren und zu entspannen: „Ein
paar Stunden in einem Lokal den leicht bekleideten Sängerinnen zuhören und
dabei ein, zwei Gläser trinken, ein Stück Honigmelone essen, etwas Schafskäse,
und schon nach dem dritten Glas verschmolz er mit dem Klang“ (TS 21).
Ort des Verwestlichungsprozesses ist die Großstadt, aber auch in der Kleinstadt
zeigt der Prozess sich in den technischen Erneuerungen wie Radio und Kino, in
den städtischen freizeitlichen Alltagspraktiken wie Spazierengehen, Bummeln und
Einkaufen auf der Hauptstraße, Torte Essen Gehen in der Konditorei (cf. TS 159)
und in den auf das Konsumieren gerichteten Wünschen und Sehnsüchten der
Figuren: so wollen z. B. reiche Frauen auch in der Kleinstadt einen Pelz besitzen
genauso wie Marilyn Monroe und Elizabeth Taylor in den amerikanischen Spiel-
filmen (cf. ibid.). Obwohl Güls Familie finanzielle Probleme hat, möchte auch ihre
Stiefmutter Arzu einen Pelz, sie bittet Gül, ihrem Vater das zu sagen, weil sie weiß,
dass Timur die Bitten und Wünsche seiner geliebten Tochter erfüllt.
Ein anderes Beispiel ist das Kino, das auch den Kleinstädtern den Zugang zur
westlichen Kultur und Lebensweise eröffnet, die zu einem Modell, teilweise einem
Identifikationsmodell wird, nach dem sich die Lebensvorstellungen gestalten. So
beeinflussen das Kino und die Filme die drei Schwestern unterschiedlich. Gül
sieht z. B. in der Figur des Spartakus ihren Schulfreund Recep, dem gegenüber
sie Gefühle empfindet. Melike geht kreativ mit den Filmen um und schreibt ein
Filmtagebuch, in dem sie ihre Träume als Lebensziel und damit ihr Selbstbild be-
schreibt: sie möchte in einer großen Stadt wie Istanbul, Rom oder New York leben,
„Frisuren tragen wie die Frauen in den Filmen.“ Sibel, die jüngste Schwester, malt
„aus dem Gedächtnis Filmszenen“ (TS 183) und gibt sie Melike für ihr Buch. Auch
bei den ersten Geschichten, die Sibel malt, handelt es sich um veränderte Szenen
aus Fotoromanhandlungen oder Spielfilmen, die sie aber „für etwas Eigenes“
hält (TS 213).
Wie Schrift und Bild führt auch das Lesen als Alltagspraktik zu „fremden
Träumen“: Gül liest als junge Frau Fotoromane und hat eine stets größer werdende
54 Nergis Pamukoğlu-­Daş

Sehnsucht nach „andere(n) Welten“ (TS 212). Verheiratet mit Fuat lebt Gül mit
dessen Großfamilie zusammen. Sie zieht sich abends öfter in ihr Zimmer zurück
und liest „im Schein der Petroleumlampe Bücher. Bücher, die sie sich aus der
Bücherei geliehen hat oder Bücher, die es billig zu kaufen gibt. Sie liest alles, was
sie in die Finger kriegen kann“ (TS 227). Das Lesen und das Schreiben bzw. Malen
kann mit Michel de Certeau in Verbindung zur Moderne betrachtet werden: dem
Begriffspaar Produktion-­Konsum entspricht das von Schrift-­Lektüre:
Der Leser ist ein Produzent von Gärten, in denen eine Welt zusammengetragen und
verkleinert wird; er ist der Robinson einer zu entdeckenden Insel; aber er ist auch auf
sein eigenes Karnevalstreben abgefahren, das das Vielgestaltige und die Differenz in das
Schriftsystem einer Gesellschaft und eines Textes einführt. […]. Er […] schwankt an
einem Nicht-­Ort zwischen dem, was er erfindet, und dem, was ihn verändert (Certeau
1988: 306).

So konsumiert und reist Gül als Lesende. Melike und Sibel dagegen sind vor dem
weißen Blatt als Kinder „bereits in die Position des Industriellen, des Städtebauers
oder des cartesianischen Philosophen versetzt – in die Position, den eigenen und
abgetrennten Raum organisieren zu müssen, in dem ein eigenes Wollen ins Werk
gesetzt werden soll“ (Certeau 1988: 246).
Eine weitere als Alltagspraktik zu bezeichnende freizeitliche Beschäftigung der
Moderne ist das Radio Hören. Wo es noch kein Kino gibt, ist es das Radio, das
auf den Alltag in der anatolischen Kleinstadt wirkt. Timur, der Neuem gegenüber
neugierig und offen ist, ist der erste, der ein Radio besitzt, so wie er der erste ist,
der ein Bettgestell hat, das er selbst geschmiedet hat und das neu Vermählten wei-
tergegeben wird. Das Radio lässt die Nachbarn sich beim Schmied versammeln,
um den Stimmen aus diesem Gerät zu lauschen. Schließlich kauft der Schmied
einen Lautsprecher, schließt ihn an das Radio an und stellt ihn auf das Dach des
Sommerhauses. Die Nachbarn sitzen vor der Haustür auf den Stufen, Bänken,
knabbern Sonnenblumenkerne und hören Nachrichten, Musik und Hörspiele.
Als ihr Vater Gül erklärt, wie das Radio funktioniert,
[…] versteht sie, daß keine kleinen Menschen da drin sitzen und eine Art Theater spielen.
Sie versteht es, aber sie kann es nicht begreifen, warum die Sendungen weitergehen, wenn
man das Gerät ausschaltet. Warum man am nächsten Tag nicht an der Stelle weiterhören
kann, wo man gestern aufgehört hat. Wohin verschwinden die Stimmen, wenn sie nicht
aus diesem Kasten herauskönnen? (TS 91)

Diese Wirkungen der Modernisierung auf das Alltagsleben und damit die Erfah-
rungs- und Erlebniswelt des Einzelnen, prägen dessen Blick auf das eigene Leben.
Im Vergleich mit den dargestellten fremden Lebensmodellen wird die Selbstwahr-
nehmung von der Erfahrung der Einsamkeit und Entfremdung geleitet.
Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos 55

Gül fühlt sich einsam und vergleicht ihr Leben mit dem in dem Film, den sie im
Kino sah. Ihr Leben kommt ihr leer vor. „Ein Leben, in dem nichts geschieht, ein
Leben in einem Zimmer in der Kälte und der Einsamkeit des Winters, ein Leben,
in dem die Schreie der Kinder wie Blütenblätter wirken“ (TS 310). Dieser Blick
auf das Selbst und die damit einhergehende Distanz ließe sich als eine Pose, eine
Haltung betrachten, welche die Erfahrung der Einsamkeit und der Entfremdung
beschreibt. So wird auch von der Melancholie in Verbindung mit den Liedern
aus dem Radio, dem „anatolischen Blues“ und dem von Augé hervorgehobenem
„melancholischen Genuß“ des „einsamen Reisenden“ (Augé 1994: 103) des 20.
Jh. gesprochen: „Timur mag diese Musik, und Gül gefällt sie auch. Ohne die Texte
zu verstehen, begreift sie, daß diese Melancholie, der anatolische Blues, etwas mit
dem Tod zu tun hat. Mit dem Leid, der Vergeblichkeit und damit, daß man sich
trotzdem mühen muß, daß man lieben kann, beschützen und wachsen.“ (TS 92)
Tod, Vergänglichkeit, Einsamkeit und Entfremdung – Begriffe aus dem Bedeu-
tungskontext der Melancholie. Mit den Gedanken der Hauptfigur an ihren Tod
im dritten Teil des Romans, der nur eineinhalb Seiten einnimmt, endet der Text.
Güls Geschichte endet aber mit ihrer Reise nach Deutschland. Ihre Erfahrung
von Fremde und Entfremdung wird im Folgeroman auf das Migrationsland aus-
geweitet.
Der Titel Heimstraße 52 verweist auf die in der Fremde, im Migrationsland er-
schaffene kleine Welt, das Heim, ein Zuhause in/auf der Straße Er ist aber auch zu
verstehen in Analogie zum Wohn-­Heim, z. B. dem Studentenwohnheim – Räume,
in denen vorübergehend „geteilte Identitäten“ besetzt werden. So erinnert der
Titel auch an Fremde und Einsamkeit. An einem Nicht-­Ort, dem Bahnhof in
Bremen beginnt der Roman. Ihr Mann Fuat holt Gül ab, er wohnt in einer kleinen
Einzimmerwohnung, erst später werden sie in die Heimstraße umziehen. Gül
wird gleich zu Beginn ihres Deutschlandaufenthalts in der kleinen Wohnung
mit der Erfahrung der Entfremdung, mit ihrem verzerrten Spiegel-­Bild als einem
Nicht-­Ort konfrontiert, wo Identität, Relation und Geschichte ausfallen, und zwar
im wahrsten Sinne des Wortes: „Gül steht auf und sieht sich an. Sie sieht immer
noch genauso aus wie in der Türkei, aber sie fühlt sich nicht so. Ihr Gefühl geht
über das Bild im Spiegel hinaus. Vielleicht kommt sie sich deshalb so fremd vor“
(H 7 f.).
Draußen, außerhalb der Wohnung, liegt nach Güls Wahrnehmung Deutsch-
land, die Fremde. (cf. H 9) Von der Straße aus, d. h. von dem fremden Land aus
betrachtet, scheint Gül die Wohnung ein kleiner, vertrauter, heimatlicher Ort zu
sein. Etwas überspitzt ausgedrückt wäre dann Drinnen die Türkei, die Türkei in
Deutschland.
56 Nergis Pamukoğlu-­Daş

Die Wege, Straßen und deren fremde Ordnung führen zu Desorientierung


und machen Gül zunächst Angst, sich zu verlaufen. Sich den Weg zur Fabrik zu
merken, wird dadurch schwierig, dass sie sich nach ihrer Erfahrung und ihrem
Wissen aus der Heimat Merkzeichen setzt. So kann sie den Bretterzaun am nächs-
ten Tag nicht finden, sie ist desorientiert: es war eine Baustelle, die umzäunt war
und wo am Tag darauf das neue Gebäude zu sehen war, das Gül nicht wahrnahm,
denn Baustellen in der Türkei sind offen. Oder aber: „Die Kreuzungen waren
hier sowieso viel größer, aber so eine große hatte sie bisher noch nicht ge­sehen
[…]“ (H 22). Gül muss sich Haltestellen, Umsteigestellen, Nummern, Buchstaben,
Läden merken, um den Weg erinnern zu können, so das A von der Schrift ‚Apo-
theke‘, die Straße „mit dem langen Namen, der aus zwei Wörtern zusammengesetzt
ist, zuerst eins, das mit F anfängt, und dann eins mit M […]“ (H 23). Die Lage der
Städte und Dörfer ist völlig anders, deren Räumlichkeitsverhältnisse Gül im Zu-
sammenhang mit den menschlichen Beziehungen betrachtet und wozu sie meint:
„Das war ein komisches Land, alle zwei Schritte gab es eine Stadt, eine Kreisstadt
oder ein Dorf, die Menschen schienen nicht viel Raum zu brauchen, aber dass sie
enger beieinander lebten, führte nicht dazu, dass sie sich näherstanden“ (H 47).
Die Heimstraße jedoch, wo sie später „wohnen, ist nicht asphaltiert, es gibt kei-
nen Gehweg oder gar Gehwegplatten, wenn es regnet, sammelt sich das Wasser in
braunen Pfützen, und selbst die Deutschen ziehen dann ihre matschigen Schuhe
noch vor der Haustür aus“ (H 46), sie erinnert an die türkischen Verhältnisse.
Die Nicht-­Orte wie Flug und Flughafen, Bus und Busfahrt von Istanbul in die
Heimatstadt, wo nach Augé Identität, Relation und Geschichte aufgehoben sind,
befinden sich auf der Reise zwischen Deutschland und der Türkei. Sie sind geprägt
durch das Warten in Warteräumen und durch Durchgänge, so die Grenzen und
Passkontrollen, die zu einem Teil des Lebens gehören. Da sie aber geteilt werden
mit ‚Leidensgenossen‘, heißt es für Gül, nicht alleine zu sein, „sich nicht alleine
fühlen“ (H 60). Dies wäre aber in Anlehnung an Augés Überlegung auch als
„geteilte Identität“ in der Anonymität zu verstehen. Die Nicht-­Orte der Stadt und
die Unruhe nimmt Gül wahr: „All die Menschen auf den Straßen, die Bahnen,
die Busse, Bremens Gewusel irritiert und beunruhigt Gül, sie fragt sich, ob es ihr
jemals möglich sein wird, in so einer Stadt entspannt durch die Straßen zu gehen“
(H 166 [Hervorh. N.P.]). Weitere Nicht-­Orte werden betreten für bestimmte All-
tagspraktiken, so für den Samstagseinkauf (cf. H 135 f.): der Supermarkt, der
türkische Metzger und Gemüsehändler, dann die Kassen und das Warten, die
knappe Zeit (cf. H 136). Im Kaufhaus, wo Gül Spielzeuge kaufen möchte, ist sie
aufgrund der Verschiedenheit und der Verpackung von Spielsachen irritiert, sie
weiß nicht, was für Spielsachen es sind. Sie erinnert aus ihrer Heimat aus den 40er,
Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos 57

50er Jahren nur den Plastikball – versteckt in der Truhe ihrer Stiefmutter Arzu –,
dann Lehm zum Spielen, schließlich spielten sie noch Himmel und Hölle sowie
Seilspringen (cf. H 71 f.).
„Samstags scheint die Sonne in dieses Haus“ – heißt es – „und nicht nur hier,
samstags scheint die Sonne in der ganzen Heimstraße, das ganze Jahr lang. In
den Jahreszeiten, die sie alle Winter nennen. Die Sommer währen nur kurz, sie
sind die Zeit zwischen zwei Autofahrten, die endlos scheinen“ (H 138). Samstags
wird das türkische Programm Brief aus der Türkei gesendet, alle schauen sich
das an, und es ist die Zeit, wo man zusammen ist: „In diesen zwanzig Minuten
samstagnachmittags sind alle vereint, sie gehören zusammen, das ist die Zeit der
Eintracht“ (ibid.).
Die technischen Erneuerungen, vor allem zunächst der Fernseher, dann der
Videorecorder, das Telefon mit Wählscheibe und später mit Tasten sowie Autos
prägen den Alltag und bilden weitere Nicht-­Orte, da sie – so Augé – zum Über-
maß der Räumlichkeit führen, das Fernsehen im Wohnzimmer, die „Mattscheibe“,
welche „Scheinvertrautheit“ produziert „zwischen dem Fernsehzuschauer und
den Akteuren der Weltgeschichte“ (Augé 1994: 42). Hier nun ist es der Klang der
Worte, die Sprache und damit das Heimische, welches Frieden und Stille auslöst
(cf. H 137 f.) wie bei den „Mahlzeiten“ (H 138) zu Hause zusammen mit Mutter
und Vater, erinnert Gül. Der Videorecorder bringt die türkischen Spielfilme und
türkische Kultur ins Haus, am Wochenende schaut man sich gleich fünf oder
sechs Filme an:
All diese Filme erzählen Ceyda und Ceren genauso viel über das Land ihrer Eltern, wie
die amerikanischen Filme damals Gül und Fuat über die Vereinigten Staaten erzählt
hatten. Filme, die nicht nur eine andere Welt sind, sondern aussehen wie etwas, was man
tatsächlich betreten könnte. Ein Ort, an dem das eigene Herz Frieden finden wird, trotz
aller Widrigkeiten (H 178).

„Damals“, das war in den 1950er Jahren in Anatolien in einer Kleinstadt, be-
handelt in Die Tochter des Schmieds, wo das Kino fremde Welten präsentierte und
auf die Vorstellungen der Menschen wirkte.
Statt Briefe sind es nun die Telefongespräche, die die Sehnsucht zeitweise stil-
len, aber zugleich nähren (cf. H 146). An die Stelle der Schrift tritt die Stimme, die
gesprochene Sprache, die man aber nicht wie Briefe mit sich tragen kann, so Güls
Auffassung. Fuat, Güls Mann, ist vom Fortschritt und der Technologie begeistert
und spricht von der „Fülle, das beschert die Technologie dem Menschen, Fülle
und Komfort.“ (H 180) Bei dieser Fülle handelt es sich aber um die Überfülle, das
Übermaß der Moderne und Übermoderne, die Nicht-­Orte und Entfremdung.
58 Nergis Pamukoğlu-­Daş

Dagegen sind nach Güls kritischer Stellungnahme die Menschen „gefangen“


(H 150) genommen im modernen Leben in Deutschland. Sie vergleicht es mit
dem „freien“ Wasser und dem in der Leitung. So wie das Wasser gefangen ist in
der Leitung, so sind es die Menschen in ihrem Leben „zwischen Arbeit, Geld,
Ausgaben, noch mehr Arbeit, noch mehr Ausgaben, die Fabrik, das Haus, der
Garten, das Auto, der Urlaub, die Kinder“ (H 150). Gül erinnert die Schmiede
ihres Vaters, die noch mit Leben erfüllt war, dagegen
sieht sie die Wände der Fabrik länger als die Gesichter ihrer Töchter. Doch damit ist sie
nicht allein, alle sehen die Wände der Fabriken und Büros und Geschäfte länger als sie
ihre Männer und Frauen und Kinder sehen, alle leben in einer Welt, in der sie gefangen
sind wie das Wasser in der Leitung. Wie soll man auch frei sein, wenn nicht mal das
Wasser es sein kann (H 151).

Auch wenn die „ganze Welt eine Fremde ist“ (H 163), „[m]anchmal fühlt es sich
in der Fremde so an, als würde man auf dem Dach stehen und alles überblicken
können, als wäre da Weite und Ruhe und Behaglichkeit. Für die Dauer einer
Zigarette fühlt man Frieden, Frieden auf dem Dach des Gefängnisses“ (H 163).
Zurück in der Türkei, was im dritten Teil des Romans behandelt wird, nimmt
Gül die Stadt so wahr, „[a]ls hätte sich die Heimstraße ausgedehnt, hätte Seiten-
straßen bekommen, die ebenfalls nicht asphaltiert sind, und die Seitenstraßen
hätten sich ihrerseits weiter verzweigt, als wären sie Triebe und junge Äste eines
Baumes. Auch hier kennt jeder jeden […]“, so die Nachbarn, der Onkel Kemal
usw. (H 222). Güls kleine vertraute heimatliche Welt in der Heimstraße ohne
Asphalt verbindet in der Vorstellung räumlich beide Länder und Leben in der
Fremde und in der Heimat. Auch hier ist der Alltag besetzt vom Nicht-­Ort durch
den Fernseher in der Wohnung, der ständig läuft, während gekocht, geputzt oder
sonst etwas gemacht wird. „Die Stimmen leisten“ Gül, die nun alleine ist, „Gesell-
schaft“ (H 272), die Töchter sind verheiratet und ihr Mann Fuat lebt in Deutsch-
land. Es gibt Privatkanäle, Videokassetten sind nicht mehr gefragt. Noch gibt es
Dörfer ohne Strom, aber andererseits wird die Großstadt Istanbul mit Deutsch-
land verglichen. Eine Nebenfigur, Aysel, Güls Bekannte, möchte in Istanbul
leben und sich dort ein neues Leben aufbauen, was sie als alleinstehende Frau
in der Kleinstadt wegen der gesellschaftlichen Bedingungen nicht für möglich
hält. Istanbul, die Stadt, sei nicht die Fremde wie Deutschland, denn „halb Ana-
tolien“ (H 254) sei dort: „Anatolier, Kurden, Lazen, Tscherkessen, was immer du
möchtest, nur echte Istanbuler findet man dort kaum noch“ (ibid.). Doch Aysel
ist enttäuscht und fühlt sich nicht wohl in Istanbul, wo sie als Putzfrau arbeitet,
denn diese Stadt „kann einen Menschen bei lebendigem Leib verschlingen“ (H
276). Gül entschließt sich deshalb, zurück nach Deutschland zu kehren: Sie steht
Zwischen Bewegung und Begegnung, trans und topos 59

auf dem Flughafen in Hamburg, an einem Nicht-­Ort, und bewegt sich zwischen
Erinnerungsort und Erinnerungsbild, wo sie sich selbst begegnet, zuschaut und
denkt: „Wie viel fremder war ihr dieses Land, als sie das erste Mal hierherkam,
und wie viel ruhiger war sie damals“ (H 283).
Güls Blick auf ihre Vergangenheit und ihre bisherigen Erfahrungen wirken
nicht auf ihr jetziges Gefühl der Unruhe, im Gegenteil, sie schwingt mit in der
Einsamkeit und Entfremdung als Erfahrung der Moderne, die in den Orten der
Moderne – Archetypus der Nicht-­Orte der Übermoderne – auftritt. Dies ist vor
allem an Nicht-­Orten im Alltag zu verfolgen: die Wartezeiten beim Einkaufen
wie im Kaufhaus, beim Metzger, Gemüsehändler, an der Kasse; die durch Medien
wie Radio, Kino, Fernseher, Film, Video hervorgerufenen Nicht-­Orte und ihre
Funktion als freizeitliche Beschäftigung im Alltag; dann der Flughafen, Bahn-
hof, das Flugzeug, die Bahn, der Bus, Warteräume, die Grenze, Passkontrolle,
Durchgänge – Transiträume der Moderne und Übermoderne. Hier „(drängt)
sich die Übermoderne in der Tat dem individuellen Bewußtsein der gänzlich
neuen Erlebnisse und den Erfahrungen von Einsamkeit“ auf (Augé 1994: 109 f.).
In Nicht-­Orten verfällt das Mit-­Sich-­Identisch-­Sein; was bleibt, ist eine Pose, eine
Haltung zwischen Bewegung und Begegnung:
Die Markierung einer Position, einer ‚Stellung‘, einer Pose im physischen und banalsten
Sinne des Wortes erfolgt im Rahmen einer Bewegung, welche die Landschaft und den
Blick, der sie zum Objekt nahm, von jedem Inhalt und von jedem Sinn entleert, denn
gerade dieser Blick verschmilzt mit der Landschaft und wird zum Objekt eines zweiten
Blicks, den man nicht zuordnen kann: Ist es derselbe oder ein anderer? (Augé 1994: 109)

Literatur
Augé, Marc 1994: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a. M.:
Fischer Verlag
Certeau, Michel de 1988: Kunst des Handelns, aus dem Französischen übersetzt
von Ronald Voullié, Berlin: Merve Verlag
Hofmann, Michael 2007: „Güls Welt. Erzählen und Modernisierung in Selim Öz-
doğans ‚Die Tochter des Schmieds‘“, in: Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi. Studien
zur deutschen Sprache und Literatur. Ed. Abteilung für deutsche Sprache und
Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Istanbul XIX (2007):
169–186
Karakuş, Mahmut 2007: „Selim Özdoğans Die Tochter des Schmieds: Möglichkei-
ten der Selbstverwirklichung der Frauen“, in: Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi.
Studien zur deutschen Sprache und Literatur. Ed. Abteilung für deutsche Spra-
60 Nergis Pamukoğlu-­Daş

che und Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Istanbul XIX


(2007): 139–154
Meyers Kleines Lexikon Literatur 1986. Ed. Redaktion für Literatur des Biblio-
graphischen Instituts. Mit einer Einleitung v. Wolf Dieter Lange. Mannheim /
Wien / Zürich: Meyer Verlag
Özdoğan, Selim 2005: Die Tochter des Schmieds, Berlin: Aufbau Verlag
Özdoğan, Selim 2011: Heimstraße 52, Berlin: Aufbau Verlag
Özdoğan, Selim 2012: Kopfstand im Karma-­Taxi, Winterthur: Edition Spuren
Verlag
Pamukoğlu-­Daş, Nergis 2009: Topographien der Moderne. Literarische Städtebilder
und Bilder des Selbstverständnisses. Paris-­Berlin-­Istanbul, Izmir: Ege Üniver-
sitesi Yayinlari (Publikationen der Ege Universität)
Sarıçoban, Gökçen 2012: Zwischen Tradition und Moderne. Lebensvorstellun-
gen und Wahrnehmungsweisen in Selim Özdoğans Roman „Die Tocher des
Schmieds“, Berlin: Frank und Timme Verlag
Yağcı, Gülenay 2014: Die Wahrnehmungsweise des Fremden in Selim Özdoğans
Romanen „Die Tochter des Schmieds“ und „Heimstraße 52“, unveröff. Magister-
arbeit, Izmir: Ege Universität
Kathleen Thorpe (Johannesburg)

Zur Synchronie der Lebenswelten


Überlegungen zur Dynamik im Third Space

Abstract: Debates emanating from the “spacial turn” toward the end of the 1980s can be
fruitfully applied to describe the interstitial position of migrants attempting to establish
themselves in a new cultural environment. The following essay does not seek to engage with
the various societal models connected with these points of discussion. Instead, it wants to
explore the description of individual attitudes and feelings regarding ideas of identity in
an inbetween space, i.e. “third space” (Soja). Particularly those of writers with a migration
background whose works are autobiographically inspired.

Erkenntnisse, die infolge der Diskussionen des sogenannten Spatial Turn gegen
Ende der 80iger Jahre des 20. Jahrhunderts zu Tage getreten sind, können nutz-
bringend angewendet werden, um die Situation von Migranten zu beschreiben,
die versuchen, in einem fremden Kulturkreis Fuß zu fassen. Diese Einsichten
lassen sich durchaus mit aktuellen Themen wie z. B. Assimilation, Integration,
Multikulturalismus, Inter- und Transkulturalismus verbinden, die mit der Be-
stimmung von Identität einhergehen. In diesem Beitrag geht es nicht in erster
Linie um eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen gesellschaftlichen
Modellen, die aus den oben angedeuteten Themenkreisen hervorgehen, sondern
eher um die Benennung von denjenigen Faktoren, die das Empfinden von Be-
troffenen beeinflussen, wie diese ihr Identitätsempfinden verhandeln und wie sie
in der neuen Gesellschaft zurecht kommen. Als BewohnerInnen eines Zwischen-
raums sind sie besonderen Stressfaktoren ausgesetzt, und zwar physischen wie
vor allem aber auch psychischen. Fremdenfeindlichkeit gehört manchmal dazu,
ist aber nicht Haupgegenstand der vorliegenden Darstellung. Inzwischen gibt es
eine wachsende Anzahl von MigrantInnen oder Kindern von Migranten, die sich
in autobiografischen oder in autobiografisch inspirierten literarischen Werken
äußern und die Erfahrungen und Empfindungen von Menschen behandeln, die
sich in einem Raum zwischen den Kulturen befinden.
Auf der einen Seite gibt es das ortlose Weltbild der Globalisierung, aber wie die
2014 durchgeführten Wahlen zum Europaparlament zeigen (cf. Europäisches Par-
lament 2014), ist die Vorstellung von kulturüberspannenden Raumbezügen eine
Illusion, was angesichts des Rechtsrutsches bei den Wahlen die gelebte Situation
von Migranten noch verschärft. Im raumbezogenen Denken des Spatial Turn
62 Kathleen Thorpe

könnte auf den Raumbegriff des Marxisten Henri Lefebre aufmerksam gemacht
werden, dessen Einsichten Doris Bachmann-­Medick in ihrer Darstellung wie
folgt zusammenfasst:
Er hat die Produktion von Raum in den Blick gerückt als eine unverzichtbare Verknüp-
fung mit sozialer Praxis. Die soziale Konstituierung des Räumlichen wird hier ebenso
betont, wie die Rolle des Raums für die Herstellung sozialer Beziehungen. Es sind also
die gelebten sozialen Praktiken der Raumkonstitution, auch Ein-­und Ausgrenzungen
(Bachmann-­Medick 2009: 291).

Diese sozialen Räume seien nicht nur physisch zu verstehen, denn es gibt auch
mögliche Lebensentwürfe, die durch die Massenmedien, z. B. durch den Film
vermittelt werden. Dies geht auch aus Arjun Appadurais Fragestellung hervor:
„Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten,
enträumlichten Welt?“ (Zitiert bei Bachmann-­Medick 2009: 296). Hier spielt die
Literatur eine Rolle, wie es z. B. der Titel des Essaybandes von Salman Rushdie
(1992) andeutet, nämlich Imaginary Homelands zu schaffen (in der deutschen
Übersetzung als Heimatländer der Phantasie erst zehn Jahre später veröffent-
licht) Raum wird geradezu zu einer Metapher für kulturelle Dynamik – d. h. zu
einem Third Space, wie der Stadtplaner Edward Soja meint und der aus einer
Kombination von „real and imagined spaces“ besteht (zitiert nach Bachmann-­
Medick 2009:298). Sojas Werk bezieht sich haupsächlich auf Los Angeles, aber
seine Einsichten lassen sich erweitern. Es besteht auch eine wichtige Verbindung
zum Translational Turn, denn Raumkonstitutionen sind auch als Übersetzungs-
prozesse zugänglich und umgekehrt. Wie Doris Bachmann-­Medick meint, „wäre
das Phänomen der Interkulturalität überhaupt als ein komplexer Prozess kul-
turellen Übersetzens in den Blick zu nehmen“ (Bachmann-­Medick 2009:238).
Räume können auch polyphon sein, denn dort finden Einschreibungen statt, die
durch Emotionen, Gedächtnis und Geschichten körperlicher wie auch mentaler
Aneignungen sprachlich registriert werden, wie zahlreiche Werke von bi- und
multilingualen SprecherInnen belegen. Die Dynamik des Third Space entstammt
der Hybridität im Sinne Homi Bhabas, die literarisch zunehmend zu Wort kommt.
Wie Claire Horst in Anlehnung an Foucaults Bild des Netzes bemerkt, sei „Mi-
grationsliteratur das kulturelle Produkt einer solchen verknüpften Welt“(Horst
2009: 78) und aus diesem Grund sei die Beschreibung der deutschsprachigen
Migrationsliteratur nicht mehr als präkäres Balacieren zwischen den Kulturen
zu werten, sondern eher als ein hybrides sowohl-­als auch:
Wenn Migrationsliteratur als hybride Literatur gelesen wird, kommt ihr kritisches Poten-
tial zum Tragen. Sie ist mehr als nur interkulturelle Literatur im Sinne einr Vermischung
mehrerer, klar definierter Strömungen. Stattdessen mach sie etwas viel Stärkeres: Sie setzt
Zur Synchronie der Lebenswelten 63

Deutungen und Zuschreibungen außer kraft und ermöglicht einen kritischen Blick auf
allzu einfache Antworten (Horst 2009: 80).

Im Folgenden wird auf zwei Veröffentlichungen aufmerksam gemacht, weil die


Texte, die sie enthalten, für das hier behandelte Thema besonders relevant sind.
Band 198 der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter vom Juni 2011 widmet
sich dem Thema „Zuhause in der Fremde“ und das Lesebuch Die Fremde in mir.
Lyrik und Prosa der österreichischen Volksgruppen und Zuwanderer, 1999 von
Helmut Niederle herausgegeben, enthält kürzere Texte zum Thema des Heimisch-
werdens in einem deutschsprachigen Land (Österreich). Ein Zeitraum von zwölf
Jahren liegt zwischen diesen beiden Veröffentlichungen und im Vergleich ließe
sich einiges beobachten. Während die Texte in Helmut Niederles Sammlung sich
eiundeutig mit den Themen von Fremdheit und Verlust der Heimat beschäftigen,
lässt sich in der neueren Sammlung ein deutlicher Wandel in der Einstellung
zur neuen Heimat beobachten. Die Empfindung des Temporären ist trotz eines
gelegentlichen Gefühls von Fremdheit einem Akzeptieren der neuen Heimat ge-
wichen. In diesem Kontext könnte in dem nämlichen Zeitraum auch eine Abkehr
vom Begriff ‚Migrantenliteratur“ beobachtet werden – jetzt spricht man eher von
AutorInnen mit Migrationshintergrund oder gar von „exophoner“ Literatur, d. h.
Literatur von AutorInnen mit Deutsch als Zweitsprache. Die lyrischen Texte und
Geschichten aus der Sammlung Die Fremde in mir erzählen vom Leben von Mi-
granten in Österreich in ihren Bemühungen, im Land Fuß zu fassen, wobei oft auf
die Permanenz ihrer Anwesenheit hingewiesen wird, wie z. B. im Dialektgedicht
Mir san die Neichn von Senol Akkilic – „die Kümmel – Kanaken – Österreicher“,
die jetzt „do daheim“ sind und deren Kinder „in zehn, zwanzig Jahr / eure Pen-
sionen zahlen werden“ (Akkilic 1999). Letztere Bemerkung ist besonders wichtig,
weil auf den Beitrag zur Wirtschaft hingewiesen wird, was konträr zur populären
Meinung verläuft, dass nämlich die Migranten vom neuen Land zehrten, ohne
produktiv zu sein. In seinem Gedicht Morgengebet eines Ausländers schlägt Reza
Ashrafi bissig-­ironisch in dieselbe Kerbe, wobei die Pflicht hervorgehoben wird,
als „Ausländer“ auch nach der Einbürgerung ständig dankbar sein zu müssen,
wie z. B.:
Ich bin dankbar, eure Pensionen und Arbeitslosen
finanzieren zu dürfen.
Ich bin dankbar, euren Nullen und Nichtigen,
euren Mutlosen und Feigen,
den Komplexbeladenen und Unglücklichen
als Sündenbock dienen zu dürfen.
(Ashrafi 1999)
64 Kathleen Thorpe

Dass die vermeintliche Andersartigkeit des Migranten häufig eine Fiktion ist, hebt
Reza Ashrafi im gleichen Gedicht mit Nachdruck hervor:
Ich: Der Kameltreiber,
Der noch nie ein Kamel sah,
Der Kümmektürke,
Der nicht mehr Kümmel isst
als jeder von euch im täglich Brot,
(Ashrafi 1999)

Der Wunsch, einfach als normale Menschen behandelt zu werden, wird häufig
thematisiert. Amir Bayati fasst das Gefühl, sich in einem Zwischenbereich zu
befinden, in seinem Gedicht wie folgt zusammen
Neue Heimat
Fremd in der Heimat, zuhause in der
Fremde.
Eigene Fremde oder Heimat der Fremde.
Traum oder Albtraum – doch gerne.
Waren die sieben Meere keine Trennung
oder doch eine?
Oder doch Nah-­Verbindung trotz der Ferne?
Oh du Heimat, fremde Heimat.
Ich fühle, dass ich hier geboren und gelebt,
um hier zu sterben.
Ist das nicht eine neue Hoffnung, zu fliegen
In neue Horizonte?
Eine Heimat gehabt zu haben, auf Himmel
und Erden.
(Ashrafi 1999)

Bemerkenswert ist die Gegenüberstellung der Begriffe Heimat und zuhause. Die
emotionale Zugkraft von Heimat steht dem nüchternen Begriff zuhause gegenüber
und lässt die Frage danach entstehen, ob die ursprüngliche Heimat wirklich jemals
gegen eine neue eingetauscht werden kann. Hier entsteht eine Spannung, die von
denen ausgenutzt werden könnte, die den Migranten, die sich einbürgern lassen,
geteilte Loyalität vorwerfen, um so die Integration von Einwanderern zu ver-
hindern – anstatt anzuerkennen, dass ein Dasein im Third Space keine Illoyalität
dem neuen Land gegenüber bedeuten müsste, sondern eher als Bereicherung zu
betrachten wäre.
Sich eine neue Sprache anzueignen oder besser, sich eine neue Sprache zu-
zulegen, um mit Zdenka Becker in ihrem Text Hautnah. Über die Schwierigkeit,
sich eine neue Sprache zuzulegen (Becker 1999) zu sprechen, bringt eine Vielzahl
Zur Synchronie der Lebenswelten 65

Einsichten mit sich, wobei die Sprache bei ihr als etwas Ertastbares, Haptisches
erscheint, weil bestimmte Wörter Empfindungen auslösen, wie z. B. das slowe-
nische Wort für Liebe in ihr Wärme auslöst, „das zarte Kribbeln, den Duft und die
Berührungen, Sicherheit“ (Becker 1999: 47). Dabei schreibt sie von der „Sprache,
die einmal meine war“ und der wohl utopischen Hoffnung, dass es in einer an-
deren Sprache wieder so sein könnte. Die Hoffnung aber weicht der Erkenntnis,
dass „ich in einer fremden Welt lebe, ohne Land und ohne Volk, benütze Worte,
die nicht meine sind“ (ibid.). Ihr zwiespältiges Gefühl der neuen Sprache, d. h.
dem Deutschen gegenüber, lässt auf der einen Seite Hoffnung entstehen. „Mit
meiner neuen Sprache berühre ich das Land – ich schmecke das Land, das mich
vielleicht einesTages aufnehmen wird. Wenn ich es will. Will ich es?“ (ibid.) Diese
Unentschiedenheit rührt von den Menschen her, die ständig auf ihr Fremdsein
hinweisen: „Die Ohren nehmen die Töne wahr. Lieblich und schrill. ‚Gefällt es
Ihnen bei uns?‘ Bei euch? Bin ich nicht bei uns?“ Dies führt zum Gefühl der
Verletzbarkeit und des Ausgesetztseins: „Die Antwort, meine Sprache, ein Pa-
radiesvogel im Dschungel der Großstadt, schlägt hilflos mit den Flügeln“ (ibid.).
Die Angst davor, die eigene Identität zu verlieren, geht Hand in Hand mit dem
Wunsch nach Integration.
Die neue Sprache Deutsch beschreibt Zdenka Becker als Baumrinde oder
Schutzwall, als Panzer zum Schutz der Muttersprache Slowakisch – „weich und an-
schmiegsam, [erinnert] sie mich an die Wärme in Mutters Bett“ (Becker 1999: 48).
Ihre Aneignung des Deutschen erlaubt ihr, sich in der neuen Umgebung zu be-
haupten, aber gleichzeitig ist sie sich dessen bewusst, aus einer anderen Kultur
zu stammen, weshalb sie sich in einem Zwischenraum aufhält: „Gefallen in den
Graben zweier Kulturen, die sich näher kommen möchten“ (ibid.). Komplimente
über ihr Deutsch sind aber ein zweischneidiges Schwert: „,Nein, du bist keine
Ausländerin, wenn du unsere Sprache so gut sprichst‘. Bei solchen Worten über-
lege ich manchmal, ob ich mich freuen oder schämen soll“ (ibid.). Deutsch hat
sich die Protagonistin inzwischen angeeignet, was sie von einer Feindin zu einer
Freundin umgepolt hat, aber ihr Akzent zeichnet sie immer noch als Fremde aus:
„Meine Aussprache ist die Erinnerung an meine verlorene Heimat, ein Brandmal,
eine Tätowierung, der ich davonzurennen versuche. Ich lebe in einer fremden
Welt ohne Land und ohne Volk, benütze Worte, die nicht meine sind“ (Becker
1999: 47). Diese ständige Erinnerung an ihr Fremdsein wird fast wortgleich von
André Acuman als Narbe (scar im Englischen) beschrieben, als „the tell-­tale scar
left by the unfinished struggle to acquire a new language“ (Acuman 1999:11).
Zdenka Becker beherrscht vier Sprachen und fühlt sich als Mensch mit vier
Häuten und nicht mehr fremd, obwohl andere, wie schon angedeutet, auf ihre
66 Kathleen Thorpe

fremde Herkunft aufmerksam machen. Besonders wohlt fühlt sie sich unter an-
deren Fremden: „[I]ch fühle mich, als wär ich zu Hause. Vielleicht bin ich hier
zu Hause“ (Becker 1999: 49). Dies sind die Schlussworte ihres Textes. Das Sich-­
Heimisch-­Machen im dritten Raum, „the interstitial passage between fixed iden-
tifications“ (Bhabha 1994: 5) scheint die einzig annehmbare und lebbare Lösung
für Zdenka Becker zu sein.
Ein anderer, der seinen eigenen Weg gefunden hat, sich mit dem Dasein als
Migrant zu arrangieren, ist Vladimir Vertlib, der als kleines Kind von Russland
nach Österreich eingewandert ist. Auch bei ihm, wie er in seinem Text „Ich und
die Eingeborenen“ berichtet, ging es zunächst darum, die deutsche Sprache zu
lernen. Während er in der Schule als „typisch“ russisch galt, passte er sich mit zu-
nehmendem Alter in Sprache, Mentalität und Gehabe den Einheimischen an, wie
er erzählt. Er sei bei oberflächlicher Betrachtung „nicht mehr von ihnen zu un-
terscheiden“ (Vertlib 1999: 319). Wenn er aber unter russischen Emigranten war,
„wechselte ich meinen Assoziationshintergrund einfach aus. Ich passte mich nicht
nur an, ich dachte tatsächlich anders und legte mein anderes Ich temporär ab“
(Vertlib 1999: 319 [Hervorh. im Original]). Wir können bei Vertlib sehen, wie er
zwei Identitäten voneinander zu trennen weiß. Vertlibs Beschreibung dessen, wie
er denkt, gibt Aufschluss über die Konstituierung seines eigenen dritten Raumes:
Meine Selbstgespräche führte ich in einer österreichisch gefärbten Umgangssprache, einer
Mischung zwischen Wiener Dialekt und Hochdeutsch. Eine gewisse Kühle und Distanz
zur Sprache der Eingeborenen blieb bestehen. Der entfesselte Plauderton blieb mir fremd.
Die Eingeborenensprache war zum Denken da (Vertlib 1999: 319).

Vertlib macht eine wichtige Beobachtung, was seiner gänzlichen Assimilierung


als Eingebürgertem immer im Wege stehen wird: die fehlende gemeinsame Ver-
gangenheit nämlich, wie Vertlib konstatiert: „[M]ein Österreich beginnt erst 1972,
und dass alles vor dieser Zeit nur trockene Theorie ist und mühsamer Geschichts-
unterricht[…]“ (Vertlib 1999: 320).
Doron Rabinovicis Text „Jenseits von Andernorts“ beginnt mit folgendem
Absatz:
Wir waren nicht gekommen, um zu bleiben. Wir waren in der Fremde zu Hause. Versuche
zur Integration wollten wir keinen unternehmen. Wozu denn auch? Nächstes Jahr […]
meinten meine Eltern, würden wir zurückkehren nach Tel Aviv. Sie wiederholten diese
Absicht, sooft sich die Abfahrt verschob im nächsten und im übernächsten. Wir lebten
im Provisorium. Die Zwischenlösung wurde zum Dauerzustand (Rabinovici 2011: 191).

So meint Rabinovici, seine Familie würde das typische Leben im Exil als „na-
türlicher Lebensraum der Juden“ im vorigen Jahrhundert führen (Rabinovici
2011: 195). In der Fremde zu Hause, meint Rabinovici, seien heute alle sowieso in
Zur Synchronie der Lebenswelten 67

einer „globalisierten, elektronischen und multimedialen Diaspora“ (ibid.), wobei


Migration die eigentliche Kontinuität menschlicher Geschichte darstellt, denn
„jede Kultur war von Anfang an Assimilation“ (ibid.). Er empfindet das Fremde
für sich als etwas Positives. Als „Findelkind“ der deutschen Sprache kann er, wie
er schreibt, „in der Gesellschaft von vielen zu einer eigenen Stimme finden“. Sein
Zuhause sei die Sprache und „ich kann in ihr so urtümlich werden, wie es keiner je
war. Ich erkunde sie täglich von neuem, bis sie mir fremd wird und eigen zugleich“
(ibid.: 200). Gleichzeitig erkennt er seine eigene Situation als eine privilgierte,
denn er ist kein Flüchtling:
Meine Diaspora ist nicht die Verbannung, unter der Juden viele Jahrhunderte lang zu
leiden hatten. Ich bin nicht einer jener, die überall verfemt sind und um Zuflucht betteln
müssen, weil sie Vertriebene sind. Der Flüchtling ist überall verflucht. Er ist eben nicht
in der Fremde zu Hause, ist nicht in ihr aufgehoben, sondern wird zum allseits Aus-
gestoßenen (Rabinovici 2011: 200).

Der psychische wie auch materiell-­räumliche Aufenthaltsort von Flüchtlingen,


Asylsuchenden, Papierlosen und Staatenlosen ist, wie Rabinovici ausführt, ihr
„dritte(r) Raum“, geprägt vom Wissen darum, unerwünscht zu sein, was im kras-
sen Gegensatz zur vorgeschützten Weltoffenheit in den meisten europäischen
Ländern steht. Das Gedicht „Perser“ von Ercüment Aytaç bringt dies ganz krass
zum Ausdruck – ein Perser sei nämlich als Teppich „von jedem bewundert“ und
als Katze „liebevoll gefüttert/und gestreichelt“, aber als Mensch wird er abge-
lehnt „nein Danke. Niemals“ (Aytaç 1999). Es muss angemerkt werden, dass die
neuerlichen Entwicklungen in Europa , wie eingangs bereits angesprochen, von
einem zunehmenden Rückzug in Richtung Nationalismus und einer damit ein-
hergehenden Abneigung zeugen, die Türen für Migranten zu öffnen. Rabinovici
weist scharf auf die Diskrepanzen des heutigen Lebens hin:
Während die reichen Länder sich postnational und weltoffen geben, erstirbt ihr Mit-
gefühl gegenüber jenen, die ihre Länder verlassen müssen, um einen Ort zu finden, wo
sie in Freiheit und Sicherheit überleben können. Nie zuvor konnten so viele Menschen
zwischen den Nationen und den Kulturen umherreisen und nie zuvor mussten so viele
vor Gewalt und Elend fliehen und um Asyl flehen. Die Papierlosen und die Staatenlosen
sind die Ausgeschiedenen. Ihre Zimmer liegen im Souterrain. Ihre Kinder haben leise
zu spielen. Ihre Speisen dürfen nicht allzu verführerisch duften. Sie haben die bloßen
Schatten unserer selbst zu sein. Ihr Dasein wird ausgeblendet, ihre Erzählungen sind die
Spukgeschichten unserer globalisierten Zeit (Rabinovici 2011: 200).

Ein Grund, den Rabinovici anführt, der die Aufnahme und Eingliederung von
Fremden in den Ländern der sogenannten Ersten Welt erschwert, ist das his-
torische, im Grunde fiktionale, räumliche Konstrukt von ‚Heimat‘:
68 Kathleen Thorpe

Die Lüge von der vollkommen einheitlich abgestimmten Heimat und das Leid des Flücht-
lings gehören zusammen. Sie sind die zwei Seiten einer Medaille. Die völkisch reine,
bereinigte Heimat lebt von der Ausgrenzung des Fremden und von der Verbannung des
Gegensätzlichen. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam die Heimatpostkarte in
Mode. Sie war von Anfang an eine Fälschung. Sie zeigte alles, was nicht retuschiert wurde.
Kein Bau überragte den Kirchturm, wenn die Schornsteine der Fabrik erst übermalt
waren. Hier gab es keinen Klassenkampf und keine Emanzipation. Die Synagoge paßte
nicht ins Bild. Diese Heimat war seit jeher, um ein einschlägiges Wort zu verwenden,
judenrein. Diese Heimat, ob sie völkisch oder religiös definiert wird, verträgt keine Ver-
änderung und keinen Anderen, sei er Jude, Afrikaner oder Muslim, und kein Mensch,
der sich der Aufklärung verpflichtet weiß, kann sich in so einer Heimatlichkeit wohl
fühlen (Rabinovici 2011:200).

Doron Rabinovicis Kritik am Heimatbegriff könnte man mit den Empfindungen


von Heimat zum Beispiel bei Zdenka Becker vergleichen, wo Heimat eher mit
menschlichen Beziehungen zu tun hat als mit einem bestimmtem Ort. Während
Doron Rabinovici, der sich offensichtlich als Einzelgänger identifiziert, im Schwe-
bezustand des dritten Raumes gedeiht, indem er sich von der Raumvostellung von
Heimat und Zuhausesein zugunsten einer Bindung an die Sprache emanzipiert,
kann er das Fremdsein für sich produktiv machen.
Es ist die Fremde, in der ich nicht aufgehe, sondern eigenartig sein kann, die mich nicht
der Gemeinschaft der Einförmigkeit unterwirft, sondern mich in Gesellschaft von vielen
zu einer eigenen Stimme finden lässt. Die Fremde ist es, die mich meinem Geburts-
land und meinen Nächsten dort nahe sein lässt. Die Fremde ist es auch, die mich an
Österreich stärker bindet als viele seiner Einheimischen. Mein Zuhause ist die Sprache
[…] (Rabinovici 2011:200).

Im weder-­noch und sowohl-­als auch als einem dynamischen, synchron verlaufen-


den Prozess sind ist die Einzelnen ständig damit beschäftigt, einen für die Betrof-
fenen selber akzeptablen und lebbaren Grad von Wohlbefinden herauszubilden,
sich also zu Hause zu fühlen. Wie die oben erwähnten Textbeispiele gezeigt haben,
gibt es keine einheitliche Beschreibung des Third Space. Die, die sich als Fremde
schlicht abgelehnt fühlen, halten sich in einer Art verlassenen Niemandsland auf,
während andere einen Weg als hybride Individuen im Sinne von Homi Bhabha
finden. Für die Mehrzahl der MigrantInnen könnte wahrscheinlich das folgende
Zitat aus Die Mansarde gelten, einem Roman der österreichischen Schriftstellerin
Marlen Haushofer, das der Serbe Sreten seinem Text Das Leben ist Ausland voran-
stellt: „Ich wusste, dass ich hier nicht zu Hause bin. Aber ich weiß, dass ich lieber
hier nicht zu Hause bin als anderswo“ (Sreten 2011: 201 [Hervorh. im Original]).
Zur Synchronie der Lebenswelten 69

Literatur
Akkilic, Senol 1999: „Mir san die Neichn“, in: Niederle (ed.) 1999: 25
Acuman, André (ed.) 1999: Letters of Transit: Reflections on Exile, Identity,
Language and Loss, New York: New Press
Ashrafi, Reza 1999: „Morgengebet eines Ausländers“, in: Niederle (ed.) 1999: 27
Aytaç, Ercüment 1999: „Perser“, in: Niederle (ed.) 1999: 28
Bachmann-­Medick, Doris 2006: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kul-
turwissenschaften, 3. neu bearb. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Becker, Zdenka 1999: „Hautnah. Über die Schwierigkeit, sich eine neue Sprache
zuzulegen“, in: Niederle (ed.) 1999: 47–49
Bhabha, Homi 1994: The Location of Culture, London: Routledge
Europäisches Parlament 2014: Ergebnisse der Europawahl 2014, im Internet unter
http://www.europarl.europa.eu/elections2014-results/de/election-results-2014.
html [08.08.2016]
Heinrich Böll Stiftung (ed.) 2009: Dossier Migrationsliteratur. Eine neue deutsche
Literatur? Im Internet unter https://heimatkunde.boell.de/sites/default/files/
dossier_migrationsliteratur.pdf [08.08.2016]
Horst, Claire: „Raum- und Körperbilder in der Migrationsliteratur“, in: Heinrich
Böll Stiftung (ed.) 2009: 76–80
Niederle, Helmuth A. (ed.) 1999: Die Fremde in mir. Lyrik und Prosa der österrei-
chischen Volksgruppen und Zuwanderer. Ein Lesebuch, Klagenfurt / Celovec-­
Wien / Dunaj-­Ljubljana / Laibach: Hemagoras
Rabinovici, Doron 2011: „Jenseits von Andernorts“, in: Sprache im technischen
Zeitalter 198 (2011): 191–200
Rushdie, Salman 1992: Imaginary Homelands. Essays and Criticism, New York:
Penguin Books
Soja, Edward 1996: Third Space: Journeys to Los Angeles and other Real and Ima-
gined Places, Oxford: Blackwell
Sreten 2011: „Das Leben ist Ausland“, in: Sprache im technischen Zeitalter 198
(2011): 201–212
Vertlib, Vladimir 1999: „Ich und die Eingeborenen“, in: Niederle (ed.)
1999: 317–320
Garbiñe Iztueta (Vitoria-­Gasteiz)

Transiträume und Heimatlosigkeit als


Grunderlebnis bei Herta Müller1

Abstract: Spaces of transit and Heimatlosigkeit are analysed in this contribution beyond
the political dimension of exile. According to the Spatial Turn’s concept of space, space
and Heimat are both conceived as a dynamic process as well as a relational construct of
bodies, subjects, and social relations. In Barfüßiger Februar and Reisende auf einem Bein,
Herta Müller develops also Heimatlosigkeit as a space of transit. As the absence and/or loss
of Heimat, Heimatlosigkeit constitutes an existential experience and a process. Here, transit
spaces represent the turning points where the protagonist (and narrator) becomes aware of
her own lack of insight into reality and of her incapacity to act not only in the Heimat but
also in exile. The problematic relationship of Müller’s protagonists to Heimat and Heimat-
losigkeit shows therefore a human nature which Karen Joisten has described as Heim-­weg.

Herta Müller zeichnet „Landschaften der Heimatlosigkeit“, wie es in der Begrün-


dung der Nobelpreis-­Jury 2009 heißt (Nobelstiftung 2009). Der Begriff „Heimat-
losigkeit“ bezieht sich auf ein vielschichtiges Phänomen, das um die Abwesenheit
von Heimat und Heimatgefühl kreist. Gebhard, Geisler und Schröter weisen auch
auf ein Näheverhältnis von Mensch und Raum als Achse der Heimatkonzeption
hin, denn es liegt dem Heimatbegriff eine Gebundenheit des Menschen an einem
überschaubaren oder als überschaubar gedeuteten Raum zugrunde (Gebhard &
Geisler & Schröter 2007 a: 10). Sie heben darüber hinaus in ihrem Band hervor,
dass bei aller historischen Variabilität des Heimatkonzepts eine Bewegung der
Rezentrierung immer als eine wichtige Konstante in der Geschichte der Heimat-
konzeption zu berücksichtigen ist. Heimat bedeutet unter diesem Gesichtspunkt
einen Raum der menschlichen Handlungsmächtigkeit, wo Handlungs- und Ver-
antwortungsraum als Ziel im Mittelpunkt steht (ibid.: 45).
Neben Gebhard, Geisler und Schröter argumentiert auch Bernhard Schlink,
dass die Problematisierung des Begriffs erst nach dem Verlust der Heimat bzw.
der Distanzierung von ihr entsteht. Daher spielt die Trias Verlust-­Distanzierung-­
Reflexion bei der Entwicklung des einzelnen Heimatkonzepts eine leitende Rolle,
da erst aus dieser distanzierten Perspektive über den Handlungsraum Heimat als

1 Dieser Beitrag ist im Rahmen des von der Universität des Baskenlandes finanzierten
Forschungsprojekts „Heimat-­Ruptura-­Distancia: Configuraciones de sus Espacios en
la narrativa alemana de los siglos XX y XXI” (EHU 13/23) entstanden.
72 Garbiñe Iztueta

eigene Identität und als erlebte Zeit reflektiert wird (Schlink 2000: 33). Schlink
formuliert diese Trias wie folgt: „Heimaterfahrungen werden gemacht, wenn das,
was Heimat jeweils ist, fehlt oder für etwas steht, das fehlt“ (ibid.: 33). Vorausset-
zung für die Entstehung eines bewussten Heimatkonzepts bei dem Einzelnen ist
daher Heimatlosigkeit, bei deren Definition Abwesenheit bzw. Verlust der Heimat
als zentrale Definitionsmerkmale fungieren. Gleichzeitig ist Heimatlosigkeit laut
Schlink der Weg zur Heimat. Daher wird das Gefühl der Heimatlosigkeit als ein
konstantes Fremdheits- und Unsicherheitsgefühl sowie als Gefühl, im Leben nicht
aktiv handeln zu können, zu einer grundlegenden Phase in der individuellen
Konstruktion des Heimatbegriffs.
Dieses Zusammenspiel von Heimat und ihrem Gegenteil zeigt sich als beson-
ders entscheidend für eine bewusste Heimatwahrnehmung durch Herta Müllers
literarische Figuren. Umso entscheidender ist dieses Zusammenspiel zwischen
Heimat und ‚Nicht-­Heimat‘ insofern, als das Verhältnis zwischen Müllers Figu-
ren und ihrer Heimat höchst problematisch dargestellt wird. Bei Herta Müllers
Figuren finden wir unterschiedliche, auf keinen Fall harmonische Beziehungen zu
Heimat. Gemeinsames Merkmal ist allerdings bei allen, dass ihre Erfahrung mit
Heimat immer von der missbräuchlichen Macht eines autoritären Regimes de-
terminiert ist. Im Roman Reisende auf einem Bein2 weigert sich die Protagonistin
Irene, sich als heimatlos zu bezeichnen und somit auf ihre Heimat zu verzichten,
auch nachdem sie ihr Land Rumänien hinter sich gelassen hat und nun ebenfalls
unter schwierigen Bedingungen in Berlin lebt. Irene wird mit den Schwierigkeiten
konfrontiert, sich im Westen heimisch zu fühlen. Sie befindet sich monatelang
nach ihrer Ankunft in Deutschland in einem Zwischenraum, im Transitraum
des ‚nicht mehr‘ und ‚noch nicht‘, wo Irene sich weiterhin weigert, Heimat als
Bestandteil ihrer Identität in Frage zu stellen.
In „Diesseitige Wut, jenseitige Zärtlichkeiten” (2011) hat Herta Müller über
das Schicksal des chinesischen Exilautors und Dissidenten Liao Yiwu und über
die Heimat der Dissidenten und Exilierten geschrieben: „Diese Heimat bleibt
der intimste Feind, den man hat“ (Müller 2011, siehe auch Müller 2010 a: 15).
Müller bezieht sich in demselben Artikel zwar auf die Existenz einer unproble-
matischen Heimat, die narrativen Figuren der Autorin werden aber von dem im
Zitat genannten „intimsten Feind“ heimgesucht. Daher verursacht Autoritarismus
einerseits Heimatlosigkeit im eigenen Land und andererseits das Exil, was nur
eine Heimat des Konjunktivs ermöglicht. „Es [das Glück des Exils, G.I.] sagt
einem klipp und klar: Du hättest doch nie so sein wollen, wie du hättest werden

2 Im Folgenden wird auf den Roman mit RB verwiesen.


Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 73

müssen, wenn du hättest daheim bleiben dürfen. […] Wir reden von Heimat – ich
glaube, das bittere Glück ist die Heimat des Konjunktivs“ (Müller 2011). In dieser
feindlichen Heimat zu bleiben, würde zum Verrat der eigenen Identität führen.
Dies wiederum ist als Heimatlosigkeit zu betrachten, im Sinne vom Verlust eines
Raumes der menschlichen Handlungsmächtigkeit, eines Raumes, in dem eigenes
Handeln und das Übernehmen von Verantwortung möglich sind (Gebhard &
Geisler & Schröter 2007 a: 45).
Entfremdung, Fremdheit, Exil und Heimatlosigkeit entstehen somit bei Herta
Müller und auch bei ihren literarischen Figuren in erster Linie an dem Ort, der
geografisch ihrer Heimat entspricht (siehe auch Wagner 2002: 50 f.). Herta Mül-
lers Figuren fliehen vor der Heimat, konkret vor dem vom Autoritarismus mani-
pulierten Rumänien einerseits und vor der patriarchalischen banatschwäbischen
deutschen Minderheit andererseits. Daher steht das Dorf in Herta Müllers Texten
als Metapher mehrschichtiger unterdrückender Gewalt vonseiten zweier Macht-
instanzen.
Neben dieser infolge der Gewalt entstandenen Heimatlosigkeit begegnet man
bei Herta Müllers Figuren auch einer eher existenziellen Heimatlosigkeit, wo-
rauf Carmen Wagner in Bezug auf RB mit ihrer Formulierung des „doppelten
Exils“ hingedeutet hat. Ich stimme ihr zu, dass Herta Müller mit ihrer Thematik
von Heimat-­Fremdheit-­Exil – sei es bewusst oder unbewusst – Fremdheit und
Entfremdung als erkenntnisleitende Thematik in der modernen Gesellschaft
entwickelt hat (Wagner 2002: 52). Eine Grundlage für diese Schlussfolgerung
böte auch Karen Joistens Monographie Philosophie der Heimat – Heimat der Phi-
losophie (2003), in der die Philosophin den Menschen als ein Heim-­weg, d. h. als
ein konstitutiv von einer Doppelstruktur geprägtes Wesen geschildert hat „für die
einerseits das Sich-­Binden und andererseits das Sich-­Ausrichten in dem Vollzug
seines Sich-­Ortens, Sich-­Zeitigens und Sich-­Begegnens konstitutiv ist“ (Joisten
2003:  28). Als „heimatliches Wesen“ steht der Mensch in einer wesentlichen
Beziehung zum Raum, zur Zeit und zum Mitmenschen, was zum einen an den
Grundphänomenen der Geborgenheit, der Ruhe und des Vertrauens und zum
anderen in den verschiedenen Weisen seines Sich-­Bewegens auf seinen Wegen
sichtbar gemacht werden kann (ibid.: 13). Daraus können wir schließen, dass
Heimat und Heimatlosigkeit zur menschlichen Grundstruktur gehören. Heimat
versteht Joisten nicht wie im alltäglichen Verständnis als „Ort, den man vorfindet,
und der dem Menschen Geborgenheit und Sicherheit gibt“ (ibid.: 25), sondern als
„ein Urphänomen […], in dem Grundphänomene des menschlichen Lebens, das
sind das Sich-­Orten, das Sich-­Zeitigen und das Sich-­Begegnen, zusammenlaufen“
(ibid.: 24 [Hervorh. im Original]). Da wir mit Joisten und auch mit Schlink ein-
74 Garbiñe Iztueta

verstanden sind, dass Heimat gelebt, erlebt und erfahren wird (Joisten 2003: 73;
Schlink 2000: 24), gehören sowohl Heimat als auch Heimatlosigkeit zu mensch-
lichen Grunderlebnissen bzw. zur menschlichen Grundstruktur.
Als nächster Schritt ist aus dieser Perspektive und im Rahmen der Raum-
auffassung des Spatial Turn über die ästhetische und weltanschauliche Rol-
le der Transiträume und der Begegnungen darin als Leitmotive der Thematik
von Heimat-­Heimatlosigkeit bei Müller zu reflektieren. Diese Thematik steht
besonders durch die auffallende und relevante Präsenz der Bahnhöfe, Straßen
und Büros als Transiträume in Reisende auf einem Bein und Barfüßiger Februar3
im Mittelpunkt beider Werke. Im Kontext des Spatial Turn werden Raum und
Heimat als ein im Zwischenspiel von Körpern, Subjekten und gesellschaftlichen
Beziehungen entstandener Prozess konzipiert (Bachmann-­Medick 2006: 289;
Döring & Thielmann 2009; Lefebvre 1991: 84 f.). Dementsprechend wird die
Abwesenheit der Heimat auch als Prozess, Konstrukt, Zwischenspiel in diesen
Räumen betrachtet. Als Grunderlebnis wird Heimatlosigkeit als existentielles
Erlebnis in diesen Werken betrachtet, was im Fall von Herta Müllers Figuren ohne
die politische Komponente nicht vollständig verstanden werden kann.
Transiträume in BF und RB dienen dazu, die Absenz der Heimat bzw. die Hei-
matlosigkeit einerseits als Bestandteil der menschlichen Grundstruktur, anderer-
seits aber auch als Prozess, Konstrukt, Zwischenspiel zu enttarnen. Zum Prozess
der Heimatlosigkeit gehört die eigene Bewusstwerdung des heimatlosen Subjekts,
die bei Herta Müllers Figuren am deutlichsten durch die Raumwahrnehmung in
Transiträumen dargestellt wird. Zwei Phasen fungieren als ergiebige Momente
in der Konstruktion der Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müllers
Figuren: Einsichtslosigkeit und Handlungsunfähigkeit.

1 Blinde Blicke in Transiträumen


Die erste Phase, in der das Bewusstwerden der Heimatlosigkeit in Gang gesetzt
wird, führt in Transiträumen das Subjekt zur Feststellung der eigenen Einsichts-
unfähigkeit, d. h. der eigenen Unfähigkeit, Kenntnis von sich selbst zu nehmen bzw.
Einsicht in sich selbst zu gewinnen, wie es in BF sowie in RB zu beobachten ist.
Bemerkenswert ist, dass im Prosaband BF der Bahnhof und seine Bestandteile
als das wichtigste Leitmotiv den narrativen Fluss durchziehen. Um den Tod eines
engen Freundes der Erzählerin zu verarbeiten, sammelt sie Erinnerungen an das
vergangene Dorfleben und an die Reise durch andere Dörfer Rumäniens. Der

3 Im Folgenden wird auf den Prosaband mit BF verwiesen.


Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 75

Band fängt mit einer Anspielung auf die Ausreise der Erzählerin an, dargestellt
mit der Motivik einer Zugreise („Schienenstrang“, „Eisen der Behörden“, „Abteil
fuhr“, „die Scheibe hetzte Bilder“, „die Ankunft war der Winter“, cf. BF: 5). Parallel
zu diesen Erinnerungen rückt immer wieder die Präsenz von Bahnhöfen in den
Mittelpunkt.4
Diese Transiträume werden als Orte der Fremdheit wahrgenommen, wo
eine bodenständige, konstante, zentrierte Subjektivität demontiert wird; eine
kohärente und stabile Wahrnehmung selbst wird in Frage gestellt, da in diesen
Transiträumen die Erzählinstanz sehr oft entgegengesetzte Realitäten spürt. Die
Begegnungen in diesen Transiträumen sind vornehmlich visuelle Begegnungen,
da Müllers Hauptfiguren eher Beobachter sind, wobei das Auge, der Blick und
das Gesicht eine doppelte Bedeutung bei Müller, eine „doppelbödige Signifikanz“
haben (Pasewalck 2004: 362). Als gutes Beispiel für diese visuellen Begegnungen
in Transiträumen, die im Prosaband BF als eine wichtige Phase auf dem Weg
zur Infragestellung der eigenen Wahrnehmung, zur Erkenntnis des Fremden
und somit zur reflektierten und bewussten Heimatlosigkeit als Grunderlebnis
gedeutet werden, gelten die Szenen an einem bestimmten Bahnhof, und zwar in
der Erzählung „Überall, wo man den Tod gesehen hat. Eine Sommerreise in die
Maramuresch“. Die Erzählung wird mit der Beschreibung eines Bahnhofs in der
Maramuresch eröffnet:
Hinterm Bahnhof stellt ein Berg sich quer in ihren Weg, lockt sie wie Schlangen in sein
nasses, dunkles Maul. Wie durch ein Grab fährt jeden Tag der Zug durch diesen Tunnel.
Die Schlangen kriechen und dem Zug schreit wund das Rad, geht in die Knie, quietscht
schrill, wie Eisen schreit in Rost und Dunkelheit. Die Reisenden verschluckt der Moder.
Er zerrt durchs offne Fenster, wie eine Fledermaus, am Vorhang. Sie denken nicht an
Tod. Ihre Gesichter sind bloß eingegraben. Sinnlos halten sie die Augen offen (Müller
1990 c: 101).

Die Beobachterperspektive der mit dem Zug durch die Maramuresch reisenden
Erzählinstanz rückt den Bahnhof als Transitort stärker denn je im Prosaband in
den Mittelpunkt: sowohl dieser Bahnhof, „ein glatter Würfel aus Beton und weiß
wie Kalk“ (ibid.: 101), als auch die Region sind der Erzählerin fremd, nicht nur
weil sie die Region noch nicht kannte, sondern auch deswegen, weil sie diese
Zugreise erst nach ihrer Ausreise nach Deutschland unternommen hat. Daher

4 Erzählungen in BF, in denen Bahnhöfe eine bedeutende Rolle spielen, sind „Die große
schwarze Achse” (BF: 6–23), „Über den Kopf der Weinreben” (Müller 1990 d), „Überall,
wo man den Tod gesehen hat. Eine Sommerreise in die Maramuresch“ (Müller 1990 c)
und „Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch“ (Müller 1990 b).
76 Garbiñe Iztueta

wird der Bahnhof einem sowohl fremden und distanzierten als auch neugierigen
und prüfenden Blick unterworfen. Diese fremde und distanzierte Perspektive ist
daran zu erkennen, dass die Erzählerin sich auf die Reisenden ausschließlich in
der dritten Person bezieht, auch wenn die Erzählerin selbst zusammen mit ihnen
im Zug sitzt. Ein weiteres Zeichen für die differenzierte Perspektive der Erzählerin
wird daran sichtbar, dass laut der Erzählinstanz die Reisenden nicht an den Tod
denken, während der Blick der Erzählerin ausgerechnet auf Todesbilder dieses
Transitraums fokussiert.
Der Berg hinter dem Bahnhof wird, wie im Zitat gezeigt, als ein Hindernis auf
dem Weg betrachtet, wie eine Schlange, die Züge frisst, wie ein Grab; darüber
hinaus verschluckt der Moder des Berges Menschen. Der Blick der Erzählinstanz
ist einerseits auf diese zerstörerische Kraft des Berges hinter dem Bahnhof fixiert;
andererseits auf die Reisenden, die als unbewusste Opfer der Schlange, als blinde
Blicke, geschildert werden.
Die Wahrnehmung des Raums um den Bahnhof herum wird in der darauffol-
genden Beschreibung durch das Bild eines Tanzes ergänzt. Darin wird ein weiterer
Gegensatz zwischen dem gerade beschriebenen Berg hinter dem Bahnhof und
dem Berg vor dem Bahnhof gebildet, der anstatt tödlicher Konnotationen eher
dem ersten Berg widersprechend lebensbejahende Konnotationen zeigt:
Vor dem Bahnhof steht ein Berg. Aus gelbem Lehm und voll mit Löchern ist sein Hang,
als wär man sehend in der Mitte eines Berges, der auseinanderbricht und Erde rieseln
lässt. Grünes Astgewirr mit dunkelroten Beeren wächst um seinen Rand und hält den
Lehm zusammen. Schwalben zwitschern im großen Schwarm, wie aneinander fest-
gebunden in der Luft. Ein graues, mit schwarzem Schwalbenmuster bedrucktes Kleid
(Müller 1990 c: 101).

Der zweite Berg scheint offene Augen bzw. Fenster anzubieten, durch die man
einen neuen Blick auf dieselbe Landschaft haben kann, „als wäre man sehend
in der Mitte eines Berges“ (ibid.: 101). Da uns aber die Erzählinstanz schon in
der früheren Passage darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Reisenden auf-
grund ihrer zwar offenen, aber im Dunkel nur Fledermäuse sehenden Blicke
blind erscheinen, wird das Sehen im weitesten Sinne als unmöglich abgestempelt.
Wie Pasewalck plädiert, ist bei Herta Müller die visuelle Wahrnehmung einem
Zweifel unterzogen (Pasewalck 2004: 362), was daran festzustellen ist, dass in
Herta Müllers Narrativen in Transiträumen die Augen sehr oft offen sind, aber
nichts sehen. Im weitesten Sinne handelt es sich um einen misslungenen Versuch,
aus der Wahrnehmung heraus Sinn zu schaffen. In dieser Phase ist die Erzählerin
imstande, die Einsichtslosigkeit der anderen zu beobachten, während ihre Wahr-
nehmung die eigene Einsichtsfähigkeit noch nicht in Frage stellt.
Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 77

In den Zitaten entsteht die Wahrnehmung des Subjekts auf einer doppelt ent-
gegengesetzten Basis, was für eine gespaltene Wahrnehmung spricht. Das Subjekt
bildet den Transitraum ‚Bahnhof ‘ mit zwei entgegengesetzten Achsen, jeweils
mit Anspielungen auf Tod und Leben, auf Zerstörung und Fruchtbarkeit, auf
offene Augen und blinden Blick, auf Einheimische und auf Reisende. Dadurch
entsteht ein Riss im Wissenshorizont und in der Wahrnehmung. Anhand dieses
Risses beruht Heimatlosigkeit auf der Selbstwahrnehmung eines nomadischen,
fragmentierten und gespaltenen Subjekts.
Der Riss wird an diesem Punkt des Erzählbands nur aus der Leserperspektive
sichtbar, da sich am Bahnhof von Maramuresch der Blick der Erzählerin erst ein-
mal nur nach außen richtet, was dazu führt, dass der Riss in der Wahrnehmung
von der Erzählerin selbst erst in der letzten Erzählung des Prosabandes, d. h.
in „Mein Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch“ verinnerlicht wird. Die
ebenfalls von Bahnhofsmotivik durchzogene Erzählung zeigt das Bekenntnis der
Erzählerin zur Einsichtslosigkeit, zur Heimatlosigkeit. Ihr Blick richtet sich so-
mit nicht nur wie am Bahnhof in Maramuresch nach außen, sondern auch nach
innen:
Fliegende Birken durch den Zug. […]
Mit den Birken im Genick über dem S-­Bahnsteig sind seine Rippen zweifach.
Angekommen wie nicht da. Am Sand wie an den Ufern. Und langsamer als irgendwo
fehlt mir die Einsicht. Mein Sprachzug und mein Minderheitendeutsch. […] Ich werd
dich los, jetzt bleibst du mir erhalten.
Mein Schlagabtausch, mein Ausländergewissen. (Müller 1990 b: 123)

Wie in Maramuresch schildert die Erzählinstanz das Beobachtete durch das


Fenster der S-­Bahn in Berlin, weiter führt sie aber das Beobachtete zur Feststel-
lung ihrer eigenen Einsichtsunfähigkeit. Wieder rückt in diesem Transitraum die
Unversöhnlichkeit zwischen Blicken bzw. Beobachten und Sehen in den Mittel-
punkt. Der Dialog zwischen ‚Du‘ und ‚Ich‘ in „Ich werd dich los, jetzt bleibst du
mir erhalten“ (Müller 1990 b: 123), wo das ‚Du‘ sich in das ‚Ich‘ eingelebt hat, weist
auf die Unlösbarkeit des Anderen und des Eigenen genau wie auf die Unlösbarkeit
von Leben und Tod, Sprache und Schweigen, dem Jetzt der Erzählerin in Berlin
und der zurückgelassenen Vergangenheit in Rumänien hin.
Genau wie in BF stellt die Erzählerin Irene in RB zunächst die Einsichtsunfä-
higkeit der anderen und erst danach die eigene fest, und zwar u. a. in den büro-
kratischen Transiträumen5 wie z. B. in den Büros des Bundesnachrichtendienstes

5 Müller thematisiert in RB auch in Bahnhöfen mit dem Motiv offener Augen, die nicht
sehen, und offener Lippen, die nichts sagen, die Einsichtslosigkeit der anderen. Der
78 Garbiñe Iztueta

und des Senats für Inneres in Berlin, wo Irene nach ihrer Ausreise in Rumänien
ihre Aufenthaltserlaubnis und später die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft be-
antragt. Bei den Versuchen der deutschen Behörden, sie als Flüchtling oder als
Agentin der SECURITATE einzuordnen, zeigt sich Irenes Überzeugung von der
Einsichtslosigkeit der Mächtigen: „Der Beamte legte einen Faltbogen auf den
Tisch. […] Rubriken über Kleidung. […] Keine Rubrik hätte mich beschreiben
können“ (Müller 2010 b: 33 f.). Nach stundenlanger Befragung in solchen Büros,
wobei durch die Schilderung der Dialoge das ungleiche Machtverhältnis zwischen
dem Individuum und dem jeweiligen Staat bzw. den jeweiligen Behörden und
immerhin die Einsichtslosigkeit der Machtinstanzen thematisiert wird, ist die
Protagonistin ihrer eigenen Ungewissheit und Unbewusstheit über sich selbst
zum Opfer gefallen, ohne dass es ihr bewusst ist (ibid.: 35). Erst später bekennt
sich Irene im Transitraum Straße zu ihrer eigenen Einsichtslosigkeit. Neben einem
Schaufenster wird im Gespräch mit ihrem Freund Thomas der Gegensatz zwi-
schen dem Leiden in Rumänien und in Deutschland mit der Opposition zwischen
„anschauen“ und „nicht sehen“ in Zusammenhang gebracht:
In dem anderen Land, sagte Irene, habe ich verstanden, was die Menschen so kaputt-
macht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehn.
[…] Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehn. Es tut weh,
täglich die Gründe nicht zu sehn. Schau mich an, sagte Thomas vor einem Schaufenster
[…]. Wenn du mich anschaust, siehst du auch Gründe. Gründe und Folgen.
Ich sehe nichts (Müller 2010 b: 160).

Die Einsichtslosigkeit, die wir bisher bei Irene ausschließlich in ihrer Raumwahr-
nehmung feststellen konnten, verbalisiert Irene in diesem Gespräch mit dem
Widerspruch zwischen „anschauen“ und „nicht sehen“ in ihrer Reflexion über die
zurückgelassene Heimat und das Ankunftsland. Rumänien wird zwar als feind-
liche Heimat, als Ursache des menschlichen Leidens, aber immerhin als Heimat
gesehen, da sie als ein überschaubarer Raum gilt, der bei Irene das Gefühl schafft,
die Gründe für den Schmerz sehen zu können; im Westen hingegen wird Irene
von der Heimatlosigkeit insofern beherrscht, dass sie in diesem Raum keine Über-

Blick der Erzählerin Irene richtet sich z. B. auf ein Mädchen mit stark geschminkten
Augenlidern, mit offenen, großen und starren Augen, als streiften sie nie ein Bild. Sie
beobachtet auch Frauen mit offenen Lippen, die nichts sagen, ein Paar glänzender
schwarzer Lackschuhe, das nichts als ein Paar weißer Socken widerspiegelt (Müller
2010 b: 111). Die Konstellation von offenen, aber nicht sehenden Augen, von offenen,
aber nichts sagenden Lippen und der Verweis auf schwarze Lackschuhe mit weißen
Socken stellen die Gespaltenheit in Irenes Raumwahrnehmung und in ihrem Blick
nach außen dar.
Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 79

schaubarkeit erfahren hat. Das Ergebnis ist eher das Bewusstwerden ihres eigenen
blinden Blickes.
Der Begriff blinder Blick ergänzt den von Herta Müller selbst in ihren poetolo-
gischen Texten und Vorträgen eingeführten Begriff fremder Blick.6 Der abwehr-
strategische fremde Blick wurde zum Kennzeichen von Müllers Schreiben und
stand weiterhin für eine traumatische Sichtweise, selbst nachdem sie Rumänien
verlassen hatte. Der fremde Blick entsteht laut Müller an bekannten Orten, wäh-
rend in Transiträumen, d. h. in unbekannten Räumen, ein blinder Blick entsteht,
der zuerst einsichtslos nur nach außen und erst später nach innen blickt und
sich als unüberschaubar erkennt. Während der fremde Blick als eine Abwehr-
strategie in der feindlichen Heimat und als traumatische Sichtweise zu verstehen
ist, fungiert der blinde Blick als Heimatlosigkeit.

2 Handlungsunfähigkeit und Transiträume


Heimatlosigkeit steht nicht nur in Verbindung mit einem Raum der Unüberschau-
barkeit, sondern auch mit einem Raum der menschlichen Handlungsunmächtig-
keit. In Herta Müllers Narrativ kommt diese zweite Seite der Heimatlosigkeit auch
in Transiträumen vor. In Transiträumen erkennen sich selbst Müllers Protago-
nistinnen und Erzählerinnen als sich bewegende Subjekte, die umherblicken, die
Beobachtungen sammeln und gleichzeitig oftmals nicht imstande sind zu sehen,
zu begreifen und zu interpretieren.
Müllers Figuren wurden im Rückgriff auf Walter Benjamins Begriff des Fla-
neurs für das moderne Subjekt als „weibliche Flaneurinnen“ (Bozzi 2006: 189)
bezeichnet. Als ein Subjekt in der Kluft zwischen Zeiten und Territorien, ohne
semantische Zuordnungen (ibid.: 186), nimmt es die Stadt als Schwelle wahr, „wo
das Gegensätzliche, ohne zusammenzufallen, ineinander übergeht“ (ibid.: 186).
Müllers Figuren werden auch in Zusammenhang mit dem Begriff der noma-
dischen Subjektivität gebracht (Littler 1998: 36 f., unter Rückgriff auf Rosi Brai-
dottis Begriff des nomadischen Subjekts). Sie werden in Transiträumen der Stadt
mit Gegensätzen konfrontiert; zudem werden bei ihnen eigene Grenzen und
Unfähigkeiten thematisiert, die über die Begriffe Flaneurin und nomadische

6 Dieser verformte Blick, der als Folge der Verfolgung und der Überwachung im tota-
litären Staat zu verstehen ist, entwickelt sich nach mehreren Erfahrungen, bei denen
Macht- und Überwachungsinstanzen eines totalitären Staates in die private Sphäre
eingedrungen sind. Als Ausdruck der Angst entwickeln sich dann Kontrollroutinen
in der vertrauten Umgebung, um die Präsenz des Geheimdienstes zu entdecken, so
Herta Müller (2009 b) in Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne.
80 Garbiñe Iztueta

Subjektivität hinausgehen, da das Gehen bei Müllers Figuren die Grenzen des
Flanierens überschreitet. Joistens Verständnis des Menschen als Doppelstruktur
hilft bei der Analyse dieser Figuren als sich bewegende, aber handlungsunfä-
hige Figuren: Als Heim-­weg liegt dem Menschen laut Joisten in der Grundstruk-
tur einerseits der Impuls zugrunde, sich heimisch zu machen, andererseits der
Impuls des Weggehens (Joisten 2003: 49). Da sowohl das Heimat- als auch das
Heimatlosigkeitsgefühl Bestandteile der menschlichen Grundstruktur sind, haben
Müllers Figuren ihre Grundstruktur als Menschen entdeckt, wenn sie in ihrem
Prozess des Bewusstwerdens der eigenen Heimatlosigkeit in den Transiträumen
ihre eigene Handlungsunfähigkeit im Raum entdecken.
Diese Handlungsunfähigkeit der Figuren wird an erster Stelle auf einer sprach-
lichen Ebene dargestellt: Nach mehreren Erlebnissen in Transiträumen stellt sich
in RB die Unfähigkeit Irenes heraus, als diskursives Ich die Realität und sich
selbst umfassend sprachlich auszudrücken. Nach dem Abschied am Bahnhof
von ihrem Liebhaber Franz beobachtet Irene dort den äußeren Raum, ohne ihn
interpretieren zu können:
Neben dem Zug trippelte eine Taube. Sie trug den Kopf so steif, dass Irene nicht wusste,
ob es Hochmut oder eine Krankheit war, was sie quälte. […] Die Taube hing über dem
stehenden Zug in der Luft. Irene sah ein Zahnrad hinter ihrem Schnabel.
Wenn Irene jetzt hätte sagen müssen, was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig
gewesen. Nicht einmal Silben, die willkürlich zusammenfanden (Müller 2010 b: 111).

Nachdem die Erzählinstanz darauf hinweist, dass Irene den steifen Kopf der Taube
nicht genau zuordnen kann, diagnostiziert sie daraufhin Irenes Unfähigkeit, ihre
eigenen Empfindungen zu identifizieren und sie sprachlich zu formulieren. Der
Ob-­Satz öffnet eine geschlossene ‚Entweder-­Oder‘-Frage über einen beobachteten
Gegenstand, d. h. es handelt sich um die Fragestellung nach der Wahrnehmung
und Interpretation des Raumes und seiner Bestandteile. Mit dem Satz „Wenn
Irene jetzt hätte sagen müssen, was sie empfand, wäre kein einziger Satz richtig
gewesen“ (Müller 2010 b: 111) wird die Ungewissheit der Selbstwahrnehmung
mittels des Konjunktiv II zusätzlich hervorgehoben. Die Konsequenz der irrealen
Voraussetzung bezeichnet darüber hinaus eine Negation, was in diesem Fall als
die Unfähigkeit zur sprachlichen Formulierung eigener Gefühle zu interpretieren
ist. Die syntaktische Gestalt des Satzes setzt somit eine irreale Basis voraus, was
zu einer Ungewissheit führt, die parallel zu Irenes Ungewissheit in ihrer Wahr-
nehmung des Raumes verläuft. Dieses Bild der Ungewissheit wird durch die
Aussage über Irenes diskursive Unfähigkeit zur sprachlichen Artikulierung des
eigenen Inneren ergänzt.
Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 81

Wie anhand des Prosabands BF deutlich wurde, werden die LeserInnen zu


Zeugen, wie die Protagonistin sich ihrer eigenen Heimatlosigkeit bewusst wird.
Deutlich zu erkennen ist das Beispiel der Einsichtslosigkeit des beobachtenden
Subjekts, denn die Protagonistin und Erzählerin wird sich ihrer Einsichtslosig-
keit erst am Ende ihrer Erinnerungsarbeit bewusst. Parallel dazu entdeckt die
Protagonistin von RB erst gegen Ende des Romans und nach vielen Erlebnissen
verwirrender Orientierungslosigkeit in Transiträumen, dass ihre Existenz auf
Beobachtungen eingeschränkt ist, die letzten Endes ihre Handlungsfähigkeit
vernichtet haben. Nach mehreren Monaten in Berlin erlangt Irene in einer der
großen vor Menschen wimmelnden Straßen Gewissheit in Bezug auf ihre eigene
Handlungsunfähigkeit:
In diesen Augenblicken wusste Irene, dass ihr Leben zu Beobachtungen geronnen war.
Die Beobachtungen machten sie handlungsunfähig.
Wenn sich Irene zu Handlungen zwang, waren es keine. Sie blieben in den Anfängen
stecken. Es waren Anfänge, die zusammenbrachen (Müller 2010 b: 170).

Ein beobachtendes, aber handlungsunfähiges Subjekt, das sein eigenes Leben


immer wieder erfolglos beginnt, entspricht der Existenz eines heimatlosen Au-
ßenseiters, einer bruchstückhaften Existenz, die gezwungen ist, immer neu an-
zufangen. Diese Selbstbeschreibung Irenes zeigt, dass sie zu diesem Punkt Einsicht
in sich selbst gewonnen hat, auch wenn mit dieser Einsicht eine problematische
Selbstentdeckung einhergeht. Nicht zuletzt spiegelt sich diese Handlungsunfähig-
keit in Irenes Situation als Asylantin wider, die im Nirgendwo, im Zwischenraum,
nicht mehr in Rumänien, aber auch nicht als Bürgerin in Deutschland existiert. In
Joistens anthropo-­ontologischer Verfasstheit des Menschen wäre dieser Konflikt
zwischen den im Zitat gemeinten zwanghaften und zusammenbrechenden Hand-
lungsneuanfängen bzw. nicht gelungenen Versuchen, in den verschiedenen Tran-
siträumen Berlins immer neue Leben anzufangen, als das Verhältnis zwischen den
menschlichen grundstrukturellen Bestandteilen ‚Heim‘ bzw. dem ‚Sich-­Binden‘
auch im Sinne eines gelungenen Handelns in Berlin einerseits und ‚weg‘ bzw.
dem ‚Sich-­Ausrichten‘ im Sinne eines Weiterziehens in den nächsten Transitraum
(Joisten 2003: 28) andererseits zu verstehen. Dessen Bewusstwerden vonseiten des
Subjekts gehört zu einer bewussten Existenz.
Der Roman endet mit einem Bild des Fernwehs, als Irene in ihrem Wohn-
heimzimmer hin- und herläuft und sich wünscht, in einem Zug zu sitzen und
wegzufahren: „Und der Wunsch, weit weg zu fahren. Aus dem Abteil durchs
Fenster zu sehn, in den Sog der Landschaft hinein“ (Müller 2010 b: 201). Die-
ses letzte Bild des im Zug sitzenden und beobachtenden Fahrgasts entspricht
82 Garbiñe Iztueta

wieder dem von Joisten als „weg“-Impuls formulierten strukturellen Bestand-


teil des Menschen.
Der Roman endet somit mit diesem doppelten Bild des Realen (als der im
Wohnheimzimmer hin- und herlaufenden Irene) und des Erwünschten (als des
im Zug sitzenden und beobachtenden Fahrgastes, wonach sich Irene sehnt),
wieder als Beispiel dafür, dass in Irenes Fall der (Transit)raum des Wohnheims
keine befriedigenden Handlungsmöglichkeiten anbietet. Die Feststellung, dass
ihr eigenes Leben voll von Beobachtungen, zwanghaften und zusammenbrechen-
den Anfängen ist, führt zu dem Erlebnis der Heimatlosigkeit und dem Wunsch
bzw. Impuls zu entfliehen.
Irene aus RB und das namenlose, sich erinnernde Ich aus BF zeigen in dem
Sinne zwei Seiten einer Medaille. Irene zeigt am Ende des Romans den mensch-
lichen grundstrukturellen Impuls des Weggehens, während die Ich-­Erzählerin
aus BF für die Heim-­Achse steht. Die letzte Erzählung in BF mit dem Titel „Mein
Schlagabtausch, mein Minderheitendeutsch“ inszeniert ein Ich, das sich wie be-
reits erwähnt seiner inneren Spaltung und den Rissen in seiner Wahrnehmung
bewusst geworden ist. Aus dem Erlebnis der Heimatlosigkeit als einem sich Ver-
orten in einem Raum der Unüberschaubarkeit und Handlungsunfähigkeit ent-
steht in dieser letzten Erzählung ein Bild des Heimatzwangs: Die Protagonistin
und Erzählerin empfindet sich in ihrem Leben in Berlin als „angekommen wie
nicht da“ (Müller 1990 b: 123), wobei die hinterlassene Heimat weiter in ihr lebt.
Dieses Heimatbild wird in ihrem neuen pendelnden Leben in Berlin einerseits
durch „mein Minderheitendeutsch“ ausgedrückt, andererseits auch als das er-
innerte Du des verstorbenen Freundes: „Und wenn ich reden will, legst du dich
tot auf meine Zunge“ (Müller 1990 b: 123). Auf der einen Seite wird mit dem
Bild des Angekommen-, aber Nicht-­Daseins der Zwischenraum angedeutet, auf
der anderen Seite zeigt die dominante Präsenz des Minderheitendeutsch und
der Erinnerung an den Toten die Unmöglichkeit auf, die Vergangenheit zurück-
zulassen. Beide Werke ergänzen sich demnach in der Darstellung der Heim- und
weg-­Impulse als Grundstruktur des Menschen. Dadurch werden Heimat und
Heimatlosigkeit als Grunderlebnisse dargestellt.

3 Fazit
Transiträume werden in Herta Müllers Werk zum Schauplatz und zum Gegen-
stand des Konstrukts Heimatlosigkeit, im Sinne des Verlustes eines Raumes der
menschlichen Handlungsmächtigkeit, eines Raumes, wo eigene Handlung und
Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 83

Verantwortung möglich sind. Raum und Heimat werden in diesem Beitrag im


Kontext des Spatial Turn im Zwischenspiel von Körpern, Subjekten und gesell-
schaftlichen Beziehungen als Prozess konzipiert und dementsprechend wird
auch das Gegenteil, d. h. Heimatlosigkeit, als Prozess, Konstrukt, Zwischenspiel
bezeichnet.
Transiträume in BF und RB dienen einerseits dazu, diese Absenz der Hei-
mat bzw. die Heimatlosigkeit einerseits als Prozess, Konstrukt, Zwischenspiel,
andererseits laut Joistens Menschendefinition als Bestandteil der menschlichen
Grundstruktur zu enttarnen. Zum Prozess der Heimatlosigkeit gehört die eigene
Bewusstwerdung des heimatlosen Subjekts, die bei Herta Müller durch die Raum-
wahrnehmung besonders in Transiträumen am deutlichsten dargestellt wird. Zwei
Momente spielen eine zentrale Rolle in der Konstruktion der Heimatlosigkeit als
Grunderlebnis bei Herta Müllers Figuren: Einsichtslosigkeit und Handlungs-
unfähigkeit.
Die erste Phase, in der das Bewusstwerden der Heimatlosigkeit in Gang gesetzt
wird, entfaltet sich zunächst in der Feststellung der Einsichtsunfähigkeit bei den
anderen, was später in Transiträumen das Subjekt zur Feststellung des eigenen
blinden Blicks führt, wie es in BF sowie in RB zu beobachten ist. Im weitesten
Sinne handelt es sich bei diesem blinden Blick um einen misslungenen Versuch,
aus der Wahrnehmung heraus Sinn zu stiften.
Die zweite Phase beim Bewusstwerden der Heimatlosigkeit ist die Feststel-
lung der eigenen Handlungsunfähigkeit, die an erster Stelle auf einer sprach-
lichen Ebene dargestellt wird. Die Unfähigkeit sich selbst und die vor dem
Subjekt entfaltete Realität sprachlich zu artikulieren, spiegelt die Unfähigkeit
von Müllers Figuren wider, mit der eigenen Fremdheit und dem Realitäts-
potential zurechtzukommen. Zu einem späteren Zeitpunkt stellen die Figuren
hingegen ihre eigene Handlungsunfähigkeit in ihren jeweiligen Transiträumen
fest: beide Protagonistinnen werden am Ende der jeweiligen Werke in Zügen
dargestellt, in denen das Gefühl des ‚Nicht-­mehr-­da‘- und des ‚Noch-­nicht-­
angekommen‘-Seins herrscht.
Der Schluss in beiden Werken wurde aus der Perspektive von Joisten auf den
Menschen als Heim-­weg interpretiert. Infolgedessen ergänzen sich BF und RB
in der Darstellung der Heim- und weg-­Impulse als der Grundstruktur des Men-
schen. Irene wird am Ende des Romans von weg-­Impulsen beherrscht, während
der Protagonistin von BF trotz aller Versuche sich in Berlin heimisch zu fühlen
der Heim-­Impuls der zurückgelassenen Heimat zugrunde liegt.
84 Garbiñe Iztueta

Literatur
Bachmann-­Medick, Doris 2006: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kul-
turwissenschaften, Reinbek: Rowohlt
Beyer, Susanne 2012: „Ich habe die Sprache gegessen“, in: Der Spiegel 35 (2012):
128–132
Bozzi, Paola 2006: „Irene in den Städten. Nomadische Subjektivität im Werk Herta
Müllers“, in: Nubert (ed.) 2006: 175–191
Braidotti, Rosi 22011: Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in
Contemporary Feminist Theory, New York: Columbia University Press
Döring, Jörg & Tristan Thielmann 22009: Spatial Turn: Das Raumparadigma in
den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript
Gebhard, Gunther & Oliver Geisler & Steffen Schröter (eds.) 2007: Heimat: Kon-
turen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld: transcript
Gebhard, Gunther & Oliver Geisler & Steffen Schröter 2007 a: „Heimatdenken:
Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung“, in: id. 2007: 9–56
Haines, Brigid (ed.) 1998: Herta Müller, Cardiff: University of Wales Press
Joisten, Karen 2003: Philosophie der Heimat ‒ Heimat der Philosophie, Berlin:
Akademie Verlag
Lefebvre, Henri 1991: The Production of Space, Oxford: Blackwell Publishing
Littler, Margaret 1998: „Beyond Alienation: The City in the Novels of Herta Müller
and Libuse Monikova“, in: Haines (ed.) 1998: 36–55
Müller, Herta 1990 a: Barfüßiger Februar, Berlin: Rotbuch
Müller, Herta 1990 d: „Über den Kopf der Weinreben“, in: id. 1990 a: 24–32
Müller, Herta 2009 a: Atemschaukel‚ München: Carl Hanser
Müller, Herta 2009 b: Der fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne,
Göttingen: Wallstein
Müller, Herta 2010 a: Lebensangst und Worthunger, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Müller, Herta 2010 b: Reisende auf einem Bein, Frankfurt a. M.: Fischer Taschen-
buch Verlag
Müller, Herta 2011: „Diesseitige Wut, jenseitige Zärtlichkeiten“, in: FAZ
(27.8.2011), im Internet unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/herta-
mueller-ueber-liao-yiwu-diesseitige-wut-jenseitige-zaertlichkeiten-11126134.
html, [12.10.2014]
Neumann, Bernd & Dietmar Albrecht & Andrzej Talarczyk (eds.) 2004: Literatur,
Grenzen, Erinnerungsräume: Erkundungen des deutsch-­polnisch-­baltischen Ost-
seeraums als einer Literaturlandschaft, Würzburg: Königshausen
Transiträume und Heimatlosigkeit als Grunderlebnis bei Herta Müller 85

Nobelstiftung 2009: Der Nobelpreis für Literatur 2009: Herta Müller, im Internet
unter http://www.nobelpreis.org/Literatur/muller.htm [25.10.2014]
Nubert, Roxana (ed.) 2006: Temeswarer Beiträge zur Germanistik, Bd. 5, Temes-
war: Mirton
Pasewalck, Silke 2004: „Erinnerte Gewalt der Grenze ‒ zu Herta Müllers Pro-
saband Barfüßiger Februar“, in: Neumann  & Albrecht  & Talarczyk (eds.)
2004: 357–367
Schlink, Bernhard 2000: Heimat als Utopie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Wagner, Carmen 2002: Sprache und Identität: Literaturwissenschaftliche und fach-
didaktische Aspekte der Prosa von Herta Müller, Hamburg: Igel
Elena Polledri (Udine)

W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen


Räumen, Zeiten und Sprachen:
eine „unheimliche Heimat“

Abstract: Transmigration is a key element in Sebald’s poetry, where the transit is topo-
graphical (between different places), historical (between different times), and linguistic
(between different languages). On the one hand, transitional spaces symbolise the homeless
migration of his characters (topographical transmigration) and become literary places of
memory that connect past and present (historical transmigration). On the other hand,
plurilingualism and translation allow the transit between different languages (linguistic
transmigration). This geographical, historical, and linguistic transit shows that the Heimat
is irrevocably lost for Sebald’s transmigrants; it can be present only in absentia, in literature,
as an “unheimliche Heimat” (“uncanny homeland”).
„Aber wo sind sie? du schweigst? du zögerst? Hüter des Hauses!
Hab ich gezögert doch auch! habe die Schritte gezählt,
Da ich nahet’, und bin, gleich Pilgern, stille gestanden.
Aber gehe hinein, melde den Fremden, den Sohn,
Daß sich öffnen die Arm und mir ihr Segen begegne,
Daß ich geweiht und gegönnt wieder die Schwelle mir sei!
Aber ich ahn’ es schon, in heilige Fremden dahin sind
Nun auch sie mir, und nie kehret ihr Lieben zurück.“
(Hölderlin: Der Wanderer 1951: 82, vv. 83–90)

1 W.G. Sebald und die Transmigration


Das Wort Transmigration bezeichnet in der Migrationsforschung transnationale
Migrationsphänomene, die im Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen
zunehmend Bedeutung erlangen (cf. Glick Schiller et al. 1992). Die Trans-
nationalisierung erweist sich heute einerseits als eine instabile ‚Weder-­hier-­
noch-­da‘-Lebenssituation, andererseits aber auch als ein Potential, das erlaubt,
Beziehungen zu verschiedenen Ländern aufrecht zu erhalten (cf. Breidenbach &
Zukrigl 2002). Die Transmigranten sind in transnationalen Lebensräumen zu
Hause und bauen ihre mehrsprachigen Identitäten in grenzüberschreitenden
Netzwerken auf. Die Herkunft des Wortes ist nicht unproblematisch; es findet
sich erstmals im Sprachgebrauch der Wiener Hofkanzlei des 18. Jahrhunderts
als Euphemismus für Deportation, die die Strafversetzung von Untertanen aus
88 Elena Polledri

ihrer Heimat in weit entfernte Regionen des Reiches bedeutete (cf. Nowotny
1931, Buchinger 1980).
Sebald verwendet das Wort „Transmigration“ (RS 39) am Anfang seines Ro-
mans Die Ringe des Saturn.1 Ausgangspunkt für die Fußreise des Erzählers ist
das Studium der Werke und des Lebens von Thomas Browne. In seinem Dis-
kurs Hydropatia geht der Arzt und Sohn eines Seidenhändlers, in den „von der
Strömung der Zeit verschonten Dingen“ (RS 37), z. B. in den Überresten in den
Urnen, auf die Suche „nach den Spuren der geheimnisvollen Fähigkeit zur Trans-
migration, die er an den Raupen und Faltern so oft studiert hatte“ (RS 37). Die
Transmigration der Raupe zum Schmetterling symbolisiert alle Mutationen der
Natur und der Geschichte: „Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der
Zerstörung“ (RS 35). Die Idee der Transmigration nimmt der Autor im letzten
Kapitel wieder auf, wo er einen Exkurs über die Naturgeschichte des Seidenwurms
einführt. In Brownes Musaeum Clausum, einem „Katalog merkwürdiger Bücher,
Bildnisse, Antiquitäten“ (RS 321), ist ein Bild eines Wanderstabs aus Bambus zu
finden, den zur Zeit Justinians zwei Mönche aus China nach Europa gebracht
hatten und in dem zwei Eier der Seidenraupe geschmuggelt worden waren; diesem
Hinweis folgend entwirft der Autor eine Erzählung über die durch die Textil-
industrie bedingten gesellschaftlichen Transformationen von Kontinenten über
Jahrhunderte. Die Weltgeschichte wird kontrastiv mit der biologischen Metamor-
phose des Bombyx mori, vom Ei zur Raupe, zur Nymphe und zum Schmetterling
verglichen.2 Die Transmigration erweist sich als eine conditio sine qua non sowohl
des Mikro- als auch des Makrokosmos;3 sie bezeichnet einen hybriden Zwischen-
zustand, in dem das Alte und das Neue zusammenleben, denn der Schmetterling
trägt stets seine Vergangenheit als Raupe in sich. Sebald betont weniger die Ret-
tung der Seele4 als vielmehr ihre Migration in verschiedene Wesen. In demselben
Kapitel beschreibt er die Verwandlungen des Baldanders, einer Figur in Grim-
melshausens Simplicissimus, die sich „in einen Schreiber […] und dann in einen

1 Verweise auf Sebalds Werke in diesem Beitrag unter den Siglen: RS (Die Ringe des
Saturn), Aus (Austerlitz), Agw (Die Ausgewanderten), UH (Unheimliche Heimat), SW
(Schwindel-­Gefühle).
2 Cf. RS: 321–24. Darüber cf. Fischer 2009 b: 37 f.
3 Cf. Kastura 1996; von Steinaecker 2007, insbes. 262 f. Der Autor interpretiert die Seide
als Metapher des Buches und Symbol der Destruktionsgeschichte. Friedrichsmeyer
thematisiert die Ausbeutung der Tiere an dieser Stelle (Friedrichsmeyer 2007).
4 Öhlschläger meint, dass Sebald die Rettungs- und Erlösungsidee des Transmigrations-
motivs und den Hinweis auf das Bild der unsterblichen Seele betont (Öhlschläger
2006: 189–204, insb. 190 f.).
W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen 89

großen Eichbaum, in eine Sau, in eine Bratwurst, in einen Bauerndeck, in einen


Kleewasen, in eine weiße Blume, in einen Maulbeerbaum und einen seidenen
Teppich[.]“ verwandelt (RS 34 f.). Browne, so Sebald, zweifelte trotz seines christ-
lichen Glaubens an der „Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele“ (RS 38) und
versuchte „überall an der lebendigen und toten Materie“ (RS 31) die Struktur des
sogenannten Quincunx zu finden, d. h. eine Ordnung, die ihm Sicherheit vor der
Vergänglichkeit bieten konnte:
Und weil der schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen Ende
unserer Natur, sucht Browne unter dem, was der Vernichtung entging, nach den Spuren
der geheimnisvollen Fähigkeit zur Transmigration, die er an den Raupen und Faltern so
oft studiert hatte (RS 39).

Als solche ist die Transmigration die Chiffre für Sebalds Werk, das, wie im Fol-
genden gezeigt wird, in einer ständigen Migration von einem Ort zum anderen,
von einer Zeit zur anderen und von einer Sprache zur anderen besteht, und dessen
Figuren und Erzähler Ausgewanderte, Grenzgänger (cf. Kastura 1996: 198 f.), Hei-
matlose sind, die in einem Weder-­hier-­noch-­da-­Zustand leben und die „weder in
die eine noch in die andere Schuhschachtel gepaßt haben“ (Poltronieri 1997: 142).

2 „Unheimliche Heimat“
Durch das Wortspiel „unheimliche Heimat“5 bezeichnet Sebald eine Konstante
der österreichischen Literatur, in der sich ein problematisches Verhältnis zum
verlorenen Land der Herkunft zeigt (cf. Pakendorf 2009). Er erklärt den Ausdruck
durch einen Hinweis auf Stifter:
Je mehr von der Heimat die Rede ist, desto weniger gibt es sie. […] Doch zeigt es sich
auch zu Hause, […] daß das Verhältnis der Menschen zu ihrer angestammten Heimat
gebrochen ist von dem Augenblick an, da diese ein literarisches Thema wird. Als Fremde
und Ausländer ziehen die Stifterschen Protagonisten durch die ihnen doch bis ins kleinste
vertraute Gegend; […]. Die Stifter als Heimatschriftsteller reklamierten, übersahen, wie
unheimlich ihm die Heimat geworden war (UH 12).

Ein Vaterhaus, das zur Ruine wird (Der Hochwald), eine Sandwüste (Abdias), ein
Schneesturm, der den vertrauten Berg in ein Labyrinth ohne Ausweg verwandelt
(Bergkristall), sind bei Stifter Bilder einer Heimat, die Angst und Unbehagen er-
regt und kein Refugium mehr bieten kann; dieselben Bilder sind in Sebalds Werk
zu finden. Die Familienhäuser in seinen Romanen sind Ruinen, wie das Haus der
Familie Ashbury in Die Ringe des Saturns, in dem die Schwestern „wie Flüchtlinge“

5 So betitelt Sebald seinen Essayband zur österreichischen Literatur (UH).


90 Elena Polledri

lebten (RS 250), oder das Haus von Selwyn in den Ausgewanderten, das verfallen
und unbewohnt liegt (Agw 8 f.). Auch die Berge, der Geburtsort Sebalds und
Stifters, erregen ein unheimliches Gefühl (cf. Bild, Agw 25): Dr. Selwyn berichtet
vom Tod des Bergführers Naegeli im Schneesturm und bemerkt, dass er sich da-
nach fühlte, als sei er „begraben unter Schnee und Eis“ (Agw 25); in Bergkristall
werden Stifters Kinder von den Dorfbewohnern gerettet und der Berg, der früher
als Grenze und Transitraum die zwei Gemeinden trennte, wird zum Ort der Ver-
söhnung; für Naegeli, Selwyn und alle anderen Transmigranten Sebalds gibt es
hingegen keine Rettung; die Heimat bleibt für sie unheimlich und unerreichbar.

3 Sebalds Topographie der Transmigration: anthropologische


Transiträume
Sebalds Werk erscheint als eine Wanderung ohne Ankunft und Ziel. Die Liste der
Transiträume, in denen sich seine Figuren bewegen, ist lang: Wartesäle, Hotels,
Museen, Flughäfen, Bahnhöfe.6 Andere Bilder des Transitorischen sind Türen,
Tore, Portale, Fenster, Karawanen, Zelte. Sie besitzen aber nicht nur die Eigen-
schaften von Augés Nicht-­Orten, sondern zum Teil Aspekte von seinen anthro-
pologischen Orten; sie werden zu lieux de mémoire7:
Diese Orte haben zumindest drei Merkmale gemein. Sie verstehen sich (sie werden ver-
standen) als identisch, relational und historisch (Augé 1994: 64).
So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert
ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch
bezeichnen läßt, einen Nicht-­Ort (ibid. 92).

Im Roman Austerlitz erinnert sich der Protagonist an der Liverpool Street Station
plötzlich an seine Ankunft in London „in diesem Wartesaal […] vor mehr als
einem halben Jahrhundert“ (Aus: 201), als er von einem fremden Ehepaar abge-
holt worden war. Der Bahnhof, der nach Augés Typologie der Nicht-­Ort par
excellence ist, d. h. ein geschichtsloser Ort des Durchgangs bzw. des räumlichen
und zeitlichen Dazwischens, wird bei Sebald zu einem anthropologischen Ort, in
dem das Ich sein Gedächtnis wiederfindet und seine Identität zu rekonstruieren
versucht; die Identität, die hier wieder auftaucht, ist aber die gespaltene Identität

6 Zu Sebalds Räumen als Nicht-­Orten cf. Niehaus 2013.


7 Wie Kataryna Lukas betont, weisen der Bahnhof und die Bibliothek in Austerlitz eine
identitätsstiftende Funktion im Sinne Augés auf (Lukas 2013: 134 f.); sie meint, dass die
Nicht-­Orte zu Räumen für das kulturelle, kommunikative und individuelle Gedächtnis
werden, das die Identität des Protagonisten rekonstruiert.
W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen 91

eines heimatlosen Transmigranten. So ist Sebalds Bahnhof ein anthropologischer


Ort, denn er ist ein Raum für individuelles und kulturelles Gedächtnis (lieu de
mémoire);8 er bleibt zugleich aber auch ein Nicht-­Ort, denn das individuelle
Gedächtnis führt den Protagonisten zur Feststellung des unwiederbringlichen
Verlusts der eigenen Identität. Augé meint, der anthropologische Ort sei „kon-
stitutiv für die individuelle Identität“ (Augé 1994: 65), aber in Sebalds Gestalten
ist diese Identität für immer verloren und die Erinnerung ruft nur das Bewusst-
sein dieser Zäsur hervor:
Tatsächlich hatte ich das Gefühl, sagte Austerlitz, als enthalte der Wartesaal, in dessen
Mitte ich wie ein Geblendeter stand, alle Stunden meiner Vergangenheit, alle meine
von jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche, als sei das schwarzweiße
Rautenmuster der Steinplatten zu meinen Füßen das Feld für das Endspiel meines Lebens,
als erstrecke es sich über die gesamte Ebene der Zeit (Aus 200 f.).

Ein anderes wiederkehrendes Bild des Transitorischen ist das Zelt. In Die Ringe
des Saturn ist der Erzähler von den hüttenartigen Zelten der Angler fasziniert,
die sich am Strand aufhalten, d. h. an einem Ort, „an dem sie die Welt hinter sich
haben und voraus nichts mehr als Leere“ (RS 69). Es folgt ein Exkurs über den
Heringsfang, wo diese Fische als „ruhelose Wanderer des Meeres“ (RS 71) be-
zeichnet werden. Im Roman Austerlitz schickt der Protagonist dem Erzähler eine
Ansichtskarte, die eine Zeltkolonie zeigt (Aus 173, Bild 174). Austerlitz gesteht,
dass er sich als Kind stundenlang in der Kinderbibel die Abbildung der Zeltstadt
in der Wüste Sinai anschaute; er hatte den Eindruck, sich nur dort am richtigen
Ort zu fühlen: „Tatsächlich, sagte Austerlitz bei einer späteren Gelegenheit, als er
die walisische Kinderbibel vor mir aufschlug, wußte ich mich unter den winzigen
Figuren, die das Lager bevölkern, an meinem richtigen Ort“ (Aus 85, Bild 86–87).
Er behauptet: „Das Lager der Hebräer in dem Wüstengebirge war mir näher als
das mir mit jedem Tag unbegreiflicher werdende Leben in Bala“ (Aus 88).
Auch die Karawane erscheint mehrmals als Chiffre für eine Existenz ohne
Halt. In den Ausgewanderten nimmt Max Ferber seine Mahlzeit im Café Wadi
Halfa ein, wo sich an der Wand das Fresko einer Karawane befindet (Agw 240); er
gesteht dem Erzähler, er gehöre zu diesem Bild. Cosmo, der exzentrische Freund
von Ambros Adelwarth, versucht der Karawane zu folgen, die am Schluss des
Films Dr. Mabuse von Fritz Lang als eine Halluzination gezeigt wird, und ver-
schwindet dann zusammen mit ihr (Agw 141). In Austerlitz stellt Adela, die

8 Über Gedächtnisorte und kollektives Gedächtnis cf. Nora 1990; Assmann, A. 1993;
Assmann, A. 1999 a; Assmann, A. 1999 b; Assmann, J. 2000. Zu Sebald cf. Sigrud &
Wintermeyer 2007; Fuchs, Long 2007; Lukas 2013.
92 Elena Polledri

Mutter des Freundes Gerald, bei dessen Familie der Protagonist Dauergast ist,
eine ihm unvergessliche Frage: „Siehst du die Wipfel der Palmen und siehst du
die Karawane, die dort durch die Dünen kommt?“ (Aus 166). Die Karawane, das
Zelt, die Bahnhöfe, die Flughäfen symbolisieren das Leben im Transit von Sebalds
Transmigranten.

4 Sebalds Transmigration in der Geschichte: Transiträume als


literarische Gedächtnisorte
Die Nicht-­Orte werden bei Sebald zu lieux de memoire. Im Roman Austerlitz
erzählt der Autor, dass dort, wo sich die Liverpool Street Station befindet, in den
vergangenen Jahrhunderten ein Kloster, ein Friedhof und ein Irrenhaus waren; an
der Stelle des Irrenhauses Bedlam befindet sich heute eine Bar als Vergnügungs-
stätte für die Finanzmenschen. Die Welt vergisst die Geschichte und erweist den
Toten keinen Respekt; die Skelette des Friedhofs kamen nur zufällig erst bei Bau-
arbeiten zu Tage (cf. die Abbildung eines Skeletts und dreier Totenschädel in
Aus 93), „als kehrten die Toten aus ihrer Abwesenheit zurück“ (Aus 195–96).
Das literarische Werk, das die Fotos der Skelette publiziert, erlaubt die sonst
vergessenen Toten in Erinnerung zu behalten. Sebald rekonstruiert mit Akribie
die Geschichte von Ruinen, Burgen; die Beschreibung der Festung Breendonk
in Flandern, in der die SS ein Auffanglager errichtete (Aus 28), wird zum Ort
der literarischen Erinnerung an die Shoah. Dasselbe gilt für Tore und Türen:
Im Abschnitt, der von Terezín, dem ehemaligen Ghetto Theresienstadt, handelt,
befinden sich über mehrere Seiten Photographien verschlossener Fenster und
Hauseingänge (cf. Abbildungen in Aus 275–281). Diese Schwellen werden als
Pforten bestimmt, die den Zugang zu einem Dunkel versperren, mit dem sich
niemand konfrontieren möchte. In der Stadt, die „seit vielen Jahren wieder eine
reguläre Kommune ist“ (Aus 274), besucht niemand das Ghettomuseum; nur
das Schreiben Sebalds verwandelt die versperrten Tore und Türen in Gedächt-
nisorte. In den Ausgewanderten folgt der Erzähler den Spuren der Familie des
Malers Ferber; in Steinach findet er das Tor zum jüdischen Friedhof versperrt.
Die Schlüssel, die er im Rathaus erhält, können es nicht öffnen, so muss er über
die Mauer klettern; im Buch werden die Schlüssel und das Tor abgebildet, wo ein
Stadtschild mit einer verblassten und unlesbaren Schrift hängt (Agw 328 f.). Auf
dem Friedhof ist alles verfallen, so entscheidet sich der Erzähler, angesichts der
„Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen“ (Agw 333) durch
seine Schreibarbeit ihr Vergessen auszugleichen und im literarischen Gedächtnis
die Erinnerung an die Toten aufzubewahren (Agw 332 f).
W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen 93

5 Die Transmigration zwischen den Sprachen:


Mehrsprachigkeit und Übersetzung
Die Transmigration erfolgt in Sebalds Werk auch auf sprachlicher Ebene: Mehr-
sprachigkeit und Übersetzung sind Konstanten seines Schreibens. Neben dem
ständigen Sprachenwechsel zwischen Deutsch und Englisch sind Ausdrücke
auf Tschechisch, auf Französisch, auf Italienisch zu finden. Der zweite Teil von
Schwindel. Gefühle trägt den Titel All’estero; hier wünscht Sebald sich „einer ande-
ren oder, besser noch, gar keiner Nation anzugehören“ (SG 107); im vierten Teil, Il
ritorno in patria, spricht er von seiner problematischen Rückkehr in die Heimat.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Kapitel, die die Beziehung zum ‚Fremden‘
(All’estero) und ‚Eigenen‘ (Il ritorno in patria) bestimmen, einen italienischen Titel
tragen; durch den Rekurs auf eine Fremdsprache betont er die Distanz zu seiner
Heimat und zugleich sein Fremdsein.
Exemplarisch für Sebalds linguistische Transmigration ist eine Stelle, in der
Austerlitz in Prag während eines Gesprächs mit Vera, der Freundin der ver-
storbenen Mutter, die seit der Kindheit verlorenen tschechischen Sprachkennt-
nisse intuitiv wiedererlangt: Vera wechselt plötzlich „aus der einen Sprache in
die andere“ (Aus 227), vom Französischen ins Tschechische, und Austerlitz, der
am Flugplatz nicht fähig gewesen war, einen tschechischen Satz auswendig zu
lernen, beginnt „vom Tschechischen berührt worden zu sein“ und versteht alles
„wie ein Tauber, dem durch ein Wunder das Gehör wiederaufging“; jetzt „woll-
te [er, E.P.] nur mehr die Augen schließen und ihren vielsilbig dahineilenden
Wörtern lauschen in einem fort“ (Aus 227). Das von Vera auf Tschechisch oder
auf Französisch Berichtete wird von Austerlitz auf Englisch erzählt und durch
ihn in indirekter Rede auf Deutsch im Text wiedergegeben. Selbst das Thema
des Gesprächs ist die Mehrsprachigkeit: Erzählt wird, wie Vera und die Mutter
miteinander auf Französisch sprachen, nur zu Hause unterhielten sie sich über
den Alltag auf Tschechisch:
Wenn wir zwischen den Birn- und Kirschbäumen über die Wiesenhänge des Seminargar-
tens gegangen seien oder, an warmen Tagen, durch die schattigeren Gründe des Parks des
Schönbornpalais, sei das Französische, nach einer mit Agáta getroffenen Vereinbarung,
unsere Umgangssprache gewesen, und erst wenn wir wieder heimkehrten, am späten
Nachmittag, wenn sie das Abendbrot für uns bereitete, hätten wir, über häuslichere und
kindlichere sozusagen, tschechisch geredet (Aus 227).

An einer früheren Stelle berichtet der Erzähler, dass er mit Austerlitz am An-
fang nur Französisch gesprochen hatte und dass der Protagonist Französisch
„auf eine so formvollendete Weise“ (Aus 50) sprach, dass er ihn lange für einen
94 Elena Polledri

Franzosen hielt. Als er ins Englische wechselte, merkt der Erzähler hingegen
bei ihm „eine mir bis dahin ganz verborgen gebliebene Unsicherheit“, die sich
„in einem leichten Sprachfehler äußerte und in gelegentlichen Stotteranfällen“
(Aus 50) ausdrückte. Die sprachliche Transmigration betont die Spaltung seiner
Identität: Französisch spricht er gerne und perfekt, denn es erinnert ihn an die
Eltern und an seine Jugend in Paris; der Vater flog nach Paris; die Mutter sprach
mit der Freundin nur Französisch. Tschechisch ist die Sprache der unwiderruf-
lichen Kindheit, die Sprache der Affekte, die er glaubte, für immer vergessen zu
haben und die plötzlich wieder auftaucht. Englisch spricht er mit Unsicherheit
und mit „Stotteranfällen“ (Aus 50), denn dies ist die Sprache seiner unglücklichen
Kindheit in dem Predigerhaus; sie erinnert ihn an den Pflegevater, der ihm auf
Englisch immer nur „von der Sündhaftigkeit und der Bestrafung der Menschen“
(Aus 50) sprach. Deutsch ist die Sprache, in der der Erzähler schreibt; auch die
Erzähler sind Transmigranten und man hat nicht selten den Eindruck, dass die
deutsche Sprache für sie fast eine Fremdsprache ist;9 Sebald selbst behauptete
in einem Interview, dass für ihn das Hochdeutsche von Anfang an eine Fremd-
sprache bzw. eine erworbene Sprache gewesen sei:
Das Einzige, was mich bindet an dieses Land, ist die Tatsache, dass ich aus einer Familie
stamme, die eine deutsche Familie ist und insofern an dieser deutschen Vorgeschichte
mitgewirkt hat, die man nicht einfach ablegen kann. Und dann ist da die Sprache, die mir
natürlich auch etwas bedeutet als eine Art von Floß, auf dem ich sitze in diesem mir auch
nicht vertraut gewordenen englischen Ausland. […] Ich bin nicht im Zentrum Deutsch-
lands aufgewachsen, also nicht in Kassel oder Hannover, sondern in einer Randzone, in
der ein Dialekt gesprochen wurde, der fast so extrem war wie das Schweizerdeutsche.
Das heißt, dass für mich das Hochdeutsche von Anfang an eine Fremdsprache gewesen
ist, die ich mir aneignen musste in meiner späteren Kindheit (Pralle 2001: 16).

Deutsch ist die Sprache des Schreibens, Englisch des Sprechens: Die Erzähler
unterhalten sich mit den Figuren auf Englisch und die direkte Rede ist oft auf
Englisch wiedergegeben. In den Ausgewanderten wird zum Beispiel das Leben
des Protagonisten Selwyn als Eremit, der in dem verwilderten Garten in Ein-
samkeit wohnt, durch folgenden Satz bestimmt: „I was counting the blades of
grass, sagte er zur Entschuldigung für seine Gedankenverlorenheit. It’s a sort of
passtime of mine“ (Agw 10 f.). Das Schwanken zwischen den Sprachen spiegelt
Sebalds ambivalente Beziehung zu England: „In England nur gastweise zuhause,
schwanke ich auch hier zwischen Gefühlen der Vertrautheit und der Dislokation“
(Pralle 2001: 16).

9 Zu Sebald, England und der englischen Sprache cf. Catling 2008.


W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen 95

Englisch wird an einer Stelle auch zur Sprache der Dichtung. In Die Ringe des
Saturns verläuft sich plötzlich der Erzähler in der Heide, die im Traum zu einem
Labyrinth wird; die imaginäre Landschaft, die er sich im Traum vorstellt, fasst er
im folgenden Zitat auf Englisch zusammen: „Night, the astonishing, the stranger
to all that is human, over the mountain-­tops mournful and gleaming draws on“
(RS 206). Es handelt sich um die englische Übersetzung von Hölderlins Elegie
Brod und Wein durch Michael Hamburger:
Look, and in secret our globe’s shadowy image, the moon,
Slowly is rising too; and Night, the fantastical, comes now
Full of stars and, I think, little concerned about us,
Night, the astonishing, there, the stranger to all that is human,
Over the mountain-­tops mournful and gleaming draws on.
(Hölderlin, Hamburger 1980: 243)
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht, kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.
(Hölderlin 1951: 90, vv. 14–18)

Der Erzähler betont sein Fremdsein nicht nur durch den Rekurs auf Hölderlins
Bild der Nacht, sondern auch dadurch, dass er die Verse nicht in seiner Mutter-
sprache, sondern in der englischen Übersetzung Hamburgers zitiert.
Dem Dichter und Übersetzer Hölderlins widmet Sebald die folgenden Seiten.
Als der Erzähler in Middleton ankommt, wird er wegen des deutschen Akzents als
Ausländer angesprochen; vergeblich versucht er in einem Kaufladen ein Mineral-
wasser zu erwerben, kommt aber mit einem Cherry-­Coke heraus (RS 209). Als
er das Haus Michael Hamburgers betritt, schwindet das Gefühl des Fremdseins
und er fühlt sich plötzlich im stillen Garten des Freundes zu Hause (RS 216). Er
erzählt Hamburgers Leben als Exilierter; vor allem betont er aber die Wahlver-
wandtschaft des Freundes mit Hölderlin:
Begleitet einen der Schatten Hölderlins ein Leben lang, weil man zwei Tage nach ihm
Geburtstag hat? Ist man deshalb immer wieder versucht, die Vernunft abzulegen wie
einen alten Mantel, Briefe und Gedichte unterthänigst zu zeichnen als Scardanelli und
die unliebsamen Gäste, die einen anschauen kommen, sich mit Anreden wie Euer Hoheit
und Majestät vom Leib zu halten? Beginnt man mit fünfzehn oder sechzehn Elegien zu
übersetzen, weil man vertrieben worden ist aus seinem Heimatland? Ist es möglich, daß
man sich später in diesem Haus in Suffolk hat niederlassen müssen, nur weil in seinem
Garten die Zahl 1770, das Geburtsjahr Hölderlins, auf einer eisernen Wasserpumpe steht?
For when I heard that one of the near islands was Patmos, I greatly desired there to be
96 Elena Polledri

lodged, and there to approach the dark grotto. Und hat Hölderlin nicht die Patmoshymne
gewidmet dem Landgrafen von Homburg, und war Homburg nicht der Mädchenname
der Mutter? (RS 217)

In seiner Beziehung zu Hamburger empfindet Sebald dieselben „Wahlverwandt-


schaften und Korrespondenzen“ (RS 217), die den Freund mit dem Dichter ver-
binden. Er sieht in ihm „sich selber und wenn nicht sich selber, so doch seinen
Vorgänger“ (RS 217–218), obwohl er auf Deutsch schreibt, während Hamburger
sich für das Englische entschieden hatte. Schon beim ersten Besuch hat er den
Eindruck, dass das Atelierzimmer Hamburgers sein Arbeitszimmer ist und dass
er dort gearbeitet hat (RS: 218). In dem Übersetzer Hamburger, der zwischen
Orten, Zeiten und Sprachen migrierte, findet der Transmigrant Sebald sich selbst,
bei ihm fühlt er sich zu Hause: „Aber warum ich gleich bei meinem ersten Be-
such bei Michael den Eindruck gewann, als lebte ich oder als hätte ich einmal
gelebt in seinem Haus, und zwar in allem geradeso wie er, das kann ich mir nicht
erklären“ (RS 218).
Die Hommage an Hamburger ist nicht die einzige Stelle, an der Sebald vom
Übersetzer als einem Transmigranten zwischen Sprachen spricht. Im siebten Teil
der Ringe des Saturn wird das Leben des Schriftstellers Edward FitzGerald reka-
pituliert; von ihm wird seine erste englischsprachige Übersetzung der Rubaiyats
des persischen Mathematikers und Dichters Omar Khayyam erwähnt. Hier wird
die Übersetzung als ein „Kolloquium mit dem Toten“ und als jener „unsichtbare
Punkt“ (RS 238) bestimmt, „an dem das mittelalterliche Morgenland und das
erlöschende Abendland einander anders als im unseligen Verlauf der Geschichte
begegnen dürfen.“ (RS 238). Der unsichtbare Punkt der Übersetzung scheint
jenem Ort der Begegnung zwischen ‚dem Eigenen‘ und ‚dem Fremden‘ zu ent-
sprechen, von dem Benjamin im Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers10 spricht:
Die von ihm zu diesem Zweck ausgesonnenen englischen Verse fingieren in ihrer schein-
bar absichtslosen Schönheit eine jeden Anspruch von Autorschaft weit hinter sich zurück-
lassende Anonymität und verweisen, Wort für Wort, auf einen unsichtbaren Punkt, an
dem das mittelalterliche Morgenland und das erlöschende Abendland einander anders
als im unseligen Verlauf der Geschichte begegnen dürfen (RS 238).

Im dritten Teil der Ringe des Saturn berichtet Sebald vom phantastischen Bild von
Tlön, einem Weltbild aus der Erzählung von Borges’ Tlön, Uqbar, Orbis Tertius.
In dieser fiktiven neuen Welt werden alle Sprachen verschwinden und durch

10 So bestimmt Benjamin die Aufgabe des Übersetzers: „Jene reine Sprache, die in fremde
gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu
befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers“ (Benjamin 1972: 19).
W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen 97

das Idiom Tlön ersetzt: Tlön wird als eine „Ursprache“ (Borges 2000: 105; im
Original auf Deutsch) bestimmt, „von der die ‚heutigen‘ Idiome und Dialekte
herstammen“ (Borges 2000: 105). Der Erzähler behauptet aber, dass er sich darum
nicht kümmert und weiter an seiner Übersetzung arbeitet:
Alle Sprachen, selbst Spanisch, Französisch und Englisch, werden vom Planeten ver-
schwinden. Die Welt wird Tlön sein. Mich aber, so schließt der Erzähler, kümmert das
nicht, ich feile in der stillen Muße meines Landhauses weiter an einer tastenden, an
Quevedo geschulten Übertragung des Urn Burial von Thomas Browne (die ich nicht
drucken zu lassen gedenke) (RS 91).

Der Übersetzer braucht kein Tlön bzw. keine Ursprache, denn für ihn sind die
Unterschiede zwischen den Sprachen kein Problem; er kann von einer Sprache
zur anderen migrieren und in seiner Übersetzung den unsichtbaren Punkt finden,
der ‚das Eigene‘ und ‚das Fremde‘ verbindet. Er ist nirgendwo und zugleich überall
zu Hause, indem er Brücken zwischen Eigenem und Fremden baut; auf diesen
Brücken bzw. in diesen sprachlichen Transiträumen erkennt er sein provisorisches
Zuhause.

6 Transmigration als „unheimliche Heimat“ und die Dichtung


als „seidener Trauerflor“
„[D]ie Erfahrung des Heimatverlusts [ist] nie wiedergutzumachen“ (UH: 12),
schrieb der Germanist Sebald über die österreichische Literatur; die „Dissoluti-
on und Zerrüttung der natürlichen Heimat des Menschen“ (UH: 14), die er bei
Bernhard und Handke erkannte, findet der Leser auch in seinen Werken. Das
geographische, historische und sprachliche Transmigrieren seiner Gestalten zeigt,
dass die Heimat auch für ihn unwiderruflich verloren war. Hölderlin behauptete:
„Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!“ (Hölderlin 1946: 307, v. 41); die Dichtung
bot hingegen Sebald kein Asyl, kein Zuhause; die Heimat, die in ihr vorkommt,
ist eine ‚unheimliche Heimat‘, die nur als absentia präsent ist. Die Aufgabe der
Dichtung war für ihn weder die Rekonstruktion einer verlorenen Heimat noch die
Stiftung einer neuen, wie er am Ende von Die Ringe des Saturn durch den Rekurs
auf die Seidenmetapher zu verstehen gibt:
[I]n Holland sei es zu seiner Zeit Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen alle Spiegel
und alle Bilder, auf denen Landschaften, Menschen oder Früchte der Felder zu sehen
waren, mit seidenem Trauerflor zu verhängen, damit nicht die den Körper verlassende
Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick, sei es
durch den ihrer bald auf immer verlorenen Heimat (RS: 350).
98 Elena Polledri

Der seidene Trauerflor kann als Symbol der Dichtung gelesen werden: Nach
Sebald ist sie nicht imstande, den Heimatverlust wiedergutzumachen, sie bietet
den Flüchtlingen keine neue Heimat an, sondern begleitet sie nur in ihrer ewigen
Wanderung und schützt sie vor der Gewalt und der Verzweiflung des Verlusts;
sie lindert nur die Trauer um die ‚Transmigration‘ und macht sie für eine Weile
erträglich.

Literatur
Primärliteratur
Borges, Jorge Luis 2000: „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, in: Borges: Erzählungen,
übers. v. Horst, Karl August, München, Wien: Hanser 2000: 99–118
Hölderlin, Friedrich 1946: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, ed. Fried-
rich Beißner, Bd. 1.1, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag
Hölderlin, Friedrich 1951: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, ed. Fried-
rich Beißner, Bd. 2.1, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag
Hölderlin, Friedrich 1980: Poems and Fragments, übers. von Michael Hamburger,
Cambridge etc.: Cambridge University Press
Sebald, Winfried G. 1990: Schwindel. Gefühle, Frankfurt a. M.: Eichborn [SG]
Sebald, Winfried G. 42012: Unheimliche Heimat. Essays zur österreichischen Li-
teratur, Frankfurt a. M.: Fischer [UH]
Sebald, Winfried G. 122012: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frank-
furt a. M.: Fischer [RS]
Sebald, Winfried G. 62013: Austerlitz, Frankfurt a. M.: Fischer [Aus]
Sebald, Winfried G. 142013a: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frank-
furt a. M.: Fischer [Agw]

Sekundärliteratur
Assmann, Aleida 1993: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte
der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M.: Campus-­Verlag
Assmann, Aleida 1999 a: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kul-
turellen Gedächtnisses, München: Beck
Assmann, Aleida 1999 b: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer,
Köln / Weimar / Wien: Böhlau
Assmann, Jan 2000: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München:
Beck
W.G. Sebalds „Transmigration“ zwischen Räumen, Zeiten und Sprachen 99

Augé, Marc 1994: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit, aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt a. M.:
Fischer
Benjamin, Walter 1972: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: id.: Gesammelte Werke,
Bd. IV.1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 9–21
Breidenbach, Joana & Ina Zukrigl 2002: „Widersprüche der kulturellen Globali-
sierung: Strategien und Praktiken“, in: Politik und Zeitgeschichte: Globalisierung
und kulturelle Differenz 12 (2002): 19–25, im Internet unter http://www.bpb.
de/publikationen/4F6Z0Z.html [20.08.2014]
Buchinger, Erich 1980: Die „Landler“ in Siebenbürgen. Vorgeschichte, Durch-
führung und Ergebnis einer Zwangsumsiedlung im 18. Jahrhundert, München:
Oldenbourg
Catling, Jo 2008: „W.G. Sebald: ein ‚England-­Deutscher‘? Identität, Topographie,
Intertextualität“, in: Heidelberger-­Leonard (ed.) 2008: 25–52
Fischer, Gerhard (ed.) 2009 a: W.G. Sebald: Schreiben Ex Patria / Expatriate Wri-
ting, Amsterdam: Rodopi.
Fischer, Gerhard 2009 b: „Schreiben ex patria: W.G. Sebald und die Konstruktion
einer literarischen Identität”, in id. (ed.) 2009 a: 27–44
Friedrichsmeyer, Sara 2007: „Sebalds Heringe und Seidenwürmer“, in: Sigrud &
Wintermeyer (eds.) 2007: 11–26
Fuchs, Anne & Jonathan James Long 2007: W.G. Sebald and the Writing of History,
Würzburg: Königshausen & Neumann
Glick Schiller, Nina & Linda Basch & Cristina Blanc-­Szanton 1992: „Towards a
transnationalization of migration: race, class, ethnicity and nationalism recon-
sidered“, in: The annals of the New York Academy of Sciences 645 (1992): 1–24
Heidelberger-­Leonard, Irene (ed.) 2008: W.G. Sebald. Intertextualität und Topo-
graphie, Berlin u. a.: LIT
Kastura, Thomas 1996: „Geheimnisvolle Fähigkeit zur Transmigration”, in: Arca-
dia 31 (1996): 197–216
Lukas, Katarzyna 2013: „Das Gedächtnis der Architektur. Zur identitätsstiftenden
und -störenden Kraft von ‚Nicht-­Orten‘ in Austerlitz von W.G. Sebald“, in:
Miriam Kanne (ed.) 2013: Provisorische und Transiträume. Raumerfahrung
„Nicht-­Ort“, Berlin: LIT: 131–149
Niehaus, Michael  & Claudia Öhlschläger (eds.) 2006: W.G.  Sebald. Politische
Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin: Erich-­Schmidt-­Verlag
Niehaus, Michael 2013: „Haltlosigkeit. Einrichtungen“, in: Christian Schulte &
Winfried Siebers (eds.) 2013: Figuren der Erinnerung. Studien zum Werk Se-
balds, Wien / Berlin: LIT: 9–24
100 Elena Polledri

Nora, Pierre 1990: „Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte“,


in: id.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin: Wagenbach: 11–33
Nowotny, Ernst 1931: Die Transmigration ober- und innerösterreichischer Protes-
tanten nach Siebenbürgen im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der
„Landler“, Jena: Fischer
Öhlschläger, Claudia 2006: „‚Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau‘.
W.G. Sebalds poetische Zivilisationskritik“, in: Niehaus & Öhlschläger (eds.)
2006: 189–204
Pakendorf, Gunther 2009: „Als Deutscher in der Fremde. Heimat, Geschichte und
Natur bei W.G. Sebald“, in: Fischer (ed.) 2009 a: 91–106
Poltronieri, Marco 1997: „Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Ge-
spräch mit W.G. Sebald“, in: Franz Loquai (ed.) 1997: W.G. Sebald, Eggingen:
Isele: 138–144
Pralle, Uwe: „‚Mit einem kleinen Strandspaten‘ Abschied von Deutschland neh-
men: Ein Gespräch aus dem Nachlass über das Wandern, das Graben und das
Schreiben“, in: Süddeutsche Zeitung 22.12. (2001): 16
Sigrud, Martin und Ingo Wintermeyer (eds.) 2007: Verschiebebahnhöfe der Er-
innerung. Zum Werk W.G. Sebalds, Würzburg: Königshausen & Neumann
von Steinaecker, Thomas 2007: Literarische Foto-­Texte. Zur Funktion der Fotografie
in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds,
Bielefeld: transcript
Elena Giovannini (Bologna)

Begegnungen und Bewegungen im


‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder:
Heinrich Bölls Der Bahnhof von Zimpren

Abstract: According to Henri Lefebvre, every society produces its own space. In Heinrich
Böll’s Der Bahnhof von Zimpren (1958) the railway station acts as a spatial metaphor for
the economic processes in 1950s German society – which Böll depicts in a critical and
ironic way.  Following the discovery of oil fields, the small fictional town of Zimpren expe-
riences a rapid development of modern infrastructure. Symbolising the town’s economic
development towards aggressive capitalism, including its social consequences, the new
multifunctional railway station can be seen as a transit space. However, being also a ‘non-­
place’ (Augé), it creates neither identity nor relations. Moreover, not everyone is part of
the new Zimpren: two outsiders – the widow Klipp and her servant Goswin – remain and
embody what Augé refers to as ‘places of memory’. They stand for the more consistent,
rural economy, thereby contrasting the sudden economic upturn. After Zimpren falls into
economic decline once again, the station quickly becomes peripheral, empty and quiet.
More critically even, it turns into a ‘heterotopia of deviation’ (Foucault), where railway of-
ficials are transferred to for disciplinary reasons. Ironically, it is widow Klipp’s agricultural
investment that provides a new boost to the local economy. The modern railway station
turns into a depot for her tools and tractors, offering a ‘spatial revenge’ to the more consis­
tent and traditional economic processes. In this text, the economic miracle is then shown
metaphorically as both a dynamic and a static decayed ‘transit space’.

Laut Henri Lefebvre spiegelt die Produktion des Raumes bestehende Machtver-
hältnisse wider und verfestigt sie, denn „jede Gesellschaft […] produziert einen
ihr eigenen Raum“ (Lefebvre 72012: 330 f.). Im Falle von Heinrich Bölls Der Bahn-
hof von Zimpren (Böll 2005 a)1 zeigt sich der Bahnhof als Ergebnis wirtschaftlicher
Prozesse, die den Raum und die Gesellschaft markieren und die Böll mit kritischer
Ironie darstellt.
In diesem Text dient der Raum nicht als bloßer Hintergrund, sondern er wird
mit Bedeutungen versehen, die die Ortslosigkeit und die „De-­Territorialisierung“2
des Kapitalismus in Frage stellen. Der wirtschaftliche Aufschwung und die rasante

1 Verweise auf den Primärtext im Folgenden unter der Sigle BZ.


2 D.h. die Entgrenzung wirtschaftlicher Prozesse und die kapitalistische Auflösung von
Ortsbindungen „in einen globalen Raum der Ströme“ (Günzel 2010: 152).
102 Elena Giovannini

Modernisierung Deutschlands in den fünfziger und sechziger Jahren werden in


Bölls Werken häufig thematisiert, um die Kehrseite des Wirtschaftswunders auf-
zudecken. Systemkritisch ist auch Der Bahnhof von Zimpren, in dem sich Bölls
Dissens zur profitorientierten Wohlstandsgesellschaft in Verräumlichungspro-
zessen äußert.3
Zimpren ist ein ländlicher Fantasieort, dessen Urbanisierung sich durch erfolg-
reiche Ölbohrungen rasch vollzieht. Wie Augé bemerkt, ist „die Stadt […] in
zunehmendem Maße der Raum, in dem sich Geschichte ereignet – das heißt
auch: in dem sich ihre Beschleunigungen, ihr Taumel und ihre Widersprüche auf-
zeichnen“ (Augé 2000: 177). Was Zimpren betrifft, wird die Textur der Stadt durch
eine sowohl raumkonstituierende als auch raumzerstörende Handlung verändert,
d. h. durch die Ausbeutung der Rohstoffquellen, die einerseits die rasche Stadtent-
wicklung fördert und das Land im kapitalistischen Rausch blendet, andererseits
die traditionellen Gesellschafts- und Kulturmodelle entwertet und schließlich zur
urbanen Stagnation führt, wenn sich das Wirtschaftswunder als Illusion erweist.4
Die Entdeckung von Öl erzeugt in Zimpren städtische Räume. „Kolonien von
Wellblechbaracken, Verkaufsbuden, Kinos“ (BZ 430) werden im Laufe der Zeit zu
einer wohlgeordneten Kleinstadt; am bedeutendsten ist aber der neue Bahnhof,

3 Auf Vorschlag des Feuilletonchefs Rudolf Walter Leonhardt geschrieben und am


18.07.1958 in der Zeit erschienen, zeigt Der Bahnhof von Zimpren Misstrauen gegen-
über Deutschlands rascher Industrialisierung. Obwohl dieses Werk durch die Litera-
turkritik bisher wenig beachtet wurde, ist Bölls Engagement ein in der Literaturwissen-
schaft oft behandeltes Thema. Beispiele dafür sind folgende Beiträge: Windfuhr 1971;
Ghurye 1976; Lehnardt 1984; Balzer 1992; Nordbruch 1994; Bernhard 1995.
4 Wie im Bahnhof von Zimpren behandelt Böll in der Erzählung Im Ruhrgebiet (am
10.01.1958 vom Bayerischen Rundfunk gesendet) das Thema Industrialisierung und
Verwertung der Bodenschätze: Kein Öl, sondern Kohle und Stahl lösen den kapitalis-
tischen Taumel in Norddeutschland aus. Wie in der erfundenen Stadt Zimpren steigt
auch im Ruhrgebiet die Bevölkerungszahl, die Urbanisierung entwickelt sich rasch,
neue Infrastrukturen werden geschaffen, die Landschaft verdirbt, und die Eisenbahn
spielt eine führende Rolle im Waren- und Personenverkehr. Obwohl Im Ruhrgebiet
sachlicher, realistischer und weniger ironisch als Der Bahnhof von Zimpren ist, üben
beide Texte Kritik am schädlichen Einfluss des deutschen ökonomischen Aufschwungs.
Cf. Böll 2005b. Ausführliche Darstellungen des Wirtschaftswunders und seiner Folgen
in der BRD finden sich bei Hermand 1986: 221–263, 521–588 sowie Schiessler 2001.
Heinrich Böll beschäftigt sich mit dem Thema Öl auch im Jahre 1964 in Stichworte. Un-
ter dem Stichwort „Wetter“ geht es um die sogenannten „Giftküchen“ (Böll 1967: 159),
d. h. Ölraffinerien, die die Landschaft und die Einwohner vergiften. Im Unterschied
zum Bahnhof von Zimpren wird hier die Kritik am deutschen Wirtschaftssystem vor
allem am Beispiel der Umwelt vorgetragen.
Begegnungen und Bewegungen im ‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder 103

den die Bahnverwaltung mit großer Geschwindigkeit bauen lässt, „ein großes,
modernes, […G]ebäude mit großem Wartesaal, Benzinbad, Aktualitätenkino,
Buchhandlung, Speisesaal und Güterabfertigung“ (BZ 431).5 Da die deutsche
Bahn nach Kriegsende als Verkehrsmittel an Ansehen verliert, wird die Funk-
tion der Bahnhöfe um kommerzielle und kulturelle Einrichtungen erweitert.
Auch der neue Bahnhof von Zimpren unterliegt der „Kommodifizierung, d. h.
ein[em] Prozess der Kommerzialisierung bzw. des ‚zur Ware Werdens‘ von bisher
öffentlichen Räumen“ (Günzel 2010: 149).6 Der Bahnhof der Kleinstadt wird zu
einem polyfunktionalen Transitraum, zu einem Knotenpunkt im Verkehrs- und
Wirtschaftsnetz, der den Übergang zum aggressiven Kapitalismus und die darauf-
folgenden sozialen Transformationen verräumlicht.
Bestehende Identitätskonzepte werden durch den industriellen Erfolg und das
rasche Bevölkerungswachstum in Zimpren in Frage gestellt, so dass die Identität
nicht geographisch und kulturell, sondern zunehmend ökonomisch bedingt ist.
Die meisten Figuren sind keine gebürtige Zimprener, sondern Menschen, die we-
gen der Ölbohrungen auf Arbeitssuche in die Kleinstadt gezogen sind. Das neue
Bahnhofsgebäude erweist sich als Katalysator einer erheblichen Wanderungs-
bewegung: Am Bahnhof kommen die Arbeiter voller Hoffnungen auf die Zukunft
an, und vom Bahnhof fahren viele wieder ab, nachdem ihr Wohlstandstraum ge-
platzt ist. Da die Identität der Figuren hauptsächlich wirtschaftlich begründet ist,
erscheint sie genauso transitorisch und prekär wie das von Böll dargestellte Wirt-
schaftswunder. Außerdem bleiben Figurennamen oft unerwähnt: ein Zeichen des
drohenden Identitätsverlusts des Einzelnen, der nicht als Individuum, sondern
als Teil des kapitalistischen Räderwerkes wahrgenommen wird.7

5 Laut Manfred Durzak dachte Böll bei dieser Schilderung an den Bahnhof Rolandseck
im Rheintal, „ein prächtiges, nutzlos gewordenes Fossil der Wilhelminischen Gründer-
zeit“ (Durzak 1980: 386). Züge und Bahnhöfe sind wiederkehrende Motive im Werk
Heinrich Bölls, u. a. in Kumpel mit dem langen Haar (1947), Abschied (1948), Ver-
wundung (1948 entstanden, 1983 veröffentlicht), Der Zug war pünktlich (1949), Hier
ist Tibten (1953), Im Tal der donnernden Hufe (1957), cf. Falkenstein 1966: 51–52.
6 Zum Thema Infrastruktur cf. Sieverts 1983; Achen & Klein 2002; Korn 2006.
7 Wenn der Text über Angestellte der Bahn oder der Ölfirma berichtet, wird stets ihre
Profession erwähnt, z. B. der Chef des Verwaltungsbezirks Wöhnisch, der Bahnhofs-
vorsteher, der junge Ingenieur und der Vorsteher der Fahrkartenabteilung (BZ 431,
433, 434, 437). Identitätsstiftend ist in ihrem Fall hauptsächlich die Stellung, die sie
sich in der Arbeitswelt verschafft haben. Namen werden manchmal mitgeteilt, wenn
es um Figuren geht, die als Opfer des Wirtschaftswunders betrachtet werden können,
wie z. B. der Bahnhofsvorsteher Weinert, der junge Bahnsekretär Suchtok und der
Bahnschaffner Uhlscheid (BZ 435, 437, 438). Durch wenige und knappe konkrete
104 Elena Giovannini

Der Bahnhof ist durch „ein riesiges Fresko des genialen Hans Otto Winkler“
(BZ 436) dekoriert, das die Kulturgeschichte des Rades schildert; darüber ließ
die Bahnverwaltung das Motto „Der Mensch und das Rad“ (ibid.) anbringen.
Thematisch passt das Kunstwerk sehr gut zum Bahnhofsgebäude, da eben das
Rad als Symbol des Fortschritts und der Bewegung gelten kann (cf. Chevalier &
Gheerbrant 131999: 305–309). In der neuen Infrastruktur erweist sich die Kunst
als mit der Industrialisierung und der Wirtschaft eng verbunden, deswegen kann
sie weder eine identitätsstiftende Wirkung ausüben noch in der Krisenzeit für
den nötigen rettenden geistigen Elan Zimprens sorgen. Beispielhaft dafür ist der
Mangel an Rezipienten: Da die Bahnbeamten die Nordseite des leeren Gebäudes
meiden, bleibt als einziger Betrachter des Freskos der schwachsinnige Goswin,
der vor dem Meisterwerk seine Brotzeit einnimmt (BZ 436). Die fehlende in-
tellektuelle Begabung der Figur hindert jede geistige Auswirkung der Kunst, und
der Verzehr der Mahlzeiten entwürdigt das Werk des großen Malers.
Nicht einmal die Wissenschaft spielt eine positive Rolle, denn der namenlose
Student, der über Otto Winkler promoviert und oft nach Zimpren fährt, um
das Fresko zu fotografieren, wird als unproduktiver Materialist geschildert. Er
weilt stundenlang im Bahnhof, auf gutes Licht wartend, und beschwert sich über
die Ausstattung des Gebäudes. Auch auf wirtschaftlicher Ebene trägt er nichts
bei, weil er die Gepäckaufbewahrung nicht nutzt und bei jeder Fahrt nach Zim-
pren bereits eine Rückfahrkarte gelöst hat (BZ 439). Im Bahnhof offenbart sich
die Wirkungslosigkeit der sich mit der gegebenen Ordnung abfindenden Kunst
und Wissenschaft; beide können durch die verhängnisvollen Umwälzungen der
Wirtschaft selbst betroffen sein und sind nicht imstande, funktionierende Gegen-
modelle zu entwerfen.
Im Text verdichtet sich der urbane Raum in einem Transitraum, der als Schau-
platz der Begegnungen von anonymen, austauschbaren und entindividualisierten
Figuren dient und ein auf Geld fokussiertes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell
architektonisch darstellt. Der Bahnhof entpuppt sich sowohl als Kathedrale des
Fortschritts als auch als Nicht-­Ort, d. h. als „Maß unserer Zeit“ (Augé 1994: 94)8
und als Negation von Identität, Relation und Geschichte. Die Herrschaft der Ak-
tualität und die fehlende Integration der Vergangenheit in die Gegenwart sind
weitere Merkmale der Infrastruktur, die auf Nicht-­Orte zurückgeführt werden

Beispiele zeigt der Text, wie das scheinbar unaufhaltsame Wirtschaftswunder in der
Tat auch ausbleiben kann. Nach Meinung von J. P. Muranges fungiert Bölls Darstel-
lung kollektiver und individueller Schwierigkeiten eher als Warnung denn als Anklage
(Muranges 1973: 136).
8 Cf. auch Augé 2000: 179.
Begegnungen und Bewegungen im ‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder 105

können.9 Entscheidend ist diesbezüglich das Adjektiv ‚neu‘: Dank dem „neuen
Segen“ (BZ 431) der Ölbohrungen, der die Urbanisierungs-, Wirtschafts- und
Gesellschaftsdynamik Zimprens bedingt, beherrscht der „neue[…] Bahnhof “
(BZ 435 f.) den zeitgemäß entwickelten städtischen Raum. Die auf die Geschichte
nicht achtende Modernität setzt sich rasch durch und schließt die Vergangenheit
aus. Die Felder um den Bahnhof bezeugen es, indem sie – die letzten Spuren
der inaktuell gewordenen Landwirtschaft – durch die Ölfirma fast ausnahmslos
zubetoniert und zerstört werden (BZ 432).
Als figurale nichtintegrierbare „Orte[…] der Erinnerung“ (Augé 1994: 93)
gelten vor allem zwei Außenseiter: die Witwe Klipp und ihr Knecht Goswin.
Genauso wie die von Augé erwähnten „alten Orte“ (ibid.) nehmen sie einen mar-
ginalen, „speziellen, festumschriebenen Platz [in Zimpren] ein“ (ibid.), denn sie
erweisen sich als Vertreter eines im Wirtschaftswunder überwundenen und auf
Tradition, Identität und räumliche Kontinuität gegründeten ländlichen Gegen-
modells. Die einzigen über die Figuren mitgeteilten Informationen – das erheb-
liche Alter der Witwe, die geringen intellektuellen Fähigkeiten des Knechtes und
die Trinkfestigkeit beider – verstärken die Fremdheit Frau Klipps und Goswins,
weil beide der Dynamik, der Modernität und dem Leistungsstandard des ‚neuen
Zimpren‘ nicht angepasst sind. In den Kneipen werden die Witwe und ihr Knecht
„als folkloristischer Überrest, Repräsentanten der Urbevölkerung“ (BZ 431) ent-
würdigt, ihre warnenden Sprüche – Relikte der Volksweisheit – missachtet.10 Jedes
Hindernis der kapitalistischen Wirtschafts- und Raumbeschleunigung wird in
Zimpren beseitigt.
Während des ökonomischen Aufschwungs treten die Außenseiter auf der
räumlichen Ebene als Störung auf, weil Frau Klipp sich weigert, der Ölfirma ihre
ganz in der Nähe des Bahnhofs liegenden Felder zu verkaufen. Zunächst werden
die Äcker als Behinderung der Entwicklung angesehen, später werden sie aber
„von klugen Architekten als ‚äußerst rares Dekorum‘ städtebaulich eingeplant und
gepriesen“ (BZ 432). In der Produktion des sozialen Raumes bleibt der Naturraum
„als Bildhintergrund, als Dekor, das mehr als bloßes Dekor ist, bestehen, und jedes
Detail, jeder Naturgegenstand erfährt eine Aufwertung, indem er symbolisch
wird“ (Lefebvre 72012: 330): Dem Land Frau Klipps wird in Zimpren dekorative
Funktion zugeschrieben, aber es ist kein Stück wilder Natur, sondern es wird

9 Zu diesen Aspekten cf. Augé 1994: 118. Kritische Behandlungen literarischer Nicht-­


Orte finden sich u. a. bei Calabrese & D’Aronco 2005; Däumer & Gerok-­Reiter &
Kreuder 2010.
10 „Trauet der Erde nimmer, nimmer traut ihr“ (BZ 431), „ihr werdet’s ja sehen, sehen
werdet ihr’s“ (BZ 431 f.).
106 Elena Giovannini

mit „Kohlköpfe[n], Kartoffeln und Rüben“ (BZ 432) bestellt. Die Felder bieten
also keine utopische Fluchtmöglichkeit in eine ursprüngliche Welt, sondern sym-
bolisieren ein zum Wirtschaftswunder alternatives Wirtschaftsmodell.
Bald wird aber der Erdölstrahl dünner, und die durch den sprechenden Na-
men der Ölfirma – „Sub terra spes“ (ibid.) – verkündeten Hoffnungen werden
bitter enttäuscht. Bölls Ironie deckt jetzt die Lügen und Kniffe des Kapitalismus
auf: Tankwagen importieren heimlich Öl nach Zimpren, um die traurige Wahr-
heit zu verbergen (ibid.). Wenn aus der Erde gar nichts mehr strömt, wird das
Versiegen offiziell als vorläufig bezeichnet, obwohl die Eingeweihten um seine
Endgültigkeit wissen (BZ 433). Später wird sogar Sabotage unterstellt; auf der
Suche nach den Tätern verhaftet die Polizei Goswin, weil er früher in einem
Wohnblock mit kommunistischen Straßenbahnern gewohnt hatte, und durch-
sucht Frau Klipps Wohnung, in der ein verdächtiges rotes Strumpfband gefunden
wird (BZ 434). Schließlich werden politische Ursachen für das Erlöschen der
Firma fingiert (ibid.).
Der Text zeigt nicht nur die betrügerische, sondern auch die zynische Seite
einer profitorientierten Gesellschaft: Da die Arbeitslosen im Alkohol Zuflucht
suchen oder aus Verzweiflung aus Zimpren fliehen, erleben die Gaststätte und
die Billettschalter des Bahnhofs eine unverhoffte Blütezeit (BZ 433). Im skru-
pellosen Kapitalismus kann auch eine schwere Krise zu einem guten Geschäft
werden.
Zimpren verödet rasch: „Bohrtürme werden abmontiert, Baracken versteigert,
[…] die Wohnblocks w[e]rden auf Abbruch verkauft, Kanalisationsröhren aus
der Erde gerissen. Ein ganzes Jahr lang [ist] Zimpren das Dorado der Schrott-
und Altwarenhändler“ (BZ 434). Das einzige, was unverändert bleibt, ist der
neue Bahnhof (BZ 435 f.), der sich der Räumung der Kleinstadt widersetzt, die
Identität der Ortschaft weiter bekräftigt und für eine fassadenhafte räumliche
Kontinuität sorgt. Seine Blütezeit ist aber vorbei, und der Bahnhof rückt vom
Verkehrs-, Gesellschafts- und Wirtschaftszentrum an die Peripherie: Nur noch
zwei Züge halten täglich in Zimpren, und laut jährlichem Kassenbericht der Bahn
belaufen sich die Einnahmen auf nur dreizehn Mark achtzig (BZ 436, 438). In
der Krisenzeit wird das große Gebäude zu einem Transitraum ohne Transit und
Begegnungsmöglichkeiten, das wegen Mangel an Bewegungen und Aktivitäten
nicht mehr als ‚Raum‘ im Sinne de Certeaus betrachtet werden kann.11

11 Siehe de Certau 1988: 218: „Der Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Ge-
schwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist
ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der
Bewegungen erfüllt, die sich in ihm aufhalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten“.
Begegnungen und Bewegungen im ‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder 107

Wie eine Heterotopie im medizinischen Bereich kann auch die jetzt überdi-
mensionierte Infrastruktur als „a result of developmental anomaly“ (Underwood
2000: 96) bezeichnet werden. Der Bahnhof zeigt sich als ein pathologisches Pro-
dukt eines ›kranken‹ Wirtschaftssystems. Er wird außerdem zum „Strafbahnhof “
(BZ 438) für aufsässige, problematische und alkoholsüchtige Angestellte herab-
gewürdigt. Als „Ort, an [dem] man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom
Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“ (Foucault 2005: 937),12
weist der verfallene Bahnhof Merkmale einer Abweichungsheterotopie auf. Für
die Bahn wird Zimpren „zum Inbegriff des Schreckens“ (BZ 430), zu einem
„Ort[…] mit Anstaltcharakter, d[er] eine gesellschaftliche Ordnungs- und Aus-
schlussfunktion wahrn[immt]“ (Baum 2010: 92). Vergeblich hoffen die fünfzehn
Bahnbeamten, die Kleinstadt verlassen zu können: „[M]an kann nur nach Zim-
pren strafversetzt werden, nicht von Zimpren weg“ (BZ 440).
Aktiv wird schließlich Frau Klipp, die fast die ganze Kleinstadt aufkauft, als
die Grundstückspreise auf ein Zehntel ihres ursprünglichen Wertes fallen. Diese
„Spekulation“ (BZ 435) zeigt, dass auch die Außenseiterin nach Besitz strebt
und sich der sogenannten ‚Leistungsgesellschaft‘ nicht entzieht. Diesbezüglich
spielt auch ihr Verhältnis zu Goswin eine Rolle: Er ist ihr „Knecht“ (BZ 431), ein
Untergebener, dessen Funktion durch Unterordnung und Bezahlung gekenn-
zeichnet wird und der sich somit in einem ökonomischen und hierarchischen
Rahmen befindet. Die Alternative, die die Witwe verkörpert, ist also nicht von
der Gesellschaft und der Wirtschaft abgesondert: Frau Klipp versucht, einen
alternativen Gebrauch des Raumes durchzusetzen, der einem aufrichtigeren,
der Umwelt und den Menschen näheren und dennoch rentablen Kulturmodell
entspricht.
Ziel der Witwe ist es, die Landwirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Schwierigkeiten stellen sich aber schon am Anfang ein, denn es gelingt der äl-
teren Dame nicht, „ausreichend Personal zur Bewirtschaftung des Bodens nach
Zimpren zu locken“ (BZ 435). Die von Frau Klipp gebotene ländliche Alternative
ist offenbar in der Wohlstandsgesellschaft nicht besonders reizvoll, zudem bilden
die Schrumpfung der Kleinstadt und die geringen Bewegungs- und Begegnungs-
möglichkeiten weitere Hindernisse. Der Mangel an Pächtern spiegelt dabei die
reale wirtschaftliche Lage Deutschlands in den fünfziger Jahren wider, als die
Zahl der Landarbeiter stark zurückging.13

12 Foucault beschäftigt sich ausführlicher mit Gefängnissen und Bestrafung in Foucault


1977.
13 Von 5,0 Prozent im Jahre 1950 auf 1,6 Prozent elf Jahre später, cf. Hermand 1986: 226.
108 Elena Giovannini

Die Erzählung bleibt offen, und der Leser erfährt nicht, ob Frau Klipps Vor-
haben zum Schluss gelingen wird. Trotzdem ist die Initiative der Witwe von
großer Bedeutung, denn sie fördert die Überwindung eines aggressiven und be-
trügerischen Wirtschaftsmodells zugunsten eines anscheinend stabileren und
zuverlässigeren. Der verheißene langfristige Wohlstand, den der moderne und
solide Bahnhof in Zimpren verräumlichte,14 war in der Tat vergänglich. Das Wirt-
schaftswunder selbst wird von Böll in diesem Text metaphorisch als ‚Transitraum‘
dargestellt, d. h. als Knotenpunkt im ökonomischen Werdegang des Landes, der
durch hohe ‚Besucherfrequenz‘ (die durch verlockende Perspektiven angezogene
Arbeitskraft), Beweglichkeit (Geld-, Waren- und Arbeiterstrom), temporären
Aufenthalt (prekäre Arbeitsstellen) und funktionsbedingte Identitätsstiftung
(Menschen werden nur als Arbeiter betrachtet) charakterisiert ist.
Der geschilderte Übergang zum ländlichen Gegenmodell erfolgt nicht kon-
fliktlos;15 der Wandel des Wirtschaftssystems führt aber nicht zur totalen Ne-
gation der durch den Bahnhof verräumlichten ökonomischen Ansätze, weil
kapitalistische Merkmale sowohl die Witwe als auch ihren landwirtschaftlichen
Betrieb kennzeichnen. Die große moderne Infrastruktur bleibt bestehen, aber
im neuen wirtschaftlichen Kurs wird sie entscheidend umfunktionalisiert: Frau
Klipps Ackergeräte werden in der Herrentoilette aufbewahrt, ihr Traktor wird
im Güterschuppen untergestellt (BZ 438). Die entwürdigende Lagerfunktion des
Bahnhofs gilt nun als verräumlichte Revanche eines solideren und traditionelleren
(obwohl nicht ganz makellosen) Lebensmodells am Wirtschaftswunder, das in
dieser Erzählung zwei Gesichter zeigt und metaphorisch sowohl als dynamischer
wie auch als verfallener und statischer Transitraum geschildert wird.

Literatur
Achen, Matthias & Klein, Kurt 2002: „Retail Trade in Transit Areas: Introduction
to a new field of research“, in: Die Erde. Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde
133.1 (2002): 19–36
Augé, Marc 1994: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit, aus dem Französischen übersetzt von M. Bischoff, Frankfurt a. M.:
Fischer

14 „Die Zukunft unseres Bezirkes liegt in Zimpren“ ist das Motto des Chefs der Bahnver-
waltung (BZ 431).
15 Vulgäre Beleidigungen und sogar Klagen trüben Frau Klipps Umgang mit den Bahn-
beamten und ihren Frauen (BZ 437).
Begegnungen und Bewegungen im ‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder 109

Augé, Marc 2000: „Orte und Nicht-­Orte der Stadt“, aus dem Französischen über-
setzt von A. Geiger, in: Helmut Bott et. al. (eds.), Stadt und Kommunikation im
digitalen Zeitalter, Frankfurt a. M. / New York: Campus: 177–187
Balzer, Bernd 1992: „Das mißverstandene Engagement – der angebliche Realis-
mus Bölls“. In: id. (ed.): Heinrich Böll 1917–1985. Zum 75. Geburtstag, Bern
u. a.: Peter Lang: 89–116
Baum, Patrick 2010: „Heterotopie“. In: id. & Höltgen, Stefan (eds.): Lexikon der
Postmoderne. Von Abjekt bis Žižek. Begriffe und Personen, Bochum – Freiburg:
Projektverlag: 91–92
Bernhard, Hans-­Joachim 1995: „E i n f a ch leben – einfach l eb e n . Ästhetische
und soziale Aspekte von Bölls Kritik an der Wohlstandsgesellschaft“, in: Balzer,
Bernd & Honsza, Norbert (eds.): Heinrich Böll – Dissident der Wohlstandsgesell-
schaft, Wroclaw: Widnanwictwo Uniwersytetu Wroclawskiego, 7–23
Böll, Heinrich 1967: „Stichworte“, in: id.: Aufsätze, Kritiken, Reden, Köln / Berlin:
Kiepenheuer & Witsch, 159–175
Böll, Heinrich 2005a: „Der Bahnhof von Zimpren“, in: id.: Werke, Kölner Ausgabe,
ed. Böll, Viktor, Bd. 10 (1956–1959), Köln: Kiepenheuer & Witsch: 430–440
Böll, Heinrich 2005b: „Im Ruhrgebiet“, in: id.: Werke, Kölner Ausgabe, ed. Böll,
Viktor, Bd. 10 (1956–1959), Köln: Kiepenheuer & Witsch, 361–390
Calabrese, Stefano & D’Aronco, Maria Amalia (eds.) 2005: I nonluoghi in lettera-
tura. Globalizzazione e immaginario territoriale, Roma: Carocci
Chevalier, Jean & Gheerbrant, Alain 131999: Dizionario dei simboli, Milano: BUR
Däumer, Matthias & Gerok-Reiter, Annette & Kreuder, Friedemann (eds.) 2010:
Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Per-
spektiven, Bielefeld: transcript
de Certau, Michel 1988: Kunst des Handelns, aus dem Französischen übersetzt
von R. Voullié, Berlin: Merve
Durzak, Manfred 1980: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenpor-
träts, Werkstattgespräche, Interpretationen, Stuttgart: Reclam
Falkenstein, Henning 1966: Heinrich Böll, Berlin: Morgenbuch
Foucault, Michel 1977: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel, 2005: „Von anderen Räumen“, aus dem Französischen übersetzt
von M Bischoff, in: id.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, eds. Defert,
Daniel & Ewald, Francois, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp: 931–942
Ghurye, Carlotte W. 1976: The Writer and Society. Studies in the Fiction of Günter
Grass and Heinrich Böll, Frankfurt a. M.: Peter Lang
110 Elena Giovannini

Günzel, Stephan (ed.) 2010: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart /


Weimar: Metzler
Korn, Juliane 2006: Transiträume als Orte des Konsums – Eine Analyse des Stand-
orttyps unter besonderer Berücksichtigung der Bahnhöfe, Humboldt Universität
Berlin: Diss., im Internet unter http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/korn-
juliane-2006-06-13/HTML [03.05.2014]
Lefebvre, Henri 72012: Die Produktion des Raums, aus dem Französischen über-
setzt von Jörg Dünne, in: Jörg Dünne & Stephan Günzel (eds.), Raumtheorie.
Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 330–342
Lehnardt, Eberhard 1984: Urchristentum und Wohlstandsgesellschaft. Das Roman-
werk Heinrich Bölls von „Haus ohne Hüter“ zum „Gruppenbild mit Dame“, Bern
etc.: Peter Lang
Muranges, Jean-­Paul 1973: „Aliénation et châtiment chez Mark Twain et Heinrich
Böll. Étude comparée de deux novelles: ‚The Man and the Corrupted Hadley-
burg‘ (Mark Twain) et ‚Der Bahnhof von Zimpren‘ (Heinrich Böll)“, in: Revue
des langues viventes 2 (1973): 131–136
Nordbruch, Claus H. R. 1994: Heinrich Böll: seine Staats- und Gesellschaftskritik
im Prosawerk der sechziger und siebziger Jahre. Eine kritische Auseinanderset-
zung, Frankfurt a. M.: Fischer
Schiessler Hanna (ed.) 2001: The Miracle Years. A Cultural History of West Ger-
many, 1949–1968, Princeton / Oxford: Princeton University Press
Sieverts Thomas 1983: „Zwischen Bahnhof und Stadt“, in: Stadtbauwelt 79 (1983):
230–234
Underwood, Joseph C. E. (ed.) 32000: General and Systematic Pathology, Edin-
burgh etc.: Churchill Livingstone
Windfuhr, Manfred 1971: Die unzulängliche Gesellschaft. Rheinische Sozialkritik
von Spee bis Böll, Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung
Stephan Mühr (Pretoria)

Bewegung im Transitraum am Beispiel des


Spinozastreits1

Abstract: In this paper the concept of ‘transitional space’ (Transitraum) is used as an


expression of the paradox of instantaneous velocity in the history of physics and for the
dubious ontology of infinitesimals. At the root of both problems lie transitions in the his-
tory of concepts in the disciplines of physics, metaphysics and mathematics with regards to
the umbrella term of motion. Using the example of the Spinoza dispute that takes place in
a transitional space in the history of knowledge itself, I will explain how interdisciplinary
dynamics and interactions played a role in producing these transitions and how these
dynamics prepared the ground for the differentiation into “two cultures” as Snow puts it.
It is the aim of this analysis of the history of problems and concepts, on the one hand, to
contribute to the translation theory of concepts, and, on the other hand, thereby to raise
awareness of the ambivalence of popular terms or metaphors.

1 Einleitung
Mit ‘Transitraum’ ist in diesem Beitrag keine gesellschaftliche oder geografische
Kategorie gemeint, sondern eine physikalische Denkfigur, der ein kinetisches Pa-
radoxon zugrundeliegt: Wenn wir Bewegung definieren als Ortsveränderung zwi-
schen zwei Zeitpunkten, dann wird der ‘Ort der Bewegung’ selbst problematisch.
Denn was in diesem ‘Transitraum’ zwischen den Zeitpunkten passiert, ist so nicht
erfassbar und wird deshalb durch eine rationale Abstraktion nur ‘verrechnet’. In
diesem physikalischen Kontext deutet die “Bewegung im Transitraum” auf das
Problem der Momentangeschwindigkeit bzw. des Kontinuums; im mathemati-
schen Kontext problematisiert es die Ontologie des Differentialkalküls, genauer:
des Differentials und Integrals selbst. In diesem Beitrag wird zunächst anhand
der Begriffsgeschichte in der Mathematik das Paradoxon dieses Transitraums
diskutiert, um anschließend in einem ‘historischen Transitraum’ um 1800 die
Begegnungsdynamik unterschiedlicher Denkformationen zu diesem Paradoxon
ganz konkret an Textauszügen aus dem Spinozastreit zu analysieren.
Dem liegen die folgenden drei Thesen zugrunde: Die Definition von Bewe-
gung als Ortsveränderung zwischen Zeitpunkten und ihrer mathematischen

1 Ich danke dem DAAD und der Universität Konstanz für die Ermöglichung eines For-
schungsaufenthaltes, wodurch dieser Beitrag verfasst werden konnte.
112 Stephan Mühr

Anwendung seit der Neuzeit zwingt zu einer Auffassung von Bewegung, die an
sich nur abstrakt messbar, und nicht mehr phänomenologisch erfahrbar ist. Die
fehlende Anschaulichkeit, bzw. die Akzeptanz, sie stattdessen intellektuell oder
metaphysisch zu berechnen, setzte aber nach Kvasz (2004) eine monotheistische
theologische Ursache voraus, in der die Welt und alles was in ihr passiert, ei-
nem göttlichen, vernünftigen Prinzip, einen ‘Ersten Beweger’ untersteht. Dieses
göttliche Vernunftprinzip als Wirkursache von Welt wird schließlich durch die
menschliche Vernunft ersetzt, also anthropomorphisiert. Zweitens bleibt dabei
der Transitraum selbst, also die aktuale Bewegung, unbesetzt oder wird nicht
definiert, was erst im 20. Jahrhundert durch die Relativitätstheorie einerseits und
die kulturwissenschaftliche Durchdringung des Pluralitätsprinzips von Wirklich-
keit andererseits behoben wird. Zurzeit des Spinozastreits im Kontext der sog.
“Sattelzeit um 1800” nach Koselleck – ebenfalls ein Transitbegriff – befanden sich
jedoch noch Metaphysik, Theologie und Infinitesimalrechnung in einem tran-
sitorischen Gemengelage. Der Spinozastreit selbst spielte darin, so die dritte The-
se, eine katalysatorische Funktion für zwei spätere Kristallisationen: Einerseits
etablierte er eine radikalanthropologischen Fortschrittsidee, wie sie der Deutsche
Idealismus dann ausbildete; andererseits fungierte sie als eine Weichenstellung
für die geisteswissenschaftlichen Diskursformationen, insofern die Abstrakti-
onsniveaus der neuen Logik des Infinitesimalkalküls – wahrscheinlich durch
Nichtverstehen – abgelehnt, und durch metaphorische Veranschaulichungen
transformiert wurden. Damit trug der Streit ganz wesentlich zur Ausbildung der
“zwei Kulturen” (Snow 1959) bei. Diese Trennung war aber um 1800 noch gar
nicht gegeben. Denn nur im Transitraum kommt es zu Begegnungen und nur
diese führt zu Transitionen.

2 Begriffsgeschichte in der Mathematikgeschichte der Bewegung


2.1. Begriffs- als Problemgeschichte
Bereits ein Blick auf die ersten Absätze zum Lemma “Bewegung” im Historischen
Wörterbuch der Philosophie (I: 864–865) macht deutlich, dass der Begriff eine
durch widersprüchliche Weltbilder höchst ambivalente Bedeutung besitzt: Einer-
seits Parmenides, der, ausgehend von der Nichtexistenz des Nichtseienden, kein
Werden und damit auch keine Bewegung (als kinesis) für möglich hält; anderer-
seits Heraklit, dessen “alles fließt” eher von einem allem innewohnenden, dynami-
schen Zustand der Welt ausgeht. Bewegung (kinesis wie auch dynamis), so scheint
es, wird verhandelt im Kontext der Fragen um das Eine als Ganzes, um Fragen
des Kontinuums und letztlich um die Frage nach der Ontologie der Zeit selbst.
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 113

Die ihnen zugrunde liegenden Diskurse sind kaum mehr mit heutigen Vorstel-
lungen von Bewegung abzugleichen und stehen irgendwo zwischen Metaphysik,
Ontologie und Mathematik. Was sie verbindet, ist eine wissenskulturelle Aporie
der Unendlichkeit: Das Unendliche zu denken, stellt eine Überlastung unserer
Vorstellung dar: Wir können es denken und ‘es’ uns doch nicht vorstellen; wir ver-
mögen nicht seine Ausmaße kognitiv zu erfassen.2 Es ist eine Inkommensurabilie.
Obwohl es sich also nicht um eine Wahrnehmung in sensu strictu handelt, ähnelt
das Phänomen im Bewusstsein dessen, was Bernhard Waldenfels (2006) “radikale
Fremdheit” nennt. Die Erfahrung oder auch nur der Vorstellungsversuch von
solch radikaler Fremdheit erzwingt psychologisch einen Respons, der darauf ab-
zielt Bedeutung zu generieren: Irgendwie muss das Inkommensurable pazifiziert
werden, und sei es symbolisch.
Um den Begriff der Bewegung (als Transition) ist es, wie eingangs angedeutet,
ganz ähnlich bestellt. Der Grund hierfür ist auch derselbe wie bei der Unend-
lichkeit: Sofern Bewegung als (Orts-)Veränderung in der Zeit erachtet wird, ist
Zeit dabei nicht als ein phänomenologischer Ort oder als Kontinuum vorstell-
bar – Konzepte, die bis ins 19. Jahrhundert nicht denkbar waren (cf. Boyer 1959;
Kvasz 2004), sondern wie eine Linie, die sich aus der Aneinanderreihung von
Zeitpunkten ergibt – eine Vorstellung, die erhebliche Probleme aufwirft über die
‘Dicke’ bzw. über die zeitliche Dauer eines Zeitpunktes. Trotz dieser Unklarheit
gilt bis heute (in der Alltagswelt) Bewegung als eine Orts- oder Zustandsver-
änderung zwischen zwei Zeitpunkten; dies ist die physikalische Art und Weise,
Bewegungsabläufe zu berechnen; sie liegt auch der Filmtechnik, dem movie zu-
grunde. Tatsächlich ist dadurch aber ‘eigentliche’ Bewegung auf einen Unterschied
von bewegungslosen Zeitpunkten reduziert, frei nach Lukács: sistiert worden.
Und noch bedeutender: Es handelt sich bei dieser Erfassung von ‘Bewegung’
als Ortsveränderung zwischen zwei unbeweglichen Zeitpunkten um dieselbe
Denkfigur, die der Entdeckung des Differentialkalküls zugrunde liegt, nämlich
um die Unmöglichkeit der Erfassung von unsere Vorstellungskraft übertreffende
Bewegungsabläufen. Dabei hat vor rund 2400 Jahren bereits Zenon die Inkom-
mensurabilität des tatsächlichen Zeitkontinuums als eigenwertige Bewegung mit
dem Paradoxon, warum Achilles im Wettlauf mit einer Schildkröte, der er einen
Vorsprung gewährt, nicht überholen kann, auf den Punkt gebracht:

2 Dementsprechend sind alle ‘seine’ sprachlichen Realisierungen Nicht-­Marker (in-­


finitum; Un-­endlichkeit) und das mindestens seit Platon (àpeiron; àoristos duas
als das zweite Gundprinzip des Seins neben dem hen). Cf. Toeplitz 1931; HWdPhil
11: 140–146.
114 Stephan Mühr

Bevor Achilles die Schildkröte überholen kann, muss er zuerst ihren Vorsprung ein-
holen. In der Zeit, die er dafür benötigt, hat die Schildkröte aber einen neuen, wenn auch
kleineren Vorsprung gewonnen, den Achilles ebenfalls erst einholen muss. Ist ihm auch
das gelungen, hat die Schildkröte wiederum einen – noch kleineren – Weg-­Vorsprung
gewonnen, und so weiter. Der Vorsprung, den die Schildkröte hat, werde zwar immer
kleiner, bleibe aber dennoch immer ein Vorsprung, sodass sich der schnellere Läufer der
Schildkröte zwar immer weiter nähert, sie aber niemals einholen könne.3

Die Transition ‘Achilles überholt die Schildkröte’ ist also ausgeschlossen worden;
Bewegung in einem (Zeit-)Punkt scheint also absurd oder unmöglich; und so
war die Vorstellung von Momentanbewegung bis ins 18. Jahrhundert wissen-
schaftlich unerklärbar, obwohl – das ist ja das Paradoxe – das Phänomen un-
mittelbarer Bewegung jedem sofort selbstverständlich ist! Aktuale Bewegung, so
schrieb Aristoteles dann, ist bestenfalls ein intellektuelles, aber kein empirisches
Phänomen (cf. Boyer 1959: 178). Dieser intellektuelle Charakter der Bewegung
liegt auch noch der bereits erwähnten Filmtechnik zugrunde: Jedes Einzelbild
entspricht einem solchen Zeitpunkt, und wenn diese schnell genug aufeinander
folgen, nehmen wir Bewegung quasi als optische Täuschung wahr, als Einbildung:
intellect! Denn tatsächlich bewegt sich keines der wahrgenommenen Bilder, bzw.
bestenfalls ein ‘Erster Beweger’ hinter dem Projektor, also jenseits dessen, was wir
sich bewegen zu sehen vermeinen. – Im Folgenden wird nachvollzogen, welche
Integrationsmechanismen und Denktransitionen notwendig waren, um diese
intellektuelle Erfassung von Bewegung im Kontext der neuzeitlichen Geschichte
der Mathematik zu ermöglichen und zu legitimieren.

2.2. Mathematikgeschichte als Begriffsgeschichte


Mathematikgeschichten, die den Bewegungsbegriff wissenskulturell reflektieren,
gibt es m.W. nicht; eine Ausnahme stellen die sprachphilosophisch ausgerichteten
Texte von Ladislav Kvasz (2004 und 2008) dar, als auch die wissenskulturellen
Überlegungen in den Werken Hans Blumenbergs (1973 und 1975). Aus seinem
Vergleich der antiken Physik mit mathematischen Texten des 16. und 17. Jahr-
hunderts extrapoliert Kvasz (2004) fünf Begriffsfelder, die über diesen Zeitraum
hinweg eine Änderung erfuhren, die sie der Mathematisierung überhaupt zugäng-
lich machten. Neben Unendlichkeit, Zufall, das Unbekannte und Raum gehört

3 Dieses Paradoxon ist verbreitet zitiert; etwa auch im Historischen Wörterbuch der Phi-
losophie, und kann als gemeinfrei gelten. Der Bequemlichkeit halber zitiere ich hier
aus Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Achilles_und_die_Schildkr%C3%B6te
[05.04.2013].
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 115

auch Bewegung dazu. In den meisten Fällen hatte das altgriechische Äquivalent
eine viel breitere Bedeutung, wohingegen in der Neuzeit diese Begriffe entwe-
der definitorisch verengt oder in einen alltagsprachlichen und einen spezifisch
mathematischen Begriff aufgeteilt wurden. Der breite Begriff der kinesis wurde
dementsprechend reduziert auf Ortsveränderung, wohingegen alle anderen Be-
deutungsnuancen wie Werden, Hervorbringen, aber auch Wandel – also gerade
die transitorischen Aspekte der kinesis – aus der Mathematik ausgeschlossen
wurden. Kvasz’s These nun ist (2004: 112), dass
monotheistic theology with its idea of the omniscient and omnipotent God, who crea-
ted the world, indirectly influenced the process of [this] mathematization. In separating
ontology from epistemology, monotheistic theology opened the possibility to explain all
the ambiguity connected to these phenomena as a result of human finitude and so to
understand the phenomena themselves as unambiguous, and thus accessible to mathe-
matical description.

Dadurch, dass also die antiken Begriffe in einen mittelalterlich-­religiösen Tran-


sitraum gerieten, verloren sie ihre Unverständlichkeit, denn Gott ist das Vollkom-
mene und Absolute: “[F]or God there are no unknowns at all” (Kvasz 2004: 114).4
Damit klärt Kvasz allerdings noch nicht die Frage, welche ‘geistesgeschicht-
liche’ Dynamik diese Mathematisierung vorangetrieben hat: Wieso konnte die
Mathematik als sekundäre Disziplin im Quadrivium zu dem epistemologischen
Wahrheitsparadigma aufsteigen? Dazu gibt Hans Blumenbergs dreibändiges Werk
Die Genesis der kopernikanischen Welt (1975) mehr Aufschluss. Wenn, nach Blu-
menberg, die Kopernikanische Revolution hauptsächlich als Sieg der Rationalität
über die mittelalterlich auctoritas gelten kann, dann bleibt die Frage offen, wie
Anschaulichkeit, Konkretheit in diesem Prozess verhandelt wurde. Es ist bekannt,
dass das Mittelalter einen starken Skeptizismus gegenüber der Anschauung als
epistemischer Instanz pflegte; Blumenberg hat dies selbst in Der Prozess der theo-
retischen Neugierde (1973) ausführlich behandelt, auch wenn heute seine Dar-
stellung der curiositas als neuzeitliches Wissenschaftsnarrativ kritischer gesehen
wird (cf. Evans & Marr 2006). Aber es ist ja gerade die Fortsetzung der Ablehnung
der Anschaulichkeit als Wahrheitsgarant, die Kopernikus bedienen muss, um
die Leser seiner Revolutionibus davon zu überzeugen, dass sie sich auf einem um

4 Sein Fazit: “[…] the possibility of its mathematization originates in God’s perfection”
(Kvasz 2004: 115). In diesem letzten Absatz beschreibt Kvasz die Trennung von Onto-
logie und Epistemologie als den radikalen Übergang zur Moderne. Dies ist deswegen
erwähnenswert, weil Blumenberg (1975) dasselbe als Ermöglichung der kopernika-
nischen Welt beschreibt.
116 Stephan Mühr

sich selbst drehenden und dieser wiederum um die Sonne kreisenden Planeten
befinden, wo doch diese Bewegungen gar nicht unmittelbar wahrnehmbar sind
(cf. Blumenberg 1975: 162–299). Um von der Alltagserfahrung des Stillstandes
und der Festigkeit des eigenen Standortes her nun seine eigentliche Unruhe an-
zunehmen, erfordert eine völlig neue Einbildungskraft als Erkenntnistheorie als
die der empirischen curiositas entgegengesetzten memoria oder theoria. Die Mög-
lichkeit, dass die Rationalität über ihre Anschaulichkeit hinausstreben und damit
Begriffe wie kinesis oder infinitum mathematisch zugänglich machen kann, ist
nach Blumenberg (1975) also gebunden an eine Einbildungs- oder Vorstellungs-
kraft (intellectus), wie sie bereits bei Cusanus vorgeformt ist5 und eine Vermitt-
lungsfunktion zwischen Rationalität und Empirie, zwischen logischer Richtigkeit
und empirisch-­sensueller Wahrheit als ‘Wahrnehmung’ einnimmt.
Um die Notwendigkeit (oder Katalysatorfunktion) dieser “intellektuellen An-
schauung” für das neue Weltbild herauszustellen, kehre ich nochmals zu Kvasz
zurück, nun aber zu seinem 2008 erschienenen Werk Patterns of Change. Linguis-
tic Innovations in the Development of Classical Mathematics. In dieser Monografie
nimmt Kvasz eine Mittelstellung in der post-­kuhnschen Debatte innerhalb der
Mathematikphilosophie ein, die in ein soziohistorisches Lager (welches mehr
oder weniger die Position Kuhns vertritt) und ein analytisches Lager zerfällt,
das behauptet, dass die Evolution der Mathematik keiner historischen oder
sozialen Dimensionen unterliegen könne.6 Zu diesem Zweck untersucht Kvasz
die Geschichte der Mathematik von einem sprachlichen Standpunkt, denn er
glaubt, “notions such as logical, expressive, explanatory, or integrative power of
a language are sufficiently exact to be acceptable to an analytical philosopher”
(Kvasz 2008: 90). Dabei unterscheidet er drei Ebenen sprachlicher Innovationen,
und für jede dieser Ebenen findet er entsprechende Kategorien. Die erste Ebe-
ne, die er mit “Re-­codings” bezeichnet, bezieht sich auf Formulierungsregeln
mathematischer Terminologie. Er stellt fest, dass es eigentlich zu allen Zeiten zwei
mathematische ‘Sprachen’ gab, nämlich eine symbolische oder ikonische und eine

5 Blumenberg zieht den Begriff der Rationalität vor. Ich benutze Intellekt aus einem
ganz bestimmten Grund: Ein Beispiel, das Kvasz anführt, bezieht sich auf Cusanus,
der den Begriff der Unendlichkeit weitgehend säkularisiert benutzt, also rational, aber
durchaus metaphysisch als scholastische Überlegung. Dies ist exakt aber, was Cusanus
als intellectualis visio – in Abgrenzung zu ratio beschreibt (cf. Flasch 2001: 24). Sein
Werk De Beryllo ist quasi ein Handbuch zur Einübung einer Sichtweise mit anderen
Augen; und diese ‘anderen Augen’ sind eine andere Form der Einbildung.
6 Cf. Kvasz 2008: 1–10. Eine Sammlung der wichtigsten Positionen findet sich in Gillies
1992.
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 117

visuelle. Arithmetik und Algebra sind typisch symbolische Sprachen, wohingegen


Geometrie und ihre neueren Entwicklungen visuell sind. Das Besondere dabei
ist jedoch ihr transitorisches Verhältnis zueinander: “[T]here is an interesting
alternation of symbolic and iconic dominance” (Kvasz 2008: 13) in Bezug auf ihre
logische Geltungsreichweite, ihre Ausdrucksweise und ihre explanatorische und
integrative Funktion. Er erklärt diese Alternation aus der Konsequenz, dass die
jeweils dominante Sprache in einer jeweiligen Epoche einen “epistemic overlap”
besitzt, der für die Fortentwicklung der unterlegenen Sprache verantwortlich
ist. So konnten etwa Descartes‘ Innovationen zur analytischen Geometrie als
Visualisierungen von Polynomfunktionen verstanden werden, die in der her-
kömmlichen Sprache der Algebra unmöglich waren. Die visuelle Sprache der
cartesischen Geometrie besaß also einen “epistemic overlap” über die Sprache der
Algebra. Aber dadurch entstand ein neuer “epistemic overlap”: Die analytische
Geometrie konnte logarithmische Funktionen veranschaulichen, die nun einer
algebraischen Sprache (wie etwa die Berechnung von Höhepunkten) harrten.
Und dieser “epistemic overlap” wurde wiederum erst durch Leibniz‘ Sprache des
Infinitesimalkalküls überwunden (cf. Kvasz 2008: 98–99), die konsequenterweise
die cartesische Anschaulichkeit übertreffen musste.
Damit gelingt es Kvasz, ganz konkrete Transitionsregeln aufzustellen, die die
Dogmen einer rein fortschreitenden Wissensakkumulation genauso überwindet,
wie die Annahme, es handele sich in der Mathematikgeschichte um eine sozio-
kulturell bedingte Aneinanderreihung von Irrtümern. Patterns of Change bezeugt
also bereits im Titel jene Bearbeitung innerhalb des Transitraums.
Doch kehren wir zur Mathematikgeschichte selbst zurück. Das Interessante
bei der fehlenden Anschauung ist, so Kvasz, dass Descartes’ Konzept der ana-
lytischen Geometrie zwar die notwendige Vorbedingung für die Entwicklung
der Infinitesimalrechnung schuf, aber diese mathematische Entwicklung fand ja
nicht abgekoppelt von einem ganzheitlichen Weltverständnis statt, insbesondere
von einer metaphysischen Welterklärung: Descartes’ universelle Mathematik
zur Erfassung der Welt “did not have sufficient integrative power to accomplish
this project. He had to express the unity of nature on a metaphysical level. The
metaphysics fulfilled a function that his [mathematical] language could not fulfil”
(Kvasz 2008: 53). Auf dieses wichtige Verhältnis zwischen scheiternder Mathe-
matisierung und metaphysischer Kompensation des Weltbildes komme ich noch
zurück.
Auf Kvasz’s zweiter Ebene sprachlicher Innovationen in der Mathematik-
geschichte geht es um ein und dasselbe gedankliche Konzept (etwa um einen
Kreis), aber um die Frage, welche mathematischen Bedeutungen diesem Kon-
118 Stephan Mühr

zept im Laufe der Geschichte jeweils zugeschrieben wurden. Um diese Ebene


der “relativizations” (cf. Kvasz 2008: 107–224) besser erfassen zu können, bezieht
er sich auf Wittgensteins Tractatus logo-­philologicus, von dem er die Vorstellung
übernimmt, dass Sprache ähnlich wie Bilder funktioniert, wo Bedeutung über die
logische und grammatische Dimension hinaus entsteht. Solch implizites Verste-
hen kann dann auf einer jeweils weiteren Sprachentwicklung in explizite sprach-
liche Termini verwandelt werden, die wiederum neue implizite Bedeutungen
generieren können usw. Außerdem übernimmt er von Wittgenstein die Annahme,
dass (in diesem Sprachentwicklungprozess) das Subjekt (allein) die Grenze der
Welt ausmacht (cf. Kvasz 2008: 110). Dies ist hier von doppelter Wichtigkeit.
Zum einen, weil es dadurch Wittgensteins und Kvasz‘ Methode an eine Phäno-
menologie anbindungsfähig macht, bei der das Subjekt als die entscheidende
Vermittlerinstanz zwischen der Welt und dem inneren, wahrheitsgenerierenden
Apparat fungiert. Denn durch Sprache und durch die Funktion des Subjekts in
der (mathematischen) Sprache kann man tatsächlich die Entwicklung von ‘Welt’
nachvollziehen, mit den Worten von Kvasz (2008:208):
I suggest calling the epistemic ruptures that consist in the incorporation of deeper and
deeper structures of the subject into the language relativizations. In their course, successi-
ve layers of our own subjectivity are reified in the language in the form of explicit objects,
such as point, a translation dictionary, or a symmetry group.

Damit wird der zweite Grund für die Wichtigkeit dieser Einsicht deutlich:
Durch die Verlegung der Weltgenerierung in das Subjekt findet der über einen
vollkommenen Gott etablierte Anthropozentrismus Eingang in die Epistemo-
logie, und zwar selbst im Bereich der Mathematik. Und dies bedenkend, kann
man jetzt interpretieren, dass Descartes durch die Integration der Sprache der
Algebra und der Sprache der Geometrie in eine analytische Geometrie auch in
der Lage war, sein cogito ergo sum zu realisieren, also, dass Selbsterkenntnis der
Beginn einer jeden Welterkenntnis und Weltexistenz ist. So hängen in diesem
Transitraum ontologische Grunderkenntnis mit mathematischer Innovation
und metaphysischer Kompensation zusammen. Von hier aus wird nun ersicht-
lich, welche Oszillation (Kvazs: “alternation”) zwischen mittelalterlicher auc-
toritas und neuzeitlicher humanitas im Prozess der Kopernikanischen Wende
zum Anthropozentrismus stattfand: Im Mittelalter waren zwar die Erde und
damit der Mensch im geografischen Zentrum des Kosmos, aber dieses Zentrum
war metaphysisch schwach, unvollkommen, von ihrer Wertigkeit her unten
statt oben (cf. Blumenberg 1975: 162–236). Blumenberg führt detailliert aus,
wie Kopernikus aus seiner de-­zentralen Position innerhalb des neuen helio-
zentrischen Weltbildes gerade einen providentiellen Vorteil erkennt, weil er
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 119

nämlich dadurch bessere Parallaxenberechnungen anstellen kann. Kopernikus


überkompensiert den Verlust der Zentralstellung des Menschen also dadurch,
dass er sie in die intellektuelle Sphäre verschiebt: derselbe Trick, der der Ma-
thematisierung der kinesis zugrunde liegt. In dieser Wirkungsgeschichte der
neuzeitlichen Anthropozentrik wird Kopernikus schließlich selbst zum Welt-
beweger transformiert,7 was Blumenberg (1975: 310–340) unter der Überschrift
“Der Theoretiker als Täter” ausführt. Von Kopernikus aus kann man diesen An-
thropozentrismus leicht für Galilei nachweisen, der mit dem Sidereus Nuncius
mitnichten eine nüchtern rationale Schrift vorlegt, sondern eine geradezu mis-
sionarische “Himmelsoffenbarung” (cf. Mühr 2001: 113–119); die Wirkungs-
geschichte lässt sich über Descartes‘ cogito ergo sum (s. o.) und über Spinoza
zu Leibniz‘ “besten aller Welten” skizzieren, von dem es Eingang findet in die
Systeme des Deutschen Idealismus, in denen schließlich das Ich zum ‘Ersten
Beweger’ seiner selbst und seines Gegenübers wird.8

3 Textanalysen aus dem Umfeld des Spinozastreits


Damit liegt der Spinozastreit genau im Spannungsfeld dieser noch nicht in Einzel-
disziplinen aufgefächerten Diskussion zwischen Mathematik und Metaphysik,
zwischen Religion und Weltverständnis. So kryptisch für uns die Sprache ihrer
Argumentation auch sein mag, so sehr dokumentiert sie die Dynamik der Begriff-
lichkeiten in diesem wissenshistorischen Transitraum um 1800.

3.1. Der historische Rahmen der Spinozastreits


Der Spinozastreit im engeren Sinne beginnt 1785 mit Friedrich Heinrich Jacobis
Publikation einer Reihe von Briefen und Kommentaren unter dem Titel Über die
Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn (cf. Jacobi 1968). Anlass
zu diesem Briefwechsel ist zunächst die Frage, ob Lessing Spinozist gewesen sei;
verhandelt wird aber die Frage, was die Lehre des Spinoza eigentlich ausmache.
So behauptet Jacobi, der Spinozismus führe, konsequent gedacht, zum Atheismus

7 Der Begriff der Bewegung bewegt sich nun im doppelten Sinne selbst. Entsprechend
findet auch der Anthropozentrismus der Erkenntnis als Transition auf zweierlei Ebe-
nen statt: wörtlich als selbsttätige Handlung und metaphorisch als Veränderung des
Weltbilds.
8 Kvasz’s abschließendes Argument bestätigt den Befund, dass der Anthropozentrismus
die treibende Kraft in der neuzeitlichen Mathematik war: “In this sense the history of
algebra is an integral part of human culture, and its study may reveal many new things
about ourselves” (Kvasz 2008: 220).
120 Stephan Mühr

und Nihilismus, weil er keinen freien Willen kenne und in seiner Rationalität
eine deterministische Metaphysik als “Kosmozentrismus” statuiere. Dem setze
er in einem “Salto mortale” einen personalen, geoffenbarten Gott gegenüber, der
jenseits rationaler Erkenntnis die Welt erschaffen habe.9
Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist Mendelssohns langfristiger Ver-
such gewesen, eine Vermittlung zwischen dem aufgeklärten Judentum und der
christlichen Religion zu finden, wobei ihm dies in Form einer religio duplex vor-
schwebte (cf. Assmann 2010: 156–202), dahingehend dass zumindest unter In-
tellektuellen eine übergeordnete, von allen akzeptable Weltreligion denkbar sein
müsse.10 In diesem Zusammenhang hatte er bereits in den 1750er Jahren eine
Schrift verfasst, die darauf abzielte, Spinoza wieder ins Gespräch zu bringen,11
was ihm auch gelang: Nach Schmoldt (1938: 4) ist dieser Text zumindest von
Herder, Hamann, Jacobi und später Goethe rezipiert worden und kann als Hin-
tergrund zum Spinozastreit gelten. Schmoldt (1938: 35) erklärt, dass Mendels-
sohn in den 1760er Jahren als bekanntester europäischer Philosoph zu gelten
habe. Doch schließlich wird er 1770 von Lavater öffentlich aufgefordert, Bonnets
Gottesbeweis zu widerlegen, oder selbst Christ zu werden. Er zieht sich daraufhin
aus vielen öffentlichen Debatten zurück. Sein Freund Lessing hat diesem Debakel
1779 mit der Hauptfigur in seinem Drama Nathan der Weise ein Denkmal gesetzt.
Als Lessing 1781 stirbt, beschließt Mendelssohn, ihm einen Nachruf zu schreiben;
und dies ist der Anlass Jacobis, mit dem 14 Jahre älteren Mendelssohn in einen
Briefverkehr zu treten.

3.2. Erstes Textbeispiel: Jacobis Anthropozentrismus


Bevor Jacobi in seinem Eröffnungsschreiben vom 4.11.1783 auf sein Gespräch
mit Lessing eingeht, ist es ihm ein Anliegen, Mendelssohn sich und seine grund-
sätzliche Denkweise vorzustellen. Seit seiner Kindheit, schreibt er, habe er einen
Hang zum “Tiefsinn”, den er wie folgt näher benennt: “Die Sehnsucht, in Absicht
der besseren Erwartungen des Menschen zur Gewissheit zu gelangen […] ist zum
Hauptfaden geworden, an den sich meine übrigen Schicksale knüpfen mussten”
(Jacobi 1968: 48). Nach einigen Ausführungen zu seiner Genfer Zeit präzisiert er,

9 Philosophiegeschichtlich hat sich Jacobis Position nicht durchgesetzt; durch den Brief-
wechsel aber hat er ganz maßgeblich die neuere Wirkungsgeschichte des Spinozismus,
insbesondere für den Deutschen Idealismus beeinflusst. Cf. Waibel 2012.
10 Dies ist vor allem die Position Schmoldts (1938), die ich hier zusammenfasse.
11 Das sind die Philosophischen Gespräche, die 1755 in Berlin bei Christian Friedrich Voß
erschienen sind.
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 121

was er damit gemeint hat: Die Überzeugung, dass sich Wahrheit “mitteilt” (Jacobi
1968: 49) und seine Suche danach, wie sie sich mitteilt. Sein Ergebnis:
[…] dass echter Tiefsinn eine gemeinschaftliche Richtung hat, wie die Schwerkraft in den
Körpern; welche Richtung aber, da sie von verschiedenen Punkten der Peripherie ausgeht,
eben so wenig parallele Linien geben kann, als solche die sich kreuzen (Jacobi 1968: 49 f.).

Er setzt diese merkwürdig geometrische Analogie fort, ohne dass das Bild einen
Sinn ergibt. Er vergleicht Scharfsinn mit Sehnen durch einen Zirkel, der für Tief-
sinn gehalten wird, ohne aber ein Durchmesser zu sein: “Eine Sehne kann so
nah am Durchmesser gezogen werden, dass man sie für den Durchmesser selbst
ansieht; sie durchschneidet dann aber nur eine größere Menge Radien, ohne auf-
zuhören eine Sehne zu sein” (Jacobi 1968: 50).
Jacobi rekurriert hier auf seine pietistische Prägung aus seiner Jugend. Durch
Tiefsinn erscheine – im Gegensatz zu Scharfsinn – die Wahrheit. Tiefsinn ist
intellectus oder intuitio; Scharfsinn ist ratio. Und wenn man jetzt “Wahrheit”
mathematisch als Vollkommenheit oder Ganzheit interpretiert, wird auch seine
“Sehnsucht” nach “der besseren Erwartung des Menschen” verständlich. Der
Pietismus ist ein Phänomen im Kontext der Aufklärung, der sich dezidiert gegen
die kirchliche Orthodoxie stellt, indem er eine Unmittelbarkeitserfahrung von
“Wahrheit” oder “Gott” gerade jenseits rationaler Beweisführung aktualisiert
(cf. Waibel 2012). Dieser Kontext aus Jacobis Jugend ist nicht unwichtig für
seine mathematische Allegorie. Denn was soll sie bezwecken? Die Schwerkraft
wird fehlgedeutet; die Linien, die sich weder kreuzen noch Parallelen bilden,
verweisen auf den bis dahin noch ungelösten Fünften Hauptsatz des Euklid als
ein klassisches Problem der Mathematik; die Vergleiche zwischen Sehnen und
Durchmesser erinnert an die Exhaustionsmethode, deren Infinitesimalie (dass
man sie für den Durchmesser selbst ansieht) schlichtweg geleugnet wird; und
die Verwechslung (eine Sehne für den Durchmesser “angesehen”) ist schließlich
genau das, was Berkeley Newtons ultima ratio vorwarf.

3.3. Exkurs: Anamnese der Aporetik der frühen


Infinitesimalrechnung
Newton hat in seinen frühen Schriften zur Fluxionsrechnung zunächst die Ände-
rungsrate einer Fläche bestimmt, und daraus eine Flächendefinition extrapoliert,
die zum ersten Mal ein Integral enthielt (cf. Boyer 1959: 191): “Newton was the
first man to give a generally applicable procedure for determining an instanta-
neous rate of change” (Boyer 1959: 191 f.). Aber diese “Fluxionen” waren nicht
anschaulich: “[a]lthough the work of Newton contains the essential procedures
122 Stephan Mühr

of calculus, the justification of these is not clear from the explanation he gave.”
(Ibid.: 192 f.) Und das liegt an seiner dem Visualistischen verhafteten Sprache
über Fluxionen: In Methodus fluxionum at serierum infinitarum (ca. 1671) be-
stimmt Newton “the rate of generation […] a fluxion […]; the quantity generated
he called a fluent” (ibid.: 194). Da diese Fluxionen immer nur in einem Verhältnis
(ratio)12 zu den Fluenten überhaupt sinnvoll sind, und diese ‘Verhältnisse’ mithilfe
der Binominalrechnung präzise berechenbar sind, nannte er das Rechenergebnis
die ultima ratio:
The resulting ratio, 1 to nxn-1, we should speak of as the limit of the ratio to the changes,
but Newton called it the ultimate ratio of the changes – a terminology which was later to
lead to some confusion in thought (ibid.: 195).

Heraklit lässt allenthalben grüßen. Doch wie Fluxionen bleibt ultima ratio als
mathematischer Begriff unklar, was Newton selbst erkannt hat: “Ultimate ratios
in which quantities vanish, are not, strictly speaking, ratios of ultimate quantities,
but limits to which the ratios of these quantities decreasing without limit, ap-
proach […]” (Newton, op. cit. Boyer 1959: 198), was Boyer wiederum als “lack of
arithmetical clarity” (ibid.) bezeichnet. Dass Newton nicht arithmetisch gedacht
hat (cf. Boyer 1959: 197), nach Kvasz’s Konzept also in der geometrischen Sprache
verfangen blieb, erklärt Körle damit, dass Newton eigentlich “Physik im Kopf ”
(Körle 2012: 177) hatte bzw. konkrete anschauliche Überlegungen zum Sonnen-
system. Wir befinden uns also exakt an dem Punkt des epistemic overlap von
ikonischer zu symbolischer Sprache in der Mathematik, die Newton hier in all
seinen neuen Begrifflichkeiten nicht gelingt. Sie bleiben alle einem visualistischen
Denken verhaftet.13
Diese Unklarheiten haben etwa 100 Jahre lang, also bis zum Zeitpunkt des
Spinozastreits, angehalten; die sogenannten Infinitesimalien blieben “amphibia
between existence and non-­existence” (Boyer 1959: 215). Die populärste Kritik
an der fehlenden Anschaulichkeit der Fluxionen kam dabei von George Berkeley
in seinem Traktat The Analyst (1734), und wiederum ist es kein Zufall, dass es

12 Heute würde man dieses Verhältnis als Quotient bezeichnen. Hier eröffnet sich in wei-
teres Forschungsgebiet von Begriffstransformationen zwischen ratio als Verhältnis und
ratio als Vernunft und Schlagwort der neuzeitlichen Logik; das (scheinbare) Versagen
der ratio (als Verhältnis und als Vernunft) am Infinitesimalkalkül und der dadurch not-
wendigen Entdeckung und Bezeichnung von irrationalen und imaginären Zahlen.
13 Dasselbe galt auch für Leibniz, auch wenn dieser zwar abstrakter oder weniger ikonisch
oder empirisch dachte, dafür aber in seiner Abstraktion umso mehr zu Vorstellungen
spinozistischer Ganzheit neigte. Wie Boyer (1959: 218) schreibt, hat er ausgerechnet
in seiner Theodizee die Unklarheiten seiner Infinitesimalien als Fiktionen bezeichnet.
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 123

ihm dabei neben der schein-­rationalistischen Kritik von Newtons ultima ratio vor
allem um eine theologische Kritik ging (cf. Boyer 1959: 224 f.):14 Wieder begegnen
sich also die Problemfelder (Disziplinen kann man es noch nicht nennen). Wenn
Boyer abschließend feststellt, “Berkeley was unable to appreciate that mathematics
was not concerned with a world of “real” sense impressions” (ibid.: 227), so rekapi-
tuliert dies ebenfalls die Aporie des epistemic overlaps, und sie trifft haargenau auf
Jacobi zu. Sie bezieht sich nämlich auf das Zentrum der denkfiguralen Transition
selbst, auf den Moment, in dem ein gegebenes Denkfeld (hier das ikonische) ver-
sagt und durch ein abstrakteres kompensiert werden müsste, was Newton und
Leibniz allerdings nicht gelungen ist.
Festzuhalten ist also nach diesem anamnetischen Exkurs zur mathematik-
geschichtlichen Situation von Jacobis analysierter Textpassage, dass man sie in-
terpretieren kann als eine mathematische Allegorie, die zeigen soll, dass mithilfe
mathematischer Konstruktionen (das Infinitesimalkalkül), mit reiner Rationalität
also, die Wahrheit (Gottes als aristotelische Bewegungsursache), als ultima ratio,
nicht gefunden werden kann.

3.4. Zweites Textbeispiel: Der Salto Mortale


Das für Jacobi Spezifische an der Lehre des Spinoza ist ihre Gleichsetzung mit dem
dualistischen Weltbild Descartes,15 wodurch eine pantheistische Gottesvorstellung
entsteht, die weder einen freien Willen hat, noch sich in einer konkreten Weise
offenbart. Gedanklicher Ausgangspunkt für diese Gleichsetzung sei “das Uralte
a nihilo nihil fit” (Jacobi 1968: 56): Es geht also um das Verhältnis von Wirkung
und Ursache, genauer (im metaphysischen Sinn) um die Bestimmung des Verhält-
nisses zwischen Gott und seiner Schöpfung der Welt, was ja eine Erstursache im-
pliziert und damit die Frage, wie Bewegung ursächlich überhaupt vorstellbar sei.
Spinoza fand, “dass durch ein jedes Entstehen im Unendlichen […] ein Etwas aus dem
Nichts gesetzt werde. Er verwarf also jeden Übergang des Unendlichen zum Endlichen
[…] und setzte an die Stelle des emanirenden ein nur immanentes Ensoph; eine in-
wohnende, ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt, welche mit allen ihren Folgen
zusammengenommen – Eins und dasselbe wäre (Jacobi 1968: 56).

14 Berkeleys Argument verläuft folgendermaßen: “Newton here disregarded the law of


contradiction, assuming first that x has an increment and then, in order to reach the
result, allowing the increment to be zero, i.e. assuming that there was no increment”
(Boyer 1959: 226).
15 Zu der Fortführung der Descarteschen Metaphysik bei Spinoza cf. Specht, in: Schewe
(ed.) 1990: 31–43.
124 Stephan Mühr

Das ist die Kernfrage nach dem Verständnis von Bewegung. Jacobi fasst Spinozas
Auffassung von Bewegung als “Entstehen” (cf. Parmenides) versus “Übergang”
i.S.v. ständiger Veränderung als dynamis (cf. Heraklit) zusammen. Das Denkmo-
dell des Parmenides wird zwar zugunsten von Heraklit verworfen, dynamis ersetzt
kinesis, aber hierdurch erübrigt sich die Annahme eines (personalen) ‘Ersten
Bewegers’ und ein solch pantheistisches Weltbild ist für den pietistisch geprägten
Jacobi nicht vorstellbar. Denkfigural entspricht das Ensoph dem Differential oder
dem derivative. Während im Differentialkalkül die Anschaulichkeit der analyti-
schen Geometrie versagt (z. B. Momentangeschwindigkeit, Kontinuum), versagt
für Jacobi die Anschauung Gottes im Pantheismus, weil es keinen geoffenbarten,
mit Willen und Verstand ausgestatteten Gott gibt. Der epistemic overlap in der
Sprache der Mathematik hat also sein Pendant in der Sprache der Metaphysik.
Dieses Kernstück und sein Anstoß am “Geist des Spinoza” (ibid.) erläutert
Jacobi in der Nacherzählung seines Dialogs mit Lessing, wonach dieser zunächst
glaubt, in Jacobi einen Spinozisten zu sehen. Doch er klärt ihn auf: “Aber im
Spinoza steht mein Credo nicht. Ich glaube eine verständige persönliche Ursache
der Welt” (ibid.: 59). Auf die Frage Lessings, mehr darüber wissen zu wollen, hilft
sich Jacobi mit einem “Salto Mortale” aus der Sache und bekennt nach einigen
weiteren Erläuterungen, “wer nun dieses [System des Spinoza] annehmen kann,
dessen Meinung weiß ich nicht zu widerlegen. Wer es aber nicht annehmen kann,
der muss der Antipode von Spinoza werden” (Ibid.: 60 f.).
Auf rationale Art hat Jacobi Spinoza (und dem Infinitesimalkalkül) nichts ent-
gegenzusetzen, außer dass er es eben nicht annehmen kann. Schmoldts (1938) Ar-
gument geht dann auch ganz dahin, dass Jacobi hier einen aufklärungskritischen
Diskurs im Sinne des Sturm und Drang spricht (im Gespräch mit Lessing hat
er diesem Goethes Prometheus zu lesen gegeben, woraus sich das Gespräch erst
ergibt). Die reine Rationalität wird in ihre Schranken verwiesen; dafür ist die Ges-
te des “Salto Mortale” umso stürmischer. Auch die Hinweise auf die pietistische
Offenbarungslehre bei Jacobi zeigen die denkfigurale Nähe zum Sturm und Drang
an.16 Hier liegt also das eigentliche Risiko der kopernikanischen Dezentralisierung
der eigenen Position: Das idealistische Konzept von Freiheit (wir befinden uns
etwa 4 Jahre vor dem Sturm auf die Bastille und 10 Jahre vor Schillers Briefe zur
ästhetischen Erziehung) wird von diesem Spinozastreit aus ersichtlich als Reaktion
auf die Demütigung der Rationalität, wenn sie sich einem Anthropozentrismus

16 Timm (in Schewe 1990: 359–367) geht in seiner Analyse der Rezeptionsgeschichte des
Spinozismus ebenfalls auf diese Linie ein und stellt dabei insbesondere die anthropo-
zentrische, ja egomane Reaktion dieser jungen Wilden gegen Spinoza heraus.
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 125

verwahrte! Das ist Salto Mortale! Das ist Bewegung: Befreiung als Seinsausdruck,
der die ihnen unzugängliche Infinitesimalrechnung durch selbstsetzende Tat-
handlung vindiziert.

4 Fazit
Momentanbewegung als Beweglichkeit ist zur Willensfreiheit zur Tat transfor-
miert worden. Auch die Passage über Lessing aus dem ersten Textbeispiel endet
mit der Frage nach der Willensfreiheit: “Lessing. Ich merke, Sie hätten gerne
Ihren Willen frei” (Jacobi 1968: 61). Freiheit ist demnach diejenige kritische Kon-
tingenzmasse im Transitionsraum unseres begrifflichen Handelns, wenn uns die
ratio zu abstrakt wird. Am Beispiel von Jacobis Auseinandersetzung mit Spinoza
konnte gezeigt werden, wie ein metaphysisches Modell in seiner Responsivität
auf ihre rationale Herausforderung soweit anthropomorphisiert wird, dass es
transformiert wird in eine Selbstsetzung zum ‘Ersten Beweger.’
Man könnte daraus und durchaus mit Kvasz (2004) folgern, dass gerade auf-
grund der Abstraktion der symbolischen Sprache des Differentialkalküls eine
Säkularisierung der Metaphysik möglich war, so z. B. bei Leibniz, wohingegen
jene wie Jacobi, denen das Kalkül aufgrund der fehlenden Anschauung nicht
eingängig war, an einem geoffenbarten, anthropozentrischen Gott festhielten und
damit auch das humanistische Ideal ausprägten, welches Blumenberg bereits bei
Kopernikus veranlagt sieht und dass nun um den Begriff der Freiheit organisiert
wird, wie er sich symptomatischerweise durch die Jacobi-­Rezeption im deutschen
Idealismus ausbilden sollte. Diese Linie ließe sich von Kant, Fichte und Hegel
über Schopenhauer und Nietzsche bis in die ‘großen Bewegungen’ des 20. Jahr-
hunderts nachzeichnen.
Vor diesem Hintergrund bleibt auf der Ebene der wissenskulturellen Reflexion
über den Bewegungsbegriff eigentlich nur die Rückbesinnung auf die Definiti-
on des Aristoteles: “Bewegung ist die Verwirklichung des seiner Möglichkeit
nach auf eine Wirklichkeit hin sich erstreckenden Seienden” (Aristoteles, op.
cit. HWdPhil I: 866). Dies räumt dem Transitorischen eine eigene Ontologie
ein ohne notwendigerweise in der Verwirklichung einen Akt der Freiheit zu
behaupten. Allein hierin ist die gesellschaftliche Vorurteilshaftigkeit gegenüber
dem potentiellen Missbrauch des modernen Mythos der Bewegung modaldia-
lektisch aufgehoben, zumal er sich – wenn man den Satz differentialanalytisch
transponiert – als potentielle Funktion von Bewegung, als Ableitung aller mögli-
chen Bewegungen selbst relativiert. Im Kontext des konventionellen Bewegungs-
begriffs, in dem Transition nicht phänomenologisch erfahrbar ist, neigen wir
leicht dazu, gesellschaftliche Veränderung als Überschreitung und befreiende
126 Stephan Mühr

Überwindung von Grenzen emphatisch zu begrüßen, ohne dass uns die Regeln
und Funktionen des Transitraums selbst, geschweige denn ihre Konsequenzen,
wirklich bekannt sind.

Literatur
Assmann, Jan 2010: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Auf-
klärung, Berlin: Verlag der Weltreligionen
Berger, Peter & Thomas Luckmann 1966: Die gesellschaftliche Konstruktion der
Wirklichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp
Blumenberg, Hans 1975: Der Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt/Main:
Suhrkamp
Blumenberg, Hans 1973: Der Prozess der theoretischen Neugierde, Frankfurt/Main:
Suhrkamp
Boyer, Carl 1959: The history of the calculus and its conceptual development, New
York: Dover Publications
Evans, Richard & Alexander Marr (eds.) 2006. Curiosity and Wonder from the
Renaissance to the Enlightenment, Aldershot: Ashgate
Flasch, Kurt 2001: Nicolaus Cusanus, München: C.H. Beck
Gillies, Donald (ed.) 1992: Revolutions in Mathematics; Oxford: Clarendon
Jacobi, Friedrich Heinrich 1968: “Über die Lehre des Spinoza”, in: Friedrich
Roth & Friedrich Köppen (eds.) 1968: Friedrich Heinrich Jacobi. Werke, Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Bd. 4: 37–253
Körle, Hans-­Heinrich 2012: Die phantastische Geschichte der Analysis, München:
Oldenbourg
Kuhn, Thomas S. 1962: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University
of Chicago Press
Kvasz, Ladislav 2008: Patterns of Change. Linguistic Innovations in the Develop-
ment of Classical Mathematics, Basel / Boston / Berlin: Birkhäuser
Kvasz, Ladislav 2004: “The Invisible Link between Mathematics and Theology”,
in: Perspectives of Science and Christian Faith 56.2 (2004): 111–116
Mühr, Stephan 2001: Naturwahrnehmung – Fremderfahrung. Entwurf zum Text-
verständnis europäischer Natur- als Fremderfahrung aus der Transformations-
geschichte ihrer Denkfiguren, Frankfurt/Main: Peter Lang
Pisarek, Henryk & Manfred Walther (eds.) 2001: Kontexte – Spinoza und die Ge-
schichte der Philosophie (Acta Universitatis Wratislaviensis 2279), Wroclaw:
Wydawnictwo Uniwersytetu Wroclawskiego
Bewegung im Transitraum am Beispiel des Spinozastreits 127

Schewe, Martin & Achim Engstler (eds.) 1990: Spinoza, Frankfurt/Main: Peter


Lang
Schmoldt, Hans 1938: Der Spinozastreit, Würzburg: Konrad Triltsch
Scholz, Heinrich 1916: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi
und Mendelssohn, Berlin: Reuther & Reichard
Snow, Charles Percy 1959: The Two Cultures, London: Cambridge University Press
Timm, Hermann 1990. “Spinoza-­Rezeption in der Goethezeit”, in: Schewe &
Engstler (eds.) 1990: 359–367
Toeplitz, Otto 1931: “Das Verhältnis von Mathematik und Ideenlehre bei Plato”,
in: Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik,
Abteilung B (Studien) vol. 1: 3–33
Waibel, Violetta (ed.) 2012: Spinoza – Affektenlehre und amor Dei intellctualis. Die
Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und in der
Gegenwart, Hamburg: Felix Meiner
Waldenfels, Bernhard 2006: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden,
Frankfurt/Main: Suhrkamp
II
Transitraum Exil
Thomas Pekar (Tokyo)

Heimat, Anpassung und Transit in der


Literatur des Exils und der Migration.
Versuch einer Zusammenführung

Abstract: This paper attempts to draw some parallels between the so-­called intercul-
tural literature and German exile literature regarding the following three topics: home
(which the migrant had to leave), adaptation (to a new culture) and transit (which often
constitutes the status quo for the migrant). The paper comes to the conclusion that both
literatures can be subsumed under the term’migrant literature’ (Migrationsliteratur).
Exile literature provides useful perspectives for the analysis of contemporary ‘intercul-
tural literature’ and, by this, also for the ongoing discussion about definitions in current
German-­language literature.

1 Vorüberlegungen
Für deutschsprachige Literatur seit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre,
geschrieben zunächst von Arbeitsmigraten (den so genannten ‚Gastarbeitern’),
dann auch von ihren Kindern bzw. anderen Einwandergruppen (wie z. B. den
‚Russlanddeutschen’), hat sich, nach der Phase einer terminologischen Diffusion,1
der Begriff der ‚interkulturellen Literatur’ durchgesetzt. Ihre verschiedenen Be-
stimmungsversuche haben das grundlegende Problem nicht lösen können, wie
sich die Zugehörigkeit zu dieser Literatur bestimmt. So muss selbst eine eifrige
Befürworterin dieses Konzepts der ‚interkulturellen Literatur’, Chiara Cerri,
folgende Unstimmigkeit einräumen, wenn sie davon spricht,
dass die Definitionskriterien [für die interkulturelle Literatur, Hinzufügung von mir,
TP] […] einem solchen sozialhistorischen und biographischen Hintergrund wie der
Immigrationserfahrung verpflichtet sind, die ja ganz außerliterarischer Art ist und in der
Regel bei Gattungsdefinitionen nicht berücksichtigt wird (Cerri 2011: 393).

Diese ‚Immigrationserfahrung’ bzw. die familiär-­nationale Herkunft (denn fak-


tisch werden von der ‚interkulturellen Literatur’2 nur muttersprachlich nicht-­

1 Man sprach zunächst u. a. von ‚Gastarbeiterliteratur’, dann von ‚Migrantenliteratur’


(cf. Weinrich 1985 und Müller & Cicek 2007).
2 Cf. Chiellino 2000.
132 Thomas Pekar

deutschsprachige Autoren/Autorinnen berücksichtigt)3 ist m. E. ein höchst


problematisches, um nicht zu sagen unzulässiges, weil eben nicht-­literarisches,
Kriterium, welches über die Zulassung zu einer bestimmte Gruppe oder Gattung
der Literatur entscheidet. Verstünde man diese interkulturelle Literatur aber nicht
als eine gleichsam einzigartige Erscheinung, begrenzt auf einen bestimmten Teil-
nehmerkreis, sondern vielmehr als Teil einer umfassenden Migrationsliteratur, so
wäre diese biographistische Zuordnung obsolet, die zugleich auch eine Isolierung
und Marginalisierung dieser Literatur bedeutet. Man könnte dann nämlich die
interkulturelle Literatur4 sowohl historisch wie auch gegenwärtig besser kon-
textualisieren, nämlich sie vor allem mit der Exilliteratur – und ich meine hier
die deutsche Exilliteratur in der Zeit des Nationalsozialismus – verbinden.5
Um zu einem fundierten Begriff der Migrationsliteratur zu kommen, möchte
ich nun einige theoretische Überlegungen zu dem Grundbegriff der ‚Migration’
vorstellen; idealiter wäre der Verlauf einen theoretisch ausdifferenzierten Begriff
der Migration zu gewinnen, um mit ihm ein Basis-­Kriterium für die Bestimmung
einer Klasse von Texten zu haben, die dann ‚Migrationsliteratur’ genannt werden
könnte. Dabei wird diese Literatur weder auf bestimmte Autorengruppen (etwa
auf Menschen mit Migrationshintergrund) noch auf eine bestimmte Zeitepoche
(etwa beginnend mit den ersten Arbeitsmigranten in Deutschland) bezogen6,

3 Damit orientiert sich die interkulturelle Literatur an den alten Kriterien des Adelbert-­
von-­Chamisso-­Preises, die so lauteten (bis ca. 2013): „Berücksichtigt werden Autoren,
deren Muttersprache und kulturelle Herkunft nicht die deutsche ist, die mit ihrem
Werk einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten“, in Internet
unter http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/4595.asp [16.02.2012].
Die gegenwärtigen Kritierien lauten so, dass der Preis „herausragende auf Deutsch
schreibende Autoren [ehre], deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“, im
Internet unter http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp
[29.09.2014]. Harald Weinrich berichtet die Anekdote, dass man ursprünglich erwo-
gen hatte, diesen Preis nach Elias Canetti zu benennen, der ja auch ein Exilautor ist
(cf. Weinrich 2008: 15 f.).
4 Auf die grundsätzliche Problematik der Rede von ‚Interkulturalität‘, dass sie nämlich
eine Essentialisierung der Kultur voraussetzt, gehe ich hier nicht ein (cf. u. a. Han
2005).
5 Einen solchen Kontextualisierungsversuch unternimmt die Berliner Literaturwissen-
schaftlerin Sigrid Weigel mit ihrem Doppelbegriff von „Literatur der Fremde – Li-
teratur in der Fremde“ (Weigel 1992: 182).
6 Ein so verengter Begriff der Migrationsliteratur würde sie in der Tat zu dem ‚toten
Kadaver’ machen, als den Feridun Zaimoglu sie benannt hat (cf. Zaimoglu & Abel
2006: 162).
Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration 133

sondern sie wird vielmehr in erster Linie thematisch-­ästhetisch definiert7, eben in


Hinsicht auf das Thema ‚Migration’ und ihre Darstellungsformen. Dies kann hier
allerdings nur als eine Arbeitsaufgabe formuliert werden; mein Beitrag kann nicht
mehr als unterwegs zum Begriff einer so erweiterten Migrationsliteratur sein.

2 Auf dem Weg zu einer Theorie der Migrationsliteratur


Meine Grundvoraussetzung auf dem Weg zu einer solchen Theorie ist das Ver-
ständnis von ‚Kultur als Text’. Dieser Ansatz geht von der kultursemiotisch an-
gelegten interpretativen Kulturanthropologie des Amerikaners Clifford Geertz
(1987) aus und wird in der deutschen Literaturwissenschaft auch als ‚anthro-
pologische Wende’ bezeichnet (cf. Bachmann-­Medick 1996). Das bedeutet, dass
sich anthropologische Migrationsphänomene grundsätzlich textuell darstellen
und auch analysieren lassen, die z. B. sind: Heimweh, Auseinandersetzung mit
einer neuen Kultur, kultureller Konflikt zwischen Herkunfts- und Ankunftskultur,
Versuch der Verbindung dieser Kulturen (z. B. in Form einer kulturellen Hybri-
disierung), Erfahrung der Ablehnung von Fremd- und Andersheit, unter Um-
ständen die Verarbeitung von traumatischen Ereignissen im Zusammenhang mit
der Migration, Sprachprobleme, Transiterfahrungen etc. Es käme nun darauf an
zu zeigen, dass sich solche kulturanthropologischen Faktoren der Migration in be-
stimmten Texten sowohl der so genannten ‚interkulturellen Literatur’ als auch der
‚Exilliteratur’ auffinden lassen, die man dann eben beide als ‚Migrationsliteratur’
klassifizieren könnte, ganz unabhängig von der Herkunft und kulturellen Zu-
gehörigkeit der AutorInnen. Ich möchte diese Faktoren in Hinsicht auf einen Be-
reich, den man den ‚kulturellen Standort’ nennen könnte, aufweisen: Dabei gehe
ich davon aus, dass diese Literatur oftmals Verarbeitungs- und Bewältigungsform
einer zuweilen auch traumatisch aufgenommenen Migrations- bzw. Exilerfahrung
ist. Grundsätzlich wäre festzuhalten, dass der eigentliche Ort der Migration und
des Exils – und damit, im Falle der Literatur, der Ort der Narration – zwischen

7 Primär thematisch ist z. B. der Ansatz bei Carmine Chiellino, der die interkulturel-
le Literatur nach den Herkunftsländern der Autoren und Autorinnen aufgliedert
(cf. Chiellino 2000). Die Diskussionen um eine bestimmte bzw. typische ‚Ästhetik’ der
interkulturellen Literatur (die ich als Teil der Migrationsliteratur ansehe) sind bislang
über ein Anfangsstadium noch nicht hinausgekommen: Das ästhetische Kriterium
‚experimenteller Sprachgebrauch’ etwa kennzeichnet nur eine beschränkte Anzahl von
Texten dieser Literatur (cf. Cerri 2011: 399–401). Ein anderer Versuch der Bestimmung
der ‚ästhetischen Form’ dieser Literatur als bestehend „aus der Spannung zwischen
Kulturen, Sprachen, Mentalitäten, Blickwinkeln und Erzähltraditionen“ ist m. E. viel
zu unspezifisch (cf. Cerri 2008: 424, im Anschluss an Rösch 1992).
134 Thomas Pekar

zwei (oder auch mehr) Kulturen liegt, nämlich der ursprünglich bekannten, aber
in gewisser Weise verlorenen Herkunftskultur/Heimat, die – ob freiwillig oder
nicht8 – der (E-)Migrant/die (E-)Migrantin verlassen hat, und der neuen, oft ganz
unbekannten Aufnahmekultur. Der kulturelle Standort der Migration und des
Exils wäre damit ‚transkulturell’9, wäre der dritte, hybride Bereich zwischen dem
Bekannten und dem Fremden, zwischen einer durch den Verlust der Heimat ge-
prägten Vergangenheit und einer neuen, oft ungewissen Zukunft. Migrationstexte
könnten so als Versuche gelesen werden, eine womöglich gleichzeitige Präsenz
dieser beiden Kulturen (d. h. der Herkunfts- und Aufnahmekultur) herzustellen.10
Damit wären bei einer Analyse der Texte der Migrationsliteratur immer wenigs-
tens diese drei Faktoren zu beachten:
a) die Beziehung dieser Texte zur eigenen Tradition, zur Herkunftskultur, z. B. in
Hinsicht auf die in ihnen artikulierte ‚Sehnsucht nach der Heimat’, oder auch
in Hinsicht auf die Thematisierung (bzw. Versuche der Thematisierung) von
negativen bis traumatischen Erlebnissen und Ereignissen vor der Migration
bzw. von Ereignissen, die zur Migration und zum Exil geführt haben, wie
Armut, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung, Verfolgung, Haft etc.;
b) die Beziehung dieser Texte zur Aufnahmekultur, z. B. die produktive Rezeption
spezifischer Besonderheiten dieser Kultur und Anpassungsleistungen an sie;
c) die Verarbeitungs- bzw. Bewältigungsstrategie/Narration dieser Texte selbst
in Hinsicht auf die Schaffung eines hybriden, dritten Bereichs, in dem z. B.
verschiedene Kulturen amalgamiert werden.
Dem zugeordnet lassen sich meiner Meinung nach drei idealtypische textuelle
Verarbeitungsweisen11 der Migration und des Exils beobachten:

8 Ich glaube, dass dies keine wesentliche Rolle spielt bzw. nicht klar voneinander ab-
zugrenzen ist. Ist so z. B. ein ‚Wirtschaftsflüchtling’ (also jemand, der im extremen Fall
nicht verhungern möchte) ein freiwilliger oder unfreiwilliger Auswanderer?
9 Dieser Begriff wurde bekanntlich von Wolfgang Welsch (1994) geprägt und soll hier
nur in dem Sinne aufgenommen werden, dass sich dieser kulturelle Standort nicht
mehr innerhalb der Grenzen einer bestimmten Kultur befindet.
10 Einen ähnlichen Ansatz vertritt Bronfen (1993) in ihrem Konzept von Exilliteratur.
Ursula Langkau-­Alex hatte bereits einen „vergleichende[n] Blick auf heutiges Asyl
und Exil“ gefordert, auch von „(E)Migration“ gesprochen und die Zusammenführung
„der Literatur von Flüchtlingen, Einwanderern, Auswanderern als Migrationsliteratur“
angeregt (Langkau-­Alex 2012: 204).
11 Inwieweit diese textuellen mit habituellen Verarbeitungsweisen (also Verhaltenswei-
sen) korrespondieren, ist eine soziologisch entscheidende Frage, die hier aber nicht
thematisiert werden kann.
Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration 135

a) das Festhalten bzw. der Versuch des Festhaltens an der Heimatkultur, obwohl
sich der (E-)Migrant/die (E-)Migrantin aus ihr entfernt hat;
b) Akkulturation und Assimilation an die Aufnahmekultur, verbunden mit der
Tilgung dessen, was den (E-)Migranten/die (E-)Migrantin mit der verlassenen
Heimat verbindet, wobei hier insbesondere das Sprachenproblem (z. B. das
Erlernen einer neuen Sprache) einen zentralen Punkt bildet;
c) Versuch der Schaffung eines ‚neuen’ Raumes, d. h. die Identifikation mit dem
Zustand einer dann ‚dauerhaften’ (E-)Migration; Verweigerung der Akkultu-
ration und Fetischisierung des Zustands des Verlustes und des Dazwischen.
Um zu verdeutlichen, was ich mit diesen drei Positionen, die den kulturellen
Standort der Migration und des Exils markieren, genauer meine, möchte ich
diesen Positionen Texte von Autoren und Autorin der interkulturellen Literatur
und der traditionellen Exilliteratur zuordnen.

2.1 Heimat
Ich beginne mit dem ersten Idealtypus: Festhalten bzw. Versuch des Festhaltens an
der Heimatkultur. Dem entspricht eine bestimmte Problematik, die beispielsweise
in der 1990 veröffentlichten Erzählung Mutterzunge der in der Türkei geborenen
Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar12 thematisiert wird. Dort beklagt die Pro-
tagonistin den Verlust der eigenen Sprache, eben der, wie sie es nennt, ‚Mutter-
zunge’ bzw. Muttersprache:
Wenn ich nur wüßte, wann ich meine Mutterzunge verloren habe. Ich und meine Mutter
sprachen mal in unserer Mutterzunge. […] Ich erinnere mich jetzt an Muttersätze, die sie
in ihrer Mutterzunge gesagt hat, nur dann, wenn ich ihre Stimme mir vorstelle, die Sätze
selbst kamen in meine Ohren wie eine von mir gut gelernte Fremdsprache (Özdamar
4
2010 [1990]: 9).

Dieser Verlust der türkischen ‚Mutterzunge’/Muttersprache ist mit dem Verlust


der eigenen Kultur und Tradition verbunden. Als eine Art Kompromiss, um
diesen Verlust in gewisser Weise klein zu halten, könnte man Özdamars Ent-
scheidung interpretieren, ihre Erzählung in einem ‚unvollkommenen’, ‚minori-
tären’ Deutsch zu schreiben, welches nicht nur von zahlreichen türkischen und
arabischen Worten durchflochten ist, sondern auch von dem früher so genannten
‚Gastarbeiterdeutsch’ (cf. Glück 22000: 229). Ein Beispiel: „Ich konnte am Anfang

12 Sie kam 1965 erstmalig nach Berlin, wo sie zunächst in einer Elektrofabrik arbeitete.
Später war sie auch als Schauspielerin tätig.
136 Thomas Pekar

hier den Kölner Dom nicht angucken. Wenn der Zug in Köln ankam, ich machte
immer Augen zu […]“ (Özdamar 42010 [1990]: 13).13
Ein ähnliches Festhalten an der Heimatkultur bzw. das Problematisieren dieses
Festhaltens ist auch in vielen Texten der Exilliteratur zu finden; ich möchte nur
an Brechts Gedicht „Über die Bezeichnung Emigranten“ (aus den Svendborger
Gedichten) erinnern, in dem es heißt: „Und kein Heim, ein Exil soll das Land
sein, das uns da aufnahm. / Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen /
Wartend des Tags der Rückkehr […]“ (Brecht 1988 [1939]: 81). Und über das
Fremdsprachenlernen äußerte sich Brecht dementsprechend negativ: „Wozu in
einer fremden Grammatik blättern? / Die Nachricht, die dich heimruft / Ist in
bekannter Sprache geschrieben“ (ibid.: 82).Ist dieses Festhalten an der Heimat bei
Brecht politisch motiviert, so hält – um noch ein weiteres Beispiel aus der Exil-
literatur zu nennen – Lion Feuchtwangers Held Sepp Trautwein in dem Roman
Exil aus lebenspraktischen Gründen – oder einfach auch wegen seiner Unfähig-
keit, sich auf seine neue Pariser Umgebung einzustellen – an der geliebten Münch-
ner Heimat fest.14 Er ist ein von Feuchtwanger so genannter „Muß-­Emigrant“
(Feuchtwanger 51988 [1940]: 131). Feuchtwanger zeichnet ein sehr differenziertes
Bild der deutschen Emigration in Frankreich – er nennt sie „zerklüfteter als jede
andere“ (ibid.: 130) – und eine Gruppe der Emigranten sei, so Feuchtwanger, „von
ihrem Früher“15 nicht losgekommen.

13 Die Verwendung des umgangsprachlichen Wortes ‚angucken’ (statt etwa ‚anschau-


en’), die falsche Syntax und das Weglassen des Artikels bei ‚Augen’, dieser besondere
Sprachstil also ist natürlich nicht etwa auf das Unvermögen der Autorin (oder ihres
Lektorats) zurückzuführen, sich ‚korrekt’ auszudrücken, sondern ist vielmehr ein be-
wusst eingesetztes Kunstmittel: Özdamar spricht davon, das ‚sprachliche Fehler’ zur
Identität ihrer Figuren gehören, ja dass in den ‚Fehlern’ fast ‚Poesie’ liege (cf. Özdamar
1998: 178 f.). Özdamars ‚Lösung’ der Beziehung zur Heimatkultur und Heimatsprache
ist also gerade keine radikale Hinwendung zu ihr. Sie richtet sich vielmehr in einem
provisorischen, hybriden Bereich ein, der bereits auf die dritte idealtypische Verarbei-
tungsweise der Migration vorausweist.
14 So heißt es z. B.: „Seine Musik hat er in Paris so gut wie in München, seinen Schreib-
tisch hat er auch, sogar ein Piano, er kann arbeiten. Selbstverständlich würde er lieber,
wenn er sich Ernsthaftes durch den Kopf gehen läßt, die Isar entlanglaufen als die Kais
der Seine; aber schließlich fällt einem auch an der Seine was ein […]“ (Feuchtwanger
5
1988 [1940]: 11). Und am Ende des Romans wird dies erneut betont: „[D]runten
strömte der Fluß, ach, es war die Seine, nicht die Isar […]“ (ibid.: 843).
15 „‚Bei uns war das so’, sagten sie [diese Emigranten, Hinzufügung von mir, TP]; alles
war ‚bei uns‘ schöner gewesen, praktischer, sinnvoller. ‚Bei uns’, sagten sie, dachten sie,
bedauerten sie, werteten sie bei jedem Anlaß, deutsch und französisch: ‚Bei uns – Chez
nous.’ Die Chez nous nannten sie die Franzosen“ (Feuchtwanger 51988 [1940]: 279).
Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration 137

2.2 Anpassung
Nun einige Beispiele für die zweite Verarbeitungsweise, nämlich die Akkultu-
ration an die Aufnahmekultur: Zunächst wieder ein Beispiel aus der ‚interkul-
turellen Literatur’ – und ich beziehe mich hier auf einige frühe Texte des aus
Syrien stammenden Schriftstellers Rafik Schami, der seit 1971 in Deutschland
lebt. Dieses Beispiel mag vielleicht überraschen, da Schami sich als dezidiert
‚orientalischer Erzähler’ einen Namen gemacht hat, doch hat er es, zumindest
in seinen frühen Texten, vermieden, Brüche, Irritationen und Leerstellen zu
vermitteln.16 Sein Orient, an den er mit Büchern betitelt wie etwa Vom Zau-
ber der Zunge (32001 [1991]) anknüpft, ist der kulturell-­literarische Orient der
Geschichten aus 1001 Nacht und der Orient des persischen Dichter Hafis, der
bekanntlich Goethe zu seinem West-­östlichen Divan inspirierte. Schami versteht
es, diese orientalische Erzähltradition und damit auch seine eigene Sprache und
Sprachtradition, offenbar mühelos ins Deutsche zu transponieren, ja er sagte
in einem Interview sogar, dass er Deutschland seine ‚literarische Sprache’ ver-
danke (cf. Schami 1998: 55). So kann es nicht verwundern, dass Schami einen
ausgesprochen ‚edlen’ poetischen Sprachduktus pflegt, der weit von Özdamars
gebrochenem und himmelweit von Zaimoglus ‚mißtönendem’17 Deutsch, auf das
ich gleich eingehe, entfernt ist. Um ein kurzes Beispiel für diese ‚edle’ Sprache
Schamis zu geben, sei dieser Text ‚Herbststimmung’ von ihm zitiert, den ich gar
nicht weiter kommentieren möchte:
Der Herbst verlangt nach Langsamkeit, Besinnlichkeit. Seine sensiblen vielfältigen Farben
sind zerbrechlicher als die schwach gewordenen Sonnenstrahlen. […] Der Herbst, wenn
er seinen Gang langsam und leise ansetzt, entfaltet in mir das allerschönste und tiefste
Gefühl für die Natur (Schami 22000 [1997]: 95 f.).

16 Zum Teil scheint Schami die in Deutschland vorhandenen orientalistischen Klischees


zu bedienen, so vor allem mit seinem erfolgreichen Band Erzähler der Nacht (102001
[1989]), in welchem „jede Seite […] mit orientalisch anmutenden Arabesken ausgestat-
tet“ ist, so dass der Leser dem „Orient auf jeder Seite auch visuell“ (Wild 2006: 119)
begegnen kann. Dem entspricht es auch, dass Schami bei seinen zahlreichen Lesungen
wie ein orientalischer Erzähler auftritt, was ihm im übrigen den Vorwurf des ‚ara-
bischen Märchenonkels’ eingebracht hat (cf. ibid.: 110); zum anderen jedoch ist Schami
ein vor allem seiner arabischen Heimat Syrien gegenüber kritisch-­politischer Autor;
sein umfangreicher später Roman Die dunkle Seite der Liebe (2004) durchbricht ori-
entalistische Klischees, indem er in ihm arabische Herrschafts- und Machtstrukturen
schonungslos, auch in Hinsicht auf Gewalt und Sexualität, darstellt.
17 Der Untertitel seines Buches Kanak Sprak lautet: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft
(Zaimoglu 72007 [1995]).
138 Thomas Pekar

Was nun Akkulturation18 in bzw. Assimilation an die Aufnahmekultur in der


Exillliteratur betrifft, so habe man dies lange in der Exilforschung nur wenig
berücksichtigt, meinen jedenfalls die beiden Herausgeber eines Bandes zum
Thema Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933, Sabina Becker und
Robert Krause19, der diese Forschungslücke schließen will. Musterbeispiele für
Akkulturation bzw. ihren Versuch sind natürlich vor allem diejenigen Autoren/
Autorinnen, die einen Sprachenwechsel vollzogen haben, d. h. anfingen, in der
Sprache ihres Exillandes zu publizieren – und dafür wäre das wohl prominentes-
te Beispiel Klaus Mann, der nicht nur seinen ‚Lebensbericht’ The Turning Point
(1942), sondern eine ganze Reihe weiterer Werke auf Englisch schrieb.20 In eins
ging dieser bei Mann unter vielen Ängsten21, Zweifeln und Kämpfen erreichte
Sprachenwechsel22 mit seiner Abwendung von Deutschland und seinem Ame-
rikaner-23 bzw. Weltbürgerwerden. Äußerungen Manns in dieser Hinsicht stehen
in direktem Gegensatz zu den von mir eben zitierten Gedichtzeilen Brechts; so
schreibt Mann beispielsweise in seinem Tagebuch 1940: „Dieses ‚Exil‘ dauert nun

18 Verstanden als „nicht nur die soziale, sondern auch die sprachliche, kulturelle und
literarische Integration“ (Becker & Krause 2010: 9) der Emigranten in ihre jeweiligen
Gastländer.
19 „In der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Exil ist der Aspekt der
Akkulturation erst in Anfängen berücksichtigt worden“ (Becker & Krause 2010: 3).
Dabei wird auf den Artikel „Zum Begriff der Akkulturation“ im Handbuch der deutsch-
sprachigen Emigration Bezug genommen, in dem es heißt: „Insgesamt gesehen, ist der
Prozeß der Akkulturation, gerade im Bereich des literarischen und künstlerischen
Exils, aber noch weitgehend unerforscht“ (Hoffmann 1998: 123). Darauf hatte bereits
1995 Lutz Winckler hingewiesen (cf. Winckler 1995: 79).
20 Z.B.: Escape to life (1939), The Other Germany (1940), André Gide and the Crisis of
Modern Thought (1943) (cf. Hug & Herbers 2010: 182). Zum Problem des Sprach-
wechsels bei ihm cf. Utsch 2007.
21 So schreibt Klaus Mann: „Bin ich dem Deutschen nicht schon halb entfremdet? Viel-
leicht läuft es darauf hinaus, daß man die Muttersprache verlernt, ohne mit der neuen
Zunge jemals ganz vertraut zu werden … Aber wenn ich keine Sprache mehr hätte,
was bliebe mir …?“ (Mann 22008 [1952]: 587).
22 Dies bezeugen Tagebuchaufzeichnungen; man kann diesbezüglich von einem „Kampf “
sprechen, „der um den vollständigen Erwerb der Zweitsprache ausgefochten werden
muss“ (Hug & Herbers 2010: 180).
23 So spricht er in einem Brief 1945 davon, dass er sein „Deutschtum“ aufgegeben habe
und „Amerikaner geworden“ sei, „schließlich sogar amerikanischer Soldat“ (Mann
2
2008 [1952]: 695 f.).
Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration 139

7 Jahre […]. Deutschland wird mir immer fremder, ferner und gleichgültiger
[…].“24 Und in Der Wendepunkt heißt es:
Werden wir – werde ich jemals wieder in Deutschland leben? Wohl kaum. […] Die alte
Heimat findest du nicht mehr, auch eine neue ist dir nicht beschieden. Die Welt ist deine
Heimat: eine andere hast du nicht. Die ganze Welt wird meine Heimat sein […] (Mann
2
2008 [1952]: 593 f.).

2.3 Transit
Ich komme nun zu dem dritten Idealtyp, dem Versuch der Schaffung eines ‚neu-
en’ Raumes, wobei es sich auch um einen ‚neuen’ Sprachraum handeln kann.
Hier wäre mein Beispiel aus der interkulturellen Literatur das Buch Kanak Sprak
des in der Türkei geborenen, allerdings dann schon ein Jahr nach seiner Geburt
nach Deutschland gekommenen Feridun Zaimoglu. Geboren 1964, gehört er
einer anderen Generation als Özdamar und Schami an, die beide 1946 geboren
sind. Er steht der dritten Generation der Migranten näher, der Generation der
in Deutschland Geborenen, die auch die Helden seines Buches sind. Wie er am
Anfang schreibt, sieht er eine Analogie zur „Black-­consciousness-­Bewegung in
den USA“, indem er das „verunglimpfende Hetzwort“ ‚Kanake’ zum „identitäts-
stifenden Kennwort“ erhebt und in seinem Buch „Kanaken in ihrer eigenen Zunge
zu Wort“ (Zaimoglu 72007 [1995]: 17 f.) kommen sollen. Das hört sich dann so an:
[W]ir sind hier allesamt nigger, wir haben unser ghetto, wir schleppen’s überall hin, wir
dampfen fremdländisch, unser schweiß ist nigger, unser leben ist nigger […] und unsere
fressen und unser eigener stil ist so verdammt nigger, daß wir wie blöde an unser haut
kratzen, und dabei kapieren wir, daß zum nigger nicht die olle pechhaut gehört, aber zum
nigger gehört ne ganze menge anderssein und andres leben (ibid.: 25).

Man sollte sich aber nicht täuschen lassen: Obwohl Zaimoglu in Hinsicht auf
seinen Text von ‚Protokollen’, wenn auch in Anführungszeichen, spricht (cf.
ibid.: 15), denen Interviews mit jungen Türken vorausgegangen sein sollen, so ist
der Status dieser ‚Protokolle’ bei ihm doch sehr ungewiss.25 Man muss wohl hier
von einer literarischen Fiktionalisierung sprechen bzw. von dem Erfinden dieser
hybriden Kunstsprache ‚Kanak Sprak’, die auf keinen Fall mit real existierenden
migrantischen Soziolekten zu verwechseln ist.

24 Mann, Tagebücher 1940–1943, S. 28; zit. nach Hug & Herbers, „Weltbürger“ (München
2010, 183 f.).
25 Er habe, so schreibt er, später die Tonbänder der Interviews gelöscht, „auf ausdrück-
lichen Wunsch der Gesprächspartner in deren Beisein“ (Zaimoglu 72007 [1995]: 18).
140 Thomas Pekar

Der transitäre Zwischenbereich kann als der Ort des Exils, als der Ort der Exil-
literatur überhaupt angesehen werden. Bei allem Elend des Exils ist er zugleich
aber auch ein produktiver Ort und ein Ort der Kreativität.26 Dies wird vielleicht
nirgends so deutlich wie in der sozusagen ‚Apotheose’ des Wartesaals, des Transit-
raums schlechthin, bei Feuchtwanger am Ende seines Romans Exil. „Der Warte-
saal“, so lautet zum einen der Titel des Zyklus der Romantrilogie Feuchtwangers,
der in den 1920er Jahren einsetzt und den Aufstieg des Nationalsozialismus in
Bayern bis hin zum Exil in Frankreich 1935 schildert. „Der Wartesaal“ ist zudem
der Titel des dritten und abschließenden Buches des Romans Exil. Darüber hinaus
ist „Der Wartesaal“ der Titel des sechsten Kapitels dieses Buches. Und schließ-
lich heißt „Wartesaal“ auch Sepp Trautweins Sinfonie, die ihm als eine Vision
in dem „winzigen, übelriechenden Zimmer“ (Feuchtwanger 51988 [1940]: 627)
eines Mit-­Exilanten überfällt. Mit dieser Sinfonie, die er nach langer, verbissener
Arbeit fertigstellen kann, verklärt sich ihm die ‚Qual’ der langen Exil-­Jahre in
einen ‚Triumph’, der ein Ende des Exils antizipiert.27
Auch in Anna Seghers Roman Transit, dem, wie Walter Jens ihn genannt hat,
„Archetypus aller Emigrations-­Dokumentationen“ (Jens 1990: 1166), ist dieser
Bereich des Transits nicht nur negativ besetzt: Zwar ist ihm eine gewisse Paradoxie
eingeschrieben – Transit ist „die Erlaubnis ein Land zu durchfahren, wenn es
feststeht, daß man nicht bleiben will“ (Seghers 132007 [1948]: 47) –, zwar steht
er der Sehnsucht des Protagonisten nach dem „gewöhnlichen Leben“ (ibid.: 65)
entgegen, zwar zwingt er den Menschen ein sorgenvolles Leben auf28 und ist über-
haupt ein fragwürdiger Bereich, doch heißt es ganz am Ende des Romans, dass
dieser Zustand, „den man auf Konsulaten Transit nennt […] in der gewöhnlichen
Sprache Gegenwart“ heißt – und dies dann der Bereich ist, in dem der Protagonist
eine Ahnung von seiner „eigenen Unversehrbarkeit“ (ibid.: 273) erhält.29

26 Feuchtwanger bringt dies auf die Formel von der „Größe und Erbärmlichkeit des Exils“
(Feuchtwanger 51988 [1940]: 146).
27 In seinem Pariser Exil hört Trautwein der Londoner Uraufführung seiner Sinfonie zu:
„Die letzten starken Takte des „Wartesaals“ klangen auf, da die unsichtbaren Wände
einstürzen und der langerharrte Zug nun doch kommt, die Wartenden aufzuneh-
men. Und dann war die Musik zu Ende, noch schwang der Jubel der Posaunen in der
Luft, mit wieviel Qualen war er erkauft, und hinein brauste jetzt der Jubel der Hörer“
(Feuchtwanger 51988 [1940]: 844).
28 So spricht Seghers beispielsweise von einem ‚von Transitsorgen entstellen Gesicht’
(cf. Seghers 132007 [1948]: 91).
29 In diesem Zusammenhang spricht man auch von einer „Poetik des Transitorischen“
(Delfau 2010) bei Seghers.
Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration 141

Andere Orte des Transitären in der Exilliteratur, wie z. B. Vicki Baums Roman
Hotel Shanghai (2007 [1939]), der gleich zwei tranistäre Orte, nämlich das Hotel
und die chinesische Hafenstadt Shanghai, die während des Zweiten Weltkriegs
rund 20.000 jüdisch-­politischen Flüchtlingen aus Europa zeitweilig als Aufent-
haltsort diente, wären hier ebenfalls zu nennen.

3 Schluss
Abschließend lässt sich sagen, dass die hier gezeigte Parallelführung von ‚Exil-
literatur’ und so genannter ‚interkultureller Literatur’ Strukturentsprechungen
(Homologien) dieser Literaturen aufgezeigt hat, weshalb sie unter dem Titel der
‚Migration’ bzw. der ‚Migrationsliteratur’ zusammengeführt werden können.
In beiden Literaturen werden die drei von mir als zentral benannten Problem-
bereiche, die stichwortartig ‚Heimat’, ‚Anpassung’ und ‚Transit’ genannt wurden,
verhandelt. Dies ist aber keineswegs erstaunlich, da Literatur letztendlich an an-
thropologische Grunderfahrungen anknüpft, die in beiden der genannten Li-
teratur ähnlich, wenn nicht in gewisser Weise sogar gleich sein dürfte. Die hier
also als ‚Migrationsliteratur’ verstandenen Texte leisten auf ganz unterschiedliche
Weise eine produktive Verbindung von Zügen (mindestens) zweier Kulturen. Wie
unterschiedlich auch das sprachliche Aushandeln und Agieren in diesen Texten
ausfällt, ob als Einrichten in einem fragilen Provisorium, um nicht die Heimat
ganz zu vergessen, wie bei Özdamar oder als Verweigerung selbst eines proviso-
rischen Einrichtens wie bei Brecht; ob als ausgeschmückte Orientalisierung wie
bei Schami, um damit den Rezeptionserwartungen seiner deutschen LeserInnen
zu entsprechen oder als sprachlich-­persönliche Anpassung an das Amerikanische
und das Amerikanischwerden bei Klaus Mann; oder ob schließlich als revoltie-
render Aufstand und ‚Erfindung’ einer neuen weder türkischen noch deutschen
Sprache wie bei Zaimoglu oder als Entdecken der kreativen Dimension des Tran-
sitären wie bei Feuchtwanger und Seghers – was all diesen Texten gemeinsam ist,
ist dass sie die Grenzen von Kulturen überschreiten und so das enorme kreative
Potenzial der Migration als einem hybriden Zwischen-­Bereich (oder eben Transit-­
Bereich), zwischen Orten, Zeiten, Kulturen, Sprachen und Identitäten, zeigen.
Die Literatur der Migration ist eine hybride literarische Form, die sich be-
stimmten Kulturen nicht mehr eindeutig zuordnen lässt. Sie ist damit grund-
sätzlich ‚transkulturell’, insoweit sie sich eben einer solchen Situation verdankt,
die die Grenzen einer Kultur überschreitet,30 weshalb man in Hinsicht auf sie

30 Im Unterschied zu Welsch, der seinen Begriff der ‚Transkulturalität’ zeitlich auf die
Gegenwart beschränkt, sehe ich Züge des Transkulturellen eigentlich zu allen Zeiten
(cf. Welsch 1994: 147 f.).
142 Thomas Pekar

auch von ‚Transkulturalitätstexten’ sprechen könnte. Historisch gesehen dürfte die


Exilliteratur des 20. Jahrhunderts in dieser Hinsicht eine Pionierfunktion gehabt
haben – als (wenn auch nicht freiwilliges und oft durch politische Konflikte be-
stimmtes) Ausprobieren einer Lebens- und ihr entsprechenden Literaturform,
die das Leben vieler Menschen heute im 21. Jahrhundert bestimmt und mehr
um mehr das Leben der Zukunft dominieren wird.31 Ich will abschließend den
Soziologen Ludger Pries zitieren: „Die traditionellen Formen internationaler
Wanderung […] werden durch einen neuen Typus ersetzt: durch den der Trans-
migration. Transmigration kann als eine moderne Variante der nomadischen
Lebensform verstanden werden“ (Pries 2010: 9).
Es ist an der Zeit, die wichtigen Erfahrungen, die die Exilanten mit dieser
nomadischen Lebensform bereits gemacht haben, nun auch mit unserer Gegen-
wart und ihrer Literatur zu verknüpfen.

Literatur
Bachmann-­Medick, Doris (ed.) 1996: Kultur als Text. Die anthropologische Wende
in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M.: Fischer
Baum, Vicki 2007 [1939]: Hotel Shanghai. Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch
Becker, Sabina & Robert Krause 2010: „Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium
der Akkulturation nach 1933“, in: Sabina Becker & Robert Krause (eds.): Exil
ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933, München:
Ed. Text und Kritik, 1–16
Brecht, Bertolt 1988 [1939]: „Svendborger Gedichte“, in: id.: Gedichte 2. Samm-
lungen 1938–1956 (= Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter
Ausgabe, Bd 12), Berlin/Weimar/Frankfurt a. M.: Aufbau/Suhrkamp, 7–92
Bronfen, Elisabeth 1993: „Exil in der Literatur. Zwischen Metapher und Realität“,
in: Arcadia 28.2 (1993): 167–183
Cerri, Chiara 2008: „Interkulturelle Literatur. Ein erneutes Plädoyer für eine drin-
gende begriffliche Entscheidung“, in: Weimarer Beiträge 54.3 (2008): 424–436
Cerri, Chiara 2011: „Mut zur interkulturellen Literatur im DaF-­Unterricht“, in:
Info DaF. Informationen Deutsch als Fremdsprache 38.4 (2011): 391–413

31 Einen ähnlichen Gedanken äußert Caroline Delfau, allerdings nur auf Anna Seghers
bezogen: „[E]s drängt sich […] eine Vermutung auf: dass die transitorische Poetik
Anna Seghers’ kulturwissenschaftlichen Ansätzen des 20. und 21. Jahrhundert Vor-
schub geleistet haben könnte, gehen diese doch davon aus, daß die traditionellen
Dichotomien (wie Eigenes – Fremdes) zu überwinden sind und stattdessen Figuren
des Dazwischen in den Blick nehmen“ (Delfau 2010: 55).
Heimat, Anpassung und Transit in der Literatur des Exils und der Migration 143

Chiellino, Carmine (ed.) 2000: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Hand-


buch, Stuttgart/Weimar: Metzler
Delfau, Caroline 2010: „Zwischen den Welten. Zur Poetik des Transitorischen
in Anna Seghers’ Roman Transit und ihrer Novelle Überfahrt“, in: Sabina
Becker & Robert Krause (eds.): Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der
Akkulturation nach 1933, München: Ed. Text und Kritik, 38–56
Feuchtwanger, Lion 51988 [1940]: Exil. Roman, Berlin/Weimar: Aufbau
Geertz, Clifford 1987: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller
Systeme, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Glück, Helmut (ed.) 22000: Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart/Weimar: Metzler
Han, Byung-­Chul 2005: Hyperkulturalität. Kultur und Globalisierung, Berlin:
Merve
Hoffmann, Christhard 1998: „Zum Begriff der Akkulturation“, in: Claus-­Dieter
Krohn et. al. (eds.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945,
Darmstadt: Primus-­Verlag, 117–123
Hug, Ariane & Johanna Herbers 2010: „‚Weltbürger amerikanischer Nationalität‘.
Exil- und Akkulturationserfahrung bei Klaus Mann“, in: Sabina Becker & Ro-
bert Krause (eds.): Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation
nach 1933, München: Ed. Text und Kritik, 162–197
Jens, Walter 1990: „Anna Seghers“, in: Sinn und Form 42.6 (1990): 1164–1169
Langkau-­Alex, Ursula 2012: „Die Forschungen in den Niederlanden. National-,
Migrations- oder Exil-­Geschichtsschreibung? “, in: Exilforschung. Ein interna-
tionales Jahrbuch 30 (2012): 192–209
Mann, Klaus 22008 [1952]: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht, Reinbek: Rowohlt
Müller, Peter & Cicek, Jasmin (ed.) 2007: Migrantenliteratur. Arbeitstexte für den
Unterricht, Stuttgart: Reclam
Özdamar, Emine Sevgi 1998: „Die Wörter haben Körper“ [Interview], in: Lerke
von Saalfeld (ed.): Ich habe eine fremde Sprache gewählt. Ausländische Schrift-
steller schreiben deutsch, Gerlingen: Bleicher, 163–182
Özdamar, Emine Sevgi 42010 [1990]: Mutterzunge. Erzählungen, Berlin: Rotbuch
Pries, Ludger 32010: Internationale Migration, Bielefeld: Transcript
Rösch, Heidi 1992: Migrationsliteratur im interkulturellen Kontext. Eine didakti-
sche Studie zur Literatur von Aras Ören, Aysel Özakin, Franco Biondi und Rafik
Schami, Frankfurt a. M.: Verlag für Interkulturelle Kommunikation
Schami, Rafik 1998: „Ein ehrlicher Lügner“ [Interview], in: Lerke von Saalfeld
(ed.): Ich habe eine fremde Sprache gewählt. Ausländische Schriftsteller schreiben
deutsch, Gerlingen: Bleicher, 29–56
144 Thomas Pekar

Schami, Rafik 22000 [1997]: Gesammelte Olivenkerne aus dem Tagebuch der Frem-
de, München: dtv
Schami, Rafik 32001 [1991]: Vom Zauber der Zunge. Reden gegen das Verstummen,
München: dtv
Schami, Rafik 102001 [1989]: Erzähler der Nacht, München: dtv
Schami, Rafik 2004: Die dunkle Seite der Liebe, München/Wien: Hanser
Seghers, Anna 132007 [1948]: Transit Roman, Berlin: Aufbau
Utsch, Susanne 2007: Sprachwechsel im Exil. Die ‚linguistische Metamorphose‘ von
Klaus Mann, Köln etc.: Böhlau
Weigel, Sigrid 1992: „Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde“, in: Klaus
Briegleb & Sigrid Weigel (eds.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Hansers Sozi-
algeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart,
Bd. 12, München / Wien: Hanser, 182–229
Weinrich, Harald 1985: „Gastarbeiterliteratur in der Bundesrepublik Deutsch-
land“, in: LiLi – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 56 (1985):
12–22
Weinrich, Harald 2008: „Ein Rinnsal, das Fluss und Strom werden wollte. Zur
Vorgeschichte des Adelbert-­von-­Chamisso-­Preises“, in: Uwe Pörksen & Bernd
Busch (eds.): Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur. Positio-
nen des Schreibens in unserem Einwanderungsland, Göttingen: Wallstein, 10–18
Welsch, Wolfgang 1994: „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung
der Kulturen“, in: Kurt Luger & Rudi Renger (eds.): Dialog der Kulturen. Die
multikulturelle Gesellschaft und die Medien, Wien etc.: Österreichischer Kunst-
und Kulturverlag: 147–169
Wild, Bettina 2006: Rafik Schami, München: dtv
Winckler, Lutz 1995: „Mythen der Exilforschung?“ in: Exilforschung. Ein interna-
tionales Jahrbuch 13 (1995): 68–81
Zaimoglu, Feridun 72007 [1995]: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesell-
schaft, Berlin: Rotbuch
Zaimoglu, Feridun & Julia Abel 2006: „Migrationsliteratur ist ein toter Kadaver.
Ein Gespräch“, in: Heinz Ludwig Arnold (ed.): Text + Kritik. Sonderband. Li-
teratur und Migration, München: Edition Text und Kritik, 159–166
Theresa Specht (Osaka)

Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams


Schwalben des verrückten Lebens

Abstract: Nihat Behram’s novel Swallows of Cursed Life (Turkish original: Lanetli Ömrün
Kırlangıçları 1991) tells the short and painful life of the young refugee Ali, born in a village
somewhere near the Turkish-­Syrian border. Ali is raised in Anatolia – in a ‘city of dark-
ness’– where the authorities rule with brutal violence. Suffering abuse, Ali finds himself
constantly on the run until he finally arrives in a city in the ‘light of Europe’ – only to perish
in the fire of a collapsing house, his shelter. Ali’s death marks the starting point of the novel
which is told by a nameless narrator who – motivated by the announcement of an uni-
dentified death in a newspaper – starts to investigate and reconstruct the young refugee’s
life. In this article I will analyse the novel’s juxtaposition of darkness and light. In doing
so, I hope to draw some noteworthy conclusions in the context of Kurdish exile literature.

1 Einleitung
Pierre Dupont, der fiktive Flugreisende, den Marc Augé in seinem Vorwort zu
Nicht-­Orte skizziert, ist ein typischer geschäftlich Reisender in der globalisierten
Welt, welche von einer nahezu uneingeschränkten Mobilität von Personen und
Waren gekennzeichnet ist. Er ist unterwegs von Frankreich nach Asien, um dort
einen Geschäftspartner zu treffen. Prozeduren wie das Einchecken und die Zoll-
formalitäten bringt er problemlos hinter sich und genießt dann das „Gefühl von
Freiheit“, das er empfindet, „weil er jetzt nur noch der Dinge zu harren brauchte,
die ganz ohne sein Zutun geschehen würden.“ (Augé 2014: 12) Er zerstreut sich
beim Betrachten des Warenangebots der Duty Free Shops, blättert durch Maga-
zine und lässt sich schließlich über Kopfhörer mit Musik berieseln, als er sich
entspannt in seinem Sitz in der Business Class des Flugzeugs zurücklehnt.
Hier befindet sich offensichtlich jemand im Transit, der von den Auswirkun-
gen der Globalisierung profitiert, diese selbstverständlich in seinem Alltag nutzt
und daraus ein gutes Maß an Wohlbefinden zieht. Das Gefühl der unbegrenzten
Möglichkeiten, das Pierre Dupont während der Wartezeit am Flughafen über-
kommt, berauscht ihn sogar ein wenig:
Herrschte nicht an solchen Orten, an denen sich Tausende von individuellen Reisewegen
kreuzten, noch etwas von dem ungreifbaren Charme der ungenutzten Flächen und der
offenen Baustellen, der Bahnhöfe und Wartesäle, in denen die Schritte sich verlieren, all
146 Theresa Specht

dieser Orte zufälliger Begegnung, an denen man noch flüchtig die Möglichkeit von Aben-
teuer spürt, das Gefühl, dass man die Dinge nur „kommen lassen“ muss (Augé 2014: 12)?

Zu den Auswirkungen der Globalisierung gehören aber nicht nur der auf öko-
nomischen Interessen beruhende Personen- und Warenverkehr, sondern auch
die Zunahme von Migrations- und Wanderbewegungen aus existentiellen Nöten.
Was also, wenn die Person, die sich vom einen Ort zum anderen bewegt, nicht
auf Geschäftsreise wäre, sondern auf der Flucht? Wenn die „Grenzen und Tren-
nungslinien, deren Existenz wir angesichts des faszinierenden Schauspiels der
Globalisierung vielleicht gerne vergessen“ – so Augé im Nachwort zur Neuaus-
gabe der Nicht-­Orte (Augé 2014: 126) –, die sich für Pierre Dupont aufzulösen
scheinen, zu schwer überwindbaren Hindernissen werden, und der Reisende bzw.
Flüchtende zu den „Verdammten der Erde“ zählt, „die lieber den Tod riskieren,
indem sie vor ihm fliehen, als ihn zu erleiden, indem sie in ihrer angestammten
Heimat bleiben“ (Augé 2014: 132 f.)?
Für einen Menschen auf der Flucht bedeutet der Transitraum den Übergang
von einem (konkreten) Ort der Bedrohung zu einem (meist unbestimmten) Zu-
fluchtsort, an dem er Sicherheit zu finden hofft. Im Unterschied zur freiwilligen
Bewegung wie etwa einer Reise ist die Flucht ein unfreiwilliger transitorischer
Zustand. Die Bewegung erfolgt meist plötzlich und in einem Zustand der Angst;
das Völkerrecht bewertet Flucht als Folge des natürlichen Selbsterhaltungstriebs.
Der Flüchtende setzt seine Bewegung fort gemäß den begrenzten Möglichkeiten,
die sich ihm bieten, bis er einen sicheren Ort gefunden zu haben meint. Sein Auf-
enthalt an einem Transitort ist somit kein ‚regulärer‘. Während Pierre Dupont am
Flughafen seine individuelle Identität gegen die des ‚Passagiers‘ tauscht, nachdem
er durch die Ausweisung seiner Identität und ‚Unschuld‘ bei der Ticket- und
Passkontrolle regulären Zugang zu diesem Nicht-­Ort bekommen hat (cf. Augé
2014: 103), wird demgegenüber die Identität des Flüchtenden zu jeder Zeit und
an jedem Aufenthaltsort seiner Flucht durch ebendiese bestimmt. Der Zutritt
zum Nicht-­Ort im Sinne Augés, der „den, der ihn betritt, von seinen gewohnten
Bestimmungen“ befreit (ibid.), bleibt dem Flüchtenden verwehrt.
In diesem Beitrag möchte ich eine Flucht als prekären Zustand des Transits
anhand des Romans Schwalben des verrückten Lebens von Nihat Behram (türk.
1991; dt. Übers. 1992)1 untersuchen. Der flüchtende Protagonist ist ein kleiner
Junge, Ali, der zunächst innerhalb Anatoliens vom Dorf in die Stadt flieht und
schließlich nach Europa. Vermittelt durch den Ich-­Erzähler inszeniert der Roman
eine Begegnung des Lesers mit dem flüchtenden Jungen und seinem Schicksal, das

1 Verweise auf den Roman von Nihat Behram im Folgenden unter der Sigle SvL.
Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens 147

ich zunächst kurz skizzieren werde. Anschließend untersuche ich eingehend die
auffallende Gegenüberstellung der räumlichen Metaphern ‚Licht‘ und ‚Dunkel‘
sowie die Verortung des Flüchtenden Ali im Dunkel. In den Kontext kurdischer
Exilliteratur gestellt, in dem dieser Roman Behrams entsteht und von dem er
erzählt, werde ich abschließend Einsichten aus der Analyse der Geschichte Alis
herausstreichen, die ich als bedenkenswert für den Umgang mit kurdischer Exil-
literatur allgemein erachte.

2 Kurze Skizze des Romans


Die Figuren, die in Nihat Behrams Roman Schwalben des verrückten Lebens
(1992) aufeinandertreffen, auch wenn sie sich physisch nie begegnen, kommen
aus zwei verschiedenen ‚Welten‘: Hauptfigur ist der kurdische Junge Ali, dessen
kurzes, von Gewalt und Schmerz geprägtes Leben erzählt wird. Geboren in ei-
nem Dorf irgendwo an der türkisch-­syrischen Grenze, wächst er in Städten ‚im
Dunkeln Anatoliens‘ auf, wo die Obrigkeiten mit brutaler Gewalt herrschen: „In
den Straßen der Stadt im Dunkeln heulten die Hunde. Das war eine Stadt, in
der der Schmerz Zeitvertreib war. Eine Stadt, die nach Soldaten roch. Eine Stadt,
in der der Soldatengeruch in Blut und Schweiß säuerte. Eine Stadt in Sperma
und Kloake.“ (SvL 26) Erzählt wird seine Geschichte aus der Perspektive eines
Ich-­Erzählers, verortet in einer Stadt in Deutschland, ‚im Lichte Europas‘. Durch
eine Nachrichtennotiz über einen unidentifizierten Toten auf Alis Schicksal auf-
merksam geworden, beginnt dieser zu recherchieren und die Geschichte des
Jungen zu rekonstruieren.
Ali lebt am Rande der Gesellschaft, von ihr missachtet und missbraucht.
Die Orte, an denen wir ihm begegnen, sind dementsprechend Straßen in den
elendsten Vierteln, das Bordell, die Polizeiwache mit dem Gefängnis und immer
wieder der Müllplatz, wo er sich ernährt und versorgt. Er wohnt in provisorischen
und notdürftigen Unterkünften, die er verlässt, sobald er darin aufgestöbert und
erneut misshandelt wird; Bewegung von einem Ort zum anderen bedeutet für
ihn immer eine Flucht und den Willen, dem Tod noch einmal zu entkommen. So
gelangt er als Mitreisender in LKWs illegal über die Grenzen nach Deutschland,
wo zwar die körperlichen Misshandlungen ein Ende finden, er jedoch ebenso als
Ausgegrenzter am Rande der Gesellschaft lebt, eines Tages zwischen Mülltonnen
gefunden und in ein Heim gebracht wird, aus dem er wieder flieht. Schließlich
findet er Zuflucht in einem baufälligen Haus, zu dem ihm eine taubstumme Alte
den Zugang zeigt. Er findet damit eine Bleibe, in der er sich wohl fühlt, abseits von
Menschen; einzig die Taubstumme kümmert sich auf unaufdringliche Weise um
ihn. Aber dann brennt das Haus ab, Ali stirbt darin, und mit seinem Tod beginnt
148 Theresa Specht

der Erzähler den Roman: „Sein Tod hatte uns zum Kennenlernen gerufen. Ein
Ruf zum Kennenlernen, nicht nur an mich gerichtet, sondern an jeden, der es
hören konnte“ (SvL 8).
Das ‚Kennenlernen‘ vollzieht sich im Rekonstruieren von Alis Lebensgeschich-
te anhand der Spuren, die er hinterlassen hat. Und so, wie die Ich-­Erzählstimme
des Romans Ali durch die leidvollen Stationen seiner Flucht kennenlernte, er-
fährt auch der Leser nach und nach von seinem Schicksal. Die Erzählweise ist
ambivalent: Neben Passagen, in denen die Erzählstimme deutlich als Figur der
Rahmenhandlung agiert, tritt sie insbesondere in den Schilderungen um Ali stark
zurück, erzählt aus nächster Nähe zur Figur, wechselt zwischendurch zu anderen
Figuren und kehrt gegen Ende des Romans wieder zur Ich-­Perspektive zurück,
womit sich der Erzählkreis schließt.
Die Handlung verläuft nicht linear, sondern ist durch Vor- und Rücksprünge
gekennzeichnet. Der Text teilt sich in zwölf Kapitel, denen Gedichte vorangestellt
sind, die den folgenden Abschnitt kommentieren. Die Sprache ist eindringlich
durch viele Wiederholungen, Aufzählungen und bildreiche Variationen, die eine
atmosphärische Stimmung erzeugen. Meist eine beklemmende, denn die Ge-
schichte Alis ist grausam und die Sprache nicht beschönigend – brutale Gege-
benheiten werden mit deutlichen Worten beschrieben. Einen Ausblick gibt die
Erzählerfigur im einleitenden Kapitel:
Während ich Stück für Stück sein Erbe zusammenlas, sammelte ich die verblichenen
Fotografien aus meiner Brusttasche neben ihm und erzählte ihm von ihnen. […] Mit
seinem Leben fütterte ich ihn, erzählte von den Städten im Dunkeln, erzählte von dem
Röhren der Hengste und Züchter, erzählte von den Ställen, deren Wände von Samen-
geruch überzogen waren, erzählte von der ungesühnten Brutalität der Polizeiwachen,
Baracken und Zellen. Von den tollwütigen Nächten der Städte im Dunklen, […] von den
Abfällen der Garnisonen, in denen geschändete Hunde heulend um ihr Leben rangen,
von blutdampfenden Wunden, von Eingeweiden, Messern, vergewaltigten Kindern – von
all dem erzählte ich, und von Menschen mit herausgerissenen Zungen und ausgeschabten
Augen, von Bräuten mit aufgeschnittenen Bäuchen, von Vorbetern, Paschas, Bordellen,
Krankenhäusern, von Kindern, an deren gebrandmarkte After Würmer gesetzt werden
(SvL 12 f.).

Das Leben Alis, das im Roman geschildert wird, ist weniger „verrückt“, wie es
der Titel der deutschen Übersetzung des Romans suggeriert, sondern menschen-
unwürdig oder „verflucht“, wie es im Titel des türkischen Originals (lanetli) sowie
auch in der englischen Übersetzung (cursed life) angedeutet wird. Ali ist „[e]ines
dieser streunenden, geschändeten Kinder, […] die nicht als Kinder geboren wa-
ren“ (SvL 44), und seine Geschichte steht stellvertretend für ähnliche. Sein Leben
würde ohne das Engagement der Erzählerfigur undokumentiert bleiben, denn
Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens 149

er gehört zu jenen Ausgegrenzten, die nicht erfasst werden und nicht zählen, die
in Europa als unidentifizierte Tote in den Akten verschwinden, in Anatolien als
Leiche auf dem Müllplatz.
Über den Ich-­Erzähler der Rahmenhandlung wird der Leser im Unklaren
gelassen. Sicher ist, dass er sich in einer Stadt in Deutschland befindet, in die
auch Ali am Ende seiner Flucht gekommen war. Er stellt jedoch weniger einen
Gegenpol zu ihm dar als vielmehr ein Bindeglied zwischen Alis dunkler Welt
und der Welt in den ‚Städten im Licht‘. Gleichzeitig ist er der Mittler zwischen
dem Protagonisten und dem Leser. Seine Motivation, die Geschichte des Jungen
zu recherchieren und zu erzählen, beschreibt er als eine Suche nach Würde und
Menschlichkeit: „Die Menschheit war weit entfernt von ihrer wirklichen Bestim-
mung, das Leben weit entfernt von der Wirklichkeit des Menschen. Blut war die
Menschheit.“ (SvL 11) Und später: „Ihn zu suchen war der einzige Weg, mich mit
dem, was von meinem eingeschlafenen Herzen übriggeblieben war, herauszuar-
beiten aus dem Grab in blutiger Senke. Ihn zu suchen war der einzige Weg, auf
die Würde zu treffen, in Würde zu leben“ (SvL 12).

3 Dunkel versus Licht


Dunkel und Licht stellen zwei zentrale Bezugsgrößen im Roman dar. Ali, der im
Dunkeln geboren wurde, ist ein Teil dieser dunklen Welt, die durch männliche
Gewalt geprägt ist. Sein Vater und seine Brüder waren von Dorfschützern er-
mordet worden, und als Ali sechs Jahre alt ist, verliert er auch seine Schwester, als
ein militärisches Sonderkommando vergewaltigend und mordend über das Dorf
herfällt. Ali überlebt dies versteckt in einem Toilettenloch – buchstäblich „bis zur
Brust in [der] Scheiße“ stehend (SvL 12) – und darauf flieht die Mutter mit ihm
in eine Großstadt im Osten der Türkei, in der sie selbst später stirbt. Auch hier ist
das Leben von der Willkür und Gewalt der Obrigkeiten bestimmt.
Der Kommandant, der Gouverneur, der Vorbeter, der Polizeidirektor, der Bürgermeister
[…]: Sie regierten die Stadt kraft ihres Amtes, kraft ihrer Körper, kraft ihrer Schatten. Blut,
Schmerz, Frauen und Kinder waren billig zu haben. […] Eine Mutter forschte nicht bei
der Polizei nach ihrem verschwundenen Sohn. Ein Dörfler konnte nicht seine Tochter
oder seine Braut vor der Brutalität schützen (SvL 37).

Die dunklen Orte sind Alis Ausgangspunkt der Flucht, aber es sind nicht die
Orte selbst, denen er zu entfliehen versucht, sondern die Menschen, die ihn dort
misshandeln und missbrauchen. Die dunklen Orte sind vielmehr auch jene, an
denen er Schutz sucht und findet: im Dreck an den Außenbezirken der Städte, in
halb zerfallenen Hütten hinter Bordellen und immer wieder auf dem Müllplatz,
150 Theresa Specht

dem ersten Ort, den Ali und andere Flüchtende nach der Ankunft in einer neuen
Stadt aufsuchen: Der Müllplatz war der erste Ort seit langem, wo sie satt wurden,
der erste Ort, wo sie nicht unangenehm auffielen, der erste Ort, wo sie wieder
Herren ihres Lebens waren (SvL 89).
Aber auch hier werden sie nicht in Ruhe gelassen. Mit Wasser werden die
durstigen Kinder vom Müllplatz gelockt, eingefangen, misshandelt und fortgejagt.
„Heimatlosigkeit war ihre erste Bürgerkunde“ (SvL 88). In Anlehnung an Michel
de Certeaus Unterscheidung von Orten und Räumen in Kunst des Handelns könn-
te man formulieren: Es sind nicht die geographisch bestimmbaren Orte, „also
eine momentane Konstellation von festen Punkten“ (de Certeau 1988: 218), die
Ali und seinesgleichen fliehen, sondern die gesellschaftlichen, durch Bewegung
und Handlung markierten Räume, in denen das Gesetz des Stärkeren gilt. Der
Müllplatz als Ort ist für Ali positiv besetzt, denn er hält für ihn die Möglichkeit der
Befriedigung seiner Grundbedürfnisse bereit. Aber Ali und seinesgleichen sind
nicht die einzigen, die den Müllplatz beleben und damit als Raum ausgestalten:
Von Zeit zu Zeit droht ihnen Gefahr durch die Obrigkeiten.
Die Inhumanität der Lebensbedingungen und der Verlust jeglicher Men-
schenwürde finden ihren Niederschlag in einer nicht minder drastischen, ‚ent-
menschlichten‘ Figurendarstellung, in der die Flucht als Selbsterhaltungstrieb
sehr deutlich hervortritt. Durch die erlittenen Misshandlungen bewegt sich Ali
mehr wie ein Tier, folgt seinen Instinkten – schweigt, duckt und versteckt sich,
flieht – mit dem Ziel, so wenig Schmerz wie möglich zu erfahren. Aber in seinen
Unterschlüpfen wird er aufgespürt, vom Gestütsbesitzer vergewaltigt, von Po-
lizisten gefoltert und erneut fortgejagt. Schließlich keimt in ihm der Gedanke an
eine große geplante Flucht aus dem Dunkel ins Licht: „Das war nicht mehr der
Wunsch, den Durst, den Hunger zu bändigen, ein Dach über dem Kopf zu finden.
Er wollte jetzt etwas anderes. Der Traum von Flucht war geboren.“ (SvL 98) Als
Ali in Kontakt mit zwei Lastwagenfahrern aus Europa kommt, nutzt er die Chance
und lässt sich von ihnen im LKW versteckt mitnehmen.
Die Flucht in den LKWs, etwa in der Mitte des Romans, ist der Höhepunkt
der Geschichte und Alis glücklichste Zeit. Die Fahrt macht ihn frei, ausgedrückt
durch das Bild der Schwalben, das sich als Leitmotiv durch das Buch zieht und ja
auch prominent im Titel steht: „Seine Brust war voller Schwalben. Als kletterte
er auf einen Berg, als werfe er sich ins Meer, als flöge er in die Luft, so sprang er
in die Fahrerkabine.“ (SvL 104) Waren die Vergleichsbilder vorher das ängstliche
Zittern und Flügelschlagen eines in die Enge getriebenen Vogels, so ist es nun „das
Zittern von Schwalben, die in der unendlichen Weite mit dem Wind spielen, das
Zittern einer Knospe, die sich auf der Astspitze öffnet, sein Zittern ein Sturm, ein
Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens 151

Kometenschweif.“ (Ibid.) Nur die Fahrt kann „die Qual der Sehnsucht lindern“
(SvL 105), und somit ist der glücklichste Ort für Ali das Führerhäuschen des fah-
renden LKW. Ali „fliegt“ mit ihm, und zum ersten Mal befindet er sich im Licht:
Ali schwebte hoch im Himmel, endlich zu einer der Schwalben geworden, denen er in
schweren Tagen sehnsuchtsvoll nachgeträumt hatte. Jetzt flog auch er. Mit den stärksten
Flügeln, die seine Sehnsüchte aus dem Traumvorrat der Filme kannten, flog er zwischen
den Sternen, machte Bekanntschaft mit ihnen, verschwand und tauchte wieder auf aus
dem Dunkel mitten ins helle Licht (SvL 105 f.).

Die Führerhäuschen der LKWs bedeuten für Ali Orte der Freiheit, nicht weil
sie ihn vermeintlich zum Licht befördern, sondern weil sie sich außerhalb des
gesellschaftlichen Machtgefüges befinden, in sie keine Handlungen von außen
eindringen, die Alis Identität des Schwachen bestätigen und erneuern. Die Fahrer
nehmen den Jungen ohne Mitleid oder Forderung mit, und an ihrer Seite in den
großen Maschinen kann Ali zum ersten Mal ein Gefühl von Stärke entwickeln,
indem er teilhat „an dem Kitzel der Macht über die Straße, an dem Kitzel, furcht-
einflößend, unberührbar und unerreichbar zu sein“ (SvL 112).
Dass der ‚Traum vom Licht‘ sich mit der Ankunft in Europa nicht erfüllt,
erfährt der Leser im dem VII. Kapitel vorangestellten Gedicht: „Die Schwalbe
aus seinen Träumen: Er fand ihre Flügel mit Asche verklebt.“ (SvL 109) Die
‚Städte im Licht‘ zeichnen sich zwar dadurch aus, dass sie „ohne Soldaten, ohne
Schlangen, ohne Müllplatz, ohne Leichname, ohne Polizei, ohne Prügel“ usw.
sind (SvL 115), und damit von ihnen weniger unmittelbare Bedrohungen und
Gewalt ausgehen, aber das bedeutet nicht, dass Ali hier gut aufgehoben wäre:
„In den Städten im Licht gab es keinen Ort, […] in dessen Geruch Ali Schutz
finden konnte“ (SvL 145).
Im Roman geht es nicht um eine Gegenüberstellung von Anatolien und
Deutschland; Licht und Dunkel jeweils mit diesen gleichzusetzen wäre falsch.
Zwar sind die ‚Städte im Dunkeln‘ in Anatolien verortet, und die ‚Städte im
Licht‘ in Europa, aber Alis Ankunft in Deutschland bedeutet nicht gleichzeitig
für ihn persönlich eine Ankunft im Licht. Er wurde im Dunkeln geboren und
kann dem nicht entfliehen, auch in der ‚Stadt im Licht‘ bleibt er im Dunkeln.
Somit bezeichnen Dunkel und Licht keine konkreten Orte, sondern sie bilden
vielmehr die Pole eines unumstößlichen Machtverhältnisses: Geschildert wird
eine Welt, die sich in Starke und Schwache teilt, in Privilegierte und Verstoßene, in
Missbrauchende und Missbrauchte. Und Ali, dessen Schicksal „schon vor seiner
Geburt vorgezeichnet war“ (SvL 50), steht auf der Seite der Benachteiligten, für
die es keinen Platz im Licht gibt:
152 Theresa Specht

Sie waren registriert als ‚Krätze-, Schwindsucht- und Tripperbefallene‘, als ‚Unzüchtige,
Verseuchte, Befleckte, Unmoralische, Huren und sexuell Pervertierte‘. Solange sie lebten,
würden sie diesen Makel mit sich tragen. […] Geprügelt, verflucht, verjagt zu werden,
war die natürliche Folge ihrer Lebendigkeit. Das wußten sie. Das war das erste, was sie
in ihrer Kindheit gelernt hatten (SvL 87 f.).

Die Aspekte, die die Identität der Schwachen festlegen (die „Makel“), sind weder
selbst gewählt noch natürlich gegeben. Vielmehr handelt es sich bei den Benen-
nungen wie Verseuchte, Befleckte usw. um eine Zuschreibung von außen, die
stets erneuert und bestätigt wird und somit ein Leben lang am so Bezeichneten
haftet. Zudem wird es prägnant ersichtlich, dass diese Identitätszuschreibungen
als Akte sowohl physischer als auch verbaler Gewalt erfolgen. Eine Schlüsselstelle
zu diesem Ausgrenzungsmechanismus findet sich im Roman in einem Gespräch
Alis mit der Sozialarbeitern Gisela im Heim in Deutschland, in dem er – der
Vergewaltigte und Missbrauchte – ihr sein vorgebliches ‚Schwul-­Sein‘ zu erklären
versucht:
„Wenn sie sagen, du bist schwul, dann will deine Familie dich nicht kennen […]. Wenn du
einen Schwulen tötest, passiert sowieso nichts! Töte ihn und schmeiß’ ihn auf den Müll-
platz! […] wer mich kennt, weiß, daß ich schwul bin! Bist du es einmal, bist du es immer!
Sie brauchen dir nur einmal den Finger reinzustecken, schon bist du es!“ (SvL 137).

Durch die verbale Zuschreibung sowie auch durch die physische Gewalthandlung
wird die Identität des ‚Schwulen‘ von außen aufgezwungen und festgelegt. Dabei
bedingen sich der verbale und der physische Akt gegenseitig, die Zuschreibung
provoziert und legitimiert die Gewalthandlung und umgekehrt.
Gisela ist unfähig dies nachzuvollziehen, denn: „Ihre Vorstellung von Realität
paßte nicht“ (SvL 131). „‚Wer nichts getan hat, den kann niemand verurteilen!
[…]‘“ (SvL 132), antwortet sie und ist scheinbar überzeugt davon. Sie betrachtet
Ali als ein mit Schuldgefühlen beladenes Kind, das sie mit pädagogischen Me-
thoden wieder für die Gesellschaft gewinnen will, ohne zu begreifen, dass es die
Gesellschaft selbst ist, die Ali keine Chance gibt. Gisela schenkt Alis Erzählungen
wenig Glauben und interpretiert sie auf ihre Weise, „Obwohl Ali längst nicht alles,
sondern nur das wenige, an das er sich erinnerte, mit unbefangener Teilnahms-
losigkeit erzählte“ (ibid.), zweifelt Gisela an der Wahrheit seiner Erzählungen.
Denn wenn sie ihm glaubte, so der Erzählerkommentar, „dann würde in ihrer
eigenen Welt zuviel zusammenbrechen, und sie würde sich selbst nicht mehr er-
tragen können.“ (Ibid.) Gisela scheitert, da sie das grundsätzliche Machtverhältnis
verkennt, die erlittenen Grausamkeiten Alis und seine Chancenlosigkeit auf ein
menschenwürdiges Leben. „Das bißchen, was von Alis Spuren an Gisela haften
Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens 153

blieb, war das glückliche Produkt von Ignoranz: Wissen, der Segen der Städte im
Licht, hatte weder ausgereicht, die Geburt noch den Tod von Ali zu verstehen.“
(Ibid.) Gisela war in der Welt der Starken geboren:
Und das war eine Welt, in der die Starken immer recht hatten und die Schwachen immer
unrecht. […] Eine Welt, in der der Schwache nur soviel Recht hatte, wie der Starke ihm
einräumte. Eine Welt, in der die ärmsten Menschen der armen Länder und die reichsten
Menschen der reichen Länder zum Wettlauf gegeneinander auf die gleiche Bahn stolpern;
[…] in der die Unkultiviertheit und Schwäche der Armut der Kultiviertheit und Stärke
des Reichtums gegenüberstanden. Eine Welt, in der das Symbol von Fortschritt Reichtum,
und das Symbol von Rückschritt Armut war (SvL 150).

Ein Verstehen zwischen beiden Seiten scheint nicht möglich, solange dieses
Machtverhältnis besteht und diejenigen, die auf der Seite der Starken stehen, ihre
Position nicht kritisch hinterfragen. Die Annäherung wird allein dadurch bereits
unmöglich gemacht, dass das zugrundeliegende Oppositionsverhältnis durch die
Welt der Starken allererst festgelegt wurde. Und, so bemerkt der Erzähler: „Be-
sonders, wenn man aus einer Stadt im Dunkeln kommt, ist es unmöglich, einen
Menschen aus der Stadt im Licht davon zu überzeugen, daß er wenig weiß, ge-
schweige denn, daß er nichts weiß“ (SvL 151).

4 Der Roman im Kontext kurdischer Exilliteratur


Exilliteratur lässt sich nicht ohne den politischen Hintergrund der Herkunfts-
region lesen, und auf den entsprechenden Kontext wird auch in Behrams
Schwalben-­Roman angespielt: Am Rande werden „Dorfschützer“ und militärische
„Sonderkommandos“ (z. B. SvL 52) erwähnt, die Überfälle auf kurdische Dörfer
durchführen; vertriebene kurdische Bauern zählen zu den von der Gesellschaft
Ausgegrenzten, in den Polizeiwachen und Gefängnissen werden Menschen gefol-
tert, während aus Lautsprechern „Militärmärsche und Nationalgesänge“ (SvL 45)
schallen. Nach dem Fund der Leiche eines misshandelten Jungen kündigt der
zuständige Kommandant an: „In dem Sinne, wie wir unsere Stadt vom kurdischen
Terror säubern, so werden wir sie auch von jeder Art von Unmoral, Unzucht,
Dreck und Schmutz befreien“ (ibid.). Mit dem ‚Kurdisch-­Sein‘ verhält es sich
hier ebenso wie mit dem weiter oben skizzierten ‚Schwul-­Sein‘: Unwichtig ist,
welche Inhalte diesen Merkmalen gegeben werden und ob die derart bezeichnete
Person sich in irgendeiner Weise damit identifiziert. Auf der Textebene fungieren
die Bezeichnungen ‚kurdisch‘, ‚schwul‘ (‚kriminell‘, ‚unmoralisch‘, ‚verseucht‘) als
Diffamierung, welche die Person auf die Seite der Schwachen und Schuldigen
stellt und damit gleichzeitig die Gewalttaten der Starken gegen sie legitimiert
154 Theresa Specht

sowie neue provoziert. Dieser Mechanismus, diese Diskriminierung wird mit der
Geschichte Alis im Roman bloßgestellt und kritisiert.
Germanistische Forschungen zu Exilliteratur beschäftigen sich vorwiegend mit
dem Exil aus Nazi-­Deutschland 1933–1945; kurdische Exilliteratur ist zahlen-
mäßig eine kleine Literatur und so ist es nicht verwunderlich, dass sie bislang
nur wenig erforscht ist. Die einzige umfangreichere Arbeit von Hama Tschawisch
(1996) gibt einen Überblick und stellt dann fünf Autoren eingehender vor, die
auch selbst durch Interviews zu Wort kommen, welche im Anhang des Buches
abgedruckt sind.2 Zentral stehen dabei die Begriffe ‚Heimat‘, ‚Identität‘ und ‚Le-
ben in zwei Welten‘, die meines Erachtens wenig zielführend für den Umgang
mit Exilliteratur sind.
Alis Geschichte der Flucht macht dies sehr deutlich. Obwohl die Handlung vor
dem Hintergrund aktueller Gegebenheiten und bekannter Gegenüberstellungen
wie türkisch / kurdisch, Anatolien / Deutschland spielt, sind diese Kategorien
nicht Gegenstand der Verhandlung. Zwar überschreitet Ali staatliche und sprach-
liche Grenzen, doch ist er sich dessen kaum bewusst. „Wo ist Deutschland? Ist
hier Deutschland?“ (SvL 130), fragt er Gisela, aber die Antwort ist für ihn be-
deutungslos. Daher ist es auch inadäquat, nach dem Einfluss zu fragen, den diese
Transgressionen auf seine Identität haben könnten. Obwohl Ali als Protagonist
im Fokus steht, ist es vielmehr die Gesellschaft um ihn herum, auf die der Blick
gelenkt wird. Er, der Geschundene, lediglich defensiv Handelnde, Flüchtende ist
ein Spielball der brutalen Welt. Er wird zum ‚Schwulen‘, ‚Kranken‘, ‚Landstreicher‘
und ‚Kriminellen‘ gemacht, und diese Label stehen für Merkmale wie benachtei-
ligt, missbraucht, getötet.
Ich plädiere daher dafür, bei der Analyse von Exilliteratur statt Fragen nach
der Identität, der Vermischung und Entgrenzung (sowohl auf fiktionaler Ebene in
Bezug auf die Figuren als auch auf der außertextuellen Ebene in Bezug auf den/die
Autor/in) Fragen nach den Ursachen des Exils (also die politischen Hintergründe
für die Exilsituation) stärker in den Fokus zu rücken. Kurdische Exilliteratur ist
eine engagierte Literatur, welche Stellung bezieht und anklagt.3 Zudem ist die
Phase des Exils noch nicht abgeschlossen: Die Fluchtbewegungen aus kurdisch-
sprachigen Gebieten nach Deutschland bzw. Europa halten nach wie vor an. Kur-
dische Exilliteratur kommentiert also eine gesellschaftspolitische Situation, an der
sich bis heute nichts Grundlegendes geändert hat. Die Einsichten, die sich etwa

2 Die interviewten Autoren sind Feryad Fazil Omar, Fadil Ahmad, Hemres Reso, Jemal
Nebez und Nazif Telek.
3 Für einen detaillierteren Überblick zu kurdischer Exilliteratur im deutschsprachigen
Kontext siehe Specht 2014.
Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens 155

bei der Lektüre von Behrams Schwalben aus den frühen 1990er Jahren ergeben,
halte ich auch für die heutige Situation für gültig.4
„Kurdische Literatur und insbesondere Gedichte sind sehr viel mehr mit dem
Alltagsgeschehen verbunden als in Europa [.]“, bemerkt Zaradachet Hajo in sei-
nem Vortrag zu Kurdische Literatur im Exil (2004). Auch dies mag den Ansatz
bekräftigen, den Blick stärker auf das gesellschaftliche und politische Alltags-
geschehen im Hintergrund der Entstehung kurdischer Literatur zu lenken. Hajo,
der von 1998 bis 2013 Leiter des kurdischen P.E.N.-Zentrums in Deutschland war,
zeigt Probleme auf, mit denen kurdische Schriftsteller konfrontiert sind (Schrift-
und Sprachwahl, Zensur, Publizierverbot und andere Repressionen bis hin zu
Mord), und konstatiert: „Kurdische Schriftsteller haben es schwer, egal, ob sie
in Kurdistan oder im Exil arbeiten.“ Auf die Frage nach seiner Motivation zum
Schreiben antwortet der aus dem Irak stammende Lyriker Feryad Fazil Omar: „Bei
genauem Lesen meiner Werke wird an einigen Stellen deutlich, welch Schmerz
mich dazu veranlaßt hat, zu schreiben“ (zit. n. Hama Tschawisch 1996: 131).
Es ist ebenfalls ein Anliegen von Behrams Schwalben-­Roman, Grausamkeiten
aufzuzeigen und anzuklagen, die hier exemplarisch die Figur Ali erleidet. Der
Ich-­Erzähler gibt die Beweggründe für seine Recherchen an prominenter Stelle
zu Beginn des Romans bekannt. Behram, der in der Türkei zahlreiche Gedicht-
bände veröffentlichte, schrieb während seines Exils in Deutschland (1980–1996)
drei Romane, die in deutscher Übersetzung erschienen, und in denen er sich mit
den Themen politischer Widerstand (Tödlicher Mai – Leben und Tod im türkischen
Widerstand, Reportageroman 1989), Flucht (Schwalben 1992) und Exil (Gurbet.
Die Fremde 1989) beschäftigt. Sein Engagement, Ungerechtigkeiten aufzuzeigen,
die durch gesellschaftliche Benachteiligungen und durch den Missbrauch von
Macht durch die Starken geschaffen werden, findet sich in allen drei Romanen.

4 Berichte türkischer wie internationaler Menschenrechtsvereine der letzten Jahrzehnte


klagen die massiven staatlich organisierten Menschenrechtsverletzungen an (cf. Dolzer
2012: 126): „Auch nach der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 kam es nach
Auskunft des IHD [türk. Menschenrechtsverein, T.S.] nicht zu wesentlich weniger
Menschenrechtsverletzungen. Es haben sich im Wesentlichen nur die Strategien der
Repression verändert.“ Zudem habe „die Zahl der gravierenden Menschenrechtsver-
letzungen im Jahr 2009 mehr als bedenklich zugenommen“ (ibid.: 135). Diese Tendenz
zeigt sich drastisch nach dem so genannten ‚gescheiterten Putschversuch‘ in der Türkei
am 15./16. Juli 2016, nach dem zahlreiche massive staatlich verübte Menschenrechts-
verletzungen dokumentiert werden (bspw. von Amnesty International). Wie wenig
sich seit den 1990er Jahren bis zum Jahr 2015 an der Haltung der deutschen Politik
und Gesellschaft zur kurdischen Problematik verändert hat, zeige ich in Sprachliche
Markierungen der Kurden (Specht 2015).
156 Theresa Specht

Die Reportage Tödlicher Mai, in der er in Texten und Dokumenten die politische
Haft, Folter und schließlich den Selbstmord Ibrahim Kaypakkayas in türkischen
Gefängnissen nachzeichnet, bezeichnet er im Vorwort zur deutschen Ausgabe als
„Kampf gegen die Folter“ (Behram 1989a: 11) und bemerkt:
Ich lebe seit neun Jahren in Europa im Exil. Nach meinen Erfahrungen weiß man hier
nicht viel mehr als Allgemeinheiten über das, was die Menschen in der Türkei durch-
machen. […] Das Wissen beschränkt sich auf das wenige, was die Tagespresse druckt. In
der Überzeugung, mit der ich das Buch in der Türkei veröffentlichte, verstehe ich auch die
deutsche Veröffentlichung: Wenn es einen Schmerz gibt, der Menschen angeht, so muss
dieser Schmerz an die Öffentlichkeit gebracht werden. Denn der Schmerz von Menschen
ist der Schmerz der Menschheit (Behram 1989a: 9 f.).

Obwohl das Vorwort auf Juli 1989 datiert ist, erscheinen – angesichts der ‚Flücht-
lingsdramen‘, die sich derzeit in Europa abspielen und seit Sommer 2015 die
Tagespresse beherrschen, sowie mit Blick auf die Reaktionen Deutschlands und
der EU – die Fragen, die der Autor abschließend dem deutschsprachigen Leser
stellt, hochaktuell:
Was für ein Leben haben die politischen Flüchtlinge hinter sich, die Sie seit Jahren auf den
Straßen sehen, […] deren Flucht in Ihr Land Ihre Regierung mit immer neuen Gesetzen
zu verhindern sucht, die man als ‚unerwünschte Personen‘ abstempelt? Haben Sie sich
diese Frage schon einmal gestellt? Und wenn Sie sich diese Frage schon gestellt haben,
wie haben Sie sie beantwortet (Behram 1989a: 11)?

Diese Fragen könnten auch den Schwalben-­Roman begleiten, der einerseits ein-
dringlich und sprachgewaltig das Leid benennt, das Ali erfährt und das ihn in
die Flucht zwingt, andererseits die Ignoranz der ‚starken‘ Exil-­Aufnahmeländer
anklagt und ihre Rolle im Machtgefüge hinterfragt. Bedeutsam für den deutsch-
sprachigen Kontext ist daher vor allem auch die Frage nach der Verantwortung.
Zwar geschehen in den ‚Städten im Lichte Europas‘ weniger handgreifliche Ge-
walttätigkeiten, aber es herrscht das gleiche Gesetz der Starken und Schwachen.
Mehr noch: Die Starken haben Schuld an dem Leid der Schwachen, nicht zuletzt
weil sie diejenigen sind, die die Kategorien ‚stark‘ und ‚schwach‘ überhaupt erst
definieren. Sie tragen die Verantwortung, der sie – auch bei vorgeblich gutem
Willen – nicht gerecht werden können, solange sie ihre eigene Rolle im Spiel dieser
Machtverteilung nicht durchschauen, wie es am Beispiel Giselas deutlich wird.
Auf die Nachfrage Giselas, warum er nach der Geschichte des Jungen forsche,
antwortet der Erzähler: „‚Ich suche das Gift der Grausamkeit, das in den Städten
im Licht schäumt und sich bis in die Städte im Dunkeln ausbreitet. Ich suche die
unhörbar gewordene Stimme des Menschen.‘“ (Behram 1992: 153)
Flucht aus dem Dunkel: Nihat Behrams Schwalben des verrückten Lebens 157

Literatur
Augé, Marc 2014: Nicht-­Orte, aus dem Französischen von Michael Bischof,
4. Aufl., München: Beck
Behram, Nihat 1989 a: Tödlicher Mai. Leben und Tod im türkischen Widerstand,
aus dem Türkischen von Lale Direkoğlu und Christoph Schroeder, Wuppertal:
Hammer (türk.: Işkencede ölümüün güncesi)
Behram, Nihat 1989 b: Gurbet. Die Fremde, aus dem Türkischen von Lale Dire-
koğlu & Christoph Schroeder, Wuppertal: Hammer (türk.: Gurbet)
Behram, Nihat 1992: Schwalben des verrückten Lebens, Roman, aus dem Türki-
schen von Christoph Schroeder, Wuppertal: Hammer (türk.: Lanetli Ömrün
Kırlangıçları 1991)
de Certeau, Michel 1988: Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald
Voullié, Berlin: Merve (franz.: L’invention.1 Arts de faire)
Dolzer, Martin 2012: Der türkisch-­kurdische Konflikt. Menschenrechte – Frieden –
Demokratie in einem europäischen Land?, 2. Aufl., Bonn: Pahl-­Rugenstein
Gülbeyaz, Abdurrahman (ed.) 2015: Sprache und die Conditio Humana. Eine
Neukartierung des Sozialen, unter Mitarbeit von Theresa Specht, Osaka: Mat-
sumotokobo
Hajo, Zaradachet: Kurdische Literatur in Deutschland, Vortrag vom 11.9.2004, im
Internet unter http://www.pen-kurd.org [7.4.2013]
Hama Tschawisch, Mahmood 1996: Die kurdische Exilliteratur in Deutschland
von den 70er Jahren bis heute, Marburg: Tectum
Specht, Theresa 2015: „Sprachliche Markierungen der ‚Kurden‘ im deutschspra-
chigen Kontext. Zwischen Nichtbeachtung und Kriminalisierung“, in: Gülbey-
az (ed.) 2015: 108–159
Specht, Theresa 2014: „Kurdische Exilliteratur im deutschsprachigen Kontext“, in:
Japanische Gesellschaft für Germanistik (ed.), Neue Beiträge zur Germanistik
13.1 (2014): 201–220
Hala Farrag (Kairo)

Ästhetisierung von Verlust?


Raum und Verräumlichung zwischen Statik und
Dynamik in ausgewählter Vertreibungsprosa von
Josef Mühlberger und Ġassān Kanafānī1

Abstract: The compulsive flight and the final loss of home are experiences that large masses
of the German and Arabic population experienced immediately after the Second World
War: the new political situation forced millions of German inhabitants of East Prussia, the
Sudetenland and other European countries to leave their historic settlement areas forever
and resettle in Germany or neighbouring countries. Likewise, the division of Palestine
into a Jewish and an Arab state in 1948 and the preparatory and subsequent violence were
followed by a mass exodus of Palestinian residents into the neighbouring Arab states. The
experiences of expulsion, the traumatic experience of fear during the flight, the severing
of kinship relations, the loss of identity and the nostalgia for the lost homeland are typical
motifs of German Vertreibungsliteratur. At the heart of the literary work of the forgotten,
Sudeten German/Czech prose writer and playwright Josef Mühlberger (1903–1985) stands
the experience of expulsion after 1945. The Palestinian Literature after 1948 is also marked
by alienation and longing for the homeland that can be reconstructed for the most part only
through literature. The prose writer and dramatist Ġassān Kanafānī (1936–1972) devoted
his literary work to showing the life of refugees and their experience of flight. In Müh-
lberger’s and Kanafānī’s prose spaces of expulsion, and their static and dynamic properties,
are visualized on two levels: On the one hand space serves as a source area in metaphorical
and metonymical expressions, thus taking a prominent place in the narrative. Spaces of the
lost home and exile tend to take on a certain dynamic in these narratives, which reflects the
mood of the insecure, displaced subject. At the same time, the hopelessness of the displaced
subject makes otherwise dynamic spaces seem static. On the other hand, space functions
as a target area and is implicated in movement or transfer in the background of the action.

1 Zur deutschen und palästinensischen Vertreibungsliteratur


Die politische Situation um 1945 zwang Millionen von deutschsprachigen Be-
wohnern Ostpreußens, des Sudentenlandes u. a. ost- und mitteuropäischer
Siedlungsgebiete, ihre angestammten Wohngebiete für immer zu verlassen

1 Den Mitgliedern des Germanistischen Forschungskolloquiums an der Universität


Freiburg i.Ü. (CH) und Frau Mag. Aisha Meier-­Chaouki danke ich ganz herzlich für
ihre Hinweise und Verbesserungsvorschläge.
160 Hala Farrag

(cf. Helbig 31996: 6 ff.). Die traumatische Angst bei der erzwungenen Flucht,
das Auseinanderreißen von Familien, der Heimat- und Identitätsverlust sind
typische Themen der deutschen Vertreibungsliteratur (cf. ibid.: 18 f., 42 f.).2
Jedoch spiegelt die verdrängende Haltung gegenüber dieser Literatur nach 1945
(cf. Kůrková 2009: 7 f.) die politische Einstellung gegenüber den Vertriebenen
wider, von denen allein in der BRD rund zehn Millionen angesiedelt wurden
(cf. Kleßmann 2001: 15, 17 f., 29 f.; Helbig 31996: 190, 21). Man betrachtete die
Vertreibung als Vergeltung der Grausamkeiten des Nationalsozialismus und
warf der Vertreibungsliteratur vor, einer Vergangenheitsbewältigung im Wege
zu stehen (cf. Weinrich 2007: 57 ff.; Fritzsche 2008: 88 ff.); dabei wurde über-
sehen, dass diese Literatur als eine Trauerarbeit über den Verlust an mensch-
lichen und kulturellen Werten verstanden werden kann (cf. Helbig 31996: 30 ff.,
51, 127, 184). Viele zum Schweigen gezwungene Schriftsteller, denen früher in
der DDR das Verleugnen der sowjetischen Befreiung vom Nationalsozialismus
vorgeworfen worden wäre, erinnerten sich nach der Wende öffentlich, wodurch
das Thema wieder aktuell wurde (cf. ibid.: 35; Kůrková 2009: 7).3 Den Kern
des literarischen Werkes des sudetendeutsch-­tschechischen Prosaisten und
Dramatikers Josef Mühlberger (1903–1985), geboren in Trautenau/Trutnov
(Nordböhmen), bildet das Erlebnis der Vertreibung. Als promovierter Germa-
nist wirkte Mühlberger in seiner Heimat durch seine Übersetzungen aus dem
Tschechischen sowie durch die Zeitschrift Witiko, die er mitherausgab, als Ver-
mittler zwischen zwei Kulturen (cf. Čapek 2004: 20, 23 f.; Kůrková 2009: 49 f.;
Stroheker 2011: 4). In seiner Vertreibungsprosa schildert er die Gräuel der
letzten Kriegsmonate, die er selber in amerikanischer Kriegsgefangenschaft
verbrachte (cf. Stroheker 2011:  2), sowie seine Vertreibungserlebnisse und
seine Versuche der Eingliederung in der neuen Heimat (cf. Helbig 31996: 83,
144 f., 171; Becher 1997: 273). Im Unterschied zu den meisten Vertreibungs-
autoren, die die Multiethnizität ihres Geburtslandes verleugnen, schildert
Mühlberger 1960 in seinem Erzählband Ich wollt, daß ich daheime wär und
1963 in dem Erinnerungswerk Herbstblätter den tschechischen Hass Deutschen
gegenüber, den er auf die Verbrechen des Nationalsozialismus zurückführt
(cf. Kůrková 2009: 85 f.). Mühlbergers Nähe zu den Vertriebenenverbänden,
die ihm diverse Preise verliehen, darunter den Andreas-­Gryphius-­Preis (cf.

2 Zum Begriff der Vertreibungsliteratur, cf. Kůrková (2009: 13 ff.).


3 Spätere Werke zu dieser Thematik, wie Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2001),
wurden breit rezipiert (cf. Stopka 2008:  166  f.; Hardtwig 2008:  7, 12; Assmann
2006: 24 ff.).
Ästhetisierung von Verlust? 161

Čapek 2004: 25; Kůrková 2009: 52), stigmatisierte sein Werk4 und begrenzte


seinen Leserkreis (cf. Stroheker 2011: 11). In den letzten Jahren wurde Mühl-
berger in der literaturwissenschaftlichen Forschung neu entdeckt; 2004 wurden
ausgewählte Werke von ihm in zwei Bänden und 2009 Erzählungen aus dem
Nachlass herausgegeben. Mit seiner realistischen Kurzprosa gilt Mühlberger
als repräsentatives Beispiel für die „Primärzeugen“,5 die aus eigenem Erlebnis
den Vertreibungsprozess darstellten. Dadurch unterscheidet sich sein Werk von
Siegfried Lenz’ idealisierenden Heimaterzählungen So zärtlich war Suleyken
von 1955 sowie von Günter Grass’ surrealistischen Nachkriegsromanen, u. a.
Die Blechtrommel von 1959. Mühlbergers Stil wird allgemein als „fern ästheti-
scher Experimente“ eingeordnet (Stroheker 2011: 6).
Auf der anderen Seite folgte dem im November 1947 von der UN-­
Generalversammlung angenommenen Teilungsplan Palästinas und den darauf
folgenden Gewalttaten eine Massenflucht von Palästinensern, denen danach
eine Rückkehr verwehrt war (cf. Fähndrich 1983: 147; Wild 1975: 5; Flores
1995: 12 f.). Die von Entfremdung und Sehnsucht nach der Heimat geprägte
palästinensische Literatur nach dem Palästinakrieg 1948, die als ‫( أدب النكبة‬Ka-
tastrophenliteratur) bezeichnet wird (cf. Ṣāliḥ 2013: 43), ist ein ,existenzielles‘
Mittel, den Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überbrücken
(cf. Saʽīd 2005: 21, 28). Der Heimatverlust bedeutete auch einen Identitätsver-
lust. Wenn auch viele, vor allem gebildete Palästinenser in anderen arabischen
Ländern eingebürgert wurden, so blieben sie in diesen Gesellschaften doch
Außenseiter, die politisch benachteiligt waren; andere, vor allem Landarbeiter,
litten unter den dürftigen Umständen in den Flüchtlingslagern der Grenz-
gebiete (cf. Wild 1975: 6 f.; Flores 1995: 13).6 Das Gesamtwerk des Prosaisten
und Dramatikers Ġassān Kanafānī (1936–1972) ist dem Leben der Flüchtlinge
gewidmet. Dabei unterscheidet er sich von Ğabrah ’Ibrāhīm Ğabrah, der erst
1970 Familientragödien von Vertriebenen in seinem Roman ‫( السفينة‬Das Schiff)
beschrieb. Auch ’Imīl Ḥabībīs Roman ‫( املتشائل‬Der Peptimist) von 1974 stellt eher

4 Zur politischen Belastung der Vertreibungsliteratur cf. Joachimsthaler (2001: 195, 197,


200).
5 Weinrichs (2007: 60 f.) Unterscheidung von drei Generationen innerhalb der Holo-
caustliteratur gilt auch für die Vertreibungsliteratur. Zu den Werken der „Sekundär-
zeugen“ zählt Ilse Tielschs Die Ahnenpyramide (1980) und zu denen der „postmemory“
Tanja Dückers Himmelskörper (2003).
6 Diese Thematik wurde zu einem literarischen Kontinuum (cf. ʽAbbās 1972: 21); zu den
späteren Werken zählt ’Anuar Ḥāmids ‫( يافا تعد لنا قهوة الصباح‬Yāfā kocht uns den Morgen-
kaffee, 2012), cf. Ṣāliḥ (2013: 42 ff., 51 f.).
162 Hala Farrag

das Leben der Palästinenser innerhalb der Grünen Zone dar. Die Vertreibung
aus seiner Heimatstadt Akka/Akkon 1948 erlebte Kanafānī als zwölfjähriges
Kind (cf. Fähndrich 1983: 147; Wild 1975: 45; Darrag/Heizmann 2012: 15, 35;
’Ibrāhīm 2012: 104 f.). Sein Leiden aufgrund des Verlustes eines menschen-
würdigen Lebens in der Heimat7 sowie seine Identitätslosigkeit8 brachte er
schon im Alter von zwanzig Jahren zu Papier, was ihn zum „Chronisten des
palästinensischen Erlebens“ machte (Fähndrich 1984: 147; cf. auch Kīwān
2010: 98; Farīḥāt 2010: 293 f.). In der Literaturkritik wird eine Entwicklung
der palästinensischen Literatur registriert, die Kanafānī teilweise mitgestaltete:
Die erste Phase ist die Verdrängung der neuen Wirklichkeit 1948–1967, dazu
gehört sein Erzählband ‫( أرض الربتقال الحزين‬Das Land der traurigen Orangen) von
1962. Mit der Niederlage der arabischen Staaten 1967 beginnt eine Phase der
Bewusstwerdung, die in Kanafānīs Erzählung ‫( عائد إىل حيفا‬Rückkehr nach Haifa)
von 1969 erkennbar wird (cf. El-­Ayoubi 1995: 33 f.; Fähndrich 1984: 147–153;
Wild 1995: 71; Darrag/Heizmann 2012: 58). In seiner vorwiegend realistischen
Prosa (cf. al-­Yūsuf 1985: 6 f., 87; Ṣāliḥ 2013: 53) erinnert er sich in ‚einfacher
Sprache‘ (cf. Fischer 1995a: 8; El-­Ayoubi 1995: 33; Kīwān 2010: 100 f.; ʽAbbās
1972: 11) an authentische Ereignisse (cf. Kīwān 2010: 99; Farīḥāt 2010: 293,
318). Kanafānī ist der einzige arabische Schriftsteller, dessen Gesamtwerk ins
Deutsche übersetzt wurde, ein Werk, das noch nach Kanafānīs Tod mit mehre-
ren Preisen ausgezeichnet wurde, darunter dem Lotus-­Preis des Afroasiatischen
Schriftstellerverbandes 1975 (cf. as-­Sulṭān 2007: 2).

2 Forschungsgegenstand
Das deutschsprachige Untersuchungskorpus bilden Mühlbergers Erinnerungs-
werk Herbstblätter (HB), welches Binnenerzählungen über Schicksale von Ver-
triebenen umfasst, sowie der Erzählband Ich wollte, daß ich daheime wär (I.w.d.).
Von Kanafānīs Werk untersuche ich entsprechend jene Prosawerke, die die Ver-
treibung der Palästinenser darstellen, nämlich die lange Erzählung ‫عائد إىل حيفا‬
Rückkehr nach Haifa (‫ح‬.‫إ‬.‫ع‬.) und seine beiden Erzählbände ‫ أرض الربتقال الحزين‬Land
der traurigen Orangen (‫ح‬.‫ب‬.‫أ‬.) und ‫ القميص املرسوق‬Das gestohlene Hemd (‫م‬.‫ق‬.).

7 In der Heimat genoss Kanafānī eine französischsprachige Ausbildung; nach der Ver-
treibung musste er jedoch arbeiten, um zum Unterhalt der Familie beizutragen (cf.
Fähndrich 1983: 148).
8 Zu Kanafānīs Leiden beim Reisen ohne Identitätsnachweise, cf. as-­Sulṭān (2007: 3).
Ästhetisierung von Verlust? 163

3 Forschungsziel und Fragestellung


Die Relevanz des Raumes für Denkprozesse, zu denen das Erinnern gehört, zeigt
sich u. a. darin, dass in vielen Sprachsystemen Abstrakta anhand räumlicher
Werte ausgedrückt werden (cf. Dirāz 1988: 65; Lotman 41993: 313). Hier vs. dort
entspricht oft der Dichotomie das Eigene, Heimatliche vs. das Andere, Fremde.
Diese Dichotomie betrachtet Juri Lotman als typisch für literarische Kunstwerke
(cf. Lotman 41993: 312 f., 327; cf. auch Anz 2008: 3; Ḥasānayn 2004: 4 f.; Dirāz
1988: 59 ff.). Im Gegensatz zu den realistischen Autoren wird der Raum bei Au-
toren, die eine innere Handlung ausdrücken, oft erst durch die Interaktion der
Figuren mit diesem erkennbar (cf. Ḥasānayn 2004: 11 f.).9 In Mühlbergers und
Kanafānīs realistischer Prosa wird der Raum in seiner Statik und Dynamik auf
zwei Ebenen erkennbar gemacht; auf der einen Seite ist er als Ausgangsbereich
das Thema bildlicher Darstellungen. Dabei fällt besonders auf, dass die beiden
Autoren an mehreren Stellen statischen Räumen eine gewisse Dynamik verleihen,
was die Stimmung der vertriebenen Protagonisten widerspiegelt. Zugleich lässt
die Hoffnungslosigkeit der Vertriebenen einige dynamische Räume statisch wir-
ken. In einem anderen Prozess fungiert der Raum als Zielbereich und steht u. a.
in der Fortbewegung oder im Transfer im Hintergrund der Handlung.10 Dabei
ersetzen Personen und ihre mentalen Prozesse heimatliche Räume in ihrer Statik
oder andere Räume in ihrer bedrohlichen Dynamik.
Die vorliegende Untersuchung versucht auf folgende Fragen eine Antwort zu
geben: Welche semantisch-­pragmatischen Funktionen erfüllen raumbasierte Bild-
lichkeitselemente in der direkten und indirekten Darstellung des Heimatverlustes
im Untersuchungskorpus? Und inwiefern sind die Ergebnisse der Analyse von
Raumdarstellung und Verräumlichung in einer Literatur, die von der Erinnerung
lebt, für die kognitive Stilistik relevant?

4 Bildliche Mittel in der Kognitionslinguistik


Zur Untersuchung der Beziehung zwischen ,mentalen Prozessen des Erinnerns‘
(cf. Bierwiaczonek 2013: 239 f.) und ihrer sprachlichen Form eignen sich Er-
kenntnisse, die der kognitiven Linguistik entnommen sind. Lakoffs und John-

9 Genette (1992: 75 ff.) weist auf Balzacs Raumbeschreibung hin, die das Innere der
Figuren widerspiegelt (cf. auch Laḥmadānī 1991: 64, 66 f., 70 f.; Murtāḍ 1998: 129 ff.,
135, 137; ’Ismāʽīl 1993: 126–130, 137, 139).
10 Die beiden Begriffe „geographischer Raum“ und „hintergründiger Raum“ (‫الحيز الجغرايف‬
‫ )والحيز الخلفي‬verwendet Murtāḍ (1998: 123 f., 127) und nennt beim letzten Genettes Be-
griff „espace connoté“.
164 Hala Farrag

sons (1988/42004) kognitiv-­erfahrungsbezogene Metapherntheorie befasst sich


vor allem mit der konzeptualisierten Metapher als Grundlage und Struktur des
menschlichen Denkens (cf. Drößiger 2007: 27; Hoffstadt 2009: 35, 70 ff.).11 Meta-
phorische Konzepte sind eine Möglichkeit, „eine Erfahrung partiell in Begriffen
einer anderen Erfahrung zu strukturieren“ (Lakoff & Johnson 42004: 93, 177).
Der metaphorische Prozess, das sogenannte Projizieren bzw. Mapping von einem
Ausgangsbereich (source domain) auf den Zielbereich (target domain) aufgrund
der menschlichen Fähigkeit zur Vorstellung ist immer nur partiell (cf. Barcelona
2003a: 4; Hoffstadt 2009: 39; Drewer 2003: 5 f.). Im Unterschied zur Metonymie
betont Barcelona (2003a: 9) dabei die ontologische Trennung der beiden Berei-
che. Verblasste Metaphern können neu motiviert werden, indem ausgeschlossene
Elemente des Zielbereichs aktiviert werden (cf. Hoffstadt 2009: 40). Literarische
Metaphern sind hauptsächlich bewusste Ausdehnungen von konventionalisierten
Metaphern (cf. Barcelona 2003a: 5; Drößiger 2007: 125). Lakoff und Johnson
(42004: 22 ff.) unterscheiden zwei Metapherntypen, die unter Verräumlichung
zusammengefasst werden können, nämlich Orientierungsmetaphern, in denen
Abstrakta in einem vorgestellten Raum eingeordnet werden, z.B. fern vs. nah, und
ontologische Metaphern, in denen Abstrakta konkretisiert werden, z. B. in Ge-
fäß- und Wegmetaphern. Villiger (2000: 106 f.) unterscheidet weiterhin zwischen
statischen und dynamischen Raummetaphern. Den bildlichen Vergleich, der sonst
in der Kognitionslinguistik selten untersucht wird, betrachtet Müller (2012: 88)
als eine „Sonderform der Metapher“, in der die Analogierelation durch eine „ex-
plizite Transfermarkierung“ verbalisiert wird. Die Metonymie ist andererseits eine
konzeptuelle Projektion, bei der der Zielbereich teilweise in Begriffen des Aus-
gangsbereichs verstanden wird (cf. Barcelona 2003a: 4). Die kognitive Grundlage
der Metonymie ist die (ontologische) Kontiguität, die im Situationswissen des
Senders gespeichert ist. Zwischen beiden Ausdrücken, dem metonymischen und
dem nicht-­metonymischen, besteht eine erfahrungskontextuelle Beziehung (cf.
Drößiger 2007: 161 ff.). Metonymien entstehen mental, indem das Aktivieren
eines Bereichs die Aktivierung eines anderen auslöst, da diese Bereiche kognitiv
als neuronales Netz miteinander entstanden sind (Bierwiaczonek 2013: 233 ff.,
238), und zwar aufgrund einer räumlichen, temporalen oder kausalen Relation
beider Bereiche, wobei die räumliche Erfahrung die primäre menschliche Er-
fahrung und die Grundkontiguität bildet (cf. Drößiger 2007: 157, 169 f., 175, 177,
183). Ein Übergangsphänomen zwischen Metapher und Metonymie bildet die

11 Lakoff & Johnsons (1988/42004) gelten hier als Ausgang für die kognitive Theorie, die
von anderen Studien ergänzt wird.
Ästhetisierung von Verlust? 165

Personifikation, etwa in Raum-­Person-­Metonymien (cf. Müller 2012: 93), z. B. in


dem Begriff Hausarzt, wo ein Ort konventionell für seine Bewohner steht. Ebenso
versteht Barcelona (2003b: 35 ff.) die Synästhesie als eine metonymisch motivierte
Metapher: In Synästhesien wie loud colour wird eine Aufmerksamkeit erweckende
Abweichung von der Norm auf der Bewertungsskala des Akustischen durch eine
Abweichung von der Norm auf der Bewertungsskala des Optischen ausgedrückt.
Drößiger (2007: 171, 178) sieht die Metonymie folgerichtig als die Grundlage,
auf der Metaphern funktionieren, denn die Basis dafür ist die metonymische
Beziehung zwischen der Wahrnehmung und ihrer kognitiven Verarbeitung.
Obschon die arabischen Vertreter der ‫النظرية اللسانية اإلدراكية‬ 12 (Kognitionslinguis-
tik) sich grundsätzlich auf anglo-­amerikanische Linguisten berufen, weisen sie
auf Wurzeln der Kognitivistik in der mittelalterlichen arabischen Philosophie
und Rhetorik hin. So erklärt ’Ibn Ḫaldūn im 14. Jh. die mentale Verarbeitung
von Sinneswahrnehmungen, die mit anderen gespeicherten Wahrnehmungen
verglichen und zu Prinzipien und Beziehungen geordnet werden.13 Noch früher
sah al-­Ğurğānī (11. Jh.) ‫( اإلستعارة‬die Metapher) nicht als die Übertragung eines
Wortlautes ‫ اللفظ‬auf einen anderen, sondern als die Übertragung einer Wort-
bedeutung ‫ املعنى‬und der damit zusammenhängenden Konnotationen ‫( النظم‬cf.
al-Ğurğānī 1991: 34; Ramaḍān 2011: 832, 834 f., 841). Ferner geht er davon aus,
dass der Zielbereich und der Ausgangsbereich im Fall der Metapher nicht ab-
solut getrennt sind (cf. Ramaḍān 2011: 829 f.; Salīm 2001: 9). Sie haben vielmehr
ein gemeinsames Sem (‫)صفة جامعة‬, das eine Übertragung erlaubt, wie etwa beim
Vergleich des schnellen Laufens mit dem Fliegen, wobei beide zum Bereich
der Fortbewegung gehören (cf. al-Ğurğānī 1991: 55 ff.). Auch im Arabischen
existiert das Konzept der Verräumlichung von Abstrakta, wobei unten immer
negativ konnotiert ist, z. B. ‫سقطت يف الرذيلة‬, wörtl. in Unzucht fallen (Ramaḍān
2011: 851). Zur Verräumlichung werden auch hier Weg- und Gefäßmetaphern
gezählt (cf. Salīm 2001: 65). In seinen kognitivistischen Überlegungen kritisiert
Salīm (2001: 24, 125 ff.) die Konkretisierung von Abstrakta als Norm für akzep-
table Analogien bei as-­Sakkakī (1982: 559 ff.) im 12./13. Jh. und macht vielmehr
Gebrauch von der klassischen arabischen Unterscheidung hinsichtlich des Ziel-
bereichs zwischen ‫( استعارة مكنية‬impliziter/anspielender Metapher) und ‫استعارة‬
‫( ترصيحية‬expliziter Metapher): In der impliziten Metapher ‫( عيناها تركض وراء فرح ما‬Ihre

12 Zum Begriff cf. Ramaḍān (2010: 815, Fn. 1).


13 Dabei unterschied er zwischen einem distinktiven Geist ‫عقل متييزي‬, einem erfahrungs-
bezogenen Geist ‫ عقل تجريبي‬und einem theoretischen Geist ‫ عقل نظري‬, cf. ’Ibn Ḫaldūn
(2005: 337 ff.). Ğāssim (2011: 509 ff.) spricht von einer indirekten Wirkung ’Ibn
Ḫaldūns auf Chomsky.
166 Hala Farrag

Augen rennen einer gewissen Freude hinterher) sind nicht die Augen, sondern das
Erblicken als ein dadurch veranlasster Prozess gemeint. Dieser Metapher liegt
also eine kausale Metonymie zugrunde. Die explizite Metapher ً ‫ رأيت أسدا‬Ich sah
einen Löwen, während ein Mensch gemeint ist, beruht auf einer Synekdoche des
Ganzen für einen Teil, denn gemeint ist nur eine Eigenschaft des prototypischen
Löwen (cf. Salīm 2001: 90 ff.). Die Gleichsetzung von Zielbereich und Aus-
gangsbereich in ‫( التشبيه‬dem Vergleich) betrachtet al-Ğurğānī (1984: 435 f.), der
auch stilistische Unterschiede zwischen den verschiedenen Vergleichspartikeln
erkannte, als eine Behauptung ‫ادعاء‬. Während im Fall der Metapher eine totale
Gleichsetzung zwischen beiden Bildbereichen vorliegt, z. B. [‫رأيت أسداً [في المعركة‬
(Ich sah einen Löwen [im Krieg].), ist die behauptete Gleichsetzung im Vergleich
ً‫( كأن زيدا ً أسدا‬Als ob Zayd ein Löwe wäre), nur partiell; aufgrund dessen versteht
Salīm den Vergleich im kognitiven Sinne und im Unterschied zu Quintilian als
eingeschränkte Metapher (cf. Salīm 2001: 140 f., 146). Eine Trennung zwischen
beiden Bereichen ist vor allem durch die Vergleichspartikel zu erkennen. Den
Vergleich ohne Vergleichspartikel, der in der Rhetorik sogenannte ‫تشبيه بليغ‬
(wortgewandter Vergleich), zählt Salīm (2001: 140 f., 146) zur Metapher. All-
gemein wird ‫( املجاز املرسل‬die Metonymie) in der modernen arabischen Stilistik
aufgrund der Konventionalität von ‫( عالقات جوارية‬Kontiguitäten) vernachlässigt
(cf. auch al-­Walyy 1990: 16 f.). Dagegen wendet Salīm (2001: 42 f.) unlängst
ein, dass die Kontiguitäten kognitive Modelle sind, in denen die metonymische
Beziehung eine motivierte ist.
Schließlich ist festzustellen, dass die kognitive Theorie von Lakoff und John-
son in der modernen westlichen Linguistik über die Konkretisierung hinaus
ausgedehnt wird. Allein die Annahme, dass nicht nur einige Metaphern metony-
misch motiviert sind, sondern dass die Metonymie die Grundlage metaphori-
schen Denkens bildet (cf. Drößiger 2007: 171, 178), entnimmt dem Aspekt des
Konkretisierens seine Relevanz. Diese auch in der arabischen Rhetorik schon
lange erkannte metonymische Motivierung von Metaphern, die Salīm mit Me-
thoden der Kognitivistik herausarbeitet, veranlasst mich, die Erkenntnisse der
kognitiven Stilistik nicht nur in der Interpretation von Verräumlichungen,
sondern auch von Darstellungen des Raumes anzuwenden.

5 Analyse
Obschon allgemein sowohl für die arabische als auch für die deutschsprachige
Vertreibungsliteratur davon ausgegangen wird, dass ihre Sprache keine hohen
ästhetischen Ansprüche erfüllt, ist diese ‚begrenzte Ästhetik‘ keine Verdrängung
Ästhetisierung von Verlust? 167

von belastenden Erlebnissen, sondern eher eine Verarbeitung davon.14 Die an-
geführten Textstellen verstehen sich als eine Auswahl von zahlreichen Beispielen
für Raumdarstellung und Verräumlichung bei Mühlberger und Kanafānī.15

5.1 Der Raum als Ausgangsbereich: Darstellung des Raumes


Die Stilanalyse ergab eine Fülle von Darstellungen des Herkunftsraumes bei
Mühlberger, der im Vergleich zu Kanafānī über detailliertere Erinnerungen an
sein Geburtsland, in dem er mehr als die Hälfte seines Lebens verbrachte, verfügt
haben musste. Bei Kanafānī sind es eher die Transiträume, d. h. Orte jenseits des
Geburtslandes, die bildlich dargestellt werden.

5.1.1 Das Geburtsland
Idealisierte Landschaften des Geburtslandes sind in wenigen, nostalgischen Mo-
menten bei beiden Autoren zu finden. Die Verbindung tragischer Momente mit
dem Idyllischen führt Joachimsthaler (2001: 199 ff., 210 f., 217) allgemein auf
die „Kinderperspektive“ zurück, mit der die verlorene ‚Heimat‘ als Gegenpol zur
Gegenwart stilisiert wird:
(B 1)
Das Gebirge […] war schon als dunkle Woge zu erkennen, die sich sanft hob und senkte
und floß. Der Greis stand, als würde er, in den Anblick versunken, lauschen, bis das erste
Licht auch sein Gesicht traf […]. („Die Geige“, I.w.d: 7)

(B 2)
‫ وإلى يمين الطريق […] كان قرص‬.]…[ ‫وكانت أشجار النخيل املعوجة تنفض عن سعفها الكسولة املسرتخية نوم ليلة البارحة‬
‫ بلون أرجواين مترضج بالحياء املبكر‬،‫ والماء والطريق‬،‫الشمس الكبير يطل من وراء التالل فيصبغ رؤؤس األشجار‬.
(71 :.‫م‬.‫ ق‬،ً‫)كان يومذاك طفال‬
Die gekrümmten Palmen schüttelten den Schlaf der Nacht von ihren trägen, schlaffen
Zweigen […]. Rechts der Straße […] erhob sich groß und rund die Sonne über die Hügel
und [malte] die Baumwipfel, das Wasser, die Straße [mit einer mit früher Scham befleckten
purpurne[n] Farbe [an] (HF). („Damals war er ein kleiner Junge“, L.t.O.: 17)

Die melancholische Stimmung des auf das endgültige Verlassen des Geburts-
landes sich vorbereitenden Greises (B1) lässt sich an dem Bild des Gebirges

14 Für die deutsche Vertreibungsliteratur cf. Helbig (31996: 67, 103 ff.), für die palästi-
nensische cf. al-ʽAllāmah (1998: 17).
15 Im Folgenden führe ich Fähndrichs Übersetzung (1983, 1984, 1986) von Kanafānīs
Werk an. Alle Hervorhebungen sind von mir.
168 Hala Farrag

erkennen. Der Vergleich dessen mit einer dunklen Woge macht daraus eine
dynamische Landschaft, die für ihre vertriebenen Bewohner bald so gut wie
nicht mehr existieren wird. Anhand der verblassten Metapher versunken, die
hier zur Schilderung des Gemüts des Greises gebraucht wird, wird durch ihre
Kontiguität mit anderen Lexemen aus dem Wasserbereich (Woge, senkte, floß)
der dynamische Aspekt hervorgehoben, was die Metapher auch neu motiviert.
Die spärliche Darstellung einer heimatlichen Idylle bei Kanafānī widerspricht
Fähndrichs (1995: 58) Aussage, Kanafānī habe Palästina als Mythos idealisiert:
Aus der Perspektive eines ein Massaker überlebenden Kindes wird in (B2) die
Handlung erzählt. Am Anfang der Erzählung werden einzelne Elemente der
Landschaft personifiziert: Die Bäume werden als Aufstehende geschildert, deren
einzelne Glieder noch verschlafen sind; durch die synekdochische Übertragung
der Attribute ‫( كسول‬träge) und ‫( مسرتخ‬schlaff) auf die Zweige wird die Personi-
fikation fast in eine „metaphorisch-­analogische Textsubwelt“ (Müller 2012: 91)
ausgedehnt. Auch die aufgehende Sonne wird dynamisch als Kind personifiziert,
das die Landschaftselemente mit roter Farbe anmalt.16 Die räumlich und zeitlich
geschilderte Morgenröte könnte der Leser aufgrund der vorausgegangenen Per-
sonifikationen, die auf eine positive kindliche Stimmung vorbereiten, mit der
konzeptualisierten Schamesröte in Verbindung bringen. Jedoch wird diese Asso-
ziation durch das Verb ‫( ترضج‬befleckt sein mit), welches im Arabischen vor allem
mit dem Beflecken mit Blut konnotiert wird, in ein schockartiges Erlebnis umge-
wandelt. Das Verb antizipiert damit das Massaker, dem das Kind als einziger
Augenzeuge entkommen wird (s. u. B9). Das Abstraktum ‫( الحياء‬die Scham) wird
zum Gegenstand einer metonymischen Kette: Zunächst wird dieses Abstraktum
zum Eigenschaftsträger der Blutfarbe, was sich auch als eine Personifikation in-
terpretieren lässt. Zugleich wird der Scham die zeitliche Eigenschaft ‫( املبكر‬früh)
der Morgenlandschaft zugeschrieben.
Im Untersuchungsgegenstand bringen bildliche Raumdarstellungen vorwie-
gend ein schmerzvoll erlebtes Geburtsland zum Ausdruck, was eine Entfremdung
davon widerspiegelt:
(B 3)
Schon ein gutes Möbelstück, aus dem Zusammenhang einer Wohnung herausgelöst und
irgendwo vor ein Haus oder auf einen Gehsteig gestellt, wirkt verlassen und armselig
[…]. Dieser Platz mit den abgestellten Möbeln erinnerte an einen Friedhof. (HB: 101)

16 Dieses Bild geht in der Übersetzung von Fähndrich verloren, obwohl er auch eine Per-
sonifikation daraus macht: „[…] die Sonne […] tauchte die Baumwipfel, das Wasser, die
Straße in reines purpurnes Licht.“
Ästhetisierung von Verlust? 169

(B 4)
‚Musikinstrumente verboten!‘. Er breitet seine Arme über den leeren Geigenkasten wie
über einen Sarg. („Die Geige“, I.w.d.: 17)

(B 5)
‫ صعوداً حيث ينبثق النخيل مطعوجا ً متراجعا ً حائرا ً يف عراكه الصامت املمض مع الرياح‬،]…[ ‫ إلى الطريق المتعرج‬،‫من حيفا‬
.[…] ‫القادمة من البحر‬
(72 :.‫م‬.‫ ق‬،ً‫)كان يومذاك طفال‬
Von Haifa windet sich die Straße, […], hinauf zu den Palmen, die sich neigen und wieder
aufrichten, hilflos im stummen gequälten Kampf gegen die vom Meer her wehenden Winde.
(„Damals war er ein kleiner Junge“, L.t.O.: 18 f.)

Der deutsche Kriegsgefangene erzählt von der tschechischen Besatzung seiner


Geburtsstadt, wo er im eigenen Haus als Knecht dient (B3): Die Trauer um das
Schicksal der geplünderten Häuser, deren Möbel von ihrem Haushalt losgelöst
und auf einem Platz gestapelt liegen, ruft in seinem Gedächtnis das Bild von
Friedhöfen hervor. Dieser Vergleich, der auf einer kausalen Metonymie beruht –
der Tod ist ja ein Grund für die ‚Funktionslosigkeit‘ des Körpers – suggeriert
eine Personifikation der Möbel. Die Verwendung des Verbs erinnern als Ver-
gleichspartikel rückt diesen Ausdruck allerdings in Richtung eines Vergleichs.
Die Geige zählte zu den Elementen der österreichischen Kultur, die dem Vertrie-
benen verweigert wurden:17 Der Geigenkasten wird aus der Perspektive des alten
Besitzers als Sarg dargestellt (B4). Dieser Vergleich ist insofern personifizierend,
als der Kasten für die Geige eine ähnliche Funktion erfüllt wie der Sarg für den
Menschen. In (B5) geben Landschaftselemente, die während der Busfahrt der
palästinensischen Vertriebenen wahrgenommen werden, die melancholische
Stimmung derer wider, die sie wahrnehmen: Die Schwingungen der durch den
Wind in Bewegung gesetzten Palmzweige erinnern den vertriebenen kindlichen
Erzähler an Vorstöße und Rückzüge eines mutlosen Kämpfers. Die Palmen wer-
den personifiziert, indem sie zum Träger des Attributs ً ‫( حائرا‬verzweifelt) werden;
diese Personifizierung wird durch die Darstellung ihrer Bewegung fortgesetzt.
Dabei trägt der dadurch erzeugte Prozess (‫ عراك‬Kampf) metonymisch zwei At-
tribute (‫ صامت‬still, ‫ ممض‬gequält) der Kämpfenden.
Die Wiederbegegnung mit dem Geburtsland war für viele Vertriebene erst nach
vielen Jahren möglich (cf. Helbig 31996: 214). Weder Mühlberger noch Kanafānī

17 Mühlberger selbst trauerte um die Gegenstände als seine „verschwiegenen Gefährten“


(Stroheker 2011: 12).
170 Hala Farrag

gelang es, in ihr Geburtsland zurückzukehren;18 jedoch unternehmen ihre Pro-


tagonisten Heimatreisen:
(B 6)
Die Geräte einer Vitrine wirkten wie ausgegrabene Beigaben für Tote, Urnen, Tränenkrüge
und erblindete Gläser. (HB: 153)

(B 7)
.‫ تصب قار غضبها عىل األرض‬،‫ وفوقه كانت […] شمس حزيران الرهيب‬،‫كان األسفلت يشتعل تحت عجالت سيارته‬
(342 ،341:.‫ح‬.‫إ‬.‫)ع‬
[…] der Asphalt unter den Rädern seines Autos hatte gebrannt. Über ihm stand […] die
schreckliche Junisonne. Sie übergoss die Erde mit dem [Teer] ihres Zorns. (R.n.H.: 73)

(B 8)
‫ […] إن الحقل […] يلقي على موجوداته ظل األبوة مهام‬..‫ في الحقل املعطاء‬،‫ هكذا‬،‫لكنه ساءه أن يقف الخزان‬
‫ بل إنه يحس احساسا ً عميقا ساكنا ً بأن األرض نفسها ترفض‬،]…[ ،‫ ولكن الخزان يدمر هذا االحساس‬.]…[ ،‫عظمت‬
.[…] ‫الخزان‬
(24 ،23 :.‫م‬.‫ ق‬،‫)إىل أن نعود‬
Doch es schmerzte ihn, dass der Tank so mitten auf dem [spendablen] Feld stand. […].
Das Feld […] wirft auf alles darin Enthaltene einen väterlichen Schatten […]. Doch
der Wassertank macht dieses Gefühl zunichte. […] ja, tief in seinem Innern ist er der
festen Überzeugung, dass das Land selbst den Wassertank zurückweist […]. („Bis wir
zurückkehren“, B.w.z.: 17 f.)

Mit der Erinnerung an die Kindheit versetzt sich der Ich-Erzähler in (B6) in seine
alte Schule zurück. Darin herrscht eine todesähnliche Statik: Die verstaubten
Laborgeräte vergleicht der Erzähler mit archäologischen Funden eines Grabes;
das morphologische Vergleichsmittel wirkten wie markiert die Trennung beider
kognitiver Bereiche und schwächt ihre partielle Gleichsetzung ab. Die Flücht-
linge Saʽīd und Ṣafiyyah in (B7), die mitten im Chaos ihrer Vertreibung daran
gehindert wurden, ihren Säugling Ḫaldūn mitzunehmen, kehren zwanzig Jahre
später zurück, in der aussichtslosen Hoffnung, ihn zu finden. Die Begegnung
mit der Heimatstadt und mit dem Haus, dieser Versuch, die verlorene Identität
wiederherzustellen,19 erzeugt widersprüchliche Gefühle: Äußerlich stellt Saʽīd,
aus dessen Perspektive erzählt wird, nur geringe Veränderungen fest, jedoch ist

18 Cf. für Mühlbergers Biografie Kůrková (2009:  51), für die Kanafānīs Fähndrich
(1986: 148).
19 Zum Ziel der Heimatreisen für Palästinenser, cf. Zāyyid (2013: 62 ff.) und Farīḥāt
(2010: 306 ff.). In der Psychoanalyse gilt das Haus als eine Metapher für die Psyche,
cf. Anz (2008: 2).
Ästhetisierung von Verlust? 171

seine Beziehung zum Geburtsland nicht mehr dieselbe. Anstatt sein Gefühl der
Entfremdung zu gestehen, projiziert er es auf den enteigneten Lebensraum: Sein
Leidensweg durch die Wüste20 wird mit Gefühlen des Zorns und der Empörung
assoziiert. Diese Gefühle werden durch die Erinnerung an den Verlust des Sohnes
hervorgerufen und schlagen sich in der Personifizierung der Sonne als Bestrafen-
der und der Erde als Bestrafter nieder. Geht man davon aus, dass ein Raum im
Allgemeinen für seine Bewohner verwendet wird, dann kann man annehmen,
dass die Strafe dem Protagonisten selbst gilt, der sich für die erzwungene Flucht
verurteilt.21 Der Teer (‫)قار‬22 wird aufgrund seiner durch die Hitze verursachten
Viskosität und seiner schwarzen Farbe als weiterer Bestandteil jener himmlischen
Strafe metaphorisch dargestellt. Im Gegensatz zu (B6, B7) ist keine gestörte Bezie-
hung zwischen dem heimlich zurückkehrenden Protagonisten (in B8) und dem
Geburtsland zu erkennen, vielmehr zwischen den heimatlichen Elementen ‫الحقل‬
(das Feld) und ‫( األرض‬das Land) einerseits und einem fremden Element ‫( الخزان‬der
Wassertank) andererseits. Die starke Beziehung des Protagonisten zum Feld, die
im Gedächtnis des ehemaligen Bauern mit der Geborgenheit korreliert, die ein
Vater bieten kann, bildet die Grundlage für die metaphorische Personifizierung
des Feldes als eines großzügigen23 Menschen, dessen Großzügigkeit mit Väterlich-
keit verglichen wird. Die ablehnende Haltung des Protagonisten gegenüber dem
fremden Wassertank wird auf das Land (‫ )األرض‬projiziert, wodurch eine weitere
Personifikation entsteht. Die Statik des Feldes suggeriert eine Standhaftigkeit
gegenüber der fremden Herrschaft.

5.1.2 Transiträume
Für viele Vertriebene ist jeder Ort jenseits des Geburtslandes, ob Flüchtlingslager,
Unterschlupf auf dem Fluchtweg oder neues Zuhause, nicht nur ein Raum zur
Begegnung mit fremden Menschen und Kulturen, sondern auch mit dem ent-
fremdeten Selbst. Gefühle des Verlustes machen fremde Orte zu Transiträumen
der stets nach innerer Ruhe verlangenden Seele. Der Fluchtweg ist ein zentraler
Begriff bei Kanafānī (cf. El-­Ayoubi 1995: 35):

20 Diese gilt als Grenzgebiet jenseits der staatlichen Kontrolle, cf. Dirāz (1988: 62); as-­
Sulṭān (2007: 16).
21 Zu dieser Haltung bei Kanafānī, cf. ’Ibrāhīm (2012: 99 f.); Stehli-­Werbeck (1995: 23);
as-­Sulṭān (2007: 11).
22 Fähndrich übersetzt ‫( قار‬Teer) mit Pech, was die Konnotation ohne die eigentliche
Bedeutung wiedergibt.
23 Indem Fähndrich ‫( معطاء‬großzügig) mit fruchtbar übersetzt, geht die Personifikation
verloren.
172 Hala Farrag

(B 9)
‫ ولم يكن ثمة ما يفعله غير أن يطلق ساقيه للريح‬،]…[ ‫وفي اللحظة التالية جاءته الضربة األخرى بالعصا السوداء‬
‫ ورغم ذلك […] وضع كفيه في جيبي سرواله وسار‬.‫ بغشاوة من الدوار والضباب والبكاء‬،‫ أمام عينيه‬،‫وقد اغتسل الطريق‬
.[…] ‫بخطوات ثابتة‬
(74 :.‫م‬.‫ ق‬،ً‫)كان يومذاك طفال‬
Im nächsten Moment folgte ein weiterer Schlag mit dem schwarzen Stock. […] Da gab
es für ihn nichts Anderes mehr als Hals über Kopf davonzulaufen. Die Straße vor seinen
Augen verschwamm hinter einem Schleier aus Schwindel und Tränen. Dennoch […]
[s]teckte [er] seine Hände in seine Hosentaschen und ging mit ruhigen festen Schritten
weiter […]. („Als er ein kleiner Junge war“, L.t.O.: 24)

Der Weg ins Ungewisse wird mit den verweinten Augen des kindlichen Augen-
zeugen eines Massakers wahrgenommen. Seine Schmerzen werden aus innerer
Perspektive beschrieben: Durch die Verwendung des Verbs ‫( اغتسل‬badete sich),
das eine hyperbolische Darstellung der Tränen impliziert, wird ‫( الطريق‬der Weg,
die Straße) zugleich personifiziert. Der Prozess der Läuterung durch Tränen kann
im Hinblick auf die darauf folgenden Zeilen als eine antizipierte Entwicklung
des Kindes interpretiert werden (cf. ’Ibrāhīm 2012: 105). Folglich kann die Über-
tragung als eine personifizierende Metonymie aufgrund räumlicher Kontiguität
eingeschätzt werden; die Läuterung gilt eigentlich dem Kind und nicht dem Weg.
Eine zweifache Dynamik ist an der Fortbewegung des Kindes, aber auch in dem
schwindenden Weg zu erkennen; auch hier, wie bei Mühlberger (B1) verlieren
Landschaften ihre Konturen.
Kanafānī schildert den alltäglichen Kampf der palästinensischen Vertriebenen
gegen den Hunger im Flüchtlingslager, mithin Gefühle, die er selbst erlebte:
(B 10)
.[…] ‫رفع رأسه إلى السماء المظلمة […] واستطاع أن يحس الغيوم السوداء تتزاحم كقطع البازلت‬
(13 :.‫م‬.‫ ق‬،‫)القميص المسروق‬
Er schaute hinauf zum finsteren Himmel […]. Er spürte die schwarzen Wolken, die
Basaltstücken gleich, sich übereinander schoben […]. („Das gestohlene Hemd“, G.H.: 99)

Erzählt wird die Handlung aus der inneren Perspektive des arbeitslosen Vaters
’Abū-­l-‘Abd, der nicht imstande ist, seinen kleinen Sohn vor dem Verhungern zu
retten, als sich die Verteilung der Nahrungsmittelration verspätet. Am Abend,
während er heimlich versucht, einen Tunnel zu graben, um zu dem UNRWA24-
Speicher zu gelangen, zieht ein Gewitter auf. Aus seiner Perspektive werden

24 UN-­Organisation, die 1949 zur Hilfe der palästinensischen Flüchtlinge gegründet


wurde, cf. Zāyyid (2013: 72).
Ästhetisierung von Verlust? 173

Wolken aufgrund ihrer Dichte und Schwärze hyperbolisch mit Basaltstücken ver-
glichen; diese Analogie entstammt der subjektiven Wahrnehmung der Wolken,
die für den Protagonisten eine unüberwindbare Barriere zu seinem Ziel bilden.
Die Ausweglosigkeit der eigenen Krise lässt ihn die Dynamik der Wolken als
Statik empfinden.
Die psychische Wirkung des „Entwurzelungsvorgangs“ (’Ibrāhīm 2012: 105)
ist ein bleibender Schmerz; trotz der freundlichen Aufnahme in der BRD lehnte
Mühlberger den Begriff der „neuen Heimat“ ab (cf. Stroheker 2011: 3, 6, 10, 16);
seine Entfremdung spiegelt sich in der Darstellung des Exils wider:
(B 11)
Wind geht, und der alte Baum erscheint mir wieder wie ein Pilger, der schon viele Jahre lang
unterwegs ist und eilt, vor dem Nachtwerden von der Höhe ins jenseitige Tal zu gelangen,
um die Elendenherberge zu erreichen. (HB: 110)

(B 12)
Zwischen den Stämmen funkeln die Schienen; sie rasten eine Weile vor dem Weg, den sie
bald antreten müssen, und träumen in der milden Sonne vor sich hin, als habe auch sie das
Jahr alt und müde gemacht. Wegmüde. (HB: 35 f.)

(B 13)
Die staufische Grablege, die sie, unter den entblätterten Linden in der warmen
Herbstsonne sitzend, betrachtete, verschmolz mit ihrem sich dem Ende zuneigenden
Leben. („Der Schlüssel“, I.w.d.: 74)

(B 14)
In einer polnischen Kleinstadt, die inmitten der Ebene mit den hingeduckten,
strohbedeckten Hütten der Dörfer liegt, aus denen die Zwiebeltürme der Kirchen wie
schmerzliche Träume aus dunkler Vereinsamung aufsteigen – […] die Allee verläuft sich
[…] ins flache gestaltlose Bauernland, das wie eine lebenslängliche Verbannung ohne
Hoffnung ist. (HB: 140 f.)

Das Verfahren, in statischer Natur eine Dynamik (s. o. B1) wahrzunehmen, ist
auch in (B11) zu lesen: Herbstliche, vom Wind zerzauste Bäume assoziiert der
Erzähler mit einem Pilger, der lange Jahre unterwegs ist. Auch hier schwächt die
Vergleichspartikel erscheint mir die Gleichsetzung der beiden Bildbereiche ab; die
menschlichen, dynamischen Taten in den Verben eilt, gelangen, erreichen tragen
zur Entstehung eines personifizierenden Vergleichs bei. Dass das Ziel der müh-
samen Pilgerfahrt eine Elendenherberge ist, suggeriert eine Selbstidentifizierung
des autobiographischen Erzählers mit jenem Pilger; dieses Kompositum könnte
demzufolge als Antonomasie für die „neue Heimat“ interpretiert werden und
174 Hala Farrag

beruht auf einer partiellen Synekdoche, in der die „neue Heimat“ auf eine ein-
zige Eigenschaft beschränkt wird, nämlich das Beherbergen von Elenden. Auf die
Schienen projiziert der Erzähler seinen Zustand als Vertriebener (B12), indem er
ihnen menschliche Tätigkeiten der Statik (rasten, träumen) und der Dynamik (an-
treten) verleiht und sie somit personifiziert. Die Vergleichspartikel als ob schwächt
die Personifikation ab und rückt sie wieder in Richtung eines Vergleichs; jedoch
stellt das nachgetragene Kompositum wegmüde die Personifikation wieder her.
Die Ausdehnung des Bildes mit Hilfe verschiedener Sprachmittel ist Ausdruck
einer mentalen Beschäftigung mit dem Weg. An wenigen Stellen in Mühlbergers
Vertreibungsprosa verlieren Räume jenseits des Geburtslandes ihre Konturen
und werden „enträumlicht“, in einem Vorgang, in dem nur die Art und Weise,
wie sie empfunden werden, aktiviert wird. Mühlberger schreibt in (B13) aus der
inneren Perspektive einer vertriebenen, alten Mutter: Die mentale Beschäftigung
mit dem eigenen Tod verdrängt die optische Wahrnehmung der Grablege, wobei
eine kausale Kontiguität zwischen dieser und dem Tod besteht. Der Prozess der
Verdrängung selbst wird metaphorisch als Verschmelzung konkretisiert und so-
wohl einer optischen Wahrnehmung (Grablege) als auch einem Abstraktum (das
Leben) zugeschrieben. Diversen Räumen in anderen Ländern haftet die negative
Vertreibungsstimmung an: Zwiebeltürme der Kirche werden mit schmerzlichen
Träumen verglichen (B14); die Ähnlichkeit ist hier subjektiv und kann möglicher-
weise synästhetisch gedeutet werden: Die unübersehbaren Türme mögen in dem
Erzähler einen ähnlichen Effekt auslösen wie unvergessliche schmerzliche Träume
in seiner Einsamkeit. In einer personifizierenden Metonymie wird eine mensch-
liche physische Handlung (verläuft sich) der Allee zugeschrieben, die damit auch
dynamisch wirkt. Dadurch wird die Ziellosigkeit des neuen Lebens im Exil für den
Neuankömmling hervorgehoben. Das Bauernland, das ihm end- und gestaltlos
schien, vergleicht er mit eigener Lebenserfahrung, nämlich der hoffnungslosen,
lebenslänglichen Verbannung.

5.2 Der Raum als Zielbereich: Verräumlichung


Räume in ihrer schutzstiftenden Statik sowie in ihrer bedrohlichen Dynamik
lassen sich, vor allem im arabischen Untersuchungskorpus, als Zielbereich von
Erinnerungen und Verlustgefühlen wie auch von Menschen erkennen.

5.2.1 Die Verräumlichung von mentalen Prozessen


Der einfachen Sprache Kanafānīs steht der Reichtum der psychischen Vorgänge
gegenüber. Seine erinnernde Haltung schlägt sich in dem Bewusstseinsstrom nie-
der (cf. Farīḥāt 2010: 321 f., 327 f.), der insbesondere in der Erzählung ‫عائد إىل حيفا‬
Ästhetisierung von Verlust? 175

(Rückkehr nach Haifa) die Handlung durch lange Erinnerungsabschnitte unter-


bricht (cf. Stehli-­Werbeck 1995: 29; Fischer 1995b: 46, 49). Zertrümmerung, die zu
Kanafānīs Erfahrungswelt gehört, fungiert als Zielbereich in der Verräumlichung
von mentalen Prozessen:
(B 15)
‫ لقد جاءت‬.‫ كام يتساقط جدار من الحجارة ويرتاكم بعضه فوق بعض‬،‫ بل انهالت يف داخل رأسه‬.ً‫ لم تعد إليه الذاكرة شيئا ً فشيئا‬،‫كال‬
.‫ وأخذت تتساقط فوق بعضها ومتأل جسده‬،‫األمور واألحداث فجأة‬
(341:.‫ح‬.‫إ‬.‫)ع‬
Nein, die Erinnerung kehrte nicht nach und nach zurück; sie stürzte in seinen Kopf, wie
wenn eine steinerne Wand in sich zusammenfällt und sich ein Haufen auftürmt. Plötzlich
waren die Gegenstände und die Ereignisse da, fielen übereinander und füllten seinen
Körper. (R.n.H.: 73)

(B 16)
‫ كما لو أنها تنتشل كلامتها من برئ غبار‬،‫ وتبدو إذ تتلفظ بها‬،‫ وذات لكنة أقرب إلى األلمانية‬،‫كانت لغتها اإلنكليزية بطيئة‬
.‫سحيقة الغور‬
(366 :.‫ح‬.‫إ‬.‫)ع‬
Ihr Englisch war langsam und hart; es klang eher deutsch, und wenn sie etwas sagte,
schien sie die Worte aus den Tiefen eines halbversandeten Brunnen [zu bergen]. (R.n.H.: 97)

(B 17)
.[…] ‫وفي فترة الصمت الواسعة التي انفتحت بينهام كالقرب احس برغبة هائلة تدفع به إلى الفرار‬
(28 :.‫ح‬.‫ب‬.‫ أ‬،‫)األفق وراء البوابة‬
In der langen Minute des Schweigens, die sich zwischen beiden wie ein Grab auftat, spürte
er einen entsetzlichen Wunsch, den Wunsch zu fliehen. („Der Horizont hinter dem Tor“,
L.t.O.: 143 f.)

Parallel zur Reise in die Heimatstadt verläuft der schuldbeladene Erinnerungs-


prozess, dem der Protagonist (B15) hilflos ausgesetzt ist: Das Erinnern emp-
findet er als Einsturz einer Mauer oder eines Gebäudes; sich selbst empfindet
er als ein mit diesen Steinen, resp. Erinnerungen, gefülltes Gefäß. In diesem
Vergleich wird die Verwirrung konkretisiert; dazu tragen die Verben der dyna-
mischen, vertikalen Bewegung ‫( انهالت‬stürzte), ‫( يتساقط‬zusammenfällt), ‫( يرتاكم‬auf-
türmt) bei und fungieren isotopiebildend. Dieses Bild ist eine Ausdehnung
der konzeptualisierten Vernichtungsmetapher. Die Mühseligkeit der Rede über
lange unterdrückte Erinnerungen empfindet Saʽīd in den Worten der neuen
Bewohnerin seines damaligen Hauses (B16). Seine subjektive, synästhetische
Wahrnehmungsweise bildet das Gemeinsame zwischen dem akustischen Effekt
ihrer Worte und dem optisch wahrnehmbaren Emporziehen aus einem tiefen
und versandeten Brunnen. Dieser Vergleich entstammt der Psyche des Vaters,
176 Hala Farrag

der lange nach dem verlorenen Sohn sucht und für den die Worte der neuen
Bewohnerin die Erfüllung seiner Hoffnung bedeuten könnten. Das Verb ‫انتشل‬
(bergen)25 könnte in diesem Kontext auch als kausale Metonymie interpretiert
werden, da eigentlich nicht die Worte, sondern die damit zusammenhängende
Hoffnung des Protagonisten zu retten sind. In (B17) werden zwei psychische
Schwierigkeiten einander gegenübergestellt: Zum einen ist es die Sprachlosigkeit
des Protagonisten, der seiner Familie den Tod seiner Schwester während der
Vertreibung nicht mitteilen kann. Zum anderen ist auch seine Tante, die ihm
vom Tod seiner Mutter berichten soll, sprachlos. Die sprachliche Barriere wird
mit einem Grab verglichen, was zugleich eine metonymische Kette impliziert:
Der Grund für das Schweigen ist der Tod, der wiederum mit dem Grab räumlich
zusammenhängt. Die Analogie zwischen dem Schweigen und dem Grab ist
subjektiv, möglicherweise aufgrund des tiefen Verlustgefühls, und ist insofern
hyperbolisch, als dass dadurch das Schweigen unüberwindbar erscheint. Das
Schweigen als Grab ist hier aber nichts Statisches, sondern ein Raum, der auf-
geht und bedrohlich wirkt.
Die Vertreibungsliteratur gilt als Trauerarbeit über den Verlust von kulturellen
Werten, unter dem ältere Leute am meisten litten (cf. Helbig 31996: 51, 174, 191).
Auf Kulturgegenstände werden bei Mühlberger und bei Kanafānī Erinnerungs-
prozesse projiziert:
(B 18)
Er tastet die Zeit langsam zurück […]. Jahr um Jahr legt er auseinander wie die Perlen des
Rosenkranzes. (HB: 19)

(B 19)
‫ إن رأسه اآلن تنفتح كأنها صندوق عرس منقوش بالصدف ويحوي كل يشء‬،]…[ ،‫لقد بدأت رائحة أرضه تذيب أحاسيسه‬
(22 :.‫م‬.‫ ق‬،‫)إلى أن نعود‬
Langsam ließ der Geruch seines Landes seine Gefühle weicher werden. […] Und jetzt
öffnete sich [sein Kopf] wie eine perlmuttverzierte Brauttruhe, in der alles wohlverwahrt
liegt. („Bis wir zurückkehren“, B.w.z.: 16)

Die erinnerten Jahre, die der alte Simon in Herbstblätter gedanklich durchgeht,
werden mit Perlen eines Rosenkranzes verglichen (B18). Dabei wird die men-
tale Versetzung von einem „kognitiven Raum“ (Drößiger 2007: 175) in einen
anderen mit der physischen Dynamik der auseinandergelegten Perlen assoziiert.
Die Basis dieses Vergleichs ist subjektiv und könnte im Aufeinanderfolgen und

25 Das von Fähndrich benutzte Verb „emporziehen“ ist semantisch nur teilweise adäquat.
Ästhetisierung von Verlust? 177

Zusammenhängen sowie in der sich wiederholenden Handlung bestehen, die


das Erinnern quasi zu einem stillen Kult emporhebt. Die Jahre an sich sind
hier eine konventionalisierte zeitliche Metonymie für die damit zusammen-
hängenden Erinnerungen. Trotz des Schmerzes, den das Zurückdenken an die
Ermordung seiner Frau hervorruft, erwecken heimatliche Gerüche in dem Pro-
tagonisten in (B19) sehnsuchtsvolle Gefühle. Diesen entstammt der Vergleich
des Erinnerungsprozesses mit dem Öffnen einer Brauttruhe. Diesem Vergleich
liegt eine konzeptuelle räumliche Kontiguität des Kopfes als ein Gefäß für die
Gedanken zugrunde;26 auch hier wird die mentale Handlung als eine Dynamik
dargestellt.

5.2.2 Die Verräumlichung von Menschen


Die Vertreibung enteignete die Menschen, und ebenso ihr Entscheidungsver-
mögen. In einer Gruppe bildlicher Assoziationen werden Vertriebene zu Trägern
von räumlichen Eigenschaften; die Verräumlichung erfolgt anhand von Elemen-
ten der Landschaft:
(B 20)
Die Fink-­Jule war […] in dem Alter gewesen, in welchem ein Baum sich nicht mehr
umpflanzen läßt. […]. Dort, wo er weiter wachsen sollte, hat man ihm in Wirklichkeit ein
Grab geschaufelt. […] das, was in ihr durch die Vertreibung aus der Heimat geschehen
war, mußte die Herzwurzel ihres Lebens beschädigt haben. („Die Begräbnis-­Jule“, I.w.d.:
90 f.)

(B 21)
Der erste Schein der aufwachenden Flammen fiel über ihr braunes, verrunzeltes Gesicht,
darin ein Leben wach wurde wie auf einem Feld, das die erste Wärme des Frühlings berührt.
(HB: 159)

(B 22)
‫ بل وأكثر من هذا فان الخطني الذين يشقان‬،ً ‫ان شكل وجهه يثري يف اإلنسان ـ لدن تدقيق النظر ـ شعوراً بأنه يشاهد حقالً صغريا‬
.‫جبهته يحب اإلنسان أن يشبههام بآثار «شفرات» محراث مر لتوه من ذلك املكان‬
(22 :.‫م‬.‫ ق‬،‫)إلى أن نعود‬
Doch bei genauerem Hinsehen konnte sein Gesicht den Eindruck erwecken, man betrachte
einen kleinen Acker; ja, mehr noch die beiden Linien, die seine Stirn durchfurchten, legten
den Vergleich mit den Spuren einer Pflugschar nahe, die diese Stelle gerade passiert hatte.
(„Bis wir zurückkehren“, B.w.z.: 16)

26 Bei Fähndrich geht die Übertragung verloren, indem er ‫( رأس‬Kopf) mit Erinnerung
übersetzt.
178 Hala Farrag

(B 23)
.[…] ‫ إن في محاجر زوجه سؤاالً رهيباً مازال يقرع فيهام منذ زمن‬،‫لكنه يخاف أن يدخل هذه الخيمة‬
(13 :.‫م‬.‫ ق‬،‫)القميص المسروق‬
Doch er fürchtete sich, das Zelt zu betreten, [denn in den Augenhöhlen seiner Frau pocht
seit langer Zeit dieselbe schreckliche Frage]. („Das gestohlene Hemd“, G.H.: 99 f.)

Die alte, zur Eingliederung in die neue Heimat nicht mehr fähige Fink-­Jule (B20)
vergleicht Mühlberger mit einem alten, nicht mehr umpflanzbaren Baum. Die-
se Attribuierung des Baums trägt zur Neumotivierung der konzeptualisierten
Baum-­Mensch-­Metapher bei, die weiterhin insofern synekdochisch ausgedehnt
wird, als das Herz, als Zentrum der Gefühle, mit einem weiteren pflanzlichen
Element assoziiert wird, nämlich der Wurzel als Ursprung des Lebens eines Bau-
mes. Gemäß dieser Interpretation versteht sich die Vertreibung für Menschen
ebenso wie die Umpflanzung von alten Bäumen als Ursache für den Tod, was
sich weiter in der Gleichsetzung der Pflanzgrube mit einem Grab niederschlägt.
Diese explizite Metapher resultiert möglicherweise auch aus dem Erfahrungs-
bereich der Fink-­Jule, die einzig in der Teilnahme an Begräbnissen ihrer dama-
ligen Mitbürger Trost findet. Die Bäuerin Brigitte, an die sich der Erzähler in
(B21) erinnert, kann nach dem Verlust ihrer Familie nur in der täglichen Arbeit
ihre Freude finden. Ihre Arbeitsfreude, die ihrem Gesicht anzusehen ist, wird mit
dem Erwachen eines Feldes verglichen. Dabei wird dem Leben, hier hyperbolisch
als Synekdoche für die Lebhaftigkeit, der Prozess wach werden zugeschrieben,
was das starke Bedürfnis der Bäuerin nach einer Beschäftigung besonders her-
vorhebt. Hier ist die Analogie auch subjektiv und beruht auf der belebenden
Wirkung der Wärme in beiden Bildbereichen, dem Feld und dem Gesicht. In
beiden Textstellen (B20, B21) werden Menschen in ihrer starken Beziehung zum
Geburtsland als Teile davon (Baum, Feld) geschildert; diese statischen Räume
haben eine schutzstiftende Funktion. Auch die palästinensische Gesellschaft war
vor 1948 vorwiegend agrarwirtschaftlich geprägt (cf. Fähndrich 1983: 147); das
menschliche Gesicht als Spiegelbild seiner Arbeit ist auch bei Kanafānī in (B22)
zu lesen. Die zwei Falten auf der Stirn des Bauern, der trotz seines jungen Alters
unter Folter, Vertreibung und der grausamen Ermordung seiner Frau gelitten hat,
werden aufgrund ihrer bemerkbaren Tiefe mit frischen Spuren einer Pflugschar
verglichen. In beiden Vergleichen (B21, B22) ruft die partielle Gleichsetzung des
Ausgangsbereichs mit dem Zielbereich, die durch die jeweiligen Vergleichspartikel
erfolgt, beide Bereiche parallel hervor. Der Zielbereich ً‫( حقال‬Acker) suggeriert auch
hier eine Statik des Menschen im Gegensatz zu seinem Vertreibungsschicksal. In
(B23) wird der beharrende, fragende Augenausdruck der Ehefrau, mit dem sie
die Untätigkeit ihres Mannes verurteilt und der an der leichten Bewegung ihrer
Ästhetisierung von Verlust? 179

Iris zu erkennen ist, mit einem pochenden Hammer metaphorisch gleichgesetzt.


Die Analogie liegt in dem gleichsam empfundenen Schmerz, was diesen Aus-
druck auch als eine hyperbolische Synästhesie interpretieren lässt, sowie in der
Wiederholung der Handlung. Dabei wird nicht nur das Optische akustisch dar-
gestellt, sondern auch eine gewisse Dynamik suggeriert. Bemerkenswert ist die
Wahl des polysemen Lexems ‫محاجر‬, das hier in seiner lexikalisierten, übertragenen
Bedeutung als Augenhöhlen verwendet wird; allerdings ruft die Verbindung mit
dem Verb ‫( يقرع‬pocht) dem Leser seine eigentliche Bedeutung als Steinbruch bzw.
Lagerstätte von Gestein27 ins Gedächtnis und dehnt die Metapher damit lexika-
lisch aus. Diese beiden Lexeme weisen wie in (B10) auf die starre Situation der
vertriebenen Palästinenser in den Flüchtlingslagern hin.
An mehreren Stellen wird der Mensch bzw. der menschliche Körper zu einem
Weg bzw. zum Ziel eines Weges verräumlicht:
(B 24)
.‫ وشعر باألىس يتسلقه من الداخل‬،]…[ ،‫ أحس أن شيئا ً ما ربط لسانه‬،]…[ ‫» إلى مشارف حيفا‬.‫حين وصل «سعيد س‬
(341:.‫ح‬.‫إ‬.‫)ع‬
Als Saʽīd S. […] die Anhöhen oberhalb Haifas erreicht hatte, spürte er, wie ihm etwas die
Zunge band; er […] empfand [den Kummer, ihn von innen heraufkletternd]. (R.n.H.: 73)

(B 25)
.[…] ‫لقد كان يحس الغصة تتعلق بألف ذراع يف حنجرته وهي تنظر بصمت مريع إلى كيس الطحين الفارغ يتأرجح على ذراعه‬
(19 :.‫م‬.‫ ق‬،‫)القميص املرسوق‬
Er hatte den Kloß gespürt, der sich mit tausend Armen in seiner Kehle festkrallte, während
sie mit schrecklichem Schweigen den leeren Mehlsack betrachtete […]. („Das gestohlene
Hemd“, G.H.: 106).

Die Hilflosigkeit gegenüber dem Schicksal lässt zwei Protagonisten sich selbst als
passives Objekt verurteilen: Aus der inneren Perspektive des zurückkehrenden
Saʽīd in (B24) wird der psychische Vorgang des zunehmenden Kummers (‫)األىس‬
hyperbolisch als physisches Klettern (‫ )يتسلق‬dargestellt, wodurch zugleich dieses
Gefühl personifiziert wird.28 Seine Mobilität steht im Gegensatz zur gebundenen,
unfähigen Zunge; die Ortsangabe ‫( من الداخل‬von innen) hebt die Passivität Saʽīds als
Wahrnehmer dieses Vorgangs hervor. Ähnlich empfindet der bedürftige Vater in

27 Fähndrichs Übersetzung (in den Augen seiner Frau lag […] immer dieselbe schreckliche
Frage) verfehlt die Bildlichkeit.
28 In Fähndrichs Übersetzung „empfand inwendig Kummer aufsteigen“ wird die Per-
sonifikation vernachlässigt.
180 Hala Farrag

(B25) die Sprachlosigkeit bei seiner Rückkehr nach einem erfolglosen Versuch,
für seine hungrige Familie etwas Mehl zu beschaffen: Der innere Weg der Wörter,
die er seiner Frau sagen will, ist mit einem Kloß (‫ )غصة‬verstopft. Die konventiona-
lisierte, metaphorische Bedeutung dieses Ausdrucks im Arabischen als Schmerz
oder Kummer wird durch die Personifizierung des Kloßes als tausendarmiges
Wesen in der Kehle neu motiviert. Die Zahlenhyperbel hebt die Starrheit hervor
und schließt in einem resignierenden Ton die Möglichkeit eines Wandels aus.

6 Fazit
Die stilistische Untersuchung ausgewählter Vertreibungsprosa von Josef Mühl-
berger und Ġassān Kanafānī ergab eine Verarbeitung des Raumes als Ausgangs-
sowie als Zielbereich. Analysiert wurden 11 deutschsprachige und 14 arabische
Textstellen, die innovative oder neu motivierte raumbasierte Sprachbilder exem-
plarisch belegen. Ich greife hiermit auf zwei Fragestellungen zurück. Erstens:
Welche semantisch-­pragmatischen Funktionen erfüllen raumbasierte Bildlich-
keitselemente in der direkten und indirekten Darstellung des Heimatverlustes
im Untersuchungskorpus?
Zunächst fungiert der Raum als Ausgangsbereich in der Darstellung des Ge-
burtslandes und der Transiträume. Das Geburtsland wird nur selten als Aus-
druck der Sehnsucht (B1, B2) idealisiert. Viel häufiger erscheint es als ein fremd
gewordenes Land (B3-5), selbst nach der Wiederbegegnung der Vertriebenen
damit (B6-8). Transiträume – vom Fluchtweg, über das Flüchtlingslager bis hin
zum Exil – spiegeln die innere Entwicklung (B9) oder die Instabilität (B11, B12)
der Figuren in diesen Räumen wider, welche selbst auch manchmal Barrieren
bilden (B10) oder als Ausdruck der totalen Entfremdung bei Mühlberger sogar
ihre Konturen verlieren und zum Abstraktum werden (B13, B14). Eine gewisse
Dynamik verleihen beide Autoren Elementen der Landschaft. Ob Gebirge (B1),
Baum (B11), Schienen (B12), Grablege (B13) oder auch Allee (B14), die Landschaft
ist bei Mühlberger in der Heimat und im Exil zu einer schwindenden geworden,
die von keinem Bestand mehr ist, was die Stimmung des Vertriebenen wider-
spiegelt. Dieser Prozess ist auch, wenngleich viel geringer ausgeprägt, bei Kanafānī
zu erkennen; dynamisch wird nämlich ‫( الطريق‬der Weg) in (B9). Nicht nur die
endgültige Abreise, sondern auch der Krieg schlägt sich bei dem palästinensischen
Schriftsteller in der Dynamik der Landschaftselemente ‫( النخيل‬die Palmen) und
‫( الريح‬der Wind) in (B5) und ‫( شمس حزيران‬Junisonne) in (B7) nieder. Hingegen
erkennt Mühlberger in einigen heimatlichen Räumen und deren Bestandteile eine
Statik, die er an manchen Stellen mit dem Tod in Verbindung bringt (B3: Möbel;
B6: Geräte in einer Vitrine). Bei Kanafānī ist die Stabilität des Feldes (‫ )الحقل‬und des
Ästhetisierung von Verlust? 181

Landes (‫ )األرض‬ein Zeichen des Widerstandes (B8), die Starrheit der Wolken (‫)الغيوم‬
in (B10) hingegen ein Zeichen der hoffnungslosen Situation der Vertriebenen im
Flüchtlingslager.
Kanafānī ist es gelungen, durch die Umfunktionalisierung vom Raum als Ziel-
bereich Gefühle und mentale Vorgänge, welche mit den Geschehnissen in diesen
Räumen verbunden sind, zu konkretisieren bzw. zu verräumlichen. Dieses Ver-
fahren ist viel seltener bei Mühlberger festzustellen. Die mentale Versetzung in
einen anderen kognitiven Raum wird dabei als Dynamik versprachlicht, die bei
Kanāfānī oft mit Krieg und Zerstörung eng zusammengehört, etwa als Zusam-
mensturz (B15) bzw. Rettungsversuch von unterhalb der Trümmer (B16). Selbst
statische Räume wie ‫( القرب‬das Grab) gehen bedrohlich auf, um darin Verlustgefühle
verschwinden zu lassen (B17). Hingegen ist die Erinnerung an schöne Momente
mit einer positiven Dynamik heimatlicher Kulturgegenstände verbunden, wie
dem Auseinanderlegen der Perlen des Rosenkranzes (B18) oder der sich öffnenden
Brauttruhe (‫صندوق عرس‬, B19). Als Folge der Enteignung des Entscheidungsver-
mögens werden schließlich auch Menschen verräumlicht: Dabei ist die Statik der
Menschen etwa als Baum (B20) oder als Feld (B21) bzw. ‫( حقل‬Feld, B22) der Aus-
druck der Zugehörigkeit zu jener Landschaft. Die Hilflosigkeit des Vertriebenen
und die Endlosigkeit seiner Situation lassen ihn bei Kanafānī als statischen Raum
für seinen Kummer werden (B24, 25); alleine die negativen Gefühle verfügen über
eine aufsteigende Dynamik (B25).
Zweitens: Inwiefern sind die Ergebnisse der Analyse von bildlicher Raumdar-
stellung und Verräumlichung in einer Literatur, die vom mentalen Vorgang der
Erinnerung lebt, für die kognitive Stilistik relevant? Was die Relevanz der Analyse
für die kognitive Stilistik angeht, so lässt sich eine Reihe von Übergangsphä-
nomenen feststellen. Die Ausdehnung von sprachlichen Bildern ist der Ausdruck
einer tiefer greifenden Beschäftigung mit semantisch-­kognitiven Beziehungen
zwischen Ausgangs- und Zielbereich. Der Vergleich bildet bei Mühlberger das
zentrale Bildlichkeitselement und kommt oft als Ausgang für ein erweitertes Bild
vor: So erweitert Mühlberger den Vergleich eines Baums mit einem Pilger zu
einer Personifikation, indem er diesem Baum menschliche Tätigkeiten zuschreibt
(B11). Dieses Ausdehnungsverfahren ist bei Kanafānī auch in Personifikationen
zu finden, indem er z. B. menschliche Eigenschaften auf Palmen (‫ )النخيل‬als Ganzes
projiziert, dann den personifizierenden Vorgang synekdochisch auf Palmenzweige
überträgt (B2). Übergänge entstehen auch durch metonymische Motivierung von
Analogien. Mühlbergers Vergleich eines Platzes, wo alte Möbel aufgestapelt sind,
mit einem Friedhof (B3) beruht insofern auf einer kausalen Metonymie, als der
Tod von Menschen kausal mit der Funktionslosigkeit des menschlichen Körpers
182 Hala Farrag

zusammenhängt. Bei Kanafānī erkennt man ein ähnliches Phänomen, indem der
Erinnerungsprozess mit dem Öffnen einer Brauttruhe (‫ )صندوق عرس‬verglichen
wird (B19). Diesem Vergleich liegt eine konzeptuelle räumliche Metonymie des
Kopfes als Gefäß für die Gedanken zugrunde. Weiter ergeben sich Übergangsfälle,
die verschiedene Interpretationsmöglichkeiten von Bildlichkeitsphänomenen er-
lauben, aus subjektiven Analogien. Diese beruhen u. a. auf einer synästhetischen
Wahrnehmungsweise der Autoren und können als Zeichen der Innovativität ihrer
Sprache gelten, wie etwa Mühlbergers Vergleich des Anblicks von unüberseh-
baren Zwiebeltürme der Kirche mit unvergessliche[n]schmerzlich[en] Träume[n]
des einsamen Erzählers (B14) und Kanafānīs Vergleich des akustischen Effektes
der schwerfälligen Worte der deutschen Jüdin Mirjam auf den Palästinenser Saʽīd
mit dem Bergen (‫ )انتشل‬eines Menschen aus einem Brunnen (B16). Konzeptuelle
Metaphern werden sowohl bei Mühlberger als auch bei Kanafānī oft durch die
Kontextualisierung mit Lexemen aus der ursprünglichen Bedeutung neu moti-
viert, wie etwa in Kanafānīs ‫( غصة‬ursprünglich Kloß, heute auch Kummer, B25),
die als tausendarmiges Wesen in der Kehle personifiziert wird. Die verblasste
Baum-­Mensch-­Metapher wird bei Mühlberger nicht nur dadurch neu motiviert,
dass der alte eingliederungsunfähige Mensch mit einem nicht umpflanzbaren
Baum verglichen wird. Auch wird zusätzlich ein Teil des Zielbereichs Baum auf
einen Teil des Ausgangsbereichs Herz synekdochisch ausgedehnt, und zwar in
dem Ad-­hoc-­Kompositum Herzwurzel (B20). Die Relevanz der Unterscheidung
zwischen der impliziten (‫ )مكنية‬und der expliziten (‫ )ترصيحية‬Metapher in der ara-
bischen Stilistik erweist sich auch für das Deutsche, u. a. in Zweifelsfällen, ob es
sich um eine Metapher oder einen Vergleich handelt, wie in Mühlbergers Aus-
druck in (B20). In expliziten Metaphern, in denen der Zielbereich genannt wird,
wobei es an einer Transfermarkierung fehlt, bleibt der Prozess des Projizierens
erkennbar. Damit gilt dieser Metapherntyp als Übergang zum Vergleich. Im Hin-
blick auf den Vergleich selbst fallen bei Mühlberger untypische Vergleichsmittel
wie erinnern an (B3) oder erscheint mir wie (B11) als Verbalisierungen mentaler
Vorgänge besonders auf.
Die Vertreibung als „psychischer Stimulus“ (Bierwiaczonek 2013: 239) erzeugte
bei beiden Autoren ähnliche mentale Prozesse, die aus historischen Gründen
anders verarbeitet und in Verbindung mit ihren autobiographischen Erlebnissen
konnotiert wurden: Das Ergebnis ist eine intensive sprachliche Präsenz des Rau-
mes, der bei Mühlberger, der die Heimat im Alter von 43 Jahren verließ, häufig re-
konstruiert wird, wohingegen der Raum bei Kanafānī, der nie eine richtige Heimat
kannte, eher selbst konstruierend wirkt. Literarischen Stimmen wie Mühlberger
und Kanafānī als Sprachrohre des Schmerzes und des Verlustes wäre ein weit
Ästhetisierung von Verlust? 183

größerer Erfolg zuteil geworden, wenn ihnen die Umstände und die Umgebung
dies ermöglicht hätten: Die politische und gesellschaftliche Unterdrückung und
die eigenen Versuche der Eingliederung brachten Mühlberger zum Verstummen
über Erlebtes und Empfundenes, während mit dem Attentat auf Kanafānī seine
rebellische Stimme endgültig verstummte. Zu erwähnen ist schließlich, dass die
Studie Möglichkeiten zur Reflexion und Ergänzung von theoretischen Überlegun-
gen zur Kognitivistik schaffte, was zur weiteren Beschäftigung mit vergleichenden
Studien auf diesem Gebiet motiviert.
Siglen:
B.w.z.: Bis wir zurückkehren
HB.: Herbstblätter
I.d.w.: Ich wollt, daß ich daheime wär
L.t.O.: Das Land der traurigen Orangen
R.n.H.: Rückkehr nach Haifa
‫أرض الربتقال الحزين‬ :.‫ح‬.‫ب‬.‫أ‬
‫عائد إىل حيفا‬ :.‫ح‬.‫إ‬.‫ع‬
‫القميص املرسوق‬ :.‫م‬.‫ق‬

Literatur
Deutschsprachige Primärliteratur:
Kanafānī, Ghassan 1983: Das Land der traurigen Orangen. Palästinensische Erzäh-
lungen I. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, Basel: Leons
Kanafānī, Ghassan 1984: Bis wir zurückkehren. Palästinensische Erzählungen II.
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, Basel: Leons
Kanafānī, Ghassan 1986: „Rückkehr nach Haifa“, in: Id..: Umm Saad, Rückkehr
nach Haifa. Zwei palästinensische Kurzromane. Aus dem Arabischen von Hart-
mut Fähndrich, Basel: Leons: 71–141
Mühlberger, Josef 1960: Ich wollt, daß ich daheime wär. Erzählungen der Ver-
treibung, Augsburg: Adam Kraft
Mühlberger, Josef 1963: Herbstblätter. Gedanken und Gestalten, Eßlingen: Bechtle

Arabische Primärliteratur:
Kanafānī, Ġassān 1972: „ʽĀ’idun ’ilā Ḥayfā“. fī: al-­Āṯāru-­l-kāmila. al-­ğuz’u-­
l-’awwal. ar-­ruwāyāt. Bayrūt: Dāru-­ṭ-Ṭalīʽati li-­ṭ-ṭabʽi wa-­n-našr (1972):
340–412
Kanafānī, Ġassān 21987a: Al-­qamīṣu-­l-masrūqu wa qiṣaṣun ’uḫrā. Bayrūt:
Mu’assasatu-­l-abḥāṯu-­l-ʽarabiya
184 Hala Farrag

Kanafānī, Ġassān 21987b: ’Arḍu-­l-burtuqāli-­l-ḥazīn. Qiṣaṣun qaṣīra. Bayrūt:


Mu’assasatu-­l-abḥāṯu-­l-ʽarabiya.

Deutschsprachige und englischsprachige Sekundärliteratur:


Assmann, Aleida 2006: Generationenidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der
neuen deutschen Erinnerungsliteratur, Wien: Picus
Assmann, Aleida 2007: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung
zur öffentlichen Inszenierung, München: Beck
Baldauf, Christa 2000: „Sprachliche Evidenz metaphorischer Konzeptualisierung.
Probleme und Perspektiven der kognitivistischen Metapherntheorie im An-
schluss an Georg Lakoff und Mark Johnson“, in: Zimmermann, Ruben (ed.):
Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher
Sprachformen, München: Fink, 117–132
Barcelona, Antonio 2003a: „Introduction. The cognitive theory of metaphor and
metonymy“, in: Barcelona, Antonio (ed.): Metaphor and Metonymy at the Cross-
roads. A Cognitive Perspective, Berlin / New York: Mouton de Gruyter, 1–28
Barcelona, Antonio 2003b: “On the plausibility of claiming a metonymic mo-
tivation for conceptual metaphor”, in: Barcelona, Antonio (ed.): Metaphor
and Metonymy at the Crossroads. A Cognitive Perspective. Berlin / New York:
Mouton de Gruyter, 33–57
Becher, Peter 1997: „Josef Mühlberger“, in: Neue Deutsche Biographie (NDB) 18,
Berlin: Duncker & Humblot, 272–273
Bierwiaczonek, Boguslaw 2013: Metonymy in Language, Thought and Brain, Shef-
field / Bristol: equinox
Čapek, Jan 2004: „Das Leben, das literarische und wissenschaftliche Schaffen des
sudetendeutschen Schriftstellers Josef Mühlberger“, in: Scientific Papers of the
University of Pardubice, Serie C (2004): 19–38
Darrag, Farid & Heizmann, Markus (Zusammenstellung und Kommentar) 2012:
Poesie des Widerstandes. Die Geschichte Palästinas, gesehen durch die Augen der
palästinensischen Literaten Ghassan Kanafānī und Mahmoud Darwish. Mit aus-
gewählten Zeichnungen von Nagi al-‘Ali, Hamburg: Theorie und Praxis
Drewer, Petra 2003: Die kognitive Metapher als Werkzeug des Denkens. Zur Rolle
der Analogie bei der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkennt-
nisse, Tübingen: Narr
Drößiger, Hans-­Harry 2007: Metaphorik und Metonymie im Deutschen. Untersu-
chungen zum Diskurspotenzial semantisch-­kognitiver Räume, Hamburg: Kovač
El-­Ayoubi, Hachem 1995: „Zur sprachlichen Hintergründigkeit im Werk Ghassan
Kanafānīs“, in: Fischer (ed.) 1995: 33–39
Ästhetisierung von Verlust? 185

Fähndrich, Hartmut 1983: „Nachwort“, in: Kanafānī, Ghassan: Das Land der
traurigen Orangen. Palästinensische Erzählungen I. Aus dem Arabischen von
Hartmut Fähndrich, Basel: Leons, 145–153
Fähndrich, Hartmut 1984: „Nachwort“, in: Kanafānī, Ghassan: Bis wir zurück-
kehren. Palästinensische Erzählungen II. Aus dem Arabischen von Hartmut
Fähndrich, Basel: Leons, 147–155
Fähndrich, Hartmut 1986: „Nachwort“, in: Kanafānī, Ghassan: Umm Saad. Rück-
kehr nach Haifa. Zwei palästinensische Kurzromane, Basel: Leons, 143–150
Fähndrich, Hartmut 1995: „William Faulkner in der modernen arabischen Li-
teratur – am Beispiel des Palästinensers Ġassân Kanfânî“, in: Fischer (ed.)
1995: 55–69
Fischer, Wolfdietrich (ed.) 1995: Männer unter tödlicher Sonne. Ghassan Kanafānīs
Werk heute, Würzburg: Ergon
Fischer, Wolfdietrich 1995a: „Vorwort“, in: id. (ed.) 1995: 7–10
Fischer, Wolfdietrich 1995b: „Ghassān Kanafānī und Nagīb Maḥfūẓ. Ein literari-
scher und stilistischer Vergleich“, in: id. (ed.) 1995: 41–53
Flores, Alexander 1995: „Ġassân Kanafânîs politisches Engagement“, in: Fischer
(ed.) 1995: 11–19
Fritzsche, Peter 2008: „Sorgen der Nachkriegserzähler“, in: Schütz, Erhard &
Hardtwig, Wolfgang (ed.): Keiner kommt davon. Zeitgeschichte in der Literatur
nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 87–99
Hardtwig, Wolfgang 2008: „Zeitgeschichte in der Literatur 1945–2005. Eine Ein-
leitung“, in: Schütz & Hardtwig (eds.) 2008: 7–25
Helbig, Louis Ferdinand 31996: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in
der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, Wiesbaden: Harrassowitz
Hoffstadt, Christian 2009: Denkräume und Denkbewegungen. Untersuchungen
zum metaphorischen Gebrauch der Sprache der Räumlichkeit, Karlsruhe: Uni-
versitätsverlag
Joachimsthaler, Jürgen 2001: „Die Semantik des Erinnerns. Verlorene Heimat –
mythisierte Landschaften“, in: Mehnert (ed.) 2001: 188–227
Kleßmann, Christoph 2001: „Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert – ein
zeitgeschichtlicher Abriß“, in: Mehnert (ed.) 2001: 14–39
Kůrková, Pavla 2009: Die deutschsprachige Literatur zum Thema Vertreibung der
Deutschen aus der Tschechoslowakei unter besonderer Berücksichtigung der Er-
zählung „Der Galgen im Weinberg“ von Josef Mühlberger, Magisterarbeit, ein-
gereicht an der Masaryk-­Universität Brno, Philosophische Fakultät, Universität
für Germanistik, Nordistik und Niederlandistik
186 Hala Farrag

Lakoff, Georg & Johnson, Mark 42004: Leben in Metaphern. Konstruktion und


Gebrauch von Sprachbildern, Heidelberg: Carl-­Auer-­Systeme
Lotman, Juri M. 41993: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-­Dietrich
Keil, München: Fink
Mehnert, Elke (ed.) 2001: Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung
aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht, Frankfurt a. M.: Peter Lang
Müller, Ralph 2012: Die Metapher. Kognition, Korpusstilistik und Kreativität,
Paderborn: Mentis
Ohlbaum, Rudolf 1997: „Der Dichter und Schriftsteller Josef Mühlberger“, in:
Kroll, Frank-­Lothar (ed.): Flucht und Vertreibung in der Literatur nach 1945,
Berlin: Mann, 33–54
Schütz, Erhard & Hardtwig, Wolfgang (eds.) 2008: Keiner kommt davon. Zeit-
geschichte in der Literatur nach 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Sommer, Birgit 1975: „Die Betrogenen“, in: id. (ed.): Ghassan Kanafānī. Ein pa-
lästinensisches Leben, Bonn: PDW (1975): 21
Stehli-­Werbeck, Ulrike 1995: „‚Realismus‘ und Darstellung von Realität im nar-
rativen Werk Ġassān Kanafānīs“, in: Fischer (ed.) 1995: 21–31
Stopka, Katja 2008: „Vertriebene Erinnerung. Transgenerationale Nachwirkung
von Flucht und Vertreibung im literarischen Gedächtnis am Beispiel von Hans-­
Ulrich Treichels Prosa“, in: Schütz & Hardtwig (ed.) 2008: 166–184
Stroheker, Tina 2011: Josef Mühlberger in Eislingen, Marbach: Deutsche Schil-
lergesellschaft
Villiger, Claudia 2000: „Kontextuelle und kulturspezifische Aspekte des Gebrauchs
von Raummetaphern in Texten“, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik 33
(2000): 101–119
Weinrich, Harald 2007: „Gebote und Verbote des Erinnerns und Vergessens.
Plädoyer für eine sorgsame Gedächtniskultur“, in: Konrad-­Adenauer-­Stiftung
(ed.): Die Politische Meinung 449, April. Osnabrück: Fromm, 56–62
Wellershoff, Dieter 1986: Das Geschichtliche und das Private. Aspekte einer Ent-
zweiung, Stuttgart: Steiner
Wild, Stefan 1975: „Ghassan Kanafānī. Ein palästinensisches Leben“, in: Sommer,
Birgit (ed.): Ghassan Kanafānī. Ein palästinensisches Leben, Bonn: PDW (1975):
3–11
Wild, Stefan 1995: „Das schlechte Gewissen des Revolutionärs. Ein Beitrag zur In-
terpretation von Ghassan Kanafānīs Geschichtenzyklus Umm Sacd“, in: Fischer
(ed.) 1995: 71–84
Ästhetisierung von Verlust? 187

Arabische Sekundärliteratur:
ʽAbbās, ’Iḥsān 1972: ’Al-­mabnā ar-­ramzī fī qiṣaṣi Ġassān Kanafānī. fī: Ġassān
Kanafānī. Al-’āṯāru-­l-kāmila. al-­muğalladu-­l-’awwal. Ar-­ruwāyāt, Bayrūt:
Daru-­l-kutub
al-Ğurğānī, ʽAbdu-­l-Qāhir 1984: Dalā’ilu-­l-’iʽğāzi. qara’ahu wa ʽallaqa ʽalayhi:
Maḥmūd Šākir, al-­Qāhira: Maktabatu-­l-Ḫanğī
al-Ğurğānī, ʽAbdu-­l-Qāhir 1991: ’Asrāru-­l-balāġati. qara’ahu wa ʽallaqa ʽalayhi:
Maḥmūd Šākir, Ğidda: Dāru-­l-munā
al-ʽAllāmah, ’Amal 1998: al-’Ummu fī ruwāyāti Ġassān Kanafānī, al-­Ḫalīl: Markaz
as-­sanābil li–­l-dirāsāti wa-­t-turāṯi-­š-šaʽbiyy
al-­Walyy, Muḥammad 1990: aṣ-­Ṣūratu-­š-šiʽriyatu fī-­l-ḫiṭābi-­l-balāġiyyi wa-­
n-naqdiyy, ad-­Dāru-­l-Bayḍā’: al-­markazu-­ṯ-ṯaqāfiyyiu-­l-ʽarabiyy
al-­Yūsuf, Yūsuf Sāmī 1985: Ġassān Kanafānī. Raʽšatu-­l-ma’sa. Dirāsa. ʽAmmān:
al-­Manārat
as-­Sakkakī, Abū Yaʽqūb Yūsuf 1982: Miftāḥu-­l-’ulūm, Baġdād: Dāru-­r-Risālati
as-­Sulṭān, Muḥammad Fu’ād 2007: „Qissat „Riğālun fī-­š-šamsi“ li Ġassān Ka-
nafānī. Dirāsatun naqdiyya“, fī: Mağallatu Ğāmiʽatu-­l-Aqṣa, al-­muğallad al-­
ḥadī ʽašar, al-ʽadadu-ṯ-ṯānī (2007): 1–23
Dirāz, Sīzā Qāsim 21988: „al-­makānu wa dalālātuhu“, fī: Ḥāsānayn, Aḥmad Ṭāhir:
Ğamāliyyātu-­l-makāni, ad-­Dāru-­l-Bayḍā’: Qurṭuba. (1988): 59–67
Farīḥāt, Maryam Ğabr 2010: „’Al-­ḥissu-­l-iġtirābiyyu fī ’aʽmālin ruwā’iyyatin li
Ġassān Kanafānī“, fī: Mağallatu Ğāmiʽatu Dimašq, al-­muğalladu 26, al-ʽadadu-­
ṯ-ṯāliṯu wa-­r-rābiʽ, Dimašq (2010): 289–331
Ğāssim, Ğāssim ʽAlī 2011: „ʽIlmu-­l-luġati-­n-nafsyyi fī-­t-turāṯi-­l-ʽarabyyi“, fī:
Mağallatu-­l-Ğāmiʽati-­l-islamiya. al-ʽadadu 154, al-­Madīnatu-­l-Munawwara
(2011): 505–579
Genette, Gerard 1992: „Hudūdu-­s-sardi“, fī: Bin ʽĪssā Bū Ḥammāla (ed.): Tarā’iqu
taḥlīli-­s-sardi-­l-’adabī, ar-­Ribāṭ: Manšūrātu ’ittiḥādi kuttābi-­l-maġrib
Ḥasānayn, Muḥammad Muṣṭafā ʽAlī 2004: ’Istiʽādatu-­l-makāni. Dirāsatun fī
’ālyyāti-­s-sardi wa-­t-ta’wīl, aš-­Šāriqa: Dā’iratu-­ṯ-ṯaqāfati wa-­l-’iʽlām
’Ibn Ḫaldūn, ʽAbdu-­r-Raḥmān 2005: al-­Muqaddimatu. ḥaqqaqahā wa qaddama
lahā wa ʽallaqa ʽalayhā: ʽAbdu-­s-Salām aš-­Šiddādī. al-­ğuz’u-­ṯ-ṯānī. ad-­Dāru-­
l-Bayḍā’: Bayytu-­l-funūni wa-­l-ʽulūmi wa-­l-ʽadāb
’Ibrāhīm, Hayām ʽAbdu-­l-Kāẓim 2012: „aš-­Šaḫṣiyatu fī qiṣaṣi wa ruwāyāti Ġassān
Kanafānī“, fī: Mağallatu kulyyati-­t-tarbiya, al-ʽadadu-­l-ḥādī ʽašar. Ğāmiʽatu
Wāsiṭ (2012): 93–113
188 Hala Farrag

’Ismāʽīl, ʽIzz-­ad-­Dīn 31993: aš-­Šiʽru-­l-ʽarabiyyu-­l-muʽāṣir. Qaḍāyāhu wa


ẓawāhiruhu-­l-fanniyatu wa-­l-maʽnawiyah, al-­Qāhirah: Dāru-­l-fikri-­l-ʽarabiyy
Kīwān, Suhayl 2010: „al-’abʽādu-­n-nafsiyatu li–­l-’inhiyāri fī ’adabi Ġassān Ka-
nafānī“, fī: Mağallatu-­l-ġadi-­l-ğadīd. al-ʽadadu-­ṯ-ṯānī. Nīsān, Bayrūt: al-­Manār
(2010): 98–102
Laḥmadānī, Ḥamīd 1991: Binyatu-­n-naṣi-­ s-sardiyyi min manẓūri-­n-naqdi-­
l-’adabiyy, Bayrūt: al-­markaz aṯ-­ṯaqāfiyyi-­l-ʽarabiyy
Murtāḍ, ʽAbdu-­l-Malik 1998: Fī naẓariyyati-­r-ruwāya. Baḥṯun fī taqniyāti-­s-sard,
al-­Kuwayt: Dāru-­l-maʽrifa
Ramaḍān, Ṣāliḥ Bin al-­Hādī 2011: „an-­Naẓariyyatu-­l-’idrākiyyatu wa ’aṯaruhā
fī-­d-darsi-­l-balāġiyy. al-­Istiʽāratu ’unmuḏağan“, fī: an-­naqdu wa-­l-balāġatu wa-­
l-’adabu-­l-muqāran. fī: Nadwatu-­d-dirāsāti-­l-balāġiyyati bayna-­l-wāqiʽi wa-­
l-ma’mūl, ar-­Riāḍ: Ğāmiʽatu-­l-imāmi Muḥammadi ’Ibn Suʽūdin al-’islāmiya
(2011): 811–872
Saʽīd, ’Idwārd 2005: „an-­Naṯru wa-­n-naṯru-­l-qaṣaṣiyyu-­l-ʽarabiyāni baʽda 1948.
Tarğamahā ʽan-­il-’inğilizyyati: Ṯā’ir Dīb“, fī: Mağallatu-­l-’adābi-­l-’ağnabiya. al-
ʽadadu 121. Dimašq: ’Ittiḥādu-­l-kuttābi-­l-ʽarab (2005): 13–37
Ṣāliḥ, Faḫrī 2013: „Falaṣṭīnu fī marāyā ’uḫrā: ’Aṣwātun ğadīdatun fī-­r-ruwāyati
wa-l-qiṣṣati fī Falaṣṭīn“, fī: Mağallatu-­d-dirāsāti-­l-falasṭīniyya, al-ʽadadu 96
(2013): 42–53
Salīm, ʽAbd al-’ḷḷāh 2001: Binyātu-­l-mušābahati. Muqārabatun maʽrifiyya, ad-­
Dāru-­l-Bayḍā’: Dār Ṭubqāl
Zāyyid, ’Amal 2013: Ruwāyātu-­l-lāği’īna-­l-filaṣṭīniyyīn. Muqāranatun ʽabra-­
l-’ağyāl. Wiḥdatu-­l-hiğratu-­l-qaṣriyatu wa-­l-lāği’īn. Maʽhad ’Ibrāhīm ’Abū-­
l-Luġd li-­d-dirāsāti-­d-daūliya. Ğāmiʽatu Bīr Zayt

Internetquellen:
Anz, Thomas: Raum als Metapher. Anmerkungen zum «topographical turn» in den
Kulturwissenschaften, im Internet unter http://www.literaturkritik.de/public/
rezension.php?rez_id=11620 [09.10.2015]
Fähndrich, Hartmut 2007: „Visionär des Entsetzlichen. Der palästinensische
Schriftsteller Ghassan Kanafānī“, in: Neue Zürcher Zeitung v. 12.05.2007. Im
Internet unter http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleDWZ3L-1.357896
[09.10.2015]
Astrid Henning-­Mohr (Oldenburg)

Eine Neuverortung des migrierenden


Subjekts – Anna Seghers Transit

Abstract: In the light of their own experience of exile between the 1930s and 1950s, a
number of artists, including Anna Seghers, began to break with the existing notions of
national identity in their works. In Transit, Anna Seghers offers an atmospheric descrip-
tion of exile as a dark space between, while turning it into an internal, physical matter. In
doing so, this dark space becomes a transitionary tunnel leading towards an identification
point for the person living in exile, as opposed to remaining within the constructed mo-
ments of arrival and origin. In other words, Seghers’ protagonist inhabits Homi Bhabhas’
“Third Space” years before its actual conception. This article focuses on this artistic cultural
space in which a renegotiation of the modern subject – beyond set national and cultural
affiliations – begins.

1 Einleitung
Anna Seghers Roman ist nicht nur einmal als ihr bedeutendster und schönster
Roman beschrieben worden, er hat nicht nur Gnade vor dem Argusauge Reich-­
Ranickis gefunden, und das obwohl er gänzlich ohne Erotik auskommt, sondern
auch das bundesdeutsche Anna- Seghers-­Bild als Erzählerin ein wenig gerettet.
Was dem Roman bisher allerdings nicht entnommen worden ist, das möchte ich
unternehmen: Seine Bedeutung für einen kulturellen Bruch mit der Identifizie-
rung des Flüchtlings herausstellen. Und das macht dieser Roman ganz leise, ganz
zart, ohne große Entwürfe, ja, sogar mit einer beständigen Betonung des Ekels
und des Abscheus vor den großen Geschichten. Dem Text gelingt stattdessen eine
so emotionale, zärtliche und mitfühlende Solidarität mit den Flüchtlingen, weil
er die Exilerfahrung so erzählt, wie sie ist. Ganz einfach und klar und damit ganz
schrecklich, weil er die Tiefe des Risses, der durch die Menschen geht, die in der
Bewegung durch den Raum sich selbst verlieren und sich wieder neu konstruieren
müssen, so erfahrbar macht.
Lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie Anna Seghers ein Kunststück gelingt, in
den Jahren 1941 bis 1944 von zerbrochenen Identitäten zu sprechen. Von einem
dialektischen Verhältnis von Raum und Körpererfahrung in der Art, wie es Post-­
Colonial-­Theoretiker und -Literaten erst Jahrzehnte später versuchen sollten.
Dafür werde ich im Folgenden dem Atmosphärischen des Romans eine besondere
Rolle einräumen, da sich aus ihm die für die 1930er und 1940er Jahre nahezu
190 Astrid Henning-­Mohr

revolutionären Raumkonzepte der Seghers und ihrer Flüchtlingsfigur ableiten,


die überhaupt erst eine Neuverortung dieser Figur ermöglichen.

2 Atmosphäre
Transit erzählt die Geschichte eines Mannes, der aus einem Konzentrationslager
geflüchtet ist. Wer Das siebte Kreuz kennt, meint hier die Geschichte des dortigen
Protagonisten weitererzählt zu bekommen. Seidel, so der angenommene Name
des Flüchtlings, kommt nach Paris, wo ihn ein ehemaliger Lagergenosse bittet,
einen Brief an einen Schriftsteller zu überbringen. Dieser hat jedoch Suizid be-
gangen. Seidel übernimmt dessen Sachen und stößt neben einem Erzählungs-
fragment auf einen Brief der Ehefrau, die den verstorbenen Schriftsteller bittet,
nach Marseille zu kommen.
Als es Seidel selbst weiter über die Demarkationslinie nach Marseille führt,
hat dieser erst die Ambition, dort zu bleiben und sich auf einer Pfirsichfarm
einer befreundeten Familie niederzulassen. Aber – die Verhältnisse sind nicht
so (cf. Brecht 1974: 42). In Marseille wird nur Aufenthalt gewährt, wenn man
eine Beglaubigung vorbringt, baldigst abzureisen. Seidel versucht vorerst nur die
Belange des verstorbenen Schriftstellers Weidel zu klären und will dessen Koffer
beim mexikanischen Konsulat abgeben – hier kommt es zur Verwechslung. Seidel
wird für Weidel gehalten und mit dessen Papieren zur Weiterfahrt ausgestattet.
Zwischen dem bürokratischen Agens erlebt und beobachtet Seidel / Weidel
die Stadt und ihre Abfahrts- und Fluchtkultur und entwickelt in einer Dreiecks-
beziehung zwischen ihm, der Frau des Verstorbenen (Marie) und deren neuem
Partner (dem Arzt) und in Beziehung zu den Ansässigen der Stadt eine neue,
durch die Flucht brüchig gewordene, Identität. Als Marie und der Arzt auf das
Schiff steigen, welches (so erfahren wir im Prolog) untergehen wird, entschließt
sich Seidel, auf die Pfirsichfarm zu gehen und an der Seite der Franzosen für die
Befreiung von der faschistischen Besatzung zu kämpfen.
Der Roman vermittelt im Ganzen eine Atmosphäre der Ruhelosigkeit, gezeich-
net durch die Dichte des Atmosphärischen, die zwischen Kontemplation und
Getrieben-­Sein wechselt und zwar in einer Intensität, die an der Wahrnehmung
und Bewertung der sich stets ändernden Atmosphäre den Leser zweifeln lässt.
Darüber hinaus fehlen konkrete Informationen über die Topographie der Örtlich-
keiten, und der rasante Wechsel des Atmosphärischen (Ruheräume, Unruheorte,
Szenen der Gelassenheit und der Langeweile) vermittelt eher eine übergeordnete
Leseassoziation von Undurchdringlichkeiten und einer Dunkelzone. Der Wechsel
von Langsamkeit und Unruhe wird durch eine besondere Dichte an Aufzählungen
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 191

und durch komplexe Satzgebilde evoziert. Bewirkt wird diese Assoziation des
Weiteren nicht nur durch die raschen Raumwechsel mit ihren atmosphärischen
Divergenzen, sondern auch in einer gestalteten Unmittelbarkeit durch die Ich-­
Perspektive des namenlosen Erzählers. Anders als in den anderen Romanen und
Erzählungen Seghersʼ findet sich hier keine Objektivierung, keine Distanz, der
Erzähler erlebt alles selbst, seine Entwicklung ist die Diegese sui generis (cf. Batt
1980: 159).
Erzählerisch wird diese Atmosphäre der Mehrdeutigkeit und Ambiguität in die
überrealistische Darstellung des Raumes Marseille als Wartesaal eingebunden. Auf
diese Weise entsteht ein erzählerischer und fühlbarer Raum des Gefangenseins
im Exil, der die Exilanten als umherlaufende Tiger im Käfig wahrnehmen lässt.
Ich folge Jan Hans, wenn ich in dieser Atmosphäre der räumlichen Ambiguität
und Ruhelosigkeit eine Gestaltung der Exilfigur folgerichtig aus dem Realismus-
konzept Anna Seghersʼ abgeleitet entdecke. Denn, so Hans, bei Seghers besteht
ein „unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der realhistorischen
Bedrohung, der Intensität, mit der diese Bedrohung erfahren wird und der daraus
resultierenden Darstellungsform“ (Hans 1982: 29). Mit der von ihr eingeforderten
‚Unmittelbarkeit‘ der Darstellung des Erlebten darf daher die Flüchtlingserfah-
rung auch nicht in einer schon vorweg überlegten und angenommenen Sinnhaf-
tigkeit enden, sondern muss vorerst in ihrer (im Brechtschen Sinne) verfremdeten
Gestalt erkannt und beschrieben werden.
Wie lässt sich denn nun eine solche Unmittelbarkeit des räumlichen Dazwi-
schen atmosphärisch und erzählerisch darstellen? Zuerst ist es beachtlich, dass
Seghers hier lange vor den Post-­Colonial-­Arbeiten den Raum in seiner Entität
auflöst und ihm eine Mehrperspektivität unterstellt, die ihn dadurch veränder-
bar macht und auf die Spezifik der gesellschaftlich-­historischen Situation des
Menschen im Raum verweist.

3 Raum des Dazwischen


3.1. Heimaträume
Ernst Bloch definiert Heimat im finale furioso seines Werkes Das Prinzip Hoffnung
als ein Utopia, das gleichzusetzen ist mit dem Phantasma einer Vorstellung vom
kindlichen Glückszustand. Als solches Phantasma dient es, so Bloch, der Idee und
Vorstellung von einer neuen Gesellschaft: „Hat er [der Mensch] sich erfaßt und
das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet,
so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch
niemand war: Heimat“ (Bloch 1985: 1628).
192 Astrid Henning-­Mohr

Heimat ist damit sowohl Illusion als auch gleichzeitig ein Utopia im Sin-
ne des Strebens nach etwas. Adorno unterstellt diesem Heimatgefühl einen
ambiguen Charakter, indem er darauf verweist, dass Heimat als Glücksgefühl
erst durch den Verlust der Glücksmomente zutage tritt (cf. Adorno 1977: 287).
Anna Seghersʼ Exilant Seidel in Transit veranschaulicht gleichermaßen den
Identitätsbruch und das utopische Moment, welches aus diesem Heimatgefühl
des Verlustes entsteht.
Sylvia Fischer ist mit ihrer Arbeit zu Anna Seghers Raumkonstruktionen im
Roman Das Vertrauen eine Analyse gelungen, welche die Bedeutung des ästheti-
schen Raumes für die Konzeption des utopischen und materialistischen Heimat-
begriffs bei Seghers nachweist.
Das Streben des Menschen [der Segherschen Figuren] nach Heimat erfolgt in der Aus-
einandersetzung mit dem ihm umgebenden Raum, mit der Zeit [Vergangenheit, Gegen-
wart, Zukunft], mit den sozialen Beziehungen, in denen er steht, und mit seiner Arbeit.
Durch diese vier Dimensionen werde ‚Heimat gewissermaßen erst erfahren‘, und der
Begriff erhalte durch sie erst ‚seine reale Füllung‘ (Fischer 2013: 82).

Ich werde im Folgenden entlang der vier von Fischer vorgeschlagenen Raum-
konzeptionen die ästhetische Aushandlung einer Flüchtlingsidentität zwischen
Verlust und Utopia des Heimatgefühls aufzeigen.

3.2. Zeitlicher Raum
Jan Hans legt offen, dass Anna Seghersʼ Zeiterlebnis wesentlich durch die Er-
fahrung von Krisenhaftigkeit und Bedrohung gekennzeichnet ist. Zwar betrachtet
auch sie den Faschismus als eine „Zeit der äußersten Zuspitzung gesellschaftlicher
Auseinandersetzungen, als eine Zeit des Übergangs“ (Hans 1982: 29), sie teilt
jedoch nicht die Siegesgewissheit anderer sozialistischer Autoren, denselben
„als unvermeidliches Durchgangsstadium zu ertragen.“ (Ibid.) Dadurch entsteht
eine Beschreibung der Niederlagen und der kollektiv-­individuellen Brüche als
Spezifikum für ihr Werk, das sie auch in Transit nicht verlässt.
Insofern ist die zeitliche Dimension der Heimat bei ihr eng verbunden mit
dem Geschichtlichen und seiner Umbrüche. Das zeigt sich besonders in der At-
mosphäre des Ewigen, welche in der Stadtbeschreibung Marseilles zutage tritt und
in der Beschreibung des Exils als ein ewig andauernder historischer Zustand. Hier
im Exilort evozieren das Gewimmel und die Menschenströme, das nie endende
Laufen nach Papieren zwischen Hafen und Stadt eine zeitlose Atmosphäre des
ewigen Zwischenortes. In dieser Atmosphäre des Wartens entsteht somit ein
ewiger Ort des Dazwischen als eigentlicher Raum des Exils, befestigt zwischen
den Straßen und Hafenkneipen und Konsulaten der Hafenstadt.
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 193

Es war uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunder-
barer, uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solange es ein Mittelländisches Meer
gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer,
niemals waren die Tratscher alle geworden, die bange waren um ihre Schiffsplätze und
um ihre Gelder, auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der
Erde (T 89).1

Innerhalb dieser Ewigkeit als ästhetischer Ausdruck der Zuspitzung gesellschaft-


licher Verhältnisse hat die Geschichte wiederkehrende Gesetzmäßigkeiten, die
der Protagonist in seiner kontemplativen Betrachtung des Exilraums offenbart:
Ich aber wurde plötzlich ganz ruhig. Da sitze ich nun, dachte ich, und die Deutschen
ziehen an mir vorbei und besetzen Frankreich. Aber Frankreich war schon oft […] ver-
kauft und verraten […]. Meine Angst war völlig verflogen. Das Hakenkreuz war mir ein
Spuk, ich sah die mächtigsten Heere der Welt hinter meinem Gartenzaun aufmarschieren
und abziehen, ich sah die frechsten Reiche zerfallen, und junge und kühne sich aufrichten,
ich sah die Herren der Welt hochkommen und verwesen (T 12).

Diese kontemplative Beurteilung des Ewigen Gesetzes des Exils und seiner krie-
gerischen Ursachen erfährt im Roman jedoch immer wieder einen Ausweg. Denn
wenn zwar auch der faschistische Krieg vorübergehen wird, so doch nicht ohne
den tatkräftigen Beitrag des Individuums.
So folgt aus der zeitlichen Raumdimension des historisch Ewigen des Exils in
Transit auch ein politisch-­historischer Imperativ: Das „Mitmachen“, das „Sich-­
Einfügen“ der anderen Exilanten in Marseille in diese ewige Unabänderlichkeit
wird von dem Protagonisten als Flucht vor einer gestalteten Zukunft zugunsten
einer unsicheren privaten Sicherheit kritisiert. Seghers nutzt für diese Konklu-
sion den permanenten Kontrast zwischen Leben und Tod. Einerseits wird die
Flucht der Menschenmassen mittels biblischer Motive und intertextueller Ver-
weise immer wieder mit dem Tod verbunden. Das zeigt sich nicht nur in dem
der Geschichte vorweggenommenen Bericht vom Untergang der „Montreal“
als Fluchtschiff, sondern vor allem in der Figur Maries. Auch die Synonyme für
das anvisierte Exilland wie „Das gelobte Land“, „Jenseits“ oder „Ewiges Leben“
sowie die Metapher für den Transitantrag selbst „Jüngstes Gericht“ offerieren eine
Gleichsetzung von Tod und Flucht als individualisierter Sicherheitsofferte. Als
Kontrapunkt der Todessymboliken erweist sich das Bild des Feuers, auf welches
ich später noch zurückkomme, als permanenter Träger der vorweggenommenen
Quintessenz – wonach auch im zeitlich-­ewigen Raum Ruhe und eine gesicherte
Identität nur im Verweilen, im Bleiben, im Ankommen geschehen kann:

1 Verweise auf den Roman Transit von Anna Seghers erfolgen unter der Sigle T.
194 Astrid Henning-­Mohr

Nie würde jemand wagen, das Feuer zu löschen, das alle brauchten, die, die von der
Furcht gepeinigt sich bis zum Alten Hafen geschleppt hatten, und die, die ihnen auf den
Fersen waren, denn auch die Verfolger, wie sehr sie auch Furcht verbreiten, sind nicht
gefeit vor Furcht (T 130).

Aber nicht nur in den Symbolen und den intertextuellen Verweisen wird der
Exilraum zu einem Ort des Identitätsbruchs und der Identitätskonstellierung
sowie der daraus notwendig folgenden Handlungen. Die Verknüpfung zwischen
dem Zeitlich-­Ewigen der Flüchtlingssituation und der spezifischen Schlussfol-
gerung angesichts der faschistischen Ausgestaltung derselben erfolgt ebenso auf
der diegetischen Ebene im Wechselspiel der beiden Handlungsstränge: Marie, die
Exfrau des toten Schriftstellers, verschreibt sich der Suche nach ihrem Mann und
wird letztlich mit dem Schiff untergehen, auf dem sie ihn zu finden hoffte. Auch
hier wird die individuelle Zukunftsorientierung negativ konnotiert.
Als Alternative setzt Seghers einen Gegenwartsbezug, der das Vergangene,
die ewig wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten der Flucht einbezieht und eine
gesellschaftlich-­kollektive Zukunft daraus ableitet. Für die gesellschaftliche Zu-
kunft stehen in Transit vor allem die Märtyrerfiguren, die einfachen Antifaschis-
ten (Heinz), aber auch die ‚einfachen‘ Leute mit ihrer Reflexionsfähigkeit des
politischen Geschehens und ihrer Humanität (die Binnets). Diese Gegenwartsori-
entierung hat nicht nur einen abstrakten Nutzen, um den ewigen Raum des Exils
zu verlassen – für den Protagonisten und damit für den individuellen Flüchtling
birgt sie überhaupt die Chance, seine eigene brüchig gewordene Identität wieder
zu erlangen. So ist es beispielsweise Heinz, der kommunistische Antifaschist, der
den Namenlosen aufgrund seiner gegenwartsbezogenen antifaschistischen Tätig-
keiten wiedererkennt und ihm aus diesem Wiedererkennen eine Chance eröffnet,
die verlustig gewordene Identität wiederzuerlangen. Dass die Verbindung von
Vergangenheit und Gegenwart einzig die Identität des Flüchtigen wieder her-
stellen wird, nimmt der Erzähler schon am Anfang der Erzählung vorweg. Auf
dem Weg nach Marseille, der in seiner Assoziationsvielfalt und Mannigfaltigkeit
der Eindrucksaufzählungen den Verlust des Selbst beschreibt, sucht der Erzähler
nach einem bekannten Gesicht, einer Erinnerung aus der Vergangenheit:
Wie wäre ich froh gewesen, Franz wäre aufgetaucht, mit dem ich aus dem Lager geflohen
war, oder gar Heinz. […] irgend etwas war mir verloren gegangen, so verloren, daß ich
nicht einmal mehr genau wußte, was es gewesen war […]. Eines dieser alten Gesichter
aber, das wußte ich, würde es mir doch wenigstens ins Gedächtnis zurückbringen (T 41).

Dem Arzt obliegt die Flucht in die private Zukunft, Maries verharrt in der Ver-
gangenheit und agiert somit auch nicht im Sinne der Seghersʼschen Handlungs-
aufforderung. Jenseits dieser beiden Zeitdimensionen, in denen sich die beiden
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 195

sterbenden Flüchtlinge Marie und der Arzt bewegen, entscheidet sich Seidel
schließlich für die Gegenwart, indem er die Flucht beendet und sich entschließt,
auf französischem Boden seinen neuen Heimatraum aufzubauen und zu ver-
teidigen.
Bis es dazu kommt, bebildert Seghers auf so eindringliche und berührende
Weise den ewigen Raum des Dazwischen, des Fort und Hier, des Wechselspiels
zwischen Gegenwartsbezug und Zukunftsträumereien, wie seit Heinrich Heine
nicht mehr über den Verlust des Ich vom Ich durch das Exil geschrieben worden
ist. Und diese Beschreibung birgt schließlich die besonderen Inhalte der Raumbe-
züge, durch welche dem Identitätsverlust und dem Ewigen Exil beizukommen ist.
Es sind die Beschreibungen des Exils als Raum des Sozialen und als mythischer
Raum.

3.3. Sozialer Raum
Das Handeln als Verortung in der Gegenwart avanciert in Seghers Werk immer
wieder zum Dreh- und Angelpunkt der individuellen Selbstfindung. So erklärt
Fischer am Beispiel des Romans Das Vertrauen stellvertretend für Anna Seghersʼ
Nach-­Exilwerk:
Vor allem aber sieht man die soziale Dimension von Heimat in Seghers’ Werk hervor-
treten, d. h. die Verbundenheit der Menschen miteinander, ihre freundschaftlichen und
solidarischen Beziehungen, die sich wie ein soziales Netzwerk aus Heimat zwischen sie
spannen (Fischer 2013: 83).

Auch Seidel findet seine Identität schlussendlich, indem er sich selbst entlang der
Arbeit in die Beziehungen des neuen Raumes einfügt (cf. Fischer 2013: 87). Als
er sich zum Bleiben entschlossen hat, erkennt er sich selbst in den Beziehungs-
geflechten der arbeitenden Menschen in Marseille wieder:
Ich schluckte einen bitteren Kaffee, dann lief ich über den Belsunce. Die Netze waren
zum Trocknen gelegt. Ein paar Frauen, die ganz verloren aussahen auf dem riesigen Platz,
flickten an anderen Netzen. Das hatte ich noch nie gesehen. Um das zu sehen, worauf es
ankommt, muß man bleiben wollen. Unmerklich verhüllen sich alle Städte für die, die sie
nur zum Durchziehen brauchen. […] Das aber, worauf es ankommt, sind der Zeitungs-
junge, die Fischersfrauen auf dem Belsunce, die Händlerinnen […] die Arbeiter auf dem
Weg zur Frühschicht (T 270).

Und bereits der Prolog schlussfolgert, dass wirkliche, interessante Geschichten


nur in den Berichten der Arbeit zu finden seien: „Wenn mich heute noch etwas
erregt, dann vielleicht der Bericht eines Eisendrehers, wieviel Meter Draht er
schon in seinem langen Leben gedreht hat, mit welchen Werkzeugen, oder das
runde Licht, an dem ein paar Kinder Schulaufgaben machen“ (T 6).
196 Astrid Henning-­Mohr

Während die Rahmenerzählung zwischen Ankunft und Bleiben einen sozialen


Raum des Wiedererkennens in den Arbeiten und sozialen Tätigkeiten der An-
wohnenden entfaltet, wird die Dreiecksbeziehung zwischen Seidel, dem Arzt und
Marie zum eigentlichen Austragungsort der Selbstfindung des Hauptprotago-
nisten. In ihr und an den Handlungen der Figuren Maries und des Arztes findet
Seidel seine, durch die Flucht brüchig gewordene Identität wieder. Auch diese
Entwicklung kristallisiert Seghers in Momenten der Arbeit, des Tätigwerdens
für und in der Gegenwart. So beneidet Seidel den Arzt um seine Arbeit, seine
Tätigkeit anderen zu helfen – Seghers betont das, indem sie den Jungen der Bin-
nets, den der Arzt behandelt, als Symbolfigur des Gegenwärtigen in absoluter
Hingabe zu dem Arzt zeichnet, seine Gesichtszüge beschreibt, das Drehen und
Wenden seines Kopfes zum Arzt oder zur Wand. Der Arzt selbst aber wankt, ob
er bleiben oder weiter fliehen soll, und gerade vor dem Hintergrund der Not-
wendigkeit der ärztlichen Tätigkeit zeichnet sich der Unmut und Ekel Seidels ob
dieses Wankelmutes ab:
[Der Arzt] „Was verstehen Sie nicht?“ – „Daß jemand nicht wissen soll, was ihm das
Wichtigste ist. Es kommt ja doch an den Tag.“ – „Wodurch?“ – „Mein Gott, durch seine
Handlungen, wodurch sonst? Es sei denn, ihm sei alles gleichgültig. Dann geht es ihm
wie diesem Stück weißem Papier da drüben, das wie ein Vogel aussieht“ (T 106).

Dass die Arbeits- und Beziehungsgeflechte zum Raum der individuellen Selbst-
verortung im Exil werden, ist aber nicht nur der dramatischen Entwicklung des
Protagonisten geschuldet. Seghers operiert hier besonders mit einer räumlich-­
ästhetischen Entfaltung, die in ihrem ästhetischen Realismus an Balzac erinnert,
wenn sie die Arbeits- und Beziehungsgeflechte der Nebenfiguren detailliert schil-
dert und diese von Symbolen untermalt werden.
Anja Seemann und Franziska Tietjen (2013) beleuchten in ihrer Semesterarbeit
die Funktion der Symbole von Wasser und Feuer, zwischen denen sich Seidel
bewegt und in deren Zwischenraum er den sozialen Bezug zu den Menschen
der Transitstadt Marseille erfährt, um letztendlich zu seiner eigenen Identität im
Bleiben zu finden.
Insbesondere das Feuer, an dem sich Seidel in der Pizzeria stets niederlässt,
um seine Beobachtungen und Entscheidungen zu teilen und zu fällen, offenbart
eine Symbolik des gezähmten Lebens, der Kraft, der Wärme und der Heimat
sowie durch die Pizza backende Köchin die Beherrschbarkeit des Lebens durch
den tätigen Menschen. Seghers flankiert die räumliche Beziehung zum Feuer als
bewahrendes und kraftspendendes Element mit den sozialen Beziehungen, die
Seidel zum Bleiben, zum Verharren im Raum des Dazwischen animieren.
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 197

Ich konnte […] stundenlang zusehen, wie der Koch den Teig schlug und knetete, wie
seine Arme hineintauchten in das Feuer, auf das man frisches Holz warf. Anschließend
ging ich zu den Binnets hinauf. […] Ich fühlte, wie mich das gewöhnliche Leben von
allen Seiten umspannte, doch gleichzeitig fühlte ich auch, daß es für mich unerreichbar
geworden war (T 65).

Im Gegenzug dazu symbolisiert das Wasser den Tod – immer dann, wenn es als
Transitraum für die Weiterfahrt „verwendet“ wird:
Sie [die Flüchtlinge] hatten ganz Europa durchflüchtet, doch jetzt vor dem schmalen,
blauen Wasser, das unschuldig zwischen den Häusern glitzerte, war ihre Weisheit zu
Ende. […] Schon rückte der Tod immer dichter nach mit seiner immer noch unver-
sehrten, knarrenden Hakenkreuzfahne. Mir aber, […], mir schien es, auch er, der Tod,
sei seinerseits auf der Flucht (T 69 f.).

Während die Bleibenden als noch lebendig benannt werden (T 76), ereilt den
Kapellmeister, der Seidel erst auf die Unmöglichkeit des Bleibens hingewiesen
hatte, der Tod, als er alle Papiere zusammen hat und das Schiff besteigen könnte
(T 135). Ein alter Mann, der seine ganze Familie im Krieg und unter faschistischer
Herrschaft verloren hat, bemüht sich um seine Weiterfahrt „trotz der Ausrottung
seiner ganzen Familie […] entschlossen […], doch ein Visum zu erringen, als sei
dieses Land ein Gefilde der Seligen, wo man die Seinen [die Toten] wiederfände
[…]“ (T 143). Das Reisebüro wird metaphorisch verglichen mit dem Jüngsten
Gericht (T 116) und in den rasanten Aufzählungen der visumsuchenden Flücht-
linge auf dem Konsulat zeichnet Seghers eine grundsätzliche Atmosphäre des
Zersetzenden und des Todes (T 112 ff.).
Die ästhetische und diegetische Betonung der Beziehungsgeflechte im sozialen
Raum führen somit zusammengenommen zu einer für das Werk der Seghers
typischen Thematik – nämlich die der Bewährung, unter der sich der Einzelne
innerhalb der historisch-­sozialen Situation befindet und wie er sich hier verhält.
Der namenlose Protagonist, der durch den Faschismus seine Beziehung zu sich
und anderen verliert, findet dabei nicht erst auf der dramatischen Ebene zu seiner
Identität innerhalb des Beziehungsgeflechtes der Bleibenden. Seine Reflexionen
des Durchgangs zwischen den Räumen des Feuers als dem Bewahrenden und
dem Wasser des Hafens und der Überfahrt deuten bereits im Erzählverlauf auf
die Notwendigkeit hin, dass sich das Individuum in Krisensituationen als integer,
als bei sich nur innerhalb seiner Beziehungen zu den Mitmenschen finden lasse.
So antwortet Seidel beispielsweise auf die Frage, ob er viel von der Liebe halte:
Ich halte viel mehr von weniger glänzenden, weniger besungenen Leidenschaften […].
Zum Beispiel, daß man einander nicht im Stich läßt, das ist auch etwas an dieser frag-
198 Astrid Henning-­Mohr

würdigen, windigen, ich möchte sagen transitären Angelegenheit, was nicht fragwürdig
ist und nicht windig und nicht transitär (T 170).

Die Verortung im sozialen Raum des Dazwischen wird also für Seghers zur
individuell-­kollektiven Handlungsgrundlage, um dem Exilraum- und feld dauer-
haft zu entkommen. Aber Seghers ist Marxistin genug, um die Persönlichkeits-
störungen des Individuums diesem nicht allein anzulasten. Immer wieder erfährt
ihr Protagonist, der ja eigentlich gerne bleiben möchte, dass die Umstände des
Exils, der Unwille der Behörden, ihn als Bleibenden zu akzeptieren, ihn zu ei-
nem Fluchtverhalten, einer Fluchtidentität zwingen. So spricht er beispielsweise
bei verschiedenen Komitees vor, um Geld für seinen Aufenthalt in Marseille zu
erhalten; doch erst durch die Versicherung, er werde bald abfahren, wird ihm
finanzielle Unterstützung gewährt:
Hätte ich sie um Geld gebeten für eine Hacke, damit ich noch einmal mein Glück ver-
suchte auf einem Rübenacker, sie hätten mir bestimmt keine fünf Francs für die Hacke
gegeben. Sie belohnten allein die Abfahrtsbereiten, die alles aufgaben. Also stellte ich
mich von nun an abfahrtstüchtig, worauf ich Geld genug bekam für die Wartezeit auf das
Schiff. […] Denn Flüchtlinge müssen weiterfliehen, sie können nicht plötzlich Pfirsiche
ziehen. […] Ich glaubte fest, mein Leben könne sich echt verwurzeln mit einer echten
Aufenthaltsverlängerung. Ich hätte sogar den Trieb des Fortzugs verloren (T 75 f.).

In Momenten, in denen sich Seidel einheimisch fühlt, sich in der Gegenwart


angekommen empfindet und zur Ruhe kommt, treibt ein Nein des Beamten zu
einer verlängerten Aufenthaltsgenehmigung die Rastlosigkeit des Protagonisten
an, der der Weiterflucht schon eine Absage erteilt und sich selbst als ganz und
nicht mehr zerrüttet empfunden hatte (T 66 ff.).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Raum des Dazwischen für Seghers
zum einzig möglichen Ort wird, die Exilverhältnisse als kollektive Brüche der
Identität zu beschreiben und gleichzeitig die verloren gegangene Identität wieder
zusammenzusetzen. Insofern entsteht hier durch eine der historischen Situation
angemessene Beschreibung der Verhältnisse, denen die Flüchtlinge unterliegen
und einer sozialen Verortung ein Verweis auf einen Raum, in dem durch Diver-
genz und Ähnlichkeit ein sog. Dritter Raum entsteht. Ein Raum, der die Iden-
titätsbrüche der Flüchtlinge zum ersten Mal als Folge des Exils benennt und
gleichzeitig das Wort für die Flüchtlinge selbst ergreift und Handlungsmaximen
für eine eigene, neue Identität jenseits des Vergangenen und der unbestimmten
Zukunft benennt.
Der soziale Raum als Ort der Identitätsfindung im Exil überschneidet sich
durch ein typisches Motiv Anna Seghersʼ mit dem mythischen Raum. Es ist die
Humanität als Bindemittel der Beziehungsgeflechte, jene selbstverständliche,
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 199

nicht parteigebundene Humanität ihrer Figuren, die immer wieder eine heime-
lige Idylle des Raumes und damit eine heimatliche Utopie schafft. Die Idylle ist
dabei nicht nur Utopie, sondern gerade und besonders durch die Humanität der
Figuren, Realität.

3.4. Mythischer Raum
Als hervorstechendes Charakteristikum des Seghersʼschen Werkes fällt immer
wieder die selbstverständliche, nicht theoretisch entwickelte Humanität ihrer
Figuren ins Auge. Schon in Das siebte Kreuz sind es diese ‚einfachen‘ Menschen,
die jenseits einer Parteizugehörigkeit oder -Richtlinie in Solidarität mit dem
Flüchtling ihr Leben riskieren. Anna Seghersʼ Figuren handeln aus einer tief-
verwurzelten Einsicht in die Menschlichkeit und gerade das lässt die Umstände,
die ihnen diese Solidarität abverlangt, als besonders grausam und unmenschlich
erscheinen. Auch wenn ihre Figuren ebenso kommunistische Parteiangehörige
sein können, so wie Heinz in Transit, ist doch weniger ihre Parteizugehörig-
keit ausschlaggebend für ihr Handeln (wie das der sozialistische Realismus der
DDR später von seinen literarischen Figuren abverlangt) als das Beziehungs-
verhältnis dieser Figuren zu den Menschen an sich. Auf diese Weise gerät das
utopische Moment in den Werken Seghersʼ, wonach eine bessere Gesellschaft
gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Unmenschlichkeit möglich er-
scheinen muss, zu einem wahrhaft emotionalen, ästhetisch-­politischen Erkennt-
nismoment für den Leser.
Für den auf der Flucht befindlichen Protagonisten bedeutet dieser mythische
Solidaritätsraum zuerst einmal eins: Die (Wieder-)Gewinnung seiner Identität.
Während die Exilverhältnisse und die Beziehungen der Menschen untereinander
eine solche Wiedergewinnung verunmöglichen, ja sogar den Tod immer wieder
als Konsequenz des Exils und der permanenten Flucht aufzeigen, wird ausschließ-
lich das soziale und solidarische Miteinander im Jetzt zur lebensspendenden Al-
ternative. So ist es auch tatsächlich nur die Figur des Heinz, des kommunistischen
Antifaschisten aus dem Lager, der lebendig entkommt und dem die Flucht zum
Weiterleben verhilft. Dass dies geschieht, hängt eng mit der selbstlosen Hilfe zu-
sammen, die er durch verschiedene Menschen erfährt, aber auch damit, dass
Heinz den Menschen (und damit auch Seidel) eine Handlung entlockt: nämlich
sie selbst zu sein im selbstlosen Helfen für einen anderen.
Als Heinz seinen Kopf kurz an mich lehnte – er konnte seine Hände nicht frei machen –
und sein Blick mich wieder traf, da verstand ich auf einmal, was sein heller werdender
Blick suchte und fast sofort wiederfand: mich selbst und sonst gar nichts, und ich wußte
auf einmal auch zu meiner unendlichen Beruhigung, daß ich immer noch da war, daß
200 Astrid Henning-­Mohr

ich nicht verlorengegangen war, in keinem Krieg und in keinem Konzentrationslager,


in keinem Faschismus, in keinem Herumgeziehe, in keinem Bombardement, in keiner
Unordnung, wie gewaltig sie auch gewesen war, ich war nicht verloren gegangen, nicht
verblutet, ich war da und Heinz war da (T 79).

Und so ist es auch Heinz, dem Treue, Verbundenheit und Solidarität schon
„immer“ wichtige Tugenden waren, der erkennt, dass auch Seidel ihn niemals
im Stich lassen würde, welche Unruhe und welch „Unfug“ auch sonst in ihm
steckte (T 80). Exakt in der Mitte des Romans lässt Seghers Seidel eine Schiffs-
passage für seinen alten Lagerfreund Heinz organisieren und läutet damit den
Wendepunkt in der Ich-­Verortung des Protagonisten ein (T 151 ff.). Die Wieder-
gewinnung der verlustig gewordenen Identität erfolgt damit erst im mythischen
Raum der Solidarität und der daraus folgenden Handlungsmaxime. Und Seghers
füllt den sozialen Raum des Exils immer wieder mit (Hoffnungs)Figuren, für die
eine solche Humanität selbstverständlich ist, was dazu führt, dass sich Seidel für
ein Bei-­ihnen-­Verweilen, an-­ihrer-­Seite-­Stehen und -Kämpfen entscheidet. Da
ist die Unbekannte, die Seidel zu fehlenden Papieren verhilft, allein, weil dieser
sich gegen die Faschisten gestellt hat und nicht, weil er beteuert reisen zu wollen.
Oder da sind die Binnets, die Seidel aufnehmen und ihm ein Zuhause, ein An-
kommen ermöglichen.
Seghers entscheidet sich also für eine Erklärung des Faschismus und des Exils,
die den Identitätsverlust auf eine bis dahin unbeachtete Dimension ausweitet: Fast
mag man in den Brüchen und Zerwürfnissen ihres Flüchtlingsprotagonisten die
dekonstruktiven Ansätze der Migrationstheoretiker der Postmoderne entdecken,
da hier keine Identität aus der Herkunft oder der Ankunft entsteht, sondern diese
aus Divergenz und Anlehnung permanent neu verhandelt wird. Gerade dafür ist
dann auch die Herausstellung der zwischenmenschlichen Beziehungen so bedeut-
sam, da in ihren Prozessen und nicht aus geografisch-­kulturalistischen Ableitun-
gen die Besonderheit der Exilidentifizierung zu erklären ist. Und während also
das Dreiecksverhältnis Seidel-­Marie-­Arzt die individuelle Verortung zeigt, die der
Flüchtling in der Gegenwart einnehmen soll, setzen die Beziehungen, die Diffe-
renzen und Zustimmungen des Flüchtlings zu den Ansässigen einen mythischen
Utopieraum frei, der überhaupt erst eine Entscheidung für die Selbstverortung in
der Gegenwart ermöglicht – der einen Heimatraum als Utopia entwirft.
Wie dicht auch immer die Haufen von Flüchtlingen waren, die alle Heere vor sich trieben,
sie waren geringfügig im Vergleich zu denen, die trotzdem geblieben sind. Was wäre aus
mir, dem Flüchtling, in all den Städten geworden, wenn sie nicht geblieben wären! Sie
waren mir, dem Waisen, Vater und Mutter, sie waren mir, dem Geschwisterlosen, Bruder
und Schwester (T 271).
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 201

Für die Ausgestaltung dieses mythischen Raumes stehen in Transit in erster Linie
die Häuslichkeiten Georg Binnets und seiner Familie, die hier mit idyllischen,
heimatlichen Zügen ausgestattet sind (cf. Haas 1975: 55). Anna Seghers schafft
durch räumliche Beschreibungen dieser winzigen und heimeligen Räume, ihrer
Accessoires und baulichen Details eine Atmosphäre des Heimatlichen und der
Geborgenheit, welche in Transit immer wieder als Kontrast zur unruhigen und
unsicheren Atmosphäre um den Abfahrtshafen herum fungiert. Nicht von un-
gefähr ist Seidels genau wie des Arztes Beziehung zu dem Jungen der Binnets
stetiger Abgleich der eigenen Entscheidung zum Gehen oder Bleiben.
So wird der Beginn der Beziehung zu den Binnets direkt an die erste Über-
legung Seidels gekoppelt, Marseille wieder zu verlassen. Ist er noch nach Mar-
seille eingereist mit dem Willen zu bleiben, so führen das Aufeinandertreffen
mit anderen Flüchtlingen und den bürokratischen Bedingungen dazu, dass er
seinerseits den Fluchtgedanken aufnimmt (T 58); Unruhe und Hast bestimmen
die Umgebung und das Gefühlsleben Seidels. Im gleichen Kapitel offeriert Seghers
die Alternative zu diesem Urteil, indem sie Seidel die Binnets und das Alltagsleben
Marseilles kennenlernen lässt. Der Weg zwischen Fluchtentscheidung und dem
Haus der Binnets ist mit ruhigen, sonnigen, wohligen Adjektiven beschrieben.
Es entsteht eine Atmosphäre des Zufriedenen, der Ruhe, die Seidel zu kontem-
plativen Betrachtungen und zum Genießen der Umwelt führt und von der eigenen
Unruhe und Zerrüttung angesichts des Fluchtgebots wegholt (T 58 ff.)
Die Atmosphäre der Vertrautheit erfährt im mythisch ewigen Raum vor dem
gastlichen Feuer ihre dialektische Zielführung – die Option einer Heimat im
idyllischen, beweglichen Raum der Solidarität. Seidels Entscheidungen und Refle-
xionen werden in einer Pizzeria als Ort zwischen Wasser und Feuer, als Exilraum
des Dazwischen gefällt.
Wir betraten die Pizzeria. Ich setzte mich mit dem Gesicht zum offenen Fenster. […]
Die ersten zwei Gläser Rosé trank ich immer wie Wasser. Das offene Feuer da, sehen
Sie, kann mir gefallen. […] Denn immer hat hier ein offenes Feuer gebrannt, und seit
Jahrhunderten hat man den Teig so geschlagen. Und wenn Sie mir vorwerfen, daß ich
selbst immer wechsle, so antworte ich, das ist auch nur eine Suche nach dem, was für
immer vorhält (T 125).

Im Wechsel zwischen den Symbolen des Wassers und des Feuers, sowohl im Blick-
feld des Erzählers als auch in der inhaltlichen Bestimmung des Raums (Rosé, der
wie Wasser getrunken wird und das Feuer, das ewig brennt und dem Menschen
Brot und Leben bringt) entsteht eine Heimat im Verharren im Dazwischen. Dieses
Verharren verspricht Leben, wie beispielsweise in der Beschreibung der Pizza-
202 Astrid Henning-­Mohr

bäckerin als Herrscherin über das Feuer und seine lebensspendende ‚Frucht‘ – die
Pizza. Sie wird als ewige Frau gezeichnet, als jene
Frau […] der alten Sagen, die immer jung bleiben. Sie hatte immer auf diesem Hügel am
Meer auf ihrem uralten Gerät Pizza gebacken, als andere Völker dahergezogen waren,
von denen man heute nichts mehr weiß, und sie wird auch immer noch Pizza backen,
wenn andere Völker kommen (T 271).

Im Gegensatz zu der lebensspendenden Atmosphäre der Pizzeria im Angesicht


des Feuers wird Marie und ihre Suche nach dem Vergangenen immer wieder mit
der offenen Tür in Verbindung gebracht, durch die sie kommt und geht und die sie
stets im Blick behält. Und dass Marie hier im Roman den Tod symbolisiert bzw.
ihn als Ashavar-­Figur sogar personifiziert, ist weiter oben bereits beleuchtet wor-
den. Insofern agiert Seidel (der seinen Platz ja anfänglich immer entweder dem
Feuer oder dem Hafen zuwendet) vor dem Hintergrund eines mythischen Raumes
und damit vor dem permanenten Hintergrund einer Alternative zu seinem Iden-
titätsverlust. Denn wenn Seghers die gesamte Atmosphäre der Behaglichkeit, der
Vertrautheit, kurz: des idyllischen Raumes vor der Beziehung zwischen Seidel,
Arzt und Marie aufflackern lässt, so offeriert sie damit der Exilexistenz in ihrem
Raum Dazwischen eine ständige Alternative des Verweilens und Ankommens.
Diese Alternative gipfelt dann auch nicht von ungefähr im mythischen Heimatort
bei den Binnets, an dem Seidel glaubhaft versichert wird, kein Fremder zu sein,
wenn er hier arbeitet und liebt (T 152). Georg Binnet schlussfolgert, als er ihm die
Nachricht von Heinz gebracht hat, Seidel solle auf ihn bei Marseille warten: „Für
dich ist es richtig, zu bleiben. Was sollst du denn da drüben? Du gehörst zu uns.
Was uns geschieht, geschieht dir“ (T 278). Er rührt dabei seinen Seifenschaum
als Bild des Alltäglichen, Heimatlichen. Der idyllische Raum trägt somit ent-
scheidend dazu bei, dass Seidel seine Identität wiedererlangt.
Ich hatte jedenfalls stark wie nie das Gefühl, in ein Heim geraten zu sein. […] Wie kam
es nur, daß sich um solche Georgs [Binnet, der im Auftrag der Fabrik evakuiert worden
war, A.H.] immer vier Wände stellten […]. Ich blieb letzten Endes immer allein zurück,
unbeschädigt zwar, aber dafür auch allein (T 153).

Als zweiter mythischer Raum fungiert auch in diesem Roman eine Landschaft
des Bleibens. Haben die Landschaftsbeschreibungen in Das siebte Kreuz schon
dazu beigetragen, den Raum Deutschland nicht als hoffnungslose Übergabe an
die Faschisten anzuerkennen, so führt Seghers dieses Mittel in Transit fort, um ein
Ankommen und ein Wiedererlangen der Identität im notwendigen Exil emotional
zu bestätigen. So entwickelt Seghers die idyllische Landschaftsbeschreibung auch
erst am Ende des Romans, während die diegetische Entwicklung der Entschei-
dung Seidels vor der balsacartigen Terrainbeschreibung der Stumpfheit, Armut,
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 203

der Kälte und des Durcheinanders dargestellt wird, der kalte Hafenwind immer
wieder als atmosphärische Bebilderung der kalten Heimatlosigkeit fungiert.
Haas stellt dabei richtig fest, dass diese Ausgestaltung weniger der roman-
tischen Besetzung einer Landschaft dient, als einer dem Menschen dienlichen
Lebensform, die dem Menschen eher zu Eigen sei als die permanente Flucht. Das
bestätigt sich durch den Schwenk innerhalb der detaillierten Stadtbeschreibungen
Marseilles und am Ende des Romans zur außerstädtischen Landschaftsbeschrei-
bung. Innerhalb der städtischen Raumbebilderungen wechselt die atmosphärische
Darstellung der Straßen, Häuser und Plätze sowie der direkten Hafenumgebung
von düster, kalt und bedrohlich zu sonnigen und geselligen Raumgestaltungen.
Dadurch wird der Entscheidung, an einem Ort in Gemeinschaft mit den Men-
schen zu bleiben, eine positive Atmosphäre beigegeben, welche die kognitive und
erzählerisch sehr brüchige Entscheidung des Protagonisten für den Leser auch
emotional als gut und schön bewerten lässt.
Die Definition des Verharrens als universelle Lebensform des Menschen bedeu-
tet dabei keineswegs, dass Bewegung ausgeschlossen sei. Seghers ist Materialistin
genug, um die Idylle nicht als unerreichbares Phantasma zu beschreiben, sondern
in der Handlung der Protagonisten die einzige Möglichkeit zu offerieren, ein sol-
ches Phantasma wahr werden zu lassen. Zum einen wird der idyllische Raum
der Binnets als klassisch Seghers’scher Raum der Humanität konstruiert. Auch
die Bewegung in der Pizzeria zwischen Feuer und Wasser macht den heimeligen
Charakter dieses Verweilortes aus und Seidel muss sich abschließend a) überhaupt
entscheiden, seine Flucht ins Ungewisse zu beenden und b) diese Entscheidung
mit einem konkreten Beitrag zu den sozialen und politischen Beziehungen seines
neuen Heimatraums zu füllen. Erst in der Akzeptanz des Kampfes, der vita activa
(und damit der Bewegung) wird das Leben des Erzählers gut, der Raum zu einer
gelebten Idylle, die es vor den Faschisten zu verteidigen gilt:
Ich will jetzt Gutes und Böses mit den Leuten hier teilen, Zuflucht und Verfolgung. Ich
werde, sobald es zum Widerstand kommt, mit Marcel eine Knarre nehmen. Selbst wenn
man mich dann zusammenknallt, kommt es mir vor, man könne mich nicht restlos zum
Sterben bringen. Es kommt mir vor, ich kennte das Land zu gut, seine Arbeit und seine
Menschen, seine Berge und seine Pfirsiche und seine Trauben. Wenn man auf einem
vertrauten Boden verblutet, wächst etwas von einem weiter wie von den Sträuchern und
Bäumen, die man zu roden versucht (T 279).

Zu dieser Bewegung im Raum gehört auch, dass Seidel seine nationale Zugehörig-
keit spielend wechseln kann – das Deutsche ist für ihn ohnehin nur in der Be-
gegnung mit der Sprache wichtig. Und nicht von ungefähr beruft er sich am Ende
des Romans hinsichtlich seiner Herkunft eher beiläufig auf das Saarland – ein
204 Astrid Henning-­Mohr

Gebiet, das durch seinen Zwischenraum zwischen Frankreich und Deutschland


gekennzeichnet ist. Der mythische Heimatraum mit seiner Landschaft als vor-
gestellte Identifikationsgrundlage (cf. Francois u. a. 1995) tritt zugunsten eines
mythischen Raums der erfüllten Mitmenschlichkeit und Solidarität in den Hin-
tergrund. Für den Exilanten bedeutet deshalb die Wiedergewinnung einer Iden-
tität nicht die Rückkehr in den Herkunftsheimatraum (die beiden Figuren, die
diesen Rückweg antreten werden, so legt es der Roman nahe, in der ‚Heimat‘
sterben), sondern die Realisierung eines solidarischen neuen Heimatraums, in
dem die Menschen entlang ihrer Interessen gemeinsam arbeiten und lieben, also
durchaus in Bewegung sind.
Die Akzeptanz des Verharrens in einem solchen ‚Dazwischen‘ hat also im Zu-
sammenhang mit der Entscheidung für eine vita activa zu einer Identitätsfindung
ganz im aufklärerischen Sinne Seghersʼ geführt – der Erzähler sieht sich als Teil
einer Befreiungsbewegung, an der er mit den Bewohnern des südfranzösischen
Landstriches teilnehmen wird. Das Dazwischen hat sich damit aufgelöst. Und:
Diese neue Identifikation löst einen neuen geschichtlich-­mythischen Kreislauf
aus: Man bleibt Teil des Bodens, selbst wenn man dort erschossen wird, und das
geht einher mit einer idyllischen Identifikation mit den zeitlosen Pfirsichen und
Trauben des Landstrichs.

4 Zusammenfassung
Anna Seghers gelingt eine Dekonstruktion von Heimat als gesellschaftlich und
historisch gebundenes Konstrukt, die sowohl literaturhistorisch als auch im
außerliterarischen Diskursraum nahezu revolutionär zu nennen ist. Beziehen
sich andere Exilautoren vor ihr und in ihrer eigenen Exilzeit noch massiv auf
die Heimat als identifikationsstiftenden geografischen Raum (man denke an
Heines Wintermärchen), so tritt bei ihr der soziale und gesellschaftliche Aspekt
des Heimatgefühls an die Stelle des Phantasmas, welches es für den flüchtenden
Menschen zu erreichen gilt.
Mag Transit die Flüchtlingssituation für das Individuum mittels einer unru-
higen und bedrohenden Atmosphäre auch noch so düster und in aller Härte
aufzeigen, mag der Roman nicht nur die Schwierigkeiten des Raumwechsels,
sondern den damit verbundenen Identitätsverlust bebildern – Anna Seghers ent-
wirft darin dennoch eine Atmosphäre der Hoffnung, die sich so einfach und klar
wie das ruhige Wasser des Hafens gestaltet, weil sie dem Flüchtling eine Identität
jenseits der Flucht mittels der vita activa und in Solidarität und Gemeinschaft mit
den Bleibenden offeriert.
Eine Neuverortung des migrierenden Subjekts – Anna Seghers Transit 205

Mit Transit findet sich in der Literatur eine atmosphärische Beschreibung des
Exils sondergleichen, da diese Beschreibung den Zwischenraum zu einer inner-
physischen Angelegenheit werden lässt und somit die Dunkelzone selbst, den
Tunnel des Übergangs zum Identifizierungspunkt des Exilanten erklärt, statt im
konstruierenden Moment von Ankunft und Herkunft zu verweilen. Wenn man
so will, nimmt Anna Seghers Protagonist in Transit Homi Bhabhas Third Space
um Jahre voraus.

Literatur
Adorno, Theodor W. 1977: „Mahler: eine musikalische Physiognomik“, in: id.:
Gesammelte Schriften, Bd. 13, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Batt, Kurt 1980: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke, Frankfurt
a. M.: Röderberg
Bloch, Ernst 1985: Das Prinzip Hoffnung, Bd. III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Brecht, Bertolt 101974 : Die Dreigroschenoper, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Fischer, Sylvia 2013: „Zwischen Universalität und Politik. Zum Heimatkonzept in
Anna Seghers Roman ‚Das Vertrauen‘“, in: Argonautenschiff 22 (2013): 82–92
Francois, Etienne u. a. 1995: „Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen, Emotio-
nen“, in: id. (ed.): Nation und Emotion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
13–35
Haas, Erika 1975: Ideologie und Mythos. Studien zur Erzählstruktur und Sprache
im Werk von Anna Seghers, Stuttgart: Akademischer Verlag Heinz
Hans, Jan 1982: „‚Der Krise ins Auge sehen…ʻ Annäherungen an ‚Transitʻ“, in:
Heinz Ludwig Arnold (ed.): Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Anna
Seghers 38 (1982): 27–42
Seemann, Anja, & Franziska Tiedjen 2013: „‚Das Ganze war eine ziemlich ver-
trackte Geschichte mit vertrackten Menschen‘ – eine exemplarische Analyse
der literarischen Symbole Wasser/Hafen und Feuer und des Transitären in
Anna Seghers Roman Transit“, Unveröff. Hausarbeit im Seminar „Exil in Li-
teratur und Film“, Carl- von Ossietzky Universität Oldenburg, SoSe 2013
Seghers, Anna 181981: Das siebte Kreuz, Leipzig: Reclam
Seghers, Anna 132007: Transit, Berlin: Aufbau Taschenbuchverlag
Almut Constanze Nickel (Kassel)

Transitorische Zeiterfahrung.
Zum Vertigo temporis in Günther Anders’
Tagebuch aus dem amerikanischen Exil

Abstract: In his literary and philosophical diaries, the German-Austrian philosopher and
essayist Günther Anders describes an incident that occurred in New York in 1943. Perhaps
like no other incident, this one forced him to confront the inner disruptions of his own life
and thus triggered in him the existentially crucial experience of a time vertigo that, in turn,
led Anders to re-­examine the way in which he perceived his own biography. By means of
reflections on the term Heimat and a legend about a fictional place called Molussia as a
framework, Anders tells the story of an unexpected encounter with companions of bygone
days while entering a café on Broadway. Not only did these companions appear to the
narrator like “revenants” from his past; they appalled him by making him realize that they
had somehow become acquainted with one another in exile. Anders uses the image of a
Hades, where the deceased are found squatting together on a heap, void of any awareness
of sequence, to depict his experience of biographical disruption or loss. The narrator bit-
terly observes that, whereas once different phases of his life were arranged like pearls on a
string, “the string has now torn”, erasing the respective conclusions to earlier phases. This
contribution aims at employing textual analysis to examine the motif of the exile café and,
moreover, to show how Anders’ statement regarding his loss of biography (Vita) or, to be
more precise, its fragmentation into various biographies (Vitae) can be explained by the
disruption he experiences while in a sphere of transit, both spatially and chronologically,
by applying Bachtin’s concept of the chronotopos.

1
In seinen philosophisch-­literarischen Tagebüchern Die Schrift an der Wand.
Tagebücher 1941–1966 (1967) beschreibt Günther Anders eine verstörende Be-
gebenheit 1943 in New York, die dem Autor schlagend die Zerrissenheit seines
Lebens vor Augen führt und jenen existentiell erfahrenen Vertigo temporis (‚Zeit-­
Schwindel‘) auslöst, der die Revision eigener Biographie-­Wahrnehmung zur Folge
hat.
Eingebettet in Reflexionen zum Begriff der Heimat und einer Legende aus
dem fiktiven Molussien, erzählt Günther Anders vom Besuch eines Cafés 96.
Straße, Ecke Broadway, in dem er unerwartet mehrere Weggefährten aus früheren
Lebensabschnitten entdeckt. Nicht mit Namen – die ihm zum Teil nicht sofort
208 Almut Constanze Nickel

präsent sind – sondern mit Orts- und Jahresangaben eigener Lebensstationen


bezeichnet er die gesichteten Personen als Berlin 1930, Paris 1926 und Freiburg
1921, später sieht er auch Breslau 1912 und Cassirer-­Seminar 1921, die ihm hier
nicht nur als Gespenster der Vergangenheit begegnen: „Denn daß es Altern gibt
und Ticks und Verblühen und Sterben, das zu erlernen, haben wir ja schließlich
genug Zeit gehabt“ (Anders 1967: 22). Ausnahmslos sind die früheren Weggenos-
sen von vorzeitigem Alter und Verfall gezeichnet. So sitzt etwa das einst aparte
Mädchen aus dem Gotik-­Seminar im Frühjahrssemester 1921 – „Nephretete
hatten wir sie genannt“ – nervös rauchend, „zum Essenbestellen reichte es ver-
mutlich nicht, grauhaarig, Tick mit der rechten Augenbraue“, am Tisch neben
einem aus der Pariser Zeit, ein „notorischer Gourmand“ damals, das hier billigste
Gericht baked fish with beans verzehrend, was er „in seiner Gourmand-­Zeit als
eßbares Material gewiß nicht anerkannt hätte“, so der lakonische Kommentar des
Erzählers (loc.cit.). Der Berliner Bekannte aus dem Jahr 1930 verzehrt hingegen
nichts und wirkt „aschfahl, und als wäre er sein eigener Vater; aber daß es einen
anderen geben konnte, der dieses Gesicht trug, das war unmöglich“ (ibid.: 21 f.).
Angesichts dieses Panoptikums fühlt sich der Erzähler an den Orkus erinnert,
den er wie folgt ausmalt:
Orkusartig kommt mir das vor. Denn im Orkus hocken sie ja vermutlich auch so durch-
einander, die greenhorns und die vor hundert Jahren Gestorbenen und die schon seit
zweitausend Jahren dort Ansässigen; und ohne sich dafür zu interessieren, ob sie während
ihres Aufenthaltes in der Oberwelt zu den Früheren gehört hatten oder zu den Späteren
[…] und ohne sich daran zu erinnern, daß es da oben einmal solch ein Vor- und Nach-
einander gegeben hatte, nein, ohne auch nur zu wissen, daß es überhaupt eine Oberwelt
gegeben hatte. – Und so ist es hier nun (ibid.: 21).

Doch es ist eben nicht allein der physisch-­moralische Verfall und das Neben-
einander der vormals unterschiedlichen Lebensstadien zugehörigen Personen,
das den Beobachter dieses „Cafeteria-­Orkus“ (ibid.: 22) entsetzt. Es ist vielmehr
noch der Umstand, dass die damals nur mit ihm verbundenen Personen durch das
Exil mittlerweile auch alle unter- und miteinander bekannt sind: „Kreuz und quer
ging das, A. kannte C., B. kannte D. etc. – man bedenke: sie, die ja schließlich von
sich aus nichts miteinander zu tun hatten […], hatten es sich herausgenommen
[…], hinter meinem Rücken miteinander in Verbindung zu treten“ (ibid.: 23). Im
Rückbezug auf seine Biographie erlebt der Erzähler dies als anmaßend und unver-
schämt, als Insolente Vergangenheiten bezeichnet er die Betreffenden in diesem
Abschnitt gar. Mit diesem Aspekt erfährt der Vergleich mit der Unterwelt, worin
die Verstorbenen ohne Bewusstsein eines zeitlichen Vor- oder Nacheinander auf
einem Haufen hocken, eine zusätzlich negative Steigerung für die persönliche
Transitorische Zeiterfahrung 209

Biographie. Waren die verschiedenen Lebensstationen vorher wie Perlen auf eine
Schnur gereiht, muss der Autor jetzt bitter resümieren: „Die Kette ist gerissen“
und die Abschlüsse von früheren Lebensabschnitten sind aufgehoben (ibid.: 21).
Günther Anders eröffnet diese Tagebuchpassage mit der Beschreibung des
letzten Satzes aus Alban Bergs Kammerkonzert von 1925 für Klavier und Geige
mit dreizehn Bläsern, das Arnold Schönberg zum 50. Geburtstag gewidmet und
1927 uraufgeführt wurde. Im letzten, dritten Satz dieses Konzerts mit der Bezeich-
nung „Rondo ritmico con Intrudozione“ nimmt der Komponist das musikalische
Material der vorigen Sätze noch einmal auf, „um sie nun in- und durcheinander
zu schlingen“ und damit – so Günther Anders – die vorher hergestellte Sukzession
aufzulösen, denn „die hat er dadurch ausgelöscht, die zeitliche Ordnung gewisser-
maßen als illusorisch entlarvt“ (ibid.: 20). Und so versteht der Erzähler sein Leben
im Exil als einen solchen letzten simultanen Satz nach Alban Berg, worin sich
Vorhergegangenes mit Späterem und Gegenwärtigem verschlingt, wiederholend,
alles in einem und alles zugleich: „Nun ist ‚omnia simul‘, alles gleichzeitig. – Solch
ein ‚letzter Satz‘ ist nun mein Leben hier“ (Anders 1967: 20). Und mit dem jähen
Gefühl existentiellen Verlusts durch die Aufhebung eigener Biographie, im Sinne
von Lebens-­Chronologie, stellt sich beim Erzähler nun jener Vertigo Temporis
ein, dem er mit einem langen Marsch durch das nächtliche New York, vierzig
Straßenblocks weit, zu entkommen versucht. Insofern stößt der Erzähler durch
die Wegbewegung einen Prozess an, wodurch die Erfahrung des unerträglichen
Nebeneinanders von Repräsentanten verschiedener Lebensstationen im Exilcafé
aufgelöst werden soll. Ein Nebeneinander, das sich allein durch die gemeinsame
Durchgangssituation des Exils ergibt, da die beschriebenen Personen sich unter
anderen Umständen niemals begegnet wären, sei es aus Gründen zeitlicher und
räumlicher Distanz (da verschiedenen Generationen angehörend und an un-
terschiedlichen Orten wohnend) oder aufgrund fehlender inhaltlicher Schnitt-
mengen (wie Studienfächer und Berufswahl oder politischer Ausrichtung). Zwar
unterscheidet sich die Laufbewegung von der des passiven Beobachters im Café,
beziehungsweise an dessen Eingang – im Text erwähnt ist das Drehkreuz, an
dem der Erzähler stehen bleibt (woraus auch hervorgeht, dass eine wirkliche Be-
gegnung mit den gesichteten Bekannten gar nicht stattfindet). Doch richtet auch
die räumliche Entfernung nichts gegen die Erfahrung aus, und noch am nächsten
Tag kommt dem Erzähler der Boden unter seinen Füßen schwankend vor, noch
zum Zeitpunkt der Niederschrift fühlt er sich wie seekrank.
210 Almut Constanze Nickel

2
Günther Anders’ Tagebücher 1941–1966 sind wenig bekannt und werden auch
in der Literatur zum Autor eher als biographische Quelle, denn als eigenständig
zu behandelnder Textkorpus behandelt, obwohl Anders gerade diesem Eindruck
mit dem Nachwort entgegenwirken wollte. Eine umfassende literaturwissen-
schaftliche Auseinandersetzung und Einordnung fehlt bislang, wohl auch, weil
der Umgang mit Anders‘ Texten, seinem Individualstil, ohne interdisziplinäre
Sicht nicht auskommt, der Fokus der Philosophie, Soziologie oder Wissen-
schaftsgeschichte jedoch das literarische Phänomen nicht erfasst.1 Lediglich
kleinere Beiträge neueren Datums nähern sich Anders als einem „Man of
Letters“ oder von Briefkonvoluten her (Bischof et al.: 2014), während die li-
teraturwissenschaftliche Entdeckung von Günther Anders‘ facettenreichem
Werk noch aussteht.
Der vorgestellte Text aus der Schrift an der Wand ist als Auseinandersetzung
mit dem Generalthema Exil und seiner Auswirkung auf die davon Betroffenen, die
Entwurzelten und nun Heimatlosen zu lesen, für die es auch an einem sicheren
Ort kein Zurückkommen im Sinne eines Heimkommens geben kann, wie er an-
lässlich seiner Rückkunft von Los Angeles nach New York bemerkt und ausführt:
„Was für unsereins so ‚zurück‘ heißt. ‚Zurücksein‘ bedeutet: an einem fremden
Platze, an den man im Laufe der Emigration zufällig schon einmal verschlagen
gewesen war, und an dem man sich schon einmal jahrelang durchgehungert hatte,
wieder einmal hängenbleiben“ (Anders 1967: 19).
Günther Anders spitzt in der beschriebenen Episode die Folgen einer vorher
nie dagewesenen geschichtlichen Situation dahingehend zu, dass die Emigrati-
on für die Betroffenen zu Begegnungen oder eben auch ungelegenen Wieder-
begegnungen in fremden Weltgegenden führt, die unter anderen Umständen so
niemals stattgefunden hätten. Und dies, da die Entwicklung eines Lebens, einer
persönlichen Biographie, zu vorigen Zeiten eine sukzessive war, niemals aber
eine simultane – daher die musikalische Metapher des letzten Satzes. Oder, um
auf das Perlen-­Motiv in Bezug auf die abgeschlossenen Lebensstadien zurück
zu kommen: Das in-­sich-­Gerundete früherer Lebensabschnitte wird durch die
erzwungenen Wiederbegegnungen zerstört, da im Transitraum Exil die vorange-

1 Die umfangreichste Bibliographie zu Günther Anders, seiner Werke und der Se-
kundärliteratur (bis 2014) hat H. Scheffelmeier als Online-­Verzeichnis bereitgestellt
(http://www.forvm.at/texte/ga_bibliographie.html), eine Weiterführung findet sich
auf der Internet-­Seite der Günther Anders-­Gesellschaft (http://www.guenther-­anders-­
gesellschaft.org/bibliographie/).
Transitorische Zeiterfahrung 211

gangene Einzelbiographie notwendig außen vor bleibt und alles zwischenzeitlich


Passierte in seiner Chronologie aufgehoben wird. Da Wiederanknüpfungen an
ein Früher dem Prinzip der Zufälligkeit, nämlich des zufällig identischen Exil-
ortes zum selben Zeitpunkt untergeordnet sind, ergeben sich daraus nicht nur
unangenehme, sondern aus Sicht des Philosophen Anders ebenso existentiell be-
drohliche Situationen, wie die Begebenheit illustriert. Das damit einhergehende
Gefühl der Ohnmacht als einer Abhängigkeit von den Zeitläuften und den in der
Welt verbleibenden Orten für ein Überleben wird dabei so groß, dass es dem Er-
zähler buchstäblich den Boden unter den Füßen wegreißt und er diese Erfahrung
als eine überindividuelle, der gegenwärtigen historischen Situation geschuldete
erkennt. Der Ortsbegriff definiert sich hier als ein physikalischer, losgelöst vom
Begriff der Heimat.
Auch andere Ereignisse vermögen das Gefühl eines solchen Zeit-­Schwindels
bei dem Erzähler auszulösen. So beschreibt Günther Anders im anschließenden
Abschnitt die peinliche Verlegenheit bei der Wiederbegegnung mit einer früheren
Geliebten, R.R., ein Vorfall, der sich gleichfalls in New York ereignete. „Sie ist
beinahe weiß geworden. Aber ihre Leonardesken Augen haben sich nicht ver-
ändert“ (Anders 1967: 24). Und er fragt sich, was R.R. bei diesem Treffen ei-
gentlich festhält, als das Gespräch nach und nach verstummt und sie trotzdem wie
angenagelt sitzen bleiben: „Vermutlich einfach deshalb, weil meine Gegenwart die
versunkene Welt von 1925 wieder heraufbeschwor“. Doch was ihn, den Erzähler
hält, „das weiß ich ganz genau: Ich hatte nämlich, solange sie, die ja ins Jahr 1925
gehörte, mir gegenübersaß, das völlig wahnwitzige Gefühl, daß die längst schon
verflossene Zeit zwischen 1925 und heute noch nicht begonnen hatte“ (Anders
1967: 24). So bringt das Wiedersehen mit jener R.R. für den Erzähler das Gefühl
mit sich, in Gegenwart seiner alten Liebe Gewesenes noch bevorstehend zu haben,
wie der Zwischentitel sagt. Weiter, dass damit auch alles, was nach diesem Lebens-
kapitel kam, alle folgenden Liebschaften, aller Neubeginn in anderen Städten und
spätere Begegnungen, noch oder noch einmal vor ihm liegen. Dass die Zeit nach
dem ersten Abschied von R.R. plötzlich aufgehoben scheint. Und auch hier erlebt
der Erzähler ein „Zeitvertigo“, angesichts dessen die grammatischen Tempora
nicht mehr ausreichen, gleichsam ein verkehrtes Futur II: „Gewesenes“ ist „noch
bevorstehend“. Betroffen zieht er in Bezug auf die Begegnung mit der früheren
Freundin Bilanz: „Gewiß hatte [sie] keine Ahnung, wie wahnsinnig schwindlig
mir in ihrer Gegenwart wurde, in welchen Zeitvertigo sie mich da hineinstieß“
(Anders 1967: 24).
212 Almut Constanze Nickel

Diese Erlebnisse führen den Erzähler zu der Erkenntnis, dass beliebige


oder beliebig viele Begegnungen und Abschiede in Bezug auf gewisse Lebens-­
Beziehungen nicht möglich sind, dass Abgeschlossenes nicht ohne weiteres wieder
aufgenommen, dass Zeit nicht übersprungen werden kann. Und zwar auch nicht
unter veränderten Umständen, da auch die aktuelle, geteilte Erfahrung des Exils
den einstigen endgültigen Abschied nicht aufzuheben vermag. So erscheint es dem
Erzähler nicht nur sinnlos, sondern sogar unmöglich, eine erneute Begegnung mit
jener früheren Geliebten herbeizuführen, denn: „daß wir unser stummes Treffen
noch einmal wiederholen werden, das kommt nicht in Frage.“ Und so schließt
Günther Anders in Bezug auf diese Episode mit der Einsicht: „Und als wir, die
wir uns ja schon vor zwanzig Jahren endgültig voneinander verabschiedet hatten,
nun von neuem endgültig von einander Abschied nahmen, da stand es absolut
fest, daß wir uns einen dritten endgültigen Abschied nicht mehr würden leisten
können“ (Anders 1967: 25).

3
Es gibt keine Veröffentlichung von Günther Anders, die im Hintergrund nicht
mehr oder weniger eine Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestel-
lungen aufweist, in hohem Maße auch jene Texte, die dem ersten Anschein nach
überwiegend literarischen Charakter haben. So etwa seine Erzählungen, denen er
in einer Sammelausgabe den Untertitel Fröhliche Philosophie zugefügt hat, oder
auch seine Schriften zur Kunst und Literatur, beispielsweise der in Kalifornien
entstandene Aufsatz über Rodin (Homeless Sculpture, 1943). Und, letztmals unter
seinem bürgerlichen Namen Günther Stern, schrieb er ungefähr zeitgleich On the
Pseudo-­Concreteness of Heidegger’s Philosophy (1948), eine scharfe Auseinander-
setzung mit Heidegger, seinem früheren Lehrer, von dem er sich seit Mitte der
20er Jahre entfremdet hatte.
Die Tagebücher hat Anders mit dem apodiktischen Titel Die Schrift an der
Wand überschrieben und in Klappentext und Nachwort als „philosophische Ta-
gebücher“ bezeichnet. Die Assoziation mit der alttestamentarischen endzeitkün-
denden Wandschrift „Mene, mene, tekel u-­parsin“ beim Gelage des Belsazar darf
als beabsichtigt gelten, es ist die Schrift an der Wand, die kein Gelehrter deuten
kann, lediglich der Weise Daniel versteht das Omen als Zeichen des Untergangs
der Herrschaft Nebukadnezars (Dan V, 1–25). Für die Tagebücher hat der Autor
Eintragungen aus seinen über ein Vierteljahrhundert geführten Aufzeichnungen
ausgewählt und thematisch angeordnet. Sie handeln laut Angabe des Autors „von
der Verwüstung der Kultur“, beziehen sich auf „Tod und Töten in der heutigen
Welt“. Sie sind ein Kondensat der durchgehenden Auseinandersetzung des Autors
Transitorische Zeiterfahrung 213

hiermit, so dass der Text folglich kein Tagebuchkontinuum bildet und alle Epi-
soden laut „Nachbemerkung“ „durchweg retuschiert“ sind (Anders 1967: 427).
Das zeitlich-­räumliche Nebeneinander von Ereignissen eines authentischen Ta-
gebuchs – dessen Grundeigenschaft in einem chronologischen Verlauf liegt – wird
hier bewusst aufgelöst. Insofern ist der Begriff des Zeit-­Schwindels durch die
Charakteristik des Tagebuchs bei Günther Anders literarisch realisiert, indem es
weder diachron noch biografisch angelegt ist.
So ist auch die Begebenheit mit der angeführten R. R. – wie anderen Personen,
zu denen Günther Anders eine nähere Beziehung hatte und die er in seinen Auf-
zeichnungen anführt – nicht als Gewährung eines biografischen Einblicks zu
werten, sie wird vielmehr beschrieben, weil eine über das persönliche Erleben
hinausgehende Erfahrung darin liegt:
Zur Veröffentlichung bestimmt habe ich allein diejenigen Eintragungen, in denen ich
nicht nur über mich persönlich gesprochen hatte, sondern, obwohl indirekt, über den
Zeitgenossen überhaupt, und damit, obwohl indirekt, auch schon zum Zeitgenossen;
Eintragungen also, in denen so etwas wie „Öffentlichkeit“ bereits von vornherein innege-
wohnt hatte (Anders 1967: 427 f.).

Aus philosophischer Sicht kann das Tagebuch-­Kapitel mit dem Motiv des
„Cafeteria-­Orkus“ auch als eine Aufnahme der ontologischen Grundfrage des
Raum-­Zeit-­Problems verstanden werden. Denn wenn Günther Anders vom Ver-
tigo temporis, vom Zeitschwindel, spricht, der ihn erfasst bei Ansicht der ‚reve-
nants‘, also Wiedergängern aus früheren Zeiten und anderen Orten, so kann dies
auch allgemein auf Überlegungen zum Verhältnis von Raum und Zeit bezogen
werden und auf die Frage von Reversibilität oder Irreversibilität des einen wie des
anderen. So etwa philosophisch vermittelt durch Nicolai Hartmanns Ontologie
in Bezug auf die Raum-­Zeit-­Problematik der modernen Physik, nämlich konkret
darin, dass „Raum und Zeit kein homogenes vierdimensionales Koordinatensys-
tem ergeben, denn die Reversibilität des Raumes und die Irreversibilität der Zeit
sind in der wirklichen Welt unaufhebbar heterogen“ – so Georg Lukács in seinem
Aufsatz Nicolai Hartmanns Vorstoß zu einer echten Ontologie (Lukács 1985: 448).
Die ontologische Prämisse einer unaufhebbaren Heterogenität der Rever-
sibilität des Raumes und Irreversibilität der Zeit, erzeugt in Günther Anders’
Deutung seines Erlebnisses jenes Paradox einer scheinbaren Aufhebung, deren
Reflexion sie als unvereinbar weiß mit der eigenen Biographie. Und es ist in der
Tat ein doppelter Schwindel, entstanden unter Personen, die vorher niemals
etwas miteinander zu tun hatten, und ohne Exil auch nie in dieser Form zu tun
bekommen hätten, denn noch in diesem Café als einem zwar temporären aber
dennoch gemeinsamen Durchgangsort scheinen sich einige „einander als Aus-
214 Almut Constanze Nickel

sätzige“ zu betrachten: „vermutlich als Stalinisten oder Trotzkisten oder Zionisten


oder weiß der Himmel als was, und wer nun wem welches Etikett anheftete“
(Anders 1967: 23). Doch ist es dem betroffenen Beobachter letztlich gleich, „ob
sie nun miteinander unter einer Decke steckten“ – wie er aus dem Verhalten des
„Gourmands“ gegenüber der früheren Nephretete abzulesen meint – oder ob sie
„einander verabscheuten“ (loc.cit.), allein der Umstand, dass sie Umgang mit-
einander haben, zählt für ihn.
Es ist dabei ein willkürlicher Ort, der keinerlei Verbindung zum früheren
Leben der dort Herumsitzenden aufweist, weder Nordamerika, noch New York
oder eben das nicht näher beschriebene Lokal, es könnten auch andere Plätze sein
als dieses Broadway-­Café, ähnliche Treffpunkte europäischer Exilanten in Ame-
rika oder andernorts, allgemein Transiträume, wie auch Bahnhöfe oder Hotels,
die M. Augé als Non-­Lieux (1992) bezeichnet: „So wie ein Ort durch Identität,
Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine
Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt,
einen Nicht-­Ort“ (Augé 1994: 92). Hier, an diesem Ort, der in der Fassung Augés
weder besondere Relationen noch Identität erzeugt, heben sich die zwischen den
früheren Lebensabschnitten liegende Zeit und die Ortsbestimmungen, die mit
den einzelnen Menschen verbunden waren (und für den Erzähler immer noch
sind) zugleich auf.
Dass die Verortung von vergangenen Lebensabschnitten in Bezug auf ihm da-
mals mehr oder weniger wichtige Menschen, sei es aus der Studienzeit (Freiburg),
frühen Berufsjahren (Berlin), der Schulzeit (Breslau), wie die erste Station des
politischen Exils, Paris, biographisch untrennbar miteinander verbunden sind,
verdeutlicht Anders durch die gewählten Bezeichnungsformen für die Wieder-
erkannten, eben in der Form von Ortsnamen in Verbindung mit Jahreszahlen. So
sind die fehlenden Namen hier weder einem lückenhaftem Gedächtnis geschuldet
oder aus Anonymisierungsgründen nicht genannt, denn an anderen Stellen setzt
Günther Anders Monogramme in den Text ein – dort, wo ihm die Betreffenden
persönlich näher standen, wie im Fall der R. R., aber auch für andere Gesprächs-
partner oder Freunde.
Das Café als Ort einer vom Ausgang her unfreiwilligen Versammlung dieser
früheren Bekannten führt, angesichts seiner Lage, zu einer grundlegenden Re-
vision der Erinnerung seitens des Erzählers und somit zu einer ‚Kondensation‘
des Geschehenen, angesichts derer weder biographische Richtigkeit oder exakte
Verortung der Episode eine Rolle spielen. Und so ist auch die Frage, in welchem
der in den 1930er und 40er Jahren von Exilanten gerne aufgesuchten Cafés sie sich
abgespielt hat, nachgeordnet, Günther Anders gibt die 96. Straße, Ecke Broadway
Transitorische Zeiterfahrung 215

an, möglicherweise eine fiktionale Adresse, die der Typisierung dienen mag. In
der Nähe befanden sich jedenfalls das Café Old Europe (Broadway, Ecke 77 Street)
und andere Lokale, wie das Café Vienna oder auch das Original Alt-­Wien (Omasta
2012: 32).
Im Ganzen erinnert Günther Anders’ dichte Schilderung dieses Cafeteria-­
Orkus an Rick’s Café Americain aus dem Film Casablanca (1942), eine nahelie-
gende Assoziation für den häufigen Kinobesucher Günther Anders. Auch eine
Textkohärenz ist hier in gewissem Sinne erkennbar, da das vorhergehende, erste
Kapitel der Tagebücher unter dem Titel Leichenwäscher der Geschichte Aspekte
aus der Zeit in Los Angeles (1941) behandelt. In Aufzeichnungen aus dem Hol-
lywood Custom Palace, dem damals größten Kostüm- und Requisitenverleih der
großen Filmstudios, verbindet Günther Anders Reflexionen über das Medium
Film, wobei ihn die Darstellung von Geschichte nicht nur in Historienfilmen,
sondern insbesondere in Filmen mit Gegenwartsbezug interessiert. Dass er in
die Situation kommen könnte, die hier aufbewahrten SA-­Stiefel zu schmieren,
kommt ihm während der Arbeit in der Putzkolonne in den Sinn: „Da ist man also
vor den Originalen geflohen, um dann, ein paar Jahre später am anderen Ende
der Welt in die Gefahr zu geraten, deren Duplikate gegen Bezahlung zu säubern“
(Anders 1967: 2) – freilich sind die Stiefel-­Imitate akribisch gearbeitet, wie alles
an diesem Exilort.
Zurück zur New Yorker Episode: Auch Fiktionalisierung im Sinne von Über-
treibung ist dem Erzähler zur Verdeutlichung des ungeheuerlichen Vorgangs
recht, wenn er abschließend anmerkt: „Meine Angel weiter auszuwerfen ersparte
ich mir, wahrscheinlich hätte mein Fang sonst niemals ein Ende genommen,
mehr Beweise dafür, daß es nun aus war mit der alten Ordnung, daß ‚früher‘ und
‚später‘ abgeschafft wären, hatte ich nun nicht mehr nötig.“ Und so berichtet der
Erzähler weiter, zur Folge seines Erkenntnisschocks: „Wie ich es geschafft habe,
wieder ins Freie zu gelangen, weiß ich nicht mehr. Sondern nur noch, daß ich
mich, als ich wieder auf dem Broadway stand, schwer seekrank fühlte“ (Anders
1967: 22).

4
M. Bachtins Theorie des Chronotopos bezieht sich ursprünglich auf Zeitformen
im Roman, lässt aber auch Bezüge auf die Erzählform von Günther Anders‘ Ta-
gebüchern zu, wie die darin vermittelte Auseinandersetzung mit der Zeit und dem
gestörten Zeitgefühl durch das Exil. Aus der Naturwissenschaft und übertragen
auf den „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur
künstlerisch erfaßten Zeit-­und-­Raum-­Beziehungen“ bestimmt Bachtin den Chro-
216 Almut Constanze Nickel

notopos als Raumzeit, worin sich der untrennbare Zusammenhang von Zeit und
Raum ausdrückt und Zeit als vierte Dimension des Raumes auch der Literatur
verstanden wird (Bachtin 1989: 7). In Bezug auf die geschilderten Passagen ist
Bachtins Verständnis von der dichterischen Raumschilderung durch die Zeit-
bewegung besonders von Interesse: „Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im
Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese
Überschneidung und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch
für den künstlerischen Chronotopos“ (Bachtin 1989: 8). Auf Grundlage dessen
fasst Anders‘ Schilderung des Cafés als einem Hades-­gleichen Ort die verstörende
Raum-­Zeit-­Erfahrung als ein zeittypisches Phänomen, das sich an bestimmten
Durchgangsorten und dem dort anzutreffenden Personal in besonderer Weise
offenbart. Das Signum der Zeit ist hierin Stagnation und Nichts-­Tun, der Ort
durch die pessimistische Perspektive des Betrachters mit Blick auf die vorzeitige
Alterung eher als Endstation (ins Bild der Unterwelt gefasst), denn als Wartesaal
zu verstehen.
Günther Anders’ bitteres Diktum, er habe keine Vita, allenfalls verschiedene
Vitae – einen Text hierüber schreibt er 1962 – ist eng verbunden mit dieser ein-
schneidenden Erfahrung in einem chrono-­topologischen Transitbereich. Von
einem Freund nach einem biographischen Abriss, der Zusendung einer Vita,
gefragt, antwortet er: „Deine Bitte um eine ‚vita‘ setzt mich in Verlegenheit. Ich
hatte keine vita. Ich kann mich nicht erinnern. Emigranten können das nicht. Um
den Singular ‚das Leben‘ sind wir, von der Weltgeschichte Gejagte, betrogen wor-
den“, wie es im folgenden Kapitel „Post Festum, 1962“, einleitend heißt (Anders
1967: 64). In der Korrespondenz setzt er seinem Briefpartner auseinander, warum
der Plural verschiedener Leben, nicht eines Lebens im Sinne einer Lebenseinheit,
keinen Vorzug (im Sinne von Vielfalt) darstellt:
Ich höre dich einwenden: kein Leben sei ein Singular, niemand habe eine „vita“; es gebe
keine Lebensläufe, die nicht in Einzelphasen zerfallen; unter „Leben“ verstünden wir
gerade die Einheit dieser auseinanderfallenden Phasen; und die Tatsache, daß sich das
Leben in Phasen aufgliedere, die zerstöre nicht die Erinnerung. – Zugegeben. Nur daß
sich gewöhnlich die Übergänge von einer Phase zur anderen vor dem Hintergrunde oder
im Rahmen einer Umwelt abspielen, die, selbst wenn sich diese verändert, als Konstante
empfunden wird. und daß diese Umweltkonstante gewöhnlich den Zusammenhang der
Lebensphasen sichert (Anders 1967: 64).

Weiter führt er über die Zerstörung der Lebenseinheit aus, da eben jene Umwelt-
konstante Menschen auf der Flucht und im Exil nicht gegeben war: „Aber diese
Voraussetzung der Lebenseinheit blieb uns, die wir von Umwelt zu Umwelt ge-
stoßen wurden, mißgönnt.“ Und stellt fest, dass die Kerben im Leben, wodurch
einzelne Lebensphasen getrennt sind, bei ihm „viel tiefer reichten als gewöhnlich“,
Transitorische Zeiterfahrung 217

so tief, dass nun die Zugehörigkeit der Phasen zum Leben als einem unspürbar,
sogar objektiv fraglich, geworden ist“ (Anders 1967: 64).
Auch der Begriff der Heimat hat seine Unteilbarkeit und damit gleichfalls den
Singular verloren, im Hin und Her des Exils ergaben sich verschiedene „Hei-
maten“, da es (so geht es dem Erzähler unmittelbar nach seiner Rückkehr aus
Süd-­Kalifornien) hier in New York „Ecken und Häuser und Lokale und Geräu-
sche und Gerüche gibt, die voll sind von Erinnerungen, sogar Erinnerungen an
unterdessen Gestorbene, weshalb „dieses Häusermeer zu einer meiner Heimaten
geworden [ist]. Jawohl, „Heimaten“ – im Plural“ (ibid,: 19). Doch die Begrüßungs-
rufe, die Hallos, die der Erzähler bei seinen ausgedehnten Spaziergängen in die
Häuserschluchten ruft, verhallen unbeantwortet, gehen in der Brandung der Stadt
unter (loc.cit.). Dazu erzählt er die Geschichte von dem molussischen Holzdieb
Panton, der sich einst dem Galgen entzogen, indem er sich durch die Wälder nach
Penx durchgeschlagen, dort dreißig Jahre unter falschem Namen gelebt hatte, zu
Ansehen und Familie gekommen war, dass er aber eines Tages denunziert und
nach Molussien zurücküberstellt wurde. Da die Vorbereitungen der Henker sich
hinzogen, verbrachte der Verurteilte eine volle Stunde auf dem Galgenberg in
Erwartung seiner Hinrichtung. Doch als er „den Strick über sich und die rötlich
in der Abendsonne schimmernde Stadt unter sich“ über der vor so langer Zeit
verlassenen Heimat stand,
Da er das Dächermeer, das er sich damals als letztes Bild der Welt eingeprägt hatte, von
neuem unter sich erblickte, da erfüllte ihn das Glück des Wiedersehens mit solcher Süße,
daß die Angst vor seinem Wiedersterbenmüssen keine Kraft mehr über ihn gewinnen
konnte. Wenn die Henkersknechte berichten, daß Pantons Gesicht, als er nun schließlich
hoch über seiner Heimatstadt baumelte, verklärt ausgesehen habe, so dürfen wir ihnen
vollen Glauben schenken (Anders 1967: 20).

Und in Abwandlung von Ciceros Ausspruch ubi bene, ibi patria (Tusc. 5, 108)
wiederholt der Erzähler formelhaft, „wohin du zurückkehrst, ibi patria […] und
von dem angeblichen ‚bene‘ hängt das überhaupt nicht ab.“ Doch ist es eben jenes
Erlebnis des Vertigo temporis, das den Erzähler davon wieder abrücken und in
Bezug auf seine Wiederkehr resümieren läßt: „Zuhause? Hier? Lächerlich. Hier
zu bleiben, unmöglich“ (ibid.: 20).

5
Die im Kapitel Vertigo temporis enthaltene Auseinandersetzung über Zeit und
Zeiterfahrung gibt Günther Anders als einen philosophischen Schriftsteller zu
erkennen, der sich ausdrücklich der Gegenwart zuwendet. Dass Anders sich selbst
nie als ‚reinen‘ Philosophen verstand, genauso wie er sich nicht einer philosophi-
218 Almut Constanze Nickel

schen Richtung zugeordnet sehen wollte, liegt nicht allein an seinem an keinem
systematischen Verfolg orientierten Philosophieren, sondern in einem gleichsam
nicht Umhin-­Können, persönlich Widerfahrenes wie auch das Entsetzen ange-
sichts der Zugehörigkeit zu einem Zeitalter, dessen technische Perfidie beispiellos
ist, als Signatur der Geschichtszeit erkennen lassen zu wollen.
Da die bloße Schilderung persönlicher Erfahrungen jedoch kein Gegenstand
der Philosophie sein kann, greift Anders das Erlebte als Phänomen auf, indem er
die Episoden retuschiert, thematisch montiert und mit dieser Textur von seiner
Person ablöst. Folgerichtig findet sich die Textsortenbezeichnung ‚Tagebuch‘ le-
diglich im Untertitel, während der Hauptitel in Anspielung auf alttestamentliche
Prophetie schon auf das Überpersönliche weist. Die Episode im Café ist ihm
Beweis dafür, „daß ‚früher‘ und ‚später‘ abgeschafft waren“ , „dass es nun aus
war mit der alten Ordnung“ (ibid.: 22). Gemeint ist die „zeitliche Ordnung „,
im Sinne einer Chronologie von Lebensstadien, und „Jeder Jahreszahl hatte eine
Welt sui generis entsprochen.“ Um das Durcheinanderkommen aller Ordnung
in der geschichtlichen Situation sprachlich zu verdeutlichen, entwirft Anders
paradoxe Tempora, die gleichsam die Verschmelzung im Bachtinschen Sinne
des Chronotopos darstellen, etwa ein Futur für Vergangenheit (Gewesenes noch
bevorstehend) oder eine Vergangenheit im Futur (Die beweinte Zukunft), und
reiht sich damit ein in die Literatur der Moderne mit ihren verzerrten Raum-­
Zeit-­B eziehungen.

Literatur
[Anders] Stern, Guenther 1948: „On the Pseudo-­Concreteness of Heidegger’s Phi-
losophy“, in: Philosophy and Phenomenological Research 8. 3 (1948): 337–371
Anders, Günther 1967: Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941–1966, München:
Beck
Anders, Günther 1978: Erzählungen. Fröhliche Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp
Anders, Günther 1984: Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur,
München: Beck
Günther Anders 1987: Obdachlose Skulptur. Über Rodin. Aus dem Englischen
übers. v. Werner Reimann, München: Beck
Marc Augé 1994: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit, Frankfurt a. M.: Fischer
Bachtin, Michail 1989: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur histori-
schen Poetik, Frankfurt a. M.: Fischer
Transitorische Zeiterfahrung 219

Bahr, Raimund (ed.) 2007: Zugänge – Günther Anders. Leben und Werk, Wien /
St. Wolfgang: Edition Art & Science
Bischof, Günter, Jason Dawsey & Bernhard Fetz (eds.) 2014: The Life and Work
of Günther Anders. Émigré, Iconoclast, Philosopher, Man of Letters, Innsbruck:
StudienVerlag
Bronfen, Elisabeth 1993: „Exil in der Literatur. Zwischen Metapher und Realität“,
in: Arcadia 28.1 (1993): 167–183
Lukács, Georg 1985: Über die Vernunft in der Kultur. Ausgewählte Schriften
1909–1969, Leipzig: Reclam
Liessmann, Konrad Paul (ed.) 1992: Günther Anders kontrovers, München: Beck
Omasta, Michael 2012: „Ein Wiener Café in New York. Eine Biographie widmet
sich dem großen jüdischen Entertainer Hermann Leopoldi“, in: Falter 17
(2012): 32
Schubert, Elke 1987: Günther Anders antwortet. Interviews und Erklärungen. Mit
einem einleitenden Essay v. Hans-­Martin Lohmann, Berlin: Edition Tiamat
Julia Augart (Windhoek)

Erinnerungsraum als Transitraum?


Zur literarischen Rauminszenierung Afrikas in Stefanie
Zweigs Kenia-­Romanen

Abstract: Stefanie Zweig has been one of the, if not the most successful and productive
German author of novels set in Africa; her novels have been feeding German readers’
longing for the continent. However, having grown up in the Kenya of the 1930s and 1940s,
Zweig’s own longing for and memories of Africa govern her mostly autobiographical works.
In other words, Zweig’s novels are a literary projection of her memories, thereby creating
a distinctive memory space. The literary imagery of this space oscillates between past and
present, Germany and Kenya, reality and imagination, and remembering and longing. In
recourse to Edward W. Said’s theory of the imaginative geography and Aleida Assmann’
Erinnerungsraum (memory space) this article will analyse selected novels by Zweig and
examine her portrayal of Africa. It further seeks to address the question how this literary
space of Africa can be read as a transit space.

1 Einleitung
Den Erfolg von Stefanie Zweigs Afrika- bzw. Kenia-­Romanen erklärt sich die
Autorin, die 2014 im Alter von 81 Jahren starb, mit der großen Afrika-­Sehnsucht
der Deutschen. Doch auch ihre eigene Sehnsucht prägt die meist autobiogra-
fisch zu lesenden Romane der Autorin, und Zweig kreiert ein eigenes Afrika-­Bild
und einen imaginativen Raum Afrika. Ihre Texte sind damit eine literarische
Inszenierung eines Erinnerungsraumes und eines imaginativen Raumes, der
für sie gleichzeitig auch Heimat ist bzw. wird. Dieser inszenierte Raum, der in
und durch Sehnsucht, aber besonders durch ihre Erinnerungen an ihre Kindheit
in Kenia geprägt und geformt ist, kann auch als Transitraum gedeutet werden.
Ihre Romane können als Übergang zwischen dem damals und dem jetzt, Kenia
und Deutschland, der Realität und der Imagination, zwischen Erinnerung und
Sehnsucht verstanden werden. Dies soll im Folgenden mithilfe Aleida Assmanns
Konzeption von Literatur als Erinnerungsraum und der imaginativen Geografie
Edward W. Saids anhand dreier ausgewählter Romane verdeutlicht werden. In
diesem Zuge soll auch auf die Verwendung des Begriffs Afrika eingegangen wer-
den und was dies für Stefanie Zweig bedeutet.
222 Julia Augart

2 Erinnerungsraum als Transitraum


Zum Thema Literatur und Erinnerung ist in den letzten Jahren viel gearbeitet
worden, gerade auch mit Blick auf (post)koloniale Literatur und Literatur als
Erinnerungsraum (cf. Neumann 2009, Rupp 2009:  181). In der literarischen
Raumforschung, so die Herausgeber von Afrika – Raum – Literatur, werde Afri-
ka allerdings vernachlässigt (Arich-­Gerz, Schmidt & Ziethen 2014: 14). Dieser
Beitrag zu Stefanie Zweigs literarischer Rauminszenierung Afrikas, in dem ein
ideelles Afrika als literarischer Erinnerungsraum und imaginative Geografie
gelesen wird und in dieser Beschaffenheit als Transitraum gesehen werden kann,
soll helfen, diese Vernachlässigung aufzuheben.
Aleida Assmann unterscheidet in ihrer Studie Erinnerungsräume die Begriffe
Erinnerung „vis“ und Gedächtnis „ars“. Letzteres ist für sie der Speicher oder
das Depot des Gedachten (Assmann 1999: 29), wohingegen „vis“ für den „Pro-
zess des Erinnerns“ steht (ibid.). Die Erinnerung und der Prozess des Erinnerns
ist nach Assmann rekonstruktiv, und „es kommt zu einer Verschiebung, Ver-
formung, Entstellung, Umwertung, Erneuerung des Erinnerten zum Zeitpunkt
seiner Rückrufung“ (ibid.). Damit ist Erinnerung – und das ist hinsichtlich der
Romane Stefanie Zweigs von Bedeutung – unberechenbar und eigengesetzlich
und bildet gerade auch in der Literatur Erinnerungsräume aus oder dient selbst
als Erinnerungsraum (ibid.). Das Schreiben ist, so Renate Lachmann, ein Akt
der Erinnerung und gleichzeitig eine neue Interpretation oder auch eine neue
Inszenierung (Lachmann 2008: 30, zitiert nach Rupp 2009: 185). Nach Edward
W. Said sind Raum und Erinnerung verbunden mit „invention“ (Said 2000: 175),
also der Erfindung oder Imagination. Durch diese „erfindende“ Imagination bzw.
Fantasie wird die „bloße[] Materialität der Erinnerung“ durch die „ideelle Pro-
duktion von Raum“ ergänzt (Rupp 2009:182). Die imaginative Geografie, den
Begriff prägte Said bereits in den 1970er Jahren in seinem Werk Orientalism be-
züglich kolonialer Raumzuschreibungen (cf. Said 2003: 49–51), zeigt damit „how
geography can be manipultated, invented, characterized quite apart from a site’s
mere physical reality“ (Said 2000: 180). Nach Birgit Neumann ist dies das „Pa-
radigma für all jene symbolischen Verfahren, mit denen Bedeutung auf Räume
und Landschaften projiziert werden“ (Neumann 2009: 119). Diese imaginierten
Geografien oder ideellen Räume in der Literatur präformieren sich durch kulturell
vorherrschende Raumkonzepte (Neumann 2009: 116) und bilden häufig kollekti-
ve Imaginationen (ibid.: 120) und in ihrer Verdichtung auch einen mythisierten
Raum (ibid.: 121). Die literarische Inszenierung des Raumes entsteht damit nicht
allein vor dem Hintergrund des außerliterarischen Raumes, sondern vor dem
Hintergrund kollektiver, aber auch eigener Imaginationen oder Erinnerungen, die
Erinnerungsraum als Transitraum? 223

nach Assmann unberechenbar und nach Said imaginativ sind. Damit ist die „Li-
teratur als Erinnerungsraum eine literarische Inszenierung von Gedächtnisorten“
(Rupp 2009: 182) einerseits und andererseits, so meine These, ist der idealisierte
Erinnerungsort ein Übergang zwischen dem tatsächlichen und einem fiktiven
Ort, zwischen materieller Realität und reiner Fantasie. Dieser idealisierte Er-
innerungsort, der auch für den Autor bestehen kann, indem er ideell und damit
auch emotional angereichert ist, ist ein Transitort oder Transitraum.

3 Stefanie Zweigs Kenia Romane und Afrika-­Bild


Stefanie Zweig, die nach der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutsch-
land ihre Kindheit im kenianischen Hochland verbrachte, ist nach Göttsche
die derzeit „erfolgreichste[] und produktivste[] Verfasserin deutschsprachiger
Afrika-­Romane“ (Göttsche 2003: 224) und hat maßgeblich zum Afrika-­Roman
der Unterhaltungsliteratur und damit zum literarischen Raum Afrika beigetragen.
Seit den 1980er Jahren hat Zweig insgesamt zwölf Kenia-­Romane mit unterschied-
lich ausgeprägten autobiografischen Zügen verfasst (cf. Augart 2014: 154–155).
Alle ihre Romane spielen in Kenia und beschäftigen sich mit Afrika, eine sehr
allgemeine Bezeichnung, die aber Zweig selbst immer wieder verwendet. Afrika
ist für Zweig einerseits Erinnerung, aber bedeutet für sie auch Heimat bzw. der
Begriff Afrika beschreibt ihre Suche nach der Heimat Afrika, die sie wie auch ihre
Protagonisten als Kind erlebt haben oder erleben. Ihre Romane thematisieren
damit ihre Sehnsucht nach Afrika, was aber, so Patrice Djoufack, „keineswegs
[aus] einer Sehnsucht nach Exotik oder einem in dichterischer Form verarbeiteten
Kolonialismus“ entsteht oder darauf zurückzuführen ist (Djoufack 2004: 46). Des
Weiteren wird das Leben in bzw. zwischen zwei Kulturen und zwei Räumen,
dem europäischen und afrikanischen Raum, dargestellt. Stefanie Zweigs aus der
Erinnerung geschaffene Heimat Afrika ist jedoch m. E. als ein Dazwischen zu
verstehen. Dieses Dazwischen ist der Transitraum, den sie in ihren Romanen
beschreibt und kreiert, der aus ihrer Sehnsucht nach einer Heimat resultiert.
Dies indiziert auch der Titel ihrer 2012 erschienenen Autobiografie Nirgendwo
war Heimat. Mein Leben auf zwei Kontinenten, was als Beschreibung für Zweigs
Oeuvre gelten kann.
Zweigs autobiografische Romane oder Romane mit autobiografischem Cha-
rakter schildern konkrete Orte in Kenia, die getreu abgebildet werden (Assmann
1999: 29), aber auch Zweigs Erinnerungen an und ihre Sehnsucht nach Afrika
spiegeln. Sie kreieren einen imaginativen Raum, der sich durch „Einlagerung
und Rückholung“ (ibid.) verschiebt, also transformiert, und durch Erinnerung
und Sehnsucht „manipuliert“ wird (Said 2000: 180). Sie stellen ein ideelles Afrika
224 Julia Augart

Stefanie Zweigs dar, das aber auch gängige kulturelle Raumdarstellungen Afrikas
reproduziert. Die Romane verstärken damit ein mythisches, häufig exotistisches
Bild Afrikas, gleichzeitig erfindet die Autorin in der durch Sehnsucht geprägten
Erinnerung einen ideell-­imaginativen Ort, einen Transitort. Im Folgenden werde
ich am Beispiel der Romane Nirgendwo in Afrika (1995), Wiedersehen mit Afrika
(1998) und …doch die Träume blieben in Afrika (2002) auf Stefanie Zweigs Afrika-
bzw. Kenia-­Darstellung eingehen.

3.1 „Nirgendwo in Afrika“
1995 veröffentlicht Zweig ihren wohl bekanntesten Roman Nirgendwo in Afrika,
der eine Kindheit im kolonialen Kenia mit stark autobiografischen Zügen und
Kenia aus einer „kindlichen Erlebnisperspektive“ (Göttsche 2003: 225) schildert,
die sich, um dies gleich vorwegzunehmen, zwar als „exotistische Faszination
durch Afrika“ (ibid.) auszeichnet, durch die Erzählperspektive aber „für die un-
voreingenommene Darstellung seiner Lebenswelten und für den interkulturellen
Dialog fruchtbar gemacht wird“ (ibid.). Die Verfilmung von 2001, die 2003 mit
einem Oscar ausgezeichnet wurde, wird auch von Rita Morrien als „Exemplum
eines gelungenen interkulturellen Dialoges gesehen“ (Morrien 2012: 272). Die
autobiografischen Züge werden dadurch verstärkt, dass die Protagonistin den
Zweitnamen der Autorin trägt. Der Roman beschreibt das Exil ihrer Familie
in Kenia während des Dritten Reiches. Weitere Erlebnisse und Ausschnitte der
Familie Redlich und insbesondere ihrer Tochter Regina werden in vier weiteren
Afrikaromanen aufgegriffen. Diese Folgeromane füllen damit Leerstellen, die der
erste Roman offen lässt (Augart 2014: 160). Diese Wiederaufnahme der Erzählung
und ihrer Lehrstellen indizieren einerseits die Sehnsucht der Autorin nach ihrer
Kindheit in Kenia, andererseits auch das Interesse ihrer Leser. In Nirgendwo in
Afrika erlebt bereits auf der ersten Seite des zweiten Kapitels – Kapitel eins ist
der Briefwechsel der Eltern –die Protagonistin, die fünfjährige Regina, bei ihrer
Ankunft Afrika als „Zauber“ (NiA 29), den sie mit weit geöffnetem Mund schluckt
und der alle „Müdigkeit und Schmerzen aus dem Körper trieb“ (NiA 29). Der
„große Zauber“ (NiA 33) beginnt mit Reginas Ankunft in Kenia (NiA 220), endet
aber nicht mit ihrer Abreise, denn „der Zauber ist noch da“ (NiA 362) und diese
„Begegnung verändert sie radikal“ (Djoufack 2004: 59). Wie ihre Romane belegen,
bleiben diese Veränderung und der „Zauber“ in Stefanie Zweigs Erinnerung bis
heute bestehen. Diesen zunächst und auch im Laufe des Romans wenig explizit
thematisierten Zauber kann man, so auch der Klappentext des Romans, als den
„Zauber Afrikas mit seinen Gerüchen, Farben, den wilden Tieren und den ur-
sprünglichen Menschen, die zu ihren Freunden werden“ (NiA, Klappentext) zu-
Erinnerungsraum als Transitraum? 225

sammenfassen. Dieses kollektive idealisierte bzw. mythisierte Afrika-­Bild, das


Stefanie Zweig immer wieder beschreibt, manifestiert sich bei ihr insbesondere
in der Sprache, den Sprachen Kenias Suaheli, Kikuyu und Dholuo, und in ihren
Empfindungen und Gefühlen für ihre Umwelt und ihre Menschen. Bei ihren
Eltern, für die Afrika bzw. Kenia nie zur Heimat wurde, beobachtet sie:
Deren Ohren hatten keine Freude am Regen, und ihre Füße wußten nichts vom neuen
Leben im Tau des Morgens. […] Von Ol‘ Joro Orok, das Regina in der Schule ‚home‘
nannte und in den Ferien ‚Zuhause‘ nannte, sahen beide nur die schwarzen Farben der
Nacht und nie die Menschen, die nur beim Lachen ihre Stimmen laut werden ließen
(NiA 135).

Die Freude am Regen wie auch an den Menschen und ihrem Lachen, also die
Aufnahme Kenias bzw. Afrikas über die Sinnesorgane sind Teil dieses Zaubers,
doch der Zauber greift auch auf Glauben und Rituale der Kenianer über, die Re-
gina adaptiert, die also von der Protagonistin übernommen werden (cf. NiA 218).
Diese Beispiele zeigen, dass der Zauber Afrikas darin liegt, dass Regina hier ihre
Heimat findet bzw. Afrika ihr ‚Zuhause‘ ist (cf. Djoufack 2004: 56). Ihre Eltern,
die ihre Heimat verloren haben, erliegen diesem Zauber nicht. Für die Eltern
liegt der Zauber in ihrer Heimat Deutschland und kann durch Sprachfloskeln
und geflügelte Worte, Sprache, die Zauber innehaben (NiA 205, 256), wie die
Protagonistin dies formuliert, evoziert werden. So wie die Eltern nur noch über
eine Imagination ihrer Heimat in den Erinnerungen verfügen, so werden auch
für Stefanie Regina Zweig die Imagination und ein imaginatives Afrika zu ihrer
Heimat, das sie in ihren Kenia-­Romanen beschreibt und gestaltet, „manipuliert“
durch ihre Erinnerung, aber auch durch ihre Sehnsucht nach Afrika.

3.2 „…doch die Träume blieben in Afrika“


In ihrem 1998 erschienenen Roman …doch die Träume blieben in Afrika formu-
liert Zweig ihren Afrika-­Zauber deutlicher. Der Roman erzählt von dem deut-
schen Anwalt Paul Merkel, der durch Midlife-­Krise und Depressionen im Leben
verunsichert, seinem Heimweh nach Kenia, dem Land seiner Kindheit, nachgeht.
Er sehnt sich nach „Afrikas schützendem Zauber“ (DDT 14) und reist heimlich –
seine Frau wähnt ihn bei einer Kur am Titisee am Schwarzwald – nach Kenia. Jah-
relang haben seine Safaris nur „im Kopf stattgefunden“ (DDT 69), doch nun will
er nach Samburu, wo er „ein Mensch gewesen“ (DDT 44) – wo er Kind gewesen
ist. Auf seiner Reise in den Norden nimmt er mehr und mehr die afrikanischen
Sprachmuster an, oder wie sein Fahrer und „schwarzer Sohn“ sagt, „es ist schön,
wenn deine Zunge auf Safari geht Papa Mzee!“ (DDT 183). Es sind die Gespräche
mit seinem Fahrer Gabriel, die ihm helfen, zurück und zu sich selbst zu finden. Es
226 Julia Augart

sind besonders die Sprache, die Sprache seiner eigenen Kindheit, die „herrliche[]
wirklichkeitsverbundene[] Sprache“ (DDT 234) und das „afrikanische Spiel von
der Ohnmacht der Worte und der Macht des Wissens, immer wieder neu, weil
die Stille jedes Mal in einer anderen Sprache redete“ (DDT 253). Paul fühlt sich
„verzaubert“ (DDT 240) und er ist „wieder ein Mann geworden“ (DDT 240). Mit
fortschreitender Safari ist er „nicht von Zweifeln und Depressionen [besessen],
[er] war nicht mehr auf der Flucht; er war ein Mann ohne Alter und Zukunft, der
Afrika nicht mit Augen sehen wollte, die deuteten und urteilten. Ihm reichte es,
das Land zu lieben.“ (DDT 197)
Das Afrika Paul Merkels und damit Stefanie Zweigs ist, so wird an einigen
Stellen ganz deutlich artikuliert, das „Paradies“ (DDT 255) und wird mit At-
tributen wie „Naivität, […] Harmonie und Lebendigkeit“ (DDT 151) versehen:
Afrika ist auch, so heißt es später, „Traum, Heimat, Erfüllung, die Wiege, der er
[Paul] nicht entkam, Magie, die ihn machtlos machte gegen Anstand und Pflicht
[…], die Harmonie einer Welt“ (DDT 261). Letztendlich führt es dazu, dass Paul
beschließt, für immer nach Kenia zurückzukehren und hier wieder neu anzufan-
gen. Ein Überfall auf ihn, bei dem ihn sein „schwarzer Sohn“ beschützt, aber
umkommt, und der Besuch seines tatsächlichen Sohnes aus Deutschland lassen
erahnen, dass nun auch ein Weiterleben in Deutschland möglich wird.
Der Roman, so lobt Göttsche, gehe über den Schematismus von Zweigs Motiv-
recylings hinaus (Göttsche 203: 226), die Ambivalenz von Exotismus und Inter-
kulturalität präge jedoch den Afrikadiskurs des Romans (ibid.: 227). Kenia bzw.
Afrika und die Sprache Suaheli sind für Paul Merkel aber ebenso wie für die
literarische Figur der Regina wie auch für die Autorin selbst Ort der Kindheit, Ort
der Zufriedenheit sowie des Glücks und damit Heimat. Die literarische Raum-
inszenierung Afrikas spiegelt allerdings stereotype Afrika-­Repräsentationen bzw.
kollektive Raumimaginationen wider und gestaltet damit einen ideellen Raum
Afrika. Der Protagonist, so heißt es im Roman, bewegt sich zwischen „d[er] Ver-
zweiflung der Vergangenheit und d[er] Angst vor der Zukunft“ (DDT 150), aber
auch zwischen „Traum und Wirklichkeit“ (DDT 100). Er oszilliert damit zwischen
zwei Räumen und bewegt sich in einer Art Übergangsraum oder Transitraum,
wie auch das Afrikabild zwischen Reellem und Ideellem einen Transitraum bildet.

3.3 „Wiedersehen mit Afrika“


Zweigs weitere Romane Karibu heißt willkommen (2000) und Wiedersehen mit
Afrika (2002) erzählen die Freundschaft des britischen Mädchens Stella und des
Kikuyu Mädchens Lilly im kolonialen Kenia und die Flucht Stellas nach Eng-
land während der Mau-­Mau Kämpfe, die zur Unabhängigkeit Kenias führen. In
Erinnerungsraum als Transitraum? 227

Wiedersehen mit Afrika (2002) erzählt Zweig die Rückkehr der jungen Frau Stella
nach Kenia in den 1970er Jahren, in das Land ihrer Kindheit, denn die Protago-
nistin möchte ihrem noch ungeborenen Kind eine ähnlich unbeschwerte Kindheit
ermöglichen, wie sie sie selbst erlebt hatte, und ihm die Werte ihrer afrikanischen
Heimat vermitteln. Allerdings muss sie feststellen, dass das postkoloniale Kenia
nicht mehr ihrem Traum des kolonialen Kenias entspricht und sie verlässt schließ-
lich – zusammen mit ihrer Tochter – das Land. Der Roman konterkariert, im
Kenia der 1970er Jahre, ein imaginatives Afrika der Protagonistin Stella, das sich
in vielem mit dem der Autorin deckt, mit einem kritischen realistischen Blick auf
das tatsächliche, moderne Kenia, was u. a. durch die inzwischen als Prostituierte
arbeitende Freundin personifiziert wird. Damit zeichnet Zweig ein anderes, ein
reales, kritisches und neues und nicht mehr idealisiert-­romantisches und auch
koloniales Bild Kenias. Dies kann meiner Meinung nach auch als eine eigene
kritische Auseinandersetzung der Autorin mit ihrem bis dahin bestehenden und
beschriebenen Afrika- bzw. Kenia-­Bild gesehen werden.
Der Raum Afrika, den sich die Protagonistin, wie bereits in den anderen
Romanen, als ihre Heimat imaginiert (WmA 26), motiviert sich in ihrer „Sehn-
sucht nach ihren afrikanischen Wurzeln und den Menschen Afrikas“ (WmA 62).
Die „afrikanische Welt“ (WmA 11) wird wiederum als „ursprüngliche Heiterkeit
von Menschen“ (WmA 11), als Zufriedenheit „mit den bescheidenen Verhält-
nissen (WmA 11), als „Kraft des Seins aus Afrikas Sonne und Erde“ (WmA 53)
beschrieben, in der die Protagonistin ihre „afrikanische[] Seligkeit“ (WmA 24)
wiederfindet. Es ist das „Paradies“, das sich aus der Natur, den Menschen und ihrer
Mentalität speist und letztendlich in der Sprache niederschlägt:
Die Fülle und die Unendlichkeit der Landschaft, die Farben bei Sonnenuntergang und
der Duft, der die Nase bis zum jüngsten Tag versklavte, betäubten Stellas Sinne […]. Die
Menschen, ihre Pfiffigkeit und Wendigkeit, ihr Charme, ihre Sprache mit den dunklen
Lauten und dem Witz der phantasievollen Redewendungen verzauberten Stella. Die
Ursprünglichkeit des Lebens gaukelte ihrem Herzen für immer Ruhe und Dankbarkeit
vor (WmA 62).

Es sind, so wiederholt die Autorin, die „Menschen, deren Sprache, Witz und
Phantasie sie bezauberten und deren Ursprünglichkeit, Gelassenheit, Lebensklug-
heit und Heiterkeit sie Tag für Tag aufs Neue beeindruckten“ (WmA 134). Ihrem
in Kenia geborenen Kind möchte die Protagonistin Stella „die Kraft der afri-
kanischen Wurzeln sichern, die naive Heiterkeit des Seins, die noch in den Tiefen
des Lebens tröstet und beschützt“ (WmA 53). Auch hier wird Afrika exotistisch
als Paradies dargestellt und ist mit stereotypen kollektiven Afrika-­Vorstellungen
verbunden. Dies ist jedoch nur möglich, weil, „Stella sich weigerte, den Graben
228 Julia Augart

zwischen Traum und Leben auszumachen“ und sie geht „ohne Furcht über den
schmalen Steg zwischen Wirklichkeit und Illusion“ (WmA 63). Dieser Steg, ein
Transitraum zwischen Wirklichkeit und Illusion, also zwischen tatsächlichem
und ideellem Raum begründet sich in „Stellas Sehnsucht nach Afrika“. Die „Nos-
talgie“, so die Erklärung im Roman, „hatte zu lange gewährt, um sie skeptisch in
Bezug auf die Gegenwart zu machen. Am Ziel ihres Traumes hatte sie kein Gespür
für die Unzufriedenheit der Menschen in Kenia“ (WmA 65). Erst später, fast zu
spät, begreift sie, „dass sie den falschen Göttern, ihren Illusionen vom Segen des
einfachen Lebens und einem Traum ohne Boden vertraut hatte“ (WmA 208).
Sie realisiert, dass sie einer Illusion, „von der nur sie noch glaubte, sie gliche der
zufriedenen, schönen, sanften makellosen Welt ihrer Kindertage“ (WmA 208),
gefolgt war und dass diese Illusion durch ihre Sehnsucht nach Afrika und nach
einer Heimat motiviert war. Der Freund ihres Vaters stellt die Gründe für ihre
Rückkehr ebenfalls in Frage und stellt fest, dass sich Stella „von ihren Wurzeln
nach Afrika hat zurücklocken lassen. In deine Heimat? In unsere Heimat? In
das Land, das es nicht mehr gibt oder vielleicht auch nie gab?“ (WmA 236). Er
hinterfragt damit nicht nur die Sehnsucht nach Afrika als Heimat, sondern auch
den imaginativen Raum Afrika. Göttsche sieht den Roman als „Abarbeitung
des kolonialen-­exotistischen Afrikabildes“ (Göttsche 2003: 226), er kann aber
auch als Abarbeitung eines idealisierten Afrikas und einer imaginierten Heimat
gesehen werden.

4 Zusammenfassung
Der Vater im autobiografischen Roman Nirgendwo in Afrika prophezeit seiner
Tochter zwar, dass sie die Farm in Kenia vergessen wird (NiA 308), doch dies
war Stefanie Zweig nie möglich, wie ihre Romane und die Wiederkehr von Kenia
als Heimat verdeutlichen. Ihre Romane können als Erinnerungsraum gelesen
werden, in denen Erinnerung als Trost empfunden wird, wie die Autorin in
Nirgendwo in Afrika ausführt (NiA 130). Anhand der drei ausgewählten Ro-
mane wurde gezeigt, dass Stefanie Zweig Afrika als Paradies, als Zauber und
verzaubernd zeichnet. Sie folgt damit kollektiv tradierten Vorstellungen und
stereotypen Semantisierungen des Raumes Afrika als Ursprünglichkeit, Zu-
sammenhalt, Harmonie und Zauber, wenngleich dies durch die häufig kindliche
Perspektive oder auch kritische Sichtweisen auf das postkoloniale Kenia/Afrika
mehrfach gebrochen wird. Alle drei Romane, so wird deutlich, thematisieren
das Dazwischen ihrer Protagonisten, was im Roman Wiedersehen mit Afrika
zwischen Wirklichkeit und Illusion verortet wird. Die Romane stellen Kenia bzw.
Afrika aber auch als Ort der Sehnsucht und Heimat dar, der aus der Erinnerung
Erinnerungsraum als Transitraum? 229

und Imagination entsteht. Zusammen mit den gängigen Zuschreibungen bilden


die Romane Stefanie Zweigs ein Afrika-­Bild zwischen Realität und Imagination.
Ihr imaginativer Raum wird durch Erinnerung und Emotion idealisiert und
über Empfindungen und Sprache transportiert oder auch kreiert. Sprache kann
hier aber nicht im Sinne Assmanns als die Erinnerung beschreibendes Element
verstanden werden (cf. Assmann 1999: 250), sondern als auditiver Effekt, der
durch Klang und sprachliche Bilder Erinnerungen und Sehnsucht auslöst. Zweig
kreiert ihr eigenes Afrika-­Bild u. a. durch eine Sprache, die afrikanische Sprach-
muster suggeriert (Augart 2014: 155), wobei diese allerdings durch „Selbstwie-
derholungen“ die „Afrikadarstellungen zunehmend in literarischer Rhetorik
erstarren lassen“ (Göttsche 2003: 226). So können Stefanie Zweigs Romane als
Erinnerungsraum gelesen werden, der von ihrer eigenen Sehnsucht nach Afrika
einerseits und nach einer Heimat andererseits geprägt wird, und sich im Über-
gang zwischen materiellem und ideellem Raum verorten lässt. So wie sich ihre
Protagonisten immer wieder in einem Dazwischen bewegen, kann auch Stefa-
nie Zweigs literarischer Erinnerungsraum Afrika als Transitraum verstanden
werden. Ich möchte so weit gehen zu sagen, dass die Inszenierung Afrikas in
vielen Unterhaltungsromanen, nicht nur denen Stefanie Zweigs, einen solchen
kollektiven Transitraum Afrika zugleich festschreibt und mythisiert.

Literatur
Arich-­Gerz, Bruno & Kira Schmidt & Antje Ziethen (eds.) 2014: Afrika – Raum –
Literatur / Africa – Space – Literature. Fiktionale Geographien / Fictional Geo-
graphies, Remscheid: Gardez
Assmann, Aleida 1999: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kul-
turellen Gedächtnisses, München: Beck
Augart, Julia 2014: „Kenia in der deutschen Literatur. Ein Überblick über die ver-
schiedenen Werke und ihre Relevanz hinsichtlich einer interkulturellen Ger-
manistik (in Kenia)“, in: Shaban Mayanja & Eva Hamann (eds.) 2014: Schwer-
punkte der DaF-­Studiengänge und Germanistik im östlichen Afrika (Bd. 91
Deutsch als Fremdsprache), Göttingen: Universitätsverlag Göttingen, 149–170
Djoufak, Patrice 2004: „‚Ich habe aus meiner alten Heimatsprache übersetzt. Sua-
heli‘. Interkulturalität und Übersetzung bei Stefanie Zweig“, in: Weltengarten.
Deutsch-­Afrikanisches Jahrbuch für Interkulturelles Denken (2004): 45–64
Göttsche, Dirk 2003: „Zwischen Exotismus und Postkolonialismus. Der Afrika-­
Diskurs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, in: M. Moustapha Di-
allo & Dirk Göttsche (eds.) 2003: Interkulturelle Texturen. Afrika und Deutsch-
land im Reflexionsmedium der Literatur, Bielefeld: Aisthesis 2003: 161–244
230 Julia Augart

Hallet, Wolfgang & Birgit Neumann (eds.) 2009: Raum und Bewegung in der Li-
teratur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript
Morrien, Rita 2012. „‚Afrika mon amour?‘ – Der Afrika-­Diskurs im populä-
ren deutschen Spielfilm“, in: Michael Hofmann & Rita Morrien (eds.) 2012:
Deutsch-­afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kul-
turwissenschaftliche Perspektiven, Amsterdam: Rodopi 2012, 254–284
Neumann, Birgit 2009: „Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonia-
ler Literatur: Raumkonzepte der (Post-) Kolonialismusforschung“, in: Hallet &
Neumann (eds.) 2009: 115–137
Rupp, Jan 2009: „Erinnerungsräume in der Erzählliteratur“, in: Hallet & Neumann
(eds.) 2009: 181–194
Said, Edward W. 2000: „Invention, Memory, and Place“, in: Critical Inquiry 26.2
(2000): 175–192
Said, Edward W. 2003 [1978]: Orientalism, London: Penguin Classics
Zweig, Stefanie 1997 [1995]: Nirgendwo ist Afrika, München: Heyne [NiA]
Zweig, Stefanie 2004 [2002]: Wiedersehen mit Afrika, München: Heyne [WmA]
Zweig, Stefanie 2007 [1998]: …doch die Träume bleiben in Afrika, München:
Heyne [DDT]
Yoshito Takahashi (Kyoto)

Rousseau und Goethe im Transit zwischen


Offenbarungs- und Naturreligion

Abstract: The number of people believing in “original sin” nowadays is – even among
Christians – quite small. However, when J. J. Rousseau first published his Emile, or On
Education in 1762, an arrest warrant was issued forcing him into exile. Soon others also
began to question the idea of the “original sin” and faced the accusation of being a Pelagian,
an arch enemy to Augustine. In the German speaking countries, Goethe was amongst those
to follow Rousseau’s example. Taking up the idea of nature religion, Goethe hoped to rec-
oncile the three revelation religions, i.e. Judaism, Christianity and Islam, and to strengthen
world peace. A criticism of the idea of the “original sin” can be found in Wilhelm Meister’s
Apprenticeship, in which the harper is tormented by the consciousness of having sinned.
After slowly understanding the sinful character of his incestuous relationship, he falls into
a state of depression and eventually commits suicide – becoming thereby a tragic victim
of Christianity’s “culture of sin”.

Als J. J. Rousseau 1762 Emile oder über die Erziehung veröffentlichte, wurde dieses
Buch sofort polizeilich beschlagnahmt. Da Haftbefehl gegen Rousseau erlassen
worden war, musste er in seine Heimat, die Schweiz, fliehen. Aber auch in Genf
wurde Emile öffentlich verbrannt und es wurde befohlen, Rousseau zu verhaften.
Danach gewährte ihm zwar Friedrich der Große für eine Weile Schutz im preu-
ßischen Neuenburg und David Hume lud ihn nach England ein, doch musste er
lange Jahre im Exil leben.
In Emile behauptete Rousseau, dass die menschliche Natur eigentlich gut und
unschuldig sei, was Christophe de Beaumont, den Erzbischof von Paris, empörte,
da dieser recht gut begriff, dass dieses Werk damit einen Einwand gegen die
christliche Lehre von der Erbsünde erhob (cf. Cassirer 2004: 37).
Rousseaus Exil kann als eine Art Reise in einen Transitraum betrachtet werden,
einen Zwischenraum zwischen der christlichen Orthodoxie, die Erbsünde und
Erlösung als Einheit begreift, und dem pelagianischen Christentum, das die Erb-
sünde verneint und den Menschen so, wie er ist, bejaht. Rousseau war gezwungen,
in diesem unsicheren Raum zu verweilen, und konnte sein Ideal „Zurück zur
Natur!“ in der realen Gesellschaft nicht verwirklichen.
Jedoch wurde Rousseaus Lehre ohne sein Wissen in Deutschland von nicht
wenigen enthusiastisch aufgenommen, u. a. von Kant, Herder und Goethe. Vor
allem für Goethe trug der Emile dazu bei, sein pelagianisches Verständnis des
232 Yoshito Takahashi

Christentums zu stärken und weiter zu entwickeln. Die vorliegende Untersuchung


behandelt diesen religiösen Transitraum, der von Rousseau über Goethe bis ins
heutige Europa reicht.

1
Die meisten Japaner glauben, dass die menschliche Natur gut ist, und dass, wenn
man nur den Anderen mit liebevollem Gefühl begegnet, in eines jeden Inneren
ein gutes Herz zum Vorschein kommt. Gerade deshalb ist das Christentum für
uns Japaner schwer zu verstehen. In The Chrysanthemum and the Sword (1946)
bezeichnete Ruth Benedict die japanische Kultur als eine „Kultur der Scham“ und
stellte sie der europäischen „Kultur der Sünde“ gegenüber: „True shame cultures
rely on external sanctions for good behavior, not, as true guilt cultures do, on an
internalized conviction of sin“ (Benedict 1954: 223; cf. Ringleben 1976).
Japaner – so Benedict – fragen fast immer danach, wie sie von den anderen
wahrgenommen werden, deshalb sind sie nicht selbstständig und folglich nicht
individualistisch. Doch wenn man den Individualismus wie Sokrates oder Michel
Foucault im Sinne der „Sorge um sich“ versteht (cf. Foucault 1989), können die
Japaner durchaus als ‚individualistisch‘ angesehen werden, da sie stets danach
trachten, sich zu einer edlen Person ohne Scham zu entwickeln. Insofern ist Be-
nedicts Auffassung also nicht zutreffend. Dennoch ist richtig, dass der abendlän-
dische und der japanische Individualismus von ganz anderer Art sind.
Gerade so, wie Benedict die japanische ‚Kultur der Scham‘ nicht wirklich ver-
stehen konnte, ist die ‚Kultur der Sünde‘ für uns Japaner fast unmöglich zu be-
greifen. Vor allem ist für uns das Konzept der ‚Erbsünde‘ kaum nachvollziehbar.
Die Vorstellung, dass der Mensch von Geburt an die ‚Erbsünde‘ in sich trägt
und deshalb nicht einmal als neugeborenes Kind rein ist, können sogar viele
japanische Christen nur schwer akzeptieren.
Die theologische Doktrin der ‚Erbsünde‘ wurde vor allem von Augustinus
(354–430) ausgearbeitet, während Pelagius (ca. 390–418) und seine Schüler sie
heftig bekämpften. Sie behaupteten immer wieder, Gott habe nicht nur die ersten
Menschen gut erschaffen, sondern noch immer trete jeder Mensch sündlos ins
Dasein, und sie rieten zum Beweis, das Lächeln eines arglosen Babys zu betrach-
ten, in dem niemand die ‚Erbsünde‘ finden könne.
Das ist auch die Ansicht der meisten Japaner. Selbst viele japanische Christen
werden wohl die pelagianische Sichtweise unterstützen. Nicht nur unter Japanern,
sondern auch unter Europäern gab es stets solche, die dem Pelagianismus heim-
lich zustimmten, unter ihnen z. B. Rousseau und Goethe.
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 233

Da Rousseau sich bewusst war, dass der Pelagianismus von der katholischen
Kirche als häretisch verdammt wurde, schrieb er den Emile mit großer Vorsicht,
vermied das Wort ‚Erbsünde‘ und publizierte das Buch zunächst nicht im katho-
lischen Frankreich, sondern im protestantischen Holland. Dem Drängen seiner
optimistischen Freunde folgend, ließ er es aber letzten Endes dann doch auch in
Paris drucken.
Allerdings wurden seine ursprünglichen Bedenken nur zu bald bestätigt. Kurz
nach Erscheinen des Emile befahl das Pariser Parlament, das Buch zu verbrennen
und den Verfasser zu verhaften. Die Stelle, die das Parlament besonders empörte,
war das „Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars“, wo es u. a. heißt:
O Mensch, suche nicht mehr nach dem Urheber des Übels; dieser Urheber bist du selbst.
Es gibt kein anderes Übel als das, was du tust oder erleidest, und beides kommt dir von
dir selbst. Das allgemeine Übel kann nur in der Unordnung liegen, und ich sehe im Welt-
system eine Ordnung, die sich absolut nicht verleugnet. Das Einzelübel liegt nur in der
Empfindung des Wesens, das es erleidet; und diese Empfindung hat der Mensch nicht
von der Natur empfangen, er hat sie sich selbst gegeben. Der Schmerz hat wenig Gewalt
über den, der weder Erinnerung noch Voraussicht kennt, da er wenig nachgedacht hat.
Nimm unsre verhängnisvollen Fortschritte weg, nimm unsre Irrtümer und Laster weg,
alles Menschenwerk, und alles ist gut (Rousseau 2012: 576).
Gewissen! Gewissen! göttlicher Instinkt, unsterbliche und himmlische Stimme, sicherer
Führer eines unwissenden und beschränkten, aber vernünftigen und freien Wesens;
unbestechlicher Richter über das Gute und das Böse; du, der du den Menschen Gott
ähnlich machst, du gibst seiner Natur die Vollkommenheit und seinen Handlungen die
Moralität (ibid.: 593).
[…] welch süßere Glückseligkeit gibt es als die, sich in ein System eingeordnet zu sehen,
wo alles gut ist? (ibid.: 597).
[…] warum werfen wir dem Schöpfer aller Dinge die Übel vor, die wir uns bereiten, und
die Feinde, die wir gegen uns selbst bewaffnen? (ibid.: 598).

Derartige Glaubensbekenntnisse sind dem pelagianischen Denken zweifelsohne


sehr ähnlich, welches davon ausging, dass der Mensch, der wesentlich gut sei,
ohne Hilfe der Gnade, wie sie Augustinus betonte, mit seinem freien Willen das
Gute leisten könne. Die Kritik von Pelagius richtete sich vor allem darauf, dass
Augustins Lehre von der Erbsünde unnötigerweise das Böse in die menschliche
Welt bringe und darin dem Manichäismus oder Gnostizismus verwandt sei. Das
entspricht weitgehend der Auffassung Rousseaus: Vertraue doch dem Menschen,
seiner guten Natur! Zwar tut er manchmal das Böse, aber nur deshalb, weil seine
eigentlich gute Natur durch die Gesellschaft verbildet wird.
234 Yoshito Takahashi

Die Lehre, dass die menschliche Natur gut sei, für die Rousseau und die Pela-
gianer eintraten, stand in schroffem Gegensatz zur Meinung Augustins: Da der
Mensch, wie er meinte, die Erbsünde in sich trage, sei die Kraft seiner Vernunft
schwach. Deshalb unterliege er sehr leicht der Begierde und könne so eine Übeltat
begehen. Im Hintergrund dieses Gedankens stehen auf der einen Seite seine per-
sönlichen Erfahrungen, dass er selber in seiner Jugend nicht selten von sexuellen Be-
gierden getrieben wurde, auf der anderen Seite ist aber auch zu berücksichtigen, dass
er ein genauer Beobachter der moralischen Verdorbenheit der späten Antike war.
Von Augustins Gesichtspunkt aus betrachtet, scheint die Lehre von Pelagius
oder Rousseau, dass alle Menschen eigentlich gut seien, völlig falsch zu sein, da
für ihn dieses Prinzip es unmöglich macht, die Menschen zur Erlösung führen zu
können. Hätte jedoch der Pelagianismus im Christentum eine orthodoxe Stelle
gewonnen, würde sich der Mensch vielleicht nicht zu einem feindseligen, sondern
zu einem vertrauenswürdigen Wesen entwickelt haben, wodurch die europäische
Geschichte einen ganz anderen Weg genommen haben könnte. Augustinus zu-
folge ist eine derartige optimistische Aussicht nicht möglich, was seine aggressive
Haltung gegenüber Pelagius erklärt. Pelagius war aber eine Person von edlem und
lauterem Charakter und selbst der Papst, vor dem Augustinus Pelagius hartnäckig
anklagte, tat sich lange schwer, ihn als Ketzer zu sehen. Erst das Konzil 418 in Kar-
thago verurteilte schließlich den Pelagianismus eindeutig als häretisch. Bei dieser
Gelegenheit wurde auch das die folgende europäische Geschichte bestimmende
Dogma festgelegt, dass jeder Mensch die Erbsünde in sich trage und deshalb ohne
die Gnade Gottes nicht erlöst werden könne.
Man darf nicht vergessen, dass die Entwicklung der Lehre von der Erbsünde
mit dem politischen Sieg des Augustinus über den Pelagianismus einherging und
seitdem zu einer ‚Wahrheit‘ in der europäischen Kultur wurde. Nach Michel Fou-
cault, der eine „Politik der Wahrheit“ vorschlägt (cf. Foucault 1999: 133 f.; Fou-
cault 2004: 15, 398), geht es hier nicht um die Frage, was ‚Wahrheit‘ ist, sondern
darum, wer die Wahrheit festlegt. Von daher ist klar, dass die Erbsünde nichts
anderes als eine von Augustinus aufgestellte ‚Wahrheit‘ ist. Im 5. Jahrhundert
standen sich zwei Wahrheiten feindlich gegenüber, die von Augustinus und die
von Pelagius. Die erstere siegte politisch, die Wahrheit des Siegers vertrieb die des
Besiegten und dominiert seither die europäische Kultur.
Rousseau dagegen stellte sich auf die Seite des Pelagius und lehnte Augustins
Lehre von der Erbsünde strikt ab. Über die Gründe für das Verbot des Emile
sind verschiedene Vermutungen geäußert worden. Unter ihnen ist die Ansicht
Cassirers am überzeugendsten, dass die im Emile implizit enthaltene Wendung
gegen die Lehre von der Erbsünde wohl die entscheidende Ursache war.
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 235

Was Rousseau [….] ein für allemal von allen traditionellen Glaubensformen trennt: das
ist die Entschiedenheit, mit der er jeden Gedanken an eine ursprüngliche Verschuldung
des Menschen verwirft. Hier konnte es keine Verständigung und keine Versöhnung
geben: Denn das Dogma der Erbsünde steht im 17. und 18. Jahrhundert im Mittel-
punkt und im Brennpunkt der katholischen und der protestantischen Glaubenslehre.
[….] Die Kirche selbst hat sich über dieses Verhältnis nicht getäuscht: Sie hat mit voller
Klarheit und Sicherheit sofort den entscheidenden Punkt herausgehoben. Das Mandat,
in welchem Christoph von Beaumont, Erzbischof von Paris, den „Émile“ verdammt, legt
auf Rousseaus Bestreitung der Erbsünde das stärkste Gewicht. Die Behauptung, daß die
ersten Bewegungen der menschlichen Natur stets unschuldig und gut seien, stünde in
schroffstem Gegensatz zu allem, was die Heilige Schrift und die Kirche über das Wesen
des Menschen lehrten (Cassirer 2004: 37 [Hervorhebung Y.T.]).

Emile wurde in Frankreich verboten und man befahl, Rousseau auszuweisen oder
zu verhaften. Aus diesem Grund musste er etwa zehn Jahre lang in der Schweiz,
in Deutschland und in England ein Leben im Exil führen. Dieses ruhelose Leben
steigerte seine zwanghafte Einbildung, dass er immer von irgendjemandem be-
obachtet oder verfolgt werde, was ihm die Nerven zerrüttete und ihn schließ-
lich in den Verfolgungswahn trieb. So wurde er sogar in England, wo man ihn
mit offenen Armen willkommen hieß, von der Vorstellung gequält, dass er von
Spionen verfolgt werde, und musste den Aufenthalt bei Hume, seinem großen
Freund, abbrechen.
Pelagius soll, nachdem seine Lehren 418 auf dem Konzil in Karthago als hä-
retisch verurteilt worden waren, von einem Schüler Augustins ermordet oder in
den Osten verjagt worden sein. Rousseau wurde zum Exilleben gezwungen und
musste seine letzten Lebensjahre in Einsamkeit und Unglück verbringen. Auf
der Flucht vor einer als lügenhaft empfundenen Religion schlug Rousseau ein
Transitmodell europäischen Denkens vor, das aber zu seinen Lebzeiten nicht zu
verwirklichen war.

2
Im Exil lernte Rousseau Zeitgenossen wie Hume u. a. kennen, die ihm freundlich
gesinnt waren. Mit vielen anderen, die seine Theorien ebenfalls positiv bewerte-
ten, konnte er zwar nicht persönlich in Kontakt treten, aber sie fanden in seinen
Werken einen wichtigen Leitfaden für ihr Leben. Unter ihnen befand sich auch
Goethe. Wie Rousseau war er Pelagianer und gegen die Lehre von der Erbsünde.
Dennoch wurde er nicht gerichtlich belangt, weil der deutsche Sprachraum, in
dem er lebte und publizierte, nicht überwiegend katholisch war. Obwohl auch
der Protestantismus an der Vorstellung der Erbsünde festhielt, führte das Be-
236 Yoshito Takahashi

streiten dieser Lehre doch nicht gleich zu einer Verhaftung. Daher wurde der
Emile in Deutschland stärker als in Frankreich rezipiert und oft enthusiastisch
aufgenommen.
Unter den deutschen Dichtern, die von Rousseau beeinflusst wurden, könnte
man z. B. Lessing, Wieland, Jacobi, Kant, Herder und Fr. Schlegel nennen, aber
bezüglich des Themas „Rousseau in Deutschland“ (cf. Jaumann 1994) ist Goethe
zweifellos am wichtigsten. Bekanntlich setzte sich Goethe von Jugend an mit
Rousseau auseinander: Der Werther wäre ohne Rousseaus Nouvelle Héloïse, die
Idee der ‚pädagogischen Provinz‘ in den Wanderjahren ohne Emile und Dichtung
und Wahrheit ohne die Confessions so nicht möglich gewesen.
Obwohl Rousseaus Einfluss auf Goethe ganz deutlich ist, erwähnt Goethe ihn
nur an wenigen Stellen,1 und zwar einmal in seinem naturwissenschaftlichen
Aufsatz Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (1830), in
dem er Rousseaus Lettres éleméntaires sur la Botanique sehr positiv anführt, und
einmal im 14. Kapitel von Dichtung und Wahrheit, in dem er dokumentiert, welch
großen Eindruck Rousseaus Emile auf seinen Freund Klinger machte:
Einem solchen Jüngling [Klinger] mußten Rousseau’s Werke vorzüglich zusagen. Emil
war sein Haupt- und Grundbuch. […] Denn auch er war ein Kind der Natur, auch er
hatte von unten auf angefangen. […] und so konnte er für einen der reinsten Jünger
jenes Naturevangeliums angesehen werden, und in Betracht seines ernsten Bestrebens,
seines Betragens als Mensch und Sohn, recht wohl ausrufen: alles ist gut, wie es aus den
Händen der Natur kommt! – Aber auch den Nachsatz: alles verschlimmert sich unter den
Händen der Menschen! drängte ihm eine widerwärtige Erfahrung auf. Er hatte nicht mit
sich selbst, aber außer sich mit der Welt des Herkommens zu kämpfen, von deren Fesseln
der Bürger von Genf [d. h. Rousseau] uns zu erlösen gedachte (Goethe 1986b: 657).

Hier wird Klinger als Rousseau-­Anhänger geschildert, aber auch Goethe selber
ist als Schüler Rousseaus anzusehen. Kurz nach dem obigen Zitat heißt es:
Was mich nämlich von der Brüdergemeine sowie von andern werten Christenseelen ab-
sonderte, war dasselbige, worüber die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung geraten
war. Ein Teil behauptete, dass die menschliche Natur durch den Sündenfall dergestalt
verdorben sei, dass auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste Gute an ihr zu
finden, deshalb der Mensch auf seine eignen Kräfte durchaus Verzicht zu tun, und alles

1 Hinsichtlich dessen, warum es Goethe vermied, sich über Rousseau direkt zu äußern,
vermutet Jost Schneider, „daß Rousseau ab 1793 in der deutschsprachigen Publizistik
nicht nur allgemein zu den geistigen Vätern der Französischen Revolution, sondern
unter Anknüpfung an das von Voltaire, Diderot und Edmund Burke gezeichnete, sehr
negative Rousseau-­Bild zu den direkten Gewährsleuten Robespierres und damit zu den
Wegbereitern der Schreckensherrschaft gerechnet wurde“ (Schneider 1998: 926).
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 237

von der Gnade und ihrer Einwirkung zu erwarten habe. Der andere Teil gab zwar die
erblichen Mängel der Menschen sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen
gewissen Keim zugestehen, welcher, durch göttliche Gnade belebt, zu einem frohen Baum
geistiger Glückseligkeit emporwachsen könne. Von dieser letzteren Überzeugung war
ich aufs innigste durchdrungen, ohne es selbst zu wissen, obwohl ich mich mit Mund
und Feder zu dem Gegenteile bekannt hatte; aber ich dämmerte so hin, das eigentliche
Dilemma hatte ich mir nie ausgesprochen. Aus diesem Traum wurde ich jedoch einst
ganz unvermutet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, höchst unschuldige Mei-
nung in einem geistlichen Gespräch ganz unbewunden eröffnete, und deshalb eine große
Strafpredigt erdulden musste. Dies sei eben, behauptete man mir entgegen, der wahre
Pelagianismus, und gerade zum Unglück der neueren Zeit wolle diese verderbliche Lehre
wieder um sich greifen. Ich war hierüber erstaunt, ja erschrocken. Ich ging in die Kirchen-
geschichte zurück, betrachtete die Lehre und die Schicksale des Pelagius näher, und sah
nun deutlich, wie diese beiden unvereinbaren Meinungen durch Jahrhunderte hin und
her gewogt und von den Menschen, je nachdem sie mehr tätiger oder leidender Natur
gewesen, aufgenommen und bekannt worden (ibid.: 690 f.).

Wie Rousseau glaubte also auch Goethe daran, dass die menschliche Natur gut
sei, und lehnte damit die Vorstellung der Erbsünde ab. Dadurch setzte er sich dem
Vorwurf aus, Pelagianer zu sein, Anhänger einer Lehre, die nach Ansicht der Ver-
treter der christlichen Kirchen „zum Unglück der neueren Zeit […] wieder um
sich greife[ ]“. Hinter diesem Vorwurf stand die Furcht, dass der Pelagianismus
durch die Schriften Rousseaus, Humes und anderer wieder aufleben könne.
Der Titel von Humes Schrift Dialoge über natürliche Religion (Dialogues con-
cerning Natural Religion) enthält bereits einen Hinweis darauf, dass der Pelagia-
nismus seit dem 17. Jahrhundert immer wieder mit der natürlichen Religion
(oder Naturreligion) in Zusammenhang gebracht wurde. Im „Glaubensbekenntnis
des Savoyischen Vikars“ preist Rousseau die natürliche Religion (cf. Rousseau
2012: 601 f.), worauf das Pariser Parlament in seiner Anklagerede mit äußerster
Ablehnung reagierte: „Unserem Urteil nach besteht die Absicht des Buches darin,
alles auf die natürliche Religion zurückgehen zu lassen. Um dieses kriminelle
System zu entwickeln, überdenkt der Verfasser die Art und Weise der Erziehung
und versucht sie an seinem Schüler.“2
‚Naturreligion‘ und ‚Offenbarungsreligion‘ sind Begriffe, über die man im 17.
und 18. Jahrhundert als Gegensatzpaar heftig diskutierte, deren Ursprung aber in
der auf dem ‚lumen naturale‘ basierenden mittelalterlichen Naturtheologie liegt,

2 Dieses Zitat ist meine Übersetzung aus dem japanischen Aufsatz von Hideo Nagaya:
„Emiru ni taisuru Saiban oyobi Ken-­etsu“ [Emile und dessen Gerichtsprozess und
Zensur], in: Nagoya-­Daigaku Tetsugaku-­Ronshu [Sammlung der philosophischen Auf-
sätze der Universität Nagoya] 1 (1989): 3.
238 Yoshito Takahashi

die z. B. in der Summa Theologica [ST] des Thomas von Aquin (ca. 1226–1274)
behandelt wird. Für Thomas bildeten die beiden Begriffe keinen Gegensatz. In
seiner Untersuchung über das Erkenntnisvermögen der Engel (ST I, 62,1 ad 3)
stellt er den Zusammenhang der Begriffe folgendermaßen dar:
Der Engel hat eine doppelte Erkenntnis des WORTES, eine auf Grund der Natur und
eine auf Grund der Herrlichkeit; die natürliche, wodurch er das WORT erkennt durch
dessen Ähnlichkeit, welche in seiner Natur aufleuchtet; die Erkenntnis der Herrlichkeit
aber, wodurch er das WORT durch dessen Wesenheit schaut (Aquin 1936: 315 f.).

Ersteres entspricht der Natur- und Letzteres der Offenbarungsreligion im Ver-


ständnis späterer Zeiten. Thomas zufolge bildet jene die erste (unvollkommene)
und diese die zweite (vollkommene) Stufe der Erkenntnis.
Im England des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die beiden als ‚Naturreli-
gion‘ (natürliche Religion) und ‚Offenbarungsreligion‘ (geoffenbarte Religion)
bezeichnet, und fanden so auch den Weg in den Diskurs auf dem Kontinent. In
der Offenbarungsreligion spielt das Wunder eine große Rolle. Je mehr aber in
neueren Zeiten der Zweifel an Wundern wuchs, desto höher wurde die Natur-
religion geschätzt. Edward Herbert, First Baron Herbert of Cherbury (1583–1648)
veröffentlichte 1624 sein bekanntes Werk De Veritate. Er verneinte darin die Lehre
von der Erbsünde, stellte die Naturreligion dem ‚blinden‘ Glauben der Offen-
barungsreligion gegenüber und behauptete, dass man der göttlichen Wahrheit
erst durch die natürliche Natur im menschlichen Inneren gewahr werde. Ebenso
war David Hume fest davon überzeugt, dass die Naturreligion die wahre Religion
sei, hatte jedoch nicht den Mut, sein Buch Dialoge über natürliche Religion zu
seinen Lebzeiten zu publizieren. Hume, der Rousseau nach England eingeladen
hatte, fürchtete sehr, dass er, obwohl im protestantischen England lebend, doch
das gleiche Schicksal wie Rousseau erleiden müsse, wenn er sich von der Offen-
barungsreligion abwenden würde.
In der Naturreligion ist mit ‚Natur‘ die menschliche ‚natürliche Natur‘ ge-
meint. Für Herbert und Hume bedeutete die ‚natürliche Natur‘ die Vernunft. Für
Shaftesburry (1671–1713) und Rousseau hingegen war sie nichts anderes als das
innere Gefühl oder Gemüt. In Deutschland, wo man der Naturreligion gegen-
über nicht so streng eingestellt war, gab es einerseits Theisten, die die natürliche
Natur als Vernunft begriffen, und andererseits solche, die unter ihr das Gemüt
verstanden. Lessing und Kant gehörten zur ersteren, Schleiermacher zur letzteren
Gruppe. Hegel, dessen ‚absoluter Geist‘ auch eine Art natürlicher Natur war, stand
zwischen den beiden Gruppen (cf. Iida 1997). Schelling, der Rivale Hegels, bejahte
dagegen die Lehre von der Erbsünde und unterstützte dementsprechend in seiner
Philosophie der Offenbarung (1854) die Offenbarungsreligion: „Ich habe den Be-
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 239

griff der natürlichen – sich natürlich erzeugenden – Religion für die Mythologie
vindicirt und die natürliche Religion in diesem Sinn der geoffenbarten entgegen-
gesetzt“ (Schelling 1858: 189 f.).
In solch einer Zeit waren viele unsicher, ob sie sich der Natur- oder der Offen-
barungsreligion zuwenden sollten. Als sich Goethe in Dichtung und Wahrheit mit
dem Problem auseinandersetzte, meinte er mit dem „Historisch-­Positiven“ die
Offenbarungsreligion und mit dem „Deismus“ die Naturreligion: „Die christli-
che Religion schwankte zwischen ihrem eignen Historisch-­Positiven und einem
reinen Deismus, der, auf Sittlichkeit gegründet, wiederum die Moral begründen
sollte“ (Goethe 1986b: 365).
In den katholischen und protestantischen Gebieten war die Situation jeweils
sehr unterschiedlich. Goethe stellte fest, „daß innerhalb des protestantischen Teils
von Deutschland und der Schweiz sich dasjenige gar lebhaft zu regen anfing, was
man Menschenverstand zu nennen pflegt“ (ibid. 299), wobei er sich zweifelsohne
auf die Seite des „Menschenverstandes“ stellte, d. h. auf die der Naturreligion:
Auf diesem Wege mußten die Theologen sich zu der sogenannten natürlichen Religion
hinneigen, und wenn zur Sprache kam, inwiefern das Licht der Natur uns in der Erkennt-
nis Gottes, der Verbesserung und Veredlung unserer selbst zu fördern hinreichend sei,
so wagte man gewöhnlich sich zu dessen Gunsten ohne viel Bedenken zu entscheiden
(ibid.: 300).

Wie bereits erwähnt, bedeutet ‚Natur‘ in der Naturreligion in der Regel die innere
‚menschliche Natur‘, aber für Goethe waren die ‚innere Natur‘ und die ‚äußere
Natur‘ untrennbar verbunden. Seit seiner Jugend war er überzeugt, dass Gott der
gesamten Natur innewohne und durch die ‚menschliche Natur‘ erfasst werden
könne, sofern man nur sein Herz weit öffne. Zudem waren ihm ‚menschliche
Natur‘ und Gemüt fast identisch: „Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer
Verbindung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der
eigentliche Gott“ (Goethe 1986b: 51).
Goethe ging auch davon aus, dass das Vermögen, den der Natur innewohnen-
den Gott zu erkennen, allen Menschen gegeben sei, und dass jeder, wenn er nur
der ‚menschlichen Natur‘ treu bleibe, Gott überall finden könne. Seiner Ansicht
nach war die Naturreligion etwas weit Allgemeineres als die Offenbarungsreligion:
Die allgemeine, die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die Über-
zeugung, daß ein großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleich-
sam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Überzeugung
dringt sich einem Jeden auf; ja wenn er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben
führt, manchmal fahren ließe, so wird er ihn doch gleich und überall wieder aufnehmen
können. Ganz anders verhält sich’s mit der besondern Religion, die uns verkündigt, daß
jenes große Wesen sich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landschaft
240 Yoshito Takahashi

entschieden und vorzüglich annehme. Diese Religion ist auf den Glauben gegründet,
der unerschütterlich sein muß, wenn er nicht sogleich von Grund aus zerstört werden
soll. Jeder Zweifel gegen eine solche Religion ist ihr tödlich. Zur Überzeugung kann man
zurückkehren, aber nicht zum Glauben (Goethe 1986b: 153).

Sowohl für Thomas von Aquin als auch für Goethe bildete die Naturreligion die
Grundlage jeder Religion. Während jedoch Thomas die Offenbarungsreligion
als höhere Stufe betrachtete, war sich Goethe sicher, dass die Naturreligion all-
gemeiner, die Offenbarungsreligion dagegen besonderer und spezifischer sei:
Schon zur natürlichen Religion, wenn wir annehmen, daß sie früher in dem mensch-
lichen Gemüte entsprungen, gehört viel Zartheit der Gesinnung: denn sie ruht auf der
Überzeugung einer allgemeinen Vorsehung, welche die Weltordnung im Ganzen leite.
Eine besondre Religion, eine von den Göttern diesem oder jenem Volk geoffenbarte,
führt den Glauben an eine besondre Vorsehung mit sich, die das göttliche Wesen gewis-
sen begünstigten Menschen, Familien, Stämmen und Völkern zusagt. Diese scheint sich
schwer aus dem Innern des Menschen zu entwickeln. Sie verlangt Überlieferung, Her-
kommen, Bürgschaft aus uralter Zeit. […] So wie eine besondere geoffenbarte Religion
den Begriff zum Grunde legt, daß einer mehr von den Göttern begünstigt sein könne
als der andre, so entspringt sie auch vorzüglich aus der Absonderung der Zustände
(Goethe 1986b: 148 f.).

Dass Goethes Ansicht nach Religionen wie die christliche, jüdische oder isla-
mische „besondere“ Offenbarungsreligionen sind, während die Naturreligion
„allgemeiner“ ist, impliziert meines Erachtens einen politischen Aspekt. Goethe
litt sehr darunter, dass die Welt offenbar nicht lange ohne Krieg auszukommen
scheint. Die Kreuzzüge und der Dreißigjährige Krieg sind gute Beispiele dafür,
wie sich Kriege aus religiöser Feindschaft entwickeln können. Der späte Goethe
schlug eine ‚Weltliteratur‘ vor, mit deren Hilfe die verschiedenen Länder einander
besser kennen lernen und in friedlicher Koexistenz zusammen leben könnten.
Mit der gleichen Intention wollte er die ganze Welt aufrufen, zur Naturreligion,
zur allgemeinen Basis aller Religionen, zurückzukehren und so die religiöse
Feindschaft möglichst zu überwinden. Insofern ist also die ‚Naturreligion‘ bei
Goethe ein Begriff, dessen Ziel im politischen Sinne dem seiner ‚Weltliteratur‘
entspricht.
‚Allgemein zu sein‘, heißt auch ,wahr‘ zu sein. In der Naturreligion erfasst der
Mensch Gott in seiner eigenen inneren Natur. Dort ist man mit Gott unmittel-
bar verbunden, während die Offenbarungsreligion der Vermittlung einer Kirche
bedarf. Michel Foucault wies zu Recht darauf hin, dass die Kirchen uns Gehorsam
abverlangen, wodurch wir uns notwendigerweise von der unmittelbaren ‚Wahr-
heit‘ entfernen (cf. Foucault 2004: 267 f.). Das muss auch Goethes Überzeugung
gewesen sein.
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 241

Goethe, der allen Kirchen kritisch gegenüberstand, lehnte den Gedanken der
Erbsünde wie auch den der jungfräulichen Geburt und der Auferstehung ab (cf.
Frühwald 2013: 47). Trotzdem betonte er immer wieder, dass er Christ sei und
bildete sich „ein Christentum zu [s]einem Privatgebrauch“ (Goethe 1986b: 692).
Aber kann man ein Christentum ohne die Lehre von der Erbsünde, der jungfräuli-
chen Geburt und der Auferstehung überhaupt noch als ‚Christentum‘ bezeichnen?
Doch Goethe bestand darauf, Christ zu sein, weil er glaubte, dass man, je mehr
man sich von der Kirche loslöse, desto mehr mit Gott unmittelbar verbunden sein
könne. Auf einer solchen allgemeinen Basis der Religion fußend, wollte er dazu
beitragen, religiöse Feindseligkeiten zu beenden und den ewigen Frieden in der
Welt möglichst schnell zu verwirklichen.

3
Wie bereits gesagt, ist für Ruth Benedict die europäische Kultur eine ‚Kultur der
Sünde‘, in der das Sündenbewusstsein dem Fehlverhalten entgegenwirken soll.
Rousseau dagegen nahm einen ganz anderen Standpunkt ein: Jeder Mensch kann
ein Verbrechen begehen. Daran ändert sich auch nichts, wenn man diese Tatsache
immer wieder betont, sie übermäßig zur Sprache bringt, den Übeltäter tadelt und
ihn als Bösewicht brandmarkt. In Emile heißt es:
Man spricht von der Stimme des Gewissens, die im geheimen die verborgenen Ver-
brechen straft und sie so oft enthüllt. […] Gehorchen wir der Natur, und wir werden
erkennen, mit welcher Sanftmut sie regiert und welchen Reiz man darin findet, sich selbst
ein gutes Zeugnis zu geben, nachdem man auf sie gehört hat (Rousseau 2012: 588 f.).

Auch Goethe schuf in Iphigenie auf Tauris oder in Wilhelm Meisters Lehrjahre
Figuren, deren Charakter durch überflüssiges Sündenbewusstsein vernichtet wird:
Orest und den Harfner. Hier kann nur der Letztere in Betracht gezogen werden.
Der Harfner, dessen Name Augustin ist, liebt Sperata, die Tochter eines Freun-
des seines Vaters. Als seine Brüder dies erfahren, erschrecken sie in höchstem
Maße und teilen ihm mit, dass Sperata eigentlich ihre Schwester sei, die aber aus
einem geheimen Grunde beim Freund ihres Vaters als dessen Tochter aufgezogen
wurde. Augustin und Sperata ahnten das nicht, und Sperata wurde schwanger.
Ihr Kind ist die spätere Mignon.
Trotz der Eröffnung der Brüder wollen die beiden jedoch nicht der Tatsache
ins Auge sehen, dass sie Inzest begingen. In ihrem Inneren glauben sie, dass ihre
Liebe echt und wahr sei. Eine innere Stimme lässt Augustin ausrufen:
Fragt nicht den Widerhall eurer Kreuzgänge, nicht eurer vermodertes Pergament, nicht
eure verschränkten Grillen und Verordnungen; fragt die Natur und euer Herz. […] In
242 Yoshito Takahashi

der Stille des Klosters und im Geräusche der Welt sind tausend Handlungen geheiligt
und geehrt, auf denen ihr Fluch ruht. […] wahr sind alle ihre [d. h. der Natur] Verhält-
nisse, und ruhig alle ihre Wirkungen. Wer gelitten hat, wie ich, hat das Recht frei zu sein.
Sperata ist mein, nur der Tod soll mir sie nehmen (Goethe 1986a: 965 f.).

Klingt dies nicht, als ob es von Rousseau wäre? Wie Rousseau behauptet Augustin,
dass sich die Wahrheit der Natur und die der Kirche manchmal widersprechen,
und will eher der Stimme der Natur als den Lehren der Kirche folgen. Aber zuletzt
behält doch die kirchliche Lehre die Oberhand: „Der ungebundene freie Verstand
sprach ihn los, sein Gefühl, seine Religion, alle gewohnten Begriffe erklärten ihn
für einen Verbrecher“ (ibid.: 966).
„Sperata war von Natur zur Religiosität geneigt“ (ibid.: 967). Daher wird ihr
Leiden immer größer. Ein Geistlicher, dem sie seit langem vertraute, beginnt, „das
Vergehen ihr mit schrecklichen Farben vorzumalen“ (ibid.), was sie schließlich in
den Selbstmord treibt. Nachdem Augustin von Speratas Tod erfahren hat, entflieht
er, ohne zu sagen, wohin er geht. Auf der Flucht wird er der Harfner.
Das Leben des Harfners auf der Flucht und Rousseausʼ Leben im Exil haben
gewisse Ähnlichkeiten. Ihre verschrobenen Charaktere sind einander mehr oder
weniger verwandt. Beide leiden unter dem Widerspruch zwischen Natur und
Religion und führen ein qualvolles Leben.
In seinem ersten Weimarer Jahrzehnt schrieb Goethe das Drama Die Geschwis-
ter (1776). Hier liebt Marianne insgeheim aus tiefstem Herzen Wilhelm, hat aber
schon lange die Hoffnung aufgegeben, ihn heiraten zu können, weil er, wie sie
glaubt, ihr Bruder ist. Dann erfährt sie aber zu ihrer großen Überraschung und
Freude, dass sie die Tochter einer verstorbenen Witwe ist, der ehemaligen Gelieb-
ten Wilhelms, und schließt letzten Endes mit ihm die Ehe. Über das Verhältnis
der beiden gibt es zwei Interpretationen: Die eine sieht darin die Widerspiegelung
des Verhältnisses zwischen Goethe und Charlotte von Stein, die andere hingegen
glaubt dahinter das Verhältnis zwischen Goethe und seiner Schwester Cornelia
zu erkennen (cf. Borchmeyer 1988: 919).
Von Goethes Aussagen im 18. Buch von Dichtung und Wahrheit ausgehend
lässt sich annehmen, dass für Cornelia und Goethe ihre geschwisterliche Liebe
ein schwieriges Problem war. Cornelia wollte sich nicht verheiraten: „Sie war
neben mir [d. h. Goethe] heraufgewachsen und wünschte ihr Leben in dieser
geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen“ (Goethe 1986b: 790). Es war Cornelia,
die ihm die Trennung von Lilli befahl (ibid. 791). Als Cornelia sich später verlobte,
konnte Goethe seine Eifersucht nicht verbergen. Und als er 1777 erfuhr, dass sie
gestorben war, versank er in tiefe Trauer. Um diese Krise zu überwinden, fuhr er
fast jeden Tag Schlittschuh (cf. Takahashi 2012). Alle diese Zeugnisse zeigen, dass
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 243

sich im liebevollen Verhältnis zwischen Marianne und Wilhelm das von Cornelia
und Goethe deutlich spiegelt.
Selbstverständlich hatten Goethe und Cornelia kein Inzestverhältnis, aber
das Gefühl, dass sie einander im Geheimen liebten, verursachte ihm doch ein
Sündenbewusstsein. Unter Berücksichtigung dessen könnte man eventuell ver-
muten, warum Goethe im 7. Kapitel von Dichtung und Wahrheit von einem „Übel“
schreibt, in das er geraten war (Goethe 1986b: 321), und von seinen Zweifeln be-
richtet: „Ich hatte die seltsamen religiösen Zweifel, die ich gern bei einer solchen
Gelegenheit berichtiget hätte“ (ibid.: 320).
Eines Tage näherte er sich in der Kirche dem Beichtstuhl und setzte sich vor
den Beichtvater. Doch kam ihm „die wohl memorierte Beichtrede […] nicht über
die Lippen“ (ibid. 321). In seiner Verlegenheit las er eine kurze Beichtformel aus
einem Buch und entfernte sich.
Was wollte er bei dieser Gelegenheit dem Beichtvater sagen? Wäre es nicht
möglich, dass er ihm sagen wollte: Ich liebe meine Schwester platonisch und
möchte sogar, wenn es möglich wäre, ihre Heirat mit einem anderen Mann ver-
hindern. Ist das als eine Sünde zu betrachten oder ist es nur ein natürlicher see-
lischer Vorgang?
Zwei Textstellen können diese Vermutung stützen. Zum einen macht Wilhelm
im Drama Die Geschwister ein Gesicht offenbaren Unbehagens, als er erfährt,
dass sich seine ‚Schwester‘ mit einem anderen Mann verheiraten wird. Dieses
Unbehagen könnte dem von Goethe entsprechen. Zum anderen gerät Augustin,
der spätere Harfner, mit Sperata in eine Inzestbeziehung, ohne zu wissen, dass
sie seine Schwester ist.
Als der Harfner erfährt, dass er die Sünde des Inzestes begangen hat, verfällt er
in einen Zustand der Schwermut. Ebenso wurde auch Goethe – so steht es im 7.
Kapitel von Dichtung und Wahrheit – äußerst wehmütig, nachdem er im Beicht-
stuhl nichts zu sagen in der Lage war:
In der Folge trat jedoch bei mir das Übel hervor, welches aus unserer durch mancherlei
Dogmen komplizierten, auf Bibelsprüche, die mehrere Auslegungen zulassen, gegründe-
ten Religion bedenkliche Menschen dergestalt anfällt, daß es hypochondrische Zustände
nach sich zieht, und diese bis zu ihrem höchsten Gipfel, zu fixen Ideen steigert. Ich habe
mehrere Menschen gekannt, die, bei einer ganz verständigen Sinnes- und Lebensweise,
sich von dem Gedanken an die Sünde in den heiligen Geist und von der Angst solche
begangen zu haben nicht losmachen konnten. Ein gleiches Unheil drohte mir in der
Materie von dem Abendmahl. Es hatte nämlich schon sehr früh der Spruch, daß einer,
der das Sakrament unwürdig genieße, sich selbst das Gericht esse und trinke, einen un-
geheueren Eindruck auf mich gemacht. Alles Furchtbare, was ich in den Geschichten
der Mittelzeit von Gottesurteilen [….] gelesen hatte, selbst was uns die Bibel von der
244 Yoshito Takahashi

Quelle erzählt, die dem Unschuldigen wohl bekommt, den Schuldigen aufbläht und
bersten macht, das alles stellte sich meiner Einbildungskraft dar und vereinigte sich zu
dem höchsten Furchtbaren (Goethe 1986b: 321).

Hier kritisiert Goethe dezidiert die christliche Sündenlehre. Sie kann einen Men-
schen in das Gefängnis des dunklen Schuldbewusstseins einsperren, ihn quälen,
ihn hypochondrisch machen und ihn letzten Endes geistig zerrütten. Da er dem
um ein Haar selbst zum Opfer gefallen wäre, musste er gegen die christliche
„Kultur der Sünde“ Einwand erheben und schob in die Lehrjahre die Geschichte
des Harfners ein.
Sowohl Rousseau als auch der Harfner sind tragische Opfer der christlichen
‚Kultur der Sünde‘. Bei jenem lehnte die Kirche seine Lehre von der guten mensch-
lichen Natur, und bei diesem seine tiefe Liebe ab. Infolgedessen mussten beide die
schwere Reise eines ewigen Wanderers antreten und wurden Schritt für Schritt
geisteskrank.
Die Geschichte des Harfners, der überzeugt ist, von Gott verdammt zu sein,
exemplifiziert dies. Eines Tages trinkt Felix, Wilhelms Sohn, aus einer Flasche
Wasser. Neben der Flasche steht ein Glas, in dem sich kein Wasser, sondern ein
Gift befindet, das dem Harfner gehört. Obwohl Felix nur aus der Flasche, nicht
aber aus dem Glas trinkt, glaubt der Harfner, Felix habe das Gift getrunken, und
wirft sich vor, für dessen Tod verantwortlich zu sein. Vom Gefühl des Schuldbe-
wusstseins getrieben begeht er schließlich Selbstmord.
Im christlichen Europa gibt es wohl viele, die wie der Harfner von ihrem
Sündenbewusstsein fast sinnlos gequält werden und deren Leben dadurch letzt-
endlich zunichte gemacht wird. Daher lehnte Goethe, wie zuvor schon Rousseau,
die Lehre von der Erbsünde ab. Er hoffte darauf, dass die auf dieser falschen
Lehre aufgebaute Offenbarungsreligion von Augustinus abgeschafft werde, um
so die Welt mit einem gesunden Glauben an das Gute im Menschen und mit der
Rousseauschen Naturreligion ganz neu gründen zu können. Leider ist der Weg
dahin immer noch sehr weit. Heutzutage ist zwar die Zahl derer, die der Lehre
von der Erbsünde anhängen, viel geringer geworden, aber zu viele Menschen
bleiben auch jetzt noch im Transitraum zwischen Offenbarungs- und Natur-
religion gefangen.
Rousseau und Goethe im Transit zwischen Offenbarungs- und Naturreligion 245

Literatur
Aquin, Thomas von 1936: Schöpfung und Engelwelt. I 44–64 (= Die deutsche
Thomas-­Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-­lateinische Ausgabe der
Summa Theologica. Ed. Katholischer Akademischer Verband. Bd. 4), Salz-
burg / Leipzig: Anton Pustet
Cassirer, Ernst 2004: „Das Problem Jean-­Jacques Rousseau“, in: id.: Gesammelte
Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 18, Hamburg: Felix Meiner, 3–82
Benedict, Ruth 1954: The Chrysanthemum and the Sword, Rutland / Vermont /
Tokyo: Charles E. Tuttle
Borchmeyer, Dieter 1988: „Kommentar zu ,Die Geschwister‘“, in: Johann Wolf-
gang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Frankfurt
a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (= Frankfurter Ausgabe), FA I-5, 915–927
Foucault, Michel 1989: Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Foucault, Michel 1999: „Technologien der Wahrheit“, in: id.: Botschaften der
Macht, ed. Jan Engelmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-­Anstalt, 133–144
Foucault, Michel 2004: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gou-
vernementalität I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Frühwald, Wolfgang 2013: „Goethe und das Christentum. Anmerkungen zu
einem ambivalenten Verhältnis“, in: Goethe-­Jahrbuch, Bd.  130, Göttingen:
Wallstein, 43–50
Goethe, Johann Wolfgang 1986a: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: id. 1986: Sämt-
liche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, ed. Klaus-­Detlef Müller, Frank-
furt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (= Frankfurter Ausgabe) FA I-9
Goethe, Johann Wolfgang 1986b: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in:
id. 1986: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, ed. Klaus-­Detlef
Müller, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (= Frankfurter Ausgabe)
FA I-14
Iida, Atsushi 1997: „Sizenteki Shukyo Gainen no Rekisi teki ichi wo megutte“ (Die
historische Stelle des Geistes in der ‚Natürlichen Religion‘), in: Shukyogaku-­
Nenpo (Annalen für Religionswissenschaft), Universität Tokyo, XIV (1997):
123–139
Jaumann, Herbert (ed.) 1994: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Er-
forschung seiner Rezeption, Berlin / New York: de Gruyter
Nagaya, Hideo 1989: „Emiru ni taisuru Saiban oyobi Ken-­etsu“ (Emile und dessen
Gerichtsprozess und Zensur), in: Nagoya-­Daigaku Tetsugaku-­Ronshu (Samm-
lung der philosophischen Aufsätze der Universität Nagoya) 1 (1989): 1–15
Ringleben, Joachim 1976: Hegels Theorie der Sünde, Berlin / New York: de Gruyter
246 Yoshito Takahashi

Rousseau, Jean-­Jacques 2012: Emile oder über die Erziehung, aus dem Französi-
schen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart: Reclam
Schelling, Friedrich Wilhelm 1858: Philosophie der Offenbarung, Sämmtliche
Werke, ed. K. F. A. Schelling, Bd. 13, Stuttgart / Augsburg: Cotta
Schneider, Jost 1998: „Jean-­Jacques Rousseau“, in: Bernd Witte et al. (eds.) 1998:
Goethe-­Handbuch, Bd. 4–2, Stuttgart: Metzler, 925–927
Takahashi, Yoshito 2012: „Goethes Idee des Reinen und das zenbuddhistische
Nichts“, in: Ernest W. B. Hess-­Lüttich & Yoshito Takahashi (eds.) 2012: Orient
im Okzident – Okzident im Orient. West-­östliche Begegnungen in Sprache und
Kultur, Literatur und Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 155–167
Voßkamp, Wilhelm 1994: „Un livre Paradoxal. J.-J. Rousseaus ‚Emile‘ in der deut-
schen Diskussion um 1800“, in: Jaumann (ed.) 1994: 101–114
III
Transitraum Heterotopie/Utopie
Claudia Gremler (Birmingham)

Wurzellos und zeitenthoben? Schweden als


Transitraum und deutsche Heterotopie im
Werk Antje Rávic Strubels

Abstract: In Antje Rávic Strubel’s novels, Sweden frequently features as a transit space for
her (East) German characters. Keenly aware of a specifically German tradition of cultural
representation, which treats Scandinavia as an idealised alternative Heimat (homeland),
Strubel portrays Sweden as a foreign yet familiar location, which appears to offer the
German protagonists the potential for self-­realisation and exploration of socially defined
boundaries away from home. This vision of Sweden as a liberating transit space can be seen
to correspond to Victor Turner’s concept of liminality, which places subjects temporar-
ily outside of social constraints. In Sweden, Strubel’s displaced characters challenge the
hegemonic restrictions of German bourgeois patriarchal society. However, this hopeful
vision of Scandinavia as a free liminal space allowing permissive behaviour is rejected as
the home country’s social restrictions are (re)asserted in the northern setting. Ultimately,
Sweden emerges as an extension of German society, a “heterotopia” (Foucault) denying the
characters a lasting escape from the limitations of their home country. This paper explores
how Strubel’s novels appropriate and transform popular German perceptions of Sweden in
order to express an independent vision, which acts as an intriguing commentary on both
repressive structures within German society and on the country’s continuing colonialist
attitude towards Scandinavia.

Die 1974 in Potsdam geborene Autorin Antje Rávic Strubel hat sich seit dem
Erscheinen ihres Erstlingswerks Offene Blende (2001) durch eine Vielzahl von
Romanen und Erzählungen als profilierte Autorin der deutschsprachigen Gegen-
wartsliteratur hervorgetan. Für die Mehrheit ihrer literarischen Werke wählt sie
Schauplätze, die für ihre Figuren vorübergehende Aufenthaltsorte darstellen. Un-
ter den zahlreichen Destinationen, an die sich Strubels Figuren begeben, nimmt
Schweden eine besondere Position ein. Gleich zwei Romane, Kältere Schichten
der Luft (2007) und Sturz der Tage in die Nacht (2011), spielen in Schweden.
Darüber hinaus hat die Autorin eine reiseführerähnliche Gebrauchsanweisung für
Schweden (Strubel 2008) verfasst, in der sie über das Verhältnis der Deutschen zu
diesem skandinavischen Land reflektiert.
Es fällt in den beiden Romanen sofort auf, dass die Figuren allesamt Deutsche
sind, die sich vorübergehend in Skandinavien aufhalten, was einerseits Schweden
in diesen Büchern eindeutig zum Transitraum macht und was andererseits bedeu-
250 Claudia Gremler

tet, dass dem skandinavischen Land eine Kulissenfunktion zugewiesen wird. Es


fungiert als eine ins Fremde verschobene Bühne, auf der sich Konflikte abspielen,
die zwar zum Teil universeller Art sind, besonders in Sturz der Tage in die Nacht
aber hauptsächlich auf deutsche Kontexte bezogen werden. Eine Auseinander-
setzung mit Schweden findet hingegen nur sehr bedingt statt. Dieser Befund mag
etwas enttäuschen, er überrascht historisch gesehen aber nur bedingt, denn die
Romane passen sich ein in eine weit zurückreichende deutsche Darstellungs-
tradition des europäischen Nordens, in der die Repräsentation von Schweden und
seinen Nachbarländern exotistische Züge enthält und im Rahmen der deutschen
nationalen Identitätsbildung instrumentalisiert wird.
Seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert erfolgte die Herausbildung
einer deutschen nationalen Identität zum Teil in emanzipatorischer Abgrenzung
von der Antike, die zuvor als unumstrittenes kulturelles Vorbild gegolten hatte.
Im Gegensatz dazu bezog man sich jetzt im Rahmen der Identitätsbildung auf die
nordisch-­germanische Geschichte und Überlieferung (cf. Herder 1998). In die-
sem Kontext erscheint ‚der Norden‘ früh weniger als eine geografische denn eine
„ideologische Bestimmung“ (Henningsen 1993: 4). Es wurde der Versuch einer
Einbettung deutscher Identität in eine germanische Tradition vorgenommen,
deren Überlieferung sich hauptsächlich auf in Skandinavien erhaltene Quellen
stützte. Der Mangel an außerskandinavischen ‚germanischen‘ Kulturzeugnissen
führte dann zur „Einverleibung der skandinavischen in die ‚deutsche’ Kultur-
tradition“ (von See 1994: 78). Dies wiederum hatte zur Folge, dass im Bewusstsein
der Deutschen eine enge Verschränkung der Wahrnehmung Skandinaviens mit
dem Blick auf die eigene Heimat erfolgte (cf. Bohnen 1993). Die skandinavi-
schen Länder wurden aus deutscher Perspektive als eine „fremde Heimat“ (Mann
1960: 132) konstruiert, eine Zuschreibung, die sich bis heute fortsetzt und in
der Schilderung von Strubels schwedischen Transiträumen eine bemerkenswerte
Aktualisierung erfährt.
Strubels Romane bewegen sich in einer „narzisstische[n]“ (Rühling 2004: 296)
Wahrnehmungs- und Darstellungstradition, in der der Norden aus deutscher
Perspektive als ein „Selbstobjekt“ behandelt wird, das nicht als „eigenständiger,
souveräner Bereich […], der um seiner selbst willen wahrgenommen wird“
(Rühling 2004:  296) figuriert, sondern dessen primäre Funktion es ist, eine
Projektionsfläche für deutsche Vorstellungen und Wünsche zu bieten, was zu
idealisierend-­exotistischen Repräsentationen führt, in denen Schweden und seine
Nachbarländer als deutsches „Sehnsuchtsgebiet“ (Strubel 2008: 23) erscheinen.
Die problematische Folge dieses Verhältnisses der Deutschen zu Skandinavien
ist eine sich seit dem neunzehnten Jahrhundert entwickelnde hegemoniale Über-
Wurzellos und zeitenthoben? 251

legenheitshaltung mit kolonialistischen Zügen,1 von der die deutsche Perspektive


auf die „kleine[n] Nachbar[n] im Norden“ (Frandsen 1994) bis heute geprägt ist.
In der deutschen Haltung gegenüber Skandinavien mischt sich so herablassendes
Wohlwollen mit identifikatorischen Bedürfnissen. Befördert wird diese Figuration
Nordeuropas durch positive Zuschreibungen, die zu einem gewissen Grad in der
skandinavischen Lebensrealität wurzeln und bei denen Vorstellungen von Fort-
schrittlichkeit, sozialer Gerechtigkeit und sexueller Permissivität gepaart mit der
Erwartung erhebender Naturerlebnisse eine zentrale Position einnehmen (cf.
Winkelmann 2006).
Für die Analyse dieser Darstellungstradition deutscher Schilderungen von
Skandinavien sind wichtige Impulse von der imagologischen Forschung aus-
gegangen, die sich mit der Beschreibung von Fremdbildern und ihren Funk-
tionalisierungen beschäftigt. Im Rahmen dieser Forschungsrichtung hat Lutz
Rühling eine Kategorisierung der „Bilder vom Norden“ aus deutscher Perspektive
entwickelt. An zentraler Stelle steht in diesem Katalog kultureller Repräsenta-
tionen die „positive projektive Identifikation“, bei der diejenigen „Merkmale
der Selbstrepräsentanz auf das Fremde projiziert [werden] […], die am Eigenen
als positiv erlebt werden“ (Rühling 2004: 294). Diesen psychischen Prozess be-
schreibt auch Strubel, wenn sie in Gebrauchsanweisung für Schweden erklärt: „In
Schweden befindet man sich in einem fremden Land und kann sich doch im
Bekannten bewegen“. Indem sie darüber hinaus verkündet, „wer nach Schweden
fährt […], macht Urlaub von Deutschland, indem er in seiner Wunschvorstellung
von Deutschland lebt […]; das schwedische Lebensmodell wird […] zum ins Ideal
verschobenen Eigenen“ (Strubel 2008: 24), veranschlagt sie für den deutschen
Blick auf Schweden damit auch gleich den nächsten von Rühling beschriebenen
Modus der Fremdwahrnehmung, nämlich die „projektive Idealisierung“, welche
dem Fremden diejenigen positiven Charakteristiken zuschreibt, die dem Eigenen
fehlen und die eine „ideale Ergänzung“ darstellen (Rühling 2004: 294).
Ein besonders prägnantes Beispiel dafür, wie Schweden als Projektionsfläche
für deutsche Sehnsüchte benutzt wird, ist die im ostdeutschen Kontext in ge-
radezu mythischer Form idealisierte Fähre von Sassnitz nach Trelleborg. Diese
Verkehrsverbindung, die für die DDR-­Bürger die Hoffnung auf die Überwindung
ihrer internationalen Bewegungsbegrenzung verkörperte, ist ein häufig zitiertes
Element auf Skandinavien gerichteter eskapistischer Fantasien, das nicht nur in

1 Aleida Assmann beschreibt den Kolonialismus als einen gewaltsamen Aneignungspro-


zess, bei dem „ein Staat Besitz- und Herrschaftsansprüche über Völker einer anderen
Sprache und Kultur geltend macht“ (Assmann 2008: 165). Eine solche kulturelle Ap-
propriation lässt sich im deutsch-­skandinavischen Verhältnis m. E. beobachten.
252 Claudia Gremler

DDR-­Erinnerungsbüchern toposähnlichen Charakter erlangt hat (cf. u. a. Rusch


2003: 9 ff.). Als Bundespräsident Joachim Gauck 2012 Schweden einen Staats-
besuch abstattete, erwähnte auch er seine langjährigen Blicke von Rostock auf die
Fähre und hob den Imaginationsstatus von Schweden als ostdeutsches sowie als
sein ganz persönliches „Sehnsuchtsland“ (Deutsche Welle 2012) hervor.
Strubel bezieht sich bewusst auf diese spezifisch ostdeutsche Tradition, wenn
sie ihre Gebrauchsanweisung für Schweden mit einer Beschreibung eröffnet, welche
die Bedeutung der Sassnitzfähre für die Imagination ihrer Landsleute erläutert:
Noch immer sehe ich sie stehen. […] Am Leuchtturm in Sassnitz. […] Menschen in
DDR-­Niethosen […] winkten schwimmenden Palästen nach, die das schnöde Hier mit
einem Traum verbanden, mit der anderen, unbekannten Seite der Welt, mit dem Westen.
Die Fähren waren real und irreal zugleich und entzündeten Wahnvorstellungen (Strubel
2008: 7).

Seit dem Mauerfall haben die Fähren ihre fragwürdige Qualität als etwas, das
„vielleicht […] nur reine Gaukelei“ (Strubel 2008: 8) war, verloren und Schwe-
den ist für Strubels moderne ostdeutsche Charaktere ein legitimes und erreich-
bares Reiseziel. Aber der Darstellung des nordischen Landes in ihren Romanen
merkt man die ursprünglich imaginäre Dimension weiterhin an. Wenn Strubel
ihre Figuren in diesem literarischen Raum positioniert, der stets mit topogra-
fischen Hinweisen auf reale Örtlichkeiten versehen ist, aber trotzdem zugleich
im Imaginären zu verschwimmen droht, verhandelt sie an diesem halbwirklichen
Ort typischerweise interpersonale Konflikte, die aber immer auch einen sozio-
politischen Kontext haben und angebunden sind an den Umgang mit der Ver-
gangenheit, insbesondere an die Zeit der deutschen Teilung.
Während diese soziohistorischen Bezugspunkte klar thematisiert werden und
zu einem gewissen Grad im Vordergrund der Handlung stehen, ist die Verbin-
dung der Figuren zu den Verhältnissen vor Ort und zu schwedischen Personen
hingegen auf ein Minimum reduziert. Strubel praktiziert in ihren literarischen
Texten die in der Gebrauchsanweisung benannte Verschiebung des Eigenen in
eine fremde Umgebung.
In seiner Eigenschaft als ein Gebiet, das nicht deutsch ist, aber zu einem ge-
wissen Grad als deutsche Fantasie erscheint, eröffnet Schweden Strubels Roman-
figuren Möglichkeiten, die sie daheim nicht erfahren können. In ihrem neuen
transitorischen Umfeld, das mit den utopischen Merkmalen eines Sehnsuchtsortes
ausgestattet ist, erkunden die Protagonisten die Überschreitung von Barrieren,
die ihnen zuvor in Deutschland als unüberwindbar galten. Vor dem Hintergrund
des schwedischen Nationalstereotyps der Toleranz und Permissivität erscheinen
Verhaltensweisen als akzeptabel, die in Deutschland sozial tabuisiert sind. Das
Wurzellos und zeitenthoben? 253

gilt besonders für geschlechtliche Grenzüberschreitungen, etwa in Form der „al-


ternative[n] Lebensentwürfe“ von „Regenbogenfamilien“ (Strubel 2008: 192), die
Strubel in Schweden „gefördert“ sieht, während sie meint, dass solche Formen des
Zusammenlebens in Deutschland als „Gefährdung“ des Gemeinwesens angesehen
würden (Strubel 2008: 192).
Zunächst wird Strubels Schweden also als ein Ort der Offenheit konstruiert,
der durch Abwesenheit der in der deutschen Gesellschaft üblichen Restriktionen
charakterisiert wird. Diese in der Gebrauchsanweisung gefeierte Atmosphäre der
Toleranz besitzt allerdings für die Figuren eine eingeschränkte Gültigkeit, weil
sie sich nicht innerhalb der schwedischen Gesellschaft bewegen, sondern primär
mit Landsleuten interagieren und so in einen deutschen Transitraum eintreten,
der nur eine lockere Anbindung an die schwedische Lebenswirklichkeit besitzt.
Die Romane weisen schon durch die in ihnen beschriebene Räumlichkeit eine
deutliche Affinität zu transitorischen Orten und Grenzsituationen auf: Kältere
Schichten der Luft spielt in einem Zeltlager für Kanufahrer, das für die Dauer
des Sommers an der schwedisch-­norwegischen Grenze errichtet wurde, und die
Handlung von Sturz der Tage in die Nacht ereignet sich auf Stora Karlsö, einer
Vogelreservatsinsel vor der ihrerseits zwischen Schweden und dem Baltikum
gelegenen Inselprovinz Gotland, die früher zu Dänemark gehörte und aufgrund
ihrer peripheren Lage als „der Außenseiter Schwedens“ (Strubel 2008: 91) gilt. Mit
Victor Turner lassen sich diese Schauplätze als Stätten der Liminalität beschreiben.
Im Rahmen der sich in den letzten Jahren stärker kulturwissenschaftlich aus-
richtenden Literaturwissenschaft hat Turners ethnografisches Liminalitätskon-
zept zunehmende Anwendung für Textanalysen gefunden, die unterschiedliche
Formen literarischer Schwellenzustände beschreiben und „das Widerspiel von
Grenze und Überschreitung“ (Geisenhanslüke & Mein 2008: 8) erkunden, das sich
als „Verunsicherung der Grenzen“ (Boyken & Traphan 2008: 79) auch in Strubels
Gesamtwerk beobachten lässt.
Turner definiert den liminalen Raum als einen von den normalerweise gülti-
gen sozialen Gesetzen und Kategorien getrennten vorübergehenden Schwellen-
zustand des ‚Dazwischenseins‘. Die sich in den liminalen Räumen befindlichen
„Schwellenwesen“ fallen aus dem gesellschaftlichen „Netz der Klassifikationen“
(Turner 2000: 95) heraus, bis sie den Schwellenraum wieder verlassen zugunsten
der „Wiedereingliederung“ in „klar definierte, sozialstrukturbedingte Rechte und
Pflichten“ (Turner 2000: 94–95). Es lassen sich so drei Stadien gesellschaftlicher
Initiationsriten unterscheiden: „Trennungs-, Schwellen- und Angliederungs-
phase“ (Turner 2000: 94).
254 Claudia Gremler

Kältere Schichten der Luft und Sturz der Tage in die Nacht entsprechen im
Wesentlichen Turners 3-Phasen-­Modell. Rückblickend wird berichtet, wie die
Figuren in der Trennungsphase Deutschland zugunsten von Schweden verlas-
sen, wo sie sich jetzt im Schwellenraum befinden. Auf den liminalen Zustand in
Schweden wird die Rückkehr nach Deutschland und – vermutlich – die dortige
soziale Wiedereingliederung folgen. Schweden bleibt ein Transitraum, der durch-
schritten wird, ohne zum dauerhaften Aufenthaltsort zu werden. Die Handlung
beider Romane ist auf diesen Schwellenraum und die in ihm möglich erschei-
nende temporäre Befreiung von gesellschaftlichen Restriktionen konzentriert.
Schweden wird so in Strubels Romanen als ein liminaler Raum präsentiert, in
dem sich die Figuren als Grenzgänger oder Turnersche Schwellenwesen bewegen,
die „weder hier noch da“, „weder das eine noch das andere“ sind (Turner 2000: 95).
Die Charakterisierung dieser Liminalität erfolgt in den Texten einerseits über die
bereits erwähnte geografisch bedingte Grenzposition der Schauplätze, die zudem
im gesellschaftsfernen „menschenleeren Norden“ (Strubel 2011: 19) positioniert
sind, und andererseits über die Schilderung eines Verschwimmens räumlicher
und zeitlicher Grenzen. In Kältere Schichten der Luft scheinen Wasser und Land
ineinander überzugehen:
Morgens lag der See unbewegt da wie Glas. Er spiegelte den Himmel, der klar und licht-
blau war und seine Spiegelung im See wiederum zurückzuspiegeln schien, Schattierungen
von Blau, in denen sich Luft und Wasser kaum voneinander unterscheiden ließen. Am
Ufer war das Blau fast schwarz, dann hellte es sich langsam auf, wurde leuchtend silbern,
bis der See sich in der Ferne aufzulösen schien (Strubel 2007: 39).

Diese optische Grenzauflösung wird in Sturz der Tage in die Nacht auf die zeitliche
Dimension und auf den Bewusstseinszustand der Figuren ausgeweitet:
Im Juni wurde es auch nachts nicht dunkel. Über Felsen und Meer hing ein leuchtendes,
tiefblaues Licht. Man konnte nicht sagen, ob die Sommernacht je begann, oder nur der
Tag in einen neuen Tag hineinfloss. […] Das Licht machte mich schlaftrunken, wenn ich
wach war und halbwach, wenn ich schlief (Strubel 2011: 62).

In beiden Texten entsteht durch diese Grenzverwischungen ein ambivalenter Ein-


druck von vager Freiheit bei gleichzeitiger Orientierungslosigkeit. Dieser äußer-
lichen Unbestimmtheit der natürlichen Umgebung entspricht zudem eine innere
Haltlosigkeit und mentale Dislokation der Figuren. In Sturz der Tage in die Nacht
befindet sich der junge Protagonist Erik auf einer Gap-­Year-­Reise und in Kältere
Schichten der Luft arbeitet die Hauptfigur Anja in dem bereits erwähnten Zelt-
lager. In Kältere Schichten der Luft weisen alle Figuren gescheiterte Biografien auf,
die in den meisten Fällen mit dem Hinweis auf die Nachwende-­Veränderungen
Wurzellos und zeitenthoben? 255

in Ostdeutschland erklärt werden. Ihr Alltag in Schweden wird als ein Zustand
entwurzelter Transitwesen beschrieben:
Sie lebten wurzellos. Zeitenthoben. Sie waren in eine unbekannte Gegend gekommen, in
ein anderes Land, in eine fremde Region, in der sie nur das waren, was sie den Sommer
über hier jeden Tag machten […]. Für sie war es, als schlösse sich das jetzige Leben ihrem
früheren nicht mehr an […] (Strubel 2007: 8 f.).

Vor dieser von Elementen der Unwirklichkeit geprägten Kulisse erscheint eines
Tages am See eine mysteriöse, möglicherweise imaginierte Frau. Der Text reiht
sie implizit in die aus Mythos und Märchen bekannte Tradition der Nixen und
Meerjungfrauen ein und verleiht ihr so eine Aura von Irrealität und Verführung.
Sirenenhaft klingt auch der skandinavische Name, den Anja ihr gibt: Siri (cf.
Boyken & Traphan 2008: 60 f.).
Bei der Figur der Meerjungfrau handelt es sich um ein Schwellenwesen par
excellence, das sich im „Bereich am Rande des Vertrauten“ bewegt und als gren-
zenüberwindende „Geleiterin ins Gestaltlose“ agiert (Schmitz-­Emans 2003: 128).
Siris Erscheinen bestätigt so erneut die Liminalität des schwedischen Zeltlagers.
Im Folgenden ermutigt die enigmatische Frau Anja dezidiert zum spielerischen
Umgang mit Grenzen und mit den Geschlechterkategorien der patriarchalen
Gesellschaftsordnung. Bei ihrer ersten Begegnung spricht sie Anja mit dem
männlich anmutenden Namen „Schmoll“ an. Anja wehrt sich zunächst mit den
Worten „ich heiße nicht Schmoll […] und ich bin kein Junge“ (Strubel 2007: 10)
gegen den fremden Namen und die unzutreffende Geschlechtszuordnung, lässt
sich dann aber auf eine in mehrfacher Hinsicht grenzüberschreitende Romanze
mit der faszinierenden Siri ein, die ihr „das Unvorhersehbare“ und ein Ende der
„Wiederholungen“ (Strubel 2007: 56) verspricht.
In ihrer Beziehung zu Siri nimmt Anja eine zunächst gespielte männliche Per-
sona an, die sie „den Jungen“ nennt und der sie im Laufe des Romans zunehmend
Anteile ihres Bewusstseins überlässt. Sie passt sich damit an Siri an, die eine sol-
che Fluidität der Identitäten verspricht und einfordert. „Der Junge“ symbolisiert
Grenzüberschreitungen, die Anja zuvor nie erlebt oder auch nur angestrebt hat,
und sie beschließt in einem Vorgang innerer Befreiung, „dem Jungen Raum [zu]
schaffen“:
Ich musste […] raus aus dem Körper, dem Kopf, der angefüllt war mit alten Geschichten.
[…] es war egal, wie alt wir waren. Woher wir kamen. Wie wir lebten. Wer sie war. Das
war es, wonach die anderen fragten. Der Junge war schon viel weiter (Strubel 2007: 132).

Durch diese Entgrenzung, die Anja mit Siri praktiziert, setzt sie sich über die
traditionelle Geschlechterordnung und die Restriktionen der gesellschaftlichen
256 Claudia Gremler

heteronormativen Matrix hinweg. Geschlecht wird hier im Sinne von Judith


Butler verstanden, deren Einfluss auf ihren Roman Strubel selbst betont hat (cf.
Boyken & Traphan 2008: 78), und wird so als soziale Konstruktion und per-
formative Kategorie begriffen.
Siri und Anja wollen ihre Begegnung jenseits der hegemonialen Geschlechter-
kategorien der patriarchalen Gesellschaft stattfinden lassen. Anja erlebt das als
aufregend und identitätserweiternd, ist aber zunächst skeptisch und es fällt ihr
schwer, sich auf diese entgrenzende Erfahrung einzulassen. Darüber hinaus muss
sie bald erfahren, dass nicht nur die Überwindung eigener innerer Widerstände
eine große Herausforderung darstellt, sondern dass es letztlich unmöglich ist,
sich den Restriktionen der modernen Gesellschaft und insbesondere den Be-
schränkungen der deutschen Nachwenderealität zu entziehen. Zunächst fühlt sie
sich in dem liminalen Raum, als der Schweden im Allgemeinen und das Zeltlager
im Besonderen konstruiert wird, heimatlichen Konflikten und Sorgen entrückt:
„Hier fing ich an, Halberstadt zu vergessen, die Glatzen, die frischverglasten Fas-
saden, die Arbeitsagentur“ (Strubel 2007: 23 f.). Dann muss Anja aber feststellen,
dass ihren Grenzüberschreitungsversuchen Einhalt geboten wird. Sie wird wegen
ihrer Beziehung zu Siri angefeindet und ist wiederholt homophoben Angriffen
ausgesetzt. Besonders ihr Kollege Ralf, der vor der Wende die symbolträchtige
Tätigkeit eines DDR-­Grenzwächters ausübte, tritt ihren Ausbruchsversuchen aus
den sozialen Normen mit verbaler und physischer Gewalt klar entgegen. Seine
Bestrebungen, Anja zu maßregeln und zur Ordnung zu rufen, gipfeln in einem
Vergewaltigungsversuch. Er kritisiert ihr experimentelles Genderverhalten mit
den Worten: „Hier kann nämlich nicht jeder machen, wassa [sic] will, klar?“
(Strubel 2007: 174).
Ralfs Verhalten signalisiert deutlich, dass das Zeltlager nicht als regelfreier
Schwellenraum im Sinne Turners betrachtet werden kann. Dementsprechend
negiert der Text die grenzüberschreitenden Verhaltensmöglichkeiten, die Anja
erkunden möchte. Sie erlebt bedrohliche Sanktionen für ihr normwidriges Ver-
halten, Siri verschwindet so abrupt, wie sie erschienen war, und die Konfrontation
mit Ralf endet mit seinem Tod. Darüber hinaus scheitert Anjas Ausbruchversuch,
den Transitraum des Zeltlagers zugunsten eines Hauses zu verlassen, das Siri
den örtlichen Besitzern abgekauft hat und in dem die beiden zusammen leben
wollen. Dieses Verhalten steht klar in der Tradition deutscher Skandinavien-
urlauber, die nicht selten eine sommarstuga erwerben, um ihren Aufenthalten
mehr Permanenz zu verleihen, wie es auch von Strubel in Gebrauchsanweisung
für Schweden angesprochen wird (cf. Strubel 2008: 15). Es wird jedoch schnell
deutlich, dass es sich bei Siris Haus um ein ungewöhnliches Domizil handelt, das
Wurzellos und zeitenthoben? 257

den typischerweise mit einem Haus verbundenen Vorstellungen von Stabilität


und Geborgenheit nur sehr begrenzt entspricht. Zwar kann Anja hier ihre Grenz-
erkundungen im Bereich sexueller Identität fortsetzen, und die deutlich als limi-
nal gekennzeichnete zentrale Liebesszene zwischen Anja/dem Jungen und Siri,
in der neben der Infragestellung traditioneller Geschlechterzuordnungen auch
die Grenze zwischen Wort und Tat sowie erneut die Trennung zwischen Realität
und Imagination verwischt wird, findet hier statt. Andererseits ist aber auch dieses
Haus, in dem sich noch der gesamte Hausrat der Vorbesitzer befindet und sogar
ihr Kaffeegeschirr auf dem Tisch steht, ein Transitraum, zu dem Anja und Siri
nur vorübergehend Zugang haben. Darüber hinaus wird ihre Erforschung ge-
schlechtlicher Grenzen dadurch bedroht und relativiert, dass das Haus deutlich
ein Element der bürgerlich-­patriarchalen Gesellschaft ist, die sich mit männlichen
Kontrollmechanismen gegen solche Grenzüberschreitungsexperimente wehrt:
Beim Kauf entgeht Siri nur knapp einer Vergewaltigung durch den Verkäufer.
Strubels schwedischer Transitraum entspricht also trotz seiner deutlichen
Liminalität nicht dem von Turner beschriebenen freiheitlichen Schwellenraum,
sondern ist durch stärkere Restriktionen gekennzeichnet und weist eine Kom-
plexität auf, der man sich mit Hilfe anderer theoretischer Ansätze nähern kann.
Insbesondere Michel Foucaults einflussreiches Konzept der „Heterotopie“ lässt
sich auf die Interpretation von Strubels Schwedenromanen anwenden. Foucault
definiert die Heterotopie als einen „Gegenort“, an dem die „Orte, die man in der
Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil ver-
kehrt werden“ (Foucault 2005: 935), so dass man sie sich als zugleich innerhalb
der Gesellschaft befindlich und räumlich aus ihr ausgelagert vorstellen kann. Da
Strubel selbst auf Foucaults Einfluss auf ihr Schreiben hingewiesen hat (cf. Boy-
ken & Traphan 2008: 78), kann man davon ausgehen, dass sie mit seinen Über-
legungen zu gesellschaftlichen Gegenräumen vertraut ist. In Kältere Schichten der
Luft lässt sich die Wahl des Zeltlagers als Schauplatz sogar als direkter Verweis
auf Foucaults Vortrag Von anderen Räumen lesen, in dem er Feriensiedlungen als
eine Form der Heterotopie beschreibt (cf. Foucault 2005: 940).
Im Gegensatz zu Turners Schwellenraum ist Foucaults Heterotopie kein Ort,
an dem die gesellschaftlichen Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Er formuliert
sogar eine Unterkategorie, die „Krisen- oder Abweichungsheterotopie“, wo die
soziale Kontrolle besonders groß ist, weil man an diesen Orten „Menschen un-
terbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm
abweicht“ (Foucault 2005: 937). Foucaults Konzept entspricht der Situation der
Zeltlagerangestellten mit ihren gebrochenen Biografien und trifft insbesondere
258 Claudia Gremler

auf Anja zu, die aufgrund ihrer sexuellen Identität noch innerhalb des hetero-
topischen Raumes marginalisiert wird.
Ähnliches gilt für Strubels zweiten in Schweden spielenden Roman Sturz der
Tage in die Nacht. Auch dort befinden sich die Figuren in einer Heterotopie, die
aus der (deutschen) Gesellschaft ausgegliedert scheint und dennoch Teil von ihr
ist. Als die Protagonisten Inez und Erik, die sich auf der Vogelinsel Stora Karlsön
kennen- und lieben gelernt haben, überraschend erfahren, dass sie Mutter und
Sohn sind, und sich daraufhin über das gesellschaftliche Inzestverbot hinwegset-
zen wollen, scheitern sie damit.
In beiden Romanen zeigt sich, dass die räumliche Distanz von Deutschland
nicht genügt, um sich den repressiven Strukturen von daheim zu entziehen. In
Sturz der Tage in die Nacht figurieren diese Begrenzungen nicht nur in Gestalt
des – in Skandinavien gleichermaßen gültigen – Inzesttabus, sondern erscheinen
besonders in Form von sich über die deutsche Wiedervereinigung hinaus fortset-
zenden Machtstrukturen der DDR. Inez muss erkennen, dass sie den Menschen,
die vor der Wende als Angehörige der Staatssicherheit ihr Leben kontrolliert und
manipuliert haben, auch jetzt nicht entkommen kann.
Diese Darstellung einer vergeblichen Flucht nach Schweden unterstreicht der
Roman durch die Schilderung der geografischen Gegebenheiten: Erik und Inez
haben sich von den heimatlichen Zuständen nur scheinbar entfernt, denn sie
befinden sich auch in Schweden an der Ostsee, deren Eigenschaft als fast über-
all vom Land eingeschlossener „vorgetäuschter Ozean“ (Strubel 2011: 10) eine
Flucht unmöglich macht. Inez hält sich weiter an demselben Meer auf wie in
ihrer Heimatstadt Greifswald und die vielbeschworene befreiende Wirkung der
Sassnitz-­Fähre offenbart sich als Illusion.
Auch in Sturz der Tage in die Nacht zeigt sich Schweden also als deutsche
Heterotopie – und zwar erneut als spezifisch ostdeutscher Gegenort. Schon in
Gebrauchsanweisung für Schweden fällt auf, dass Strubel trotz des halbherzigen
Zugeständnisses, dass das Land natürlich „auch aus westdeutscher Sicht“ (Strubel
2008: 19) attraktiv sei, Schweden primär als nostalgische Vision einer alternativen
DDR konstruiert, wo es die Gerichte ihrer Kindheit zu essen gibt (cf. Strubel
2008: 15) und wo sie in einem Prozess der von Rühling beschriebenen „projek-
tive[n] Idealisierung“ (Rühling 2004: 294) verlorene Eigenschaften zu erkennen
meint, die sie im vereinten Deutschland vermisst:
Was ich hier fand, waren Menschen, die mich manchmal an meine Kindheit erinnerten.
Ihre Rücksicht und ihre Eckigkeit waren mir vertraut. Die Selbstverständlichkeit, mit der
Frauen Berufe ausübten und Kinder in Kindergärten gingen, hatte ich im vergleichsweise
rückschrittlichen Gesamtdeutschland beinahe vergessen, bevor ich sie hier wiederfand
(Strubel 2008: 10).
Wurzellos und zeitenthoben? 259

Dieses idealisierende Statement liest sich naiv und mag sich dem möglichen Sta-
tus der Gebrauchsanweisung für Schweden als Auftragswerk und den sich daraus
ergebenden Vorgaben seitens des Verlags verdanken. Es steht in jedem Fall in
deutlichem Kontrast zur weitaus differenzierteren Auseinandersetzung mit der
„alternative[n] Heimat“ (Jeremiah 2009: 230) Schweden aus ostdeutscher Per-
spektive, die in den Romanen erfolgt. In Sturz der Tage in die Nacht lehnt Inez
entschieden den für einen unreflektierten, verklärenden Umgang mit Schweden
stehenden „Büllerbü-­Kitsch“ (Strubel 2011: 24) ab, der viele deutsche Touristen
in das Land lockt. Aber obwohl sie einen authentischeren Zugang zu Schweden
sucht, gelingt ihr das nicht. Sie kann sich ihrer persönlichen Geschichte und
der DDR-­Vergangenheit ebenso wenig entziehen wie Ralf und die übrigen Zelt-
lagerangestellten in Kältere Schichten der Luft.
Letztlich offenbart sich die Situation von Strubels Figuren also als weder
„wurzellos“ noch „zeitenthoben“ (Strubel 2007:  8), vielmehr macht sich der
nicht zu eliminierende Einfluss sowohl der aktuellen soziopolitischen Kontexte
als auch der deutschen Geschichte geltend. Vor dem Hintergrund einer durch
Diktatur und Unterdrückung geprägten Vergangenheit lassen sich nur schwer
utopische Visionen einer Überwindung restriktiver Grenzen und ein historisch
nicht vorbelasteter Freiraum imaginieren. Diese Einsicht widerspricht dem naiv-­
verklärenden Schwedenportrait der Gebrauchsanweisung und wird in Strubels
Romanen wiederholt artikuliert.
Im (ostdeutschen) heterotopischen Raum Schweden werden Strubels Cha-
raktere von der Realität der heimatlichen Gesellschaft, der sie entfliehen wollten,
eingeholt. Die Figuren erfahren die Unrealisierbarkeit ihrer Grenzüberschrei-
tungsversuche und die Vergeblichkeit des Aufbegehrens gegen hegemoniale
soziale Strukturen. Der Schauplatz Schweden eignet sich besonders gut für die
Darstellung dieser Konflikte, weil Skandinavien in der deutschen kulturellen Ima-
gination eine „utopische“ (Strubel 2008: 15) Position einnimmt und als eine über-
höhte Version der eigenen Heimat erscheint, die sich aus spezifisch ostdeutscher
Perspektive zudem als ein nostalgischer Ort der Bewahrung verlorener (sozialis-
tischer) Ideale präsentiert. Die Grenzerkundungen und Fluchtbewegungen, die
Strubels Figuren unternehmen, in Skandinavien stattfinden zu lassen, scheint
deshalb zunächst ihre Realisierungschancen zu erhöhen. Dieses Freiheitspotenzial
des liminalen Raumes Schweden wird dann aber in den Romanen auf doppelte
Weise negiert.
Erstens tritt an die Stelle des utopischen „Schweden[s] im Kopf “ (Strubel
2008: 9), das in der Gebrauchsanweisung gefeiert wird, in den Romanen eine rea-
listischere Darstellung Skandinaviens, die zwar anfangs die Vision „einer besseren
260 Claudia Gremler

Welt“ (Strubel 2008: 10) im Norden zulässt und auch am Ende die Figuren weiter
idealistisch an der „bloße[n] Ahnung des Möglichen“ (Strubel 2011: 433) fest-
halten lässt, im Grunde aber die Realisierbarkeit dieser Aspirationen ausschließt.
Die utopische Schwedenvision der Figuren wird als „projektive Idealisierung“
(Rühling 2004: 294) entlarvt.
Zweitens lässt sich Strubels Ablehnung des traditionsreichen verklärenden
Schwedenbildes auch als politischer Kommentar zur kolonialistischen deutschen
Haltung gegenüber Skandinavien lesen. Die kolonialistische Sicht auf Skandina-
vien als ‚eigene Fremde‘ bedingt die Unfähigkeit der Figuren, deutsche Konflikte
und Restriktionen beim Aufenthalt in Schweden hinter sich zu lassen und ab-
zustreifen. Das scheinbar „verheißungsvoll[e]“ (Strubel 2008: 19) Skandinavien
kann nicht als losgelöster Schwellenraum, sondern nur als deutsche Heterotopie
figurieren und bleibt darüber hinaus ein Transitraum, der nicht als Heimatersatz
fungieren kann.
Auf diese Weise entwirft Strubel in ihren Schwedenromanen einen Transit-
raum, der klare Bezüge zu tradierten deutschen Vorstellungen von Skandinavien
enthält, welche besonders Schweden als Ort liberaler Permissivität verklären.
Strubel kritisiert diese exotisierende Praxis, indem sie zeigt, wie der scheinbar
herrschaftsfreie liminale Raum im Norden heterotopisch an deutsche Verhältnisse
angebunden bleibt, und implizit darauf verweist, dass die unfreien Strukturen ei-
nes kolonialistisch geprägten Schwedenbildes befreiende Grenzüberschreitungen
unmöglich machen.

Literatur
Assmann, Aleida 2008: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin: Erich
Schmidt
Bohnen, Klaus 1993: „Die ,fremde Heimat‘ der Deutschen: Der ,Mythos vom
Norden‘ in deutscher Kulturtradition“, in: Alois Wierlacher (ed.) 1993: Kul-
turthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher
Fremdheitsforschung, München: iudicium, 471–481
Boyken, Thomas & Jan Traphan 2008: Werkstattgespräch mit Antje Rávic Strubel,
Oldenburg: Fruehwerk
Deutsche Welle 2012: Gauck zu Antrittsbesuch in Schweden, im Internet: http://
dw.de/p/14pRQ [30.09.2015]
Foucault, Michel 2005 [11984]: „Von anderen Räumen“, in: id.: Schriften. Dits et
Écrits, eds. Daniel Defert & François Ewald, Bd. 4, Frankfurt a. M.: Suhrkamp,
931–942
Wurzellos und zeitenthoben? 261

Frandsen, Steen Bo 1994: Dänemark — der kleine Nachbar im Norden. Aspekte


der deutsch-­dänischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Geisenhanslüke, Achim & Georg Mein 2008: „Einleitung“, in: id.. (eds.): Grenz-
räume der Schrift, Bielefeld: transkript, 7–9
Henningsen, Bernd 1993: Der Norden: Eine Erfindung (Antrittsvorlesung
Humboldt-­ Universität Berlin), im Internet: http://edoc.hu-berlin.de/
humboldt-vl/henningsen-bernd/PDF/Henningsen.pdf [30.09.2015]
Herder, Johann Gottfried 1998 [11796]: „Iduna, oder der Apfel der Verjüngung“,
in: id.: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792–1800, ed. Hans Dietrich
Irmscher, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 155–172
Jeremiah, Emily 2009: „Disorienting Fictions: Antje Ravic Strubel and Post-­
Unification East German Identity”, in: German Life and Letters 62.2 (2009):
220–232
Mann, Thomas 1960: Briefe an Ernst Bertram aus den Jahren 1910–1955, ed. Inge
Jens, Pfullingen: Neske
Rühling, Lutz 2004: „‚Bilder vom Norden’. Imagines, Stereotype und ihre Funk-
tion“, in: Astrid Arndt et al. (eds.): Imagologie des Nordens. Kulturelle Kon-
struktionen von Nördlichkeit in interdisziplinärer Perspektive, Frankfurt a. M.
etc.: Peter Lang: 279–301
Rusch, Claudia 2003: Meine freie deutsche Jugend, Frankfurt a. M.: Fischer
Schmitz-­Emans, Monika 2003: Seetiefen und Seelentiefen. Literarische Spiegelun-
gen innerer und äußerer Fremde, Würzburg: Königshausen & Neumann
See, Klaus von 1994: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der
Deutschen, Heidelberg: Winter
Strubel, Antje Rávic 2007: Kältere Schichten der Luft, Frankfurt a. M.: Fischer
Strubel, Antje Rávic 2008: Gebrauchsanweisung für Schweden, München: Piper
Strubel, Antje Rávic 2011: Sturz der Tage in die Nacht, Frankfurt a. M.: Fischer
Turner, Victor 2000 [11969]: Das Ritual – Struktur und Anti-­Struktur, Frankfurt
a. M. / New York: Campus
Winkelmann, Thomas 2006: Alltagsmythen vom Norden. Wahrnehmung, Popula-
risierung und Funktionalisierung von Skandinavienbildern im bundesdeutschen
Modernisierungsprozess, Frankfurt a. M. etc.: Peter Lang
Marja-­Leena Hakkarainen (Turku)

Grenze und Meer als transitorische


Raummetaphern in Yoko Tawadas
jüngster Prosa

Abstract: The article explores the role of the space metaphors border and sea in Yoko
Tawada’s narratives Sprachpolizei und Spielpolyglotte (2007), Schwager in Bordeaux (2011)
and Etüden im Schnee (2014). Drawing on the concept of the Third Space developed by
Homi K. Bhabha and Edward Soja, I argue that the geographical and cultural border cross-
ings in Tawada’s fiction enable a transit to a new space of articulation. It is my aim to show
that the Third Space opens new avenues to perceive the world but it may also prove to be a
space of grief and lament. Furthermore I argue that Tawada’s narratives do not only scatter
dichotomies, but so doing also reveal the emergence of a new kind of writing which blurs
the boundaries between life and death, human and animal, fiction and reality.

1 Transit zum Dritten Raum


Der Pazifik ist mein Wasser, denn ich bin an ihm geboren, aber ich muss dort nicht
bleiben, denn auch das Wasser bleibt nicht dort, wo es jetzt ist. Es fließt in ein anderes
Wasser hinein (Tawada 2007: 21).

Als Folge der weltweiten Migrationsbewegungen ist in den letzten Jahrzehnten


eine neue Art europäischer Literatur entstanden, die die Grenzen von nationalen
Identitäten und Kulturen überschreitet. Ein gutes Beispiel für diese grenzüber-
greifende Poetik bietet Yoko Tawada, die im Alter von neunzehn Jahren mit der
transsibirischen Eisenbahn von Japan nach Deutschland kam und sowohl auf
Deutsch als auch auf Japanisch schreibt.1 In ihren fantasievollen Reiseberichten
beschreibt sie Wahrnehmungen an fremden Orten und in transitorischen Räu-
men wie etwa in Schiffen und Zügen. Wie die zunehmende Zahl der Beiträge zur
diesbezüglichen Forschungsliteratur bestätigen, spielen in ihren Texten sowohl
die Grenzübergänge als auch die Wassermetaphorik eine zentrale Rolle.2 In mei-
nem Beitrag untersuche ich den Zusammenhang zwischen den Raummetaphern
Grenze und Meer in Tawadas jüngster Prosa.

1 Evelyn Finger (2011: 260) zufolge symbolisiert die literarische Biographie von Yoko
Tawada „das Transitorische, Nomadische unserer Gegenwart.“
2 Siehe dazu u. a. die Beiträge von Bay, Gutjahr und Schmitz-­Emans in Fremde Wasser
(2013).
264 Marja-­Leena Hakkarainen

Wie die Vordenker der heutigen Raumtheorie, Henri Lefebvre und Michel
Foucault, betonen, sind Raumwahrnehmungen und -konzepte abhängig von den
jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnissen.3 Sowohl in der Theoriebildung
als auch in den literarischen Texten weist der Gebrauch von Raum-­Metaphern
auf eine enge Verbundenheit der ideologischen Denkmodelle mit den räumlichen
Bezeichnungen hin. Dabei sind die vertikalen Orientierungsmetaphern Oben
und Unten tief in die hierarchische Machtstruktur eingeschrieben, während die
horizontalen Orientierungsmetaphern Nah und Fern insbesondere Grenzziehun-
gen bzw. Grenzauflösungen zwischen dem Eigenen und Fremden bezeichnen (cf.
Lakoff & Johnson 2011: 22). Die Grenzen können geografisch, sozial, kulturell
angelegt sein oder Gattungen voneinander trennen, und ihre Überschreitung
impliziert die Überbrückung einer dichotomischen Ordnung.
In der Globalisierungsdebatte bezieht sich der Begriff Transnationalität vor-
wiegend auf soziale und kulturelle Bewegungen über nationale Grenzen, während
Transkulturalität die Durchdringung der Kulturen nicht nur an den Außen-
grenzen, sondern auch innerhalb nationaler Einheiten darstellt (cf. Hühn et al.
2010). Dem Philosophen Wolfgang Welsch (2012: 26) zufolge sind alle Nationen
transkulturell, weil sie durch Mischungen gekennzeichnet sind. Es handelt sich
jedoch nicht immer um eine friedliche Melange, sondern eventuell um Folgen von
kolonialer Übernahme oder Zwangsassimilation. In der postkolonialen Theorie
hat Homi K. Bhabha (2004: 265) das Konzept der Hybridität als eine widerstands-
fähige Form der kulturellen Differenz entwickelt. Ihm zufolge bedeutet Hybridität
nicht eine Synthese von Gegensätzen, sondern die Entstehung von etwas Neuem,
das bisher nicht existiert hat.4 Die kulturelle Hybridität ist das Ergebnis eines
Kulturkontaktes, den Bhabha mit räumlichen Metaphern wie Zwischenraum,
Treppenhaus oder Drittem Raum bezeichnet (cf. Struve 2013: 98–100). Im An-
schluss an das Konzept des Dritten Raumes als Zwischenraum entwickelte Edward
Soja (2000: 13) den Begriff „Thirdspace“, der nicht nur immateriell existiert wie
bei Bhabha, sondern zugleich konkret und symbolisch erlebbar ist.
An dieser Stelle möchte ich die These aufstellen, dass die Metaphern Grenze
und Meer in Yoko Tawadas Texten den Dritten Raum im Sinne Bhabhas als eine

3 Im Anschluss an die räumliche Wende (spatial turn) ist ein neues Raumverständnis
entstanden, und zwar gilt der Raum nicht mehr als ein Container bzw. Schauplatz der
Handlung, sondern er wird fortwährend von oben und von unten sozial und kulturell
wahrgenommen und produziert (Hallet & Neumann 2009: 9).
4 „The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new
and unrecognisable, a new area of meaning and representation“ (Rutherford & Bhabha
1990: 211).
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 265

zugleich verwirrende und regenerierende Grenzerfahrung erschließen. Zuerst


analysiere ich verschiedene Formen der Grenzüberschreitung in Tawadas Essay-
sammlung Sprachpolizei und Spielpolyglotte (2007) und in ihrem Roman Schwager
in Bordeaux (2008). Zum Schluss betrachte ich Grenzziehungen und Grenzauf-
lösungen in dem Roman Etüden im Schnee (2014). Mein besonderes Augenmerk
gilt dem Dritten Raum als eine Kontaktzone zwischen dem Eigenen und Fremden.

2 Eine Welt ohne Grenzen?


Ich bin in Europa, ich weiß nicht, wo ich bin. Eines ist sicher: der Nahe Osten ist von
hier aus ganz nah. Der Ort, von dem aus der Nahe Osten ganz nah ist, heißt Europa.
Als ich noch im Fernen Osten lebte, war der Nahe Osten ganz fern (Tawada 2007a: 11).

Traditionell sind okzidentale Raumvorstellungen durch oppositionelle Binaritäten


gekennzeichnet. Auf der Landkarte bilden die Himmelsrichtungen Gegensatzpaa-
re wie Ost-­West und Nord-­Süd, die an politische und ideologische Konnotationen
gekoppelt sind. Bereits in ihrem ersten deutschsprachigen Text Wo Europa anfängt
(1989) betrachtet Tawada kritisch die imaginäre Geografie der Europäer, die Ed-
ward Said (1985: 3) zufolge Okzident und Orient als statische Denkmodelle kon-
struiert. Während Said die befestigende Rolle der Grenzziehungen betont, bemüht
sich Tawada, neue kulturelle und sprachliche Zwischenräume zu schaffen. Für sie
ist Europa eine ideologische Konstruktion, deren Grenzen willkürlich und änder-
bar sind. Es ist bloß eine Definitionsfrage, ob der Nahe Osten nah oder fern ist.
Wie Esther Kilchmann (2012: 9) bemerkt, wohnt einer literarischen Sprache
zwar immer eine fremdartige Eigenschaft inne, Abweichungen von Normen sind
jedoch Jahrhunderte lang mit Argwohn betrachtet worden. Tawadas Essaysamm-
lung Sprachpolizei und Spielpolyglotte inszeniert den Kampf zwischen den kontrol-
lierenden und den spielerischen Kräften der Sprache durch die Raummetapher
der Grenze. Wie die Protagonistin konstatiert, ist es die Aufgabe der Sprachpoli-
zei, Kategorien zu bilden, Ordnung zu bewachen und Grenzübergänge zu kon-
trollieren, während die Spielpolyglotte Sprachmischungen und Neuinventionen
benutzt, um die Willkürlichkeit der hierarchisierten Ordnung zu entlarven. Die
sprachlichen und kulturellen Grenzen werden durch Grenzpolizisten und Zoll-
beamten überwacht und die Buchstaben sind Reisende, die den Satz verlassen
können und in andere Sätze hineingehen (cf. Tawada 2007a: 31). Besonderes Au-
genmerk widmet die Protagonistin dem Prozess der Übersetzung als eine Trans-
formation, die nicht den ursprünglichen Inhalt unversehrt wiedergibt sondern
etwas Neues zustande bringt.
Ganz am Anfang der Essaysammlung Sprachpolizei und Spielpolyglotte steht
das Gedicht Slavia in Berlin. Der Titel präsentiert ein fremd klingendes Gebiet
266 Marja-­Leena Hakkarainen

innerhalb von Berlin. Die Ich-­Erzählerin kommt am Bahnhof Zoo an und ver-
sucht vergeblich, ihren Standort durch die erreichbaren Orte zu definieren.
Ich nahm Abu Simbel von meinen Kamerun und ging
Los Angeles,
verabredet um drei Uhr.
Ein Sonntag mit leuchtenden Aluminiumblättern
in Berlin.
Zigarettenautomaten waren Heilbronn,
Fahrkartenautomaten waren Kapstadt.
Die Maschine nahm mein Europa nicht an,
weder München noch Scheine.
Willst du dann in den Schwarzwald fahren?
Nein, aber ich war spät dran,
musste ein Texas nehmen (ibid.: 7).

Michel Foucault zufolge ist die heutige Welt eher durch räumliches Nebeneinander
als durch zeitliches Hintereinander geprägt (cf. Hallet & Neumann 2009: 13). In
Tawadas Gedicht Slavia in Berlin existieren Orte wie Texas, Schwarzwald und Los
Angeles scheinbar willkürlich neben- und übereinander. Überschritten werden
nicht nur geografische sondern auch kulturelle und grammatikalische Grenzen
(„Weder München noch Scheine“). Dabei werden einzelne Wörter durch ähnlich
klingende Ortsnamen ersetzt („Lassen Sie mich dann hier Australien“, „Ich werde
schon Finnland“). Wie Laura Peters (2012: 243) feststellt, spiegelt die Wahrneh-
mung des Raumes die Unsicherheit eines Reisenden in einem fremdsprachigen
Milieu wider. Die Verabredung wird zwar wie gewohnt auf eine bestimmte Uhr-
zeit festgelegt, im Falle einer Verspätung muss man jedoch umdisponieren und
„ein Texas nehmen“. Wenn man mit Bhabha davon ausgeht, dass die kulturelle Hy-
bridität mit Freuds Konzept des Unheimlichen verwandt ist, ähnelt die Situation
des Reisenden dem Prozess der Hybridisierung. Der Dritte Raum wirkt nicht nur
befreiend, sondern destabilisiert auch die Identität und kann unter Umständen
Angstzustände auslösen (cf. Bhabha 2004: 54).
In der Literatur können die Raummetaphern als Mittler zwischen verschiede-
nen kulturellen Räumen fungieren. Da sie nicht auf bestimmte Bedeutungen fest-
gelegt sind, sind sie imstande, einen kulturellen Zwischenraum zu erschließen.5
Im Gedicht Slavia in Berlin bilden die fremd klingenden Ortsnamen wie Onkel
Toms Hütte, Majakovskij-­Ring und Ishtar-­Tor eine transkulturelle Beziehung
zwischen der lokalen und globalen Ebene (Peters 2012: 243 f.). Dabei eröffnen

5 Wie Birgit Neumann (2009: 33) feststellt, sind Grenzüberschreitungen und Transgres-


sionen konstitutive Momente für den Dritten Raum (cf. Schmitz-­Emans 2013: 259 f.).
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 267

die vielfältigen Transgressionen einen Zwischenraum, der nicht nur eine Ver-
mischung von Elementen, sondern etwas bisher nicht Dagewesenes darstellt. Am
Ende des Gedichtes fährt das sprechende Ich „zu dem Bahnhof Nirgendzoo“ (Ta-
wada 2007a: 10). Dieser Ort, der aus einer Mischung von dem Berliner Bahnhof
Zoo und Nirgendwo entsteht, ist ein Beispiel für den imaginären Dritten Raum.
Laut Foucault (2003: 68 f.) beziehen sich die Grenzen und ihre Überschrei-
tungen aufeinander, so dass es keine Grenze ohne eine Übergangsmöglichkeit
gibt und auch keine Überschreitung ohne eine Grenze. Daraus folgt, dass die
Transgressionen der Spielpolyglotte die Existenz von Grenzen voraussetzen. Es
ist beachtenswert, dass die Grenzen nicht nur Trennungs- oder Verbindungs-
linien sind sondern auch das Grenzgebiet umschreiben. Auf diesem Gebiet kön-
nen binäre Oppositionen aufgelöst und durch neue Transformationen ersetzt
werden. Wie Wibna Surawa (2013: 337) bemerkt, geht es Tawada nicht nur um
Grenzüberschreitungen, sondern insbesondere um die Kultivierung des Grenz-
gebiets. In ihrer Essay-­Sammlung Sprachpolizei und Spielpolyglotte nutzt Tawada
die kreativen Möglichkeiten des Spiels, um auf dem Grenzgebiet zwischen dem
Eigenen und Fremden etwas Neues zu artikulieren.

3 „Die Katze im Meer“


La piscine: es musste etwas Flüssiges sein. Kein Wunder: es war genau der Ort, der Mau-
rice einem der vier Elemente, dem Wasser, zugeordnet hatte (Tawada 2011: 153)

Das fließende Wasser gilt oft als Gegensatz zum festen Land. Hansjörg Bay
(2013: 239) bemerkt, dass das Abendland und das okzidentale Selbstverständnis
dazu geneigt sind, sich über das Land zu definieren und dabei das Element des
Wassers zu verdrängen. In einem Interview mit Ortrud Gutjahr (2013: 44) be-
stätigt Tawada, dass das Wasser ihre Leitmetapher ist. Besonders markant ist die
Rolle der Wasser-­Metaphorik in dem Roman Schwager in Bordeaux (2008), der
aus verschiedenen Episoden und Erinnerungen besteht.
Ausgangspunkt des Romans ist der Wunsch der Protagonistin Yuna, ins Aus-
land zu reisen und Französisch zu lernen. Ihre Freundin Renée arrangiert für
sie die Möglichkeit, im Haus ihres Schwagers Maurice in Bordeaux zu wohnen.
Die Wahrnehmungen der Protagonistin sind eng verbunden mit Erinnerungen
und Träumen. Im Fokus der Erzählung liegt der Besuch einer Schwimmhalle, wo
Yunas deutsch-­französisches Wörterbuch gestohlen und zurück gegeben wird. Im
Schwimmbecken erlebt sie Todesangst, und am Strand wird sie von einer Gruppe
Toter verfolgt. Die letzten Seiten gelten ihrem Kater Tamao, dessen Tod sie erst
jetzt beweinen kann. Am Ende des Romans steht die Protagonistin verzweifelt
vor der Tür der Umkleidekabine, deren Geheimcode (ihr eigener Geburtstag) sie
268 Marja-­Leena Hakkarainen

vergessen hat. Am Ende erscheint die Diebin des Wörterbuches, tippt die richtige
Zahl für sie ein, und die Tür öffnet sich.
Anstelle einer Orientierung in einer fremden Stadt behandelt Tawadas Roman
eine innere Reise zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Tod, Traum
und Wachsein. Symbolisch wichtig erscheint der Strand als Grenze zwischen
Wasser und Land. Der Name Bordeaux enthält sowohl die Grenze (bord) als auch
das Wasser (Bandhauer 2013: 211). Die Stadt liegt nicht direkt am Meer, genauso
wenig wie Hamburg.
Yuna dachte an eine flache, grüne Landschaft mitten in Schleswig-­Holstein, wo man kein
Meer sah aber roch. Ein Kanal teilte das Land in zwei Hälften. Wenn ein Frachtschiff
durch den Kanal fuhr, um von der Ostsee aus die Nordsee zu erreichen, sah es aus, als
würde das Schiff auf einer Wiese fahren. Gräser waren Wellen, Holsteiner waren Delphine
und Yuna fuhr mit ihrem Fahrrad auf dem grünen Meer (Tawada 2011: 113).

Wie Birgit Neumann (2009: 132) betont, ist das Entscheidende am Konzept des
Dritten Raumes das utopische Moment, das sich als ein positiver Gegenentwurf
für die hierarchische Raum-­Ordnung darstellt. In Tawadas Roman ist der Ort zwi-
schen Land und Meer zugleich real und imaginär. Das Frachtschiff fährt tatsäch-
lich durch den Kanal, doch sieht es aus, als ob es auf Gras fahre. Die Erinnerung
an die Fahrradtour auf dem grünen Meer impliziert eine Utopie, die nicht nur die
dichotomische Raum-­Ordnung überschreitet, sondern auch Naturgesetze außer
Kraft setzt. Ähnlich bezeichnet das Bild von den Holsteinern als Delphine einen
spielerischen Übergang vom Mensch zum Tier.
Die Erzählung in Tawadas Roman verläuft nicht linear, sondern wellenartig,
so dass der Text einem Gemälde ähnelt, dessen Teile in scheinbar willkürlicher
Reihenfolge sichtbar werden. Die Zusammenhänge zwischen den Teilen sind
nicht kausal, sondern metaphorisch nachvollziehbar. Das Motiv der Wiedergeburt
erscheint bereits am Anfang des Romans in einem Gespräch zwischen Yuna und
Renée. Während die Französin die Renaissance als Befreiung der menschlichen
Sinnlichkeit versteht, bemerkt Yuna in Botticellis Primavera einen Widerspruch
zwischen den heiteren Körperbewegungen und den deprimierten Gesichtszügen.
Für sie bedeutet Renaissance den Anfang einer Spaltung von Körper und Geist,
die in das Zeitalter der Melancholie einmündet. Am Ende des Romans erlebt
Yuna selbst eine Wiedergeburt, wenn sie im Schwimmbecken ein traumatisches
Ereignis aus ihrer Kindheit wiedererlebt und panische Angst hat, im Wasser zu
ertrinken. Der Strand als Zwischenraum trägt jedoch mehr dystopische als uto-
pische Züge und ähnelt so dem Ort des Unheimlichen.
Der transkulturelle Aspekt wird im Roman Schwager in Bordeaux schon in der
äußeren Buchgestaltung sichtbar. Zwischen den einzelnen Paragraphen stehen
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 269

kleine sinojapanische Schriftzeichen, die nicht erklärt werden, genauso wenig


wie die einzelnen groβen Zeichen, die jeweils eine ganze Seite in Anspruch neh-
men. Die alphabetische Schrift und die Ikonogramme bilden einen Doppeltext,
dessen Inhalt den meisten europäischen Lesern nur zur Hälfte verständlich ist.
(vgl. Bandhauer 2013: 211) Ein weiteres transkulturelles Motiv ist das wiederholt
erwähnte Projekt der Protagonistin, Racines Phédre im chinesischen Theater zu
inszenieren. Eine Möglichkeit wäre die Tradition des Kabuki-­Theaters, das die
Rolle der Verwandtschaftsbeziehungen betont, eine andere das Nō-­Theater mit
einem Fokus auf den Toten.6
Die Traumszene am Ende des Romans ähnelt der Nō-­Tradition insoweit, dass
die Erzählerin zwischen Tod und Leben schwankt und von einer furienartigen
Gruppe ihrer toten Freunde verfolgt wird. Im Fokus des Alptraums steht allerdings
nicht der Verlust einer geliebten Person, sondern der Tod ihres Katers Tamao. Die
europäische Literatur hat sich lange mit den zwischenmenschlichen Problemen
in der Familie beschäftigt, die Inszenierung des französischen Klassikers im Stil
des Nō-­Theaters präsentiert jedoch den Tod eines Katers als ein tragisches Motiv,
das im aristotelischen Sinne Mitleid und Furcht erregt.
Die Metapher des Meeres ist in jeder Sprache mit symbolischen Konnotatio-
nen beladen. Das japanische Wort für das Meer, „kashikoshi“, bedeutet sowohl
Macht und Respekt als auch das Extreme.7 In Tawadas Roman entwickelt sich
das Meer zu einem Dritten Raum, in dem man etwas Unerwartetes – Gutes oder
Böses – finden kann. Am Ende erscheint es als ein imaginärer Kontaktraum, der
die Möglichkeit impliziert, etwas Unerwartetes zu finden.
Eine Katze im Meer suchen: dieses Sprichwort behauptet nicht etwa, dass die Suche um-
sonst sei, sondern dass man in einem Meer alles Mögliche finden kann sogar etwas Un-
erwartetes. Fahr zu einem Meer und starre auf seine Oberfläche. Stundenlang, tagelang.
Eine Katze im Meer suchen: ein Sprichwort, das Yuna erfunden hat (Tawada 2011: 200).

Für Yoko Tawada ist das Meer nicht nur eine poetische Metapher. Als sie 2011
eine Vorlesungsreihe zum Thema Wasser plante, löste ein Erdbeben in Japan
einen Tsunami aus. Die anschließende Unfallserie im Kernkraftwerk in Fukus-
hima verursachte den Tod von ca. 20.000 Menschen und eine weitreichende Ver-
seuchung sowohl des Bodens als auch des Meeres. Ursprünglich wollte Tawada
über Meerjungfrauen reden, aber angesichts der Katastrophe änderte sie ihren
Fokus und sprach in ihren Hamburger Poetik-­Vorlesungen über die Ozeane als

6 Über die Rolle der Toten als Theaterfiguren siehe Tawada 2007: 113 f.
7 In der japanischen Kultur ist das Wasser zugleich „das Nährende und das Verzehrende“
(Pörtner 1998: 81).
270 Marja-­Leena Hakkarainen

historische und kulturelle Kontaktzonen zwischen Ost und West.8 Die Japaner
lebten jahrhundertelang isoliert, und die Öffnung zum Westen führte das Land
zwar zum wirtschaftlichen Erfolg, aber auch zum Zweiten Weltkrieg und zum
Atombombenabwurf auf Hiroshima. Es liegt auf der Hand, dass die von Menschen
verursachten Schäden an der Natur die Zerstörung durch die Naturkräfte bei
weitem übersteigen.
Tawadas Hamburger Poetik-­Vorlesungen machen deutlich, dass Grenze und
Meer für sie nicht nur ästhetische Metaphern sind, sondern einen starken Rea-
litätsbezug haben. Das Wasser ist insoweit grenzenlos, dass es alle Lebewesen
durchströmt. Weil Wind und Wasser nationale und kulturelle Grenzen ignorieren,
unterscheidet das globale Öko-­System nicht zwischen dem eigenen und fremden
Wasser. Durch die Weltmeere sind die Nationen und Kulturen gleichzeitig von-
einander abgegrenzt und mit einander verbunden.

4 Sprache der Eisbären


Die nationale Identität ist den Eisbären schon immer fremd gewesen. Es war bei ihnen
üblich, in Grönland schwanger zu werden, die Kinder in Kanada zu gebären und sie in
der Sowjetunion großzuziehen. Sie besaßen keine Staatsangehörigkeit, keinen Reisepass.
Sie gingen nie ins Exil, überquerten die Grenzen, ohne sich irgendeine Genehmigung zu
holen (Tawada 2014: 109).

Innerhalb der Literaturwissenschaft bilden die Human-­Animal-­Studies ein relativ


neues Feld, das sich kritisch mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier aus-
einandersetzt. Laut Kari Weil (2012: 5) sind sie eine Erweiterung der Debatten
über Differenz, Macht und das Andere („If animal studies has come of age, it is
perhaps because nonhuman animals have become a limit case for theories of
difference, otherness and power“). Tawadas jüngster Roman Etüden im Schnee
steht im Einklang mit dem literaturökologischen Ansatz, indem er die Beziehung
zwischen Eisbären und Menschen in Form eines Generationenromans betrach-
tet. Die Eisbären sind starke Wanderer, die rund um den Nordpol auf Eis leben
(Bieber 2012: 25). Im Fokus des Romans stehen jedoch Grenzübergänge und
Grenzziehungen in europäischen Zoos und Zirkussen.

8 Ursprünglich wollte sie die Sprache der weiblichen Wasserwesen mit einem wissen-
schaftlichen Diskurs konfrontieren. Die neuen Titel der Vorlesungen hieβen „Die
Europäer landen an“, „Die Seefahrt der Sprachen“ und „Die schwarzen Schiffe der
Moderne“. In der letzten Vorlesung beschreibt sie, wie die Japaner eine jahrhunderte-
lange Isolation vom Westen beenden und Kontrakte mit den Amerikanern knüpfen
(Tawada 2013: 49 f.).
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 271

Das Tier ist seit jeher als das Andere des Menschen verstanden worden. Der
Frühaufklärer René Descartes erklärte die Tiere zu maschinenähnlichen Wesen,
denen das Ichbewusstsein fehlt. In der Aufklärung galt die Fähigkeit zur Sprache
und zum freien Denken als Kriterium der Unterscheidung zwischen Mensch und
Tier. In der Artikelsammlung The Animal That Therefore I Am behauptet Jacques
Derrida (2008: 29), dass der Blick des Tieres dem Menschen seine eigene Nackt-
heit bewusst macht, und gerade an dieser Stelle kann sich neues Denken in Gang
setzen („The animal looks at us, and we are naked before it. Thinking perhaps
begins there“). Wie Derrida bemerkt, hätten die Tiere nach Kants Auffassung
kein autobiographisches Verhältnis zu sich selbst, weil ihnen die Ich-­Form fehlt
(Derrida 2008: 93). Tawadas Autobiographie einer Eisbärin steht im bewussten
Widerspruch zu der normativen Prämisse der Aufklärung und der Untertitel
des ersten Kapitels „Evolutionstheorie der Groβmutter“ erweitert den kritischen
Blick auf Darwin und sagt dem Mythos der menschlichen (und männlichen)
Überlegenheit den Kampf an. In dem Roman Etüden im Schnee sind Denken und
Sprache nicht das Privileg der Gattung Homo Sapiens.
Die Eisbärin als Ich-­Erzählerin des ersten Kapitels kann sich nicht an ihre
Mutter erinnern und versucht, durch das Schreiben ihre Kindheit am Nordpol
zurückzugewinnen. In einem russischen Zirkus wurde ihr mit harter Dressur
beigebracht, auf zwei Beinen zu stehen. Ihre Hinterbeine waren geschützt, aber
die Vorderbeine musste sie schnell hoch heben, wenn der Käfigboden erhitzt
wurde. Als sie wegen eines Hüftleidens nicht mehr tanzen konnte, nutzte sie ihre
Fertigkeiten bei wissenschaftlichen Konferenzen, um blitzschnell ihre Pfote zur
Wortmeldung zu heben.
An jenem Tag stellte ich aber fest, dass es etwa nicht mein freier Wille, sondern eine Art
Reflex war, der meine Pfotenhand schnell nach oben brachte. Diese Erkenntnis stach
durch meine Brust, ich versuchte, die Schmerzen aus mir zu vertreiben und wieder in
meinen Rhythmus zurückzufinden, der aus einem Vierer-­Takt bestand: Der erste Schlag
war das zurückhaltende „Bitte” vom Vorsitzenden, der zweite Schlag bestand aus dem
Wort „Ich“. Ich knallte dieses Wort auf den Tisch. Beim dritten Schlag schluckten alle
Zuhörer, und beim vierten wagte ich einen mutigen Schritt, indem ich das Wort „den-
ke“ deutlich aussprach. Damit das Ganze ins Schwingen kam, betonte ich natürlich den
zweiten und vierten Schlag (Tawada 2014: 9).

Der gelernte Vierertakt resultierte aus den Zirkus-­Übungen mit brennenden Vor-
derpfoten und Grammophonmusik. Da der Konferenzsaal und die Zirkusarena
als soziale Räume einander ähnlich sind, hebt sie als erste im Saal ihre Vorder-
pfote und beginnt ihren Redebeitrag mit dem cartesianischen Spruch: Ich denke.
Die Dekonstruktion der Grenze zwischen Mensch und Tier ist für Derrida
sowohl eine ethische als auch eine politische Frage (cf. Nyman 2014: 111). Die
272 Marja-­Leena Hakkarainen

Eisbären sind Wanderer, die mühelos nationale und kulturelle Grenzen über-
schreiten. In Tawadas Roman sind sie jedoch zwangsweise nach Europa gebracht
worden, um als Schauobjekte den Menschen Vergnügen zu bereiten. Die Groß-
mutter war eine berühmte Artistin in der Sowjetunion und konnte sowohl tanzen
als auch Fahrrad fahren. Die Vorstellung von Eisbären auf Fahrrädern gleicht
einer hybriden Tier-­Maschine-­Zusammensetzung. Die Erzählerin betont jedoch,
dass die Bären nur zwischen Peitsche und Zucker wählen dürfen. Zwar sind die
Zirkusarbeiter auch nicht frei, sondern müssen ihren Unterhalt mühsam ver-
dienen. Das Tötungsverbot gilt jedoch nur für die Menschen, ungehorsame oder
unattraktive Tiere können aus materiellen Gründen ohne viel Federlesen getötet
werden.
In Zeiten des kalten Krieges pendelt die Groβmutter zwischen Ost und West
und wird als Vertreterin einer „ethnischen Minderheit“ von beiden Seiten po-
litisch ausgenutzt. Ihr literarisches Vorbild und Mentor ist Franz Kafka, der in
seinen Tier-­Erzählungen die Problematik der Differenz in den Griff bekam. Die
Geschichte von der Sängerin Josephine gefällt der Großmutter sehr, die Mensch-
werdung des Affen in „Bericht an die Akademie“ dagegen irritiert sie. Im Prinzip
hat sie ein ähnliches Schicksal erlebt, als sie genauso wie Kafkas Affe ihre Kindheit
als Tier vergaß, um menschliche Gesten und Ausdrucksweisen zu imitieren.
Das zweite Kapitel („Der Todeskuss“) hat zwei Erzähler. Im ersten Teil schreibt
die Raubtierdresseurin Barbara die Biographie der Eisbärin Toska I, und an-
schließend wird ihre eigene Lebensgeschichte von einer anderen Bärin (Toska II)
erzählt. Toska I ist die Tochter der Großmutter und tanzt auf der ostdeutschen
Zirkusbühne die Hauptrolle im Stück „Der Eisbärensee“ als eine Variation des
Balletts Der Schwanensee von Tschaikowski.9 Die Dompteuse beschreibt, wie sie
mit Toska die beliebte Zirkusnummer „Der Todeskuss“ übte, dessen Kunststück
darin bestand, dass die Eisbärin ein Stück Zucker aus dem Mund des Menschen
holte.
Ich sah die schwarze Flamme in Toskas Pupillen flackern. Es wurde hell um mich, so
hell, dass es mich blendete und die Trennlinie zwischen der Wand und der Decke ver-
schwand. Ich empfand weiter keine Angst vor Toska, aber die Atmosphäre um sie mutete
furchterregend an. Ich befand mich bereits in einem Bereich, den niemand betreten
dürfte. Dort, in einer Finsternis, verloren die Grammatiken verschiedener Sprachen ihre
Farbe, sie schmolzen, mischten sich, froren wieder ein, trieben auf dem Meer, zu den

9 Toska I kann nicht selbst schreiben, da sie eine Figur in der Autobiographie ihrer
Mutter ist. Toska II ist ihre Doppelgängerin, die die Biographie von Barbara schreiben
will.
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 273

Eisschollen, die auf dem Meer trieben. Ich saß auf derselben Eisscholle wie Toska und ver-
stand jedes Wort, das sie mir sagte. Neben uns schwamm noch eine Eisscholle, auf der ein
Inuk und ein Schneehase saßen und sich miteinander unterhielten (Tawada 2014: 123).

Die Vorstellung von dem arktischen Meer und von verschwimmenden Grenzen
erinnert stark an das utopische Moment, das für den Dritten Raum charakteris-
tisch ist. Bhabha zufolge findet die Begegnung zwar zwischen Kolonisator und
Kolonisierten statt, dennoch weist die Situation Ähnlichkeiten mit der hierar-
chischen Ordnung des Mensch-­Tier-­Dualismus auf. Tawadas Raumvision von
vertraulichen Gesprächen am arktischen Ozean veranschaulicht eine glückliche
Überschreitung der Speziesgrenze. Sie entspricht auch der Definition von Edward
Soja (2009: 50), der den Begriff Thirdspace als Einladung zu einem offenen Raum
mit vielfältigen, scheinbar unvereinbaren Perspektiven versteht. Ausschlaggebend
sowohl für ihn als auch für Bhabha ist, dass sich im dritten Raum etwas Neues
artikulieren lässt (cf. Struve 2013: 93).
Der Ich-­Erzähler des dritten Kapitels („Im Andenken an den Nordpol“) ist
der junge Eisbär Knut, der tagebuchartig seine Empfindungen im Berliner Zoo
schildert. Er ist von Geburt an von Menschenhand gepflegt worden, weil seine
Mutter Toska sich um ihn nicht kümmern wollte. Beide Figuren stammen aus
der Realität. Die Eisbärin Tosca (geb. 1986 in Kanada) wurde im Staatszirkus der
DDR gehalten und gehörte zu der berühmten Eisbärengruppe von Ursula Bött-
chen. Knut wurde 2006 geboren, und der Tierpfleger Thomas Dörflein pflegte
ihn sorgfältig rund um die Uhr (cf. Jauer 2010: 1). Sowohl in der Realität als auch
im Roman wird Knut zum Symbol des Kampfes gegen den Klimawandel. Als
niedliches Baby war er außerdem ein Kassenmagnet, der dem Zoo neben Ein-
trittsgeldern auch eine Flut verschiedener Knut-­Produkte wie Stofftiere, Schlüs-
selanhänger, Teekannen, Geldbörsen und Plastikhüllen für tragbare Telefone
einbrachte (Tawada 2014: 289). Knut gesteht den Lesern, dass er seinen Appetit
völlig verlor, als er eines Tages in der Zeitung eine Karikatur seines Körpers in
Form eines Euro-­Scheins entdeckte. Nach dem Tod seines Pflegers Matthias ist
er sehr einsam und träumt nur davon, sich mit dem vielen Geld freizukaufen.
Bekanntlich ist der Publikumsliebling Knut 2011 im Berliner Zoo gestorben, und
im Roman wird sein literarischer Doppelgänger von den Schneeflocken behutsam
in die Heimat seiner Vorfahren gebracht. Wie Robert C. Young bemerkt, ist der
Dritte Raum auch ein Ort der Trauer und der Klage über den erlittenen Verlust.10

10 „The third space is also a site in the sense of a situation, and for the subject, a site’s
other sense too, that is, of care or sorrow, grief and trouble: to make site is to lament
or mourn“ (Young 2011: 82).
274 Marja-­Leena Hakkarainen

Lebensgeschichten bilden den Kern der modernen und postmodernen Li-


teratur. In der neueren Literatur sind (Auto-)Biographien oft durch den Hang
zur Wirklichkeit gekennzeichnet. Wie Peter Braun und Bernd Stiegler (2012: 11)
feststellen, verbindet insbesondere die neue performative Erzählweise Reflexivität
mit einer historischen oder zeitgeschichtlichen Referentialität. In Tawadas Ro-
man Etüden in Schnee wird die Grenze zwischen Faktualität und Fiktion in vieler
Hinsicht überschritten. Die Nordpolträume der Eisbären haben einen tragischen
Hintergrund, wenn man bedenkt, dass ihre Zukunft in der Arktis durch globale
Erwärmung und Ausbeutung der Naturressourcen ernsthaft bedroht ist (cf. Bieber
2012: 141 f.). Alptraum und Wirklichkeit gehen ineinander über in den Schluss-
worten der Großmutter:
Ich suchte nicht mehr nach dem Festland, sondern nach einem etwas größeren Eisblock.
Nach etlichen Enttäuschungen fand ich endlich eine Eisscholle, die so massiv war, dass sie
mein Gewicht trug. Ich balancierte drauf, starrte nach vorne und spürte, dass sie durch
die Wärme meiner Fußsohlen Sekunde für Sekunde mehr schmolz. Die Insel aus Eis war
noch so groß wie mein Schreibtisch, aber irgendwann wird sie nicht mehr da sein. Wie
viel Zeit bleibt mir noch? (Tawada 2014: 93 f.).

5 Poetik des Dritten Raumes


Die poetische Sprache wirft ein Netz ins Wasser. In ein Netz kann alles Mögliche hinein-
kommen und gerade das Unerwartete macht den Fang interessant (Tawada 2012: 243).

Die Raummetaphern haben eine wichtige identitätsstiftende Funktion, weil sie


Grenzziehungen und Grenzauflösungen zwischen dem Eigenen und Fremden
bewirken. Sowohl Sprachpolizei und Spielpolyglotte als auch Schwager in Bordeaux
sind durch das Spiel mit Grenzen und Überschreitungen geprägt. Die Grenzlage
wirkt befreiend, dennoch kann der Zwischenraum als Ort des Unheimlichen er-
scheinen. Im Mittelpunkt des Romans Etüden im Schnee steht die Überwindung
des Mensch-­Tier-­Dualismus. Obwohl die Speziesgrenze durchlässig erscheint,
wird sie in dem Roman nur in Träumen überschritten.
Das Konzept des dritten Raumes bezeichnet ein transitorisches Grenzgebiet,
aber er kann auch als Begegnungsort zwischen verschiedenen Kulturen oder
Spezies verstanden werden. In dem Erzählband Sprachpolizei und Spielpolyglotte
erscheint kulturelle Hybridität als ein Moment, in dem sich etwas bisher nicht
Dagewesenes artikulieren lässt. In Schwager in Bordeaux rückt die Schwelle von
Leben und Tod als eine Kontaktzone in den Vordergrund. In Tawadas jüngstem
Roman Etüden im Schnee eröffnet sich der dritte Raum zwar zunächst als ein
utopisches Moment der Verständigung zwischen Mensch und Tier, erweist sich
jedoch zum Schluss als Ort der Trauer und der elegischen Klage.
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 275

Die fiktive Überschreitung der Grenzen ändert nicht nur das Verständnis von
Literatur, sondern auch die Interpretation der Wirklichkeit. Im Leseprozess können
literarische Transgressionen die Entwicklung einer kulturellen Hybridität bei den
Rezipienten fördern und neue Denkweisen in Gang setzen. Yoko Tawadas tran-
sitorische Raummetaphern sind ein integraler Bestandteil der Poetik und Politik des
Dritten Raumes, die uns in die Lage versetzen, die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Anstelle von Einfühlung müssen wir jedoch eine Veränderung in uns und in unserer
Raumwahrnehmung erleben. Erst dann wird es für uns möglich, das Unerwartete,
wie eine Katze im Meer, zu finden, oder die Sprache der Eisbären zu verstehen.

Literatur
Bandhauer, Andrea 2013: „‚Wenn nicht du es bist, wer bist du dann?‘ Wasser,
Weiblichkeit und Metamorphosen in Tawadas Schwager in Bordeaux“, in: Gut-
jahr (ed.) 2013: 203–217
Bay, Hansjörg 2013: „‚Eine Katze im Meer suchen‘. Yoko Tawadas Poetik des
Wassers”, in: Gutjahr (ed.) 2013: 203–217
Bhabha, Homi K. 2011: The Location of Culture, London: Routledge
Bieber, Robert E. 2012: Bär , aus dem Englischen von Isabelle Fuchs, Hildesheim:
Gerstenberg
Braun, Peter & Stiegler, Bernd 2012: „Die Lebensgeschichte als kulturelles Mus-
ter“, in: id. (eds.): Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von
der Moderne bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript, 9–20
Derrida, Jacques 2008: The Animal That Therefore I Am, ed. Marie-­Louise Mallet,
New York: Fordham University Press
Finger, Evelyn 2011: „Deutsche Sprache und europäische Kultur als zweite Hei-
mat. Über Yoko Tawadas transitorische Methode des Schreibens“, in: Paul Mi-
chael Lützeler & Jennifer M. Kapczynski (eds.) 2011: Die Ethik der Literatur.
Deutsche Autoren der Gegenwart, Göttingen: Wallstein, 258–264
Foucault, Michel 2003/1994: Schriften zur Literatur, eds. Daniel Defert et al.,
Frankfurt/M.: Suhrkamp
Gutjahr, Ortrud 2013: „Vom Hafen aus. Meere und Schiffe, die Flut und das Fluide
in Yoko Tawadas Hamburger Vorlesungen“, in: id. (ed.) 2013: 451–480
Gutjahr, Ortrud (ed.) 2013: Fremde Wasser, Tübingen: Konkursbuch
Hallet, Wolfgang & Neumann, Birgit 2009: „Raum und Bewegung in der Literatur:
Zur Einführung“, in: id. (eds) 2009: 11–32
Hallet, Wolfgang & Neumann, Birgit (eds) 2009: Raum und Bewegung in der Li-
teratur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript
276 Marja-­Leena Hakkarainen

Hühn, Melanie et. al 2010: „In neuen Dimensionen denken?“, in: id. (eds.) 2010:
Translokalität, Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Berlin:
Lit, 11–46
Jaur Marcus 2010: „Knut. Ein typischer Berliner Bär”, im Internet: http://www.
sueddeutsche.de/panoram/2.220/knut
Kilchmann, Esther 2012: „Poetik des fremden Worts“, in: Zeitschrift für interkul-
turelle Germanistik 2.1 (2012): 109–132
Lakoff, Georg, Johnson, Mark 72011: Leben in Metaphern. Konstruktion und Ge-
brauch von Sprachbildern, Heidelberg: Carl-­Auer
Neumann, Birgit 2009: ”Imaginative Geographien in kolonialer und postkolonia-
ler Literatur: Raumkonzepte der (Post-)Kolonialismusforschung”, in: Hallet &
Neumann (eds.) 2009: 115–138
Nyman, Jopi 2014: “Ethical Encounters with Animal Others in Travel Writing”,
in: Corinne Fowler, Charles Forsdick & Ludmilla Kostova (eds.) 2014: Travel
and Ethics. Theory and Practice, London: Routledge, 108–127
Peters, Laura 2012: Stadttext und Selbstbild. Berliner Autoren der Postmigration
nach 1989, Heidelberg: Universitätsverlag
Pörtner, Peter 1998: “Mizu ni e o kaku – Bilder ins Wasser malen”, in: Hartmut
Böhme (ed.) 1998: Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt/M.: Suhrkamp,
279–313
Rutherford, Jonathan & Bhabha, Homi K. 1990. “The Third Space. Interview with
Homi K. Bhabha”, in: Jonathan Rutherford (ed.) 1990: Identity, Community,
Culture, Difference, London: Lawrence & Wishart, 207–221
Said, Edward 1979: Orientalism, New York: Vintage Books
Schmitz-­Emans, Monika 2013: “Yoko Tawadas Imaginationen zwischen west-
lichen und östlichen Schriftkonzepten und -Metaphern”, in: Gutjahr (ed.)
2013: 269–297
Soja, Edward 1989: Postmodern Geographies. The Reassertation of Space in Critical
Social Theory, London: Verso
Soja, Edward 2009: „Thirdspace: Toward a New Consciousness of Space and Spa-
tiality”, in: Karin Ikas & Gerhard Wagner (eds.) 2009: Communicating in the
Third Space, New York: Routledge, 49–61
Surana,Vibna 2013: „Was hört auf, wenn Europa anfängt? Zu Yoko Tawadas
Grenzpoetik”, in: Guthjahr (ed.) 2013: 333–349
Struve, Karin 2013: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk,
Wiesbaden: Springer
Tawada, Yoko 2007 a: Sprachpolizei und Spielpolyglotte, Tübingen: Konkursbuch
Grenze und Meer als transitorische Raummetaphern 277

Tawada, Yoko 2007 b: „Das Theater der Toten”, in: Julia Genz et. al. (eds.) 2007: An
Grenzen. Literarische Erkundungen, Saarbrücken: Wehrhahn, 110–119
Tawada,Yoko 2011: Schwager in Bordeaux, Tübingen: Konkursbuch
Tawada, Yoko 2012: „Spaziergang durch eine poetische Fläche“, in: Claudia Gehr-
ke et. al. (eds.) 2012: „Was Schönes“. Konkursbuch 50. Glück & Sinn, Tübingen:
Konkursbuch, 240–249
Tawada, Yoko 2013: „Hamburger Vorlesungen“, in: Gutjahr (ed.) 2013: 49–122
Tawada, Yoko 2014: Etüden im Schnee, Tübingen: Konkursbuch
Weil, Kari 2012: Thinking Animals. Why Animal Studies Now, New York: Columbia
University Press
Welsch, Wolfgang 2012: „Was ist eigentlich Transkulturalität?“, in: Dorothee Kim-
mich & Schamma Schahadat (eds.) 2012: Kulturen in Bewegung. Beiträge zur
Theorie und Praxis der Transkulturalität, Bielefeld: transcript, 25–40
Young Robert 2011: „The Void of Misgiving“, in: Karin Ikas & Gerhard Wagner
(eds.) 2011: Communicating in the Third Space, New York: Routledge, 81–95
Şebnem Sunar (Istanbul)

Ist die Realität nur der Transitraum in


die Dystopie? Die Welt zerstreuter Träume
in Christian Krachts Roman
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Abstract: Literary texts build spaces. They offer spatial information, not only because
they take place in spaces, but also because they are structured spatially and produce space
aesthetically. Information on literary space offers different concepts of the world. Hence,
literature has focused on the concepts and counter-­concepts of the new world order after
the re-­structuring of the European geopolitics in 1989. The Swiss writer Christian Kracht
in his 2008 novel Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, designs an alter-
native world in which a counter-­history of the 20th century builds a dystopia: The year
is 1917. Lenin, instead of going to St. Petersburg, stays in exile in Switzerland and the
Russian Revolution does not take place; a Soviet Republic in Switzerland is founded. The
novel draws a dark picture of life where the fictional reality is shaped as a transit space in
existing geographical spaces. This transforms the reality into a dystopian aesthetic transit
space. Kracht’s novel reveals not only the end of the existing dystopias, but also the loss of
meaning of potential utopian ways of thinking. This study questions whether the existing
utopias are too good to be realised in real life and dystopias are too bad to be lived through.
Based on Kracht’s novel, the study examines whether the collapse of utopias produces a
transit space which will end in a different dystopia.

1 Einleitung
Schon immer hat die Einbildungskraft Orte fantasiert und entworfen, Welten
erfunden und gebastelt, um ein Universum entstehen zu lassen. In literarischen
Texten ist immer ein Raumwissen aufbewahrt, nicht nur, weil sie ein solches
als Thema behandeln, sondern auch weil sie sich selbst räumlich aufbauen und
dadurch Räume verkörpern, indem sie diese ästhetisch herstellen. Literarische
Texte erweisen sich als Raum und erfüllen eine räumliche Funktion. Demgemäß
wirkt literarisches Raumwissen immer als ein Wissen über Räume, die auch von
bestehenden Weltordnungskonzepten begleitet sind. In diesem Zusammenhang
beschäftigt sich die Literatur auch nach der politisch-­geographischen Neuord-
nung Europas seit 1989 mit dem (Gegen-)Entwurf von neuen Weltordnungskon-
zepten. So werden nun in neuen geographischen Räumen literarische Gattungen
wie Utopien und Dystopien sowie Themen aus dem Bereich der Science-­Fiction
280 Şebnem Sunar

weiterbearbeitet, umgemodelt oder aber aktualisiert. Dadurch wird auch die be-
kannte Historie umgeschrieben, so dass die einzelnen Werke der oben genannten
Gattungen in ein neues, meist Kritik ausübendes Weltbild passen und mithin eine
neue, wenn auch fiktive, Realität bilden.
So hat der schweizerische Autor Christian Kracht in seinem dystopisch-­
kontrafaktischen Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
(2008) aus uns bekannten geographischen Koordinaten eine durchaus fremde Al-
ternativwelt gebastelt. Der Roman baut eine Dystopie auf, indem er mit räumlich
vertrauten Konzepten eine Gegengeschichte des 20. Jahrhunderts entwickelt, die
sich völlig anders abspielt als wir sie kennen: Es ist das Jahr 1917. Anstatt den Zug
von Zürich nach St. Petersburg zu nehmen, bleibt Lenin im Schweizer Exil. Durch
diese kontrafaktische Geschichtsdarstellung findet die russische Revolution nicht
statt, und infolgedessen wird die Schweiz zur Sowjetrepublik. Mit ihren Kolonien
in Afrika befindet sich die Schweiz bald in einem totalen Krieg gegen das Bündnis
des faschistischen Deutschland und Großbritannien. Den räumlichen Fokus des
Romans bildet in diesem dystopischen What-­If-­Scenario wohl die Schweiz, von
wo aus die Erzählung in Richtung Deutschland, Großbritannien, Indien, Korea
und besonders Ostafrika abzweigt.
Wie die Schweiz, die durch den in Zürich gebliebenen Lenin in eine Sowjet-
republik verwandelt worden ist und als aktiver Kriegsteilnehmer ihre Neutralität
verloren hat, erweisen sich die erwähnten Länder bzw. Erdteile auch als imaginäre
Topographien. Dadurch projiziert der Roman eine düstere Lebenslandschaft auf
den geographischen Raum. Die fiktive Realität ist dabei wie ein Transitraum aus-
gestattet ist, in dem die Bilder des Bekannten sich immer wieder verkehren und
schließlich als unbekannte und unvertraute Bilder fremd erscheinen. Vertraute
und doch gleichzeitig völlig fremde, dabei auch aus Sci-­Fi-­Literatur stammende
Bilder ermöglichen Christian Kracht, eine Gegenwelt zu schaffen, in der die Ge-
schichte – die wir kennen und deren Teil wir sind – gewaltsam umgemodelt und
durch ein alternatives Verlaufsmodell ersetzt wird.
Jedoch lässt sich im Roman mit dem imaginären Afrikabild ein Wandel von
der dystopischen zu einer utopischen Welt konstatieren. So wird Afrika bei Kracht
zu einem imaginierten Kontraraum der bereits dystopisch geschilderten Gegen-
welt. Im Folgenden soll ausgehend vom Begriff der Gegenwelt untersucht werden,
inwiefern der im Sonnenschein-­Roman dargestellte Alternativentwurf als eine
wiederkehrende Utopie verstanden werden kann. Dabei möchte ich versuchen,
anhand von Krachts Roman die rhetorische Frage zu beantworten, ob durch
den Untergang der Utopien die geschilderte Realität nur der Transitraum in die
Dystopie sein kann. Denn dass gerade auch in der Dystopie eine Hoffnung ver-
Ist die Realität nur der Transitraum in die Dystopie? 281

sprechende Zukunftsutopie aufgebaut sein könnte, kann nur scheinbar der Fall
sein, wenn wir Fredric Jameson Glauben schenken.

2 Begriff und Konzept: Utopie, Dystopie


Die Begriffe der Utopie und Dystopie, wie sie in der Gattungsgeschichte auftreten,
sind miteinander verbunden. Dystopien, die gelegentlich auch als Anti-­Utopien
oder negative Utopien benannt werden, konstruieren eine fiktive Gesellschafts- bzw.
Weltkonstruktion und deuten insofern zusammentreffend auf die Charakteristika
der vorangegangenen Utopien hin (vgl. Claeys 2011: 107). Nicht selten liegen sie in
einer ungenauen, düsteren Zukunft und totalitären Staatsform. Diese Charakter-
eigenschaft der Dystopie drückt eine Kritik aus, die sich an negative Entwicklungs-
linien der gegenwärtigen Gesellschaft wendet. In diesem Kontext ist die Dystopie
als der Entwurf einer hypothetischen möglichen negativen Welt zu bezeichnen, der in
zeitlicher Projektion und Perfektionierung von kritisch beurteilten, negativen Entwick-
lungstendenzen der zeitgenössischen Wirklichkeit eine ideal typisch vollendete, negative
Modellwelt versinnlicht (Affeldt-­Schmidt 1991: 35).

Anders als Utopien betonen Dystopien gescheiterte soziale Unternehmungen


oder negative politische Projekte. In dieser Hinsicht beschreiben sie die Welt
als eine Satire der utopischen Denkformen bzw. als eine Kritik der Tradition
des utopischen Idealstaats. Daraus resultierend wird das utopische Projekt zum
Albtraum gesellschaftlicher oder psychologischer Gewalt oder zum Schreckbild
des Totalitären und Katastrophalen. Dies bedeutet konsequenterweise, dass Dys-
topien Kritik an der Utopie selbst implizieren. Dementsprechend definiert bei-
spielsweise der Literaturwissenschaftler M. Keith Booker die Dystopie als
that literature which situates itself in direct opposition to utopian thought, warning
against the potential negative consequence of arrant utopianism. At the same time, dys-
topian literature generally constitutes a critique of existing social conditions or political
systems, either through the critical examination of the utopian premise upon which
those conditions and systems are based or through the imaginative extension of those
conditions into different contexts that more clearly reveal their flaws and contradictions
(Booker 1994: 3).

Was in der Dystopie per definitionem kritisiert wird, ist also die utopische Phan-
tasie und mithin utopische Raumentwürfe, welche in sich zugleich die Dystopie
sowohl literarisch als auch gesellschaftlich-­politisch bilden. Der utopische Raum,
der nach Fredric Jameson im realen Sozialraum zunächst als eine „imaginative
enclave“ (2005: 15) erscheint, bildet im Endeffekt „a zone of the social totality
which seems eternal and unchangeable“ (cf. Jameson 2005: 15).
282 Şebnem Sunar

Weiterhin, und im Zusammenhang mit der Utopiekritik, bieten literarische


Dystopien oft eine alternative Geschichtsschreibung an, die als eine neubeschrie-
bene, umgeformte Vergangenheitskonstruktion auftritt und durch die die von
der Realität abweichende Gegenwart bedingt ist. Geschichte wird so durch eine
kontrafaktisch alternative Geschichte ersetzt. Dabei wird die Historie als Raum
aufgefasst, durch den man sich in einem Kontrazusammenhang reinterpretierend
bewegen kann. Es tritt eine alternative Lesart der Geschichte zutage, die zu einer
Alternativgeschichtsschreibung wird.1 Dass damit durch das Ungeschehene – und
nicht minder durch das empirisch Unüberprüfbare, wie wir im Sonnenschein-­
Roman sehen können – ein neuer Möglichkeitsraum geöffnet wird, lässt die Dys-
topie zwischen dem Realen und Irrealen schwanken.
Ähnlich wie die utopische Literatur aktivieren Dystopien auch nicht selten
Reisenarrationen, so dass die „utopische Enklave“ in eine neue, geographische
Erfahrung verwandelt wird. Dabei eröffnet das Reisemotiv eine Begegnungs-
möglichkeit mit dem Anderen, ein Erkenntnismoment, das schließlich dazu
führt, dass der Protagonist aus den Träumen seiner utopischen Weltvorstellung
aufwacht. Besonders aufgrund der letzten zwei Aspekte ist Krachts Sonnenschein-­
Roman zu den literarischen Dystopien zu zählen.

3 Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten


3.1 Utopia in Dystopia?
Im Verlauf der Konstruktion eines Gegenweltentwurfs führt uns der Roman Ich
werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten in einen Katastrophenzustand,
der sich auf der Welt in den vorhergehenden sechsundneunzig Jahren ausge-
breitet hat. Anhand des afro-­schweizerischen Protagonisten aus der imaginären
Schweizer Kolonie Nyasaland, das uns heute als Malawi bekannt ist, wird eine
kontrafaktische Alternativgeschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Über den Ka-
tastrophenzustand erfahren wir direkt zu Beginn des Romans, als der Protagonist
sich vorzustellen versucht:
Wie war es nur im Sommer gewesen, als die Erde weich und krumig lag? Man konnte
sich nicht mehr daran erinnern, wie man sich auch nicht an Gesichter erinnern konnte.
Die Jahreszeiten verschwanden, es gab kein Auf und Ab mehr, kein bemerkbarer Wechsel,
ebenso keine Gezeiten, keine Wogen, keine Mondphasen, der Krieg ging nun in sein

1 Dazu muss angemerkt werden, dass jede Geschichtsschreibung stets eine Konstruktion
bildet und dementsprechend in einem weiten Sinne immer eine Alternativgeschichts-
schreibung ist. Zum historiographischen Hintergrund cf. White 1994: 123–157.
Ist die Realität nur der Transitraum in die Dystopie? 283

sechsundneunzigstes Jahr. Wie war es im letzten Sommer gewesen, wie im Sommer davor,
wie noch letzten Vollmond? Der Fluss der Zeit hatte es aus der Erinnerung gewaschen.
Die Hindustanis im Osten sagten, es sei das Zeitalter der Kali Juga. Man erinnerte sich
nicht mehr. Es waren nun fast einhundert Jahre Krieg. Es war niemand mehr am Leben,
der im Frieden geboren war (Kracht 2008: 12 f.).

Anscheinend ist in dieser Gegengeschichte der Erste Weltkrieg nicht beendet,


sondern währt seit inzwischen sechsundneunzig Jahren. Generationen kennen
keinen Frieden mehr, es herrscht ununterbrochen Krieg. Entsprechend einer
dystopischen Atmosphäre spielt sich die Handlung mitten im totalen Krieg ab.
Objektivierende, fast gefühllose Äußerungen der Romanfiguren – wie beispiels-
weise: „Wir sind im Krieg geboren, und im Krieg werden wir sterben“ oder „Es war
notwendig, dass der Krieg weiterging. Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens,
dieser Krieg. Für ihn waren wir auf der Welt.“ (Kracht 2008: 33; 21) – reflektieren
die Stimmung innerhalb eines allumfassenden Kriegszustands.
In diesem Kriegszustand hat der Erzähler als Parteikommissar der Schweizer
Sowjet Republik den Auftrag, einen im Dienst der Schweizer Armee stehenden
polnisch-­jüdischen Offizier, Oberst Brazhinsky, aufgrund seiner konterrevolu-
tionären Tätigkeit zu verhaften. Während uns der Grund für die mögliche Ver-
haftung Brazhinskys zu Beginn der Erzählung verborgen bleibt, wird dieser „zum
Anlass für die Reise des Protagonisten und fungiert erzähltechnisch als leeres
Movens für den Plot“ (Bronner 2012: 300). Das Reisemotiv dient hier als Zweck
der Verfolgungsjagd, die der Protagonist aufnehmen muss. Dies ermöglicht wie-
derum, eine alte Thematik zu rekontextualisieren, die wir bereits aus Utopien
kennen: nämlich die Begegnung mit dem Fremden bzw. dem Anderen, der hier
in Brazhinskys konterrevolutionärer Persönlichkeit seinen adäquaten Ausdruck
findet. Zugleich wird die Reise zu einer Bewegung, in welcher der Protagonist
innerlich einen individuellen Transformationsprozess durchlebt. Brazhinsky, in
natura „eine Maschine, ein machtbesessener Übermensch“ (Bronner 2012: 304),
entzieht sich der Verhaftung und flieht in ein Alpenréduit, wo er dann vom Partei-
kommissar gestellt wird. Allerdings erweist sich Brazhinsky als eine so mitreißen-
de, charismatische Persönlichkeit, dass der Parteikommissar auf die Verhaftung
verzichtet und sich dadurch auf einer andersartigen Reise findet, die ihn zu einer
„Pilgerfahrt im mythischen Raum [führt; ŞS], die fast schon heilsgeschichtliche
Züge trägt“ (Ächtler 2011: 393).
Wegen des globalherrschenden Katastrophenzustands kann im Roman von
einem idealen Weltentwurf nicht die Rede sein – was genau genommen die Utopie
wäre, Gegenwelt der entworfenen Dystopie. Jedoch ist in dieser Katastrophen-
ästhetik, die hier zugrunde gelegt wird, auch ein utopisches Moment vorhanden:
Tessin, das Land der fernen Erinnerung des Friedens inmitten der unberührten
284 Şebnem Sunar

Natur, die terra nova „d[er] Offenbarung einer neuen Zeit, die zwar noch langsam
und kriechend, dafür aber unaufhaltsam in die Welt dräng[t]“ (Kracht 2008: 138),
eine Idylle weit entfernt vom Krieg: „ein Territorium, das von jenen Schrecken
weitgehend verschont blieb“ (Mocek & Kracht 2008: 132).
Durch diese Beschreibung Tessins wird die Erzählung zu einem narrativen
Bruch geführt. Den Bruchpunkt markiert die Darstellung der Fluchtszene vor
dem „infernalische[n], monströse[n] Bombardement“ (Kracht 2008: 132) der
Alpenfestung und dient auf den ersten Blick dazu, dass der Parteikommissar
die Bombardierung ausnutzt, um schließlich in den Süden zu fliehen. Doch
bei näherem Hinsehen erlangt die Erzählung eine neue und in zunehmendem
Maße irreale Dimension, wobei die zunächst nur untergründig präsenten Ele-
mente des Unwirklichen (zu nennen sind hier beispielsweise die Veränderung
der Augenfarbe des Parteikommissars oder die visionäre Verbindung mit seinen
Ahnen) immer dringlicher und expliziter dargestellt werden. Diese Wende in
der geschilderten Realität ist von besonderer Relevanz, denn erst hiermit erlebt
der Protagonist ein Aufwachen aus seiner bisherigen dystopischen Albtraum-
welt, in die er hineingeboren ist. Sie bildet die Schwelle zwischen empirischen
und nichtempirischen, mithin zugleich zwischen dystopischen und utopischen
Elemente der Erzählung – einen transitorischen Möglichkeitsraum, wo sich der
Parteikommissar befindet, wenn er zurückdenkt und sich zu erinnern versucht:
Welches Jahr schrieben wir? Die Zeit hatte aufgehört zu sein, die Schweizer Zeit. Ich
mass weder die Donnerstage noch den sechszehnten des Monats, noch den Weg der
Sonne über das Firmament. Stunde folgte auf Stunde und Tag auf Tag. […] Danach
stellte sich eine gewisse Nervosität ein, eine Veränderung in der Molekularstruktur der
Umgebung […].
Ich sah die Masken meiner Ahnen, dann sah ich, was sie sahen; ich sah ein gigantisches
Feuermeer über England, es waren die Luftschiffe der Hindustanis. Ich sah Brazhinsky,
der sich blind und schreiend mit den Fingerspitzen die Reliefarbeiten entlang durch
die Gänge tastete, die Geschichte der Schweiz rückwärts abschreitend. […] Ich sah die
Hand eines der deutschen Partisanen, die ich auf dem Feld erschossen hatte, sich im
Schnee bewegen; […] seine Hand öffnete und schloss sich, als taste sie nach etwas, wie
ein Tarmanguin, der nach Halt eines Astes sucht und, nichts findend, ins Leere greift
(Kracht 2008: 143 f.).

Allerdings hat hier für den Parteikommissar die Flucht schon begonnen. Wie
bereits erwähnt, wird das Reisemotiv für eine Umfunktionierung genutzt, die so-
zusagen eine Reise in einer Reise mit sich zieht und letztendlich eine individuelle
Transformation ermöglicht. So gelangt der Protagonist über das utopische Tessin
nach Genua, findet dort ein Schiff, das ihn nach Afrika zurückbringt, wo sich
mittlerweile eine andere Art Revolution vollzieht: Dort verlassen die Einwohner
Ist die Realität nur der Transitraum in die Dystopie? 285

die von den Schweizern „zum Wohle der Bevölkerung hell, geordnet, modern und
elegant“ (Kracht 2008: 148) entworfenen Städte und kehren in ihre Dörfer zurück,
während Europa wohl in seiner historischen Düsternis zum Verfall verurteilt ist.
Ist dieses Afrika ein Appell zur Rückkehr zur Natur, zurück zu den Wurzeln?
Findet mit dieser demographischen Bewegung die Dystopie, die aus dem euro-
päischen Teil der Welt stammt, ein Ende, um schließlich Platz zu machen für eine
neue Utopie, die geographisch nur auf dem nichteuropäischen Weltteil konstruiert
werden kann?
Afrika scheint mit diesem Schlussbild einen Raum hervorzurufen, in dem
das Phänomen utopischer Weltvorstellungen aktualisiert wird. Im Gegensatz zu
Europa, das von Kracht in einem kontrafaktisch-­dystopischen Modell als „ein Pa-
noptikum der Katastrophen des 20. Jahrhunderts“ (Ächtler 2011: 397) entworfen
wird, tritt Afrika als Symbol eines friedlichen Lebenszustandes auf. Fernab der
Alpenwelt verortet, erscheint dieser Kontinent als Gegenraum zum dystopischen
Europa und „zeigt die Welt in ihrer Urgestalt: wie sie einmal war und wie sie
wieder sein wird“ (Bucheli 2008). Es ist, als beginne alles wieder von Anfang an.

3.2 Dystopia forever?
Jedes Begehren trägt aber den Tod in sich und hört auf, sobald sein Ziel erreicht
ist. Paradoxerweise sterben alle Wunschträume bei ihrer Erfüllung. Das ist die so
genannte Tragik der Utopie, und dieser Tragik zu entgehen ist nur dann möglich,
wenn auf die Realisierung verzichtet wird. Denn sobald die Utopie verwirklicht
wird, gerät sie an einen Punkt, an dem sie den zuvor alternativen Charakter des
Utopischen verliert. Mit Jameson gesprochen:
this […] means a move from difference to identity and from a plurality of detail to the
closure of the whole. It also raises questions about the representability of this new global
Utopia; and representability […] is a very significant matter for practical politics […]
(Jameson 2005: 221).

Von Differenz zur Identität: Jamesons Worte beschreiben diesen Charakter-


wechsel äußerst treffend und führen mit der Frage zur Darstellbarkeit der Utopie
weiter ins Zentrum des Politischen. Indem sie in die Tat umgesetzt und somit
zur Komponente des Mainstreams wird, erweist sich die Utopie, einst der Raum
für radikale Differenz, paradoxerweise als Identität. Dadurch wird nicht nur die
alte Dichotomie zwischen Identität und Differenz wiederhergestellt, sondern es
wird auch ein Zugang zur praktischen Politik gefunden: Der Frage zur Darstell-
barkeit – oder Repräsentation –liegt stets eine kollektive Identität zugrunde, in
der sich Menschen als Mitglieder einer Gesamtgruppierung erkennen, während
andere aus diesem Kreis ausgeschlossen werden. Ein repräsentativer Prozess hängt
286 Şebnem Sunar

aus diesem Grund vom Mangel des Anderen ab und macht die Spaltung, die
zwischen individueller Wahrnehmungen und gesellschaftlicher Realität entsteht,
zu seiner Bedingung. In dieser Hinsicht merkt Jameson nicht zu Unrecht an, dass
die „Utopia has always been a political issue, an unusual destiny for a literary
form“ (Jameson 2005: xi).
Was also bei Kracht mit dem Afrikabild in den Vordergrund rückt, scheint –
aus der Perspektive Jamesons – nur der Anfang vom bekannten Ende zu sein. Der
utopische Wille ist nicht imstande, aus der Historie eine ahistorische Alternative
zu produzieren, da die Utopie immer wieder neue Formen derselben Problem-
felder reproduziert, die bereits in der Realität vorhanden sind. Ausgehend von
der Historie kann demnach nur eine dystopische Geschichte geschrieben werden.
Schließlich ist „[d]er Utopie-­Diskurs […] ein dezidierter Herrschaftsdiskurs“
(Krüger 2011: 273).
Das, was hier beschrieben wird, eröffnet keinen positiven Ausblick, sondern
führt jegliche Utopie(-entwürfe) im Endeffekt zur Angleichung an die Dystopie.
Aldous Huxley wusste das, und nicht zufällig wählte er als Epigraf für die erste
US-­amerikanische Auflage (1955) seines dystopischen Romans Brave New World
(1932) das vielsagende Zitat von Nicolai Berdjajew, dem russischen christlichen
Existenzphilosophen:
Les utopies apparaissent comme bien plus réalisables qu’on ne le croyait autrefois. Et nous
nous trouvons actuellement devant une question bien autrement angoissante: Comment
éviter leur réalisation définitive? […] Les utopies sont réalisables. La vie marche vers les
utopies. Et peut-­être un siècle nouveau commence-­t-il, un siècle où les intellectuels et
la classe cultivée rêveront aux moyens d’éviter les utopies et de retourner à une société
non utopique, moins „parfaite“ et plus libre (Berdiajew, zitiert nach Huxley 1955: 5).2

Auch Christian Kracht scheint sich dessen bewusst zu sei. Huxleys Brave
New World ist nur einer unter zahlreichen intertextuellen Bezügen, die im
Sonnenschein-­Roman festzustellen sind3 – und überdies einer, der die Welt so

2 Huxley zitierte Berdjajew aus seiner französischen Übersetzung. Das Zitat lässt sich
wie folgt ins Englische übersetzen: „Utopias seem to be much more realizable than we
formerly believed them to be. Now we find ourselves presented with another alarming
question: how do we prevent their definitive realization? […] Utopias are realizable.
Life marches toward utopias. Perhaps a new century will begin, a century in which
intellectuals and the cultivated class will dream of ways to prevent utopias and return
to a non-­utopian society, one less ‚perfect’ and more free.“
3 Zu den intertextuellen Referenzen, die sich im Roman sowohl implizit als auch explizit
reichlich aufspüren lassen, gehören unter anderem Joseph Conrad (Heart of Darkness;
1899), Ernst Jünger (Auf den Marmorklippen; 1932), George Orwell (1984; 1948), Philip
Ist die Realität nur der Transitraum in die Dystopie? 287

skizziert, wie sie hätte sein können. Die Welt, wie Huxley sie in seinem Brave New
World gebastelt hatte, erscheint als eine „schöne neue Welt“ (Titel der deutschen
Übersetzung; ŞS) in einer fernen Zukunft A.F. („after Ford“, in Anlehnung an n.
Chr., „nach Christus“; ŞS), die durch die Industrialisierung und den Ford-­Kult,
durch den Ersten Weltkrieg und die russische Revolution 1917 zu einem mono-
lithischen, totalitären Weltstaat transformiert wird.

4 Fazit
Ähnlich wie Huxleys dystopischer Weltentwurf ist Krachts Katastrophenästhetik
eine Version einer düsteren, dystopischen Welt, die der Frage nachgeht, wie sich
menschliches Handeln, also auch politisches bzw. ideologisches, im Verhältnis zu
einer geographischen Räumlichkeit konstituiert. In Ich werde hier sein im Sonnen-
schein und Schatten bietet uns Christian Kracht eine verkehrte Welt, in der die
Ort-­Zeit-­Relation die Realität spaltet. Krachts Weltkonstruktion „lässt sowohl die
Elemente als auch deren Relationen zueinander unangetastet, dreht oder spiegelt
aber die intakte Struktur, so dass die Verdopplung dieses Vorgangs zum Aus-
gangszustand bzw. zur ursprünglichen Perspektive auf das Objekt zurückführt“
(Pompe 2009: 65). Im Roman konstituiert sich aus der geschilderten Alternativ-
weltgeschichte ein überwiegend dystopischer Transitraum. Krachts Roman ent-
wirft in dem Sinne die Szene vom Ende unserer bisherigen Utopien sowie den
Bedeutungsverlust des utopischen Denkens.

Literatur
Ächtler, Norman 2011: „Die ‚Abtreibung’ der Popliteratur: Kracht, Krieg, Kultur-
kritik“, in: Carsten Gansel & Heinrich Kaulen (eds.) 2011: Kriegsdiskurse in
Literatur und Medien nach 1989, Göttingen: V&R unipress, 379–402
Affeldt-­Schmidt, Birgit 1991: Fortschrittsutopien. Vom Wandel der utopischen Li-
teratur im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler
Booker, M. Keith 1994: Dystopian Literature. A Theory and Research Guide, Lon-
don: Greenwood Press
Bronner, Stephan 2012: Vom taumelnden Ich zum wahren Übermenschen: Das ab-
gründige Subjekt in Christian Krachts Romanen Faserland, 1979 und Ich werde
hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Tübingen: Francke

K. Dick (The Man in the High Castle; 1962) und Frank Herbert (Dune; 1965), um hier
nur einige Beispiele genannt zu haben. Auf diese kann hier jedoch nicht weiter ein-
gegangen werden.
288 Şebnem Sunar

Bucheli, Roman 2008: „Frodo bei den Helvetiern. Christian Kracht verwan-
delt die Schweiz in eine düster-­dekadente Sowjetrepublik“, in: Neue Zürcher
Zeitung, Buchrezensionen, 13.10.2008, im Internet unter http://www.nzz.
ch/aktuell/feuilleton/_buchrezensionen_nichtmehrgueltig/frodo-bei-den-
helvetiern-1.1095164 [04.11.2014]
Claeys, Gregory 22011: „The origins of dystopia: Wells, Huxley and Orwell“, in:
id. (ed.) 2011: The Cambridge Companion to Utopian Literature, Cambridge:
Cambridge University Press, 107–131
Huxley, Aldous 1955: Brave New World, Harmondsworth: Penguin; dt. Übers.:
Aldous Huxley 2013: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft, aus dem Eng-
lischen übers. v. Uda Strätling, Frankfurt/M.: Fischer
Jameson, Fredric 2005: Archaeologies of the Future: The Desire Called Utopia and
Other Science Fictions, New York / London: Verso
Kracht, Christian 52008: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten,
Köln: Kiepenheuer & Witsch
Krüger, Brigitte 2011: „Intensitätsräume. Die Kartierung des Raumes im uto-
pischen Diskurs der Postmoderne: Christian Krachts Ich werde hier sein im
Sonnenschein und im Schatten“, in: Gertrud Lehnert (ed.) 2011: Raum und
Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: transcript,
259–275
Mocek, Ingo & Christian Kracht 2008: „Ich denke immer an den Krieg / Interview
mit Christian Kracht“, in: Neon 10 (2008): 131–134
Pompe, Anja 2009: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, Köln / Weimar /
Wien: Böhlau
White, Hayden 1994: „Der historische Text als literarisches Kunstwerk“, in:
Christoph Conrad & Martina Kessel (eds.) 1994: Geschichte schreiben in der
Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart: Reclam, 123–157
Neeti Badwe (Pune)

Räumlichkeit und Mobilität bei Kafka


im Lichte der Raumtheorien

Abstract: Spatiality and mobility are two defining elements of Kafka’s works. Kafka uses
stylistic devices like ambiguity, displaying objects from many different angles, confusion,
nightmares, polyphony, as well as paradoxes repealing traditional dichotomies and bipolar
divisions. He depicts movement in his texts (walking, running, fighting) without motion,
as the subject does not move physically. He describes places which are nonexistent. Sym-
bolic interactions take place, creating spaces characterized by liminality and overlapping.
Such spaces are often described in detail where conflicts or protests are carried out and
punishments executed. Time and again Kafka’s works have been analysed in various ways.
Marc Augé’s anthropological space theory opens up yet another promising possibility to
read Kafta in a different way.

1 Einleitung
Kafkas schreibintensivste Phase lag zwischen 1912 und 1922, das heißt fast genau
vor hundert Jahren. Der Anthropologe Marc Augé legte seine Raumtheorie An-
fang der 1990er Jahre dar. Während Kafka primär als ein modernistischer Autor
angesehen wird, beschäftigt sich Augé mit der „Übermoderne“ (Augé 1994: 38).
Im Folgenden möchten wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob Kafka in
seinem Schreiben Züge der neueren Raumtheorien und besonders die der Über-
moderne in Augés Sinne vorweggenommen hat. Wir möchten untersuchen, ob
Kafkas Schreiben bemerkenswerte Berührungspunkte zu den Raumtheorien auf-
weist und ob die Grundthesen der Raumtheorien eine neue Lesart anbieten, durch
die Kafkas Texte in neuem Licht erscheinen und neu verstanden werden können.

2 Räume, Orte und Nicht-­Orte


In seinem berühmten Essay Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer
Ethnologie der Einsamkeit legt Marc Augé seine ethnologisch-­anthropologische
Raumtheorie dar. In dieser Theorie unterscheidet er Orte von Nicht-­Orten. Er
konstatiert, dass Nicht-­Orte die Vergangenheit nicht integrieren können und
konsequenterweise keine anthropologischen Orte sind. Dementsprechend lautet
seine Hypothese:
290 Neeti Badwe

So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert
ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch
bezeichnen lässt, einen Nicht-­Ort. […] Unsere Hypothese lautet nun, daß die ‚Über-
moderne‘ Nicht-­Orte hervorbringt, also Räume, die selbst keine anthropologischen Orte
sind und […] die alten Orte nicht integrieren (Augé 1994: 92 f.).

Augé geht in seinem Aufsatz auf Michel de Certeau ein, der auf der Basis der
menschlichen Intervention Orte von Räumen unterscheidet:
Der Raum ist […] ‚ein Ort, mit dem man etwas macht‘, ein ‚Geflecht von beweglichen
Elementen‘; erst die Fußgänger verwandeln die von der Stadtplanung geometrisch als Ort
definierte Straße in einen Raum (Certeau 1988, zit. n. Augé 1994: 95).

Augé zufolge besteht das distinktive Merkmal der Nicht-­Orte insofern darin,
dass sie keinen Bezug zur Geschichte oder zu Mythen haben. Augé (1994: 93)
erläutert weiter, dass Nicht-­Orte „provisorisch, ephemer und solitär“ sind. Sie
sind in dem Sinne nicht fest verankert und schlagen keine Wurzeln. Man denke
hier an Die Bäume, einen kurzen Kafka-­Text, der in diesem Zusammenhang auf-
schlussreich ist.
Die Bäume
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit klei-
nem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind
fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar (Kafka 1976: 35).

Wie diese Baumstämme ist der Mensch nur vermeintlich am Boden befestigt.
Viele von Kafkas Texten weisen darauf hin, dass der Mensch eigentlich nirgend-
wo heimisch ist. Er ist Fremder auf der Erde und gehört nirgendwohin. Er hält
sich nur vorübergehend an einem Ort auf. Ist dadurch nicht das Menschenleben
schlechthin provisorisch?

3 Veränderlich und rekonstruierbar


Augés Nicht-­Orte sind ein Produkt der Übermoderne. Weder Augés Orte und
Nicht-­Orte, noch de Certeaus Orte und Räume sind feste Kategorien. Sie sind ver-
änderlich. Wie Augé erläutert, lassen sich die Orte und Nicht-­Orte rekonstruieren.
„Dabei gilt für den Nicht-­Ort geradeso wie für den Ort, daß er niemals in reiner
Gestalt existiert; vielmehr setzen sich darin Orte neu zusammen, […]“ (Augé
1994: 93). Augés Orte und Nicht-­Orte existieren also niemals in reiner Gestalt.
Er nennt sie „fliehende Pole“ (ibid: 94) und „Palimpseste“ (ibid.: 94).
Ort und Nicht-­Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig, und der
Nicht-­Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene
Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine Spiegelung findet (ibid: 94).
Räumlichkeit und Mobilität bei Kafka im Lichte der Raumtheorien 291

Wie Augé erläutert, bilden de Certeaus Orte und Räume keinen Gegensatz zu-
einander. Auch de Certeaus Orte sind veränderlich. Sie bestehen aus „beweg-
lichen“, aber „geordneten“ Elementen. Er sieht den Ort an, als „Menge von
Elementen, die in einer gewissen Ordnung koexistieren“ (Certeau 1988: 218 f.,
zit. n. Augé 1994: 95). Der Raum hingegen entsteht, indem der Ort „durch die
Ortsveränderung eines beweglichen Elements“ belebt wird (Augé 1994: 95). Das
heißt, de Certeaus Räume entstehen durch den andersartigen Umgang mit den
Orten. Augé zitiert de Certeau in seinem Aufsatz wie folgt: „‚Mit dem Raum
umzugehen‘, schreibt Michel de Certeau, ‚bedeutet also, […] am Ort anders zu
sein und zum anderen überzugehen‘“ (Certeau 1988: 208, zit. n. Augé 1994: 99).
Auch Augé sagt an einer weiteren Stelle: „In der konkreten Realität der Welt von
heute überschneiden und durchdringen Orte und Räume, Orte und Nicht-­Orte
sich gegenseitig“ (Augé 1994: 125).
De Certeau geht dann auf das Verhältnis zwischen Ort, Raum und Wort ein.
Dabei unterscheidet er die ‚Sprache’ von dem ‚Akt des Sprechens’ und konstatiert:
„Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort.“ Das vieldeutige Wort wird
dann in einen Ausdruck verwandelt, der sich auf viele verschiedene Konventionen
bezieht und durch verschiedene Kontexte transformiert wird (Certeau 1988: 218,
zit. n. Augé 1994: 95). Daraus erfolgt Certeaus ‚Privilegierung’ der Erzählung
als Arbeit, „die unaufhörlich Orte in Räume oder Räume in Orte verwandelt“
(Certeau 1988: 220, zit. n. Augé 1994: 95 f.).
Gerade das tun Kafkas Werke unentwegt. Sie schaffen an den konkreten Orten
alternative Welten. Die Überlagerung von Figuren und Charakteren, von Szenen
und Bildern erinnert an Palimpseste. An einem Ort entstehen neue Räume und
an den alltäglichen Orten finden neue Szenen statt. Im Prozess verwandelt sich ein
Wohnsilo in den Gerichtshof, der Dachboden eines Künstlers ins Arbeitszimmer
eines Richters und im Schloss verwandelt sich das Arbeitszimmer eines Ministers
ins Schlafzimmer. Viele anormale Verwechslungen und Verwandlungen finden
vor dem Hintergrund des Alltagslebens statt: ein Prokurist verwandelt sich in
einen Käfer, ein Affe ähnelt dem Menschen durch seine Sprachfertigkeit, usw. Im
Prozess verdecken und enthüllen die Bankangestellten die Wächter abwechselnd
und später wird der Priester mit dem Gefängnis-­Kaplan verwechselt. Durch Über-
lappung und Entdeckung, Verwechslung und Verwirrung verwandelt Kafka Orte
in Räume und umgekehrt.
Fast alle bedeutenden Szenen in Kafkas Romanen und vielen anderen Texten
sind in einer Grenzzone verortet: zwischen Schein und Sein, Realität und Sur-
realität, Erlebtem und Geträumtem, zwischen Schuld und Unschuld oder Leben
und Tod. Man denke hier an die letzte Bahnfahrt in Amerika oder die Rück-
292 Neeti Badwe

kehr des Landvermessers in Das Schloss oder die Bootsfahrt des Jägers Gracchus.
Durch Ortsveränderung werden Räume geschaffen, wo Konflikte oder Proteste
ausgetragen und Strafen vollzogen werden. Diese Räume entstehen aus Kafkas
Vision und verschwinden. Sie sind flüchtig. Kafkas Protagonisten verweilen in
der realen sowie der surrealen Welt oder gleiten nahtlos und mühelos – und
ohne jeglichen Hinweis darauf – von der einen in die andere über. Man könnte
daher argumentieren, dass Kafkas Texte den Leser unbemerkt von den alltäglichen
Orten in eine alternative, surreale, imaginäre Welt voller Nicht-­Orte führen.

4 Räumlichkeit: Horizontalität und Ausdehnung


Zu Beginn seiner viel diskutierten Abhandlung Des espaces autres (1967) bezeich-
net Foucault die gegenwärtige Epoche als die Epoche des Raumes, des Simultanen,
des Nebeneinander. Foucault beginnt seinen Essay so: „Die große Obsession des
19. Jahrhunderts ist bekanntlich Geschichte gewesen […]. Hingegen wäre die
aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes“ (Foucault 1967: 34). Auch in Au-
gés ‚Übermoderne‘ überwiegt der Raumaspekt den Zeitaspekt. Gleichzeitigkeit,
Horizontalität und Ausdehnung sind kennzeichnend für die Raumtheorien sowie
für Kafkas Werke. Kafkas Räume erstrecken sich ins Unendliche wie die Stadt
mit Häusern und Höfen des sterbenden Kaisers in Die kaiserliche Botschaft oder
der Weg zum „nächsten Dorf “ oder das Innere des Gesetzes in Vor dem Gesetz.

5 Anknüpfungspunkte
Kafkas Werke sind vor hundert Jahren erschienen. Das sind literarische Werke,
die durch die Bearbeitung seiner Lebensumstände und seiner inneren Konflikte
entstanden sind. Sie handeln hauptsächlich von Beschuldigung und Bestrafung,
sowie vom verlorenen Kampf eines Einzelnen um die eigene Befreiung, und wir-
ken folglich oft bedrückend und erstickend. Dahingegen ist Augés Aufsatz eine
theoretische Abhandlung, die etwa vor zwanzig Jahren erschienen ist und die
die gegenwärtige Lage des Menschen und seine Umgebung beschreibt. Trotzdem
kommen erstaunlicherweise viele Begriffe, Themen und Grundsätze sowohl bei
Kafka als auch bei Augé vor und bieten einige ergiebige Anknüpfungspunkte: wie
Reisen, Identität, Einsamkeit oder die Funktion des Staatsapparats.

5.1 Reisen und das Primat des Weges


Dass Michel de Certeau und Marc Augé sowie Franz Kafka ‚Reisen‘ als Motiv für
die Darlegung ihrer Thesen gebrauchen, entspricht dem Primat der Räumlich-
keit der jeweiligen Epoche. Augé weist darauf hin, dass besonders für Certeau
Räumlichkeit und Mobilität bei Kafka im Lichte der Raumtheorien 293

jeder Bericht ein Reisebericht ist. „Wenn Certeau den Ausdruck ‚Bericht von Räu-
men‘ benutzt, dann will er damit zugleich von den Berichten sprechen, die Orte
‚durchqueren‘ und ‚organisieren‘ (‚jeder Bericht ist ein Reisebericht…‘)“ (Certeau
1988: 216, zit. n. Augé 1994: 100). De Certeau bestätigt dadurch den Vorrang des
Weges gegenüber dem Zustand (cf. Certeau 1988: 237, zit. n. Augé 1994: 96).
Augé erläutert den Begriff der Übermoderne mit seinen prototypischen Bei-
spielen von Transiträumen und Transitpassagieren, Bordkarten und Kreditkarten.
Er beginnt seinen Essay über „Orte und Nicht-­Orte“ mit der Fahrt zum Flughafen,
der Beschreibung von Transiträumen und Flügen. In der übermodernen Welt ist
alles transitorisch und provisorisch geworden. Auch der bekannte Anthropologie-
historiker James Clifford konstatiert in seinem Routes, dass in der heutigen Welt
„Routes statt Roots“, also Wege statt Wurzeln verfolgt werden (Clifford 1997, zit.
n. Bachmann-­Medick 2007: 198).
Auch Kafkas Protagonisten sind ständig unterwegs. Ihre Reisen sind keine
klassischen Bildungsreisen, da sie nicht vorwärts kommen können. Seine Pro-
tagonisten kämpfen um Recht und Freiheit. Sie kämpfen gegen das allumfassende,
überwältigende System, gegen jegliche Autorität und gegen die Bürokratie. Ihre
Mittel sind oft Selbstbehauptung und -verteidigung. Gerade dadurch geraten sie in
eine abwärts gerichtete Spirale und werden im Laufe der Handlung desillusioniert,
entkräftet und erniedrigt. Kafkas Hauptfiguren sind immer unterwegs, gelangen
aber nie ans Ziel. In einem kleinen Text Weg-­von-­hier heißt es „‘Weg-­von-­hier‘
ist mein Ziel“ (Koch 2008: 11). Sehr oft stellt Kafka den Menschen als einen Wan-
derer oder Reisenden dar. Eine Betrachtung von Kafka erfasst die Quintessenz
seines Denkens und Schreibens treffend: „Es gibt ein Ziel aber keinen Weg; Was
wir Weg nennen, ist Zögern“ (Kafka 1976: 32).

5.2 Wort – Name – Sprache


De Certeau sagt, dass die Namen „Nicht-­Orte an Orten“ schaffen und sie „in
Passagen verwandeln.“ Dadurch werden Reisewege „Worte und Nicht-­Orte“. So
erklärt de Certeau,
daß der Ort aufgrund des Namens, den man ihm gibt, nicht ganz bei sich ist. Die Namen
erlegen dem Ort ‚etwas Fremdes (eine Geschichte …)‘ auf. […] Jede Route, sagt Michel
de Certeau, wird durch die Namen ‚umgelenkt‘; sie geben dem Weg ‚Bedeutungen (oder
Richtungen) […], die bis dahin nicht sichtbar waren‘. Und er fügt hinzu: ‚Diese Namen
schaffen Nicht-­Orte an Orten; sie verwandeln sie in Passagen‘ (Certeau 1988: 199, zit.
n. Augé 1994:101).

Laut Augé werden manche Orte nur durch Worte ins Leben gerufen. Das Wort
„erzeugt das Bild, schafft den Mythos und sorgt zugleich für dessen Funktionie-
294 Neeti Badwe

ren“ (Augé 1994: 112). Diese Bezeichnungen schaffen Nicht-­Orte, denn: „Manche


Orte existieren nur durch die Worte, die sie bezeichnen, und sind in diesem
Sinne Nicht-­Orte oder vielmehr imaginäre Orte, banale Utopien, Klischees“
(Augé 1994: 112). Die Nicht-­Orte der Übermoderne werden also mittels Worten,
Gebrauchsanleitungen sowie mittels Texten oder Ideogrammen definiert. „Die
Nicht-­Orte der Übermoderne werden auch von den Worten oder Texten definiert
[…] wo die Individuen nur mit Texten zu interagieren scheinen” (Augé 1994: 113).
Bei Kafka kommen Ortsnamen nur selten vor, aber wenn sie gebraucht werden,
dann sind es viel mehr Symbole als geographische Bezeichnungen oder Orts-
namen. Namen wie ‚Amerika‘ oder ‚Russland‘ verbildlichen Sehnsüchte und
Wünsche der Protagonisten. Karl Rossmann in Amerika wird für verschollen
erklärt. Als beschuldigter Sohn wird er praktisch zur Strafe nach Amerika ge-
schickt. In Das Urteil flüchtet der Freund von Georg Bendemann, der vermutlich
der ideale und erwünschte Sohn seines Vaters sein soll, nach Russland. Diese
Bilder von Amerika und Russland sind symbolhaft und flüchtig. Es sind vor allem
Fluchtorte und deshalb „imaginäre Orte“ in Augés Sinne oder „andere“ bzw. „Ab-
weichungsorte“ wie Foucault sie bezeichnen würde.

5.3 Der Reisende und die Reiselandschaft


Augé stellt fest, die Benennung und das Passieren der Orte erzeugen durch zwei-
erlei Verschiebung einen Bruch zwischen dem Reisenden und der Landschaft.
Wie die Reise, so durchquert auch der Bericht […] mehrere Orte. Diese Pluralität der
Orte, […], und die ‘Entfremdung’ erzeugen einen Bruch zwischen dem Reisenden oder
Schauenden und der Landschaft, […] einen Bruch, der ihn hindert, einen Ort darin zu
erkennen, sich ganz und gar dort wiederzufinden […] (Augé 1994: 100 f.).

An einer weiteren Stelle sagt Augé: „Der Raum des Reisenden wäre also der Arche-
typus des Nicht-­Ortes“ (Augé 1994: 103). Kafkas Reisende erfahren auch diese Ent-
fremdung und den Bruch mit der flüchtigen Landschaft, aber in anderer Weise. Als
Karl Rossmann in Amerika ankommt, sieht er die Freiheitsstatue ‚im neuen Licht‘:
Sie erhob ihre Hand mit dem Schwert statt einer Fackel. Am Ende des Romans will
Rossmann nach Oklahoma reisen, das ein imaginärer, symbolhafter Ort ist. Kafka
schreibt den Ortsnamen vermutlich absichtlich anders. Kafkas Orte haben wenig
oder einen anderen Bezug zu den wirklich vorgegebenen oder vorhandenen Orten.
Kafka hat Reisetagebücher und Reisebeobachtungen geschrieben. Seine Texte
schaffen Passagen, Gänge, Höfe, Wege, die nie zu enden scheinen. Man kämpft,
läuft, rennt, kommt aber nicht von der Stelle. In Kafkas Texten wird Bewegung dar-
gestellt, die keine ist. Es werden Orte beschrieben, die es nicht gibt, oder die im All-
tag zumindest anders wahrgenommen werden. Sie erscheinen und verschwinden.
Räumlichkeit und Mobilität bei Kafka im Lichte der Raumtheorien 295

5.4 Schuld und Unschuld


Schuld, Scham und Schande sind bekanntlich die zentralen Begriffe bei Kafka,
um die sich seine Texte kristallisieren. In vielen seiner Texte geht es um Schuld
und Unschuld, Beurteilung und Bestrafung. Joseph K., der Protagonist im Prozess,
wird angeklagt, verhört und verurteilt, ohne ein einziges Mal seine Schuld genannt
zu haben. Für Kafka ist der Mensch ein Gefangener, ein Angeklagter, der sich
ständig verteidigen muss. Er ist schuldig bis seine Unschuld nachgewiesen wird.
Merkwürdigerweise müssen auch Augés Passagiere und Kunden in der ‚Über-
moderne‘ ihre Unschuld nachweisen. „In gewisser Weise wird der Benutzer von
Nicht-­Orten ständig dazu aufgefordert, seine Unschuld nachzuweisen […] Nur
wer unschuldig ist, erlangt zum Eintritt“ (Augé 1994: 120). Es ist bemerkenswert,
dass bei Augé sowie bei Kafka Unschuld und Identität miteinander gekoppelt
werden.

5.5 Identität und Anonymität


Bei Augé kommen die Bordkarte, Bankkarte oder der Reisepass als konventionelle
Möglichkeiten vor, um die eigene Identität und Unschuld bei Eintritt nachzuwei-
sen. Nach der Kontrolle, d. h., nachdem der Mensch seine Identität nachgewiesen
hat, verliert er paradoxerweise seine Identität und Individualität sowie den Bezug
zur Außenwelt. Indem er den Raum betritt, gehört er zur Masse der anderen
Passagiere oder Kunden. So gewinnen Augés Passagiere oder Kunden in den
Supermärkten Anonymität, erst nachdem sie die eigene Identität ‚vertragsmäßig‘
nachgewiesen haben. „Allein, aber den anderen gleich, befindet sich der Benutzer
des Nicht-­Ortes mit diesem (oder mit den Mächten, die ihn beherrschen) in
einem Vertragsverhältnis“ (Augé 1994: 119).
Supermärkte und Transiträume sind also Nicht-­Orte, wo man die Anweisun-
gen stumm und hilflos befolgt. Man wird von dem omnipräsenten, unsichtbaren
System gelenkt und mit der Menschenmasse mitgerissen. Augé bezeichnet diese
als „geteilte Identitäten“ oder als „die relative Anonymität verbunden mit der
provisorischen Identität“. Der Nicht-­Ort erzeugt auf diese Weise
die von den Passagieren, Kunden oder Sonntagsfahrern geteilte Identität. Zweifellos mag
die relative Anonymität, die mit dieser provisorischen Identität verbunden ist, sogar als
Befreiung empfunden werden, weil man sich nicht mehr an Position und Rang oder an
die Vorschriften zur äußeren Erscheinung zu halten braucht (Augé 1994: 118 f.).

Kafkas Protagonisten in allen drei fragmentarischen Romanen – Der Prozess,


Das Schloss und Amerika – müssen sich quälen, um die eigene Identität aus-
weisen zu können. Immer nach den Legitimationspapieren suchen oder die Iden-
296 Neeti Badwe

tifikationspapiere vorlegen müssen, ist wie ein Albtraum für sie. Sie zögern, wenn
sie aufgefordert werden, den eigenen Namen anzugeben. Der Konflikt zwischen
Anonymität und Identität, dem abstrakten System und Individuum wird bei Kafka
sowie bei Foucault und Augé zum zentralen Thema der Diskussion und Dar-
stellung.
Vor dem Gericht gilt Joseph K. in Kafkas Prozess auch nicht mehr als gut situ-
ierter, gebildeter, erfolgreicher und angesehener Bankbeamter. Als Angeklagter
verliert er seine Identität. Während Augé den Verlust der Identität als eine Art
Befreiung vom Alltag und der äußeren Korrektheit sieht, unterstreicht dieser
Verlust eine Art Hilflosigkeit bei Kafkas Protagonisten.

5.6 Einsamkeit
Wie Augé konstatiert, schafft der Nicht-­Ort „Einsamkeit und Ähnlichkeit“ (Augé
1994: 121), „eine einsame Individualität“ (Augé 1994: 93). Während „[…] die
anthropologischen Orte Organisch-­Soziales hervorbringen, so schaffen die Nicht-­
Orte eine solitäre Vertraglichkeit“ (Augé 1994: 111). Kafkas Romane handeln vom
Kampf des Einzelnen gegen das System. Max Brod bezeichnet sie als „Trilogie der
Einsamkeit“ (Brod 1927), denn Kafkas Protagonisten leben fast anonym, einsam,
isoliert und verlassen. Wenn man Karl Rossmann aus Amerika, Joseph K. im
Prozess und K. im Schloss chronologisch betrachtet, merkt man, dass ihre Eigen-
namen fortschreitend knapper und abstrakter werden. Karl Rossmanns Familie
veranlasst seine Reise nach Amerika, Joseph K. hatte einen Onkel, aber es gibt
keinen Verweis auf seine Familie. Der K. im Schloss ist allein unterwegs und ver-
wirrt. Alle drei verlieren den Kontakt zur Familie und zur Verwandtschaft, ver-
lieren den Bezug zum eigenen Namen und zur Identität. Sie leben zunehmend
„isolierter“ und „anonymer“. Auch der Konflikt wird abstrakter. Karl Rossmanns
Schuld wird genannt, Joseph K. wird bestraft, ohne seine Schuld zu nennen, K.
im Schloss wird erniedrigt und fast vernichtet, ohne jegliche offensichtliche Be-
schuldigung oder Bestrafung.

6 Abschließende Bemerkung
Die Nicht-­Orte bei Kafka sowie bei Augé sind transitorisch, veränderlich,
ephemer. Ihre Beschaffenheit ist jedoch unterschiedlich. Kafkas Räume sind oft
imaginär, mysteriös, grau und verkommen. Seine Passagen sind labyrinthisch,
die Atmosphäre oft bedrückend oder erstickend. Dagegen haben Augés Tran-
siträume oft glänzende Glaswände, moderne Beleuchtung und Klimaanlagen.
So können Augés Nicht-­Orte luxuriös, aber manche auch widerwärtig sein, denn
Räumlichkeit und Mobilität bei Kafka im Lichte der Raumtheorien 297

neben den Transiträumen und Hotelketten gehören auch Durchgangswohnheime,


Feriendörfer, Flüchtlingslager, Slums und viele provisorische Beschäftigungen
zu den Nicht-­Orten, „die zum Abbruch oder zum Verfall bestimmt sind“ (Augé
1994: 93).
Kafka thematisiert und kritisiert die moderne, die technische Entwicklung
sowie die Auswirkungen der Industrialisierung, Bürokratie, Autorität sowie Ano-
nymität und Unerreichbarkeit der „höchsten Instanzen“. Auf der anderen Seite
kritisiert Augé das Übermaß als Kennzeichen der Übermoderne:
Die Übermoderne (die von drei Figuren des Übermaßes bestimmt ist: von der Über-
fülle der Ereignisse, von der Überfülle des Raumes und von der Individualisierung der
Referenzen) findet ihren vollkommenen Ausdruck auf natürliche Weise in den Nicht-­
Orten (Augé 1994: 127).

Augé kritisiert weiter die übermoderne Welt, die „Geburt und Tod ins Kranken-
haus verbannt, eine Welt, in der die Anzahl der Transiträume und provisorischen
Beschäftigungen unter luxuriösen oder widerwärtigen Bedingungen unablässig
wächst […]“ (Augé 1994 : 93). Darüber hinaus bleiben aber der Staatsapparat und
die Undurchsichtigkeit des Systems das Hauptthema der Kritik bei Kafka sowie
bei Augé. Das Gefühl der Verfremdung und Einsamkeit, dem System hilflos aus-
geliefert zu sein, ständig beobachtet, kontrolliert, aufgefordert und ermahnt zu
werden, ist bei Kafka und Augé durchaus vergleichbar. Letztendlich geht es in der
literarischen Darstellung von Kafka sowie in der ethnologisch-­anthropologisch
ausgerichteten Raumtheorie von Augé um die kritische Wahrnehmung und Be-
schreibung der jeweiligen gesellschaftlichen Umstände.

Literatur
Augé, Marc 1994: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit, aus d. Französischen übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt/M.:
Fischer
Brod, Max 1927: “Zu Franz Kafkas Roman ‘Amerika’“, in : Born, Jürgen u. a. (eds.)
1983: Franz Kafka. Kritik und Rezeption 1924–38, Frankfurt/M.: Fischer, 188
(Hier zit. n. Michael Müller 1994: “Das Schloss”, in: H.J. Arnold (ed.) 1994:
Text und Kritik 7 Sonderband Franz Kafka, 218–237)
Certeau, Michel de 1988: Kunst des Handelns, Berlin: Merve
Foucault, Michel 1992: “Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz u. a. (eds.) 1992: Ais-
thesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig:
Reclam, 34–46
298 Neeti Badwe

Kafka, Franz 1976: Erzählungen, Gesammelte Werke Bd. 4, ed. Max Brod, Frank-
furt/M.: Fischer
Kafka, Franz 1976: „Betrachtungen“, in: id., Gesammelte Werke Bd. 6, ed. Max
Brod, Frankfurt/M.: Fischer, 30–40
Kafka, Franz 2008: „Weg-­von-­hier“, in: id., Gesammelte Werke in zwölf Bänden,
ed. Hans-­Gerd Koch, Frankfurt/M.: Fischer, Bd. 8, 11
Astrid Starck-­Adler (Mulhouse)

Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“1


dem ‚Westen‘ begegnete

Abstract: The waves of migration from South to North and from East to West we see
taking place today, and the upheavals they bring with them, are – per se – nothing new.
There are parallels between today’s situation and that of the turn of the 20th century
when emigrants streamed into the capitals and metropolises of Europe, which they con-
sidered and experienced to be either the object of their dreams – or way stations. Thus,
for Yiddish-­speaking Jews from the East on their way to the Goldene Medine (the Golden
Land: America), Berlin was a transitional place where “Half-­Asia” met the ‘civilized’
West – “Half-­Asia” being the Eastern part of the Austro-­Hungarian Empire (Galicia,
South Russia, the Bukovina, Rumania), hence the title of a collection of travelogues
published in 1914 by Karl Emil Franzos. The result was a changed topography and the
creation of new, temporary, transitional spaces. The expressions “wave of migration” or
“stream of emigrants” emphasize the relentless and repetitive but also ever-­changing
nature of the phenomenon. The exhibition “Berlin Transit” which opened at the Jewish
Museum of Berlin in 2012 and provided the present paper with its title, bears witness
to this. Point of departure for the perception and the perpetual modernity of the emi-
gration process is Joseph Roth’s essay The Wandering Jews – a masterly depiction by an
author who in his own person integrated the antinomic elements East and West into a
dynamic hybridity-­factor.

Die Nord-­Süd und Ost-­West Migrationswelle, wie wir sie heute kennen, und
die Umwälzungen, die dadurch entstehen, sind an sich nichts Neues. Man
kann zwischen der heutigen und der damaligen Lage eine Parallele ziehen,
denn immer noch strömen Migranten – aus anderen Ländern – in den ‚golde-
nen Westen‘. Damals, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre,
zogen jüdische Emigranten in die europäischen Groß- und Hauptstädte, die
eher als „Durchgangsstation“ gedacht und erlebt, denn als Niederlassungsort
ersehnt wurden (Roth 1985: 47). Die Massenauswanderungen wurden durch
Pogrome, später durch die russische Revolution und den Bürgerkrieg ausgelöst.
So wurde Berlin für die ostjüdische, jiddischsprachige Emigration, die nach

1 Karl-­Emil Franzos verwendet den Begriff im Titel seiner Reiseerzählungen Halb-­Asien.


Land und Leute des östlichen Europa von 1876.
300 Astrid Starck-­Adler

Amerika – der goldener medine (Land)2 –, oder anderen Ländern unterwegs


war, zum Transitort3:
Sie [die Flüchtlinge] stammen aus der Ukraine, Galizien, Ungarn. Hunderttausende sind
zu Hause Pogromen zum Opfer gefallen. Hundertvierzigtausend fielen in der Ukraine.
Überlebende kommen nach Berlin. Von hier aus wandern sie nach dem Westen, nach
Holland, Amerika und manche nach dem Süden, nach Palästina. (Roth 1989: 384).

In Berlin stieß Halb-­Asien auf den „zivilisierten Westen“. Die dem Meer oder
dem Fluss entnommene Bezeichnung für das Phänomen, Migrationswelle oder
Emigrantenstrom, weist auf das Unaufhaltsame, sich Wiederholende, aber auch
sich ewig Wandelnde hin, wobei die Konnotation Naturkatastrophe und Gefahr
offensichtlich ist:4 „Man kennt sie [die Flüchtlinge] allgemein unter dem Namen
‚Die Gefahr aus dem Osten‘“ (loc.cit.).
Die Verbindung zweier fremder, also feindlicher Elemente, Asien und Meeres-
flut, verdoppelt die Gefahr. Infolge dieses Zustroms von über zwei Millionen ent-
stand darüber hinaus eine veränderte Topografie: Mit der Schaffung temporärer,
transitorischer Räume, kam es zu neuen urbanen Konstellationen. Transitorte
werden solche, die horizontal von Menschen durchquert werden und zu einem
gewissen Zeitpunkt politisch, gesellschaftlich, historisch oder künstlerisch wahr-
genommen werden (cf. Berlin Transit 2012). Der Mensch, der in solchen Tran-
sitorten eine kürzere oder längere Zeit verweilt, ist – religiös betrachtet – selber
ein Transitwesen auf Erden, jedoch ein Vertikales. Migration wird im Allgemei-
nen vom Land der Ankunft aus bewertet: höchst negativ, je grösser die Armut
der Migranten ist und dementsprechend äußerst aggressiv, da es um „Fremde“,

2 Die größte Anziehungskraft übte Amerika aus. Der Mythos Amerika als goldenes
Land war in Europa weit verbreitet und betraf jedwede Bevölkerung. Auf Jiddisch
sprach man von der „goldenen medine“. Später wich dieser positive, enthusiastische
Blick, den man in der Heimat gehegt hatte, den oft bitteren Arbeits- und Lebensver-
hältnissen, die mancher jüdische Emigrant in der Neuen Welt antraf. Cf. Mark Slobin
1983: 156 f.: „Once admitted to ‚Freeland‘, the immigrant voiced his disappointment
and resentment at the failure of his dreams to materialize. The phrase goldn land or
goldene medine („land of gold“ or „golden land“) is rarely used as a positive epithet. “
Das berühmteste Lied ist wohl Di grine Kusine, die folgendermaßen endet: „Az brenen
zol Kolumbuses medine!“
3 Für eine ausführliche Untersuchung der damaligen Migration cf. Anne-­Christin Saß
2012.
4 „The metaphor that conceptualises immigration as flows of water (cf. Böke 2002) has
produced a large number of single metaphorical expressions involving (Zu-)Strom,
Welle, Schwemme, (Spring-)Flut, eindämmen, einschleusen, verebben, versickern, ver-
siegen, ansteigen, anschwellen, hereinströmen, etc.“ (Schröter 2008: 50).
Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete 301

i.e. um „Asiaten“ geht. Dies galt für die Ostjuden insgesamt. Abgesehen von ih-
rer nationalen Herkunft, waren die meisten traditionsgesinnten Ostjuden ihrer
Kleidung, ihrer Weltanschauung, ihren religiösen Bräuchen und ihrer Lebensart
nach in Deutschland Fremde, obwohl sie ihrerseits den Eindruck hatten, durch
ihre Sprache – dem sogenannten Jargon – mit dem Transitland verbunden zu sein.
Das war ein Irrtum. Denn nicht nur von den Deutschen, sondern auch von ihren
emanzipierten, aufgeklärten und assimilierten Glaubensgenossen, den deutschen
Juden, wurden sie verstoßen.
Die „Ostjuden“ bildeten keine homogene Gruppe; sie gehörten unterschied-
lichen sozialen Schichten an und stammten, wie oben angedeutet, aus verschie-
denen Ländern. Die große Mehrheit der chassidischen Juden aus Polen wohnte
im armen Scheunenviertel, die anderen im bürgerlichen Charlottenburg, ‚Char-
lottengrad‘ genannt, weil sich dort die russisch-­jüdische Emigration einfand.
Es entstanden neue Räume, oder schon vorhandene Räume wurden umfunk-
tioniert und fungierten so als Berührungspunkte; so z. B. das Romanische Café in
Charlottenburg, in dem Künstler und Intellektuelle, Maler und Schriftsteller aus
Berlin und Osteuropa verkehrten: Else Lasker-­Schüler kam dort mit dem jungen
jiddischen Dichter Nochem Stenzel in Kontakt (cf. Valencia 1995) und Peretz
Markish, der auch dort verkehrte, wohnte in Charlottenburg bei Richard Deh-
mel in der Bismarckstraße (Markish-­Archiv). Andere der neuen Räume wirkten
abstoßend auf die Außenstehenden, die zwischen dem anständigen „Diesseits“
und dem berüchtigten „Jenseits“ eine Grenze zogen. Dies galt vor allem für das
populäre Scheunenviertel mit seinen überfüllten und armseligen Häusern und
seiner verrufenen „Unterwelt“: „Es gibt auch ostjüdische Verbrecher in Berlin:
Taschendiebe, Heiratsschwindler, Betrüger, Banknotenfälscher, Inflationsschie-
ber. Fast keine Einbrecher. Keine Mörder, keine Raubmörder“ (Roth 1985: 49).
Diese „Unterwelt“ spielt auch in Döblins Roman Berlin Alexanderplatz eine
Rolle. Für die Bewohner jedoch, die ‚Scheunenviertler‘, hatten die neuen Räume
den Geschmack und die Aura des endgültig Verlassenen, denn sie waren ein
Abbild der Heimat und erinnerten an das verlorene shtetl. Gerade das wollten
die bürgerlichen Kreise meiden, war doch der Anblick dieser Glaubensgenossen
ein Zerrbild der eigenen, verdrängten Vergangenheit. Im Scheunenviertel gab es
Bet- und Lehrhäuser, Büchereien, Geschäfte mit jiddischen und hebräischen In-
schriften – koschere Fleischereien, Bäckereien, Buchhandlungen, usw. Es wurden
nicht nur geographische und soziale Räume erschlossen, wie die Grenadierstraße
im Zentrum Berlins, „Ein Ghetto mit offenen Toren“, die Ankunftsstraße schlecht-
hin der aus ganz Europa einwandernden Juden, die in anderen Stadteilen unter-
gebracht wurden (Helas 2010); auch imaginäre, kulturelle Räume wie das noch
302 Astrid Starck-­Adler

zu wenig beachtete jiddische Theater in Berlin, gliederten sich in das veränderte


Stadtbild ein (cf. Sprengel 1995). Die Ausstellung Berlin Transit, die 2012 im Jüdi-
schen Museum Berlin stattfand und den Titel dieses Beitrags lieferte, befasste sich
mit dem Phänomen der jüdischen Migration, mit neueren Forschungsmethoden,
die zu bemerkenswerten Schlüssen führen. Wesentlich dabei ist die Aufhebung
der um die vorletzte Jahrhundertwende üblichen Benennung ‚Ostjude‘, die später
von den Nazis als Brandmarkung übernommenen wurde. Die Einteilung in West-
und Ostjuden spiegelte im Grunde genommen die tiefe Kluft wider, welche dem
Antagonismus zwischen dem ‚zivilisierten‘ aufgeklärten Westen und dem ‚un-
zivilisierten, finsteren‘ Osten zuzuschreiben ist. Wie oben erwähnt, distanzierten
sich die Westjuden von den Ostjuden, mit denen sie – wie sie glaubten – nichts
verband, weder Weltanschauung noch Gesinnung, weder Lebensweise noch
Sprache. Für die Nazis gab es nur eine Art von Juden, die mit der Endlösung
verschwinden sollten: „The division between non-­assimilated, Yiddish-­speaking
Ostjuden und assimilated Westjuden […] became, and remained, fundamental
until both perished in the same Holocaust“ (Hobsbawm 2013: 69).
Eine vielseitige und vielschichtige jiddische Literatur verarbeitete auf fiktiona-
ler Ebene den Ost/West-­Widerspruch. Der polnisch-­jüdische Autor Israel Joshua
Singer, der u. a. Thomas Manns Roman Der Zauberberg ins Jiddische übersetzte,
befasst sich mit dieser Problematik in seinem Familienroman, Di mishpokhe
Karnovski. Wie Thomas Mann in Die Buddenbrooks erzählt Israel Joshua Singer
vom Aufstieg und Zerfall einer Familie. Die Handlung erstreckt sich über drei
Generationen. Zur ersten gehört der aufgeklärte deutschsprachige David Kar-
novski und seine jiddischsprachige Frau Leah; sie wandern von Melnitz in Polen
nach Berlin, dem Tempel der jüdischen Aufklärung, aus, wo sich Leah, die kein
Deutsch spricht, völlig verloren vorkommt. Um sich ‚anzuheimeln‘, besucht sie
ab und zu eine ‚ostjüdische‘ jiddischsprachige Familie aus ihrem shtetl, die im
Scheunenviertel wohnt und dort ein Geschäft führt. Jedoch darf ihr Mann nichts
davon wissen, denn seit sie in Berlin sind, auf der Oranienburgerstraße im bes-
seren jüdischen Viertel, verachtet David seine Landsleute. Die zweite Generation
besteht aus dem Chefarzt Georg und seiner nicht-­jüdischen Frau Therese, einer
Krankenschwester. Auf beiden Seiten kommt es zum Bruch mit der Familie.
Therese hat einen rechtsradikalen Bruder, der ihre Heirat mit einem Juden miss-
billigt und später ihren Sohn indoktriniert. Inzwischen hat sich der Vater David
in die besseren Kreise des deutschen Judentums integrieren können. Die dritte
Generation beschränkt sich auf Jegor (Joachim-­Georg), den Enkel. Als Sohn einer
‚Mischehe‘ findet er sich in der deutschen, antisemitischen Gesellschaft nicht
zurecht und strebt nach Anerkennung seitens der nicht-­jüdischen Deutschen.
Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete 303

Im Gymnasium muss er zur Beweisführung nackt vor seinen Klassenkameraden


stehen und wird von seinem Nazi-­Lehrer als lebendiger Beweis für die Entartung
der Juden missbraucht. Nach diesem Vorfall bricht er psychisch zusammen. Mit
dem Aufkommen des Naziregimes gilt sein Großvater David wieder als ‚Ostjude‘
für die ‚Westjuden‘. Er, der nach dem Motto lebte „Sei ein Deutscher auf der Stra-
ße und ein Jude zu Hause“, kann während der Judenhetze, die sich von Tag zu
Tag verschärft, gerade noch mit seiner Familie nach New York fliehen, um dem
Schlimmsten zu entkommen. Jegor fällt dem Selbsthass zum Opfer. In diesem
spannenden Roman werden gewisse Motive geschickt eingesetzt: die Topografie
Berlins als Symbol des sozialen Aufstiegs, die jeweilige Verwendung der Sprache
als Zeichen der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, die soziale und religiöse Ab-
stammung als Integrationsmittel, die Mischehe als Assimilationsfaktor. Unter
dem Naziregime entpuppt sich jedoch der Assimilationswahn als fata morgana.
Der Roman endet mit dem Bekenntnis Davids zu den ‚ostjüdischen‘ Werten, zur
Demut und zu der jiddischen Sprache seiner Frau.
In anderen Werken, z. B. in expressionistischen und futuristischen Gedichten
oder Prosatexten der jiddischen Avant-­Garde, die unter dem Namen ‚Khalyastre‘
(Bande) berühmt wurde, kommt das fieberhafte, hektische und sozial gespalte-
ne urbane Gebilde der Metropolis zu Wort. Die Künstler eigneten sich dieses
Schimpfwort als „Markenzeichen“ an und veröffentlichten ihre Artikel, Gedichte
und Kunstwerke in der Zeitschrift Die Khaliastra.5 Die Errungenschaften der
Technik6, die Elektrizität, Züge und Bahnhöfe7 werden Bestandteil des städtischen
Panoramas. Sie fördern und verstärken eine nach ‚Westen‘ gerichtete Bewegung.
Als markantes Symbol gilt die Ankunft am Bahnhof, den man nach einer lan-
gen Reise erreicht. Nicht die Unendlichkeit der Reise wird zum Gegenstand der
Aufmerksamkeit, was auf eine Ausdehnung der Zeit deuten würde, sondern das
Vorbeisausen der Telegrafenstangen. Die Reise im Zug wird zum Inbegriff der
Bewegung schlechthin: Sie kulminiert in der Geschwindigkeit und bekommt
im Kubo-­Futurismus ihre geeignete Ausdrucksform. Im Gemälde Vorüberzie-
hende Landschaft (1914/1915) inszeniert der kubo-­futuristische Kunstmaler der
russischen Avant-­Garde, Iwan Kljun (1873–1943), die Geschwindigkeit durch

5 Die Khaliastra erschien zweimal: 1922 in Warschau und 1924 in Paris. Sie beinhaltet
Gedichte und Texte über Berlin (cf. Lachenal 1989).
6 In der Khalyastre wird die Technik anhand von surrealen und apokalyptischen Bildern
eingesetzt.
7 Die lange Reise im Zug über Riesenlandschaften und die Ankunft am Bahnhof sind
moderner Bestandteil der Erzählung in Moyshe Kulbaks Disner Tshayld Harold (1933)
und Esther Kreytman’s Sheydim Tanz (1936).
304 Astrid Starck-­Adler

eine Ausschweifung von Farben und Fragmentierung der Landschaft in einzel-


ne geometrische Formen, womit eine Verzerrung des Zeit- und Raumbegriffes
eingeführt und so eine Art von Simultanität erreicht wird (cf. Drutt 2015: 95).
Dasselbe gilt für Die Reisende (1915) von Ljubov Popova (1889–1924), wobei die
Zerstückelung – auch des Individuums und der Welt – noch intensiver in den
Blickpunkt tritt (cf. Bowlt & Drutt 2000: 203).
Literarisch werden Reise und Geschwindigkeit von dem aus Minsk stammen-
den russisch-­jiddischen Schriftsteller Moyshe Kulbak, der von Wilna nach Berlin
fährt, anhand von kurz aufeinanderfolgenden Skizzen dargestellt. Diese bilden
den Anfang des modernen gereimten Stadtepos, Disner Tshaylde Harold (1933),
in dem er sich auf seine Erfahrungen in Berlin stützt. In achtundfünfzig Bildern
inszeniert der Dichter einen ‚Flâneur‘ im Benjaminschen Sinne, oder einen ‚Mü-
ßiggänger‘ à la Svevo, der seine Eindrücke über Berlin liefert und für den Leser ein
satirisch-­tragisches Panorama der Metropole mit ihrem Künstler- und Arbeiter-
leben, ihrem reichen pulsierenden Nachtleben und den tödlichen revolutionären
Aufständen schnappschussartig fotografiert. Die Berührungs- oder Verwerfungs-
punkte zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘, wie sie in den angeführten literarischen Texten
zum Vorschein kommen, bewirken schwankende und wandelnde Identitäten. Ein
dadurch ausgelöstes subtiles Wechselspiel und in-­Frage-­Stellung führt dazu, dass
der Begriff yidishkayt, Jüdisch-­Sein, neu definiert wird:8 „We started our long road
from East to West as political refugees from Soviet Russia and we did not even
know that we were Ostjuden“ (Dijour 1963: 220).
Als Ausgangspunkt der Wahrnehmung des Emigrationsprozesses in der Mo-
derne steht Joseph Roths Essay Juden auf Wanderschaft (1927).9 Dieses meisterhaft
geschilderte Werk wurde von einem Autor verfasst, der aus Brody stammte, einer
Stadt am äußersten Rand der Habsburger Monarchie, im Königreich Galizien-­
Lodomerien. Später lebte er in Deutschland, bevor er am Tag der Machtergreifung
durch Hitler am 30. Januar 1933 nach Paris emigrierte. Roth vereinte in sich die

8 Der Begriff yidishkayt war der Grundbegriff des Jüdisch-­Seins in Osteuropa. Er bezieht
sich auf die jüdische Lebensweise und Weltanschauung. Die jiddische Sprache ist deren
Quintessenz. In den meisten modernen jiddischen Werken ab der Mitte des 19. Jahr-
hunderts befassen sich die Schriftsteller und Künstler mit ihrer jüdischen Zugehörig-
keit und deren Bedeutung.
9 Die Texte Roths, aus denen im Weiteren zitiert wird, sind in diesem Essay enthalten,
das 1985 von Kiepenheuer & Witsch in Band 2 der Werkausgabe veröffentlicht wurde
(S. 827–904). Mittlerweile gibt es eine Neuausgabe von Juden auf Wanderschaft bei Dtv
(2006) wie auch eine digitale Fassung im Internet unter http://sammlungen.ub.uni-
frankfurt.de/freimann/content/titleinfo/741597 [26.10.2015].
Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete 305

zwei von der damaligen Gesellschaft als widersprüchlich verstandene Elemente,


Osten und Westen. Kritisch dem Westen gegenüber, dem er seinen ‚Westeuro-
zentrismus‘ vorwarf10, empfand er sich seit der Vernichtung Galiziens im Ersten
Weltkrieg als Heimatloser (cf. Leben im russischen Schtetl 1993).
Die Anziehungskraft, welche der Westen auf die Bevölkerung des Ostens aus-
übte, ist heute keineswegs verschwunden. Was Joseph Roth damals schrieb, gilt
in verschiedener Hinsicht heute noch. Westen bleibt Westen, Migranten bleiben
Migranten:
Der Ostjude weiß in seiner Heimat nichts von der sozialen Ungerechtigkeit des Westens;
nichts von der Herrschaft des Vorurteils, das die Wege, Handlungen, Sitten und Welt-
anschauungen des durchschnittlichen Westeuropäers beherrscht; nichts von der Frage
des westlichen Horizonts, den Kraftanlagen umsäumen und Fabrikschornsteine durch-
zacken; nichts von dem Hass, der bereits so stark ist, dass man ihn als daseinerhaltendes
(aber lebentötendes) Mittel sorgfältig hütet, wie ein ewiges Feuer, an dem sich der Ego-
ismus jedes Menschen und jedes Landes wärmt. Der Ostjude sieht mit einer Sehnsucht
nach dem Westen, die dieser keinesfalls verdient. Dem Ostjuden bedeutet der Westen
Freiheit, die Möglichkeit, zu arbeiten und seine Talente zu entfalten, Gerechtigkeit und
autonome Herrschaft des Geistes […] Der Ostjude sieht die Schönheit des Ostens nicht
[…] (Roth 1985: 828).

Diese Anziehungskraft ist auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen. Wichtig


war zuallererst das Vorhandensein einer jahrhundertealten Kontrastsprache zum
Deutschen (cf. Timm 1986): Jiddisch, das sich nach der Ankunft in Deutschland
als Trennungs- statt als Annäherungsfaktor entpuppte.11 Hinzu kam eine gezielte
Politik zur Verbreitung der ‚westlichen‘ Kultur im Osten, insbesondere seit der
deutschen Aufklärung und der Haskalah, der jüdischen Aufklärung. Im Rahmen
der Habsburger Kolonialpolitik im Osten wurden deutschsprachige Juden als Vor-
posten der deutschen Sprache in die östlichen Rand- und Grenzgebiete geschickt
und dort angesiedelt. Ferner wurde der Westen mit moralischen und humanis-
tischen Werten gleichgesetzt, dessen Kultur und Literatur – vor allem die der
weltberühmten Vertreter Schiller und Goethe – diese Auffassung bekräftigten.

10 Ein von mir angepasster Begriff um den Gegensatz West/Ost so wie er von Roth wahr-
genommen und in Juden auf Wanderschaft geschildert wird.
11 Im schon erwähnten Roman Di mishpokhe Karnovski darf Davids Frau, die nur Jid-
disch spricht, in Anwesenheit der Gelehrten, die ihr Mann eingeladen hat, den Mund
nicht öffnen, um ihren Gatten nicht zu beschämen.Dies gilt übrigens auf allen fünf
Erdteilen, so z. B. in Südafrika, cf. Leybl Feldman, „Men heybt on shemen zikh mit
yidish“, in: Yidn in Yohanesburg, aroysgegebn durkh der Dorem-­Afrikaner yidisher
kultur-­federatsye, 1957: 63
306 Astrid Starck-­Adler

Der aus Czortków (Galizien) stammende deutschsprachige ‚ostjüdische‘


Schriftsteller Karl-­Emil Franzos, Anhänger und Verbreiter der westeuropäischen
Kultur im Osten und Erfinder Halb-­Asiens, sammelte – wie es im 19. Jahrhun-
dert üblich war – die Geschichten und Bräuche der ‚nicht-­europäischen‘, ‚halb-­
orientalischen‘, ‚unzivilisierten‘ – Völker Mitteleuropas, zu denen er auch die
Juden zählte.12 Interessanterweise wurde die Zugehörigkeit der ‚Ostjuden‘ zu
Asien sogar in Südafrika als Argument von deutsch-­jüdischer Seite bei der dor-
tigen Regierung gebraucht, um die Einwanderung russischer Juden zu stoppen.
Als Beweis dafür galt die jiddische Sprache, die mit ihren jiddisch/hebräischen
Buchstaben unter die asiatischen Sprachen eingeordnet wurde (Feldmann
2012: 59 ff.). Franzos verfasste den Bildungsroman Der Pojaz (1904) ganz im
Sinne der Aufklärung; er stellte ihn dem „Obskurantismus“ – Chassidismus –
des ‚Ostjudentums‘ gegenüber.13 Auch auf Jiddisch wurden maskilische (auf-
klärerische) Romane verfasst: so z. B. Dos poylishe yingl oder a biografye fun zikh
aleyn (1868), von Isaac Joel Linetski (1839–1915), einem aufgeklärten Schrift-
steller, der seinen Bildungsroman als Satire auf den Chassidismus konzipierte.
Er wurde zum ersten Bestseller der jiddischen Literatur. Während beide Ro-
mane die westliche Bildung bevorzugen und deren Werte preisen, steht es ganz
anders mit dem in Wien geborenen aber in Lemberg aufgewachsenen Martin
Buber, der sich für den Chassidismus als mystisch-­authentischen Ausdruck des
Ostjudentums begeisterte, und die Geschichten der Chassidim (Frommen) auf
Deutsch übersetzte (cf. Buber 1918; 1949). Den Unterschied zum Westjudentum
sieht er darin, dass die Ostjuden in einem ‚rousseauistischen‘ Sinne unverdorben
sind, während dem Westjudentum die jüdisch-­existentielle Grundhaltung vor
lauter ‚Zivilisation‘, Rationalismus und Materialismus abhandengekommen ist.
Von einer neuromantischen Auffassung des Orients ausgehend, setzte Buber das
Ostjudentum mit dem Orient gleich. In orientaler und jüdischer Perspektive wird
nämlich versucht, die menschliche Welt zu vervollkommnen anstatt sie zu be-
herrschen. Die Tat ist das Maßgebende und nicht der Glaube (cf. Buber 1920: 79).

12 Im Gegensatz zu Joseph Roth zählte sich der deutschsprachige aufgeklärte Jude Karl-­
Emil Franzos zu den ‚Westjuden‘. Schon dies zeigt, dass ‚Ostjude‘ als antinomisches
Pendant zu ‚Westjude‘ nicht standhält, und dass es sich um zwei langlebige Stereotypen
handelt, die eine äußerst komplexe Realität westeurozentrisch zu schematisieren ver-
suchten.
13 Aufgrund des heftigen Antisemitismus in Europa und Österreich veröffentlichte Fran-
zos seinen Roman nicht mehr zu Lebzeiten. Vier seiner Romane wurden auf Jiddisch
übersetzt und erschienen in Alexander Zederboym’s Zeitung, Yudishes folks-­blat: A
politish-­literarishe tsaytung (cf. Cohen 2008: 151; 168).
Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete 307

Im Chassidismus wird die unio mystica als dynamischer Prozess zwischen dem
Frommen und Gott, zwischen einem Ich und einem Du, erstrebt. Der Kulturzio-
nismus interessierte sich für das Ostjudentum, das Jüdische, sein Weltbild und
seine Errungenschaften. So interessierten sich übrigens die Zionisten sowohl
im Osten als auch im Westen für das jiddische Theater. Ein Beispiel ist hier die
Begeisterung des elsässischen Zionisten Alfred Elias für das Elsässer-­Jiddische
Theater von Mayer-­Woog aus Hegenheim im ausgehenden 19. Jahrhundert, das
für ihn wichtig ist, weil es in einer jüdischen Sprache vom jüdischen Leben im
Elsass kundtut (cf. Starck 1993).
Das jiddische Theater, das einen spezifischen Raum einnimmt und den Ort
der yidishkayt par excellence versinnbildlicht, ist wie eine Insel im transitorischen
Raum Berlin und entspricht der Foucauldichen Heteropie. Für Foucault sind
Heterotopien
wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet
sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in
denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten
und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich
geortet werden können (Foucault 2002: 39).

Grenzüberschreitend bringt das jiddische Theater – damals ‚Jargontheater‘ ge-


nannt – , das in Berlin auch als ‚jüdisch‘ und ‚orientalisch‘, bezeichnet wurde,
das Drinnen und Draußen, die Vergangenheit und Zukunft, den Körper und
die Musik in Einklang. Ja es hebt die sozialen Gegensätze und die Diskrepanz
zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ auf, denn es zieht gleichzeitig Künstler, Schriftsteller,
Maler, Dichter und Intellektuelle aus dem Westen und dem Osten an: Joseph
Roth, Alfred Döblin, Kurt Pinthus, Issachar Ber Rybak, Marc Chagall u. a. m. Die
Beschreibungen der Aufführungen sind sehr farbig – manchmal auch kritisch –,
denn es ging damals in den Berliner Theatern äußerst lebhaft zu, zuerst im
Saal, dann auf der Bühne. Frauen kamen mit Kind und Kegel und brachten das
Essen mit, Männer kümmerten sich um ihre Geschäfte, diskutierten, stritten
und alle mischten sich ein. Dann fing die Aufführung an. Mit Leib und Seele
beteiligten sich die Zuschauer an der Aufführung durch Lachsalven, Mitsin-
gen, Zwischenrufe, „die zu Zweifeln berechtigten, ob hier die Fiktionalität des
theatralischen Mediums überhaupt noch wahrgenommen wurde“ (Sprengel
1995: 119). Ein wahrer Vorläufer des Living Theatre! Was von den einen kritisiert
wird, wird von den anderen gelobt. Über eben diese Vitalität erstattet Franz
Kafka in seinen Tagebüchern mit Begeisterung Bericht (cf. Tornton Beck 1971).
Was ihn fasziniert, ist der Einsatz des Körpers als Ausdrucksmittel zusätzlich
zur Sprache. Vergessen wir nicht, dass in der puritanischen Gesellschaft des
308 Astrid Starck-­Adler

19. Jahrhunderts der Körper ummauert, umgrenzt wurde. Psychoanalyse und


freie Körperkultur trugen zu Beginn der 20. Jahrhunderts zur körperlichen
Entfaltung bei. Das Verdienst des jiddischen und dann des expressionistischen
Theaters ist es, alle Ausdrucksmittel in Bewegung zu setzen: Stimme, Geschrei,
Gesang, Tanz. Theater und Jiddisch, Theater und Sprache, Theater und Gesang
sind untrennbare Elemente und fließen ineinander: „Die Melodien sind lang,
der Körper vertraut sich ihnen an“ (Kafka 1983: 63).Die finanziell wenig be-
mittelten Truppen müssen sich mit provisorischen Einrichtungen und mini-
malistischen Bühnenausstattungen begnügen. Umso mehr sticht die Intensität
der Gebärden und die Expressivität der Körperhaltung bei den Schauspielern
und Schauspielerinnen heraus:
Der Anblick der einfachen Bühne, die die Schauspieler ebenso stumm erwartet wie wir.
Da sie mit ihren 3 Wänden, dem Sessel und dem Tisch allen Vorgängen wird genügen
müssen, erwarten wir nichts von ihr, erwarten mit unserer ganzen Kraft vielmehr die
Schauspieler und sind daher widerstandslos von dem Gesang hinter den leeren Wänden
angezogen, mit dem die Vorstellung eingeleitet wird (Kafka 1983: 67).

Das Theater ist vor allem theatralisch. Diese Theatralität charakterisiert übrigens
auch die Anfänge des Films, des Stummfilms. Das Theater, das sich in Raum
und Gegenraum aufteilt, ist der Ort des Sich-­zur-­Schau-­Stellens, des Sich-­Selbst-­
Interpretierens. Es gibt in Berlin zu dieser Zeit an die 18 Theater (cf. Sprengel
1995: 26), darunter Variété-­Theater, die sich im Scheunenviertel oder ganz in der
Nähe befinden. Die Aufführungen wenden sich ans jiddischsprachige Berliner
Publikum des Scheunenviertels. Alle Stücke müssen von der Zensur zur Auf-
führung genehmigt werden (cf. ibid.: 135–163). Im Großen und Ganzen werden
zwei Arten von Theaterstücken aufgeführt: künstliche, zusammengebastelte
Jargon- und Milieustücke aus der französischen und deutsch-­österreichischen
Possenliteratur, die dem jüdischen Publikum angepasst werden und in denen
Dialoge vorkommen, die „mit dem reichen Schatz ihres assyrisch-­chaldäischen
Rotwälsch“ gepolstert wurden (Turszinsky 1906: 95, zit. n. Sprengel 1995: 30).
So ging es um die Jahrhundertwende im Herrnfeld-­Theater am Alexanderplatz
zu, das einen Riesenerfolg hatte, sodass ein zweites Theater eröffnet wurde. Da-
neben und unter dem Einfluss des Kulturzionismus und der jüdischen Selbst-
behauptung griffen die jiddischen Schriftsteller zu jüdischen Themen aus Talmud
und Midrash, aus der jüdischen Geschichte, aus religiösen Konflikten wie der
Bekehrung oder der Mischehe oder aus der Arbeiter- und Armenwelt. Hinzu
kamen Stücke, die für besondere Feiertage wie Khanukha (Lichtfest) geschrieben
wurden. Neben zahlreichen anderen Autoren, deren Stücke literarisch mehr oder
weniger gelungen waren, sind zwei große Dramaturgen hervorzuheben: Abraham
Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete 309

Goldfaden (1840–1908), der vielseitige und vielbegabte Gründer des modernen


jiddischen Theaters, und Jacob Gordin (1853–1909), der zum Klassiker geworden
ist. Beide waren nach Amerika ausgewandert, aber ihre Stücke wurden in Europa
gespielt. Zum Repertoire gehörten einerseits eigene Stücke, solche, die sich von
Shakespeare14, Goethe und Schiller hatten inspirieren lassen, oder aber Über-
setzungen und – häufiger noch – Adaptationen von Stücken aus dem modernen
europäischen Theaterrepertoire von Autoren wie Tolstoi, Ibsen, Strindberg oder
Sudermann.
Mit seinen Operetten war Goldfaden der Erfinder des späteren Broadway
Musical. Als Schauspieler, Librettist und Komponist zugleich schuf er an die
vierzig ‚Singspiele‘. Seine Operetten wurden in Berlin von der „Operetten-­
Gesellschaft oder Natursänger[n]“ aufgeführt (ibid.:  34).15 Die bekannteste
ist sicher Shulamith (Orientalisches, musikalisches Melodram in 4 Acten von
A. Goldfaden), eine talmudische Geschichte, welche die Treue und das Ein-
halten des Versprechens in den Vordergrund rückt (cf. Sprengel 1995: 135; 163).
Ein junges Mädchen geht durch die Wüste. Beinahe am Verdursten findet sie
einen Brunnen, fällt aber hinein. Ein Jüngling kommt herbeigezogen, rettet sie
und beide versprechen, einander zu heiraten. Eine Wildkatze und der Brunnen
sind Zeugen. Der Jüngling bricht sein Versprechen, heiratet eine andere; seine
Kinder sterben jedoch: eins wird von einer Wildkatze gebissen, das zweite fällt
in einen Brunnen. Da erinnert er sich an sein Versprechen, verlässt seine Frau
und sucht Shulamith auf, die sich inzwischen in den „Wahn“ geflüchtet hatte, um
anderen Freiern zu entgehen. Schließlich heiraten beide. Die Inszenierung mit
Chor, Gesang und Tanz ist interessant. Das Stück enthält eines der bekanntesten
jiddischen Wiegenlieder: Rozhinkes mit mandlen. Ein wesentliches Merkmal
der ‚ostjüdischen‘ Migranten war ihre Fähigkeit, in jedem Migrationsland eine,
wenn nicht mehrere Bühnen zu errichten und importierte oder eigenständige
Theaterstücke aufzuführen.16 Das jiddische Theater war eine Konsolidierung
und Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität und wurde zugleich zu
einem Begriff für das Theater schlechthin. Es umfasste ein weites Spektrum

14 Von Jacob Gordin stammt Der idishe kenig Lear (1882). Er hat auch einen Nosn der
khokhem nach Lessings Stück Nathan der Weise für die Bühne verfasst.
15 Das letzte Kapitel in Kafkas Roman Der Verschollene lautet „Das Naturtheater von
Oklahoma“. Zum Einfluss des jiddischen Theaters auf diesen Roman, cf. Starck 1997.
16 So kam es, dass Theaterstücke aus New York in Argentinien oder Südafrika aufgeführt
wurden und sich mit dort relevanten Themen beschäftigten. So schrieb der aus Litauen
stammende Rakhmiel Feldman ein Theaterstück über die schwarzen Südafrikaner ganz
im Geiste der Juden von Lessing.
310 Astrid Starck-­Adler

an Kunst- und Ausdrucksmitteln und wurde nach dem Ersten Weltkrieg in


seiner Ästhetik revolutionär.17 Max Reinhardt ließ 1910 im Deutschen Theater
das berühmte und berüchtigte Drama von Sholem Asch, Der Gott der Rache,
das eine lesbische Beziehung inszenierte und in dem der Schauspieler Joseph
Schildkraut die Hauptrolle inne hatte, uraufführen. Erst 1924 fand dieses Stück
in New York Eingang ins jiddische Theater.
Als Transitort für Juden aus Osteuropa war Berlin eine menschliche, his-
torische und kulturelle Odyssee. Und umgekehrt auch für die deutsche Metro-
polis. Die Migration brachte Glaubensgenossen zusammen, deren Vorfahren
im Mittelalter vor den Massakern nach Osten geflohen waren und die zu dieser
Zeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein Jiddisch sprachen. Im Verlauf der Jahr-
hunderte waren unterschiedliche religiöse, historische und soziale Zustände
entstanden, die von der jeweiligen Umwelt geprägt worden waren. Machte
sich einerseits eine Auseinanderentwicklung bemerkbar, so wurde gleichzeitig
der Stoff zu einer Erneuerung und Bereicherung geliefert – vor allem für die
Künstler und Intellektuellen aus dem Westen, für die es anscheinend leichter
war, die Dichotomie zwischen Ost und West zu überbrücken. Der vom Westen
auf den Osten projizierte Antagonismus war schwer zu überwinden und führte
in der Wahrnehmung beiderseits immer wieder zum Zusammenprall zweier
gegensätzlicher Lebensauffassungen. Dies äußerte sich auch in den Texten Karl-­
Emil Franzos‘ mit seinem Hang zur jüdischen Aufklärung einerseits und denen
von Joseph Roth und Kafka mit ihrem Hang zum Ostjudentum andrerseits.
Für sie wirkte das jiddische Theater als eigentlicher Ort der Heterotopie, als
‚Ort außerhalb aller Orte‘, der jedoch alle Orte verbindet. Der transitorische
Charakter der durch die Texte Roths und das jiddische Theater geschaffenen
neuen Räume, die durch Begegnungen und Bewegungen erschlossen wurden,
schufen neue Beziehungen, ermöglichten neue Inszenierungen und neue Ent-
deckungen. Kurzum, sie eröffneten neue Horizonte, die auf fruchtbarem Boden
hätten gedeihen können, wenn nicht die nazistische Barbarei einerseits und
der stalinistische Terror andererseits die jiddische Kultur und ihre Träger aus-
gerottet hätten.

17 Zu nennen wären diesbezüglich das jiddische Theater in Moskau, das GOSET, dessen
Bühnenausstattung von Chagall gestaltet und gemalt wurde, und die beiden berühmten
Theater Yung Vilne und Yung Varshe. Über den Einfluss des jiddischen Theaters auf
das deutsche Theater cf. Bechtel 2010.
Berlin Transit: Wie „Halb-­Asien“ dem ‚Westen‘ begegnete 311

Literatur
Bechtel, Delphine 2010: „Yiddish Theater and its Impact on the German and Aus-
trian Stage“, in: Jeanette R. Malkin & Freddie Rokem (eds.) 2010: Jews and the
Making of Modern German Theatre, Iowa City: University of Iowa Press, 77–98
Bowlt, John E. & Drutt, Matthew (eds.) 2000: Amazons of the Avant-­Garde. Ka-
talog der Ausstellung, Berlin: Deutsche Guggenheim
Buber, Martin 1918: Mein Weg zum Chassidismus. Erinnerungen, Frankfurt a. M.:
Literarische Anstalt
Buber, Martin 1920: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M.: Rütten &
Loening
Buber, Martin 1949: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich: Manesse
Nathan Cohen 2008: “The Yiddish Press and Yiddish Literature: A Fertile but
Complex Relationship”, in: Modern Judaism 28.2 (2008): 149–172
Dijour, Ilya 1963: „Review: Ostjuden in Deutschland 1890–1940 by S. Adler-­
Rudel“, in: Jewish Social Studies 25.3 (1963): 219–221
Drutt, Matthew (ed.) 2015: Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Aus-
stellung der Malerei. Ausstellungskatalog, Riehen/Basel: Fondation Beyeler
Feldman, Leybl 2012: „Kegnershaft tsu rusishe yidn“, in: Stiftung Jüdisches Mu-
seum (ed.) 2012: 59–60
Foucault Michel 2002: „Andere Räume“ [1967], in: Karlheinz Barck et al. (eds.)
2002: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik
[1990], Leipzig: Reclam, 34–46
Franzos, Karl-­Emil 1914 [1876]: Aus Halb-­Asien. Culturbilder aus Galizien, der
Bukovina, Sudrussland und Rumänien, Leipzig: Duncker & Humblot, im Inter-
net unter https://archive.org/details/aushalbasiencul01frangoog [26.10.2015]
Helas, Horst 2010: Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel. Ein Ghetto
mit offenen Toren, Berlin: Hentrich & Hentrich
Hobsbawn, Eric 2013: Fractured Times: Culture and Society in the Twentieth Cen-
tury, London: Little Brown
Kafka, Franz 1983: Tagebücher 1910–1923, Frankfurt a. M.: Fischer
Kulbak, Moyshe 1953: Disner Tshaylde Harold (1933), in: Geklibene verk. New
York: CYCO: 229–268
Lachenal, Lydie Marie (ed.) 1989: Khaliastra: Revue littéraire, Varsovie 1922–Paris
1924, Paris
Leben im russischen Schtetl. Auf den Spuren von An-­Ski. Jüdische Sammlungen
des Staatlichen ethnographischen Museums in Sankt Petersburg. Austellungs-
katalog, Köln: Rautenstrauch-­Joest-­Museum, 1993
312 Astrid Starck-­Adler

Markish-­Archiv, Universitätsbibliothek Tel Aviv


Roth, Joseph 1985: „Die westlichen Ghettos – Berlin“, in: id.: Werke Bd. 2, Köln:
Kiepenheuer & Witsch, 857–878
Roth, Joseph 1985: „Ostjuden im Westen“, in: id.: Werke Bd. 2, Köln: Kiepenheu-
er & Witsch, 828
Roth, Joseph 1989: „Flüchtlinge aus dem Osten“, in: id.: Das journalistische Werk
1915–1923, ed. Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 383
Saß, Anne-­Christin 2012: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-­jüdische Migran-
ten in der Weimarer Republik, Göttingen: Wallstein
Schröter, Melani: „Discourse in a Nutshell – Key Words in Public Discourse and
Lexicography“, in: German as a Foreign Language 2 (2008), im Internet unter
http://www.gfl-journal.de/2-2008/schroeter.pdf [26.10.2015]
Singer, Israel Joshua 1949: Di mishpokhe Karnovski. New York: Matones Farlag; in
deutscher Übersetzung 2005: Die Familie Karnovski. Berlin: Berliner Taschen-
buch Verlag
Slobin, Mark 1983: Tenement Songs: The Popular Music of the Jewish Immigrants
Bd. 1, University of Illinois Press
Sprengel, Peter 1995: Scheunenviertel-­Theater. Jüdische Schauspieltruppen und
jiddische Dramatik in Berlin (1900–1918), Berlin: Fannei & Walz
Starck, Astrid 1993: „Das Elsässer-­Jiddische Theater im Elsass in interkulturellen
Perspektive“, in: Bernd Thum & Gonthier-­Louis Fink (eds.) 1993: Praxis inter-
kultureller Germanistik, München: Iudicum, 461–474
Starck, Astrid 1997: „L’influence du théâtre yidich sur Kafka dans son roman Der
Verschollene“, in: Nouveaux Cahiers d’Allemand 2 (1997), Nancy: Université
de Nancy, 17–26
Stiftung Jüdisches Museum Berlin et al. (eds.) 2012: Berlin Transit. Jüdische Mi-
granten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Katalog zur Ausstellung, Göttin-
gen: Wallstein
Timm, Erika 1986: „Das Jiddische als Kontrastsprache bei der Erforschung des Früh-
neuhochdeutschen“, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 14 (1986): 1–22
Tornton Beck, Evelyn 1971: Kafka and the Yiddish Theater. Its Impact on His Work,
Madison: University of Wisconsin Press
Valencia, Heather 1995: Else Lasker-­Schüler und Abraham Nochem Stenzel: Eine
unbekannte Freundschaft. Mit jiddischen und deutschen Texten aus dem
Elisabeth-­Wöhler-­Nachlass, Bd. 5. Frankfurt a. M.: Campus Judaica
Hiltrud Arens (Missoula, MT, USA)

Berlin als Metapher für Umbruch und


Transformation in Carmen-­Francesca Bancius
Berlin ist mein Paris

Abstract: Carmen-­Francesca Banciu’s collection Berlin ist mein Paris: Geschichten aus der
Hauptstadt (2002) reveals in the form of autobiographic vignettes and short prose pieces
Berlin as a changing city and transitory space in the 1990s. In portraying Berlin as a vi-
brant space-­in-­the-­making just after German unification, the author also reflects on her
own ongoing transformation in this cosmopolitical city, and as a writer in a new literary
language. Banciu, originally from Romania, visits important historical sites at the center
of Berlin, engages in meaningful encounters, and ponders the significance of the changes
she and other Berliners are experiencing. The author rethinks the process of belonging, of
identity, and – importantly – of language. The author’s discussion of belonging is embedded
in the cosmopolitan, liberating, fast-­paced and transformational space of the city centre
of Berlin, which she also appropriates in the process of defining it as a subjective space
for herself (Michel de Certeau). These notions of belonging, identity and language are, as
becomes evident in her pieces, in flux. A different and diverse Berlin is trying to redefine
itself, and is speaking to Banciu, who as a writer in transition is also finding a new literary
voice in German. Berlin seems to have given the author the creative space and momen-
tum to connect to movements and transnational artists’ networks, challenging boundaries
between East and West Berlin/Germany and within Europe. In this sense, Banciu is part
of a group of contemporary writers and artists who by claiming to belong to Berlin have
reconceptualized the capital city and its culture(s) and their own writing in transformative,
multilingual, and transcultural ways.

1 Einleitung
Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990 wurde Berlin für die neue Republik
als eine Art Labor für das sich veränderende Land gesehen und forderte gerade
auch Autoren heraus, die Ereignisse und Veränderungen literarisch festzuhalten
(Gerstenberger 2008: 1 f.). Warum Berlin? Berlin ist ein priviligierter, historisch
repräsentativer Ort in Deutschland, der seit dem Ende des neunzehnten Jahrhun-
derts mit politischen und sozialen Veränderungen und Entwicklungen assoziiert
wird. So ist es nicht erstaunlich, dass gerade in der zeitgenössischen Literatur die
Transformation Berlins nach 1989 (und auch nach 1998) als Metapher für die
Veränderung nicht nur der Stadt, sondern des Landes und seiner Bewohner stand
314 Hiltrud Arens

(Taberner 2005: 216; Gerstenberger 2008: 1 f.). Grundsätzlich weisen Metropolen


mit ihren heterogenen Räumen, ihren wichtigen Marktpositionen und Macht-
funktionen, und ihren dynamischen transnationalen Verflechtungen auf wichtige
gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse zum Selbstverständnis der Nation
und darüber hinaus auf die Identität des Einzelnen und seinen Bezug zu der Stadt
und der Gesellschaft in konzentrierter Form hin.
Kosmopolitische Literatur oder Großstadtliteratur kann daher als solche
Aufschluss geben über die wechselseitige Beziehung eines Individuums zur Ge-
sellschaft (Weiss-­Sussex 2007: 46), und auch den Konstruktcharakter unseres
Verständnisses von kultureller/en Identität/en beleuchten, die mit Berlin als
Haupststadt in diesem Fall auch gekoppelt ist an die bundesdeutsche Identität
(Meyer 2007: 70). Die neue Hauptstadt als anziehende Metropole bedeutete das
Sichtbarwerden und Anerkennen der wechselseitigen kulturellen Einflüsse (und
Konflikte) ihrer Bewohner und damit auch eine Realisierung von Entstehungs-
formen von Transkulturalität, die reziprok und dynamisch wirken; sie können
festgefügte kulturelle Instanzen und Prozesse durchdringen, öffnen, verändern,
und bisweilen auch auflösen (Meyer 2007: 69, 72; Marven 2009: 165; Kimmich &
Schahadat 2012: 8). Berlin als transitorischer Raum, in dem mannigfaltige Grenz-
überschreitungen und Grenzverhandlungen mit ihren Widersprüchen rezipiert
werden (Bachmann-­Medick 2010: 295–297), wird so zur Metapher für kulturelle
Dynamik(en). Diese Stadt als (aus)gesuchter Raum der Imagination und als lite-
rarisches Topos bedeutet(e) gleichsam nicht nur über das geographische Berlin zu
reflektieren, sondern sich verstärkt einer Auseinandersetzung mit deutscher Ge-
schichte und Gegenwart in Bezug auf das Ost-­West-­Verhältnis, Fragen der Iden-
tität, der kulturellen Vielfalt, der Globalisierung, und unterschiedlicher (Sub-)
Kulturen und ihrem Verhältnis zueinander zu stellen. Diese Beschäftigung mit
dem gegenwärtigen Berlin ist spezifisch transkulturell geprägt. Es geht nicht mehr
nur um deutsch-­deutsche Belange der Nachkriegsliteratur und seit dem Mauer-
fall, sondern detailliert um den Aspekt einer kulturell vielfältigen Gesellschaft im
Wandel, der sich in der neueren Literatur ausdrückt. Diese neue Rolle Berlins als
literarischer Ort der Darstellung trifft daher in Texten transkultureller, deutsch-
sprachiger Autoren und Autorinnen, wie z. B. Wladimir Kaminer, Zafer Senocak,
Feridun Zaimoglu, Emine Sevgi Özdamar und auch der rumänischen deutsch-
sprachigen Carmen-­Francesca Banciu auf große Resonanz.1 Transkulturelle oder

1 Ich gebrauche den Begriff der Transkulturalität im Sinne Dorothee Kimmichs und
Schamma Schahadats (2012), die feststellen, dass in einer “globalisierten Welt Kul-
turen weder territorial verortet werden können noch an homogene Gemeinschaften
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 315

transnationale Großstadtliteratur kann daher die Bedeutung der verschiedenen


Schnittpunkte innerhalb einer Stadt und die neu entstehenden (sich u. U. wider-
streitenden) „multiple simultaneous affiliations“ ihrer Bewohner deutlich machen
und neue Konzepte von Heimat und Sprache hervorbringen (Mani 2007: 7).2 Die
Berlin-­Literatur der 1990er Jahre problematisiert bereits die Stadt als einen dezen-
tralen Ort, in dem man „unendlich viele Berlins“ vorfinde (Norbert Niemann zit.
in Taberner 2005: 219); eine vielseitige und vielschichtige Stadt, die ein plurales
Lebensgefühl vermittelt (Taberner 2005: 219). Vielleicht liegt es gerade an dieser
Diversität der Wahrnehmungen und literarischen Ausarbeitungen, dass statt eines
großen Romans situiert in Berlin – der vielgewünschte ‚Wenderoman‘ – ein ‚patch-
work‘ von über dreihundert Texten allein in den neunziger Jahren erschienen ist;
welches wiederum anzeigt, wie unterschiedlich, vielfältig und ambivalent der Ver-
einigungsprozess und seine Folgen wahrgenommen und diskutiert worden sind
(Gerstenberger 2008: 1).3 Bei der Autorin Carmen-­Francesca Banciu kommen
die migratorischen Aspekte des Umzugs nach Berlin und der Sprachwahl des
Deutschen als zusätzliche Komponenten hinzu, die ihre Sichtweise massgeblich
beeinflussen und ihren Text strukturieren. Im folgenden diskutiere ich anhand
von Bancius autobiographischen und literarischen Miniaturen und Kurztexten,
zusammengestellt in ihrem Buch Berlin ist mein Paris: Geschichten aus der Haupt-
stadt (2002/2007), Aspekte dieser gesellschaftlichen Veränderungen im Berlin
der 1990er Jahre, die gleichzeitig eine subjektive Umbruchsituation darstellen.4

gebunden sind” (8). Ihre Konzeptualisierung schließt eine vielfältige wechselseitige


Durchdringung der Kulturen ein, die sich in bestimmten Räumen und neuen Raum-
vorstellungen bewegen, und versucht die Dynamik und Komplexität moderner Gesell-
schaften zu beschreiben. Transkulturalität und Transnationalität, Konzepte, die beide
bei Banciu eine Rolle spielen, sind zwei sich nahestehende Begriffe mit unterschied-
lichen Schwerpunkten. Für mich liegt die Betonung bei beiden auf dem Moment des
Präfixes „trans“, dass den „transnational flow […] within and without national borders“
hervorhebt (Seyhan: 2008: 281; Kimmich & Schahadat 2012: 14).
2 Azade Seyhan arbeitet die bereits in Ihrem Aufsatz „Transnational/Translational“
hervorgehobene, enge Verbindung zwischen Sprache, Multilingualität, und Trans-
nationalität heraus, da diese sämtlich kulturelle Verhandlungen und Übersetzungen
in den Vordergrund rücken (2008: 281–293).
3 Susanne Ledanff spricht von einer „schieren Masse neuer Berlinliteratur“ (2007: 275).
4 Carmen-­Francesca Banciu kam durch das DAAD Stipendienprogramm für interna-
tionale Künstler 1991 nach Berlin und blieb (Bach 2010). Berlin ist mein Paris erschien
zuerst 2002 bei Ullstein und dann 2007 bei Rotbuch. Ich zitiere in diesem Beitrag nach
der Taschenbuchausgabe des Rotbuch-­Verlags. Seit Mitte der neunziger Jahre schreibt
und publiziert Banciu neben Rumänisch auch auf Deutsch. Weitere Texte auf Deutsch
316 Hiltrud Arens

2 Die Autorin und Berlin ist mein Paris im Kontext


Brigid Haines analysiert in ihrem Aufsatz von 2008 „a new wave“ von Schrift-
stellern aus den ost- und südosteuropäischen Ländern, die sich seit dem Ende
des Kommunismus und dem Zerfall Jugoslawiens im deutschsprachigen Raum
niedergelassen haben und auf Deutsch schreiben (2008: 135 f.). In ihrer diffe-
renzierten Aufzählung ist auch Carmen-­Francesca Banciu enthalten. Haines
plädiert dafür, in Bezug auf diese Autoren – anders als mittlerweile für die
türkisch-­deutsche Literatur – den Begriff der Migrationsliteratur noch zu be-
nutzen (cf. loc.cit.), da in den Prosatexten dieser Autoren die Migration, tran-
sitorische (oftmals autobiographisch beeinflusste) Elemente und der (Post)
Kommunismus und seine Folgen thematisch sehr ausgeprägt seien (Haines
2008: 137). Außerdem zeigt Haines auf, dass es nach dem von Leslie Adelson
benannten ‚turkish turn‘ in der deutschsprachigen Literatur (2005), nun mög-
lich sei von einem ‚eastern turn‘ in der Literaturszene zu sprechen (Haines
2008: 138). Einige oben genannte charakteristische Merkmale in den vorgestell-
ten und untersuchten Texten, die Haines bespricht, finden sich auch in Bancius
Berlin-­Geschichten.
Banciu beginnt ihre Skizzen vom Leben in der Hauptstadt mit ihrer Ankunft
in Bayern in der internationalen Künstlerresidenz Villa Waldberta im Früh-
ling 2000, genau zehn Jahre nach ihrer allerersten Ankunft in Deutschland.5
Dort nämlich, in Bayern, plant sie an ihren Großstadtgeschichten zu arbeiten,
während der Bayer, der ihr mit dem Gepäck behilflich ist, es besser fände, sie
arbeite an einem Projekt zu Bayern, denn für ihn sind die Berliner „so anders“
(2007: 7). Eine Aussage, die er auch auf Nachfrage hin nicht weiter erläutern
kann. Aber dieser kleine Vorspann führt den Leser zum einen ein in die Welt der
Berliner Geschichten, in denen die Stadt und ihre Bewohner (und die Autorin
selbst) als potentiell „so anders“ geschildert werden, und erinnert zum anderen
an den Frühling 1990, als Banciu das erste Mal durch Bayern nach Westeuropa
und Deutschland fuhr. Damals schneite es und es war doch Frühling: für die
Autorin kam das einem „Wintermärchen“ gleich (Banciu 2007: 8): magisch und
schön. In jenem Frühling, in dem sie Rumänien, ihre Familie, und die turbulente
rumänische Revolution vom Dezember 1989 für eine Weile hinter sich lassen
kann, um endlich den Kurzgeschichtenpreis der Stadt Arnsberg von 1985 (für

sind: Vaterflucht. Roman (1998), Ein Land voller Helden. Roman (2000), Das Lied der
traurigen Mutter. Roman (2007). Banciu hat seit 1990 viele Preise und Stipendien im
In- und Ausland erhalten (cf. Amodeo et al. 2009: 31 f.; Mancani 2003: 187).
5 Aya Bach benennt die Skizzen auch Reflexionen und Randnotizen (2010).
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 317

die Erzählung Das strahlende Ghetto) entgegenzunehmen,6 träumt Banciu da-


von, weiter gen Westen zu fahren, nach Paris: „Das ist der Traum eines jeden
Rumänen, eines jeden rumänischen Schriftstellers“ (2007: 13). Auch in Literatur
ohne Grenzen betont sie ihren ursprünglichen Entschluss nach Paris gehen zu
wollen, der jedoch durch den Aufenthalt in Berlin durcheinander geraten sei
(Amodeo et al. 2009: 156).
Als Erwachsene in Bukarest bestanden ihre Reisen aus Geschichten und
Büchern, wie sie in der ersten Vignette Wintermärchen erzählt. Mit den aus-
geliehenen Büchern vom Institut Francais, der amerikanischen und britischen
Bibliotheken und dem Goethe-­Institut konnte sie in ihrer Fantasie andere Welten
bereisen und kennenlernen. So stieß sie auch auf Ernest Hemingways Buch A
Moveable Feast, seine Eindrücke von Paris aus den zwanziger Jahren – die zuerst
1964 posthum erschienen sind. Hemingways Geschichten aus seinem Leben als
junger Mann, Autor und Journalist in Paris, eine Stadt, die Banciu bis dahin nicht
besuchen konnte, berührten sie damals zutiefst und blieben in ihrem Bewusst-
sein. So erstaunt es nicht, dass sie Berlin – im Titel ihres Buches und gleich zu
Beginn der Kurztexte – als ihre Stadt der Träume und Sehnsüchte, als ihr Paris,
deklariert. Wenngleich Berlin eine Stadt ist, die sie sich nicht ausgesucht hat, denn:
„Nach Berlin zu kommen war nicht meine Entscheidung. Das Leben selbst hat
mir Berlin ausgesucht“ (Banciu 2007: 38). In ihrer Vignette Ein Koffer in Berlin
zitiert die Autorin aus der deutschen Übersetzung von Hemingways Paris – ein
Fest fürs Leben seinen Grund für Paris als (seine) Fest(stadt): „Wenn du das Glück
hattest, als junger Mensch in Paris zu leben, dann trägst du die Stadt für den Rest
deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst, denn Paris ist ein Fest fürs
Leben“ (Banciu 2007: 24). Berlin wird allerdings von Banciu nicht nur als eine für
sie ebenso lebendige, bereichernde Stadt porträtiert, sondern auch als transkul-
tureller, transitorischer Raum wahrgenommen, indem sie die Stadt als ihren Ort
des Umbruchs stilisiert. Dabei thematisiert sie zugleich ihre eigene Veränderung
als Schriftstellerin in einer anderen Sprache und in einem anderen Land. Außer-
dem wird durch die Bezugnahme auf Hemingway und die zwanziger Jahren des
zwanzigsten Jahrhunderts einerseits die aufregende, Zeit der neunziger Jahre im
Berliner Kontext mit den historischen Zwanzigern assoziiert, und andererseits
das Element des Transformativen und Transitorischen in der Gegenwart durch
Bancius Gegenüberstellung von Paris und Berlin besonders hervorgehoben. Ber-
lin als (bedingt) repräsentativer Ort deutscher Geschichte unterscheidet sich von

6 Der Preis hatte prompt die Zensur für ihre Publikationen in Rumänien zur Folge
(Amodeo et al. 2009: 31).
318 Hiltrud Arens

Paris, wie Ulrike Zitzlsperger in ihrem Text Topographien des Transits schreibt,
da die deutsche Haupststadt Brüche aufweist, die die Auseinandersetzung mit
bestimmten transitorischen Räumen und Dynamiken besonders interessant
macht (Zitzlsperger 2013: 7 f.).7 Und dies ist genau der Spannungskontext, in
dem Bancius Kurztexte in Berlin ist mein Paris entstanden sind.

3 Berlin Mitte als Ort und Metapher des Umbruchs


Die Topoi von Transformation und Neuerfindung Berlins im deutschen und euro-
päischen Kontext der 1990er Jahre boten auch eine Möglichkeit für individuelle
Neudefinitionen und waren verknüpft mit bestimmten Orten, wie zum Beispiel
dem Potsdamer Platz. Die Neubebauung und Strukturierung des architekto-
nischen Zentrums in der neuen Berliner Mitte wurden als bedeutsam im Hin-
blick auf die soziale, gesellschaftspolitische und nationale Identität der Berliner
Republik angesehen (James-­Chakraborty 2011: 101).8 Der Potsdamer Platz ist
in einigen Texten der 1990er Jahre der legendäre Ort, der die Transformationen
der Jahrzehnte symbolisiert (Weiss-­Sussex 2007: 55). Auch Banciu wählt die ge-
öffnete neue Mitte Berlins als das Zentrum ihrer Kurztexte, aber nicht den Pots-
damer Platz als ihren Ort. Die Friedrichstraße bei Checkpoint Charlie und die
halböffentlichen Räume der Cafés dort sind ihre auserwählten Orte (ibid.: 67 f.).
Sie schreibt nicht über die Möglichkeiten der architektonischen Debatten und
Kontroversen, sondern bezeichnenderweise meistens über Orte der Begegnung,
die schon vor der Wende existierten, wie der Bahnhof Friedrichstraße, an denen
nun aber ein neues Leben stattfinden kann, das vorher durch die teilende Grenze
nicht möglich gewesen war. Dieses Gebiet Berlins bezeugt nicht nur Brüche und

7 U. a. betont der Autor Zafer Şenocak in seinem Essay Die Hauptstadt des Fragments
auch den fragmentarischen, transitorischen und offenen Charakter des zeitgenössi-
schen Berlins und evoziert die Stadt als Baustelle, die nicht fertig würde und die auch
der Vergangenheit keine Ruhe ließe (2006: 158), da die Brüche der deutschen Ver-
gangenheit in der neuen Hauptstadt offener zu Tage treten als anderswo (2006: 160):
„[…] hier aber treten die Brüche in den Biographien, die verschütteten Erinnerungen
und die an den Stammbäumen der Figuren lose hängenden Blätter zu Tage“, reflektiert
Şenocak (2006: 162).
8 In der Einleitung zu ihrem Sammelband diskutieren Anne Fuchs, Kathleen James-­
Chakraborty und Linda Shortt auch die Besonderheit der Symbolik der urbanen
Architekturveränderungen im wiedervereinigten Zentrum Berlins für die neu ent-
stehende Bundesrepublik und die damit zusammenhängenden kontrovers geführten
Diskussionen (2011: 1–5). Siehe weitere Aufsätze zur Berliner Architektur in Costabile-­
Heming et al. (2004).
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 319

Polarisierungen, sondern dient auch als Erinnerungs- und Erfahrungsraum, der


angesichts veränderter Bedeutungen und historischer Entwicklungen die Gegen-
wart unmittelbar erfahrbar und verständlich werden lässt (Zitzlsperger 2013: 9).
Banciu verstand bei ihrer Ankunft 1990 das Potenzial der Neuerfindung für die
eigene Person in einer Stadt, die das Gleiche suchte: nicht nur waren die ober-
flächlichen positiven Eindrücke überwältigend, die Farben stärker, die Blumen
schöner (2007: 17–19), auch das sich rapide verändernde neue Zentrum des
ehemals geteilten Berlin zog sie an wie unter Hypnose: „Es [Checkpoint Charlie]
ist der Ort, der mich hypnotisch anzieht“ (2007: 9). Berlin Mitte als Ort dieser
Anziehung, wird für die Autorin zu ihrem Arbeits- und Lebensbereich. Wie sie
selbst sagt: „Und immer zurück nach Mitte. In meine Mitte. Und die Mitte Berlins“
(2007: 27). Bedeutsam ist in ihrer Erklärung ihre ausdrücklich sich wiederholende
Aufzählung und Überlappung der Wortwahl Mitte einmal mit einem Possessiv-
pronomen (in meine Mitte), und mit der präpositionalen Bewegung hin zu ihr
selbst als ihrem eigenen Zentrum (nach Mitte), welches sich steigert und mit der
die Mitte Berlins ein Teil von ihr wird. Diese Mitte, könnte man interpretieren, ist
gleichbedeutend mit dem Herzen als Zentrum eines Menschen und wird durch
dieses Satz- und Wortspiel noch bedeutungsträchtiger. Deutlich wird, dass Banciu
diesen Teil der Stadt als zu sich gehörend wahrnimmt: „Diese Stadt gehört auch
mir“, betont sie an anderer Stelle (2007: 31). Das heißt, für sie ist die Topographie
von Berlin Mitte nicht nur ein wichtiger historischer Ort, sondern sie bezieht
diesen transitorischen Raum auf sich, während sie dort geht, lebt und arbeitet.
Michel de Certeau hat in seinem Aufsatz Walking in the City den Prozess der An-
eignung neuer städtischer Räume mit einem Verständnis von öffentlichem Raum
als persönlichem Raum analysiert (1984: 97), indem er ihn vergleicht mit dem
Sprechakt: Das topographische System eignet man sich so an, wie die Sprache
durch das Sprechen. Es ist eine räumliche Vereinnahmung durch die Bewegung
in und an diesem bestimmten Ort, zu dem man sich so in Beziehung setzt (de
Certeau 1984: 98). Die Stadt wird als Text erfasst und gelesen: dies wiederum ist
eine Bewegung, die in Bancius Darstellung verstärkt und deutlich wird. Zusätzlich
bündelt und versinnbildlicht dieser Raum der Berliner Mitte komplexe – auch
konträre und widersprüchliche – Entwicklungen, die sich in unser Bewusstsein
eingeschrieben haben und durch diese Wiederholungen und Beschreibungen
uns wieder nah, lebendig und bewusst erfahrbar werden (Zitzlsperger 2013: 16).
In einem Interview von 2002 erklärt die Autorin, dass das Gebiet in Berlin
Mitte um Checkpoint Charlie für sie eine bleibende Erinnerung an die politische
Teilung der Systeme, des Landes, und der Stadt sei. In diesem Sinne berühre es
ihre eigene schmerzvolle Isolation nach dem Publikationsverbot nach 1985, wie
320 Hiltrud Arens

auch ihre Geschichte, und bewirke ihr Bedürfnis darüber zu schreiben (Schwab
2002). Die städtische Neuerfindung Berlins mit dem nun offenen und dyna-
mischen Schnittpunkt Checkpoint Charlie ist für sie von gesellschaftlicher und
individueller Bedeutung, denn als Frau, als Autorin und als Teil der Gesellschaft
fühle sie sich befreit aus der „Verkrampfung, mit der ich gekommen bin“ aus dem
„oppressiven System“, dass sie verlassen hat (Amodeo et al. 2009: 83).9 Berlin sei
auch ihre Wahl gewesen durch seine wichtige strategische geopolitische Lage im
neuen Europa, gerade da es an den „crossroads between East and West“ liege
(Mancini 2003: 187). Solche reflexiven Gefühle und Gedanken kommen jedoch
in Berlin ist mein Paris nur dann zum Ausdruck, wenn vergangene Situationen
und Momente verknüpft und kontrastiert werden mit dem Vielen, dass das Leben
in Berlin der Autorin an Farben, Essen, und Lebensmöglichkeiten zu bieten hat,
besonders wenn es um die Wahl des Deutschen als ihre Literatursprache geht
(worauf ich noch Bezug nehme). Zwei bestimmte Cafés in Berlin Mitte sind für
die schriftstellerische Arbeit Bancius besonders wichtig, da sie dort schreibt und
ihre Kontakte pflegt: das Café Adler am Checkpoint Charlie/Friedrichstraße und
das Sale e Tabacchi auf der Rudi-­Dutschke-­Straße nahe der TAZ Redaktion –
beide in unmittelbarer Nähe des vorherigen Grenzübergangs zwischen Ost- und
Westberlin. Es sind diese Orte der ehemaligen Grenze und Teilung, an denen sie
sich und die Geschichte zu verstehen sucht, und die ihr doch eine „Metapher
der Absurdität“ bleiben (Banciu 2007: 9). Dennoch ist das Besondere, dass sich
diese Orte als für Banciu wichtige biografische und gleichsam literarisierte Räume
(Berlin Mitte/Friedrichstrasse/Checkpoint Charlie/Cafés) überschneiden, und so
Einfluss haben auf den Text, und gleichzeitig eine Bindung an historische und
reale Begebenheiten in diesem transitorischen Raum für die Autorin und den
Leser verstärken (Zitzlsperger 2013: 4).
Der Blick Bancius auf die Teilung und die neue Mitte ist weder dem Ostberliner
noch dem Westberliner Blick auf die Stadt verpflichtet, die Susanne Ledanff in
ihrem Aufsatz vorstellt und analysiert (2007). Die Autorin bewegt sich in ihren
Miniaturen zwar in dem engen topographischen Raum um Checkpoint Charlie,
geht aber in ihren Beschreibungen inhaltlich über diesen Ort hinaus: Sie füllt
ihn mit Begegnungen und Geschichten, die einerseits die wachsende Metro-

9 Godela Weiss-­Sussex untersucht die Beziehung zwischen weiblichen Subjekten und


Stadterfahrungen in Berlin anhand der Figuren in Texten von Autorinnen der zwanzi-
ger und neunziger Jahre. Sie stellt dabei auch das Konzept der Neu(er)findung und per-
sönlichen Aneignung bestimmter Stadtwege in den Vordergrund, die den weiblichen
Figuren unter Umständen neue Spielräume, Identitäten, und Möglichkeiten eröffnen,
die den Raum Großstadt als männlich geprägten Raum unterlaufen (2007).
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 321

polisierung der Stadt und ihre „Veränderungskultur“ der 1990er Jahre darstellen
(Ledanff 2007: 276), andererseits aber auch das neue Interesse an der Großstadt
als Medien- und Konsumobjekt belegen. In Paris ist mein Berlin kommt eine
Vielstimmigkeit zum Ausdruck, die jedoch die sozialen Spannungen jener Jahre,
auf die andere Berlin-­Texte ausdrücklich verweisen, weniger beachtet (Ledanff
2007: 284).10 Banciu versucht unterdessen mit ihrem Bezug zu Hemingway und
seiner europäischen Großstadtliebe Paris eine mythische Anknüpfung an die
Moderne der zwanziger Jahre, und vermischt Ost-/West-­Perspektiven, so dass
sie dadurch den Blick erweitert.

3.1 Berlin als Bancius Paris


In ihrem Nachdenken darüber, ob sie zurück nach Bukarest oder nach Paris
gehen soll, entscheidet sie sich letztendlich für Berlin, da Berlin ihr bietet, was
die beiden anderen Städte nicht haben. Ihrer Meinung nach zieht diese Stadt
Menschen und (neue) Energien von überallher an und bietet ein Konzentrat
aus künstlerischem und wissenschaftlichem Potenzial: „Berlin hat die Gabe,“
so schreibt sie, „das alles anzuziehen“ (2007: 92). Immer wieder denkt sie an
Paris, aber schließlich resümiert sie: „Paris wird dort bleiben, wo es ist. Und wo
es immer schon war. Ich weiß. Paris ist die Welt. Die Welt, wie sie war. Und wie
sie immer bleiben wird. Und doch entsteht die Welt neu in Berlin. Eine Welt,
an der ich mitbaue“ (2007: 31). Sie genießt die „Aufbruchstimmung“ in Berlin,
die sie mit ihrer eigenen Umbruchsituation und ihrem veränderten Lebens-
gefühl verbindet (Banciu 2007: 31). Die Autorin empfindet die Stadt sogar als
„mein[en] Zwillingsbruder“ (Banciu 2007: 31, 32), den sie als „gespaltene[n]
Bruder“ bezeichnet, der ihr sehr nah und doch anders ist, und den sie nicht
einfach verlassen kann (Banciu 2007: 32). Die Autorin ist begeistert von den
neuen Möglichkeiten der Aufbau- und Umbruchzeit, in der sie ihre eigene neu
errungene Freiheit realisiert: „Ich weiß vieles noch nicht. Ich weiß nur, dass
ich unsagbar reich bin. Dass für mich alles möglich ist. Alle Türen sind für
mich offen. Alles ist möglich und noch nichts entschieden. Das ist ein berau-
schendes Gefühl“ (2007: 25). Ähnlich beschreibt sie Berlin mit dem gleichen
Adjektiv berauschend als eine Stadt, die immerzu in „berauschender Bewegung“
(2007: 92) begriffen ist. Rausch und berauschend signalisiert nicht nur Bewegung
und Tempo, sondern konnotiert auch den Moment von Intoxikation (und Sucht/
Abhängigkeit). Banciu verwebt bewusst ihr Gefühl des Berauschtseins mit dem

10 Siehe hierzu Susanne Ledanffs Diskussion von Erzähl- und Sichtweisen spezifischer
Texte der Ost-/Westberliner Berlinliteratur gleich nach der Vereinigung (2007).
322 Hiltrud Arens

der berauschenden Bewegung des Berliner Umbruchs: „Meine Biografie und die
von Berlin haben etwas gemeinsam. Alles ist offen und geschieht rasant. […]
Ein Kommen und Gehen“ (Schwab 2002). Sie meint, ihre „Lebenslust“ in Berlin
gefunden zu haben und identifiziert sich mit dem Berlin der frühen neunziger
Jahre (8). Nur hin und wieder lässt die Autorin Augenblicke der Kritik und der
Skepsis zu, zumal sich die Skizzen kaum mit damals kontroversen politischen
Ereignissen zu befassen scheinen. In vielen der autobiographischen Vignetten in
Paris ist mein Berlin spricht Banciu begeistert von den neuen Lebensumständen,
den Künstlern und Autoren, den unterschiedlichen Begegnungen und Konver-
sationen, der Offenheit der Menschen im Café oder im Taxi, und erzählt, wie
gern sie ihren Geschichten lauscht, die sie dann in ihr Buch der Hauptstadt-
geschichten einfließen lässt (2007: 68–77).
Durch Bancius Entscheidung in Berlin zu bleiben, verändert sich auch ihr In-
teresse an „dem Osten“ – wie sie sagt, eben durch die Nähe Ostberlins. Ostberlin
fungiert als ein Spiegel für eigene traumatische Erinnerungen an Osteuropa und
Rumänien. Denn Berlin vereint in sich Aspekte der beiden Städte: Bukarest and
Paris (Costabile-­Heming 2004: 255). Während Ostberlin sich verändert und sich
langsam von der DDR Vergangenheit löst, verspricht Westberlin von Anfang an
einen leichteren Lebenstil, ähnlich wie ihn auch Paris verkörpert. Hier wird nicht
nur der Raum Ostberlin betrachtet, sondern die Grenze und deren Verschwinden;
sie markieren für die Autorin eine Folie für den „utopischen Entwurf “ eines ande-
res transkulturellen Raums (Kimmich & Schahadat 2012: 14). Banciu beschreibt
in ihrer Skizze In der Friedrichstraße ist wieder Licht wie sich der östliche Teil der
Stadt langsam zu einem Interessen- und Knotenpunkt für sie selbst entwickelt,
und wie dieser Teil der Stadt als wirksamer Katalysator („ist wieder Licht“) funk-
tioniert, der die zwei Welten, die die Autorin selbst intensiv kennt, herausfordert
und auch versöhnen kann (Banciu 2007: 124 f.). In einer anderen Skizze mit dem
Titel Der Zeitgeist ist in Berlin geboren diskutiert sie die „Sonderstellung“ Berlins
genau wegen der ehemaligen Ost-­West-­Teilung und Vereinigung, die eine Nähe
zu Osteuropa weiterhin bezeuge, denn die „Tore zum Osten öffnen sich“ nach
Banciu in Berlin (2007: 90). Sie sieht Berlin „als eine Metapher“ für Umbruch
und Veränderung in der Gegenwart (2007: 52), die jedoch auch die deutsche
Geschichte und die Ereignisse spiegele („Aufbau und Niedergang, Trennung und
Wiedervereinigung“), die diese Geschichte und die Gegenwart geprägt haben
und weiter prägen (2007: 91). Die Autorin drückt eine tiefe Verbindung und eine
starke Verpflichtung Berlin gegenüber aus und bleibt dort, nicht, weil das für sie
das Leichteste ist, sondern weil sie sich dort vor eine Aufgabe gestellt sieht, die
immer noch einen Teil ihres Traums symbolisiert:
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 323

Ich bin Berlin verbunden durch die Aufgaben, die es mir stellt. Durch die Freiheit, die
es mir lässt, das Atmen wieder zu lernen und das Lernen zum Ausdruck zu bringen.
Ich bin ein Teil von Berlin. […] Von dem Berlin, das Berlin werden soll. Berlin ist noch
nicht Berlin. Es ist ein unvollkommener Ort, der auf mich nicht verzichten kann. Berlin
ist mein Paris (Banciu 2007: 52 f.).

3.2 Berlin als Ort der transformativen Spracherfahrung


Ähnlich wie ihr Vorbild Hemingway bevorzugt Banciu das Schreiben in halböf-
fentlichen Räumen, wie den besagten Cafés. Generell stellen Cafés immer wieder
wichtige Orte in der Literatur dar: sie sind offene Mikrokosmen, die als kreative
Rückzugsorte und auch als kommunikative Treffpunkte – Orte der Begegnun-
gen – dienen, und die als Teil einer Kulturlandschaft einen Zeitgeist vermitteln
können, der Alltägliches und Politisch-­gesellschaftliches in den öffentlichen Dis-
kurs und somit in den Vordergrund rücken kann (Zitzlsperger 2013: 2, 8, 10). Im
Kontext ihrer Schreibarbeit reflektiert Banciu über die eigenen Veränderungen als
Autorin in einer neuen Sprache, denn für sie bedeutet die Migration nach Berlin
die Auseinandersetzung mit einer anderen literarischen Ausdrucksweise in der
deutschen Sprache und die Frage nach einer neuen Leserschaft. Wieder denkt sie
an Hemingway und an seine Überlegungen zum Schreiben in seiner Prosaskizze
Miss Stein Instructs: „All you have to do is write one true sentence. Write the
truest sentence that you know“, also „einen wahren Satz“ zu schreiben, von dem
dann alle anderen wie von selbst fließen können (Hemingway 2009: 22; Banciu
2007: 103). Diese Idee ermutigt sie zu ihrer eigenen literarischen Arbeit in den
Cafés, in denen sie Raum zum Arbeiten und eine Art kollegialer Gemeinschaft
mit anderen Künstlern findet (ibid.: 9, 59, 67). In diesem Kontext beschreibt sie
besonders das Café Sale e Tabacchi als Mittelpunkt und als Tür zu einer anderen
Welt (ibid.: 103), in der sie auch einen „Zustand des Offenseins“ üben kann, denn
der sei – wie schon ihrer Meinung nach Hemingway betonte – unentbehrlich für
das Schreiben (loc.cit.). Dabei verknüpft sie ihren Wunsch nach Offenheit mit
Hemingways Anspruch auf Wahrheit/Ehrlichkeit, bzw. setzt beides sogar gleich,
und verspricht sich davon einen produktiven Effekt.
Carol Anne Costabile-­Heming argumentiert, dass Bancius narrativer Stil dem
Leser den Eindruck vermittle, sie fühle sich in Berlin zuhause (2004: 255). Jedoch
würden sich in ihren Überlegungen auf Deutsch zu schreiben, ihre Zweifel und
inneren Kämpfe offenbaren. In ihrem Vignette Zutaten für eine ideale Sprache be-
schreibt Banciu ihre Schreibzweifel, obwohl sie vorher noch erklärt: „Ich schreibe
wie in einem Rausch“ (2007: 43). Doch sie ist auf der Suche nach den verlorenen
Rhythmen ihrer Muttersprache im Deutschen und sie bezweifelt ihre Fähigkeit
324 Hiltrud Arens

sich ausreichend, kreativ und komplex auf Deutsch ausdrücken zu können. Dabei
fragt sie sich, was die ideale Sprache sei, und ob sie die finde, wenn sie nach Ru-
mänien zurückgehe (2007: 43). Aber sie befragt auch den Anspruch einer idealen
Sprache und den in dem Wunsch perfekt zu schreiben inhärenten Widerspruch:
Wie kann man dann die richtige Sprache finden, die über die Vergangenheit zu reden ver-
mag? Unter den neuen Umständen. Zu reden vermag über die Unsicherheit der Gegen-
wart. Über die unsichere Art, an die Gegenwart zu denken. Bisher habe ich über solche
Dinge nur in einem begrenzten Raum nachgedacht. In dem Raum meiner Muttersprache
(Banciu 2007: 45).

In Bancius Reflexionen zur Sprache zeigen sich am stärksten ihre Erfahrungen der
Isolation und Zensur im kommunistischen Rumänien, die geradezu körperliche
Verspannung „bis hin zu den Atemwegen“ und ihr Ausbruch durch ihren Ent-
schluss in Berlin zu bleiben (Amodeo et al. 2009: 83). So wird in der Suche nach
einer neuen sprachlichen Ausdrucksweise, die durchaus literarisch (ver)fremd(et)
ist, die Metapher des Atmens mit dem Bild der Freiheit und Selbstfindung ver-
flochten (Amodeo et al. 2009: 157): „Ich bin nach Berlin gekommen, um zu ent-
decken, dass ich das Atmen verlernt habe. Das Atmen und alles andere. Das
Atmen ist das Schwierigste. Und ohne zu atmen kann man […] sich nicht aus-
drücken“ (Banciu 2007: 50 f.). Diese elementare Erfahrung spiegelt sich in ihren
kurzen, abgehackten, förmlich dahinrasenden und sich wiederholenden Sätzen,
die einerseits die Komplexität der Erfahrung und nuancierten Wahrnehmungen
der Autorin spiegeln und andererseits das Transitorische des Berliner Raums und
das Tempo der Bewegung darin wiedergeben. Am Ende des Textes beschreibt
Banciu den Übergang zu Deutsch als literarischer Sprache jedoch als „selbstver-
ständlich“ (ibid.: 41), da es auch die Sprache ihrer Kinder geworden sei und die
neuen, berlinspezifischen Erfahrungen in der alten (Mutter)Sprache schwieriger
zu erklären gewesen seien (cf. ibid.: 41, 149–154).

4 Schlussfolgerung
In ihren Prosaskizzen besucht Banciu historische und sie magisch anziehende
Orte der Hauptstadt. Sie beschreibt interessante Begegnungen, denkt über die
Bedeutung der Veränderungen in Berlin Mitte nach und reflektiert den Prozess
von Zugehörigkeit, der mit Fragen zu Raum und Verortung, Identität und Spra-
che eng verbunden ist. Diese Begriffe sind, wie es in Bancius Berliner Kurzprosa
spürbar ist, in stetiger Bewegung. Die Stadt Berlin gibt der Autorin kreativen
Raum für Begegnungen, und vernetzt sie mit anderen Künstlern. Gerade dieser
Austausch mit anderen Künstlern und Schriftstellern ist ihr äußerst wichtig, wie
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 325

sie 2002 betont, und bestimmt ihr Berliner Lebensgefühl (Schwab 2002). Ban-
cius Kurzprosa zu Berlin bietet keine (n)ostalgische Sicht auf das alte, geteilte
Berlin oder Deutschland und Europa, weder in politischer noch in sozialer oder
wirtschaftlicher Hinsicht, und es wird auch keine Entfremdung, keine wirkliche
Desorientierung oder Desillusionierung der Autorin im neuen Leben in Berlin
skizziert; ein Zustand, der womöglich seinen Grund in ihrem Umzug von Bu-
karest nach Berlin hat.11 In ihrer Sammlung von Vignetten gibt es daher auch
kein Scheitern als weibliches migrierendes Subjekt in der fremden Großstadt,12
sondern eine Neuentwicklung ihres Selbst auf verschiedenen Ebenen, die mit dem
Transformationsraum Berlin korrespondiert und sich auch sprachlich ausdrückt:
„Dieser Weg, der auch von der rumänischen in die deutsche Sprache führte, war
eine Art Befreiung“ (Amodeo et al. 2009: 81).
Die Autorin ist Teil einer Gruppe von Schriftstellern, die durch ihre Erklä-
rung zu Berlin zu gehören, die Hauptstadt als Stadt, Kulturregion, und Heimat
multilingual und transkulturell transformieren und rekonzeptualisieren. Mit
ihren Schnappschüssen von und Reflexionen zu Berlin trägt Banciu zur vielfäl-
tigen Großstadtliteratur über Berlin bei. In ihren Geschichten ist die Spannung
zwischen der jüngsten Vergangenheit von Ost- und Westberlin und Rumänien
und der Gegenwart und Zukunft spürbar (Banciu 2007: 40, 45), denn Banciu
beschreibt ein Berlin, in dem sich die „touching tales“ (Adelson 2005: 21) von
intereuropäischen Ost/West- und transnationalen Erzählungen in das kulturelle
Gewebe der Gegenwart einschreiben und so am Narrativ deutscher Gegenwart
und Zukunft teilnehmen (Adelson 2005: 21; Lübcke 2009: 87). Bancius Vignetten
zeugen von einem Diskurs über Migration und Formen (öffentlicher) Erinnerung
als persönlicher, transkultureller Erfahrung und von einer intereuropäischen Per-
spektive auf den Fall der Mauer und seinen Effekt auf Berlin und seine Bewohner.
Diese Kurztexte artikulieren eine transkulturelle Identität, die die multiethnische
und multilinguale Realität der zeitgenössischen Bundesrepublik Deutschland am
Beispiel von Berlin als dem besonderen Ort dieser transformativen Entwicklung
reflektiert.

11 Haines hat fünf wiederkehrende Szenarien in der deutschsprachigen Literatur ost-


europäischer Autoren herausgearbeitet, von denen die hier genannten drei darstellen,
die in diesen Berlin Vignetten nicht vorhanden sind (2008: 139 f.). In Bancius Romanen
ist jedoch eine Auseinandersetzung mit der kommunistischen Gesellschaft und ihren
Strukturen in Rumänien deutlich.
12 Siehe Ledanff (2007) und Weiss-­Sussex (2007) zum weiblichen Subjekt in den Darstel-
lungen der von ihnen diskutierten Berlinliteratur.
326 Hiltrud Arens

Literatur
Amodeo, Immacolata, Hörner, Heidrun & Kiemle, Christiane (eds.) 2009: Litera-
tur ohne Grenzen. Interkulturelle Gegenwartsliteratur in Deutschland – Porträts
und Positionen, Sulzbach/Taunus: Helmer
Adelson, Leslie A. 2005: The Turkish Turn in Contemporary Literature. Toward a
New Critical Grammar of Migration, New York: Palgrave Macmillian
Bach, Aya 2010: “Schreiben am Checkpoint Charlie”, im Internet unter http://
www.dw.de/schreiben-am-checkpoint-charlie/a-5921933 [27.7.2014]
Bachmann-­Medick, Doris 42010: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kul-
turwissenschaften, Reinbek: Rowohlt
Banciu, Carmen-­Francesca 2002/2007: Berlin ist mein Paris. Geschichten aus der
Hauptstadt, Berlin: Ullstein / Rotbuch
Costabile-­Heming, Carol Anne 2004: “Berlin Snapshots: Images of the City in
Short Fiction”, in: Carol Anne Costabile-­Heming, Rachel J. Halverson & Kris-
tie A. Foell (eds.) 2004: The Symphony Continues. Orchestrating Architectural,
Social and Artistic Change in Germany’s New Capital, Berlin / New York: de
Gruyter, 245–260
De Certeau, Michel 1984: “Walking in the City”, in: id.: The practice of everyday
life, Berkeley: University of California Press, 91–110
Fuchs, Anne, James-­Chakraborty, Kathleen & Shortt, Linda (eds.) 2011: “Intro-
duction”, in: Debating German Cultural Identity since 1989, Rochester / New
York: Camden House, 1–14
Gerstenberger, Katharina 2008: Writing the New Berlin: The German Capital in
Post-­Wall Literature, Rochester / New York: Camden House
James-­Chakraborty, Kathleen 2011: “Beyond the Wall: Reunifying Berlin”, in:
Anne Fuchs, Kathleen James-­Chakraborty & Linda Shortt (eds.): Debating
German Cultural Identity since 1989, Rochester / New York: Camden House:
100–116
Haines, Brigid 2008: “The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and
Austrian Literature”, in: Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern
Europe 16.2 (2008): 135–149
Hemingway, Ernest 2009: A Moveable Feast. The Restored Edition, New York:
Scribner
Kimmich, Dorothee & Schahadat, Schamma (eds.) 2012: “Einleitung”, in: id. (eds.)
2012: Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkul-
turalität, Bielefeld: transcript, 7–21
Ledanff, Susanne 2007: “ ‘Metropolisierung’ der deutschen Literatur? Welche
Möglichkeit eröffnet das vereinigte Berlin und die neue Berliner Urbanität?” in:
Berlin als Metapher für Umbruch und Transformation 327

Gerhard Fischer (ed.) 2007: Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher
Literatur 1989–1999, Tübingen: Stauffenberg, 275–289
Lübcke, Alexandra 2009: “Erinnerungstopografien und Enträumlichungen:
Transnationale deutschsprachige Literatur als historiografisches Erzählen”, in:
Schmitz, Helmut (ed.) 2009: Von der nationalen zur internationalen Literatur.
Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Mi-
gration, Amsterdam / New York: Rodopi, 77–97
Mancini, Elena 2003: “An Afternoon with Carmen Francesca Banciu”, in: Logos
2.1 (2003): 186–188
Mani, Venkat B. 2007: Cosmopolitical Claims. Turkish-­German Literatures from
Nadolny to Pamuk, Iowa City: University of Iowa Press
Marven, Lyn 2009: “Crossing Borders: Migration, Gender, and Language in No-
vels by Yadé Kara, Jeannette Lander and Terézia Mora”, in: Gegenwartsliteratur.
Ein germanistisches Jahrbuch 8 (2009): 148–169
Meyer, Anne-­Rose 2009: “Die Großstadt als literarischer Ort interkultureller Be-
gegnungen und Konflikte. Zu Bedeutung und Funktion der deutsch-­deutschen
Grenze in Romanen Yadé Karas, Emine Sevgi Özdamars und Zafer Senocaks”,
in: Peter Weiss Jahrbuch 16 (2007): 69–84
Schwab, Waltraud 2002: “Im Moment ist Berlin Paris”, in: die tageszeitung v.
18.11.2002.
Şenocak, Zafer 2006: “Die Hauptstadt des Fragments”, in: id. 2006: Das Land
hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch, München:
Babel, 155–162
Seyhan, Azade 2008: “The Transnational/Translational Paradigm in Contempo-
rary German Literature“, in: Colloquia Germanica: Internationale Zeitschrift
für Germanistik 41.4 (2008): 281–293
Taberner, Stuart 2005: German Literature of the 1990s and Beyond. Normalization
and the Berlin Republic, Rochester: Camden House
Weiss-­Sussex, Godela 2007: “‘Ich gehe und gehe […] und gehe und sehe.‘ Female
Experience of the City”, in: Godela Weiss-­Sussex & Ulrike Zitzlsperger (eds.)
2007: Berlin: Kultur und Metropole in den zwanziger und seit den neunziger
Jahren, München: iudicium, 46–61
Zitzlsperger, Ulrike 2013: Topographien des Transits. Die Fiktionalisierung von
Bahnhöfen, Hotels und Cafés im zwanzigsten Jahrhundert, Oxford / New York:
Peter Lang
Swati Acharya (Pune)

Nachtgestalten der Großstädte


Bordelle als Transiträume

Abstract: In his “Arcades Project” on the metropolitan city, Walter Benjamin created a
special place for the prostitute as an integral constituent of the metropolis. The prostitute
became an inevitable part of discussion about metropolitan reality, and continued to be
cited as a point of reference, crossing temporal and spatial boundaries. At the same time,
places associated with prostitutes, such as brothels, staircases, balconies, windows, dark
alleys, cafes and bars became specific commodities. In his History of Sexuality Foucault
classifies brothels as “transit spaces”, which mark the boundaries between society and its
outcasts. This paper focuses on the figure of the prostitute as a ‘Chiffre’ for the metropoli-
tan city, and vice versa, and analyses brothels as transit spaces, i.e. symptomatic spaces of
encounter within the metropolitan discourse. It refers to the portrayal of prostitutes in
the work of Sa’adat Hasan Manto, an Indo-­Pakistani author of the post-­partition era. His
prostitutes represent the subjugated masses living a life of non-­bodies in cramped urban
spaces, and thus can be read as a subversive tool of urban critique. Manto’s writing parodies
and simultaneously confirms the close connection between prostitution and urban living
in India in general and Bombay in particular.

1 Einleitung
Rolf Tiedemann, der Herausgeber von Walter Benjamins Passagen-­Werk, fasst
die wichtigsten Themenbereiche darin treffend so zusammen : „[…] die Rede
ist von Straßen und Warenhäusern, von Panoramen, Weltausstellungen und
Beleuchtungsarten, von Mode, Reklame und Prostitution, vom Sammler, vom
Flaneur und vom Spieler, von der Langeweile“ (Tiedemann 1996: 15). Benjamin
räumte in diesem monumentalen Werk der Großstadtkritik der Figur einer Pros-
tituierten einen Platz unter den „städtebaulichen Erscheinungen“ ein (ibid.). Sie
wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil jeder Diskussion zum Thema der
großstädtischen Wirklichkeit, nicht nur des 19. Jahrhunderts. In seinem Aufsatz
über „Baudelaire oder die Straßen von Paris“ und seinen Notizen dazu schreibt
Benjamin ausführlich zum Thema Prostitution, definiert sie als eine Form von
Arbeit und macht deren Bezüge zum Kapitalismus und die daraus entstehende
Verdinglichung des weiblichen Körpers sichtbar (Benjamin 1996: 54–56).
Bordelle, Treppenhäuser, Balkone und Fenster, dunkle Gassen, Cafés und
Kneipen nehmen einen Warencharakter an. Foucault nennt die Bordelle „Stät-
330 Swati Acharya

ten der Toleranz“ und weist in seiner Geschichte der Sexualität auf Prostituierte
und Geisteskranke hin, die von der bürgerlichen Gesellschaft an entfernte, ko-
dierte Orte verbannt werden (cf. Foucault 2012: 19). Bordelle werden von ihm
als Transiträume bezeichnet, die die Grenze zwischen Gesellschaft und Aussatz
ausmachen. Er kritisiert die viktorianische Moral der westlichen Gesellschaften,
die im Namen des puritanischen Moralkodex den Körperdiskurs im Kontext der
Prostitution verleugnen und verschweigen.
Mein Beitrag diskutiert die Situierung der Prostituierten als Chiffre der Groß-
stadt, und umgekehrt der Großstadt als Chiffre der Prostitution, und untersucht
die Bordelle als Transiträume und als symptomatische Begegnungsorte der
Großstadt. Das Symptomatische schließt die Gesamtheit der großstädtischen
Lebenserfahrungen ein, die ihren Bogen über Merkmale wie Gleichgültigkeit,
Erpressung, Ausbeutung oder Unterdrückung spannen. Dabei geht es in diesem
Beitrag insbesondere um die literarische Darstellung der Prostituierten als Pa-
rodie, Bestätigung oder Subversion der Lebensverhältnisse in den Großstädten
Indiens. In Anlehnung an die Großstadtkritik von Benjamin, Michel de Certeau,
Georg Simmel und Michel Foucault werden Ansatzpunkte gewählt, die die Figur
der Prostituierten als zentrales Instrument der Kritik wie auch als Repräsentation
der Subjugation der Massen als Grundbedingung für das Leben in der Großstadt
darzulegen versuchen, und dabei eine Auswahl urbaner ‚prostitutiv‘ kodierter
Räume untersuchen. Der Blick auf dieses universale und allgegenwärtige Phäno-
men erlaubt einerseits, die kulturell, sozial, religiös, und wirtschaftlich bedingten
Faktoren analytisch zu betrachten, und andererseits auf die auffälligen transkul-
turellen und transnationalen Gemeinsamkeiten einzugehen.

2 Die Prostituierte als Chiffre und Verhandlungsraum


Die Chiffre ist ein Begriffskürzel für einen komplexen Zusammenhang. Wenn
dieser Zusammenhang die Großstadtrealität betrifft, bezeichnet sie zugleich
einen Raum. Dieser Raum ist kapitalistisch konditioniert, d. h. in ihm finden
Verhandlungen über ökonomische Phänomene, wie etwa Preise, statt. Setzt man
die Prostituierte metaphorisch mit der Großstadt gleich, stellt sie für sich einen
ebensolchen ‚Raum‘ dar, der, da sie sich ja ständig in ihrem Wert austarieren muss,
ein ‚Verhandlungsraum‘ wird.
Zur Situierung der Prostituierten als Chiffre der Großstadt und, umgekehrt, die
der Großstadt als Chiffre der Prostitution, tritt in meinen Ausführungen die Dar-
stellung der urbanen Geschichte und Theorie im Zeichen der Prostituierten hinzu.
Benjamin ist dafür der theoretische Ausgangspunkt. Ich möchte zeigen, dass die
literarische Darstellung der Prostituierten als Parodie, Bestätigung oder Subver-
Nachtgestalten der Großstädte 331

sion der Lebensverhältnisse in den Megacities Indiens Geltung finden kann. Dabei
wird sich zeigen, dass Prostituierte nicht nur als passive Objekte der urbanen
Geschichte dargestellt werden, sondern als Agens des Protests, als Vertretung der
marginalisierten Schichten der Gesellschaft, als Verkörperung der subalternen
Stimmen, aber auch der Selbstbestimmung. Die transitorischen Begegnungen im
Umfeld der Prostitution erweisen sich als zentrales Instrument zur Kritik an der
Subjugation der Massen in der Großstadt. Die Figur der Prostituierten dient –
so die These dieses Beitrags – als ein kultureller Verhandlungsraum, in dem am
Beispiel dieser ‚öffentlichen‘ Frauen und ihrer spezifischen Körperlichkeit über
weibliche Identität(en) gestritten wird. Damit verbunden ist die Annahme, dass
Bordelle als Aufenthalts- und Arbeitsorte dieser Frauen als prostitutiv kodierte
Transiträume funktionieren, besonders, wenn man sie, die Prostituierten sowie
die Bordelle, als integrale Bestandteile des großstädtischen Lebens versteht. Die
literarischen Bilder der Prostituierten spiegeln aufgrund ihrer sozialen, kulturel-
len und historischen Verortung oft die Geltungsansprüche der patriarchalischen
Gesellschaft, insbesondere der einflussreichen Mittel- und Oberschicht, wider.
Aber sie sind auch Kampfplatz des Subalternen, der Modernisierung, des Wider-
standes gegen Unterdrückung und Marginalisierung. Die Produktion solcher
Bilder reicht im europäischen Rahmen von der ‚Hure Babylon‘ bis zur Diskussion
über Sperrbezirke. Besonders in der Zeit des Expressionismus wird die Prostitu-
ierte zum Medium für die Thematisierung der expressionistischen Welterfahrung,
besonders des Verfalls und der Verdinglichung der menschlichen Existenz. Die
Prostituierte ist Mensch und Maschine, Außenseiterin und Masse in einem und
nimmt die Zeit wie einen Kunden in sich auf.1
Der Großstadtdiskurs räumt der Figur der Prostituierten einen eigenständigen
Platz ein. Dieser Beitrag konzentriert sich daher auf Prostituiertendarstellungen
im Kontext urbaner Räume. Es wird sich zeigen, dass sowohl die Stadt als auch die
Figur der Prostituierten Chiffren sind, die künstlerisch für zentrale Aspekte der
gesellschaftlichen Veränderung eingesetzt werden. Im Zusammenhang der Pros-
titution fällt ein wichtiger Aspekt bei Walter Benjamin auf, nämlich der, dass er in
seinem Passagenwerk der Figur der Prostituierten einen Platz unter den ‚städtebau-
lichen Erscheinungen‘ einräumt. Die Prostituierte wird damit zu einem unverzicht-
baren ‚architektonisch‘-materialisierten Bestandteil großstädtischer Wirklichkeit.
Die unterschiedlichen Darstellungen der Prostituierten in Film, Theater, Tanz,

1 Christiane Schönfeld untersucht die Stellung der Prostituierten in der Kunst und Li-
teratur im Expressionismus, wobei sie die Dirnenfigur als „Mittel zur Erkenntnis“,
„Gesellschaftskritik“, und „Wahrheitsfindung“ sowie „Wirklichkeit der Großstadt“ und
„humanisierte Ware“ erkennt (Schönfeld 1996: 2; 5).
332 Swati Acharya

Malerei, Musik usw. heben die existenziellen „Häutungen“2 dieser Frauen als ein
künstlerisches Pendant zur wissenschaftlichen und gesellschaftlich-­ökonomischen
Analyse hervor. Die Kernfragen des Beitrags zielen damit auf die Legitimations-
funktion der Prostituierten in einem künstlerischen Werk. Welche Aspekte prägen
die Figur der Prostituierten neben ihrer Körperlichkeit, neben dem Warencharakter
ihres Körpers? Welche Freiräume schaffen sich Prostituierte in Literatur und Film?
Für welche Identitätskonstellationen kämpfen sie? Welcher historische sowie sozio-­
kulturelle Wandel lässt sich durch die literarischen Prostituiertenbilder besonders
augenfällig machen? Wie beeinflussen sich die künstlerische Darstellung der Pros-
tituierten und die Wahrnehmung der Frau in der Gesellschaft wechselseitig?
Die aktuelle Diskussion über die Prostitutionsdarstellung in der Literatur
verläuft innerhalb eines Körperdiskurses, der den Körper von der materiellen
Ebene auf die eines immateriellen Zeichens transferiert. Das auf das Griechische
zurückgehende Wortspiel von soma (Körper) und sema (Zeichen) findet sich in
diesen Kontexten mehrfach (cf. Assmann 2006). Die Figurenbeispiele, auf die
später noch eingegangen wird, weisen auf eine differenzierte Herangehensweise
hin, durch die der Autor Sa’adat Hasan Manto dem prostitutiven Körper eine
eigene Stimme zu verleihen versucht. Dies ist nicht nur physiologisch gemeint,
oder – um mit Aleida Assmann zu sprechen – es ist „nicht nur das, was der
Kehlkopf produziert“, sondern das, was „im öffentlichen Diskurs eine Chance
hat, Gehör zu finden“ (Assmann 2006: 90). Der Körperdiskurs macht auch einen
Unterschied zwischen den von dem Philosophen Helmut Plessner eingeführten
Modi des Körper-­Habens und Körper-­Seins. Assmann setzt sich mit diesen Modi
auseinander, wenn sie die Körperkonzepte innerhalb der Kulturwissenschaften
analysiert. „Einen Körper haben wir, wenn wir uns ihm gegenüberstellen und
ihn beherrschen, Kontrolle über ihn ausüben […]; Körper sind wir als beseelte
Organismen, die ohne diesen Körper nichts sind“ (ibid.: 105 f.; Hervorh. v. mir,
S.A.). In diesem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse zu beobachten,
welche Position die Prostituiertenfiguren einnehmen.

3 Die prostitutive Kontextualisierung der urbanen Räume


Der durch die spatial turns (Fischer & Mennel 2010) geschärfte Blick ermöglicht
eine neue Beweglichkeit in den Begegnungen mit den literarischen und visuellen
Kulturen Europas sowie denen Indiens. Walter Benjamins Analysen der franzö-

2 Anlehnend an den Romantitel des gleichnamigen Werks von Verena Stefan (Taschen-
buchausgabe 1994) verweist das Wort auf die Situation der Prostituierten, nämlich wie
ihre Haut, ihr Körper, ihre Existenz prägt.
Nachtgestalten der Großstädte 333

sischen Schriftsteller Baudelaire, Hugo und Proust lassen bereits den räumlichen
Zusammenfluss („spatial confluences“, ibid.: 11) zwischen den Schriftstellern und
ihren Städten sichtbar werden. Andere oft verwendete Topoi sind die Familie,
besonders die Kinder der Prostituierten, staatliche Kontrollmaßnahmen im öf-
fentlichen Raum sowie die Liebesgeschichten der Prostituierten. Die Nacht, die
Dunkelheit (im wirklichen sowie figurativen Sinne) des prostitutiven Milieus,
kurz das Nachtleben, ist einer der wichtigsten Topoi. Die nocturnal city wird so
selbst zur Protagonistin.
Eine Typologie der Bezeichnungen der unterschiedlichen Prostitutionsformen
macht die vielfältige Nuancierung des Berufs auffällig. Benjamin nennt das „die
Weibsfauna der Passagen: Huren, Grisetten, alte hexenhafte Verkäuferinnen,
Trödlerinnen, gantières, demoiselles“ (cf. Benjamin 1996: 617).3 Die unterschied-
lichen Bezeichnungen, die das Prostituiertenwesen beschreiben, z. B. Hure, Dirne,
Kurtisane, Call Girl, Escort Girl im europäischen Kontext, und Ganika, die Kur-
tisane, Tawaif, Nautch Girl, Bhavin, Murali, Tamasha und Nautankitänzerinnen,
Devadasi im indischen Kontext, haben ihre jeweils eigenen sozio-­kulturellen
Assoziationen, die in den literarischen Texten eine wichtige Rolle spielen. Diese
Nuancierung der Bezeichnungen für Prostituierte verlangt kulturell und sozial
vertiefende Erklärungen. Die Bezeichnungen sind im indischen Kontext jeweils
auch Zeichenträger bestimmter Epochen. Die Ganikas, die Kurtisanen, die
Devadasis und die Tempeltänzerinnen assoziiert man mit altindischen Texten
aus dem 8. Jahrhundert, die Tawaifs und die Nautch Girls lasen sich mit der
Kolonialzeit verbinden und die modernen Formen wie Call Girls oder Straßen-
prostituierte sind Teil der Gegenwart. Bevor wir die Bordelle als Transiträume
im Werk Mantos erörtern, sei kurz erwähnt, dass Bordelle Räumlichkeiten sind,
die exklusiv für den sexuellen Gebrauchszweck verwendet werden. Es können
Häuser, Wohnungen, Gaststätten, Hotels, Motels, Tanzbars, Salons, usw. sein. In
erster Linie werden sie als ‚prostitutiv‘ codierte Räume besprochen. Das können
die Fenster sein, die für Walter Benjamin „Emporen“ sind, „in denen Engel nisten,
die man ‚Schwalben‘ nennt“ (Benjamin 1996: 614).
Innerhalb der indischen literarischen Tradition werden die Balkone, Treppen
bzw. Treppenhäuser und Fenster der Bordelle mit Sittenwidrigkeit assoziiert. Im
Bordell als einem marktwirtschaftlichen Etablissement ist die Bargeldtransaktion

3 Wenn Benjamin hier die weiblichen Vertreterinnen der Bohème und des Prekariats als
„Fauna“ beschreibt, hebt er ab auf den Dschungel-­Charakter der modernen Großstadt,
in dem es eben zahlreiche „wilde Tiere“ gibt. Der Flaneur hingegen ist eher ein Voyeur,
ein Ästhet, der als Sammler die moderne Großstadtwirklichkeit in sich aufnimmt und
sie genießerisch verarbeitet.
334 Swati Acharya

die einzig mögliche Zahlungsweise. Das unterstreicht das Transitorische an der


Begegnung zwischen der Prostituierten und ihren Kunden. Das führt auch zum
Wandel von kulturell und religiös unterschiedlichen Praxen der Sexarbeit hin
zu einem relativ homogenen Bordellbetrieb. Eine transkulturelle Vertiefung der
Raumdimension von Bordellen finden wir bei Foucault. Foucault bezeichnete das
20. Jahrhundert als die Epoche des Raumes: „Wir sind in der Epoche des Simul-
tanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und
Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander“ (Foucault 1993: 34). Das trifft noch
verstärkt auf das 21. Jahrhundert zu. Im Hinblick auf seinen abendländischen
Erfahrungskontext verweist Foucault auf die Hierarchisierung der Ortung nach
dem sozialen und kulturellen Vorstellungskodex des Mittelalters. Die Hierarchie
bzw. die Entgegensetzung von heiligen und profanen Orten, geschützten und
ungeschützten Orten, städtischen und ländlichen Orten bezeichnet Foucault als
Ortungsraum. Zieht man den Ortungsraum der großstädtischen Existenz und Er-
fahrung heran, lassen sich Bordelle als Transiträume betrachten. Bestehen bleibt
das Verruchte, das Illegitime, das Dunkle, das erotisch Verführerische – kurz das
notwendige Böse, wenn man von der Großstadterfahrung reden will.
Die Unterscheidung zwischen Utopien als unwirklichen Räumen und Hetero-
topien als wirklichen und wirksamen Orten ist einer der wichtigsten Beiträge
Foucaults im Rahmen der Raumtheorie. Für ihn sind die Heterotopien „wirkliche
Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind als Gegenplat-
zierungen oder Widerlager.“ Es mag interkulturell unterschiedliche Erklärungen
von Form, Funktion und Wirkung der Bordelle geben. Aber man kann hier kul-
turübergreifend davon ausgehen, dass Bordelle „Abweichungsheterotopien“ im
Sinne Foucaults sind. Es sind Orte für Individuen, deren Verhalten von der Norm
abweicht. Dies gilt für die Frauen, die dort arbeiten und gleichermaßen auch für
die Männer, also Kunden, die für die Dienstleistungen der Frauen bezahlen. Das
ist die allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung. Ich verstehe Transiträume als
Grenzräume, Schwellenräume. Dabei ist das Vorübergehende bzw. Kurzfristige
das Entscheidende. Ein Bordellaufenthalt ist zweckbedingt und steht in einem
direkten Verhältnis zwischen Leistung und Bezahlung. Die kurze Dauer eines
Bordellbesuchs gibt ihm seine materiell-­wirtschaftliche Bedeutung. Zugleich
ist das Vorübergehende das kennzeichnende Merkmal dieser Transiterfahrung
des Sexuellen. In diesem Sinne kann man Bordelle als chronische Heterotopien
bezeichnen.
In seinem Aufsatz „Andere Räume“ beschreibt Foucault Bordelle als „Illusions-
heterotopien“, da sie „[…] einen Illusionsraum schaffen, der den gesamten Re-
alraum, alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch
Nachtgestalten der Großstädte 335

illusorischer denunziert“ (Foucault 1993: 45). Aus dieser Illusionsheteropie ent-


steht der Fluchtcharakter aller Bordelle, wo Männer aus ihren Wirklichkeiten sich
eine Fluchtstunde bzw. Luststunde gönnen wollen.

4 Prostituiertenbilder in der indischen Literatur des


20. Jahrhunderts
Als Beispiel für die indische Literatur sei an dieser Stelle das Werk von Sa’adat
Hasan Manto genannt. Er ist einer der wichtigsten Autoren des Subkontinents
und hat in seinen Texten mehrfach das Leben der Prostituierten, der Zuhälter und
vieler anderer Figuren aus dem Rotlichtmilieu geschildert.4 Seine Darstellungen
der Huren sind besonders kunstvolle Prostituiertenbilder. Seine Frauen aus dem
Rotlichtmilieu gewähren Einblick in eine nuancierte Welt der Gefühle, in der
der Erzähler die schmalen Gassen in Spiegelkabinette des Un-/Menschlichen
verwandelt, um den Leser schließlich durch die Spiegelung von Fragmenten zu
blenden. Die 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts haben das Leben und die
Schriftstellerkarriere Mantos geprägt. Die Unabhängigkeit Indiens und die darauf
folgende Teilung des Landes bilden die dramatische Kulisse für seine Geschichten.
Als einer der indischen Autoren, die auch im deutschsprachigen Raum rezipiert
werden, bietet sich Mantos Werk für eine Analyse in kontrastiver Perspektive an.5
Sa’adat Hasan Manto beschäftigte sich mit Prostituierten, Zuhältern und an-
deren peripheren Figuren aus dem Rotlichtmilieu. Das Besondere bei ihm ist die
Autonomie und die nuancierte Darstellung, die seine Figuren auszeichnet. Die
Analogisierung von Frau und Stadt, die bei Benjamin und Baudelaire zentral ist,
wird bei Manto zur Analogisierung von Prostitution und Stadt. Die Assoziation
der Großstadt mit der Frau hebt ab auf die Frau als Objekt der Faszination und
der Ästhetisierung der Wirklichkeit, während die Verkürzung der Assoziation
der Großstadt auf die Frau als Prostituierte die Vermarktung der Faszination und
damit die Ökonomisierung des Ästhetischen signalisiert.
Die Prostituierten sind bei ihm das Paradigma für die Ausbeutung der Mar-
ginalisierten und vertreten damit die Subalternen. Das Außergewöhnliche dabei

4 Sa’adat Hasan Manto (1912–1955), der nach der Teilung Indiens im Jahr 1947 nach
Pakistan übersiedelte, ist bis heute einer der prominentesten Urdu-­Schriftsteller. Seine
Erzählungen stellen menschliche Schicksale vor, die über geographische und politische
Grenzen hinausgehen. Zu seinen bekanntesten, auch auf Deutsch übersetzten Erzäh-
lungen zählen „Bu“ (Gestank), „Khol Do“ (Mach auf!)„ThandaGosht“ (Kaltes Fleisch)
und „Toba Tek Singh“ (Manto 1997).
5 Zum Vergleich Mantos mit Baudelaire und Maupassant cf. Acharya (2015).
336 Swati Acharya

ist, dass Manto sie nicht immer zu prädestinierten Opfern macht, sondern sie
ermächtigt, mit subversiven Werkzeugen die Doppelmoral, besonders die Se-
xualmoral der Bourgeoisie bloßzulegen. Ich möchte auf zwei Erzählungen Mantos
aus der 1997 erschienenen deutschen Übersetzung näher eingehen. Die Erzäh-
lungen „Hatak“ (Beleidigung) und „The Black Shalwar“ (Schwarze Hose) sind
wirkungsstarke Narrative, die gewisse Ähnlichkeit mit der Kurzgeschichte „Boule
de Suif “ von Guy de Maupassant haben. Beide Erzählungen spielen in Großstäd-
ten:„Hatak“ in Bombay6 und „The Black Shalwar“ in Delhi. Das großstädtische
Milieu ist die Kulisse für die meisten Erzählungen Mantos, wobei die Protago-
nisten aus kleineren Städten in die Großstadt gezogen sind. Insbesondere seine
„Bombay-­Stories“,7 in Bombay spielende Kurzgeschichten und Erzählungen, sind
ein Archiv der Sozialgeschichte dieser Megastadt. Die 1930er und 1940er Jahre,
die die erzählte Zeit im Werk Mantos ausmachen, ist die Zeit der Entstehung
der Textilfabriken, der berühmten „textile mills“ in Bombay. Diese Fabriken bo-
ten Männern aus den Dörfern und kleineren Städten in der Umgebung Arbeit,
und es fand eine regelrechte Landflucht nach Bombay statt. Die Männer kamen
anfangs ohne ihre Familien und wohnten oft sehr beengt. Die Wohnsituation
im damaligen Bombay brachte eine spezifische Art von Wohnräumen hervor,
die „Chawls“: kleine, relativ billige, sehr eng gebaute Etagenwohnungen. Wasser-
hähne und Toiletten mussten mit den Bewohnern anderer Chawls geteilt werden.
In den 1930er Jahren führten die Textilfabriken Schichtarbeit ein. Jetzt wurden
die ohnehin engen Wohnräume von Gruppen von Arbeitern in Schichten zum
Schlafen gebraucht (cf. Adarkar & Memon 2004) Die Fabriken und die Chawls
gehören seitdem zum Mythos Bombay, auch da sie zwei weitere, bis heute in
literarischen Texten sowie in der städtischen Wirklichkeit präsente Figuren ein-
geführt haben – den Gangster und die Prostituierte. Aufgrund der mangelhaften
Lebensverhältnisse in den überfüllten Chawls, den langen Arbeitstagen und dem
existentiellen Druck, dem sie sich ausgesetzt fanden, suchten die Männer not-
gedrungen ein Ventil für ihre sexuellen Triebe und fanden es in den Bordellen von
Bombay. Ab und zu kommen bei Manto auch reiche Kunden vor, die sogar Autos
besitzen. Aber die Mehrheit der Kundschaft besteht aus Arbeitern. Die Polizei
konnte bzw. wollte die alltäglichen Prügeleien und Streitereien in den Siedlungen
nicht kontrollieren. Die vor diesem Hintergrund entstandene Figur des lokalen

6 Bis 1996 hieß die Stadt Bombay, nach dem portugiesischen „Bom Baia“ (Gute Bucht).
1996 wurde Stadt in Mumbai umbenannt.
7 Bombay ist Schauplatz für viele Geschichten Mantos, besonders für die, in denen
Prostituierte vorkommen, so auch in seinen Bombay Stories, die 2012 in englischer
Übersetzung erschienen sind.
Nachtgestalten der Großstädte 337

Ganoven ist einerseits eine eigenwillige, sich mit Gewalt durchsetzende Kontroll-
figur und andererseits ein Robin Hood, Beschützer der Armen und Leidenden.

5 Bordelle als Transiträume


Saugandhi, die Protagonistin der Geschichte „Hatak“ ist eine in einem Bordell in
Bombay arbeitende Prostituierte. Sie ist eine herzensgute Frau, die als gutmütig
und großzügig in ihrem Umgang mit den Mitmenschen, einschließlich ihrer
Kunden, dargestellt wird. Sie gibt einem Kunden sogar ihren Hurenlohn zurück,
weil er sonst kein Geld mehr hat. Sie ist bereit eines Nachts noch um 2 Uhr einen
Kunden zu bedienen, obwohl sie Kopfschmerzen hat. Sie will das damit verdiente
Geld einer anderen Prostituierten geben, damit diese nach Haus fahren kann,
um bei der Beerdigung ihres Ehemannes dabei zu sein. Der Umgang mit Geld
ist im Beruf der Prostitution eine Alltagsrealität. Manto schafft aber Freiräume,
die diesen Frauen ihre Menschlichkeit lassen, ohne melodramatisch zu wirken.
Die Erzählung ist ein Beispiel dafür, wie Bordelle als Transiträume fungieren kön-
nen. Das Transitorische ist dabei sowohl physisch-­räumlich als auch psychisch-­
metaphysisch zu verstehen. Es gibt einen Polizisten, Madho, der aus Pune kommt,
die Prostituierte Saugandhi besucht, mit ihr schläft ohne sie zu bezahlen, und es
entsteht eine Art von Liebesbeziehung zwischen den beiden. Er verspricht ihr
immer wieder, dass er bei seinem nächsten Besuch genug Geld mitbringen wird,
so dass sie mit diesem Beruf aufhören kann. Saugandhi ist eine kluge Frau. Sie
begreift, dass Madho leere Versprechungen macht und arbeitet weiter. Obwohl
sie nicht glaubt, dass die Beziehung genügend Substanz hat, mag sie Madho gern,
denn er gibt ihr das Gefühl, geliebt zu werden und verhilft ihr zur Phantasievor-
stellung, in Pune als seine Ehefrau zu leben. Das vorübergehende Glück und die
Schnittstellen zwischen dem Prostituiertenleben und dem bürgerlichen Eheleben
werden in dieser Erzählung an mehreren Stellen sichtbar gemacht. Ein anderer
Kunde Saugandhis, ein sogenannter ‚sanitory inspector‘, verbringt regelmäßig
Zeit mit ihr, sie hat sogar sein Foto an der Wand hängen, er muss aber nach dem
Sexualakt zurück zu seiner Ehefrau, die ihn sehr liebt. Der Hohn und die Ironie,
die Manto durch diese Figuren zum Ausdruck bringt, machen die Bordelle zu
einer Schnittstelle zwischen freizügigen Einstellungen von Individuen und der
heuchlerischen Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Kernhandlung der Geschichte, die ihr auch den Titel gibt, besteht in einem
beleidigenden Vorfall. Saugandhi wird von einem reichen Kunden abgelehnt, in-
dem er sie nach dem ersten Blick als hässlich und unattraktiv zurückweist. Das
verletzt sie zutiefst, und dieser Moment wird zu einem Wendepunkt in der Ge-
schichte. Bis jetzt hatte Saugandhi alles hingenommen und sogar die ausbeuterische
338 Swati Acharya

Beziehung mit Madho ausgehalten. Aber die Beleidigung, ja Verachtung erweckt


in ihr ein starkes Selbstbild, das gleichzeitig mit Selbstrespekt und Rachegefühl
verknüpft ist. Ihr wird auf einmal klar, dass sie nie auf das Aussehen der Kunden
geachtet, und viele hässliche, stinkende Kunden ertragen hat. Die Verachtung
wird zu einem Transitraum, der Saugandhi bei einer Grenzüberschreitung hilft.
Denn die Verachtung stößt sie von der passiven Hinnahme der Geschehnisse als
ihrem Schicksal hin zu einer aktiven Rolle. Als sie frühmorgens zurück ins Bordell
kommt, findet sie Madho im Zimmer und lässt ihren Zorn und ihre Frustration
an ihm aus. Sie wirft ihn aus dem Bordell und beschimpft ihn. Sie erinnert ihn
daran, dass ihr wahrer Wert so hoch ist, dass weder er noch sein Vater sie jemals
kaufen könnten. Manto stellt so die Käuflichkeit der Prostituierten auf den Kopf,
indem er die Protagonistin von ihrem Körperwert befreit und zum Selbstwert
zurückbringt. „The Black Shalwar“ spielt in Delhi und lenkt die Aufmerksamkeit
des Lesers bereits im ersten Satz auf die Kolonialzeit: „Before coming to Delhi, she
had lived in Ambala Cantonment, where several white clients visited her“ (Manto
2001: 57). Sultana, die Protagonistin, ist eine Prostituierte, die mit ihrem Zuhälter
Khuda Baksh zusammenlebt. Er ist ein aufstrebender Fotograf und lebt ohne eine
Spur von schlechtem Gewissen von Sultanas Geld. Er bringt sie von Ambala, einer
Stadt im Punjab, nach Delhi, weil er von größeren wirtschaftlichen Chancen in der
Hauptstadt ausgeht. Leider müssen die beiden enttäuscht feststellen, dass Sultana,
die in Ambala eine gut besuchte Prostituierte war und ein wohlhabendes Leben
führen konnte, in Delhi kaum Kunden findet und so gut wie gar nichts verdient. Sie
muss ihren Schmuck verkaufen, nur um etwas zu Essen kaufen zu können. Khu-
da Baksh, ihr Zuhälter, läuft irgendwelchen Fakirs, den sogenannten spirituellen
Wahrsagern, nach und vernachlässigt Sultana vollkommen. Sie lernt eines Tages
Shankar, einen dreisten Taugenichts aus der Gegend, kennen. Er nutzt Sultanas
Einsamkeit und Hilflosigkeit aus und schläft mit ihr, ohne sie dafür zu bezahlen.
Sultana findet in Shankar jedoch einen Vertrauten, den sie bittet, ihr für das Fest
des Muharram eine schwarze Hose zu besorgen.8 Shankar nimmt die silbernen
Ohrringe von Sultana und tauscht sie mit einer ihrer Nachbarinnen. Als Tausch-
ware bringt er die schwarze Hose der Nachbarin mit und erfüllt so ihren Wunsch
Die Geschichte thematisiert vor allem das Dasein der Prostituierten Sultana, das
über ihren Körperwert hinausgeht. Sie ist in der Lage, von ihrer eigenen Situation

8 Muharram ist ein heiliger Monat des islamischen Kalenders. In den ersten zehn Tagen
des Muharram begehen die Schiiten sowie die Aleviten das Trauerfest, die Aschura
Riten, in denen sie des Todes des Imam Al-­Husain gedenken. Es wird gefastet und
getrauert, man trägt schwarze Kleidung, junge Männer peitschen sich selbst bei den
öffentlichen Prozessionen.
Nachtgestalten der Großstädte 339

zu abstrahieren. Mantos Rotlichtfrauen strahlen eine seltsame Direktheit im Hin-


blick auf ihren Beruf, ihr tägliches Dasein, aus. Sie bejammern die tabuisierte Seite
ihres Berufs nicht, denn sie können mitten in ihrem psychischen und physischen
Elend ihre Sensibilität bewahren. Jede der Protagonistinnen
[…] sustains her essential womanhood by constructing a lie motivated by an emotion
and an urgent need to love. The depths of her womanhood remain intact. She is not a
negativity, an absence, or a „deviant“, because she has not internalised the inevitable
social judgement pronounced on such women – that she is „evil“ (Kumar 1996:158 f.).

Außer der Figur der Prostituierten schildert der Autor präzise die prostitutiv ko-
dierten Räume. Dass die Bordellräume eine selbstständige Form der literarischen
Darstellung verlangen, ist eine Einsicht Mantos, die ihn mit Maupassant ver-
bindet. Die Etagenwohnung in Delhi wird „flat“ genannt und liegt in einem extra
für die Prostituierten geschaffenen Quartier.9 Das allein verleiht dem Ambiente
schon einen Hauch des Verruchten und Verbotenen. Es gibt aber andere notwen-
dige Dienstleistungsunternehmen, die auch von den Bordellfrauen in Anspruch
genommen werden, z. B. Wäschereien, Kohlengeschäfte, kleine Imbissbuden usw.
Für die Geschichte ist es nicht unwichtig, dass Sultanas „flat“ nicht weit entfernt
von einer Wäscherei liegt. Sie muss ihr weißes Hemd und ihren weißen Schal für
das Muharramfest schwarz färben lassen. Die Urbanität des Schauplatzes und die
Entfremdung, der vom Land stammenden und sich in der Stadtwiederfindenden
Bewohner kommen am Anfang zum Ausdruck, als Sultana sich vor der Kette des
Toilettenspültanks erschreckt. Die symbolische Situierung des Toilettenspültanks
hebt dabei zugleich die Reinigungs- bzw. Säuberungsfunktion der Prostitution
hervor. Manto vergleicht die Prostitution an anderer Stelle mit „Abwasserkanälen“
Sultana wohnt direkt am Rande der Eisenbahnlinie. Ihre Beschreibung der Gleise
und der darauf rangierenden Lokomotiven ist Ausdruck einer kreativen Vor-
stellungskraft, die der Autor seinen Prostituiertenfiguren insgesamt zuschreibt –
nicht nur einen warenhaften Körper:
Whenever Sultana saw the iron rails shining in the sun, she would look at her hands on
which the blue veins stood out just like the railway lines. […] Sometimes, when she saw a
carriage being shunted and left to run on its own along a line, she thought of herself […]
thought how she too had been shunted on to a line and left to run on her own. Others
would change the switches and she would move on, not knowing where she was going
(Manto 2001: 63).

9 Die bürgerlichen Eigentumswohnungen werden auch ‚flats‘ genannt. Mantos euphi-


mistischer Gebrauch von ‚flat‘ für ein Bordell ist typisch für seinen Hohn und seine
Ironie als Entlarvungsinstrumente der bourgeoisen Doppelmoral.
340 Swati Acharya

6 Schluss
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bordellerfahrung bei Manto den Le-
ser in die komplexe, nuancierte Innenwelt der Protagonistinnen eintauchen lässt.
Sultana und Saugandhi, beides Prostituierte, halten ihre religiösen Identitäten
intakt. Interessant ist die Tatsache, dass Manto Prostituierte aus allen Religionen
schildert. Saugandhi, die hinduistische Prostituierte, hat ein Idol des Ganesha,
des Elefantengottes, und macht jeden Abend als ein Zeichen ihrer Hingabe ein
Öllämpchen an. Sultana, die muslimische Prostituierte, beharrt auf schwarzen
Kleidern, um am Trauerfest Muharram teilzunehmen. Die Bordelle sind Transit-
räume für die Kunden, weil sie kurzfristig und zweckbedingt sich dort aufhalten.
Sie sind jedoch auch für die Prostituierten Transiträume, weil sie diese Räume nur
in einem vorübergehenden, prostitutiven Sinne bewohnen. Während diese Tran-
siträume ihnen damit auch Entwicklungsmöglichkeiten schaffen, bleiben viele
jedoch darauf beschränkt, dieselben Räumlichkeiten zum Habitat ihrer eigenen
Gefühlswelt zu machen.

Literatur
Acharya, Swati 2015: „‚Abfall, Auswurf und Abhub‘ als Leitmotive. Über die ‚Chif-
fonniers‘ bei Sa’adat Hasan Manto“, in: id. (ed.) 2015: Sa’adat Hasan Manto.
Chronist des ungeteilten Irrsinns der Teilung Indiens, Heidelberg: Draupadi,
125–140
Adarkar, Neera & Meera Memon 2004: One Hundred Years, One Hundred Voices.
The Millworkers of Girangaon – An Oral History, Calcutta: Seagull
Assmann, Aleida 2006: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, The-
men, Fragestellungen, Berlin: Erich Schmidt
Benjamin, Walter 41996: Das Passagen-­Werk, in: id.: Gesammelte Schriften Bd. V.1
und V.2, ed. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Benjamin, Walter 41996: „Baudelaire oder die Straßen von Paris“, in: id.
4
1996: 54–56
Fischer, Jaimy & Barbara Mennel (ed.) 2010: Spatial Turns. Space, Place, and Mo-
bility in German Literary and Visual Culture, Amsterdam / New York: Rodopi
Foucault, Michel 192012: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frank-
furt a. M.: Suhrkamp
Foucault, Michel 51993: „Andere Räume (1967)“, in: Karlheinz Barck (ed.) 1993:
Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leip-
zig: Reclam, 34–46
Nachtgestalten der Großstädte 341

Kumar, Sukrita Paul 1996: „Surfacing from Within. Fallen Women in Manto´s
Fiction“, in: Annual of Urdu Studies 11 (1996): 155–162
Manto, Sa’adat Hasan 1997: Blinder Wahn. Erzählungen, übers. v. Lothar Lutze,
Christina Oesterheld & Martin Pfeiffer, Berlin: Lotos-­Verlag Roland Beer
Manto, Sa’adat Hasan 2012: Bombay Stories, übers. v. Matt Rieck & Aftab Ahmad,
Noida: Random House India
Manto, Sa’adat Hasan 2001: Black Margins. Sa’adat Hasan Manto Stories, ed. Mu-
hammad Umar Memon, Katha / New Delhi: Oxford University Press
Schönfeld, Christiane 1996: Dialektik und Utopie. Die Prostituierte im deutschen
Expressionismus, Würzburg: Königshausen & Neumann
Stefan, Verena 1994: Häutungen, Frankfurt a. M.: Fischer
Aleya Khattab (Kairo)

Seelische Befreiung Im Taxi.


Unterwegs in Kairo1: Chaled al-­Chamissis
literarische Prophezeiung der Revolution
vom 25. Januar 2011 in Ägypten

Abstract: The article is based on the thesis that already several decades before the revolu-
tion of 25 January 2011, Egyptian literature made an important contribution to the collec-
tive consciousness, thus exerting a significant influence on the outbreak of the revolution.
By the example of Chaled al-­Chamissi’s stories Im Taxi. Unterwegs in Kairo (2011; Arab.:
Taxi. Hawadit al-­mashawir 2007) I will show how the dialogue of the author with various
taxi drivers in Cairo illustrates the crisis of contemporary Egyptian society. The pulsating
daily life taking place inside the taxi as a social space, marked by the expression of rebellious
and angry feelings, is part of a revolutionary process in its early stages.

1 Revolution in der Literatur


Innerhalb von zweieinhalb Jahren, von 2011 bis 2013, hat das ägyptische Volk
zwei Revolutionen vollbracht, zwei Regime und zwei Diktatoren gestürzt. Dieser
Aufruhr mag Europa wohl überrascht haben (cf. Junge 2012: 129). Ägyptische
Autorinnen und Autoren hatten sich dagegen bereits vor der Revolution 2011
stark in die politische Debatte eingemischt und zur Emanzipation aufgerufen.
Die Literatur hat den Weg der nahenden Revolution vorgeebnet und beim Leser
„die Bereitschaft für die Rebellion genährt” (Schanda 2013: 7). Aus der Fülle der
zeitgenössischen Literaten ist Alaa al-­Aswani hervorzuheben, dessen Roman
Der Jakubijan-­Bau (2007) mit mehreren Tabus bricht und ein radikal zugespitz-
tes Zeitbild der ägyptischen Gesellschaft zeigt (cf. Aboubakr 2013: 286). Die
Revolution von 2011 wurde gelegentlich auch die Facebook- und Twitterrevo-
lution genannt (cf. Mörtebeck & Mooshammer 2011: 91). Doch merkt Stefan

1 Al-­Chamissi, Chaled 2011: Im Taxi. Unterwegs in Kairo. Aus dem Arabischen übersetzt
von Kristina Bergmann, Basel: Lenos. Verweise auf den Text erfolgen im Folgenden
unter der Sigle (T). Chaled Al-­Chamissi (Khaled al-­Khamissi) wurde 1960 geboren,
studierte Politikwissenschaft an der Universität Kairo und der Sorbonne. Er ist Best-
sellerautor, Journalist, Filmproduzent, Regisseur, Drehbuchautor. 2012 erschien sein
neues Buch Arche Noah beim Lenos Verlag in Zürich.
344 Aleya Khattab

Weidner zu Recht an: „Die Literatur, nicht Facebook ist es gewesen“ (Weidner
2012). Denn in der vorrevolutionären zeitgenössischen Literatur, welche soziale
Brennpunkthemen aufgriff, war die Rebellion schon lange vor dem 25. Januar
2011 im Gange.
Die Erzählsammlung Im Taxi. Unterwegs in Kairo war im arabischen Origi-
nal von Chaled al-­Chamissi bereits 2007 veröffentlicht worden (cf. Aboubakr
2013: 286).2 Es war Zufall, dass die deutsche Übersetzung wenige Tage nach der
ersten Großdemonstration vom 25. Januar 2011 erschien, so dass Stefan Weid-
ner das Werk „das ultimative Buch zur Revolution“ nannte (Weidner 2011). In
58 kurzen tragikomischen Erzählungen wird dem Leser ein Mikrokosmos der
zeitgenössischen ägyptischen Gesellschaft in einem historischem Umbruchs-
moment gezeigt. Das Buch gehört zur neuen literarischen Strömung der 2000er
Jahre in Ägypten, die schonungslos eine bitterböse und scharfe Kritik an po-
litischen, sozialen und kulturellen Missständen, an Korruption, an der Willkür
des Systems und am Machtmissbrauch übt (Junge 2012: 129). Die Vertreter dieser
literarischen Strömung schlossen sich an die sozialen und politischen Protest-
aktionen und -bewegungen der letzten zwanzig Jahre an. Zu den wichtigsten
Oppositionsbewegungen in der zeitgenössischen politischen Landschaft zählt
die um 2004 gegründete Kifaya-­Bewegung (cf. Aboubakr 2013: 281 f.).3 Die Mit-
glieder dieser Oppositionsgruppe riefen u. a. gegen Mubaraks undemokratische
Machtübergabe an seinen Sohn auf und verlangten einen politischen und sozialen
Wandel nach dreißig Jahren der Armut und administrativ gesteuerten Unter-
drückung. Der Name Kifaya enthält eine unmissverständliche Forderung. Das
ägyptisch-­arabische Wort bedeutet nämlich „Genug. Schluss. Jetzt reicht’s” (cf.
Ben Jalloun 2011: 50 und Schanda 2013: 48–49). Zorn, Wut und Frustration
großer Bevölkerungsmassen werden dabei zum Ausdruck gebracht. Von diesen
rebellischen Gefühlen haben Schriftsteller bereits vor dem 25. Januar 2011 viel
zu erzählen gewusst, d. h. ihre Literatur kündigte nicht nur eine Revolution an,4
sondern sie hat dazu erheblich beigetragen, indem gesellschaftliche Tabuthemen
erzählerisch aufgegriffen wurden.

2 Arabischer Originaltitel: Taksi. Hawadit al-­maschawir, Kairo: Verlag Al-­Scheruk 2007.


Heute ist die 23. Ausgabe des Buches auf dem Markt und es wurde in zehn Sprachen
übersetzt u. a. ins Englische, Italienische, Polnische und Deutsche.
3 Zählt zu den wichtigsten Oppositionsbewegungen in der politischen Landschaft Ägyp-
tens.
4 Susanne Schanda bemerkt zu al-­Chamissi zu Recht: „Wenn Schriftsteller Seismografen
ihrer Gesellschaft sind- hier hat einer das drohende Erdbeben Jahre davor angezeigt“
(Schanda 2013: 162).
Seelische Befreiung Im Taxi 345

Im Folgenden wird der Versuch unternommen, das poetologische und äs-


thetische Literaturverständnis des Autors Chaled al-­Chamissi anhand von Text-
beispielen aus Im Taxi. Unterwegs in Kairo exemplarisch zu erörtern. Al-­Chamissis
Werk zeichnet sich durch innovative Merkmale aus, die sich vom Konzept der
althergebrachten „schöngeistigen Literatur” (Weidner 2011) entfernt haben und
diese zu überwinden beabsichtigen. Hier gilt der sogenannte Kifaya-­Gestus auch
in der Literatur, also: „Genug. Schluss. Jetzt reicht’s!”, der sich auch als Ablehnung
postmoderner und poststrukturalistischer Schreibexperimente versteht und ein
neues Literaturverständnis postuliert5, besonders in Bezug auf die Funktion von
Literatur, Tabus, Erzählstrategien und Raumkonzeption.

2 Literatur über die Straße und für die Straße


Al-­Chamissi schreibt dem Künstler eine bedeutende Funktion für seine Ge-
sellschaft zu. Ihm zufolge muss der Schriftsteller mit den Unterdrückten pak-
tieren. Sein Literaturprogramm ist schlichtweg die Not des armen Menschen
in Ägypten. Der Schriftsteller muss als Sprachrohr der Armen fungieren und
deren geheimste Wünsche und tiefste Gefühle zum Ausdruck bringen.6 Damit
verleiht er ihnen die Möglichkeit, letztendlich ihre aus den öffentlichen Miss-
ständen resultierenden Wut- und Zorngefühle zu entladen. Er will denen eine
Stimme geben, die bisher kein Gehör gefunden haben. Ferner besteht die Funk-
tion eines Schriftstellers nach Überzeugung des Schriftstellers darin, dass er die
stagnierenden Gedanken im Kopf der Leser aus ihrer Trägheit auf überzeugende
und unterhaltsame Weise zur Überwindung der eigenen Sinnkrise anregen und
aufwecken sollte. Es geht darum, den Leser zu aktivieren, die jahrzehntelang
scheinbar unerschütterlichen, althergebrachten Dogmen und die angeblich ab-
soluten Gewissheiten zu hinterfragen. Wer Im Taxi im Kontext der jüngeren
ägyptischen Geschichte liest, wird erkennen, dass die Entstehung des Textes mit
drei Schlüsselfaktoren verbunden ist. Zum einen waren insbesondere die Kairoer
Straßen in den Jahren 2005/6 täglich von sozial bedingtem Aufruhr geprägt. Der
Schriftsteller war Zeuge eines Umbruchs, dem er nicht nur zusehen wollte. Ak-
tives künstlerisches Schaffen über den lange Zeit unsichtbar gebliebenen Volks-

5 „Die Kifaya-­Literatur rückt auch von avantgardistischen Schreibexperimenten der


Generation der 1990er ab und besinnt sich auf konventionelle Erzählstrategien“ (Junge
2012: 130).
6 Al-­Chamissi schreibt im Vorwort seines Werkes Im Taxi: „Ich widme dieses Buch
dem Leben, das den Worten der einfachen Menschen innewohnt; möge es die Leere
vertreiben, die uns seit langer Zeit befallen hat“ (T: 6).
346 Aleya Khattab

zorn begriff er als Dringlichkeit. Zum zweiten war er skeptisch gegenüber den
Gebildeten und war tief enttäuscht von den Intellektuellen, die sich selbst zwar
als eine elitäre liberale Schicht ansahen und Zeugen dieses Umbruchs waren,
diesem aber nur passiv zugesehen haben.
Der dritte Faktor ist das Resultat dieser tiefen Enttäuschung. Der Autor nimmt
Partei für die einfachen Menschen auf der Straße, er schenkt ihnen Glauben und
verlässt sich auf die Weisheiten aus dem Munde des ägyptischen Volkes. Er ver-
traut ihnen, weil sie traditionsreiche polyethnische Wurzeln und ein reiches, tief
in der Geschichte verwurzeltes Kulturrepertoire besitzen, das sich in vielfältigen,
spontan erlebbaren Alltagsszenarien spiegelt, denen auch die Kapiteleinteilung
des Bandes entspricht. Für al-­Chamissi übertreffen die tiefsinnigen Weltbetrach-
tungen der einfachen Menschen das ganze Wissen der sogenannten Hochgebil-
deten. Das Buch ist eine Ehrenbezeugung gegenüber der sonst verschmähten
Kultur der Straße.7

3 Protagonisten der Armut


Im Taxi ist das Ergebnis dieses Verständnisses. Es geht darin um das Entfal-
tungspotenzial des menschlichen Wesens im Moment der Erkenntnis eigener
Würde. Die Bewohner der Straßen, die bedürftigen Taxifahrer und deren tragi-
sche Lebens-, Leidens- und Überlebensgeschichten bilden den Kern der Erzäh-
lungen. Auf den Straßen Kairos leben und chauffieren heute eine Viertelmillion
Taxifahrer ihre Kundschaft. Diese große Anzahl gilt als ein bemerkenswertes
gesellschaftliches Phänomen. Während ihres täglichen Daseins auf den Straßen
hören sie den vielen Geschichten ihrer Fahrgäste zu und erzählen diesen umge-
kehrt auch ihre eigenen Schicksale. Indem sie Gehörtes wiedergeben, fungieren
Taxifahrer für al-­Chamissi als Vermittler des Erzählten: Taxifahrer sind Multi-
plikatoren des Meinungsbildes ihrer Kunden. In den 58 Episoden wird über Gott
und die Welt geplaudert und gestritten. Es wird auch über gravierende Gesell-
schaftskonflikte in Ägypten diskutiert, über Armut, Korruption, Polizeistaat,
Religion, Genderprobleme und Sexualität. Ferner werden die Finanzmisere
und das dekadente Bildungssystem kritisch erörtert. Obwohl diese Konflikte
thematisiert werden, stellen sie dennoch nicht das Hauptanliegen der Erzäh-
lungen dar, denn das Hauptanliegen sind die Schicksale der armen notleiden-
den anonymen Taxifahrer, die exemplarisch für das Allgemeinmenschliche im
ganzen Land stehen.

7 Siehe Klappentext Im Taxi.


Seelische Befreiung Im Taxi 347

Da ist z. B. der Taxifahrer, der während der Fahrt immer wieder über seinem
Lenkrad eingeschlafen ist und der sich dafür beim wütend schreienden Fahrgast,
dem Ich-­Erzähler, mit folgenden Worten entschuldigt:
Sehen Sie, mein Herr, ich fahre seit drei Tagen ohne Pause [….] Heute ist der 27. Es
bleiben mir also genau drei Tage, dann muss ich die Rate für den Wagen zahlen. Die
beträgt tausendzweihundert Pfund im Monat. Vor drei Tagen habe ich meiner Frau ver-
sprochen, erst wieder zu Hause aufzutauchen, wenn ich die Rate beisammen hätte. Da
hatte ich gerade mal zweihundert Pfund. Ich bin ins Auto gestiegen und habe es nur
verlassen, um pissen zu gehen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Ich esse und
trinke im Auto, aber geschlafen habe ich die ganze Zeit über nicht. Ich muss das Geld
zusammenkriegen und die Rate bis Ende des Monats bezahlen (T: 21 f.).

Ein anderer Taxifahrer mit Hochschulabschluss erzählt, dass er tagsüber als Buch-
halter arbeitet und nachmittags Taxi fahren muss, um etwas Geld hinzuzuver-
dienen, damit er seine Frau und seine beiden Kinder ernähren kann. Er beklagt
sich beim Fahrgast:
Ich bekomme vierhundertfünfzig Pfund im Monat […] aber das Geld reicht einfach
nicht den ganzen Monat […] Ich habe eine Excel-­Tabelle mit unseren Haushaltsausgaben
angelegt und gemerkt, dass das eine Aufgabe ist, die selbst Bill Gates nicht lösen könnte.
[…] Sie können sich nicht vorstellen, was mich allein die Milch kostet. Natürlich müssen
die beiden Kinder Milch trinken […] Sie können jetzt sagen, dass Milch nur etwas für
Reiche ist, und Sie haben Recht. Ich habe ja auch keine Ahnung, warum meine Frau so
sehr darauf besteht, aber sie sagt, sie und die Kinder müssten jeden Tag Milch trinken
(T: 89 f.).

Frustriert ergänzt der Taxifahrer: „Jedenfalls kann niemand in Ägypten von


seinem Lohn leben […] Also was tun? Entweder stehlen wir oder lassen uns
bestechen oder arbeiten Tag und Nacht“ (T: 90).
Aber nicht nur Milch ist ein Privileg der Reichen. Wir hören auch von anderen
Taxifahrern in weiteren Episoden, wie sie sich beklagen, dass neben Nahrungsmit-
teln auch andere elementare Lebensbedürfnisse wie Medikamente, Bildung, Sport
und Kultur zu den Privilegien der Reichen gehören. Da heißt es in der dreißigsten
Episode: „Ich glaube, dass dem Volk, zu dem ich gehöre, Zugang zur Kultur und
zur Medizin gewährt werden muss, damit man gegen die beiden grossen8 Übel –
Unwissenheit und Krankheit – angehen kann, die seit Jahrhunderten in unserer
Gesellschaft wüten“ (T: 105).

8 Da der Text bei einem Schweizer Verlag erschienen ist, entspricht die Schreibweise in
den Zitaten der Schweizer Rechtschreibung.
348 Aleya Khattab

4 Raumkonzeption: Von lokaler Verortung zum Ort seelischer


Befreiung
Für das Verständnis des Taxis als physisch und psychisch eingrenzendem Raum in
al-­Chamissis Erzählwerk ist es hilfreich, folgendes Lied des Taxifahrers in der 48.
Episode zu untersuchen. Der hoffnungslose Chauffeur singt in diesem Lied sein
Leid frei heraus:
Ich bin wie ein Fisch, und das Taxi ist mein Aquarium. […] Das Aquarium ist ein kleines
Gefängnis, indem der Fisch hin und her schwimmt. Einmal stösst er an das Fenster auf
dieser, dann auf das Fenster auf der anderen Seite […] Ich fahre zwar den ganzen Tag
herum, aber eigentlich sehe ich nur den Innenraum des Taxis. Die Fenster des Wagens
sind meine Grenzen. Das ist ein Gefängnis auf Lebenszeit, und am Ende wartet nur das
Grab auf mich (T: 167).

Diese Worte deuten auf den Gegensatz zweier Welten, die getrennt voneinander
existieren, nämlich die bedrückende Enge des Taxis und der unbegrenzte Raum
um das Taxi herum, von dem der Protagonist isoliert ist. Er hat keine Möglichkeit
des menschlichen Miteinanders mit der Außenwelt.9 Das Taxi fungiert als eine
Insel der Einsamkeit. Zwar ist das Taxi die einzige Quelle seines Lebensunterhalts.
Aber gleichzeitig ist er in seiner Räumlichkeit im Taxi eingeengt und er kann
diesem tragischen Schicksal nicht entrinnen.
Das Taxi fungiert in den tragikomischen Geschichten als Raum der Reflexion
der Betroffenen über Wut, Frustration und Not der großen Mehrheit der Men-
schen in Ägypten.10 Zwar ist das Taxi ein enger kleiner Raum, gleichzeitig aber
auch ein spezifischer Schauplatz zur seelischen Befreiung der ägyptischen Volks-
seele, wie Susanne Schanda richtig festgestellt hat (cf. Schanda 2013: 163). Es ist
ein vielschichtiger topographischer Ort der Auflehnung, abhörfreier Zufluchtsort
und Refugium für verborgene explosive Empfindungen. Der Raum des Wagens
scheint privat zu sein, doch ist er auch öffentlich. Er scheint geschlossen zu sein,
doch ist er auch geöffnet hin zu allen Straßen von Kairo. Dem Leser erscheint

9 Über die räumliche Oppositionierung schreibt Jurij Lotman, dass: „der Ort der Hand-
lung(en) mehr ist als eine Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hin-
tergrunds. Das ganze räumliche Kontinuum des Textes, in dem die Welt des Objekts
abgebildet ist, fügt sich zu einem gewissen Gesamt-­Topos zusammen. Dieser Topos ist
immer mit einer bestimmten Gegenständlichkeit ausgestattet, da Raum dem Menschen
immer in Form irgendeiner Füllung gegeben ist“ (Lotman 1993: 329).
10 Von Bedeutung für das Verständnis von al-­Chamissis Raumkonzept sind u. a. die
neuen Ansätze zu einer Geographie der Literatur mit ihren Ausgangsfragen „Wo spielt
Literatur, und warum spielt sie dort?“ (Piatti 2008: 20; cf. auch Hess-­Lüttich 2013).
Seelische Befreiung Im Taxi 349

er statisch, doch tatsächlich ist er dynamisch und permanent beweglich. Der


kleine Taxi-­Raum als Mikrokosmos des ägyptischen Alltagslebens bewegt sich
durch den unüberschaubaren Raum der Megastadt Kairo. Als ob dieser Mikro-
kosmos im Taxi eine offene Bühne wäre, mit bedeutender Relevanz für das all-
tägliche Leben der Ägypter. Diese dynamische Theaterbühne ist keineswegs ein
Spiegel der Räume, an denen sie vorbeifährt, sondern die Dialoge und Mono-
loge der Protagonisten durchleuchten diese Räume, die sie beim Fahren sehen,
durch ihre Volksweisheiten und durch ihren scharfen entlarvenden Blick. Die
Raumkonzeption erhält im Taxi eine weitere wichtige metaphorische Bedeutung.
Das korrupte ägyptische Staatsregime besetzt willkürlich und allgegenwärtig den
Makrokosmos in allen Geschichten durch seine repressive Macht und entwendet
ihn somit dem eigentlichen Besitzer, nämlich dem Volk. Dieses versucht in seinem
Mikrokosmos, dem Taxi, den ihm enteigneten Raum zurück zu erobern, was
jedoch erfolglos bleibt. Der Leser spürt das Ringen um die Macht zwischen beiden
Positionen, dem beherrschten Mikrokosmos des Taxis und dem Makrokosmos
der Herrscher um das Taxi herum. Al-­Chamissi zeichnet mit seiner ausführlichen
Beschreibung des Raumes außerhalb des Taxis, mit den Straßen und Orten, den
Luxusvierteln, aber auch den Elendsgegenden von Kairo eine genaue Stadtkarte.
Dies suggeriert den Lesern, dass dieser Makrokosmos ein Allgemeingut ist und
allen gehört, und dass dessen Enteignung durch den Staat rechtswidrig ist.

5 Sind gesprochene Sprache und Witz literaturtauglich?


Das oberste Gebot des Autors ist nicht die Abbildung einer indoktrinierten Wirk-
lichkeit, wie sie von offizieller Seite gesehen werden soll, sondern die Erfassung
der Realität, der Not und des Überlebenskampfes seiner Landsleute. Deshalb sind
die Dialoge zwischen den Taxifahrern und dem Erzähler weder in einer kunst-
vollen noch einer intellektualisierenden Sprache verfasst. Die Protagonisten aus
dem Volk sprechen den leicht verständlichen arabisch-­ägyptischen Dialekt, der
neue Leserschichten erreichen und empören soll.11 Der Stil des Werkes zeichnet
sich durch einen volksnahen einfachen Ton aus, und die Sprache verdeutlicht
ein realitätsbezogenes Lebensgefühl um das tägliche Überleben der Taxifahrer.

11 Gegner kritisieren die Verwendung der Umgangssprache in der Literatur, weil sie darin
eine Bedrohung für die Standardsprache des Korans sehen. Trotzdem hat sich die
Umgangssprache Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts in mehreren Werken
der arabischen Literatur durchgesetzt. Für viele Schriftsteller gilt sie „als befreiend,
ikonoklastisch und somit besser geeignet für die Vermittlung revolutionärer Gedan-
ken“ (Aboubakr 2013: 287).
350 Aleya Khattab

Die leicht lesbare Alltagssprache wirkt authentisch und emotional. Der Text
soll dem Leser ans Herz greifen. Der schlichte ungekünstelte Dialekt durch-
bricht aber auch an mehreren Textstellen sexuelle Tabus, und die Sprache der
Protagonisten verstößt durch die Verwendung derber Schimpfwörter gegen die
üblichen allgemeinen Anstandsregeln innerhalb der ägyptischen Gesellschaft.
Der Autor zielt bewusst auf eine schroffe, frappierende und überspitzte Sprache,
die den Rezipienten überraschen und schockieren soll. Obszöne Schimpfwörter
des Straßenjargons beziehen sich vor allem auf die Regierungsangehörigen, die
als „Bastarde, Hurensöhne oder Dreckskerle“ gescholten werden (T: 32 f.). Aber
nicht nur Schimpfwörter gehören der Alltagssprache der Ägypter an, auch Witze
und Humor gehören dazu. Man sagt den Ägyptern nach, sie erfreuten sich eines
fröhlichen Gemüts, hätten Sinn für Humor und scherzten gern. Das gilt auch
für die Taxifahrer im untersuchten Werk. Hier fungieren die Witze als psycho-
logische Waffe zur Bewältigung der repressiven Gegenwart und der eigenen Not.
Der Humor fungiert als Therapie, er soll zur Heilung dienen. Es ist aber ein höh-
nisches und sarkastisches Gelächter, das nicht von Herzen kommt, sondern aus
dem Bauch, denn man lacht über das eigene Elend. Fast in allen Geschichten
erzählen sich die Protagonisten gegenseitig und auch dem Fahrgast Witze, die die
aktuelle Politik und Regierung des Landes kritisieren, sowie obszöne Witze über
Sex und Frauen und verleihen ihnen damit einen humoristischen, aber dennoch
bitteren Ton. In der 50. Episode vertreiben sich die Taxifahrer die Zeit während
der langen Wartezeit an der Tankstelle für das preisgünstige Dieselöl mit solchen
Witzen. Da erzählt einer zum Beispiel:
Im Dschungel sieht ein Affe ein paar Tiger davonrennen. Ein Esel läuft ihnen hinterher.
Da fragt der Affe den Esel: ‚Warum rennst du denn so?‘ Der Esel antwortet: ‚Ich habe
gehört, dass man die Tiger verhaften will.‘- ‚Und was kümmert dich das?‘, fragt ihn der
Affe. Darauf der Esel: ‚Es würde eine Ewigkeit dauern zu beweisen, dass ich kein Tiger
bin‘ (T: 175).

Der Ich-­Erzähler, der auch mit den Taxifahrern an der Tankstelle gewartet und
sich die Witze angehört hatte, kommentiert: „Ich bog mich vor Lachen und dankte
dem Fahrer für diese Pause, denn ich hatte schon sehr lange nicht mit anderen
gelacht. Ich beschloss, immer wenn ich Kummer hätte, hierherzukommen und in
das Gelächter der Taxifahrer einzustimmen – lautes, dröhnendes Gelächter, das
aus dem Bauch kommt, aber nicht vom Herzen” (Ibid.).12

12 Susanne Schanda kommentiert: „Neben luziden Witzen über die Obrigkeit und selbst-
ironischen Kalauern sind es besonders die schlüpfrigen Witze über Viagra und un-
geliebte Ehefrauen, die die Männer in brüllendes Gelächter ausbrechen lassen. Diese
Seelische Befreiung Im Taxi 351

Ein anderer Chauffeur erzählt folgenden Witz:


Einer ging durch die Wüste und fand Aladins Wunderlampe. Er rieb an ihr, da erschien
der Geist und sagte: ‚Zu deinen Diensten! Dein Wunsch ist mir Befehl.‘ Der Typ traute
seinen Augen nicht, verlangte dann aber eine Million Pfund. Der Geist gab ihm eine halbe
Million. Da fragte der Typ: ‚Und wo ist die andere Hälfte, willst du mich betrügen?‘ Der
Geist antwortete : ‚Die Regierung ist mit fünfzig Prozent an der Lampe beteiligt‘ (T: 31).

Witze und Wut über die Angst von Unschuldigen vor willkürlicher Verhaftung
und über die Ungerechtigkeit der korrupten Regierung, das ist der Galgenhumor,
der dem Zorn Ausdruck verleiht und der zur Alltagssprache der volkstümlichen
Schicht der Taxifahrer gehört.

6 Geschändetes Menschendasein und Sehnsucht nach


Menschenwürde
Die Schlüsselthematik der Begegnungen mit den Taxifahrern ist die Verletzung
der Menschenwürde durch die Regierung in Ägypten. Zu den bittersten Äuße-
rungen eines Fahrers gegenüber dem Ich-­Erzähler gehört folgende:
Menschen sind in Ägypten einfach Staub in einer gesprungenen Tasse. Die Tasse kann
leicht zerbrechen, dann weht der Wind den Staub fort. Den Staub kann man nicht wieder
zusammenfegen, und eigentlich ist das ja auch nicht nötig, schliesslich ist es nur ein
bisschen Staub. Die Menschen in diesem Land sind bloss herumwirbelnder Staub ohne
jeden Wert (T: 158).

Der Fahrer erzählt zornig, dass mehr als tausend Menschen, alle einfache bedürf-
tige Arbeiter, die im Schweiße ihres Angesichts für einen Hungerlohn in Saudi
Arabien schufteten, beim Versinken der Fähre „al Salam“ im Roten Meer am
2. Februar 2006 auf dem Heimweg von Saudi Arabien durch Gewinnsucht des
Besitzers der Fähre und durch Korruption umgekommen seien. Es waren fünf-
hundert Passagiere mehr auf der Fähre als zulässig. Der Chauffeur fährt wütend
fort, dass die Angehörigen der Toten weder das ihnen versprochene Geld, noch
Sterbeurkunden bekommen hätten und dass die Besatzungsmitglieder geflohen
seien, damit die wahren Unfallgründe nicht bekannt werden. „[d]Die Regierung
sah einfach zu und applaudierte […] Das war schlimm, chaotisch und herzzer-
reissend. Niemand in diesem Land bekommt sein Recht” (T: 158 f.).
Der Leser wird vom tiefen menschlichen Leid durch die schockierende Er-
zählung der traurigen Wirklichkeit aus dem Munde des Taxifahrers gepackt. Doch

zerlumpten Zoten zeugen von unterdrückter Sexualität und latenter Frauenfeindlich-


keit und wirken eher deprimierend als erheiternd“ (Schanda 2013: 166).
352 Aleya Khattab

es geht dabei nicht um die realistische Reproduktion des Elends, sondern um die
indirekte Aufforderung, das Elend konkret durch Auflehnung zu überwinden. Mit
ihren Geschichten führen die Taxifahrer den Rezipienten durch die Megametro-
pole Kairo mit ihren zusammengedrängt lebenden 20 Millionen Menschen. Sie
entlarven die kafkaeske und zugleich schmerzhafte Kluft zwischen Armen und
Reichen. Sie zeigen politisch Verfolgte, verwahrloste Kranke, Hungrige, Drogen-
konsumenten und entrechtete Minderheiten. Sie erzählen von Straßenmädchen,
Gaunern und Schmugglern. Kairo, das im Volksmund die „Mutter der Welt“ ge-
nannt wird, wirkt dadurch abstoßend, hässlich und krank. Der Leser spürt Hass,
Zorn und Wut auf das korrupte Regime, das diese einst so schöne Stadt und ihre
Menschen in eine miserable Lage geführt und zerstört hat. Doch der Ich-­Erzähler
und seine Protagonisten vertreten keine ausweglose Position, sondern versuchen
eher gerade durch ihre drastische Darstellung einen Keim von Revolte in den
Umsturzgeschichten anzulegen.

7 Rückkehr zur arabischen Erzähltradition des Mittelalters


Die Analyse der Erzählstrategien des Textes hat gezeigt, dass der Autor dem
ungewöhnlichen neuen Handlungsraum, dem Taxi als Mikrokosmos, und der
Straßenkultur, dem Makrokosmos Kairos, eine passende formale Struktur geben
will, die das traditionelle, dem europäischen Leser eher geläufige, Romanmodell
überwindet. Al-­Chamissi wählt eine der arabischen Literaturgattung „Makame“13
ähnliche Erzählform. Seinen fiktiven Erzählungen sollten, seinen Worten zu-
folge, deswegen ursprünglich den Titel „Taxi. Moderne Makamen mit Knoblauch
und Koriandersauce“14 tragen. Das literarische Genre der arabischen Makamen
des Mittelalters erlangte durch den irakischen Dichter al-­Hariri (1054–1122) aus
Basra weite Verbreitung und große Beliebtheit. Große Teile der Bevölkerung lern-

13 Makame bezeichnet eine Literaturgattung der arabischen Prosa, die im 10. Jahrhundert


durch den Dichter al-­Hamadhani als Bettleransprachen entstanden ist. Der Vertreter
der Makamendichtung im 11. Jahrhundert war al-­Hariri. Seine Makamen wurden
als Pikaro-­Romane bezeichnet. Die Makamen sind in Deutschland durch die Nach-
dichtung von Friedrich Rückert 1826/1837 bekannt geworden. Weitere Informationen
zur Makame und zu al-­Hariri cf. Walther 2004: 223–231.
14 Übersetzung von der Verfasserin, A. K. Die Aussage stammt aus einem Interview, das
ich am 30. April 2014 mit dem Autor geführt habe. Mit den Worten „Knoblauch und
Koriandersauce“ im ursprünglichen Titel wollte al-­Chamissi seinem populären Werk
ausdrücklich einen volkstümlichen Charakter verleihen. Ägypter essen nämlich gerne
Mulukheya, ein preisgünstiges, dunkelgrünes, dickflüssiges Gemüsegericht (Muskraut)
mit gebratenem Knoblauch und Koriander.
Seelische Befreiung Im Taxi 353

ten Makamen auswendig. Makamen zeigen die Schattenseiten des Lebens durch
eine elegante, sprachspielerische Überhöhung der Realität. Der Dialog, der das
Hauptgerüst der Geschichten ausmacht, offenbart die verschiedensten Menschen-
typen. Auch bei al-­Chamissi sind es die Stimmen der Protagonisten, die sie cha-
rakterisieren und die sie dem Leser bekannt machen, während der allwissende
Erzähler nur zwischen den Zeilen präsent ist. So wie der Erzähler der Makamen
unterwegs ist als Reisender durch die Metropolen der arabischen Kultur, so ist
auch der Erzähler im Taxi unterwegs durch Kairo. Beide sind vagabundierende
Protagonisten.
Noch andere Parallelen zwischen den Makamen und al-­Chamissis Geschich-
ten lassen sich erkennen. Sowohl die Erzählungen von al-­Chamissi als auch die
Makamen des Hariri sind als Form der Gesellschaftskritik entstanden. Beide ar-
beiten mit Ironie, Spott und Sarkasmus. Beide handeln von den Grautönen des
realen Lebens und von der Korruption der Machthaber. Beide dienen der volks-
tümlichen Straßenunterhaltung. In beiden ist der Protagonist der verspottete,
scheinbar ungebildete einfache Mensch, der dem Intellektuellen aber aufgrund
seiner Intuition überlegen ist. In den Makamen al-­Hariris erteilt ein zerlumpter
Bettler dem Wesir durchdacht formulierte geistvolle Belehrungen. Auch al-­
Chamissi lässt den Leser aus dem Munde der einfachen Taxifahrer, die seiner
Meinung nach vielen Gebildeten überlegen sind, mit Volksweisheiten belehren.
Das poetologische Konzept der Makamen zielt darauf ab, mit den Schelmen-,
Bettler-, Betrüger- und Gauner-­Figuren im parodistischen Kostüm eine Gegen-
welt zur damaligen mittelalterlichen, höfischen Aristokratie zu präsentieren. Der
zeitgenössische Schriftsteller beabsichtigte ebenfalls mit den einfachen, armen
Taxifahrerfiguren praktisch veranlagte Gegenfiguren zu den geistig verarmten
Intellektuellen zu zeichnen. Die Wirkungsabsicht sowohl der Makame als auch
der Anekdoten al-­Chamissis ist es, auf unterhaltsame Weise aufklärende und be-
lehrende Botschaften zu verbreiten. Gemeinsam ist ihnen „die realistische Spra-
che, der witzige Tonfall und das Tempo der Erzählung“ (Aboubakr 2013: 286).

8 Vom Albtraum einer scheinbar unveränderbaren


Wirklichkeit zur Hoffnung
Allein in dreien der 58 Geschichten (1, 23 und 58) signalisieren die Protago-
nisten einen Schimmer Hoffnung auf ein glückliches menschenwürdiges Dasein.
Die drei Episoden erfahren durch deren bewusste Platzierung im Werk, nämlich
am Anfang, in der Mitte und am Ende des Buches, eine aussagekräftige Sonder-
stellung. Hoffnung umrahmt und bündelt den Text. Der Protagonist der ersten
Erzählung ist ein alter frommer Taxichauffeur, der seinem Fahrgast von seinen
354 Aleya Khattab

Erfahrungen über einen Zeitraum von sechzig Jahren als Taxifahrer berichtet. In
seinem anschaulichen Monolog erklärt er, wie er zehn Tage so krank war, dass er
nicht arbeiten konnte. Nach einer Woche war kein Piaster mehr im Haus, so dass
seine Frau anfing, Essen bei Nachbarn zusammenzubetteln. Als er frustriert aus
dem Haus ging um frische Luft zu atmen, aber dann Taxi fährt, um Geld zu ver-
dienen, sah er einen teuren Peugeot, der eine Panne erlitten hatte. Dessen Fahrer
fragte ihn, ob er den Kunden, einen Araber aus dem Golfstaat Oman, dem Lande
von Sultan Kabus, zum Flughafen fahren würde. Er bejahte und auf die Frage des
Fahrgastes nach der Höhe des Fahrpreises antwortete der bescheidene Chauffeur:
„Was immer Sie mir geben“ (T:10).
Gottes Vorsehung wollte, dass der Enkel des Taxifahrers dem Fahrgast bei der
Zollabfertigung seiner Ware am Flughafen hilft und ihm damit eine große Summe
der zu bezahlenden Gebühren einzusparen erlaubt. Als Belohnung dafür wurde
der besagte Taxifahrer für die Fahrt großzügig bezahlt und zudem noch mit einer
großen Geldsumme, der Differenz der Zollgebühren, entlohnt. So hat ihm eine
einzige Fahrt über tausend Pfund eingebracht, einen Betrag, den er sonst nicht
einmal in vier Wochen einnehmen konnte. Der fromme Taxifahrer erklärt dem
Ich-­Erzähler:
Sehen Sie, was Gott tut? Er hat mich aus dem Haus gehen lassen, hat dafür gesorgt, dass
der Peugeot 504 eine Panne hat, und alles Übrige arrangiert, damit ich zu dem Geld
komme. Das tägliche Brot gehört nicht mir, und das Geld gehört auch nicht mir: Alles
gehört Gott. Das ist die Lektion, die ich in meinem Leben gelernt habe (T: 12).

Die Lehre, die dieser Fahrer aus all den Jahren gezogen hat, fasst er noch einmal
wie folgt zusammen: „Gott sorgt sogar für die schwarze Ameise, die in einer
mondlosen Nacht über einen schwarzen Felsen kriecht“ (T: 10).
In der zweiten Geschichte über Glück und Zufriedenheit erzählt ein Taxifahrer,
der seinen Tag in drei Abschnitte einteilt, folgendes:
Zuerst fahre ich Taxi, den zweiten Teil des Tages verbringe ich mit meiner Frau und
meinen Kindern, und dann angle ich im Nil und wasche meinen Körper und meine Seele
und meine Augen. Im Buch des Nils lese ich die Worte unseres Herrn. Nach diesen vier
Stunden habe ich das Gefühl, ich sei völlig klar, Gott sei bei mir und halte meine Hand,
damit ich nichts fürchte außer ihn (T: 85 f.).

An einer anderen Stelle derselben Episode versichert der Taxifahrer seinem


Fahrgast: „Hier in Ägypten sind wir wirklich gesegnet, wir leben in einem der
schönsten und großartigsten Länder der Welt. Wenn Sie Ihr Herz öffnen, werden
Sie unglaubliche Dinge entdecken. Allein der Nil reicht doch schon“ (T: 85). Ob-
wohl der Ich-­Erzähler von diesem Gefühl der Hoffnung überwältigt ist, räumt
er bereits zu Beginn der Episode ein: „Ganz selten trifft man einen Fahrer wie
Seelische Befreiung Im Taxi 355

diesen“ (T: 85) und beabsichtigt damit, den Leser zu einer umfassenderen Hoff-
nung zu ermutigen.
Die letzte Erzählung am Ende der Sammlung stellt einen Höhepunkt im Werk
dar, auch wenn die Aussicht auf Hoffnung darin an mühsame Bedingungen ver-
knüpft ist. Der Leser wird Zeuge eines ungewöhnlichen Dialogs zwischen dem
Ich-­Erzähler und einem ebenso ungewöhnlichen Taxifahrer. Er hat als Laufbur-
sche in mehreren europäischen Ländern gearbeitet, hat aber sein Geld für seine
Hobbys ausgegeben. Er war ein kulturliebender Mann, der den Louvre in Paris
immer sonntags besucht hat. Bemerkenswert ist, dass er sich nicht wie die Mehr-
zahl der Fahrer über Armut beklagt, sondern über die Ignoranz der Jugendlichen
und über das rückständige Bildungswesen, und er plädiert für das Recht Aller auf
Kultur. Er erzählt dem Fahrgast von seiner Kunst, von seinem ruhigen und glück-
lichen Leben in seinem Garten, von der Schönheit seiner Blumen und Bäume,
vom Zwitschern seiner Vögel und von seinem Fischaquarium.
Al-­Chamissi rundet seine Erzählsammlung mit folgenden Sätzen ab, die wir
als Aufruf an den Rezipienten lesen:
Dieser schwarze Engel [gemeint ist ein Sudanese, AK] hinterliess den Geschmack von
Zucker in meinem Mund und den Duft der Heckenkirsche in meiner Seele. Er bewirkte,
dass ich zum ersten Mal seit langer Zeit das Mahl zum Fastenbrechen [im Fastenmonat
Ramadan, AK] ruhig und ohne Hast einnahm und dabei über alles um mich herum
nachsann. Mich kam sogar die Lust an, mein Haus in ein Nest zu verwandeln, wie er es
mir beschrieben hatte. Aber wo würde ich je Flügel wie seine finden? (T: 205)

Mit dieser rhetorischen Frage fragt der Autor nach den Voraussetzungen für eine
neue Existenz. Nach ihm sollte ein neues Leben nicht durch die Reform eines
seit Jahrzehnten vorhandenen, dekadenten und maroden Existenzraumes ersetzt
werden. Es geht darum, eine neue Heimat in der alten zu suchen und einen voll-
kommen neuen Lebensraum zu schaffen. Der Autor propagiert einen noch unbe-
kannten heimatlichen Existenzraum, den es bislang nicht gegeben hat und der neu
erfunden werden muss. Dieser liegt in unbekannten metaphorischen Sphären, die
man nur durch einen Höhenflug mithilfe von Flügeln erreichen kann.

9 Fazit
Die Analyse der Erzählsammlung Im Taxi. Unterwegs in Kairo hat gezeigt, dass
Literatur im Kontext von sozialen und politischen Umbrüchen einen erheblichen
Beitrag zur politischen Meinungsbildung leisten kann. Es geht in diesem Werk um
die Wiederentdeckung einer Erzählkunst, deren Wurzeln bis in die frühe Mensch-
heitsgeschichte zurückgehen und die als beste Waffe zur Auflehnung gegen unter-
drückende Lebensverhältnisse dient. Die bewusste Wahl des Transportmittels
356 Aleya Khattab

Taxi als ungewöhnlichen Handlungsraum seitens des Schriftstellers weist auf die
Wirkungsabsicht des Textes hin. Der gelebte Raum des Taxis mit den Unterhal-
tungen im Sog der Straßenfahrten durch Kairo dient als ein geschützter Bereich
zur Entladung des Zorns. In ihm vollzieht sich eine Art Katharsis der Fahrenden.
Die Bedrohung, die im Mikrokosmos Taxi durch die autoritäre Staatsinstanz des
Makrokosmos erfahren wird, ist Ausdruck des herrschenden Machtverhältnisses
zwischen Individuum und Staat. Doch dieser eingeengte Mikrokosmos darf nach
al-­Chamissis Überzeugung nicht weiterhin ein unveränderbarer Existenzraum
bleiben.

Literatur
Al-­Chamissi, Chaled 2007: Taksi. Hawadit al-­Maschawir, Kairo: Al-­Scheruk
Al-­Chamissi, Chaled 2011: Im Taxi. Unterwegs in Kairo, aus dem Arabischen von
Kristina Bergmann, Basel: Lenos
Aboubakr, Randa 2013: „Literatur und Gesellschaft: eine Einschätzung der Situa-
tion in Ägypten“, aus dem Englischen von Gaby Gehlen, in: Johannes Ebert et.
al. (eds.) 2013: Zeitgenössische Künstler Arabische Welt. Positionen 7, Göttingen:
Steidl, 281–291
Ben Jelloun, Tahar 2011: Arabischer Frühling. Vom Wiedererlangen der arabischen
Würde, aus dem Französischen von Christiane Kayser, Berlin: Bloomsbury
Bergmann, Kristina 2012: Tausendundeine Revolution. Ägypten im Umbruch,
Basel: Lenos
Gerlach, Julia 2011: Wir wollen Freiheit. Der Aufstand der arabischen Jugend,
Freiburg/Brsg.: Herder
Hess-­Lüttich, Ernest W.B. 2013: „Spatial turn: zum Raumkonzept in Kulturgeo-
graphie und Literaturtheorie“, in: id. & Pornsan Watanangura (eds.) 2013: Kul-
turRaum. Zur (inter-)kulturellen Bestimmung des Raumes in Sprache, Literatur
und Film, Frankfurt/M. etc.: Peter Lang, 27–47
Junge, Christian 2012: Genug. Schluss. Jetzt reichts! Der Kifaya-­Gestus in der ägyp-
tischen Literatur der 2000er Jahre, in : Lisan. Zeitschrift für arabische Literatur
13 /14 (2012): 129–137
Lotman, Jurij M. 41993: Die Struktur literarischer Texte, München: Wilhelm Fink
Mörtenböck, Peter & Mooshammer, Helge 2012: Occupy. Räume des Protests,
Bielefeld: transcript
Piatti, Barbara 2008: Die Geographie der Literatur. Schauplätze. Handlungsräume.
Raumphantasien, Göttingen: Wallstein
Seelische Befreiung Im Taxi 357

Schanda, Susanne 2013: Literatur der Rebellion. Ägyptens Schriftsteller erzählen


vom Umbruch, Zürich: Rotpunktverlag
Schneiders, Thorsten Gerald (ed.) 2013: Der Arabische Frühling. Hintergründe
und Analysen, Wiesbaden: Springer
Sloterdijk, Peter 2006: Zorn und Zeit. Politisch-­psychologischer Versuch, Frank-
furt/M.: Suhrkamp
Walther, Wiebke 2004: Kleine Geschichte der arabischen Literatur von der vorisla-
mischen Zeit bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck
Weidner, Stefan 2011: „Einmal zum Tahrir-­Platz und eine Erklärung zur Lage der
Nation, bitte. Rezension zu Chaled al-­Chamissis Buch Im Taxi. Unterwegs in
Kairo“, in: Süddeutsche Zeitung v. 17.02.2011
Weidner, Stefan 2012: „Die Literatur, nicht Facebook ist es gewesen“, im Inter-
net unter http://www.goethe.de/ins/eg/kai/kul/mag/lit/ara/de 8754254.htm
[24.03.2014]
IV
Transitraum Film und Theater
Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus (Dortmund)

Transiträume der deutsch-­türkischen


Migration zwischen Ort und Nicht-­Ort am
Beispiel von Almanya – Willkommen in
Deutschland

Abstract: In light of the spatial turn it seems reasonable to consider space theories also
in the context of a cultural studies approach to literary texts in order to provide a better
understanding of literary and filmic representations of transit spaces. In the discourse of
transit spaces, Marc Augé has developed the theory of non-­places, which are a result of su-
permodernity and can be characterised as anonymous and without any history. It is striking
that such non-­places are often presented as (anthropological) places in literature and film.
They are designed as places of communication, of companionship, of intense, formative
experiences, and of collective memory. Given the relevance of intercultural literature and
films of German-­Turkish artists, the representation of transit spaces of German-­Turkish
migration and tourist travel in these is of particular interest. In this article, we will discuss
non-­places in the tragicomedy Almanya – Willkommen in Deutschland. On the one hand,
the film tends to depict non-­places, particularly in Turkey, as places. On the other hand, the
home village of the family in Turkey constitutes a prototypical anthropological place and,
therefore, reflects an idealised image of ‘homeland’. In order to emphasise our observa-
tions, we apply Jurij M. Lotman’s theory of the structure of literary texts and Hans Krah’s
concept of semantic and semanticised spaces to the film.

1 Einleitung
In diesem Beitrag soll der Spielfilm Almanya – Willkommen in Deutschland im
Hinblick auf die Inszenierung von Nicht-­Orten im Sinne von Marc Augé ana-
lysiert werden. Dabei werden solche Nicht-­Orte näher betrachtet, die als Tran-
sitorte der Migration zu verstehen sind. Die grundlegende Frage, der in diesem
Rahmen nachgegangen wird, ist, ob Transitorte wie der Bahnhof, der Zug, der
Flughafen, das Flugzeug usw. überwiegend als Orte oder als Nicht-­Orte in ihrer
literarischen Inszenierung realisiert werden. Damit verknüpft ist auch die Frage,
wie und zu welchem Zweck Transitorte in der Türkei durch ihre literar-­ästhetische
Darstellung zu einer Idealisierung der Heimat Türkei beitragen. Abschließend soll
diese potentielle Idealisierung auch unter Anwendung der Raumtheorien von Jurij
M. Lotman und Hans Krah überprüft werden.
362 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

2 Marc Augés Nicht-­Orte


Drei Figuren des Übermaßes und somit drei Wandlungsprozesse sind mit Blick
auf die heutige Welt Augé zufolge kennzeichnend für die Übermoderne: „[D]ie
Überfülle der Ereignisse, die Überfülle des Raumes und die Individualisierung
der Referenzen“ (Augé 2012: 47). Im Kontext dieser Ausführungen wird der Fokus
auf den Raum gesetzt, die Aspekte der Zeit und der Individualisierung sollen
vernachlässigt werden. Nur kurz soll hier betont werden, dass es in den letzten
Jahrzenten zu einer Zunahme der Frequenz von Ereignissen im Rahmen zuneh-
mender Globalisierung gekommen sei (cf. Augé 2012: 36 f.). Des Weiteren kommt
dem Individuum in der Übermoderne eine immer wichtiger werdende Rolle zu,
wodurch die Vereinsamung des Einzelnen und egozentrische Haltungen gefördert
werden (cf. Augé 2012: 44; cf. Bayrak & Reininghaus 2013: 13 ff.)
Augé konstatiert mit Bezug auf den Raum, also auf die zweite Gestalt des
Übermaßes, folgende Veränderung: Für die Übermoderne ist ein physischer
Wandel kennzeichnend, d. h. es kommt „zur Verdichtung der Bevölkerung in den
Städten, zu Wanderungsbewe-­gungen und zur Vermehrung dessen, was wir als
‚Nicht-­Orte‘ bezeichnen“ (Augé 2012: 42). Nicht-­Orte skizziert Augé als Gegen-
modell zum traditionellen anthropologischen Ort, an dem echte Erfahrungen
gesammelt werden können und authentische Kommunikation stattfindet. Der
anthropologische Ort ist als historischer Ort zu verstehen, an dem Geschichte in
der Form präsent ist, als dass sein Bewohner „in der Geschichte“ lebt (ibid.: 61).
Damit verbunden ist die Tatsache, dass eine „gemeinsame Identität“ (ibid.: 60)
auf Grundlage eines gemeinsamen Ortes und folglich einer geteilten Geschichte
ausgehandelt werden kann. Als Nicht-­Orte hingegen bezeichnet Augé beispielhaft
Schnellstraßen, Autobahnkreuze, Flughäfen, Einkaufszentren, Durchgangslager,
Hotelketten etc. Weil der Nicht-­Ort keine geschichtliche Relevanz aufweist, lebt
der Mensch dort ganz in der „ewigen Gegenwart“ (ibid.: 105). Nicht-­Orte stellen
häufig Transitorte dar, die weder Geschichte noch Identität besitzen und eine
solche auch nicht hervorrufen können, höchstens im Sinne einer provisorischen,
„geteilte[n] Identität“ (ibid.: 102). Beispielhaft hierfür kann die temporäre Iden-
tität als Passagier eines Zuges angeführt werden, die jedoch erst erlangt werden
kann, nachdem eine Registrierung erfolgt ist (z. B. durch Vorzeigen der Fahrkarte
oder des Ausweises) (cf. Augé 2012: 102 ff.). Damit verknüpft ist ein weiteres
Kennzeichen für den Nicht-­Ort, die „relative Anonymität“ (ibid.: 102). Dabei
handelt es sich aber eben nicht um jene oft angestrebte Anonymität, die dem
Individuum eine gewisse Freiheit suggeriert, beispielsweise das Freisein von Be-
obachtungen, Kontrollen oder Zugriffen auf unsere Person aufgrund unserer
Identität. Vielmehr, so Augé, zieht die relative Anonymität Probleme nach sich,
Transiträume der deutsch-­türkischen Migration 363

die negative Auswirkungen auf das Individuum haben. Zunächst einmal nämlich
müsse diese Anonymität erworben werden. Hierzu müsse man seine Identität,
wie bereits erwähnt, paradoxerweise erst einmal beweisen. Erst danach erhält
man Augé zufolge die relative Anonymität als scheinbare Belohnung, die sich
jedoch mehr als Fluch denn als Segen herauszukristallisieren scheint, zum einen,
da sie die Individuen lediglich in eine Art Vertrag mit dem Nicht-­Ort und dessen
Benutzungsordnung und -regeln setzt, zum anderen, weil diese Art der Anony-
mität die Individuen dazu verdammt, zwar allein, aber doch den anderen gleich
zu sein, also lediglich „geteilte Identitäten“ (Augé 2012: 102 f.) einzunehmen.
Folglich schreibt Augé dem Nicht-­Ort Negativattribute zu, das Transitorische
wird als problematisch entworfen, weil eine Vereinzelung des Individuums und
ein „Durchschnittsmensch“ (ibid.: 101) evoziert werden (cf. ibid.: 83). Trotz der
sehr konträren Charakterisierung des Nicht-­Orts und des anthropologischen
Orts entgeht Augé der dichotomen Gegenüberstellung beider, indem er betont,
dass die Transformation des einen in den anderen jederzeit möglich sei: „Ort
und Nicht-­Ort sind fliehende Pole; der Ort verschwindet niemals vollständig,
und der Nicht-­Ort stellt sich niemals vollständig her“ (ibid.: 83 f.; cf. Bayrak &
Reininghaus 2013: 14 f).
Unsere grundlegende These im Hinblick auf Almanya  – Willkommen in
Deutschland lautet, dass insbesondere Nicht-­Orte des Transits in der Türkei ten-
denziell als Orte inszeniert werden. Die Frage, der hierbei im Folgenden nach-
gegangen wird, ist, wie und mit welcher Absicht die genannten Räume jeweils
literar-­ästhetisch inszeniert werden. Zu dieser ‚Verortung‘ trägt auch die Analyse
des Zeitaspekts bei. Wird in dem untersuchten Film die Gegenwart als ausschließ-
liche Zeitebene des Transit-­Ortes realisiert oder kommt auch der Vergangenheit
bzw. der Zukunft Bedeutung zu? Des Weiteren wird die Befindlichkeit des In-
dividuums am von Augé konstruierten prototypischen Nicht-­Ort betrachtet: Ist
die Inszenierung geprägt von der Darstellung von Anonymität und Einsamkeit
des Individuums und von einem Mangel an stabiler Identität? Oder sind ‚echte‘
menschliche Kontakte und Gemeinschaft möglich?

3 Interkulturalität und Raum


Der Filmanalyse, d. h. der Anwendung der soeben skizzierten Theorie, werden
kurz einige Überlegungen vorangestellt, die das Potenzial dieser raumtheo-
retischen Betrachtung für den Umgang mit interkultureller Literatur, unter
der wir im Sinne eines weiten Literaturbegriffs auch den interkulturellen Film
subsumieren, betonen sollen. Zum einen stellen Transiträume häufig genutz-
te Schauplätze in der interkulturellen Literatur und im interkulturellen Film
364 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

dar, insbesondere wenn Migrationsgeschichten thematisiert werden. In diesem


thematischen Zusammenhang erscheint zudem der Fokus auf Migranten als
Protagonisten interessant. Da Marc Augé neben dem Ort und der Zeit das In-
dividuum und dabei im Besonderen dessen Befindlichkeit am Nicht-­Ort als eine
Figur des Übermaßes betrachtet (cf. Augé 2012: 47), ist es sinnvoll, gerade seine
Theorie des Raums für die Analyse von Transit-­Orten und deren Auswirkungen
auf die dort verweilenden Figuren in der Auseinandersetzung mit diesen Werken
fruchtbar zu machen.
Weil interkulturelle Literatur als mehrfach adressiert betrachtet werden kann
und ein Hauptcharakteristikum die „Gründung des interkulturellen Gedächt-
nisses“ (Chiellino 2001: 117) ist, ist es naheliegend, solche Transitorte näher
zu betrachten, die sowohl einen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses der
Migranten als auch der Aufnahmegesellschaft1 bilden. Hierzu können beispiels-
weise der Bahnhof, der Zug, das Flugzeug sowie der Flughafen gezählt werden.
Dass der Zug und der Bahnhof als Teil des kollektiven Migrantengedächtnisses
bezeichnet werden können, liegt auf der Hand, ist der Bahnhof doch Symbol
des Transitorischen und des Nomadentums (cf. Thums 2012: 37). Auch der Zug
wird als Symbol für den Ausbruch aus vorgezeichneten Lebensläufen genannt
(cf. Parr 2012: 89 f.), als welcher die Wanderbewegung der Migration identifiziert
werden kann. Des Weiteren gilt der Zug als prototypisches Transportmittel der
Arbeitsmigration der 1960er und 1970er Jahre, erst später wird er durch andere
Fortbewegungsmittel wie beispielsweise das Flugzeug verdrängt. Als Teil des
deutschen kollektiven Gedächtnisses (cf. Assmann 2006) kann insbesondere
der Zug erachtet werden, spätestens seit dem Genozid an Juden im Dritten
Reich, seitdem das Bild eines Güterwaggons fast zwangsläufig die Assoziation
der Judendeportation hervorruft (cf. Parr 2012: 89 f.2; cf. Bayrak & Reininghaus
2013: 12 f.).
Auch wenn die soeben genannten Transit-­Orte, die zum interkulturellen
Gedächtnis zu zählen sind, im Mittelpunkt der raumtheoretischen Filmanalyse
stehen, soll auch die filmästhetische Darstellung weniger „geschichtsträchtiger“
Transit-­Orte diskutiert werden, zum Beispiel die der Raststätte oder des Motels.

1 Einen hohen Bekanntheitsgrad genießt die Fotografie des Portugiesen Armando


Rodrigues de Sá, die dessen Begrüßung am Bahnhof Köln-­Deutz wiedergibt. Als ein-
millionster Gastarbeiter erhielt er ein Moped.
2 Das Memorial of the Deportees in Yad Vashem erinnert durch einen original erhalte-
nen Güterwaggon und dessen plötzlich endende Schienen an das Schicksal der Shoa-­
Opfer und betont dabei die Bedeutsamkeit dieses Transportmittels als logistische
Voraussetzung für den Genozid.
Transiträume der deutsch-­türkischen Migration 365

4 Nicht-­Orte des Transits in Almanya – Willkommen in


Deutschland
Nach einer Szene im Klassenzimmer des deutsch-­türkischen Jungen Cenk beginnt
die Erzählung der intradiegetischen Erzählerin Canan, diese wird aber bald durch
das Einblenden von Szenen aus der Vergangenheit zur Voice-­Over-­Sprecherin,
indem sie ihrem kleinen Cousin Cenk in Form einer Analepse die Liebesgeschich-
te ihrer Großeltern erzählt. Die von Canan erzählte Vergangenheit wird für die
Zuschauer durch Bilder visualisiert, bei denen idealisierte Bilder des türkischen
Heimatdorfes der Großeltern überwiegen (cf. Bayrak & Reininghaus 2016). Nach
einigen Unterbrechungen wird die Geschichte der Großeltern zu Ende erzählt und
in der Erzählgegenwart unternimmt die gesamte Familie eine Reise in die Türkei,
bei der verschiedene Orte des Transits als Setting vorherrschen, die im Folgen-
den betrachtet werden sollen. Zweck der Reise soll die gemeinsame Renovierung
eines Hauses sein, das der Großvater erworben hat. Dieses Vorhaben kann nicht
realisiert werden, da der Großvater unterwegs verstirbt und schließlich für die
Beisetzung in sein Heimatdorf gebracht wird. Auf der gemeinsamen Reise werden
zahlreiche familiäre Probleme gelöst, es scheint, als sei die Konfliktbewältigung
erst im Herkunftsland der Großeltern möglich.

4.1 Bahnhof
In Almanya – Willkommen in Deutschland wird gleich zu Beginn, nachdem die
Voice-­Over-­Sprecherin in die Liebesgeschichte der Großeltern eingeführt hat,
Großvater Hüseyins erste Einreise nach Deutschland gezeigt, deren Ziel der
Bahnhof Köln-­Deutz ist. Dieser ist überwiegend als Nicht-­Ort zu charakterisie-
ren: Hüseyin geht scheinbar in der anonymen Masse unter, ist er doch nur einer
unter vielen Gastarbeitern. Um das Bahnhofsgelände verlassen zu dürfen, muss
er sich zuerst ausweisen und registrieren lassen. Gespräche zwischen den ein-
reisenden Gastarbeitern sind dadurch erschwert, dass ihre Gruppe als äußerst
heterogen zu bezeichnen ist und sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Hüseyin
lässt dem millionsten Gastarbeiter Armando Rodrigues de Sá den Vortritt, der
sich in portugiesischer Sprache bedankt. Anschließend erfolgt die Inszenierung
des Bahnhofs kurzweilig als anthropologischer Ort dadurch, dass Rodrigues von
einer deutschen Delegation empfangen und durch Reporter gefeiert wird. Es muss
festgehalten werden, dass der Bahnhof Köln-­Deutz hier als geschichtlicher Ort
inszeniert wird, der rückblickend sowohl als Teil des kulturellen Gedächtnisses
von Migranten als auch der Aufnahmegesellschaft betrachtet werden kann (cf.
Bayrak & Reininghaus 2016). Allerdings wird durch den produzierten Kontrast
366 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

auch die Wirkung von Vereinzelung im Hinblick auf Hüseyin verstärkt, da dieser
in keinster Weise im Fokus steht und in der anonymen Masse untergeht. Auch
von den wenigen ihm bekannten Personen muss er sich schließlich verabschieden
(cf. AWD 0:01:54–0:03:09).
Als Hüseyin vor dem Bahnhof auf die für ihn fremde deutsche Sprache trifft,
wird diese Fremdheitserfahrung mit Humor inszeniert, da das Deutsche in Form
einer Kunstsprache in Erscheinung tritt, beispielsweise in der Rede des Bürger-
meisters (cf. Bayrak & Reininghaus 2016). „Er enthüllt ein geradezu neanderta-
lisch anmutendes Kauderwelsch, das den Zuschauer nun als Substitut für ‚das
Deutsche‘ den Film über begleiten wird und deutlich auf das Bizarre der Ent-
fremdungen hinweist“ (Boog & Emeis 2011: 171). Des Weiteren ist das Hervor-
heben der Fremdheitserfahrung und der nicht stattfindenden bzw. misslingenden
Kommunikation ein Hinweis auf die Inszenierung des deutschen Bahnhofs als
Nicht-­Ort (cf. AWD 0:16:15–0:17:29).

4.2 Flughafen
Die Darstellung des Flughafens erfolgt teilweise als Nicht-­Ort, zum Teil aber auch
als anthropologischer Ort. Bei der Einreise der Familie Yılmaz nach Deutschland
wird der Flughafen mit Negativattributen ausgestattet. Die Darstellung ist geprägt
von Fremde und Anonymität, wodurch der Flughafen als Nicht-­Ort erscheint.
Fatma merkt beispielsweise bei ihrer Ankunft an: „Hier sieht’s aber seltsam aus“
(AWD 0:25:43). Diese Darstellung als Nicht-­Ort wird durch die Passkontrolle, die
deutsche Beamte vornehmen, auf die Spitze getrieben. Diese registrieren in einem
stereotyp deutschen bürokratischen Akt des Abstempelns die Pässe der Familie.
Es findet dabei kaum verbale Kommunikation statt, da die Familie (noch) nicht
der deutschen Sprache mächtig ist. Der Anonymitäts- und Fremdheitseffekt wird
zudem durch die von den Deutschen verwendete fiktive Kunstsprache gesteigert,
da auch der Zuschauer diese Sprache nicht versteht (cf. AWD 0:36:08–0:36:39)
(cf. Bayrak & Reininghaus 2016: 180).
Im Gegensatz dazu nimmt die Darstellung des Flughafens Züge eines anthro-
pologischen Ortes an, als die Familie Yılmaz sich in der Erzählgegenwart auf eine
gemeinsame Reise in die Türkei begibt und sich aufgrund einer Flugverspätung in
der Wartehalle die Zeit vertreiben muss. Attribute wie Geselligkeit und Gemein-
schaft werden hervorgehoben: Der Vater bietet dem gelangweilten kleinen Cenk
an, mit ihm zu spielen, die Großmutter will ihn mit Essen versorgen. Beides ist
für ihn nicht zufriedenstellend, und er fordert seine Cousine stattdessen auf, die
Geschichte der Großeltern weiter zu erzählen, wodurch erneut ein Rückblick auf
Vergangenes erfolgt (cf. AWD 0:35:36–0:36:08). Folglich stehen nicht nur Kom-
Transiträume der deutsch-­türkischen Migration 367

munikation und Gemeinschaft im Mittelpunkt dieses Ortes, sondern vor allen


Dingen auch die Vergangenheit (cf. Bayrak & Reininghaus 2016: 180). Insofern
wird der Flughafen in dieser Szene als Ort inszeniert. Eine mögliche Erklärung
hierfür stellt die Tatsache dar, dass der Flughafen Teil der Familienreise in die
(idealisierte) Heimat ist und daher in seiner film-­ästhetischen Darstellung mit
positiven Merkmalen besetzt wird.

4.3 Minibus
Ein weiteres Transportmittel, das als Ort inszeniert wird, ist der gemietete Mi-
nibus, der die Familie in der Türkei vom Flughafen zu ihrem Bestimmungsort
bringen soll. Während der Busfahrt erzählt Canan die Geschichte der Großeltern
weiter, wodurch der Vergangenheit eine große Bedeutung zukommt. Schließlich
verstirbt der Großvater während des Erzählens der Geschichte im Bus, wodurch
es zu einer gemeinsamen schmerzlichen Erfahrung kommt. Diese wird filmtech-
nisch verstärkt durch die Verwendung von Zeitlupe, durch unklare Lichtver-
hältnisse sowie durch dumpfen Ton. Somit wird der Tod als intensives Erlebnis
für alle Anwesenden verdeutlicht (cf. AWD 1:06:26–1:08:15). Beim Verlassen
des Dorfes gegen Ende der Handlung und nach der Beerdigung des Großvaters
befindet sich die Familie erneut in dem Kleinbus. Auch diesmal steht Vergangenes
im Mittelpunkt, jedoch nicht in Form der Erzählung durch die Enkelin Canan,
sondern durch Cenks Blick aus dem Fenster. Die Bilder des vorbeiziehenden
Dorfes werden angereichert durch Bilder des verstorbenen Hüseyin als jungem
Mann und seiner jungen Frau (cf. AWD 1:26:59–1:27:37).
Als weitere Transitorte in Almanya – Willkommen in Deutschland sind die
Raststätte und das Motel bei der Reise durch die Türkei zu nennen, die als Orte
inszeniert werden. Da sie in der Türkei zu verorten sind, trägt ihre Darstellung
ebenfalls zu einer Idealisierung der türkischen Heimat bei.

4.4 Raststätte
Durch die Betonung von Gemeinschaft wird die Raststätte als anthropologischer
Ort inszeniert. Dies geschieht beispielsweise durch die Tatsache, dass die Familie
Yılmaz spontan einen fremden Jungen zum Essen einlädt, der auf der Straße Se-
samkringel verkauft. Weiterhin scheint die Raststätte ein Ort echter und vor allem
gelingender (interkultureller) Kommunikation zu sein. Cenks Vater Ali bestellt
in einem eher als gebrochen zu bezeichnenden Türkisch sein Essen. Der Kellner
versteht ihn ohne Probleme, obwohl Ali kaum in der Lage ist, seine Bestellung
sprachlich angemessen zu Ende zu bringen. Obgleich Cenk kein Türkisch spricht,
funktioniert darüber hinaus auch der kommunikative Austausch zwischen ihm
368 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

und dem Straßenverkäufer, betont der Simitverkäufer doch, er sei der deutschen
Sprache mächtig. Er bringt einige deutsche Sätze hervor, die ihm aus seinen Ver-
kaufsverhandlungen mit deutschen Touristen bekannt sein dürften. Es kommt zu
einem tragischkomischen Effekt, da auf der einen Seite die schwierigen wirtschaft-
lichen Bedingungen für den türkischen Jungen das Erlernen zumindest deutscher
Floskeln (überlebens-)notwendig machen, auf der anderen Seite aber Cenk, der
theoretisch bilingual hätte aufwachsen können, diese Chance nicht erhielt. Ko-
misch wirkt die genannte Szene durch das unerwartete Erscheinen des kleinen
Straßenverkäufers: An einer Raststätte in der türkischen Peripherie verdeutlicht
er – vermutlich ohne eine nennenswerte Schulbildung erhalten zu haben – durch
seine Deutschkenntnisse in skurriler Weise die Wortnot des Anderen.
Verstärkt wird die Inszenierung der Raststätte als Ort der Kommunikation
und des Austauschs dadurch, dass Canan ihre Schwangerschaft ihrem Großvater
gesteht, der wiederum verständnisvoll reagiert. Nicht zuletzt erscheint die Rast-
stätte als anthropologischer Ort, da sie als Erinnerungsort inszeniert wird, denn
sie ist ein idealisierter Ort, an dem die Familie letztmalig vor Hüseyins Tod zu-
sammenkommt und ein letztes Foto der kompletten Familie entsteht (cf. AWD
0:49:02–0:52:18; cf. Bayrak & Reininghaus 2016: 181).

4.5 Motel
Eine weitere Idealisierung erfährt die Türkei durch die Inszenierung des Motels
als Ort der brüderlichen Versöhnung. Hier kommen die Yılmaz-­Brüder nach dem
Tod ihres Vaters zusammen und führen seit langer Zeit ein erstes ehrliches und
offenes Gespräch miteinander. Folglich scheint es, als müsse erst eine Rückkehr
in die Heimat erfolgen, um den jahrzehntelangen Streit zwischen den Brüdern
Veli und Muhamed zu beenden. In der Kellerbar des Motels verarbeiten sie ge-
meinsam den schmerzlichen Verlust ihres Vaters. Zwar wirkt die Bar durch ihre
spärliche Ausstattung und durch kaltes Licht ungemütlich, dennoch wird dieser
Nicht-­Ort als anthropologischer Ort dargestellt, da die emotionale Aufladung
als Ort des brüderlichen Austauschs und der Verbundenheit dominiert. Eine
Steigerung dieses Eindrucks geschieht in der Szene im Motelzimmer, in der Veli
und Muhamed sich das Bett teilen (müssen), weil Veli seinen Zimmerschlüssel
verloren hat. Hier geraten Vergangenes und Erinnerungen in den Fokus, da die
Wiederholung einer gemeinsamen Kindheitserfahrung erfolgt. Die Vergangenheit
rückt auch bei Canans Geständnis, ein uneheliches Kind zu erwarten, in den
Mittelpunkt. Durch die Offenbarung der Großmutter, sie sei ebenfalls bereits
vor der Ehe schwanger gewesen, erfolgt eine Aktualisierung von Vergangenem
(cf. AWD 1:08:21–1:16:06). Insgesamt muss konstatiert werden, dass der Ort des
Transiträume der deutsch-­türkischen Migration 369

Motels Möglichkeiten zur Thematisierung allgemein menschlicher Probleme und


scheinbar auch zu deren Lösung liefert und somit verklärend dargestellt wird.
Prototypische Negativmerkmale eines Transitortes werden dadurch überlagert
und der Anschein eines anthropologischen Ortes wird erweckt (cf. Bayrak &
Reininghaus 2016: 181 f.).

5 Exkurs: Das Dorf als anthropologischer Ort


Neben diesen Orten des Transits, deren überwiegende Inszenierung als anthro-
pologische Orte in der Türkei zu situieren ist, wodurch diese eine positive Auf-
ladung erhält, muss auch für das Heimatdorf in der Türkei festgehalten werden,
dass es positive Zuschreibungen erfährt und somit zum Effekt der Idealisierung
der türkischen Heimat beiträgt. Daher soll es im Folgenden Berücksichtigung
finden, auch wenn es keinen Transitort darstellt. Das Dorf als prototypischer
anthropologischer Ort wird auch in seiner film-­ästhetischen Darstellung als ein
solcher inszeniert, ist es doch ein Ort der Erinnerung, des familiären Zusammen-
halts, des gemeinschaftlichen Austauschs und von (scheinbar) fest verwurzelten
Identitäten.
Dieser Eindruck wird bereits am Anfang des Films erweckt. Canan beginnt
die Geschichte ihrer Großeltern folgendermaßen:
Eigentlich begann alles in einem kleinen Dorf im Südosten der Türkei. […] Das war ein
wunderschönes Dorf in einem kleinen Tal. Die Menschen dort lebten ein einfaches, ru-
higes Leben. Sie bestellten ihre Felder, hüteten ihr Vieh und alles ging seinen gewohnten
Gang (AWD 0:11:14).

Hier und auch im weiteren Verlauf wird das Dorf als Idylle inszeniert, die durch
Zuschreibungen wie Natur, Vertrautheit und Geborgenheit charakterisiert wird:
In der Darstellung überwiegen bunte, warme Farben, das Dorf erscheint durch
fehlende Infrastruktur, die Natur und die Berge unberührt und nahezu paradie-
sisch. Die Bewohner scheinen miteinander bekannt und vertraut zu sein. Insofern
wird durch die Betonung von Gemeinschaft und geteilter Identität das Dorf als
Ort inszeniert. Einen Hinweis darauf stellt auch die Tatsache dar, dass es als Ort
von familiärer Geschichte zu verstehen ist, da hier die Liebesbeziehung der Groß-
eltern ihren Ursprung hat (cf. Bayrak & Reininghaus 2016: 177).
Diese Idylle wird als Gegenbild zu Deutschland entworfen, das in der Ge-
sprächsrunde der Dorffrauen negativ und stereotyp gezeichnet wird. Eine
Überspitzung dieser stereotypen Vorstellungen und gleichzeitig eine sub-
versive, humorvolle Brechung erfolgt durch die Bemerkung von Muhameds
Freund, Deutsche äßen Schweinefleisch und Menschen, den Mann am Kreuz
370 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

(alias Jesus) hätten diese auch gegessen (cf. AWD 0:21:25–0:22:34). Hier wird
ein Perspektivwechsel deutlich, der dadurch erfolgt, dass die stereotype Vor-
stellung eines ‚ausländischen‘ Barbaren gespiegelt und auf Deutsche übertragen
wird (cf. Bayrak & Reininghaus 2016: 178). Betont werden muss, dass ledig-
lich das Deutschland der 1960er bzw. 1970er Jahre in dieser Form dargestellt
wird und dass der humorvolle Umgang mit dieser Vorstellung nicht ernsthaft
Deutschland als mögliche Wahlheimat ausschließt. Insbesondere innerhalb
der Erzählgegenwart bietet die großelterliche Wohnung in Deutschland, die
als anthropologischer Ort inszeniert wird, Potential für Gefühle heimatlicher
Verbundenheit und Verwurzelung, wenn auch nicht in der starken Ausprägung
wie das türkische Herkunftsdorf.
Bei einem Familienurlaub im Dorf verliert dieses die bisherigen Zuschrei-
bungen von Merkmalen eines anthropologischen Ortes. Die veränderte Lebens-
situation der Familie (in Deutschland) führt auch zu einem veränderten Blick
auf ihre bisherige Heimat. Insbesondere Hüseyin kann sich nicht mehr mit dem
Leben im türkischen Dorf identifizieren, weil es ihm nicht mehr komfortabel
und fortschrittlich genug erscheint. Seine Perspektive ist nunmehr geprägt von
Erwartungen und Ansprüchen eines Mitteleuropäers. Auch Muhamed muss
Erfahrungen von Fremdheit machen: In einem Streit mit seinem bisher besten
Freund wird er als geizig klassifiziert, weil sein aus Deutschland mitgebrachtes
Geschenk lediglich eine Colaflasche ist (cf. AWD 1:04:05–1:05:04). Folglich
existieren das Gemeinschaftsgefühl und eine geteilte Identität nur noch sehr
eingeschränkt. Die Geborgenheit des anthropologischen Ortes kann das Dorf
nicht mehr bieten, weshalb kurzzeitig auch die Vorstellung der idealisierten
Heimat fraglich erscheint. Jedoch wird gegen Ende des Films das Dorf bei der
Rückkehr der Familie aufgrund von Hüseyins Beerdigung erneut und in ge-
steigerter Form als anthropologischer Ort inszeniert: Die Dorfgemeinschaft,
zu der auch die deutsche Gabi ganz selbstverständlich zählt, wird durch das
gemeinsame Verweilen und Trauern an Hüseyins Grab als intakt dargestellt.
Dies wird filmästhetisch durch die uniformen hellen Kopftücher betont, die
alle Frauen tragen, sowie durch das gemeinsame Beten. Des Weiteren ist das
Vergangene allgegenwärtig: Fatma, Muhamed, Leyla und Veli werden jeweils
mit ihren jungen Pendants aus der intradiegetischen Erzählung parallel ge-
zeigt. Insbesondere Fatmas Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann do-
minieren das Geschehen: Bilder des jungen Hüseyin tauchen immer wieder
in ihrer Erinnerung auf, wodurch ein weiteres Mal eine Inszenierung als an-
thropologischer Ort identifizierbar ist (cf. AWD 1:21:39–1:23:17; cf. Bayrak &
Reininghaus 2016: 178).
Transiträume der deutsch-­türkischen Migration 371

6 Weitere raumtheoretische Betrachtungen


Über die Berücksichtigung von Augés Theorie hinaus kann eine ähnlich positive
Inszenierung des Dorfes sowie der Transitorte in der Türkei – und damit eine
Idealisierung der Heimat – mithilfe der raumtheoretischen Überlegungen von
Lotman und Krah belegt werden.
Der russische Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij M. Lotman thema-
tisiert in seinem Werk Die Struktur literarischer Texte aus den frühen 1970er Jah-
ren sowohl reale Räume als auch imaginäre. Dabei betont er, es sei allen Kulturen
gemein, dass eine Tendenz dahingehend bestehe, nicht-­räumliche Sachverhalte
mithilfe von räumlichen Metaphern auszudrücken. Als Beispiel hierfür kann die
Opposition links vs. rechts hinsichtlich politischer Orientierungen genannt wer-
den, aber auch oben vs. unten mit Bezug auf soziale Hierarchien. Darüber hinaus
identifiziert er die Neigung, räumliche Strukturen zu semantisieren, das heißt,
räumlichen Merkmalen nicht-­räumliche topologische Strukturen zuzuschreiben.
Allerdings sei der topographische Raum nicht grundsätzlich Träger topologischer
Aspekte. Die Zuschreibung von semantischen Merkmalen kann topographischen
Räumen zugewiesen werden, beispielsweise real existenten Räumen wie dem
Dorf, aber diese müssen nicht zwangsläufig an jene gebunden sein. Dies bedeutet,
dass semantische Räume als eine Art imaginäre Räume losgelöst sein können von
realen topographischen (cf. Lotman 1972: 312 f.).
Um eine weitere Differenzierung zu ermöglichen, erweitert Hans Krah Lot-
mans Konzept. Er unterscheidet zwischen den Bezeichnungen des abstrakten
semantischen und des semantisierten Raums. Im Hinblick auf semantisierte
Räume werden semantische Eigenschaften mit topographischen Räumen ver-
knüpft (cf. Krah 2006: 300). Zum Beispiel werde der Wald im Märchen oft mit
Gefahr konnotiert, wohingegen die Waldhütte Geborgenheit und Sicherheit sym-
bolisiere (cf. Lotman 1972: 327). Im Gegensatz dazu seien abstrakte semantische
Räume nicht abhängig von real existierenden. Zum Beispiel kann ein literarischer
Text durch die Binäropposition Macht vs. Ohnmacht strukturiert sein. Folglich
existieren zwei unterschiedliche abstrakte semantische Räume, die eindeutig von-
einander abgegrenzt werden können. Diese Abtrennung impliziert, dass nach
Lotman eine Grenze zwischen zwei semantischen Räumen existieren muss. Diese
Grenze separiert den Raum in zwei disjunkte Teilräume (cf. ibid.: 327). Krah
betont, dass das Identifizieren von Grenzen innerhalb eines literarischen Textes
der zentrale Interpretationsakt sei (cf. Krah 1999: 7).
Angewendet auf Almanya – Willkommen in Deutschland kann festgehalten
werden, dass als topographische Räume zum einen Deutschland und die Türkei
voneinander abgegrenzt werden können. Ganz allgemein erscheint eine ein-
372 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

deutige Zuschreibung von oppositionellen semantischen Merkmalen zu den


zwei topographischen Räumen schwierig: Deutschland werden – insbesondere
in der Erzählgegenwart – nicht durchweg negative Eigenschaften zugeschrieben
und der Türkei nicht durchweg positive. Zum anderen bildet das Heimatdorf als
semantisierter Raum im Sinne von Hans Krah scheinbar eine Opposition zu den
semantisierten Räumen der untersuchten Transitorte. Auffällig hierbei ist jedoch,
dass diese sehr unterschiedlichen topographischen Räume durch identische to-
pologische Räume überlagert werden, insbesondere da es sich überwiegend um
die positive Inszenierung von Transiträumen in der Türkei handelt: Semantische
Zuschreibungen wie ‚familiär-­gemeinschaftlich‘, ‚kollektiv-­erinnernd‘, ‚geborgen‘
und ‚kommunikativ‘ dominieren hier. Insofern kann auch unter Rückgriff auf
Lotmans bzw. Krahs raumtheoretische Überlegungen festgehalten werden, dass
insbesondere durch die Inszenierung des Herkunftsdorfs und der Transiträume
in der Türkei eine Idealisierung der türkischen Heimat erfolgt, auch wenn diese
nicht als Kontrast zum Deutschland der Gegenwart entworfen wird. Folglich
erfährt Deutschland keine eindeutig stereotyp negative Inszenierung und bietet
somit ebenfalls Potential, ‚Heimaträume‘ zu eröffnen.

7 Fazit
Zusammenfassend kann festgehalten werden: Das Herkunftsdorf der Großeltern
erfährt wie erwartet eine Überzeichnung als Prototyp eines anthropologischen
Ortes. Nicht-­Orte des Transits werden in dem analysierten Film überwiegend als
Orte inszeniert, wenn sie in der Türkei zu verorten sind. Damit entsteht ein ideali-
sierender Effekt der Heimat Türkei. Als wesentlicher Grund für diese Darstellung
kann das Adressieren eines sowohl deutschen als auch deutsch-­türkischen Pu-
blikums ausgemacht werden. Zum einen bietet sie Identifikationsmöglichkeiten
für Deutsch-­Türken, zum anderen führen eine humoristische Darstellung von
Migration und Integration sowie eine Idealisierung der ‚fremden‘ Türkei zu einer
Minimierung von Fremdheitsgefühlen. Damit erfüllt der Film Erwartungen eines
Publikums an einen ‚Wohlfühlfilm‘, als welchen man Almanya – Willkommen in
Deutschland bezeichnen muss. Somit wird auch die Wahlheimat Deutschland
nicht abgewertet. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass zwar Deutschland und
die Türkei als topographische Orte voneinander abgegrenzt werden können,
jedoch nicht grundsätzlich topologisch zueinander in Opposition stehen. Viel-
mehr bleibt eine Festlegung auf bestimmte semantische Merkmale offen, womit
Deutschland die Möglichkeit einer zusätzlichen Heimat bietet. Zwar wird die
Türkei als ideale Heimat inszeniert, jedoch wird Deutschland nicht grundsätzlich
kontrastiv als Negativfolie entworfen. Dies trifft lediglich auf das Deutschland der
Transiträume der deutsch-­türkischen Migration 373

Gastarbeiterzeit zu und dabei eher in scheinbar humorvoller Weise. Betrachtet


man die komische Darstellung kritisch, so könnte man diese als Verschleierung
realer sozialer wie politischer Probleme von in Deutschland ankommenden Gast-
arbeitern identifizieren. Des Weiteren werden im Kern alltagsrassistische Situa-
tionen für komische Effekte benutzt, in denen zwar Darstellungen antiquierten
Verhaltens sowohl von Deutschen als auch von Türken dominieren. Auffällig
ist jedoch, dass die Deutschen jener Zeit lediglich als konservativ und spießig
skizziert werden, während die türkischen Gastarbeiter als rückschrittlich und
unzivilisiert in einem orientalistischen Sinne dargestellt werden.

Literatur
Almanya – Willkommen in Deutschland. Regie: Yasemin Şamdereli. Drehbuch:
Nesrin Şamdereli & Yasemin Şamdereli. Deutschland: Roxy Film 2011. 101
Minuten
Assmann, Aleida 2006: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur
und Geschichtspolitik, München: C. H. Beck
Augé, Marc 32012: Nicht-­Orte, München: C. H. Beck
Bayrak, Deniz & Sarah Reininghaus 2013: „Die Darstellung türkischer Migrati-
on zwischen Ort und Nicht-­Ort. Züge und Bahnhöfe in Sten Nadolnys Selim
oder Die Gabe der Rede und Emine Sevgi Özdamars Die Brücke vom Goldenen
Horn“, in: Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi. Studien zur Deutschen Sprache und
Literatur 1 (2013): 11–33
Bayrak, Deniz & Sarah Reininghaus 2016: „‚Was sind wir denn jetzt, Türken oder
Deutsche?‘ – die filmische Inszenierung von Interkulturalität in Almanya –
Willkommen in Deutschland (2011), Zeit der Wünsche (2005) und Zimt und
Koriander (2003)“, in: Cornejo & Schenk & Szabό (eds.) 2016: 168–200
Boog, Julia & Kathrin Emeis 2011: „Almanya oder Deutschland revisited: Der
Culture Clash im deutsch-­türkischen Kino – 50 Jahre später“, in: Ozil & Hof-
mann & Dayıoğlu-­Yücel (eds.) 2011: 165–182
Butzer, Günter & Joachim Jacob (eds.) 22012: Metzler Lexikon literarischer Sym-
bole, Stuttgart: Metzler
Chiellino, Carmine 2001: Liebe und Interkulturalität. Essays. 1988–2000, Tübin-
gen: Stauffenburg
Cornejo, Renata & Klaus Schenk & László V. Szabó (eds.) 2016: Zwischen Kulturen
und Medien. Zur medialen Inszenierung von Interkulturalität, Wien: Edition
Praesens
Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse, Kiel:
Ludwig
374 Deniz Bayrak & Sarah Reininghaus

Lotman, Jurij M. 1972: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink


Ozil, Şeyda & Michael Hofmann & Yasemin Dayıoğlu-­Yücel (eds.) 2011: 50 Jahre
türkische Arbeitsmigration in Deutschland, Göttingen: V & R unipress
Parr, Rolf 2012: „Eisenbahn  / Lokomotive  / Zug“, in: Butzer  & Jacob (eds.)
2
2012: 89–91
Thums, Barbara 2012: „Bahnhof “, in: Butzer & Jacob (eds.) 22012: 37
Alan Corkhill (Queensland)

Transiträume zwischen Einreise und


Abschiebung
Die Problematik der Asylbewerbung in H. Kutlucans
Ich Chef, Du Turnschuh und A. Maccarones Fremde Haut

Abstract: The plight of asylum-­seekers in contemporary Europe is a topical discourse in


both documentary and feature film. Two filmmakers from the German-­speaking world
who have achieved box-­office success in their sensitive portrayal of the harsh realities of
asylum-­seeking are the Turkish German director Hussi Kutlucan (1962-) and the German-­
born director Angelina Maccarone (1965-). This paper attempts to demonstrate via a con-
trastive reading of Kutlucan’s Ich Chef, Du Turnschuh (1998) and Maccarone’s Fremde
Haut (2005) how space, place and identity are negotiated both thematically and cinemato-
graphically within the physically confined mise-­en-­scène of the in-­between, makeshift loci
encountered by asylum-­seekers. The latter include the temporary abodes in which Kutlu-
can’s ‘on-­the-­run’ Armenian protagonist finds himself (e.g. the Berlin construction site,
the Hamburg digs he shares with other non-­nationals, or the flat in which a kindly Berlin
pensioner offers him refuge). In my appraisal of Maccarone’s movie about a persecuted
lesbian Iranian in mortal dread of deportation to the homeland, I explore the (heterotopic)
detention centre at Frankfurt am Main airport and the subsequent Swabian refugee centre
as prototypal sites for transitory encounters and their psychological and emotional reper-
cussions. In short, my reading of both films, which draws primarily on and exemplifies
Augé’s concept of non-­place, highlights important facets of the spatial/topographical turn,
albeit in the negative sense of displacement and entrapment, rather than in the positive
context of transnational mobility and transcultural identity-­formation.

Seit den 80er Jahren sind zahlreiche Dokumentarfilme zum Thema Asylsuche
in der BRD gedreht worden. Das Spektrum filmnarrativer Strategien reicht von
faktischer Reportage über kommentierende Berichterstattung bis zu Selbstäuße-
rungen befragter Insassen deutscher Asyl-­Unterkünfte. Exemplarisch für dieses
Filmgenre sind die Dokumentationen Zwischen Einreise und Asyl (Regie: Cine
Rebelde, 2005) und Land in Sicht (Regie: Judith Keil, 2013). Ebenso sehr haben
die Schicksale (illegaler) Flüchtlinge und (politischer) Asylanten in Westeuropa
über denselben Zeitraum das Interesse namhafter und weniger bekannter Spiel-
filmregisseure und -regisseurinnen mit und ohne Migrantenhintergrund erregt.
Bei der Aufarbeitung des Themenkomplexes Asylsuche wird selbstverständlich
weniger auf den längerfristigen Prozess der kulturellen Integration fokussiert als
376 Alan Corkhill

auf den tagtäglichen Überlebenskampf, mit dem die Inhaftierten bzw. die sich
auf der Flucht befindenden Illegalen konfrontiert sehen. Die Handhabung dieser
Problematik ist unterschiedlich – mal heiter und humorvoll, mal düster und pessi-
mistisch, aber immer zeitkritisch.
Zwei Filmemacher aus dem deutschsprachigen Raum, die wegen ihrer sensi-
blen und facettenreichen Behandlung des Themas Asylsuche mit Filmpreisen aus-
gezeichnet wurden, sind der türkisch-­deutsche Regisseur Hussi Kutlucan (1962-)
und die deutsch-­halbitalienische Regisseurin Angelina Maccarone (1965-). Im
Folgenden soll mittels einer vergleichenden Analyse der Asylanten-­Darstellung
in Kutlucans mal aberwitzigem, mal tragikomischem ZDF-­Film Ich Chef, Du
Turnschuh (1998) und in Maccarones viel ernsthafterem Spielfilm Fremde Haut
(2005) aufgezeigt werden, wie Raum und Identität sowohl begrifflich-­thematisch
als auch von der Kameraperspektive her innerhalb der jeweils begrenzten Mis-­
en-­Scène provisorischer Zwischenräume verhandelt werden. Die – meist aus dem
englischen Sprachraum stammende – Sekundärliteratur zu Maccarones Kino-
erfolg (bei Kutlucan liegen relativ wenige analytische Besprechungen vor) be-
schränkt sich bislang auf seinen Beitrag zur Sexualpolitik (cf. Lewis 2000) oder
auf seine Zuordnung zum Subgenre des Migrantenkinos (cf. Ponzanesi 2011)
und des Transgender-­Films (cf. Aaron 2012; Kuzniar 2012), ohne dass die ka-
meratechnischen Aspekte, die bestimmte dramaturgische Funktionen erfüllen,
in Einzelstudien beleuchtet würden.
Ich Chef, Du Turnschuh handelt von den bittersüßen Abenteuern Dudies,
einem Asylbewerber aus Armenien, wobei das politisch gefährliche und heikle
Thema des Massenmordes an den Armeniern 1915, das Kutlucans Kollege Fatih
Akin in seinem jüngsten Spielfilm The Cut (2014) anspricht, vermieden wird. Der
Regisseur spielt selbst die Rolle der genialen Candide-­Figur, eines „Schalknarren
[und] naiven Phantast[en]“, so die Jury des Grimme-­Preises (ZdF: 1), der zwar
regelrecht vom Pech verfolgt wird, doch als „ein unverbesserlicher Menschen-
freund“ (ibid.) stets eine jovial-­optimistische Lebenseinstellung an den Tag legt.
Auf einem Wohncontainerschiff in Hamburg gestrandet, erkauft sich Dudie seine
‚Freiheit‘ und flieht nach Berlin, um dort ein neues Leben anzufangen. Ein Afri-
kaner, ein Iraner und ein älterer Afghane geben ihm ein Bett in ihrer herunter-
gekommenen Ein-­Zimmer-­Absteige und verschaffen ihm schlecht bezahlte Arbeit
auf der Großbaustelle am Berliner Reichstag.
Schon der Filmtitel nimmt den herablassenden, fremdenfeindlichen Ton
vorweg, mit dem Dudies ausbeuterischer deutscher Vorgesetzter ihn anredet.
Dudie braucht viel Geld, um eine geschiedene deutsche Frau, die er in der Dis-
co kennengelernt hat, zu heiraten und auf diese Weise der trostlosen Aussicht
Transiträume zwischen Einreise und Abschiebung 377

auf Abschiebung in sein Heimatland zu entgehen. Die Blondine Nina wird aber
von ihrem eifersüchtigen Ex erstochen, und Dudie muss wieder durchbrennen –
diesmal mit dem verwaisten Kind Leo, das er inzwischen liebgewonnen hat.
Durch einen einfallsreichen Trick – Dudie verfasst eigenhändig ein Schreiben
des Bezirksamtes Kreuzberg – verschaffen sich beide ein neues ‚Asyl‘ bei einer
verwitweten Achtzigjährigen.1 Von Dudies Reizen angetan, ist sie bereit, ihn zu
heiraten und damit Vater und ‚Sohn‘ (alias Hassan) einen Aufenthalt auf Dauer
in Deutschland zu gewährleisten. Nachdem aber eine eifersüchtige Nachbarin
mit dem sprechenden Namen Zischke die Eindringliche bei der Polizei ange-
zeigt hat, werden sie für den befürchteten Einwegflug zurück in die Türkei nach
Schönefeld begleitet.
Ein Filmrezensent hat Kutlicans Erstlingswerk als eine „turbulente Komödie“
beschrieben, „aus einer Zeit, als Komödien über die ‚Ausländerproblematik‘ in
Deutschland noch auf wenig Verständnis stießen (Medienwissenschaftliche Ab-
teilung: 5). Zwar ist der Film voller Situationskomik und gelegentlicher Slapstick-­
Einlagen und Farce-­artiger Gags, dennoch halte ich das Etikett Tragikomödie für
eine akkuratere Genrezuschreibung, zumal die „alltäglichen Rassismen und die
Sturheit der deutschen Abschiebungsbürokratie“ (Nicodemus 2004: 342), das
Scheitern von Dudies Traum, das demokratische Deutschland zu seinem Adop-
tivland werden zu lassen, geschweige denn die brutale Mordtat, die ernsthaftere
sozialkritische Botschaft des Fernsehfilms ins schärfste Licht rücken.
Maccarones vierter Spielfilm Fremde Haut, dessen englischer Titel „Unveiled“
dem Gesamtsinn des deutschen Titels gar nicht gerecht wird, handelt von der
29-jährigen iranischen Dolmetscherin/Germanistin Fariba Tabrizi (gespielt von
Jasmin Tabatabai), die nach Deutschland flieht, nachdem sie von den Sitten-
wächtern ihrer Heimat als homosexuell entlarvt und mit der Todesstrafe be-
droht worden ist. In der Flüchtlingsunterbringung am Frankfurter Flughafen
(wie diese Einrichtung immer noch heißt) wird ihr Asylantrag abgelehnt, weil
ihre sexuelle Orientierung, die sie ohnehin geheim hält, keineswegs als Katego-
rie politischer Verfolgung gilt. In ihrer verzweifelten Lage eröffnet sich durch
den zufälligen Selbstmord eines Landsmannes ein dramatischer Ausweg – sie
nimmt seine Identität an und wird als Siamak Mustafai mit seiner vorläufigen
Aufenthaltsgenehmigung in die schwäbische Provinz umgesiedelt. Dort ver-
dingt „er“ sich illegal in einer Sauerkrautfabrik, hütet sich aber davor, als ge-
bildet aufzutreten. Jedoch wird er von den Kollegen nur halbherzig akzeptiert.

1 Kutlucan war selber „Mitglied der Hausbesetzer- und Punkszene“ (Nicodemus


2004: 342).
378 Alan Corkhill

Während Siamak auf neue gefälschte Papiere wartet, fühlt er sich unwider-
stehlich zu der allein erziehenden Mutter Anne hingezogen. Diese Gefühle
werden von dieser erwidert, die den Fremden erfrischend anders findet als die
kleinkarierten Schwaben, mit denen sie täglich zu tun hat. Die beiden lieben
sich. Doch inmitten einer heftigen Auseinandersetzung in Annes Wohnung
gegen Filmende telefoniert die erschrockene Tochter mit der Polizei. So er-
weist sich wie bei Kutlucan ein einfacher Anruf als Auslöser für eine ominöse
Schicksalswende, die Faribas Verhaftung und Abschiebung nach Teheran zur
Folge hat. Vielleicht ist dennoch ein Happy End vorstellbar, da Fariba kurz vor
der Landung sich in der Flugzeugtoilette einschließt, den neuen Pass aus dem
Stiefel zieht, die Frauensachen ablegt und als verkleideter Mann gelassen an
ihren Sitz zurückkehrt.
Einen theoretischen Ausgangs- und Bezugspunkt für eine kritische Auseinan-
dersetzung mit dem Spacial Turn in beiden Filmen bieten Marc Augés Haupt-
werk Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zur einer Ethnologie der Einsamkeit
(Augé 1994 a) und sein Aufsatz „Die Sinnkrise der Gegenwart“ (Augé 1994 b).
Obgleich der französische Anthropologe Auffanglager und Asylantenheime nicht
als spezifische Transiträume auflistet, stuft er dennoch „Flüchtlingslager“ und
„Durchgangslager“ generell als Nicht-­Orte ein, in welche „man all jene abschiebt,
denen Krieg, Unterdrückung oder Hunger sowohl den Raum als auch die Hoff-
nung genommen haben“ (Augé 1994 b: 38 f.). Augé erläutert nicht eingehender,
ob und inwieweit ein Lager sich von anderen von ihm benannten Nicht-­Orten
abgrenzt, allerdings ist zu vermuten, dass von heterotopischen Zwischenräumen
die Rede ist, die weder eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit noch eine
sichere Zukunft besitzen, sondern als gegenwartsfixiert konzipiert sind. In dieser
Beziehung schreibt Augé kategorisch: „So wie ein Ort durch Identität, Relation
und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität
besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen
Nicht-­Ort“ (Augé 1994 a: 92).
Einem Nicht-­Ort als solchem begegnet Kutlucans Hauptprotagonist in Form
des überfüllten Containerwohnheims am Hamburger Hafenbecken. Die hohen
Fluktuationsraten in dieser Transitstätte sprechen deutlich gegen das Zelebrieren
ethnischer Vielfalt, die eher von der Aufsichtsbehörde homogenisiert wird. So
verschieden sind die dortigen Ethnien, dass kurz nach der Ankunft der Inder
ein Streit wegen unterschiedlicher kulinarischer Präferenzen und Verbote sich
entzündet. Als müssten separate Identitäten und Geschichtstraditionen in einen
nivellierenden Schmelztiegel gegossen werden, schlichtet der ratlose und kulturell
unsensible Heimleiter den Streit folgendermaßen:
Transiträume zwischen Einreise und Abschiebung 379

Heimleiter: Was sollen wir denn machen? Moslem, Hindu. Der eine isst kein Rind, der
andere kein Schwein. Wo soll das hinführen? Ihr könnt froh sein, dass ihr überhaupt
etwas zu essen bekommt.

Kutlucan hält der albernen Spießigkeit des Beamten einen Spiegel vor, indem er
einen dabei stehenden gut gelaunten Afrikaner erwidern lässt:
Afrikaner: Hey, hey […]. Du einmal in mein Heimatland kommen. Ich Dich mit ge-
bratenen Ameisen füttern.
Heimleiter: Ameisen?! (begleitet von einem karikierenden Zoom auf seinen verzerrten
und angeekelten Gesichtsausdruck)

Das umgebaute Containerwohnheim ist die erste von drei provisorischen Un-
terkünften, die Dudie bezieht, bis seine Deportation am Filmschluss erfolgt. Ein
zweiter Nicht-­Ort, dem es an „Identität, Relation und Geschichte“ fehlt, ist die
heruntergewirtschaftete Berliner ‚Bleibe‘, die der Armenier mit anderen ausländi-
schen Schwarzarbeitern teilt. Seine letzte Fluchtstation, nämlich die Kreuzberger
Wohnung, in der die gutherzige und lebhafte Rentnerin mit dem politikgeschicht-
lich bedeutungsträchtigen Nachnamen Dutschke ihm Schutz vor dem Zugriff
der Abschiebungsbehörden bietet, ist ein richtiges, wenngleich provisorisches
‚Zuhause‘. Denn das Idyll ist nicht von Dauer.
Nichts zeigt deutlicher die ungewissen Aussichten der Asylbewerber als die
auf der Großbaustelle direkt vor dem Reichstagsgebäude gedrehten Szenen, in
denen schwarz gearbeitet wird. Die meisten Stadtlandschaftsaufnahmen sind
menschenleer. Eine von Kränen, Kratern und artifiziellen Sandhügeln bedeckte
Einöde dominiert die Skyline. Die Baustelle befindet sich symbolisch angesiedelt
zwischen deutscher Vergangenheit und deutscher Zukunft. Sie signalisiert gemäß
Michel de Certeaus Dichotomierung von espace (Raum) und lieu (Ort) einen Ort
der erinnerten Geschichte und der Kultur, der zu einem provisorischen espace
umfunktioniert worden ist und wiederum im Begriff ist, als bewohnter sozialer
Lebensraum (lieu) rekonstruiert zu werden. Doch baut man hier für eine Post-­
Wende-­Zukunft, an der wenige der Asylanten des Films teilhaben werden. Im
Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie dürfen Kutlucans Underdogs selten
ein privilegiertes Zentrum beanspruchen.
Die Problematik der Grenzüberschreitung, die bei Kultucan sowohl meta-
phorisch als auch buchstäblich dargestellt wird, nimmt in mehreren Episoden
territoriale Konturen an. Dudie pocht etwa auf seine territorialen Rechte, als
der streitsüchtige Chef der Baustelle ihn von seinem an den Berliner Tiergarten
grenzenden Grundstück zu verjagen versucht, woraufhin der Armenier, gleichsam
seinen Mann stehend, gelassen auf einen Trennungszaun deutet und somit einen
Scheinsieg davonträgt. Freilich sieht es aus, als ob Dudie und seine ausländischen
380 Alan Corkhill

Kollegen die Oberhand gewonnen hätten, als sie auf der Baustelle (wohlgemerkt
auf einer Anhöhe hockend) und nachher während einer Sit-­In-­Grillparty auf
einem für sich selbst eroberten Landstrich gegen die Nichtzahlung ihrer Tages-
löhne solidarisch protestieren. Kutlucan stellt in dieser Szene wie andernorts und
im Unterschied zu Maccarone das Thema Identität als die positive und fortschritt-
liche Überwindung von Fremdheit durch die Gestaltung und Bewahrung einer
transkulturellen Gruppenidentität dar. Doch scheitert die behagliche Illusion
kollektiver Ermächtigung nicht nur, weil früher eingereiste Kollegen mit Arbeits-
erlaubnis und Aufenthaltsgenehmigung wie der deutsch-­türkische Kollege Hassan
den Neuankömmlingen den Marschbefehl geben möchten, sondern auch, weil die
Polizei auftaucht und eine Hetzjagd inszeniert, die die Schwarzarbeiter erneut an
die Peripherie der Gesellschaft verbannt.
Dass das Leben dieser Vertriebenen und Asylsuchenden in sich immer mehr
verengenden Kreisen verläuft, weist die Kinematographie nach. Obwohl die Be-
nutzung von handgehaltenen Kameras, die zuweilen unstabile und unscharfe
Bilder produzieren, den Eindruck von dilettantischen Dreharbeiten hinterlässt,
ist der Überfluss an Nahaufnahmen im Film meines Erachtens strategisch be-
absichtigt. Eine Nahperspektive korreliert mit der Enge der Bewegungs-, Ver-
handlungs- und Wirkungsräume der politischen Flüchtlinge.2 Das Dilemma, sich
ständig in engsten Zwischenräumen oder Engpässen verstecken zu müssen, zeigt
sich beispielsweise an den Nah- und Langaufnahmen des Tiergartendschungels,
in denen Dudie und seine Kumpels verzweifelt Deckung vor ihren Verfolgern
suchen. Man denke auch an die Szene, wo Dudie sich – nach Art einer program-
matischen Bühnen-­Farce – in einen Schrank einschließt, als der Vermieter „mit
einem Herzen aus Eisblock“, so einer der Mitbewohner der Absteige, plötzlich
vor der Tür steht und sodann mit dem einfallsreichen Vorwand herauskriecht,
er habe drinnen pflichtbewusst zu Allah gebetet:
Vermieter: Was machst Du im Schrank?
Dudie: Ich habe gebetet.
Vermieter: Im Schrank?
Dudie: Ja, in meiner Religion betet man im Dunkeln. Ich wollte allein sein.

Gefilmt wird zunehmend aus der sog. Froschperspektive, einer Kameratechnik,


die mit Selbstermächtigungsverlust und einer sich vermindernden Bewegungs-

2 Einen ähnlichen Zweck verfolgt der Regisseur und Drebuchautor Stefan Ruzowitzky
in seinem 2007 gedrehten KZ-­Film Die Fälscher. Hier bedient er sich der Technik der
handgehaltenen Kamera beim Filmen der beengten Innenräume eines KZ, der hetero-
topischen Nicht-­Orte Foucaults.
Transiträume zwischen Einreise und Abschiebung 381

freiheit einhergeht. Von unten nach oben gedreht wurden etwa die Aufnahmen,
in denen Dudie, von Ninas Ermordung traumatisiert, in einer kurzen Albtraum-
sequenz in die Gesichter von vier aufgeregten Männerfiguren direkt über seinem
Kopf blickt, als läge er auf einem Operationstisch, und dann beim Erwachen hilf-
los zusieht, wie der Vermieter auf sein Bett hinabstarrt und wütend die Zahlung
der Mietschulden verlangt. Wenige Szenen zeigen Dudies Ohnmacht gegenüber
seiner Zwangsausweisung aus dem ersehnten Adoptivland zurück in die alte
Heimat brisanter als die von unten gefilmten Aufnahmen eines überlebens-
großen Jets auf dem Flugplatz sowie eines Stacheldrahtzauns, der den durchaus
illusorischen und provisorischen Charakter von Dudies Bewegungsfreiheit in
der BRD unterstreicht. Die einsetzende türkische Begleitmusik am Filmausgang
spricht für sich.
Wenden wir uns nun Maccarones Film zu, so bleibt der kompensatorische
Trost einer transkulturellen Gruppenidentität nahezu aus. Stattdessen verschärft
der Diebstahl einer männlichen Einzelidentität, demzufolge die iranische Über-
setzerin buchstäblich und metaphorisch in eine ‚fremde Haut‘ schlüpft, die fol-
genschwere Aporie intersexueller Ausrichtung. Im Hinblick auf die Frage des
Crossdressing merkt Alice Kuzniar zu Recht an, dass „transgender performance“,
die in anderen zeitgenössischen Schwulenfilmen oftmals eine Sache „of cele-
bration and queer pride“ ist, bei Maccarone eher problematisiert wird; denn:
„[for Fariba] cross-­dressing is not automatically a matter of personal decision,
volition, and agency, much less style“ (Kuzniar 2012: 258).
Ähnlich wie bei Kutlucan hat Maccarones Hauptfigur das Trauma und die
Ungewissheit mehrerer Nicht-­Orte zu bewältigen. Laut Faye Stewart Fariba
„crosses visible and invisible borders, inhabiting an in-­between space marked
by oppression and resistance. Much of the narrative unfolds in transitional
settings“ (Stewart 2012: 600). Selbstverständlich unterscheiden sich solche Tran-
sitorte von den flüssigen Zonen transnationalen Durchquerens, die beispiels-
weise in Akins Spielfilm Auf der anderen Seite (2007) als Experimentierfelder
für hybride Identitätsstiftung dienen. Schon im Flüchtlingsknast auf dem Frank-
furter Flughafen wird sich Fabriba als „In Orbit“-Insassin der beklemmenden
Enge der neuen Wohnverhältnisse und des damit verbundenen Mobilitätsver-
lustes bewusst, nicht zuletzt wegen des hohen Zaunes, der sie vom Flugverkehr
trennt. Auffälligerweise sind es die startenden Jets, die allen auf ein Dauervisum
Hoffenden die größte Angst einjagen. In einer Parallelsituation später im Film
löst der Anblick einer Schar abfliegender Zugvögel ähnliche gemischte Gefühle
von Sehnsucht nach der Heimat einerseits und Angst vor der Rückkehr anderer-
seits aus.
382 Alan Corkhill

Obgleich Augé in seiner Typologie von Nicht-­Orten die transitorischen, ja


identitätslosen Ankunfts- und Wartehallen von Flughäfen mit einbezieht,3 wie
Brigitte Nutz und Annette Stumpf (1994) in einer kulturanthropologischen Einzel-
studie zu Transiträumen mit besonderem Blick auf den französischen Ethnologen
aufgezeigt haben, bietet der Stand der Dinge im heterotopischen ‚Niemandsland‘
eines Flughafenlagers aus existenziellen und soziologischen Gesichtspunkten ei-
nen interessanten Kontrast zur Flughafeninfrastruktur selbst. Als Erstes fällt auf,
dass in Maccarones Auffanglager der Grad der „Vereinzelung“ (Nutz & Stumpf
1994: 91), den die Autorinnen als Begleiterscheinung der von ihnen nahegelegten
interpersonalen Kontaktarmut unter Flugzeugpassagieren der Übermoderne er-
kennen, kaum vorhanden ist. Kurzum, die mit Deportation bedrohten Heimat-
losen sind paradoxerweise kontaktfreudiger, weil sie die gleichen Hoffnungen auf
eine Ankunft ohne Abschied miteinander teilen. Nicht dass Maccarone sesshafte
‚Flüchtlinge‘ auf die Leinwand bringt, die dabei sind, sich heimisch einzurichten,
denn, wie Augé anmerkt: „Der Raum des Nicht-­Ortes schafft keine besondere
Identität, keine besondere Relation, sondern Einsamkeit […]“ (Augé 1994 a: 121).
Bei Kutlucan ist es dagegen so, dass sein zum Teil idealistisch-­eskapistischer Um-
gang mit der Asylanten-­Problematik dafür sorgt, dass Gesten gegenseitiger Hilfe
in einem Ambiente transkultureller Verständigung und Toleranz Gefühle der
Einsamkeit, Entfremdung und Abgrenzung gewissermaßen verdrängen.
Was Augé zeitkritisch als „den beschleunigten Verkehr von Personen“ (Augé
1994 a: 44) in einem ewigen Heute diagnostiziert, stellt eine zweite Verbindungs-
linie zwischen Flughafen und Durchgangslager her. Bei Kutlucan ist dieses un-
unterbrochene Durchschleusen von Eingereisten in der Vorspannaufnahme
augenfällig. Hier wird der Zuschauerblick auf einen ‚Sonderbus‘ voller Asylanten
aus dem indischen Subkontinent gelenkt, die bei der Ankunft vor dem Hamburger
Containerwohnheim zusehen, wie eine Gruppe von sofort Abzuschiebenden die
Landungsbrücke heruntergeschoben und eilig in ein gepanzertes Polizeifahrzeug
gepfercht wird.
Ein ähnliches Perpetuum Mobile herrscht in Maccarones Frankfurter Auffang-
lager, was Fariba dort die Bewahrung der Anonymität ermöglicht. Jedoch erfährt
ihre Grenzexistenz nach dem Transfer ins schwäbische Asylbewerberheim eine
zunehmende Problematisierung, und zwar kraft der oben erwähnten genderspezi-
fischen Grenzübertretung. Kurzum, die „zunehmende Verwischung der Grenzen

3 Der Spielfilm Terminal von Steven Spielberg aus dem Jahr 2004 eignet sich sehr gut
zur Anwendung von Augés Flughafen-­Theorie, denn der Film handelt von einem ost-
europäischen Heimatvertriebenen, der auf dem New Yorker JFK-­Flughafen auf Dauer
strandet, weil sein Land keinen diplomatischen Status mehr in den USA genießt.
Transiträume zwischen Einreise und Abschiebung 383

zwischen privatem und öffentlichem Raum“, die Stephanie Weiß (2005: 85) als
wesentlichen Bestandteil der Augéschen anthropologischen Kulturkritik der
Übermoderne identifiziert, gilt für Fariba, insofern jegliche Beeinträchtigung
ihrer Privatwelt die Gefahr der Entschleierung steigert. Paul Cookes Verweis auf
„the shifting ways in which she is positioned in relation to the camera gaze“
(Cooke 2012: 183) trifft auf Faribas Furcht vor der Preisgabe ihrer verschleierten
Persona zu, die sich filmtechnisch durch die dargestellte Enge der sich zuneh-
mend einschränkenden Raumparameter ausdrückt. So nimmt etwa die Kamera
recht geschickt auf, wie Siamak notgedrungen mitten in der Nacht in die Dusche
des Wohnheims schleicht, um einer Entlarvung (unveiling) durch die anderen
Männer zu entgehen. Noch stärker wird Siamaks Angst vor Verrat in der winzigen
fensterlosen Bordellbude, wo er sich gegen seinen Willen befindet, nachdem eini-
ge der Fabrikarbeiter „Ayatollah“ bzw. dem „mexikanische[n] Freund“ Annes, wie
sie ihn mokierend nennen, eine Stunde mit einer Prostituierten ‚spendiert‘ haben.
In der Tat stehen die vielen gefilmten Fenster, die keinen Panoramablick liefern,
sondern eher den Eindruck einer Welt draußen vermitteln, die mancher Asyl-
sucher sich nie zu eigen machen wird, symbolisch für die potenzielle Aussichts-
losigkeit der Asylsuche. Eine Vorwegnahme dieser Welt ohne Perspektive zeigt
sich bereits zu Filmbeginn in den Großaufnahmen der Kabine des aus Teheran
kommenden Flugzeugs, in der Fariba (notabene eine Sonnenbrille tragend) von
ihrem Fensterplatz aus nichts vom Luftraum draußen wahrnimmt. Interessant
ist in dieser Beziehung Augés Stellungnahme zur (selbst-) erlebten Hyperrealität
auf Langstreckenflügen:
Die Gegenwart der Reise materialisiert sich während der Langstreckenflüge auf einem
Bildschirm, auf dem von Minute zu Minute angezeigt wird, wo die Maschine sich gerade
befindet. Bei Bedarf erläutert der Kapitän in leicht redundanter Weise: „Auf der rechten
Seite können Sie Lissabon erkennen.“ In Wirklichkeit erkennt man gar nichts (Augé
1994 a: 122).

Als zweites treffendes Beispiel für das begrenzte Blickfeld der Protagonistin seien
die Fenster des Interviewzimmers im Frankfurter Auffanglanger angeführt, aus
dessen Doppelglasscheiben man den Flugverkehr nur entstellt und silhouettenhaft
wahrnimmt. Man denke weiter an die Sequenzen, in denen Fariba wie abgekapselt
von der Außenwelt hinter hochgekurbelten Autofenstern sitzt, sei es in verschie-
denen Polizeiwagen an der Flughafenperipherie oder im Auto eines Esslinger
Passfälschers oder im Pkw, in dem sie mit Anne und den Arbeitsfreunden durch
eine charakterlose Vorstadtlandschaft chauffiert wird. Nur in dem geschlossenen
Raum der Flugzeugtoilette auf dem ‚Heim‘-Flug nach Teheran wird ein Akt der
Selbstermächtigung vollzogen, denn Faribas
384 Alan Corkhill

final act of defiance against both the Iranian and German authorities is encapsulated in a
close-­up of the woman staring at herself in the mirror, having just put on the glasses that
complete her impersonation of the man. Rather than being the object of another’s gaze,
she is now both the subject and object of the image we see, controlling her own view of
the world (Cooke 2000: 184).

Seinerseits hat Kutlucan eine Vorliebe für das Filmen von fensterlosen Zimmern,
d. h. von Transiträumen ohne Aussicht im doppelten Sinne des Wortes. Kutlucan
filmt auch in engen Räumen, die entweder fensterlos sind (die Berliner Disko,
Ninas Etagenwohnung, die türkische Restaurantküche, in der Dudie Schwarz-
arbeit findet), mit Fenstern versehen sind, die kein Tageslicht einlassen (Dudies
schlecht beleuchtete Berliner ‚WG‘ mit ihren heruntergelassenen Jalousien) oder
die einfach den Blick nach draußen verwehren (die Milchglasscheiben des Ess-
zimmers im Containerwohnheim).
Resümierend kann man sagen, dass beide Filmemacher die Transiträume
zwischen Einreise und Abschiebung als physisch-­topographisch begrenzt dar-
stellen, wobei eine jeweils symbiotische Beziehung zwischen Kameraführung
und Filminhalt zu konstatieren ist. Die Kamera hat freilich in einem engen Raum
nicht viele Möglichkeiten, die Perspektive zu wechseln, weshalb Nahaufnahmen
bzw. Zoom-­Einstellungen von Mimik und Gestik überwiegen, die die mentalen
und psychologisch-­emotionalen Begleiterscheinungen eines Schattendaseins im
Limbo wirksam einfangen. Zugleich sind die gefilmten Zwischenräume als Akti-
ons- und Begegnungsräume zwischenmenschlicher Verständigung und Empathie
anzusehen, die den Asylsuchenden ihr ungewisses Grenz- und Übergangsdasein
weniger unerträglich machen. In dieser Hinsicht trifft auf beide Filme zu, was
Augé als das paradoxale Verhältnis von Ort und Nicht-­Ort versteht, wenn er aus-
führt: „In der Anonymität des Nicht-­Ortes spüren wir, ein jeder für sich allein,
das gemeinschaftliche Schicksal der Gattung“ (Augé 1994 a: 141).

Literatur
Aaron, Michele 2012: „Passing Through: Queer Lesbian Film and Fremde Haut“,
in: Journal of Lesbian Studies 16 (2012): 323–339
Augé, Marc 1994 a: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der
Einsamkeit (aus d. Französischen v. Michael Bischoff), Frankfurt a. M.: Fischer
Augé, Marc 1994 b: „Die Sinnkrise der Gegenwart“ (aus d. Französischen v. Mi-
chael Bischoff), in: Kuhlmann (ed.) 1994: 33–48
Cooke, Paul 2012: Contemporary German Cinema, Manchester: Manchester Uni-
versity Press
Transiträume zwischen Einreise und Abschiebung 385

Greverus, Ina-­Maria, Johannes Moser & Kirsten Salein (eds.) 1994: STADTgedan-


ken aus und über Frankfurt am Main, Frankfurt a. M.: Institut für Kulturanthro-
pologie und Europäische Ethnologie (= Kulturanthropologische Notizen 48)
Jacobsen, Wolfgang, Anton Kaes & Hans Helmut Prinzler (eds.) 22004: Geschichte
des Deutschen Films, Stuttgart / Weimar: Metzler
Kapczynski, Jennifer M. & Michael D. Richardson (eds.) 2012: A New History of
German Cinema, Rochester: Camden House
Andreas Kuhlmann (ed.) 1994: Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne,
Frankfurt a. M.: Fischer
Kutlucan, Hussi (Regie) 1998: Ich Chef, Du Turnschuh. ZDF-­Spielfilm (1998);
DVD (1999). Malita Film
Kuzniar, Alice 2012: „Diasporic Queers: Reading for the Intersections of Alterities
in Recent German Cinema“, in: Mueller & Skidmore (eds.) 2012: 245–266
Lewis, Rachel 2010: „The Cultural Politics of Lesbian Asylum. Angelina Mac-
carone’s ‚Unveiled‘ (2005) and the Case of the Lesbian Asylum-­Seeker“, in:
International Feminist Journal of Politics 12.3–4 (2010): 424–443
Maccarone, Angelina (Regie) 2005: Fremde Haut. MMM Film Zimmermann & Co
Medienwissenschaftliche Abteilung der Universität des Saarlandes (ed.): Culture
Clash. Migration und Kino in Deutschland, im Internet unter
http://www.uni-saarland.de/fak4/fr41/lohmeier/pdfs/filmreihen/cultureclash.pdf
[14.05.2014]
Mueller, Gabriele & James M Skidmore (eds.) 2012: Cinema and Social Change in
Germany and Austria, Waterloo: Wilfrid Laurier University Press
Nicodemus, Katja 2004: „Film der neunziger Jahre. Neues Sein und altes Bewußt-
sein“, in: Jacobsen, Kaes & Prinzler (eds.) 22004: 319–356
Nutz, Brigitte & Annette Stumpf 1994: „Zwischen Hier und Dort. Im Transitraum
des Frankfurter Flughafens“, in: Greverus, Moser & Salein (eds.) 1994: 75–91
Ponzanesi, Sandra 2011: „Europe in Motion: Migrant Cinema and the Politics
of Encounter“, in: Social Identities: Journal for the Study of Race, Nation and
Culture 17.1 (2011): 73–92
Stewart, Faye 2012: „22 October 2005. Winner of Hessian Award Fremde Haut.
Queer Dual Binaries of Sexual and National Identity“, in: Kapczynski & Ri-
chardson (eds.) 2012: 596–601
Weiß, Stephanie 2005: „Orte und Nicht-­Orte“. Kulturanthropologische Anmerkun-
gen zu Marc Augé. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde in Rheinland-­Pfalz e. V.,
Universität Mainz (= Mainzer Kleine Schriften zur Volkskultur 14)
ZdF (ed.): Das kleine Fernsehspiel. Zdf.Kultur, im Internet unter http://bong.tv/
lite/sendungen/2228677-ich-chef-du-turnschuh [10.10.2014]
Mahmut Karakuş (Istanbul)

Die Vielschichtigkeit der


Heimatvorstellungen in Martina Priessners
Film Wir sitzen im Süden (2010)

Abstract: Labour migration from Turkey to Germany since the 1960s has had various
consequences for Turkish migrants. Above all, the unification of Germany was one of the
most important factors influencing the life of Turks in Germany. In the beginning, Turkish
migrants went to Germany only for a limited period of time. However, many soon began
to realise that they would most likely stay in Germany on a permanent basis. And while
the first generation considered returning to Turkey having reached their retirement age,
the following generations grew up in Germany, but also developed close links to Turkey.
This phenomenon has impacted on the decision making of many migrants, leading to a
new form of migration process: the remigration from Germany to Turkey. Remigration
became the topic of various literary texts and films, like, for instance, Martina Priessner’s
documentary Wir sitzen im Süden (2010). The following article analyses the cinematic
narrative of the lives of four Turkish migrants in Priessner’s documentary, who decide to
return to Turkey for various reasons.

In einer Welt der transnationalen Migration, die zunehmend unvorhersehbare


Ausmaße angenommen hat, sind auch die Motive für die Migration sehr he-
terogen geworden. Eine dieser Migrationsformen ist die Arbeitsmigration von
der Türkei nach Deutschland, die seit den Anfängen der 1960er Jahre für die so-
genannten ‚Arbeitsmigranten‘ unterschiedliche Folgen gehabt hat. Die Migranten
haben seit der genannten Zeit differente Stadien durchlebt, die zwar einerseits mit
den Migranten selbst zu tun haben mögen, auf der anderen Seite jedoch auch mit
den Entwicklungen in Deutschland in Zusammenhang gebracht werden können,
wofür die Wiedervereinigung Deutschlands als ein paradigmatisches Beispiel
genannt werden kann. Die verschiedenen Entwicklungsstadien der Existenz der
Migranten in Deutschland haben für diese diverse Folgen gehabt. Die ersten
Arbeitsmigranten, die nach den geltenden Vereinbarungen zwischen der Türkei
und Deutschland vorerst als provisorische Arbeitskräfte nach Deutschland ge-
schickt wurden, wollten sich zunächst ausschließlich ihren beruflichen Tätigkei-
ten widmen, wofür sie eigentlich nach Deutschland gekommen waren. Allerdings
mussten sie nach kurzer Zeit einsehen, dass ihre Existenz in Deutschland keine
provisorische war. Mit dieser Einsicht erreichten sie ein weiteres Stadium ihrer
Existenz in Deutschland, dem sie nun gerecht werden mussten.
388 Mahmut Karakuş

Wenn man die Migrationsgeschichte der Türken nach Deutschland näher be-
trachtet, wird man erkennen, dass die Migration, die anfänglich eine Einbahn-
straße von der Türkei nach Deutschland war, im Laufe der Zeit, in der neue
Generationen von Migranten entstanden sind und das aktive Arbeitsleben der
ersten Migrantengeneration sich allmählich seinem Ende zuneigt, neue Formen
angenommen hat. In letzter Zeit spricht man daher neben der Migration auch
von einer gewissen Remigration bzw. Transmigration, die die ältere Generation,
aber auch und vor allem jüngere Generationen in ihren Bann gezogen hat, die
entweder mit ihren Eltern zusammen oder allein in die Türkei ‚zurückkehren‘.
Die betreffenden Personen kehren entweder für immer in ihre ‚Heimat‘ zurück
oder pendeln zwischen Deutschland und der Türkei hin und her, so dass für sie
sowohl die Türkei als auch Deutschland einen Bezugspunkt bilden. Denn „[d]ie
grenzüberschreitenden Verflechtungen zwischen den Orten der Herkunft, der
Ziele und der Weiterwanderungen, aber auch der Rückkehr sind integraler Be-
standteil von Migration“ (Faist, Fauser & Reisenauer 2013: 11).
Mit dem Leben der Migranten bzw. der ‚Remigranten‘ beschäftigt sich seit
geraumer Zeit die Literatur, die deutsche Literatur einerseits, aber auch die
deutsch-­türkische Literatur andererseits. Auch das Medium Film widmet sich
sowohl der Migrationsgeschichte als auch dem Leben der Migranten und der
Beziehung zwischen Türken und Deutschen. Einer der betreffenden Filme, der
am Beispiel von vier Lebensgeschichten die unterschiedlichen Schicksale der
in die Türkei zurückgekehrten bzw. zurückgebrachten oder zurückgeschickten
Deutsch-­Türken unter die Lupe nimmt, ist Wir sitzen im Süden (2010) von Mar-
tina Priessner. In diesem Beitrag wird es darum gehen zu zeigen, welche Formen
der Heimatvorstellungen bzw. des Gefühls der Zugehörigkeit im Film zur Dar-
stellung kommen und wie die Lebensgeschichten der betreffenden Menschen
im Film inszeniert werden.
Zunächst stellt sich die Frage nach dem Genre des Films, das nach Kuhn,
Scheidgen und Weber, die in dieser Hinsicht einen Artikel von Eggo Müller aus
dem Jahre 1997 zitieren, „[…] eine Gruppe von Filmen bezeichnet, die gekenn-
zeichnet sind ‚z. B. durch eine typische soziale oder geographische Lokalisierung,
durch spezifische Milieus oder Ausstattungsmerkmale, Figuren- und Konflikt-
konstellationen oder durch besondere Themen oder Stoffe‘ […]“ (Kuhn, Scheid-
gen & Weber 2013: 2). Der Film scheint, wenn man ihn in Bezug auf sein Genre
betrachtet, auf den ersten Blick ein Dokumentarfilm zu sein, der eine Zeit lang
den vier türkischstämmigen Remigranten in ihrem Alltag folgt. Dies sind der
30-jährige Bülent, der 39-jährige Murat, die 43-jährige Fatoş und die 33-jährige
Çiğdem, die vor Jahren in die Türkei zurückgekehrt sind und von denen jeder
Die Vielschichtigkeit der Heimatvorstellungen in Martina Priessners Film 389

oder jede eine andere Migrations- bzw. Remigrationsgeschichte hat. Sie werden im
Film eine bestimmte Zeit lang in unterschiedlichen Lebenssituationen von der Ka-
mera begleitet, so dass ein heterogenes Bild der Migration bzw. Remigration der
einzelnen Figuren entsteht. Man erkennt jedoch schnell, dass im Film neben den
realen Personen auch fiktive Figuren existieren, die von professionellen Schau-
spielern dargestellt werden. So spielt z. B. der renommierte deutsch-­türkische
Schauspieler Aykut Kayacık, der in zahlreichen Filmen, wie z. B.  Almanya  –
Willkommen in Deutschland mitgespielt hat, auch in Wir sitzen im Süden, und
zwar den Mitarbeiter von Çiğdem. Allerdings ist das Spielen nicht nur auf den
bekannten Schauspieler beschränkt. Es erscheinen im Film zahlreiche Figuren in
unterschiedlichen Rollen. Darüber hinaus erkennt der Zuschauer unschwer, dass
auch die Deutsch-­Türken, deren Lebensgeschichten im Film präsentiert werden,
im engeren Sinne des Wortes vor der Kamera ‚spielen‘. Wenn sie Stationen aus ih-
ren Lebensgeschichten rekapitulieren, so tun sie dies in einer strukturierten Form,
so dass der Leser den Eindruck bekommt, einer Geschichte in ihrer Sukzession
beizuwohnen. So betrachtet weist der Film auch fiktive Momente auf, die ihn
in einen Zwischenbereich zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven
rücken. Solche Filme, die „[…] das Phänomen der Kombination von Elementen
unterschiedlicher Genres in einem einzigen Film […]“ (Kuhn, Scheidgen & We-
ber 2013: 29) verschmelzen, werden Hybridisierungen oder Zwischenformen ge-
nannt. Wenn man die Zwischenformen zwischen fiktiven und dokumentarischen
Filmen betrachtet, so existieren auf der einen Seite des Spektrums Filme, die
dokumentarisches Material als stoffliche Grundlage von Fiktion benutzen, auf
der anderen Seite Filme, in denen Mittel der Fiktion in der Dokumentation zur
Darstellung kommen (Beil, Kühnel & Neuhaus 2012: 187 ff.). Die Autoren nennen
als wichtigsten Pionier dieses Genres Robert Flaherty (1884–1951), der „[…]
monatelang unter den Inuit [Eskimos] gelebt, Eindrücke gesammelt, schließlich
seine Dokumentation erstellt [hat]. Damals hatte Flaherty 17 Stunden Filmmate-
rial gedreht […]“ (Beil, Kühnel & Neuhaus 2012: 190). So gesehen kann der Film
von Priessner auch als eine Art Zwischenform angesehen werden, der zusätzlich
zum dokumentarischen Material, das nach den Angaben der Regisseurin in einem
Gespräch mit Istanbuler Germanistik-­Studenten vom 25. Dezember 2012 über
achtzig Stunden Filmmaterial umfasst, „[…] charakteristische Szenen […] nach-
stellen“ ließ (ibid.: 190). Ein solches Verfahren versucht, „[…] Wirklichkeit vor
der Kamera zu arrangieren und zu inszenieren.“ (ibid.) So beabsichtigt der Film
nach Dieter Krusche, der von Beil, Kühnel und Neuhaus zitiert wird, „[…] ‚das
Typische im Detail, das Allgemeine im Individuellen‘ […]“ (ibid.) zur Darstellung
zu bringen.
390 Mahmut Karakuş

Ähnlich verfährt auch das dokumentarische Theater, das vom dokumenta-


rischen Material ausgeht, „[…] authentisches Material […] übernimmt und
[…] dies im Inhalt unverändert, in der Form verarbeitet“ wiedergibt, wie Peter
Weiss, der wichtigste Vertreter des dokumentarischen Theaters, konstatiert (Weiss
1980: 91 f.). Er fügt hinzu: „Diese kritische Auswahl, und das Prinzip, nach dem
die Ausschnitte der Realität montiert werden, ergeben die Qualität der dokumen-
tarischen Dramatik“ (ibid.: 92).
Wenn das Genre des Films als eine Zwischenform oder als eine Hybridisie-
rung erscheint, dann kann– analog zu Erzähltexten – die Frage danach gestellt
werden, wie im Film eigentlich erzählt wird, wie es mit dem Erzählverhalten
bestellt ist. „Beim Gestaltungsprozess eines Films […] spielen sowohl nicht-­
kinematographische Codes [des Auditiven, MK] als auch der kinematographi-
sche Code [des Visuellen, MK] eine Rolle“ (Hurst 1996: 79). „Während der Film
auf seine nicht-­kinematographischen Elemente (Sprache, Geräusche, Musik)
durchaus verzichten könnte und trotzdem noch Film bliebe, wäre er ohne sein
kinematographisches Element (Bild) kein Film mehr“ (ibid.: 78–79). Daher do-
miniert im Film vor allem das auktoriale Erzählverhalten, das als das eigentlich
filmische Erzählverhalten bezeichnet wird, weil die „[…] photographische Re-
produktion des Sichtbaren, auf der filmische Produktion beruht, […] ihr die
Außenperspektive geradezu auf den Leib“ (Lohmeier 1996: 210) schreibt. Das
auktoriale Erzählverhalten erhebt also den Anspruch, „[…] Welt als eine un-
abhängig von den sie erlebenden Subjekten bestehende Faktizität gültig darstellen
zu können […]. [Dieser Anspruch, MK] liegt dem photographischen Bild von
Hause aus nahe, […]“ (ibid.: 210). Das auktoriale Erzählverhalten, das als ‚das
eigentlich filmische Erzählverhalten‘ bezeichnet wird, alterniert jedoch mit dem
personalen Erzählverhalten, auch wenn es nicht so intensiv vorzufinden ist wie
das auktoriale Erzählverhalten. Hier „[…] übernimmt die Kamera die Perspektive
einer der Figuren, sei es, indem sie sich neben oder schräg hinter sie stellt (so
dass die Figur im Anschnitt im Bild bleibt), sei es, indem sie sich ganz an ihre
Stelle versetzt (so dass die Figur aus dem Bild verschwindet) und das Geschehen
so vom Blickpunkt der Figur aus präsentiert“ (ibid.: 202).
Will man den Film Wir sitzen im Süden unter dieser Perspektive betrachten, so
wählt er aus der Unmenge des dokumentarischen Materials aus einer bestimm-
ten Perspektive aus und montiert es dann neu, so dass das Thema, das der Film
zur Darstellung bringen will, dem Zuschauer nahegebracht wird, wobei erneut
erwähnt werden soll, dass es sich bei den Figuren nicht ausschließlich um reale
Personen handelt. Allerdings soll in Bezug auf den Film Wir sitzen im Süden
konstatiert werden, dass er im Spektrum von Fiktionalität und Faktualität mehr
Die Vielschichtigkeit der Heimatvorstellungen in Martina Priessners Film 391

auf der Seite der Faktualität zu verorten ist. Jedoch muss hinzugefügt werden,
dass der Film auf der narrativen Ebene erneut eine Fiktionsebene aufbaut. Da
die Beschäftigten im Call-­Center in Istanbul für deutsche Firmen und für deut-
sche Kunden in Deutschland arbeiten, bekommen alle türkischen Beschäftigten
deutsche Pseudonyme. So heißt z. B. Bülent Ralf Becker, Fatoş hat das Pseudonym
Ilona Manzke. Auf die Frage der Kunden nach dem Standort der Firma geben sie
eine ungenaue Antwort, die man auch im Titel des Films erkennen kann, nämlich
„wir sitzen im Süden“. So verliert der Arbeitsort seinen eindeutigen Charakter;
er wird sozusagen suspendiert, was auch als ein relevantes Charakteristikum der
Fiktionalität angesehen wird.
Wendet man sich den Figuren im Film zu, so erfährt der Zuschauer, dass alle
vier Remigranten ihre Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, nämlich
ihre primäre Sozialisation in Deutschland erhalten haben. Fatoş und Murat sind
vor Jahren gegen ihren Willen von ihren Eltern in die Türkei gebracht worden.
Bülent ist aufgrund krimineller Handlungen in die Türkei abgeschoben worden.
Çiğdem jedoch hat sich freiwillig für eine Existenz in Istanbul entschieden. Wäh-
rend Fatoş, Bülent und Murat für deutsche Firmen wie Lufthansa, Neckermann,
Quelle in einem Call-­Center arbeiten, ist Çiğdem zunächst als Chefin in einem
Unternehmen beschäftigt, dann gründet sie ihre eigene Firma, wird selbständig,
bis sie schließlich zu einem Arbeitsgespräch nach Wien fliegt, zumal sie die dop-
pelte Staatsbürgerschaft besitzt. Sie beginnen nun, in Istanbul ein neues Leben zu
führen. Nach Jahren werden sie danach gefragt, wie sie sich in Istanbul fühlen,
welche Einstellung sie zu ihrer Vergangenheit in Deutschland haben. Damit man
Antworten auf die obigen, ihre Identität und Heimatvorstellungen tangierenden
Fragen bekommen kann, werden die vier Figuren in Istanbul von der Kamera
zwischen der Wohnung, dem Arbeitsplatz und dem Café begleitet, in dem fast
ausschließlich Remigranten verkehren und ihre Freizeit verbringen, wobei sie
als Kommunikationsmedium die deutsche Sprache vorziehen. Am Beispiel des
‚deutschsprachigen Caféhauses‘ scheinen sie die Situation mancher türkischer
Migranten in Deutschland auf den Kopf gestellt zu haben, die in ihrer selbst ge-
schaffenen Enklave fast ausschließlich nach ihrer traditionellen Lebensweise leben
und sich als Kommunikationsmedium auch nach Jahrzehnten der Existenz in der
Migration des Türkischen bedienen. Während die Remigranten den Arbeitsplatz
in einen suspekten Transitraum verwandeln, weil jeder Beschäftigte im Begriff
ist ihn zu verlassen, worüber hinaus er für die Kunden kaum zu lokalisieren ist
und an dem den Hauptgesprächsgegenstand die Suche nach einer Möglichkeit
zur Rückkehr nach Deutschland bildet, fungiert das Café, in dem Remigranten
verkehren, im wahrsten Sinne des Wortes als ein Transitraum, in dem jeder bzw.
392 Mahmut Karakuş

jede eine Zeit lang verweilt, um ihn dann wieder zu verlassen. Es sind Nicht-­Orte
im Sinne von Augé: „Eine Welt, […] in der die Anzahl der Transiträume und pro-
visorischen Beschäftigungen […] unablässig wächst“ (Augé 2012: 83). So gesehen
bilden sowohl das Call-­Center, das eigentlich das Sinnbild der provisorischen
Beschäftigung ist, als auch das deutschsprachige Café der Deutsch-­Türken in
Istanbul, in dem Menschen kurzfristig verkehren, im wahrsten Sinne des Wortes
Nicht-­Orte.
Sieht man sich die Figuren näher an, wird man mit einem differenzierten Bild
konfrontiert. Der Film beginnt mit der Vorstellung von Bülent durch eine be-
sondere Kameraführung, die an dieser Stelle die Funktion des auktorialen Erzäh-
lers übernimmt. Bülent bereitet sich in seiner Wohnung auf die Arbeit vor. Schon
hier wird der Zuschauer durch die auktoriale Perspektive der Kamera Zeuge der
dürftigen Verhältnisse, in denen sich Bülent befindet. Die Kamera fokussiert
nämlich auf bestimmte Gegenstände in der Wohnung, die seine mangelhaften
Verhältnisse unterstreichen. So benutzt Bülent z. B. einen gebrauchten Joghurt-­
Becher als Behälter für seinen Rasierschaum. Ferner wohnt er in Istanbul in einem
Vorort, in dem überall unfertige Häuser stehen. Auch das Haus von Bülent ist
ein unfertiges Haus, an dem er immer noch weiterbaut, während er schon darin
wohnt. Als er auf dem Weg zur Arbeit gezeigt wird, schwenkt die Kamera in
einer Weitaufnahme von der Straße auf den Stadtteil. Im Bild wird der Kontrast
innerhalb der Stadt deutlich erkennbar. Während im Vordergrund im Vorort
von Istanbul dicht nebeneinander stehende unfertige Häuser zu erkennen sind,
erscheinen im Hintergrund die Hochhäuser als Sinnbild des reichen Teils der
Stadt. Was dem Zuschauer durch den kinematographischen Code des Visuellen
vermittelt wird, korrespondiert auch mit dem nichtkinematographischen Code
des Auditiven, nämlich mit den Äußerungen von Bülent über seine Existenz in der
Türkei und darüber, wie er sich hier fühlt, welche Gefühle er Deutschland gegen-
über hat. Er befindet sich nicht gerade im reichsten Teil der Stadt, was mit für
sein Unwohlsein verantwortlich ist. Er bringt offen zum Ausdruck, dass er kurz
nach seiner Ankunft in der Türkei den Wunsch gehabt hatte, schnell wieder nach
Deutschland zurückzukehren, dass dies allerdings für ihn nicht mehr möglich
war. So betrachtet führt er, wenn auch imaginär, eine Art transitorische Existenz
zwischen Deutschland und der Türkei.
Allerdings wird der Zuschauer im weiteren Verlauf des Films Zeuge von Äu-
ßerungen Bülents über Deutschland bzw. über sein Leben in Deutschland, die
darauf hindeuten, dass er auch dort nicht gerade in paradiesischen Zuständen
gelebt hatte, dass er nicht mit den dortigen Lebensbedingungen zufrieden war.
Vor allem klagt er über die Diskriminierung der sogenannten ausländischen
Die Vielschichtigkeit der Heimatvorstellungen in Martina Priessners Film 393

Jugendlichen. Er war selbst in einer Jugendgruppe gewesen, die sich „Türkisch


Power“ genannt hatte und in der er sich mit seinen eigenen Worten „geborgen
gefühlt“ (44:10 ff.) hatte. Er betrachtet sie als seine „Familie“ (ibid.): „Ich war dort
zu Hause“, sagt Bülent in Bezug auf die genannte Jugendgruppe.
Die zweite Figur, die nach Bülent vorgestellt wird, heißt Murat und wurde,
genauso wie Fatoş, vor Jahren gegen seinen Willen von seinen Eltern in die Türkei
gebracht. Obwohl er seit Jahren in der Türkei lebt, möchte er lieber nach Deutsch-
land zurückkehren, was allerdings kaum mehr möglich ist. Von ihm stammt der
Satz, dass er aus seinem Leben in Deutschland „[…] rausgerissen […]“ (32:45 ff.)
worden ist. Deshalb versucht er, in Istanbul in seiner Wohnung mit Requisiten
aus Deutschland, mit deutschem Fernsehen usw. eine künstliche Deutschland-
atmosphäre zu schaffen. In diesem Sinne fügt er hinzu: „Ich habe in dieser Woh-
nung mein kleines Deutschland geschaffen.“ (49:40 ff.) Auch seine Existenz als
Remigrant weist transitorischen Charakter zwischen Deutschland und der Türkei
auf. Er lebt in einer Spannung, aus der seine Unzufriedenheit mit seiner Existenz
in der Türkei resultiert.
Hinzukommt, dass die Figur des Murat jemand ist, der sich zu seiner Homo-
sexualität bekennt und auch über die Schwierigkeiten redet, als solcher in Istanbul
zu leben. Er hat das Gefühl, dass er so nicht akzeptiert wird, dass seiner Lebens-
weise keine Achtung entgegengebracht wird (1:21:00 ff.). Auch in dieser Hinsicht
führt er eine transitorische Existenz. Diese zweite Form seiner transitorischen
Existenzweise potenziert die erste, weil er nach seiner Ansicht in seiner Existenz-
weise nicht respektiert wird, so dass er einen Grund mehr hat, den Wunsch zu
spüren, diese Umgebung zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren.
Fatoş, die dritte Figur, hat fast das gleiche Schicksal wie Murat. Auch sie ist von
ihren Eltern gegen ihren Willen in die Türkei gebracht worden, obwohl sie damals
achtzehn Jahre alt, also volljährig war. Sie hat ein distanziertes Verhältnis zu ihren
Eltern, weil sie vor der Migration nach Deutschland bei ihren Großeltern in der
Türkei gelebt hatte. Ferner hat Fatoş zu Deutschland eine persönliche Beziehung,
da sie dort ihre Kindheit bei deutschen Pflegeeltern verbracht hatte, weil beide
Elternteile arbeiteten. Daher spricht sie süddeutschen Dialekt, was ihr an ihrem
Arbeitsplatz Schwierigkeiten bereitet. Unter den vier Remigranten ist sie die Per-
son, die sich ausdrücklich zu Deutschland bekennt, wenn sie sagt: „Deutschland
ist meine Heimat“ (1:13:20). Sie betrachtet daher die deutsche Pflegemutter auch
als ihre Mutter und unterscheidet zwischen der deutschen und der türkischen
Mutter (1:15:00 ff.). Als sie zu Besuch nach Deutschland fährt, besucht sie zu-
nächst die Pflegemutter. Genauso wie bei Murat weist auch ihre Identität tran-
sitorischen Charakter auf, was in ihren Worten zum Ausdruck kommt, wenn sie
394 Mahmut Karakuş

sagt, dass sie in ihren Adern zwar türkisches Blut, in ihrer Seele jedoch Deutsch-
land hat, was symbolisch in den Personen der leiblichen und der Pflegemutter
zum Ausdruck kommt.
Die letzte Figur, Çiğdem, unterscheidet sich radikal von den übrigen drei Fi-
guren, weil sie eine Ausnahmestellung hat. Es muss hervorgehoben werden, dass
sie sich – im Unterschied zu den anderen Figuren – freiwillig für das Leben in
Istanbul entschieden hat. Ferner verfügt sie über die doppelte Staatsbürgerschaft,
so dass sie eine gewisse Bewegungsflexibilität im Unterschied zu den drei anderen
Figuren besitzt. Sie könnte also, wenn sie wollte, auch in Deutschland leben. Auch
von den Lebensstandards her scheint sie sich von den drei anderen Figuren zu
unterscheiden. Sie hat eine Wohnung am Bosporus. Beruflich ist sie relativ gut
situiert. Nicht nur in Bezug auf den Lebensstandard unterscheidet sie sich von
anderen Figuren. Sie hat auch eine differente Einstellung dem Leben in Deutsch-
land und in der Türkei gegenüber. Sie hat eine klare Vorstellung darüber, wie und
wo sie leben möchte. Auch wenn sie über ein elaboriertes Deutsch verfügen mag,
weigert sie sich, in der Türkei mit Türken in deutscher Sprache zu kommunizie-
ren, während die drei anderen Figuren in deutschsprachigen Kreisen verkehren
und untereinander Deutsch reden. Es ist eine bewusste Entscheidung von ihr.
Çiğdem bringt deutlich zum Ausdruck, dass sie sich zu Istanbul zugehörig und
sich dort geborgen fühlt. Sie möchte in der Türkei alt werden. „Jedes Mal, wenn
ich aus Berlin nach Istanbul kam, habe ich die gelben Taxis gesehen. Dann habe
ich gedacht: Ich bin zu Hause“ (0:20:50). Als ihre Heimat betrachtet sie Istanbul,
auch wenn sie gelegentlich ins Ausland reist, z. B. zu einem Arbeitsgespräch nach
Wien. Ihre Entscheidung, in der Türkei zu leben und, wenn nicht nötig, kein
Deutsch zu sprechen, könnte mit ihrem Zugehörigkeitsgefühl zusammenhängen.
Allerdings ist Çiğdem unter den vier Figuren diejenige, die sich zwar für das
Leben in Istanbul entschieden hat, deren Identität jedoch genauso wie die der
anderen drei Figuren transitorischen Charakter aufweist. Sie scheint eine Welt-
bürgerin zu sein, die in Istanbul leben, zu einem Arbeitsgespräch nach Wien
reisen und ihre Freizeit in Berlin verbringen kann.
Abschließend kann konstatiert werden, dass der Film ein heterogenes Bild
in Bezug auf die Heimatvorstellungen bzw. Zugehörigkeit präsentiert. Während
Çiğdem sich freiwillig für ein Leben in Istanbul entschieden hat, sind es die drei
Figuren Bülent, Murat und Fatoş, die von ihren Eltern oder von anderen In-
stitutionen „da rausgerissen“ (0:32:45 ff.) wurden. Zeichenhaft stehen dafür die
Pseudonyme der drei Figuren und der Name des Ortes, an dem sie sich befinden,
nämlich eine ungenaue Angabe, was auf ihre identitäre Vielschichtigkeit hindeu-
ten könnte. Während Çiğdem sich weigert, in Istanbul die deutsche Sprache zu
Die Vielschichtigkeit der Heimatvorstellungen in Martina Priessners Film 395

benutzen, obwohl sie über differenzierte Sprachkenntnisse im Deutschen verfügt,


und eine deutschsprachige Umgebung wie das ‚Café der Remigranten‘ meidet,
haben sich die anderen drei Figuren in Istanbul ein Ersatzdeutschland aufgebaut,
in dem sie sowohl in ihrem Arbeitsalltag als auch in ihrer Freizeit verkehren.
Wenn man mit Waldenfels argumentiert, ist Istanbul für die drei Remigranten der
Aufenthaltsort, „[…] an dem jemand länger oder kürzer, einmalig oder wieder-
holt, aus freien Stücken oder gezwungenermaßen weilt, sei es auf Reisen, auf
Besuch oder von Berufs wegen“ (Waldenfels 1990: 112). So betrachtet kann ein
solcher Ort nicht als Heimat in Frage kommen, da er „austauschbar“ ist (ibid.).
Waldenfels spricht im Kontext von Heimat von einem gewissen Lebensort, „[…]
wo ich zu Hause bin und mich zu Hause fühle, wo ich im vollen Sinne lebe als
einer, der eingewöhnt ist, und nicht nur eingeboren. […] Diesen Lebensort kann
ich nun in der Tat verlieren, er ist nicht austauschbar, […]“ (ibid.: 113). Waldenfels
löst den Heimatbegriff aus einem traditionellen Zusammenhang und verleiht ihm
einen vielschichtigen Charakter, der sich aus verschiedenen Aspekten zusammen-
setzt und nun als wandelbar erscheint. So bekommt dieser Heimatbegriff für die
Remigranten einen transitorischen Charakter, der eine Fixierung, eine Festlegung
auf etwas Bestimmtes nicht zulässt. In diesem Sinne betrachten die zwei Figuren
Fatoş und Murat Deutschland als ihre Heimat, wollen daher dort leben, wo sie
herausgerissen worden sind. Hinzukommt, dass Murat, der ein differentes Se-
xualverhalten aufweist als die Mehrheit, sich auch in dieser Hinsicht in Istanbul
nicht wohlfühlt, was er immer wieder unterstreicht. Dahingegen decken sich bei
Çiğdem Aufenthaltsort und Lebensort. Sie lässt sich jedoch nicht auf einen be-
stimmten Aspekt der Heimat fixieren, möchte ihre Freiheit bewahren, um nach
Lust und Laune den Ort ihrer Existenz zu bestimmen. Bei Bülent dagegen kann
man von einem zwiespältigen Verhältnis sowohl zur Türkei als auch zu Deutsch-
land sprechen. Während er die Türkei als einen Aufenthaltsort im Sinne von
Waldenfels betrachtet, an dem er sich eine neue Existenz aufbauen muss, ist für
ihn Deutschland in die Ferne gerückt, weil er aus rechtlichen Einschränkungen
nicht mehr dorthin zurückkehren kann, was er gerne tun würde, auch wenn für
ihn das Leben dort nicht immer problemlos war.
Die Lebensgeschichten bzw. die Einstellungen der vier Remigranten signali-
sieren, dass bei ihnen nicht von einer einheitlichen Einstellung sowohl gegenüber
Deutschland als auch gegenüber der Türkei die Rede sein kann. Ihr Verhältnis den
beiden ‚Heimaten‘ gegenüber ist ein differenziertes, was suggeriert, dass „[i]mmer
mehr Menschen […] sich [leisten], mehr als eine Heimat zu haben“ (Bausinger
2001: 133). Von dieser These ausgehend kann argumentiert werden, dass es nicht
sein kann, „[…] Heimat nach dem Geburtsschein rationieren zu wollen, und […]
396 Mahmut Karakuş

die Menschen auf ihre Herkunft festzulegen und klare Verhältnisse mit puren
Identitäten zu fordern“ (ibid.: 134). Daher kann in Bezug auf die Heimatvorstel-
lungen der Remigranten konstatiert werden, dass sie sich einer Zuschreibung in
dieser Hinsicht widersetzen, so dass behauptet werden kann, dass sie sich in einem
Transit zwischen den Ländern und Kulturen befinden.

Literatur
Augé, Marc 2012: Nichtorte, München: C.H. Beck
Bausinger, Hermann 2001: „Heimat und Globalisierung“, in: Österreichische Zeit-
schrift für Volkskunde, Neue Serie LV.104 (2001): 121–136
Beil, Benjamin, Jürgen Kühnel & Christian Neuhaus 2012: Studienhandbuch Film-
analyse, Paderborn: Wilhelm Fink
Faist, Thomas, Margit Fauser & Eveline Reisenauer 2013: Das Transnationale in
der Migration. Eine Einführung, Weinheim / Basel: Beltz-­Juventa
Hurst, Matthias 1996: Erzählsituationen in Literatur und Film, Tübingen: Max
Niemeyer
Kuhn, Markus 2011: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell,
Berlin / New York: de Gruyter
Kuhn, Markus, Irina Scheidgen & Nicola Valeska Weber (eds.) 2013: Filmwissen-
schaftliche Genreanalyse. Eine Einführung, Berlin / Boston: de Gruyter
Lohmeier, Anke-­Marie 1996: Hermeneutische Theorie des Films, Tübingen: Max
Niemeyer
Priessner, Martina 2010: Wir sitzen im Süden, Deutschland
Waldenfels, Bernhard 1990: „Heimat in der Fremde“, in: Bundeszentrale für po-
litische Bildung (ed.): Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven, Diskussions-
beiträge zur politischen Didaktik, Schriftenreihe Bd. 294/1 (1990): 109–121
Weiss, Peter 1980: Rapporte 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
Joachim Warmbold (Tel Aviv)

The Invisible Men:


Tel Aviv als Gegen- und Transitraum
für schwule Palästinenser

Abstract: Yariv Mozer’s documentary film The Invisible Men (2012) deals with a delicate
and fairly unknown subject: it depicts the life of gay Palestinians fleeing persecution and
punishment for their ‘otherness’ and their attempts at building a new, safer existence away
from home. The first stop for most of them is, perhaps not surprisingly, Tel Aviv, Israel’s
gay-­friendly metropolis. Yet, Tel Aviv does not offer a safe haven for gay Palestinians; at
best it presents a temporary hiding place and a transit stop on their long and complicated
quest for political asylum in a third country.

Alljährlich im Juni findet in Tel Aviv das sogenannte TLV-­Fest statt, die speziell
Tel Aviver Spielart einer andernorts oft unter der Bezeichnung LGBT – Lesbian,
Gay, Bisexual & Transgender – Festival bekannten Veranstaltung. Gut zehn Tage
lang feiert dann Tel Avivs kehila, so die hebräische Bezeichnung für community,
Gemeinschaft, in diesem Fall natürlich die gay community, sich und ihre Stadt
zusammen mit Tausenden von Besuchern aus dem In- und Ausland und unzäh-
ligen gay-­friendly ‚Heteros‘ als „the best gay city in the world“ – so American
Airlines im Jahr 2011 – , als „gay capitol [sic] of the Middle East“ (American
Airlines 2011).
Seit 2006 veranstaltet die Cinémathèque Tel Aviv im Rahmen dieser Veranstal-
tungen ein jeweils einwöchiges Gay Film-­Festival. Den Auftakt lieferte im Juni
2006 der israelische Filmemacher Eytan Fox mit seinem Melodrama HaBuah,
englisch The Bubble1, ein Titel, der sich im Deutschen wohl am ehesten mit dem
Begriff ‚Blase‘ oder auch ‚Vergnügungsblase‘ wiedergeben lässt. Eytan Fox hatte
bereits 2002 Furore gemacht, indem er die Liebesgeschichte zweier junger israe-
lischer Soldaten – Yossi und Jagger (so auch der Filmtitel2) – verfilmte. Mit Ha-
Buah sorgte Fox wiederum für Aufsehen, und zwar gleich zweifach: zum einen
zeichnet der Film ein bissig-­kritisches Panorama eben jener Blase, in der sich die
jungen, hippen Tel Aviver so wohl fühlen, zum anderen lässt Fox – wiederum
ein Novum in der israelischen Filmszene – einen arbeitssuchenden schwulen

1 Dt. 2006 The Bubble – Eine Liebe in Tel Aviv.


2 Dt. 2004 Yossi & Jagger – Eine Liebe in Gefahr.
398 Joachim Warmbold

Palästinenser und einen schwulen israelischen Reservisten im Schutz dieser Blase


eine intensive Liebesbeziehung ausspielen. Wobei schwerlich überrascht, zumal
wenn man sich der seinerzeit grassierenden Welle von Selbstmordattentaten er-
innert, dass Fox am Ende seines Melodrams Beziehung und Blase im wahrsten
Sinne des Wortes platzen lässt.
Auf der Folie des hier kurz Aufgezeigten gilt es nun den Dokumentarfilm The
Invisible Men3 des israelischen Regisseurs Yariv Mozer zu betrachten, mit dem
dieser 2012 debütierte und unverzüglich Beachtung, Anerkennung und eine Reihe
von namhaften Auszeichnungen, auch und gerade auf internationalem Parkett,
gewann.4 Auf Grund seiner Genrezuordnung feierte The Invisible Men allerdings
nicht auf dem TLV-­Fest-­Filmfestival 2012 Premiere, sondern auf der DocAviv,
dem ebenfalls alljährlich im Mai und ebenfalls in der Tel Aviver Cinémathèque
stattfindenden internationalen Dokumentarfilm-­Festival.
The Invisible Men ist ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Film.
Inhaltlich-­thematisch knüpft er eben gerade dort an, wo Eytan Fox mit HaBuah
sechs Jahre zuvor den Anfang machte: er schildert das Leben schwuler Palästi-
nenser auf der Flucht vor Verfolgung und Bestrafung für ihr ‚Anderssein‘ durch
die eigene Familie und die palästinensische Gesellschaft und ihre Versuche, im
‚gay-­friendly‘ Tel Aviv ein neues, sicheres Leben aufzubauen. Mozer begleitet drei
von ihnen über einen Zeitraum von zwei Jahren mit seiner Kamera: den 32 Jahre
alten Louie, zu Filmbeginn bereits seit acht Jahren in Tel Aviv; Abdu, 24jährig,
aus Ramallah, und Faris, 23 Jahre alt. Alle drei haben gute Gründe für ihre Flucht:
Louie ist von seiner weitverzweigten Familie für vogelfrei erklärt worden und
muss damit rechnen erschossen zu werden, sobald man seiner habhaft wird. Abdu
fiel dem palästinensischen Geheimdienst wegen seiner häufigen Tel Aviv-­Besuche
auf; er wurde verhaftet, verhört, gefoltert und der Spionage bezichtigt, um ihn
so als ‚Kurier‘ gefügig zu machen. Faris, zierlich, feminin und mit einer Vorliebe
für Makeup und ‚crossdressing‘, überlebte nur knapp eine Messerattacke seines
Vaters. Allen drei gemeinsam ist die Ausweglosigkeit ihrer Situation: als Paläs-
tinenser sind sie in den Augen der israelischen Behörden illegale Eindringlinge
ohne Recht und Aussicht auf eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis; werden sie
gefasst, müssen sie mit sofortiger Abschiebung zurück nach Palästina rechnen, –

3 Hebr. gevarim bilti nir-­im.


4 U.a. 2012 Special Jury Award, Doc Aviv; 2012 Best Documentary Feature Award,
Best Film Director, Reel Independent Film Extravaganza Washington DC.; 2012 Out-
standing Documentary Feature Award, Framleline 36 San Francisco International
LGBT Film Festival; 2013 Programmes Award for Feature Documentary, Sebastopol
Documentary Film Festival.
The Invisible Men 399

eine Praxis, die allen drei bereits mehrfach widerfahren ist. Von dort fliehen sie
bei nächstbester Gelegenheit zurück nach Tel Aviv – bis zur nächsten Festnahme
und Abschiebung. Diese Zwickmühlen-­Situation, die beständige Angst, entdeckt
und gefasst zu werden, zwingt sie, ein möglichst ‚unsichtbares‘ Dasein in Tel Aviv
zu fristen, als Invisible Men zu überleben: Louie schlägt sich als Gelegenheits-
arbeiter durch, Abdu findet zeitweise Unterschlupf bei Or, seinem israelischen
Freund und Partner, Faris versucht sein Glück bei einer Reihe von Freiern. Allen
drei gemeinsam ist schließlich die Hoffnung auf einen Neuanfang: im Tel Aviver
LGBT-­Beratungszentrum5 stellt man ihnen Ausweise aus, die im Fall einer Kon-
trolle zumindest bei einigen Ordnungshütern eine verständnisvollere Behandlung
versprechen; man erklärt ihnen die einzige wirkliche Option, die ihnen offen steht,
nämlich ein Asylantrag in einem Drittland; man hilft bei der Bewältigung der
bürokratischen Hürden, beim eigentlichen Anerkennungsverfahren und organi-
siert am Ende eine unbehelligte Ausreise. Wobei anzumerken ist, dass lediglich
Louie und Abdu diesen radikalen Schritt ohne Aussicht auf Rückkehr zu wagen
bereit sind; Faris, dem Jüngsten, fehlen dazu augenscheinlich noch der Mut und
das nötige Selbstvertrauen.
Bemerkenswert an Mozers Film ist freilich nicht nur die hier kurz skizzierte
Thematik. Mozers Entschluss, fast ausnahmslos Louie, Abdu und Faris selbst zu
Wort kommen zu lassen, nahezu das ganze Geschehen aus ihrer eigenen Per-
spektive wiederzugegeben, macht den Zuschauer gleichsam zum Augenzeugen,
eine Rolle, die nicht immer leicht fällt, und unterstreicht die Komplexität und Am-
bivalenz der Situation, der sich die Drei ausgesetzt sehen: einerseits die Erleich-
terung darüber, sich offen zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen und dieser
Orientierung gemäß handeln und leben zu können, andererseits das Gefühl des
Ausgegrenztseins, die Angst davor, entdeckt zu werden und die gerade gewonnene
Freiheit jederzeit wieder verlieren zu können. Was in Eytan Fox’ Spielfilm lediglich
ansatzweise zu erkennen war, „that double threat – of being gay in Palestine and
Palestinian in Israel“ (Krane & Mozer 2012), wird bei Mozer unmissverständlich
und kompromisslos ausgesprochen:
Much has been said about the plight of homosexuals in the Muslim world, yet those stuck
in the ghettos of the West Bank and Gaza suffers [sic] all the more. There, rumours about
sexual identity travel fast – and rapidly turn threats into serious physical harm: if their
families don’t find them first, the Palestinian secret service immediately accuses them of
cooperating with the Israeli secret service (that does in fact exploit gay Palestinians). For
that reason, these men have no choice but to escape illegally to Israel and to its most liberal
city, Tel Aviv. But even there they must continue to live double lives. With no address, no

5 Im Internet unter http://www.gaycenter.org.il.


400 Joachim Warmbold

passport or bank account, no real friends, no true lovers, Tel Aviv becomes their living
prison. To suffocate them further, Israel criminalizes anyone who provides these illegal
Palestinians with accommodation, employment, or transportation (Krane & Mozer 2012).

Weshalb in Verbindung mit eben diesem ‚outing-­hiding‘-Prozess Tel Aviv als


der ‚schwulen Hauptstadt des Mittleren Ostens‘ eine – wenn nicht sogar die –
Hauptrollenfunktion zukommt, liegt auf der Hand. Bezeichnenderweise ent-
fliehen Louie, Abdu und Faris dem heimischen Leiden gerade nicht Richtung
Amman oder Kairo, obschon beide Orte für Bürger der Westbank legal und ohne
großen bürokratischen Aufwand erreichbar wären. Denn weder hier noch dort
könnten sie sich ohne Furcht vor Repressalien ‚outen‘, wären sie vergleichsweise
sicher vor dem Zugriff der rachsüchtigen Verwandtschaft, fänden sie ein gut-
funktionierendes Netzwerk von Helfern, die ihnen – wiederum legal – einen
radikalen Neuanfang in einem Drittland ermöglichten. Dass sich ausgerechnet
Tel Aviv in den letzten Jahren für schwule Palästinenser auf der Suche nach einem
neuen Leben zum wenn nicht idealen, so zumindest temporär bestmöglichen
Transitort entwickelt hat, ist letztlich nur ein weiterer Hinweis darauf, welch
überaus vielschichtige, ja bisweilen paradoxe Konstellationen dem israelisch-­
palästinensischen Konflikt innewohnen.
So wie Mozers Film die Funktion Tel Avivs als ganz konkreter Transitort –
im Fall von Louie, Abdu und Faris für deren Flucht aus Palästina via Tel Aviv
Richtung Drittland – betont, öffnet er zugleich den Blick auf eine ganze Reihe wei-
terer Zuordnungsmöglichkeiten. Speziell die ‚Blase‘, diese sich ganz bewusst ab-
schottende, ich-­bezogene, kapitalistisch-­hedonistisch orientierte Alternativsphäre
ähnelt durchaus einer der Foucaultschen Heterotopien, einem jener „Gegenorte“
(Foucault 1967: 320) oder – wie Martina Löw hervorhebt – „Illusions- oder Kom-
pensationsräume […], der verdeutlicht, wo man nicht ist und damit offensichtlich
macht, wo man ist“ (Löw 2012: 165). In der Tel Aviver Blase können Louie, Abdu
und Faris Clubs besuchen, Partner finden, salopp gesagt ihre Träume verwirk-
lichen – doch stets in dem Bewusstsein, als Palästinenser auf der Flucht letztlich
nicht dazu zu gehören. Die Clubs, die Bars, der schwule Strand, ja selbst die
virtuellen Treffpunkte, die den Dreien in Tel Aviv offenstehen, haben ihrerseits
wiederum den Charakter von „Abweichungsheterotopien“ (Foucault 1967: 322),
im Fall des LGBT-­Zentrums könnte man mit Foucault sogar von einer „Krisen-
heterotopie“ (ibid.: 322) sprechen. Als eine weitere Unterkategorie, vielleicht als
eine „Abweichung einer Abweichungsheterotopie“, wäre wohl jene in Mozers
Film beschriebene ‚Arab Gay Party‘ einzustufen, die von israelischen Arabern
einmal monatlich in Tel Aviv an stets wechselnden Orten organisiert wird, die
nur mit persönlicher Einladung zugänglich ist, absolute Diskretion und Anony-
The Invisible Men 401

mität verspricht und damit auch und gerade all den arabischen Israelis, die aus
gesellschaftlichen, familiären oder persönlichen Gründen ein Doppelleben führen
wollen oder müssen, einen Gegenraum eröffnet, der weder in Nazareth noch in
Um al Fahem denkbar wäre, sondern einzig in der Tel Aviver ‚bubble‘-Welt.
In einer der eindrücklichsten und zugleich bewegendsten Szenen in Mozers
Film schildert Louie, wie sehr er sich im Laufe der Jahre an Tel Aviv gewöhnt
habe. Sein Hebräisch ist perfekt, er hat Freunde gefunden, er mag die Stadt, die
Leute, das Essen, er wäre glücklich wenn er bleiben dürfte, einer geregelten Arbeit
nachgehen, eine feste Beziehung eingehen könnte. Andererseits jedoch sehnt er
sich nach seinen Eltern und Geschwistern, die ausnahmslos alle den Kontakt
zu ihm abgebrochen haben. Er sehnt sich nach seinem früheren Zuhause, ver-
misst alte Freunde, denkt oft an die Vergangenheit. Einmal wöchentlich, jeweils
Freitagnachmittags, leistet er sich eine Taxifahrt: er bittet den Fahrer, ihn nach
Jaffa – dem Stadtteil Tel Avivs, in dem ein hoher Prozentsatz von Arabern lebt –
zu fahren, immer die Hauptstraße entlang, vorbei an einem ganz bestimmten
Restaurant, das im Straßenverkauf auch Schwarma, die arabische Version des
türkischen Döner oder griechischen Gyros, anbietet. Das Restaurant gehört einem
seiner Onkel – wie nicht selten der Fall, lebt ein Teil von Louies Familie in Paläs-
tina, ein Teil in Israel – , und Louie malt sich aus, wie gut eine Pita mit Schwarma
bei seinem Onkel schmecken würde, wie schön es wäre, zusammen mit seinem
Onkel einen Kaffee zu trinken, Nachrichten von der Familie zu hören, einfach
nur zusammen zu sitzen. Aber Louie lässt nicht anhalten. Er lehnt sich vielmehr
weit in seinem Sitz zurück, wendet sich vom Fenster ab, sodass man ihn nicht
von außen erkennen kann, bittet den Fahrer, schnell weiter zu fahren. Er weiß,
sein Onkel würde ihn auf der Stelle erschießen, wenn er sich ihm zu erkennen
gäbe. Um die Schande, einen homosexuellen Neffen zu haben, zu tilgen. Um die
Familienehre wieder herzustellen. Jede Woche wiederholt sich für Louie dieses
‚Wiedersehen‘, die Fahrt nach Jaffa, die Vorbeifahrt, die Rückfahrt. Jedes Mal endet
die Fahrt mit Schmerz und Depressionen.
Man sollte meinen, dass unter derlei Umständen ein Asylantrag leicht zu unter-
schreiben sei. Doch fällt keinem der Betroffenen die Entscheidung leicht. Tel Aviv
als Gegen- und Transitraum, die gelegentlichen Abschiebungen nach Palästina
eingeschlossen: daran hat man sich gewöhnt und damit versteht man umzuge-
hen. Diesen gewohnten Raum endgültig zu verlassen, an einem neuen, gänzlich
unbekannten Ort heimisch zu werden, ein neues Leben aufzubauen und dazu
die Gewissheit, nie wieder zurückkehren zu können: das bedeutet eine weitere
Herausforderung, der, wie anfangs angedeutet, Faris nicht gewachsen ist, mit der
aber auch Abdu und Louie zu kämpfen haben. Im Fall von Louie geben die Angst
402 Joachim Warmbold

vor der unberechenbaren Familie und die Einsicht, dass ein ‚unsichtbares‘ Leben
auf die Dauer unmöglich ist, den Ausschlag zur Unterschrift. Bei Abdu sind es die
Erkenntnis, dass er außer seinem Leben nichts zu verlieren hat und der Wunsch,
als Journalist zu arbeiten, um über die Lage homosexueller Araber aufzuklären.
Die Wartezeit, verbunden mit quälender Ungewissheit, verändert auch den Blick
der beiden Antragsteller auf Tel Aviv. Einerseits werden Erinnerungen, Fixpunkte
gesucht, die das Einleben in der Fremde erleichtern könnten; andererseits gibt es
auch Versuche, Erinnerungen zu tilgen, Gewohnheiten zu ändern, den Prozess
der Ablösung einzuleiten. Die Rolle des Gegenraums übernimmt mehr und mehr
das bevorstehende Exil. Die letzten Monate in Tel Aviv gleichen immer deutlicher
einem – um mit Miriam Kanne zu sprechen – „Aufenthalt im Unspezifischen, im
Provisorischen, im Übergang, im Dazwischen, im Anders- oder (N)Irgendwo“
(Kanne 2013: 18).
Abdu und Louie haben in gewisser Weise Glück: beiden wird vom selben
Land Asyl gewährt – um welches Land genau es sich handelt, verschweigt der
Film bewusst, um die zwei vor möglichen Nachstellungen zu schützen – , und
mehr noch: beide kommen zunächst im selben Ort unter. Sie, deren Wege sich
in Tel Aviv womöglich nie gekreuzt hätten, wären sie nicht von Mozer im Zu-
sammenhang mit dessen Filmprojekt angeworben worden, haben nun wenigs-
tens durch die Gegenwart des Anderen eine Hilfe beim Eingewöhnen in der
neuen Umgebung. Die Sprache, die dort gesprochen wird, ist beiden fremd.
Der Winter mit Eis und Schnee ist ebenso ungewohnt wie die Lebensweise der
Bewohner. Indem Mozer Louie und Abdu mit seiner Kamera bis ins Exil folgt
und ihnen dadurch Gelegenheit gibt, ihre Eindrücke, Empfindungen und Re-
aktionen auch im Exil zu dokumentieren, zwingt er zugleich die Zuschauer, die
Auseinandersetzung mit dem Thema nicht einfach abzubrechen. Wer sich in
dem Glauben wiegte, mit der Ausreise aus Israel hätten Louie und Abdu ihre
die Sorgen und Nöte hinter sich gelassen, wird rasch eines Besseren belehrt.
Heimat, das machen die Äußerungen der beiden unmissverständlich klar, wird
das Exil nie werden. Beide leiden unter Heimweh – nach Palästina, aber auch
nach Tel Aviv. Die ursprüngliche Heimat wird aus der Exilperspektive folglich
wiederum zur Gegenwelt, der ehemalige Transitraum Tel Aviv zum Fixpunkt
ihrer Wünsche und Träume. Ja es scheint, als nehme der neue, fremde Ort, in
dem sie sich nunmehr sicher, aber einsam und unglücklich fühlen, in ihrem
Verständnis die Züge eines weiteren Transitraumes ein. Für Abdu, von jeher ent-
schlussfreudiger und pragmatischer als Louie, ist bereits nach wenigen Wochen
klar, dass er weiter will, in eine große Stadt, er will Menschen, Leben, etwas
lernen, seinen Wunsch, Journalist zu werden, realisieren. Louie bittet Mozer
The Invisible Men 403

darum, seine Tel Aviver Freunde zu Anrufen, zu Chats per Skype zu ermuntern,
er sehnt sich danach, Arabisch und Hebräisch zu hören, zu sprechen, seine
Gefühle und Gedanken mit anderen zu teilen. Auch er wird es nicht lange dort
aushalten, wohin ihn sein Asylgesuch verschlagen hat, auch für ihn bedeutet sein
neuer Status als anerkannter Flüchtling letztlich nur wiederum ein – wie es bei
Kanne heißt – „provisorischer Status“ (Kanne 2013:14).
Wohl nicht von ungefähr erschien exakt drei Monate nach der israelischen
Premiere von The Invisible Men im ZEITmagazin unter dem Titel „Wir Kinder im
Busbahnhof “ eine ausführliche Reportage zu eben derselben Thematik (Schaap
2012), die Mozer in seinem Film dokumentiert. Dass der ZEIT-­Autor Fritz Schaap
mit keinem Wort auf den Film verweist, befremdet, denn sein Tätigkeitsbereich ist
u. a. der Nahe Osten, was dafür spricht, dass er den Film kannte. Zudem liegen die
Parallelen auf der Hand: Schaap schildert das Schicksal eines 28-jährigen homo-
sexuellen Palästinensers aus Hebron, genannt Saleh, der auf der Flucht vor seiner
Familie in Tel Aviv Unterschlupf gefunden hat und mit Hilfe von Prostitution
und Drogenhandel zu überleben versucht. Im Unterschied zu Mozer, der seine
Protagonisten selbst sprechen lässt, gelegentlich Fragen stellt, aber prinzipiell auf
eigene Kommentare verzichtet, bietet Schaap seinen Lesern fast ausnahmslos
Impressionen und Eigenkommentare in Form von Sensationsjournalismus, eine
Reportage, die eindeutig auf Schockwirkung angelegt ist, was wohl auch die An-
spielung im Titel auf den Bestseller Wir Kinder vom Bahnhof Zoo erklärt.6 „In
der untergehenden Sonne taumelt ein Junge, höchstens fünfzehn, eine Nadel in
der Ellenbeuge, bis er irgendwann stürzt“ (Schaap 2012: 1): Atmosphäre scheint
Schaap leider wichtiger als Fakten, und auch seine Neigung zu stilistischen Fehl-
griffen – wie z. B. in „Die Fragen fliegen wie Drohungen über den Müll, der überall
herumliegt“ (ibid.) – irritieren. Gleichwohl ist Schaap hoch anzurechnen, dass er
überhaupt die Problematik aufgreift und mittels ZEITmagazin einem breiteren
deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Wobei Schaap, und auch hierin
folgt er Mozer, augenscheinlich bemüht ist, nicht lediglich die Homophobie,
die „archaischen Regeln“ (Schaap 2012: 3) auf palästinensischer Seite gegen Tel
Aviv als „die Stadt der Träume, wo sich Männer auf der Straße ungestraft küssen
dürfen“ (ibid.) aufzuwiegen und die Bemühungen israelischer freiwilliger Helfer
hervorzuheben. Auch mit gezielter Kritik hinsichtlich der offiziellen israelischen
Asylpolitik gegenüber geflohenen homosexuellen Palästinensern hält Schaap
nicht zurück:

6 Erschienen als Stern-­Buch 1978, Filmversion 1981 unter dem Titel Christiane F. – Wir
Kinder vom Bahnhof Zoo.
404 Joachim Warmbold

Israel gibt sich Schwulen gegenüber offen, jedoch nicht, wenn sie Palästinenser sind.
Ein Asyl für Palästinenser schließt Israel kategorisch aus. Egal ob zu Hause Folter oder
Tod drohen. […] Nur bei ganz wenigen Palästinensern haben sich die UN eingeschaltet
und für Asyl in einem Drittland gesorgt. Aber im Großteil der Fälle kooperiert das UN-­
Flüchtlingsbüro in Jerusalem mit Israel – und wehrt sich nicht gegen die Asylpraxis für
Palästinenser (Schaap 2012: 2).

Und doch zeigt gerade dieses Zitat nur einmal mehr, dass die ZEITmagazin-­
Reportage letztlich entscheidende Fragen lediglich anschneidet anstatt zu beant-
worten. Denn warum Asyl für Palästinenser von Israel kategorisch ausgeschlossen
wird, bleibt ebenso offen wie der Grund für das zweifelhafte Verhalten des UN-­
Flüchtlingsbüros. Mozers Film erweist sich in Bezug auf derlei Zusatz- bzw. Hin-
tergrundwissen als eindeutig informativer und nuancierter und bietet hierüber
hinaus freien Zugriff auf Interviews, Pressestimmen sowie eine Reihe geschnit-
tener Szenen über die filmeigene Homepage.7
Die fraglos wichtigste Informationsquelle zur Thematik stellt der von Michael
Kagan und Anat Ben-­Dor verfasste und im April 2008 veröffentlichte 49-seitige
Bericht mit dem Titel Nowhere to Run. Gay Palestinian Asylum-­Seekers in Israel
dar. Der Bericht ist als pdf-­Datei verfügbar; Mozers Webseite bietet einen direkten
Link; von Schaap wird lediglich Anat Ben-­Dor als Verfasserin erwähnt, Titelanga-
be und ein Link fehlen. Neben der detaillierten Wiedergabe von Aussagen Be-
troffener bietet der Report eine ausführliche Situationsbeschreibung, Erklärungen
zur Rechtslage sowohl aus nationaler (israelischer) wie internationaler Sicht sowie
klare Empfehlungen zur Implementierung einer menschenwürdigen Asylpraxis
unter besonderer Berücksichtigung der politischen bzw. bevölkerungspolitischen
Bedenken seitens der israelischen Behörden einerseits und der bestehenden in-
ternationalen Verpflichtungen, auch seitens des Flüchtlingskommissariats der
Vereinten Nationen UNHCR8, andererseits. Kagan und Ben-­Dor lassen an der
Zielsetzung ihres Berichts keinen Zweifel:
We publish our findings first because we believe it is essential that attacks against gay
men in the occupied Territories be properly reported, and second because we believe
that individuals who might be tortured or killed should not be forced to wait for peace
to arrive in the Middle East simply to be able to ask for asylum in Israel. Both legally and
politically, asylum should be non-­political (Kagan & Ben-­Dor 2008: 6).

7 Bei Abfassung dieses Beitrags war die Webseite noch direkt verfügbar unter: www.
theinvisiblemen.com; zum Zeitpunkt der Drucklegung jedoch ist kein Zugang mehr
möglich. Alternativ sei daher hier auf die neue Homepage verwiesen: http://www.
mozer-films.com.
8 United Nations High Commissioner of Refugees.
The Invisible Men 405

Obgleich der Bericht sowohl auf palästinensischer als auch auf israelischer Sei-
te „severe human rights violations“ (Kagan & Ben-­Dor 2008: 4) konstatiert
und ausdrücklich betont, „that the plight of gay men should have little direct
relevance on any of the contentious issues of the Israeli-­Palestinian conflict“
(ibid.), überrascht es keineswegs, dass Autoren wie Report auch und gerade
von so genannten ‚anti-­pinkwashing‘-Aktivisten instrumentalisiert werden.
Die ‚Pinkwatching‘-Bewegung, nach eigenem Verständnis „a Global Move-
ment for Queer-­Powered BDS“9, kritisiert die angeblich von der israelischen
Regierung geförderten Bemühungen, „Palestinian and Arab societes as back-
wards, repressive and intolerant“ darzustellen und Israel selbst als „harmless,
liberal, gay-­friendly playground“ (Pinkwatching Israel). Die Kampagne liefert
gewiss in mancher Hinsicht lohnende Ansatzpunkte für kritische Überlegungen
hinsichtlich der Vermarktung Tel Avis als „gay capital of the Middle East“;
die Aggressivität, Selbstgerechtigkeit und Unausgewogenheit der Sichtweise
der Bewegung disqualifiziert ein Gutteil der präsentierten Argumente freilich
von vornherein.10 Wenig überraschend daher, dass auch Mozers The Invisible
Men gezielt angegriffen wurde bzw. wird. Da der Film inhaltlich-­thematisch
schwerlich Angriffsflächen bietet, wird von den Aktivisten die partielle finan-
zielle Förderung des Filmprojekts durch staatliche israelische Stellen gerügt;
Mozers Einwand, dass ohne entsprechende Geldmittel der Film nie hätte ver-
wirklicht werden können und dass staatliche Gelder in Israel durchaus auch
regierungs- bzw. staatskritischen Projekten zugesprochen würden, wird freilich
von seinen Kritikern nicht akzeptiert. Ein geschickt zusammengeschnittener
Film-­Clip vermittelt den Eindruck eines hilflos-­hysterisch reagierenden Mo-
zer, der den Argumenten seiner Kritiker in keiner Weise gewachsen ist; das in
jeder Hinsicht unbefriedigende, ja eigentlich nur traurige Spektakel – traurig
weniger für Mozer als für die das Schicksal Louies, Abdus und Faris’ teilenden
Palästinenser – ist auf You Tube unter Yariv Mozer: What Does He Really Think
About Palestinians and Israel? abrufbar (Anonym 2012). Selbstverständlich fehlt
es auch nicht an vehementen Kritikern der „anti-­pinkwashing“-Kampagne;
um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier auf Tyler Lopez (2014) und seinen im
Slate-­Magazine publizierten Beitrag „Why #Pinkwashing Insults Gays and Hurts
Palestinians“ verwiesen.

9 Cf. pinkwatchingisrael.com; BDS: Boycott, Divestment and Sanctions Movement.


Pinkwatching nennt sich die Bewegung, die sich gegen pinkwashing wendet.
10 Für eine vergleichsweise noch gemäßigte Kritik vgl. z. B. Sarah Schulman (2011) in der
New York Times.
406 Joachim Warmbold

Mozer selbst reagierte nach der Premiere seines Films in Tel Aviv gelassen auf
die Frage, ob The Invisible Men nicht womöglich Angriffsflächen für die „anti-­
pinkwashing“-Bewegung liefere und antwortet ähnlich wie in seinem Gespräch
mit Scott Krane, „I just donʼt see the connection between gay rights and the
occupation“ (Krane & Mozer 2012). Wie immer man zu dieser Aussage stehen
mag, das große Verdienst Mozers besteht ohne Frage darin, The Invisible Men
seines Films nicht nur in aller Deutlichkeit sichtbar werden zu lassen, sondern
zugleich über die Einzelschicksale von Louie, Abdu und Faris hinaus an die
Schicksale von Homosexuellen im Nahen und Mittleren Osten ganz allgemein
zu gemahnen. Der Transitraum Tel Aviv mit seiner ortsspezifischen ‚bubble‘
mag insofern speziell sein, als er in seiner Eigenschaft als Gegen- und Tran-
sitraum gerade für schwule Palästinenser eine ganz besondere Rolle spielt. Doch
bleibt unbestritten, dass unzähligen arabischen Homosexuellen ein derartiger
Transitraum gar nicht erst zur Verfügung steht, dass eine Anerkennung durch
die UN-­Flüchtlingskommission und damit auch die Aufnahme in einem Dritt-
land außer Frage steht. Auch wenn Schaap in seiner ZEITmagazin-­Reportage
die Freunde Mahmud und Saif und „Massoud, die erste Dragqueen“ Ramallahs,
„dem kulturellen Zentrum des Westjordanlands“, mit der Aussage zitiert, „seit
zwei Jahren ist es okay, in Ramallah schwul zu sein“, so wird doch sogleich
einschränkend betont, dies gelte „natürlich nicht für alle“; entscheidend sei
vielmehr, dass man zur „Oberschicht“ gehöre und „der Privilegierte“ einen
gewissen Schutz genieße (alle Zitate hier: Schaap 2012: 10). Mahmud gibt zu:
„Wir leben in einer Art Blase“ (ibid.); auf Schaaps Frage, was wäre, wenn diese
Blase platzte, ob er fliehen würde, „wenn es Ärger gibt“, antwortet Mahmud:
„Fliehen, nein, fliehen würde ich nicht. Ich bin doch Palästinenser!“ (Ibid.) Es
spricht für Schaap, dass er dieser Aussage relativierend hinzufügt: „Das Elend,
in dem Saleh lebt, scheint ihm fern. Vom alten Busbahnhof in Tel Aviv hat er
nie gehört“ (ibid.).
Ob ‚bubble‘ oder ‚Blase‘, ob Tel Aviv oder Ramallah, für schwule Palästinen-
ser sind und bleiben die Aussichten auf ein Leben in Offenheit, Würde und
Sicherheit, auf eine ‚gay liberation‘ selbst in bescheidenen Ansätzen weiterhin
deprimierend schlecht. Um mit Mozer zu schließen: „Abdu said a smart thing
during one of our last screenings: the day the Palestinian people will liberate
themselves, they will be liberated from the occupation. It’s a radical thing for
a Palestinian to say but it is the smartest conception of the conflict“ (Krane &
Mozer 2012).
The Invisible Men 407

Literatur
Foucault, Michel 1967: „Von anderen Räumen“, in: Jörg Dünne & Stephan Günzel
(eds.) 72012: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissen-
schaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 317–329
Hermann, Kai & Horst Riek 2009: Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo,
Hamburg: Carlsen
Kagan, Michael & Anat Ben-­Dor 2008: Nowhere to Run. Gay Palestinian Asylum-­
Seekers in Israel, Tel Aviv University: The Buchmann Faculty of Law, Public
Interest Law Program (PILP), zitiert nach der Internetausgabe http://www.law.
tau.ac.il/Heb/_Uploads/dbsAttachedFiles/Nowhere.pdf [29.01.2015]
Kanne, Miriam (ed.) 2013: Provisorische und Transiträume. Raumerfahrung
‚Nicht-­Ort‘, Berlin: Lit Verlag
Löw, Martina 72012: Raumsoziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch
Wissenschaft
Schaap, Fritz 2012: „Wir Kinder vom Busbahnhof “, in: ZEITmagazin Nr. 33/2012, 7.
8. 2012, zit. n. ZEIT online http://www.zeit.de/2012/33/Schwule-Palaestinenser-
Tel-Aviv [29.01.2015]

Filme
Edel, Ulrich 2012: Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, DVD Geisel-
gasteig: Eurovideo
Fox, Eytan 2004: Yossi & Jagger – Eine Liebe in Gefahr [hebr. yossi ve jagger], DVD
Frankfurt a. M.: Pro-­Fun Media
Fox, Eytan 2006: The Bubble – Eine Liebe in Tel Aviv [4 Liebende, 2 Welten, 1 Gren-
ze] [hebr. habuah], DVD Frankfurt a. M.: Pro-­Fun
Mozer, Yariv 2012: The Invisible Men [hebr. gevarim bilti nir-­im], DVD Hilversum:
Mozer Films & CTM-­Lev-­Pictures.
Internetquellen
American Airlines (ed.) 2011: Best of Gay Cities 2011, im Internet unter http://
www.gaycities.com/best-of-2011/vote.php?page=10 [29.01.2015]
Anonym 2012: Yariv Mozer: What Does He Really Think About Palestinians and
Israel? Im Internet unter https://www.youtube.com/watch?v=XAkyxZ_hh
[29.01.2015]
Yariv Mozer – The Invisible Men, im Internet unter http://www.mozer-films.com
> films > The Invisible Men > go to link [15.09.2016]
408 Joachim Warmbold

Krane, Scott  & Yariv Mozer 2012: „The Invisible Men (A conversation with
Yariv Mozer)“, in: The Blogs. The Times of Israel, im Internet unter http://
blogs.timesofisrael.com/the-invisible-men-a-documentary-by-yariv-mozer/
[29.01.2015]
Lopez, Tyler 2014: „Why #Pinkwashing Insults Gays and Hurts Palestinians“,
in Slate Magazine. Online Magazine of news, politics and culture [www.slate.
com], im Internet unter http://www.slate.com/blogs/outward/2014/06/17/
pinkwashing_and_homonationalism_discouraging_gay_travel_to_israel_
hurts.html [29.01.2015]
Pinkwatching Israel: A Global Movement for Queer-­Powered BDS, im Internet
unter http://pinkwatchingisrael.com [29.01.2015]
Schulman, Sarah 2011: „Israel and ,Pinkwashing‘“, in The New York Times,
22.11.2011, im Internet unter http://www.nytimes.com/2011/11/23/opinion/
pinkwashing-and-israels-use-of-gays-as-a-messaging-tool.html?_r=0
[29.01.2015]
TLV Gay Center (Englisch), im Internet unter http://gaycenter.org.il; s. auch
http:// awiderbridge.org. [29.01.2015]
Dieter Hermann Schmitz (Tampere)

Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch.


Zur filmischen Darstellung von Idyllen

Abstract: The export, translation, modification, and localisation of content are part of
the modern media world. This has also been the case for the screenplay for the feature
film FC Venus, which resulted in two different film versions for two different audiences,
which were released in Finland and Germany in 2005 and 2006 respectively. While the
main plot, a men-­vs-­women football match, is the same in both films, they naturally con-
tain differences in settings, cast, dress, and in many details of the story line. This article
analyses and compares the background and settings used in a single sequence of the two
films. For dramaturgical reasons, the action takes place in nearly idyllic surroundings with
the (stereo-)typical elements of a comfy, homey environment. The eventual disclosure of
unpleasant secrets between the characters subsequently leads to a collapse of the feel-­good
coziness. The analysis is conducted using the applied models for scene transcription by
Faulstich (2008) and others. The results of the qualitative content analysis illustrate how the
filmmakers generate local recognisability in settings to meet the expectations and habits
of their respective audience.

1 Vorbemerkungen und Fragestellung


Im Mittelpunkt meiner Betrachtungen steht eine Fußballkomödie mit dem Titel
FC Venus, die eine Besonderheit der Filmgeschichte darstellt, insofern es sich
hierbei um den bislang einzigen Film handelt, dessen Idee und Drehbuch-­Skript
von einer finnischen Produktionsfirma ins Ausland, nach Deutschland, weiterver-
kauft wurde. In den Jahren 2005 und 2006 entstanden zwei Filmfassungen, eine
finnische und eine deutsche, in denen Plot und Handlung (ver)gleich(bar) sind.
Es handelt sich somit bei der deutschen Fassung um eine Adaption. Diesen
Begriff verwende ich hier nicht – wie Ruckriegel und Koebner im Sachlexikon des
Films – als Synonym für Literaturverfilmung (Ruckriegel & Koebner 2011: 410),
sondern im Sinne der Neudarbietung eines filmischen Stoffes, bei der die Grund-
idee für eine Geschichte an einen neuen Ort des Geschehens und/oder in eine
andere zeitliche Epoche verlegt wird. Die moderne Filmgeschichte kennt Dut-
zende Beispiele für solche Adaptionen, die ich wiederum von Neuverfilmungen
im engeren Sinne abgrenzen möchte. Bei Letzteren kommt es vor allem zu einem
neuen In-­Szene-­Setzen derselben Geschichte im selben Zeit- und Kulturraum
mithilfe neuer technischer Möglichkeiten (und in der Regel auch mit neuen
410 Dieter Hermann Schmitz

Schauspielern). Zur Verdeutlichung: Es handelt sich um die Verfilmung einer


literarischen Vorlage, wenn etwa Thomas Manns Roman Der Zauberberg von
1924 Grundlage für den gleichnamigen Film von 1982 unter der Regie von Hans
W. Geißendörfer wird. Um eine Neuverfilmung handelt es sich beispielsweise bei
dem Abenteuerfilm King Kong von 2005 unter der Regie von Peter Jackson, der
auf dem Film mit demselben Titel von 1933 beruht (Schauplätze der Geschichte
sind in beiden Verfilmungen des Stoffes eine exotische Südsee-­Insel und das New
York der 1930er Jahre). Von einer Adaption im engeren Sinne wiederum lässt sich
sprechen, wenn z. B. die Geschichte des Wim-­Wender-­Films Der Himmel über
Berlin aus dem Jahre 1987 in das Los Angeles Ende der 1990er Jahre verlegt wird
und unter dem Titel City of Angels von Regisseur Brad Silberling in die Kinos
kommt. Dass es zwischen Adaption und Neuverfilmung im hier definierten Sinne
fließende Übergänge gibt, versteht sich beinah von selbst. Auf weitere Formen wie
Plagiat, Mockbuster, Parodie, Sequel, Prequel usw. werde ich hier nicht eingehen.
Die Literaturverfilmung kann ihrerseits betrachtet werden als eine Sonder-
form der ‚medialen Adaption‘, die ebenfalls vorliegt, wenn z. B. eine Roman-
vorlage für das Theater dramatisiert wird oder wenn aus einem Kinofilm ein
interaktives Computerspiel entsteht. All diese Vorgänge sind bezeichnend für
eine weltweite moderne Medienlandschaft, in der schon seit Jahrzehnten Filme
für andere Sprach- und Kulturräume untertitelt und synchronisiert oder Film-
stoffe neu produziert sowie zudem in jüngster Zeit unterschiedlichste Formate
der TV-­Unterhaltung lokalisiert und an neue Märkte angepasst werden (cf. Kea-
ne & Moran 2008: 155 f.). Diese Phänomene von Export, Transfer, Lokalisierung,
Weiterverwertung und Kopie sind in den vergangenen Jahren zunehmend zum
Forschungsgegenstand auch z. B. in der Translationswissenschaft geworden.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung, die Analyse und Interpretation von
Adaptionen und Neuverfilmungen sind häufig ergiebig, da sie Aufschluss geben
können über Publikumsgeschmack und Zeitgeist, vermeintliche Vorlieben von
Rezipientengruppen und Besonderheiten von Kulturräumen bzw. Wirkabsichten
ihrer Kulturschaffenden (cf. Kühle & Bauer 2011: 595).
Ziel dieses Beitrags ist es, mithilfe filmanalytischer Verfahren eine Schlüssel-
szene im Plot von FC Venus in seinen beiden Fassungen eingehend zu betrachten
und dabei herauszuarbeiten, wie die Filmschaffenden potenziell unterschiedliche
Erwartungen ihrer Hauptzielgruppen bedienen resp. vermeintlich landestypi-
sche Bilder – im wahrsten Sinne des Wortes – generieren. Das Hauptaugenmerk
liegt dabei auf der Repräsentation der gewählten Räume, in denen die Handlung
inszeniert wird. In beiden Filmfassungen finden dramatische Enthüllungen in
idyllisierten Settings statt, die vordergründig alles andere als gesichtslose Transit-
Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch 411

räume oder Nicht-­Orte ohne Identität und Geschichte sind. Aus dramaturgischen
Gründen sind mit Bedacht eben solche Räume der Inszenierung gewählt worden,
die den größtmöglichen Kontrast zur Entschleierung unangenehmer Wahrheiten
darstellen und die scheinbar heile Welt umso drastischer demaskieren.

2 Zum Problem von Adaption und Neuverfilmung


Die derzeit wichtigsten Gründe für filmische Adaptionen und Neuverfilmungen
seien im Folgenden kurz aufgezählt. In der Filmwissenschaft werden für gewöhn-
lich drei Hauptgründe genannt: Zum einen spielen die Weiterentwicklungen in
der Film-, Ton und Tricktechnik eine wichtige Rolle. Quantensprünge in der
Entwicklung waren etwa der Übergang vom Stumm- zum Tonfilm sowie vom
Schwarzweiß- zum Farbfilm. In den vergangenen Jahrzehnten sind vor allem
der Umstieg von der analogen auf die digitale Technik, die Weiterentwicklungen
beim Ton und nicht zuletzt im Computertrick bahnbrechend gewesen. Mit der
Entwicklung der Filmtechnik gehen für gewöhnlich Änderungen ästhetischer
Sehgewohnheiten Hand in Hand. Hinzu kommen vielfache gesellschaftliche
Entwicklungen wie z. B. veränderte Moralvorstellungen (cf. u. a. Forrest 2007: 2;
Kühle & Bauer 2011: 594 f.). Ein weiterer wichtiger Grund für Adaptionen und
Neuverfilmungen ist das mangelnde Interesse an synchronisierten oder unter-
titelten Filmen. Dieser Grund gilt vor allem für die USA und den gesamten
englischsprachigen Raum. In den Vereinigten Staaten gibt es kaum Publikum
für ausländische Filme, die mit neuer Tonspur ausgestattet oder gar untertitelt
auf den Markt kommen. Filmerfolge aus dem Ausland werden daher für das
US-­Publikum häufig adaptiert. Hier ließe sich als Beispiel die französische Film-
komödie Trois Hommes et un couffin von 1985 nennen, die 1987 in den USA
unter dem Titel Three men and a baby verfilmt wurde. In Deutschland mit seiner
starken Tradition der Filmsynchronisation spielt der genannte Grund eine sehr
untergeordnete Rolle. Auch in Finnland, wo ausländische Spielfilme in der Regel
untertitelt werden und in dieser Form große Publikumsakzeptanz erfahren, ist
er zu vernachlässigen. Ein dritter Grund für die Neuverwertung von (Film-)
Stoffen ist die Hoffnung der Filmschaffenden, ein größeres heimisches Publikum
anlocken zu können, indem die Rollen mit bekannten Stars des eigenen Kul-
turraums besetzt werden, das Geschehen in die Heimat des neuen Zielpublikums
verlagert und die Handlung entsprechend abgewandelt wird. Ähnliches lässt sich
von vielen TV-­Formaten wie Spiele- und Talentshows sagen, die in lokalisierter
Form größere Zuschauerzahlen binden (cf. Dhoest 2005: 229–231). Nur der letzt-
genannte Grund erscheint im Falle von FC Venus plausibel, denn das finnische
412 Dieter Hermann Schmitz

Original war einerseits filmtechnisch und ästhetisch aktuell, andererseits hätte


es auch problemlos in einer synchronisierten Fassung in deutschen Kinos laufen
können.

3 Das Untersuchungsmaterial
An dieser Stelle folgen Informationen zu Stoff und Plot der beiden Spielfilme, die
im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Der schon erwähnte finnische Film FC
Venus von 2005 war mit beinahe 240 000 zahlenden Kinobesuchern für nordische
Verhältnisse ein Publikumserfolg (Elonet o. J.), obwohl die Kritik nicht nur ein-
hellig positiv ausfiel. Die Regie führte Joona Tena, der in Finnland nicht zuletzt
auch für Fernsehserien bekannt ist. Das Drehbuch schrieben Outi Keskevaari und
Katri Manninen, die sich in Finnland auch als Schriftstellerinnen einen Namen
gemacht haben.
Die Protagonisten des Films sind Anna und Pete, ein frisch verliebtes junges
Paar. Pete ist ein ausgesprochener Fußball-­Fan, der nicht nur vor dem Fernseher
viel Zeit mit Fußball verbringt, sondern auch in einer Thekenmannschaft, dem FC
HeMan, kickt. Seine Freundin Anna hingegen hasst Fußball, obwohl – oder wie
sich später herausstellt: weil – sie in ihrer Jugend selbst erfolgreich Fußball gespielt
hat und ihr Vater ein Profi-­Trainer ist. Dass Anna eine Fußball-­Vergangenheit hat
und ihr Vater ein Star-­Trainer ist, bleibt vorerst ihr Geheimnis Pete gegenüber.
Während eines Streits, ausgelöst durch den Fußball-­Fanatismus von Pete und
seinen Freunden, die eine Reise nach Deutschland zur Fußball-­WM 2006 planen,
gründet Anna mit gleichgesinnten Spielerfrauen ein Frauen-­Team und geht mit
den Männern die Wette ein, dass – sollten die Frauen in einem Spiel die Männer
besiegen – diese ihrem Hobby abschwören und die geplante Deutschland-­Reise
absagen müssen. Der finnische FC Venus erzählt darüber hinaus von Annas
Konflikt mit einer Nebenbuhlerin namens Mara, einer Ex-­Freundin von Pete,
die diesen zurückgewinnen will. Ein weiterer Konflikt schwelt zwischen Anna
und ihrem Vater, mit dem sie jahrelang keinen Kontakt gepflegt hatte und seit
Teenager-­Jahren in Streit lebt. Er taucht unverhofft aus dem Ausland auf und
übernimmt schließlich die Aufgabe, die ‚Frauenschaft‘ zu trainieren. Die Hand-
lung kulminiert im entscheidenden Spiel der Frauen gegen die Männer, das in
der finnischen Fassung 2:2 unentschieden endet.
Bereits im Frühjahr 2006 hatte die (bis auf den Untertitel) gleichnamige deut-
sche Filmfassung ihre Kino-­Premiere. Der deutsche Untertitel: Elf Paare müsst
ihr sein! ist die Abwandlung eines in Deutschland bekannten Fußball-­Zitats, das
(fälschlicherweise) der Trainer-­Legende Sepp Herberger (1897–1977) zugeschrie-
ben wird. Das Zitat heißt im Original: Elf Freunde müsst ihr sein! und appelliert
Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch 413

an den Mannschaftsgeist der Fußballspieler. Die Arbeiten am deutschen Film


wurden bereits aufgenommen, als der finnische noch nicht einmal abgedreht
war (cf. Nelonen 2005). Den deutschen Filmemachern stand jedenfalls kein fertig
produziertes Filmkunstwerk zur Verfügung, das man sich hätte ansehen und von
dem man sich hätte inspirieren lassen können und das als Grundlage gedient
haben könnte. Übernommen wurde für den deutschen Film die Grundidee der
Handlung und eine frühe Fassung des finnischen Drehbuchs, das relativ frei be-
arbeitet wurde. Die Regie führte für den deutschen Film Ute Wieland, die bereits
für eine Reihe von Komödien für Kino und Fernsehen verantwortlich zeichnete.
Die Drehbuchadaption stammt von Jan Berger, der vielleicht heute am bekann-
testen ist als Drehbuchautor des Films Der Medicus (2013) nach dem Roman The
Physician (1986) von Noah Gordon.
Die Handlung des deutschen Films ist der finnischen ähnlich: Auch im deut-
schen Film steht ein junges Paar im Mittelpunkt, Anna und Paul, die allerdings –
anders als ihre finnischen Pendants – bereits seit zwei Jahren ein Paar sind. Wie
in der finnischen Vorlage verheimlicht Anna ihrem Freund die eigene Fußballver-
gangenheit und die Identität ihres weltbekannten Vaters, allerdings hat auch der
deutsche Paul ein Geheimnis: Er überredet Anna dazu, von Berlin in die Provinz-
stadt Imma umzuziehen unter dem Vorwand, eine Familie gründen zu wollen,
während er in Wirklichkeit wieder seinem alten Ortsverein FC Imma beitreten
möchte. Auch im deutschen Film kommt es zur Gründung eines Frauenteams, das
sich den Namen FC Venus gibt, und zum Abschluss einer Wette zwischen Frauen
und Männern. Dass die Männer vorhätten, für teures Geld Spiele der Fußball-­
WM zu besuchen, fehlt im deutschen Film, ebenso wie der Konflikt zwischen
Anna und einer Nebenbuhlerin. Parallel hat aber auch die deutsche Anna ein
gebrochenes Verhältnis zu ihrem Vater.
Im Detail, in der Personenzeichnung, in Nebenhandlungen gibt es eine Viel-
zahl von Unterschieden zwischen den beiden Geschichten, und natürlich auch
in ihrer filmischen Umsetzung. In der deutschen Spielfilmfassung gewinnen die
Frauen übrigens das entscheidende Match knapp mit 3:2, es kommt allerdings zu
einem Wiederholungsspiel, dessen Ende offen bleibt.
Insbesondere der deutsche FC Venus ist im Kontext anderer (deutscher) Fuß-
ballkomödien zu sehen, die sich mit Filmen wie Fußball ist unser Leben (D 2000),
Kick it like Beckham (GB/D 2002), Männer wie wir (D 2004) quasi schon als ei-
genes Subgenre an der Schnittstelle von Sportfilm und Komödie etabliert haben
(cf. Zafiris 2007: 32 ff.). Der erwähnte Kick it like Beckham oder auch Eine andere
Liga (D 2005) thematisieren bereits den Wettkampf der Geschlechter und das
Aufbrechen gängiger Geschlechterrollen.
414 Dieter Hermann Schmitz

4 Herangehensweise und Analyseverfahren


Mit Wuss betrachte ich „Filmkompositionen als Rezeptionsvorgaben“, die „be-
stimmte filmische Wahrnehmungsprozesse beim Zuschauer“ vorskizzieren (Wuss
1990: 68). Was in uns passiert, ob uns Filmszenen rühren, zum Lachen bringen
oder in Spannung versetzen, ob wir Bekanntes entdecken oder nicht, ist also nicht
purer Zufall oder allein von Vorwissen, Laune und Tagesform der Zuschauer
abhängig, sondern ebenso häufig von den Intentionen der Filmproduzenten.
Ich baue bei meinen Betrachtungen auf folgenden theoretischen Modellen auf:
Zum einen auf dem von Helmut Korte, der bei der Analyse von Filmen folgende
vier Dimensionen voneinander unterscheidet: die Filmrealität mit Fragen zum
Filmimmanenten, zu Inhalt, Form und Handlung; die Bedingungsrealität, die
sich mit Fragen der Vermittlung bestimmter Inhalte in bestimmten Formen in
einer konkreten historischen Situation annimmt; die Bezugsrealität, die der Frage
nach dem Verhältnis der filmischen Darstellung zur außerfilmischen Wirklich-
keit nachspürt; sowie der Wirkungsrealität mit Fragen zur zeitgenössischen oder
späteren, in- oder ausländischen Rezeption (Korte 2010: 23). Ich konzentriere
mich bei meiner Analyse auf Fragen der Filmrealität, allerdings mit Hinblick auf
die intendierte Wirkung, wie sie sich anhand der Analyse filmischer Mittel inter-
pretierend rückschließen lässt.
Zusätzlich verwende ich konkret eine Synthese aus Modellen von Baldry und
Thibault (2006), Hickethier (2007) und Faulstich (2008), die alles, was der Film
über verschiedene Wahrnehmungskanäle in unterschiedlichster Weise und Folge
für den Zuschauer bereithält, auf seine einzelnen Bestandteile untersucht. Mit
diesem Verfahren wird „das Transitorische am Film in Lineares übertragen“ (Faul-
stich 2008: 67). Ein solches Analyseverfahren orientiert sich zunächst an den
simplen Leitfragen: Was ist im Bildraum zu sehen, was ist im Tonraum zu hö-
ren? Bild- und Tonraum werden dabei überlagert vom Verbalraum, der sich über
beide Sphären, die akustisch wie die optisch vermittelte, erstreckt und fließende
Grenzen zu beiden Bereichen aufweist. Zum Auditivverbalen gehört zuvörderst
das Gesprochene, zum Visuellverbalen gehören z. B. Schilder oder Briefe, die im
Film zu sehen sind.
Detailliertere Leitfragen für den Bildraum sind beispielsweise: Welche
Schauplätze werden gezeigt? Welche Kostüme tragen die Schauspieler? Welche
Requisiten werden verwendet? Wie agieren die Schauspieler (gestisch und kör-
persprachlich)? Entsprechend für den Tonraum ist zu fragen: Was wird wie (mit
welcher Prosodie) gesagt? Welche Geräusche sind zu hören? Welche (Hinter-
grund-)Musik wird eingespielt? Die filmischen Darstellungsmöglichkeiten im
engeren Sinne können daraufhin hinterfragt werden, welche Perspektiven, Ka-
Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch 415

merafahrten und -bewegungen, Schnitte, Einstellungen, Beleuchtung usw. zum


Einsatz kommen.
Was daraufhin entsteht, sind ausführliche Szenenprotokolle, die über die ana-
lytische ‚Zerlegung‘ in Einzelbestandteile zu einer Bewusstmachung der Kom-
position von Ausdruckmitteln führen, mithin deren Interpretation ermöglichen
und letztlich Grundlage für eine qualitative Inhaltsanalyse abgeben.

Abb. 1: Beispiel Szenenprotokoll FC Venus (FI), Ausschnitt

5 Analyse zweier Szenen unter besonderer Berücksichtigung


des dargestellten Raums
Einen Höhe- und Wendepunkt innerhalb der Filmhandlung beider Fassungen
stellt die Szenenfolge eines sommerlichen Fests dar, deren räumliche Repräsen-
tation (Drehort, Kulissen; Farbgebung; Hintergrundgeräusche, Musik) idyllisiert
wirken. Wie Michail Bachtin es für den Roman formuliert, zeichnet sich der
Chronotopos der Idylle vor allem durch folgende Charakteristika aus: eine Ver-
wachsenheit der Beteiligten mit dem konkreten räumlichen Flecken, der eine
begrenzte Mikrowelt wie zum Beispiel das Heimattal oder das Elternhaus darstellt,
eine gewisse Losgelöstheit dieses Ortes von der übrigen Welt, eine Verbundenheit
mit dem Leben (in) der Natur, ein Fehlen der hastig zerstückelten Zeit des Stadt-
lebens, ein Gleichklang auf ideologischer Seite bei den Beteiligten in Sprache,
Glaubensvorstellungen, Moral usw. (Bachtin 1989: 172–175).
Diese filmisch dargestellten Räume sind das genaue Gegenteil dessen, was Augé
als Nicht-­Orte (non-­lieu) definiert hat (Augé 1995: 87). Sie sind persönliche, für
ihre Besitzer identitätsstiftende und für geladene Besucher gastfreundschaftliche
Rückzugsorte mit Wohlfühl-­Ambiente, die in ihrer filmischen Darstellung und
Ausstattung Dauerhaftigkeit und Familiengeschichte atmen. In beiden Filmfas-
416 Dieter Hermann Schmitz

sungen wird dieses Idyll – wie erwähnt – durch unangenehme Enthüllungen hu-
moristisch durchbrochen und zumindest für einige Teilhaber zerstört. Man darf
annehmen, dass dieser Kontrast von ‚Kuschel-­Ort‘ und konfliktbeladener Hand-
lung ein gewollter Kunstgriff der dramatischen Zuspitzung ist. Eine entsprechende
Enthüllung an einem Nicht-­Ort etwa im Foyer eines Hotels würde nur halbwegs
so erschütternd oder humoristisch überzogen wirken. Mithilfe einer qualitativen
Inhaltsanalyse lässt sich aufzeigen, wie unterschiedliche Darstellungsweisen die
kulturell geprägten Erwartungen, Erfahrungshorizonte und möglicherweise auch
Sehgewohnheiten verschiedener Zuschauergruppen zu bedienen versuchen bzw.
rekursiv diese erst erzeugen oder bestätigen.
In beiden Fassungen beginnt die Sequenz dieses Fest fast genau in der Mitte
der Filmdauer: Im finnischen Film, der lt. Vertrieb 114 min dauert, etwa ab der
53. Minute, im deutschen Film etwa ab der 48. von insgesamt 95 Min. Spielzeit.
Beide Feste stellen eine Art friedlicher Zwischenetappe dar. Die Mannschaften
haben sich längst gebildet, die Wette ist abgeschlossen, die Frauen haben mit
ihrem Training begonnen, das sie – entgegen den Erwartungen der Männer –
mit Ernsthaftigkeit und Engagement betreiben. Bei den einzelnen Paaren ist es
daher zu unterschiedlichsten Spannungen und Konflikten gekommen. Auf dem
Fest kommt es bei guter Laune zu zwischenzeitlichen Aussöhnungen und zur
Verminderung der Spannung. Das sommerliche Fest im finnischen Film wird
von Nebenfiguren arrangiert, von Leena und Risto, einem älteren Ehepaar mit er-
wachsenem Sohn. Konkret handelt es sich um das Mittsommernachtsfest, das im
nordischen Kontext als eines der größten im Jahresverlauf gilt und – nach meiner
Einschätzung – im Wertesystem der Finnen auf Platz zwei hinter dem Weih-
nachtsfest rangiert. Es wird häufig in ländlicher Zurückgezogenheit begangen,
idealerweise und traditionell im familieneigenen Sommerhaus, fröhlich feiernd
mit Großfamilie, Freunden und Bekannten, häufig mit Bootsfahrten, Grillen,
Sauna, Schwimmen und Mittsommernachtsfeuer.
In Finnland nimmt auch das eigene Wochenend- oder Sommerhaus einen
hohen Stellenwert ein. Es liegt, so das Stereotyp, abgeschieden in der Natur, ohne
störende Nachbarn oder Lärm, und vorzugsweise auf einer eigenen kleinen Insel.
All diese Idealvorstellungen oder Klischees werden im finnischen Film bedient.
Das dargestellte Fest wird auf einer Insel gefeiert, zu dem sich die Feierenden mit
Booten bewegen müssen und wo sie auch übernachten. Die oben genannten Bach-
tin’schen Charakteristika für eine Idylle werden größtenteils erfüllt: Zumindest
für die Gastgeber ist die Insel mit der Hütte ein Flecken der Verwurzelung mit
langer, generationenübergreifender Geschichte (cf. Bachtin 1989: 170); die Nähe
zur Natur wird im Bild-/Tonraum deutlich zum Ausdruck gebracht durch Mit-
Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch 417

ternachtssonne, schwirrende Mücken in der Abendluft, Naturgeräusche, Wasser-


plätschern. Eine Holzsauna wird angeheizt und besucht, man trinkt Bier, grillt
Würstchen und sitzt in heller Sommernacht beim Lagerfeuer zusammen.
Diese Idylle wird gebrochen durch das Auftauchen von Annas Vater Lauri
Rautakoski. Lauri ist heimlich von Leena, der Gastgeberin, eingeladen worden mit
dem Hintergedanken, das angespannte Verhältnis von Lauri und seiner Tochter zu
verbessern. Gezeigt werden zunächst Szenen von fröhlicher Anreise mit dem Boot
und herzlicher Begrüßung durch die Gastgeber. Es folgen vermeintlich typische
Szenen aus dem finnischen Freizeit-/Festleben: Man sieht die Frauen nach dem
Saunagang, in Handtücher und Bademäntel gehüllt, an einem massiven Holztisch
unter freiem Himmel am Wasser sitzen. All dies signalisiert Ungezwungenheit
und Vertrautheit, Naturnähe und das Fehlen von Alltagsstress. Während sich
die Frauen unterhalten, ist aus dem Off altmodisch-­ländliche Harmonikamusik
zu hören, untermalt von Vogelstimmen. Dominierendes Nebengeräusch einer
‚männlichen‘ Saunaszene ist das Knistern des Feuers, was ebenfalls den Eindruck
des Ländlich-­Idyllischen verstärkt. Eine holzbetriebene Sauna gilt in Finnland
als urtümlich und unverfälscht, während E-­Saunas zwar als praktisch, aber auch
als neumodisch und weniger wohlig gelten. Später versammelt sich die gesamte
Gesellschaft um einen Grill, bevor mit einem Segelboot Lauri als unerwarteter
Gast dazu stößt. Das Geheimnis, dass Lauri, ein Star-­Trainer von internationaler
Bekanntheit, nicht nur Annas Vater ist, sondern auch den FC Venus trainiert,
wird in der finnischen Filmfassung dadurch enthüllt, dass zwei Frauen das Ge-
heimnis ausplaudern, während Lauri mit dem Boot anlegt. Annas Freund Pete
haut es – im wahrsten Sinne des Wortes – von den Beinen. Bei der Enthüllung
des Geheimnisses stürzt er, ein wenig slapstickhaft, vom Steg ins Wasser. Für den
Rest des Abends ist die Stimmung zwischen Pete und Anna deutlich abgekühlt
und zu vorgerückter Stunde kommt es zwischen den beiden zu einem lautstarken
Streit. Festzuhalten ist, dass durch das räumliche Setting, durch die Geräusche und
Hintergrundmusik sowie durch die dargestellten Handlungen ein (Klischee-) Bild
von einem Ort entsteht, der gängige finnisch-­nordische Vorstellungen von einer
(Familien-)Idylle bedient, um dann umso drastischer aufgehoben bzw. der Lä-
cherlichkeit preisgegeben zu werden. Letztlich wirkt damit auch die demontierte
Idylle als Transitraum, der die Beziehung zwischen den Protagonisten Anna und
Pete infrage stellt und einen Übergang darstellt, der ihren Konflikt dramatisch
zuspitzt und entscheidend befeuert.
Im deutschen Film wird beim Boheme-­Paar Louis und Babette gefeiert. Beide
tragen sicherlich nicht ganz zufällig Vornamen, die einen französischen Anklang
haben. Das Drehbuch zum Film, das mir von der Produktionsgesellschaft zur Ver-
418 Dieter Hermann Schmitz

fügung gestellt wurde, bezeichnet die beiden in der Auflistung der Dramatis per-
sonae als Lebenskünstler (Louis) und als Bildhauerin (Babette) (Berger 2005: 1).
Bei dem Fest im deutschen Film handelt es sich nicht um das Mittsommernachts-
fest, das in Deutschland weitgehend unbekannt ist, sondern um ein sommer-
liches Grillfest. Gefeiert wird im ländlichen Imma, einer imaginären mittelgroßen
Stadt mit ländlichem Charme. Louis und Babette bewohnen dort ein altes, aber
wohlkonserviertes Gehöft in verkehrsberuhigter Innenstadtlage mit Straßen aus
Pflasterstein, umgeben von vielen alten, aber gut erhaltenen Bürgerhäusern. Die
Feier findet unter freiem Himmel im Innenhof ihres Anwesens statt. Der Innenhof
mit seinen alten Bäumen ist von schützenden Mauern eingefasst, die von wild
wucherndem Efeu bewachsen sind. Es entsteht der Eindruck eines behüteten,
abgeschirmten Ortes. Das dazugehörige Haus steht – wie ein kurzer Kamera-
schwenk durch ein Fenster zeigt – voller alter Möbel und unterstreicht, dass seine
Bewohner Individualisten mit Kunstgeschmack sind und ein gewisses Faible für
Antiquitäten haben. Der Garten ist illuminiert durch bunte Lichterketten und eine
Diskokugel und wirkt ein wenig kauzig-­verträumt. In den Regieanweisungen des
deutschen Drehbuchs wird der Garten denn auch als verwildert und märchenhaft
beschrieben (ibid. 2005: 58). Haus und Hof von Louis und Babette, wie sie im Film
gezeigt werden, setzen gewisse deutsche Wünsche von einem Traum-­Zuhause ins
Bild und bilden damit eine Art Pendant zur Insel mit Sommerhaus im finnischen
Film. Die Idylle, die hier filmisch evoziert wird, passt allerdings zu keinem der
drei Grundtypen, die Bachtin beschreibt (Liebesidylle, Idylle der ländlichen /
handwerklichen Arbeit, Familienidylle). Louis und Babette sind kinderlos und
unverheiratet, sichtlich begütert und gehen scheinbar sorglos ihren künstlerischen
Interessen nach. Sie repräsentieren – wenn man so will – eher ein Künstleridyll
zwischen altem Landhaus, geräumigem Privatatelier und wild wucherndem Gar-
ten. Das Fest, das sie ausrichten, beschert ihren Freunden eine sorglose Zeit in
einem verwunschenen Garten mit unwirklicher Beleuchtung. Die Gäste, obwohl
bunt gemischt, verschiedensten Berufen nachgehend und vom Arbeitslosen bis
zum Arzt unterschiedliche Gesellschaftsschichten repräsentierend, verschmelzen
an diesem Abend zu einer dörflichen Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und
jeder willkommen ist. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass alle etwas
zur Verköstigung mitbringen und damit gemeinsam zum Gelingen des Abends
beitragen: Die ankommenden Gäste werden gezeigt, wie sie Getränke, Holzkohle
u. Ä. tragen. Das Fest der deutschen Filmfassung erscheint jedoch mehr als sein
finnisches Gegenstück als ausgelassene Party, bei der zu vorgerückter Stunde auch
getanzt, viel gelacht und dem Alkohol zugesprochen wird. Obwohl das Städtchen
Imma ein Ort in der deutschen Provinz sein soll, wirkt das Fest auf eine gewisse
Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch 419

Weise internationaler als das finnische: Es gibt zum Beispiel Mitfeiernde, die un-
zweideutig einen Migrationshintergrund haben; bei der Tanzmusik handelt es sich
um amerikanischen Blues statt um ländliche Harmonikamusik usw.
Die Orte der Festivitäten sind – Bachtins Definition einer Idylle folgend – von
der übrigen Welt abgetrennt: im finnischen Film durch die Insellage, im deutschen
Film durch den abgeschirmten Innenhof, der nur über einen längeren, fast tunnel-
ähnlichen Torgang zugänglich ist.
Völlig anders ist allerdings der metaphorische Einbezug der Umgebung. Was
im finnischen Film durch einen konkreten Sturz des überraschten Pete ins Wasser
versinnbildlicht wird, wird im deutschen Film durch filmische Darstellungsmittel
deutlich gemacht. Es vollzieht sich eine Kamerafahrt auf Pauls Gesicht, die in einer
leichten Aufsicht endet und Pauls überraschtes Gesicht in der Großeinstellung
zeigt. Mithilfe eines Fischauge-­Objektivs wird das Bild verzerrt. Der Zuschauer
erlebt geradezu Pauls Einsicht. Aus dem Off erklingen Glockenschläge eines
Kirchturms, die als akustisches Signal markieren, was die Stunde geschlagen hat
und dass bei Paul der Groschen gefallen ist. Die Kamerafahrt, Pauls dümmliches
Gesicht und die dramatischen Glockenschläge, die aus einem klassischen Western
kurz vor dem entscheidenden Duell stammen könnten, erzeugen Komik-­Effekte,
die zum Lachen reizen, während man im finnischen Film über den plumpen Sturz
ins kühle Nass schmunzeln kann.

6 Ausblick
Die Analyse der dargestellten Orte und der sich darin abspielenden Begebenhei-
ten belegt eine Orientierung der Filmschaffenden an bestimmten Erwartungen,
die vor allem auf die Herstellung lokaler Wiedererkennbarkeit abzielt. Letztere
zeigt sich nicht nur in der Wahl und Herrichtung der Drehorte, sondern im Detail
auch in der Ausstattung, dem Gebaren der Schauspieler u.v.m. Die Darstellung
der beiden Feste erscheint als Paradebeispiel, wie ein (ver)gleich(bar)er Stoff mit
ähnlichem Handlungsverlauf unterschiedlich kontextualisiert wird.
Die Komik wird im finnischen Film ‚handgreiflich‘ umgesetzt, im deutschen
an dieser Stelle vor allem mit filmtechnischen Mitteln. Es würde zu Überinter-
pretationen führen, an dieser Stelle Rückschlüsse auf allgemeine Grundbefind-
lichkeiten ganzer Kulturkreise oder Nationen ziehen zu wollen. Interessant ist
aber in jedem Falle festzustellen, wie Filmschaffende ihre verschiedenen Publika
abholen. Das zeigt sich in diesen Sequenzen vor allem an den Raum-­Idyllen,
deren dramaturgische Hauptfunktion in ihrem Bruch und ihrer – zumindest vor-
läufigen – Auflösung liegt: Ausgerechnet bei einem vermeintlich unbeschwerten
Fest in märchenhaft-­verträumter Umgebung eines problemfreien Rückzugsortes
420 Dieter Hermann Schmitz

werden unangenehme Geheimnisse aufgedeckt. Im finnischen Kontext mit seiner


deutlich homogeneren Gesellschaft ist diese Idylle im ländlichen Raum angesie-
delt, im deutschen wiederum im kleinstädtischen Milieu, das aber auch fern der
Metropolen als kulturell offener erscheint (Blues-­Musik, Disco-­Kugel, Personen
mit Migrationshintergrund, Boheme-­Künstler, selbst der Konsum von Haschisch
wird angedeutet). Die Orte entpuppen sich als anheimelnde Fassaden, die nicht
verhindern können, dass der Konflikt eine vorläufige weitere Steigerung erfährt.
In beiden Filmen werden die Idyllen am Ende wieder hergestellt, es kommt zu
vielfachen Aussöhnungen, sowohl zwischen den Protagonisten und den ver-
feindeten Fußball-­Teams als auch zwischen Anna und ihrem Vater. Außerdem
nehmen mehrere neue Liebesbeziehungen ihren Anfang, wie es in Komödien
vielfach vorkommt.

Literatur
Primärmaterial
Tena, Joona (Regie) 2005: FC Venus, nach einem Drehbuch von Outi Keskevaari
und Katri Manninen, 114 Min., [DVD: ISBN 6–420201-162460] Finnland
Wieland, Ute (Regie) 2006: FC Venus. Elf Paare müsst ihr sein, nach einer
Drehbuch-­Adaption von Jan Berger, 100 Min. [DVD: ISBN 4–009750-230237]
Deutschland
Berger, Jan 2005: FC Venus – Frauen am Ball [Arbeitstitel], unveröffentlichtes
Drehbuch, Fassung 6.4, Hamburg: Wüste Filmproduktion

Sekundärliteratur
Augé, Marc 1995: Non-­places. Introduction to an anthropology of supermodernity,
aus d. Französischen v. John Howe, London / New York: Verso
Bachtin, Michail M. 1989: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur his-
torischen Poetik, aus d. Russischen v. Michael Dewey, Frankfurt a. M.: Fischer
Wissenschaft
Baldry, Anthony & Paul J. Thibault 2006: Multimodal transcription and text ana-
lysis. A multimedia toolkit and coursebook, London: Equinox Publishing
Dhoest, Alexander 2005: „The Pfaffs Are Not Like Osbournes. National Inflections
of the Celebrity Docusoap“, in: Television & New Media 6.2 (2005): 224–245
Elonet, Finnisches Filmarchiv (ed.) o. J.: FC Venus (2005), im Internet unter http://
www.elonet.fi/fi/elokuva/1290749 [20.08.2014]
Faulstich, Werner 22008: Grundkurs Filmanalyse, Paderborn: Wilhelm Fink
Rückzugsraum, Idylle, Raumbruch 421

Forrest, Jennifer 2007: Are Remakes Doing as Well as Originals? A Note, im Internet
unter http://www2.ulg.ac.be/crepp/papers/crepp-wp200705.pdf [20.08.2014]
Hickethier, Knut (ed.) 1990: Filmwahrnehmung. Dokumentation der GFF-­Tagung
1989 (= Schriften der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft 3), Ber-
lin: Ed. Sigma Bohn
Hickethier, Knut 42007: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart: Metzler
Keane, Michael & Albert Moran 2008: „Televisionʼs new engines“, in: Television &
New Media 9.2 (2008): 155–169
Koebner, Thomas (ed.) 32011: Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam
Korte, Helmut 42010: Einführung in die Systematische Filmanalyse. Ein Arbeits-
buch, Berlin: Erich Schmidt
Kühle, Sandra & Matthias Bauer 2011: „Remake [Neuverfilmung]“, in: Koebner
(ed.) 32011: 593–598
Nelonen (ed.) 2005: FC Venuksesta samanaikainen uudelleenfilmatisointi Saksassa
[Zeitgleiche Neuverfilmung von FC Venus in Deutschland], Online-­Auftritt
des gleichnamigen finnischen TV-­Senders, im Internet unter http://www.
nelonen.fi > uutiset 12.02.2005 [15.04.2007]
Ruckriegel, Peter & Thomas Koebner 2011: „Literaturverfilmung“, in: Koebner
(ed.) 32011: 410–413
Welke, Tina & Renate Faistauer (eds.) 2010: Lust auf Film heißt Lust auf Lernen,
Wien: Praesens
Wuss, Peter 1990: „Filmische Wahrnehmung und Vorwissen des Zuschauers. Zur
Nutzung eines Modells kognitiver Invariantenbildung bei der Filmanalyse“, in:
Hickethier (ed.) 1990: 67–81
Zafiris, Anna 2007: Rezeption von Fußballfilmen durch Fußballfans und Nicht-­
Fußballfans anhand der Beispiele ‚Das Wunder von Bern‘ und ‚FC Venus‘,
München: Grin
Ana R. Calero Valera (València)

Alamania aus heterotopischer Sicht:


Die Tür und das Theater

Abstract: The aim of this contribution is to explore the spaces in Emine Sevgi Özdamar’s
first theatre play in German: Karagöz in Alamania. Ein türkisches Stück (1982). The article
puts what – in the play – is being called the “Deutschland-­Tür” (the Germany-­Door) at
its centre and analyses it from a heterotopic point of view. It further pays attention to the
influence of Alamania/Alamanienland, which is beyond this door, on the characters and
on the Turkish village. The article further seeks to shed light on how Özdamar manages
to turn the stage into a heterotopic space through different textual strategies and theatri-
cal tools.
Dieses Ankommen, Ausruhen und dann Gehen.
Da ist sicher auch der Tod in dieser Wahl;
das Leben als ein Ort, wo man ein bißchen bleibt
und dann wieder geht.
(Emine Sevgi Özdamar)

1 Einführung
„Theater ist immer drin in meinem Schreiben“ (Wierschke 1996: 209), sagte Emi-
ne Sevgi Özdamar in einem Interview. Und tatsächlich zieht sich das Theater
als roter Faden durch ihre Biografie und durch ihr Werk, und das literarische
Ergebnis stellt sich als einzigartig und originell heraus.1 Als Dramatikerin war sie
eine Bahnbrecherin, wie Lutz Tantow in den 1980er Jahren berichtete: „Es ist […]
bemerkenswert […], daß das erste in deutscher Sprache verfaßte ‚Gastarbeiter‘-
Stück der Ausländer von einer Frau geschrieben wurde: Emine Sevgi Özdamars
Karagöz in Alamania“ (Tantow 1985: 217). Weitere von ihr auf Deutsch verfass-
te Theaterstücke sind: Keloĝlan in Alamania. Die Versöhnung von Schwein und
Lamm (1991), der Monolog Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutsch-
land (1990), das Kinderstück Noahi (2002), und im Rahmen des Theaterprojekts
Odyssee Europa erschien Perikızı. Ein Traumspiel (2010).

1 Cf. Boran 2004: 135–157. Der Autor widmet dieses Kapitel seiner Doktorarbeit –
„Karagöz kommt nach Deutschland“ – der Vorstellung von Emine Sevgi Özdamar als
Schauspielerin, Dramatikerin und Regisseurin.
424 Ana R. Calero Valera

Der „Respekt vor großer Literatur aus Tradition und Moderne“ (Mecklenburg
2007: 86) und die Faszination für die ‚Großen‘ der Literatur und des Theaters zei-
gen sich in Özdamars Stücken, in denen sie u. a. auf Dramatiker wie Shakespeare,
Brecht, Heiner Müller, Peter Weiss, Heinrich Heine oder Friedrich Hölderlin
Bezug nimmt. Auch die ‚östliche‘ Tradition wird in ihren Texten miteinbezogen.2
Diese Kombination aus West und Ost, aus Tradition und Moderne verwandelt
ihre Werke in umstrittenes Territorium, denn mittels der geschriebenen Worte
in ihren Büchern und der gesprochenen Worte auf der Bühne werden ständig
Identitäten verhandelt und neu definiert.
Karagöz in Alamania. Ein türkisches Stück3 entstand im Jahre 1982 im Auftrag
des Schauspielhauses Bochum mit der Unterstützung des damaligen Direktors
Claus Peymann. Die Uraufführung fand am 26. April 1986 im Schauspielhaus
Frankfurt unter der Regie von Özdamar statt. Das Stück ist u. a. als episches
und absurdes Gastarbeiter-­Theater (Tantow 1985: 218) und als kabarettistisch-­
groteske Komödie (Boran 2004: 136) etikettiert worden. Özdamar benutzt ver-
schiedene Strategien, um ein eigenes „sozialkritisches Stück“ (Boran 2004: 152)
zu schreiben. Wie schon im Titel des Textes angedeutet, bedient sich Özdamar der
türkischen Karagöz-­Tradition, also der des Schattentheaters.4 Einige der Karagöz-­
Tradition angehörige Kunstmittel wären die Verwendung von Figurentypen aller
Gesellschaftsschichten, die Situationskomik, Missverständnisse und Verkehrun-
gen repräsentieren; Nachahmung und Parodie, um einen Realitätsbezug herzu-
stellen, der Missstände denunziert und zugleich für ein befreiendes Lachen sorgt
(cf. Pazarkaya 1989: 219). Özdamar flicht in ihr Stück nicht nur Realitätsbezüge
ein, bringt sie zugespitzt, verformt, verdreht auf die Bühne und übt somit Kritik
an der bestehenden Wirklichkeit. Sie variiert auch die literarische Tradition, gibt
sie in einer verzerrten Form wieder.
Die Grundlage von Özdamars Stück, das aus 35 unterschiedlich langen Szenen
besteht, bildet eine eher gewöhnliche Migrationsgeschichte der ersten Generation,
die des Bauern Karagöz Schicksallos, der zwischen der Türkei und Deutschland/

2 Cf. Calero 2013. Ausgehend von Linda Hutcheons Parodie-­Definition analysiere ich
dort in Karagöz in Alamania einige der von Emine Sevgi Özdamar verwendeten Mittel
und Strategien, die ihr dazu dienen, gewisse verinnerlichte Werte, Festschreibungen
und Stereotype über die erste Generation von türkischen Migranten in Deutschland
zu unterwandern.
3 Ich danke Marion Viktor vom Verlag der Autoren für das Bühnenmanuskript.
4 Cf. u. a. Pazarkaya (1989: 203–224) und Mecklenburg (2007). Andererseits etablieren
Mecklenburg (2007) und El Hissy (2012) einen Bezug von Özdamars Texten zum
Karnevalistischen.
Alamania aus heterotopischer Sicht: Die Tür und das Theater 425

Alamania pendelt. Sein treuer Wegbegleiter ist Şemsettin, ein „in alten deutschen
Literaturzitaten sprechende[r] Esel“5 (Tantow 1985: 218):
Özdamar erwähnt einen Bezug zu den volkstümlichen Geschichten um Nasrettin Hoca,
in denen der Esel oftmals ‚klüger ist als sein Herr‘, verweist aber zugleich auch auf die
Lebensrealität des türkischen Dorfes, in denen der Esel ein Teil des Alltags sei: Er be-
gleite Karagöz quasi als Teil seiner Dorf-­Identität in die Fremde (pers. Interview) (Boran
2004: 142).

Die erste Generation ist in Deutschland nie ganz angekommen, wie die Präsenz
von Şemsettin „als Teil seiner Dorf-­Identität“ beweist und was sich in der Wahl
der Räume im Theaterstück und bereits im Titel Karagöz in Alamania – und im
Untertitel – Ein türkisches Stück – widerspiegelt. Die Handlung spielt im türki-
schen Dorf, auf dem Weg nach Istanbul, in Istanbul (dort gibt es Szenen vor der
deutschen Vermittlungsstelle), auf dem Weg nach Deutschland, und prinzipiell
vor der Deutschland-­Tür.
Im Folgenden möchte ich mich auf den Raum im ersten deutschen Theater-
stück Özdamars konzentrieren. Dazu analysiere ich aus heterotopischer Sicht die
Darstellung der „Deutschland-­Tür“ und des davorstehenden Raums, sowie das
sich dahinter befindende Alamania bzw. Alamanienland und dessen Einfluss auf
die Personen wie auch auf das Herkunftsdorf. Weiterhin möchte ich aufzeigen,
wie Özdamars Theaterverständnis, das durch verschiedene Strategien zum Aus-
druck gebracht wird, die Bühne – als Ganzes – in einen heterotopischen Raum
verwandelt.

2 Alamania als heterotopischer Raum


Nach Foucault sind Heterotopien
reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleich-
sam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte,
all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in
Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden (Foucault 2006: 320).

Diese erwähnten Realitätsbezüge, die Özdamar in ihr Werk aufnimmt, tragen


dazu bei, dass auf der Bühne Gegenorte entwickelt werden. Alamania / Alema-

5 Der Esel ist allgegenwärtig in Özdamars Theaterstücken. Er gilt als Symbol der Sym-
biose von östlichem und westlichem Erbe. Einerseits sind seine literarischen Wurzeln
wie erwähnt im türkischen Schattenspiel und in den Geschichten von Nasrettin Hoca
aufzuspüren, andererseits sind sie in Shakespeares Sommernachtstraum und der darin
enthaltenen Tradition zu finden.
426 Ana R. Calero Valera

nienland wird zu einem heterotopischen Raum. Auf den Brettern des Theaters
wird dieser Ort durch die Gegendiskurse der verschiedenen Personen bzw. Tiere
(und auch Gegenstände) lebendig. Sie spielen abseits des Zentrums, am Rande,
jenseits der Norm, man kann diesen Raum als Abweichungsheterotopie verstehen:
„Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt
oder von der geforderten Norm abweicht“ (Foucault 2006: 322).
Dies evoziert ebenfalls der fünfte Punkt des Foucaultschen Katalogs. „Hetero-
topien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus“, wobei
er das Beispiel der „berühmten Kammern in großen Landgütern in Brasilien“
erwähnt, wo der durchreisende Gast nicht zu den inneren Räumen der Familie
gelangen konnte (Foucault 2006: 325–326). Die Deutschland-­Tür fungiert als
symbolische Grenze zwischen dem Herkunftsland und Deutschland. Sie bleibt
nicht zu, es gehen durch sie ständig Leute nach Deutschland und kommen auch
aus ihr heraus. Sie werden aber aus dem „großen Landgut Deutschland“ aus-
geschlossen und als die Anderen wahrgenommen.
Özdamar transkontextualisiert den migrantischen Werdegang der Figuren,
denn die meisten Szenen spielen an der Schwelle der „Deutschland-­Tür“. Was
dahinter – in Deutschland – geschieht, ist auf der Bühne nicht zu sehen. Über
Deutschland wird erzählt, es wirft seinen Schatten: Man erfährt, was die Folgen
des dortigen Arbeitsaufenthaltes sind, aber keine der Szenen spielt dort. Das
türkische Dorf, die Stadt Istanbul und die „Deutschland-­Tür“ machen die stets
präsente Verbindung der ersten Migranten mit ihrem Herkunftsland deutlich:
Als Konsequenz seines Verbleibens in Alamania wird sich Karagöz im Laufe
des Stücks selbst fremd, und die im Dorf Gebliebenen nehmen den Gastarbeiter
Karagöz anders wahr, nämlich als „Dorfkönig“. Technik und Fortschritt sind ins
alltägliche Leben eingebrochen, wie in Szene 22 zu beobachten ist:
[…] DAS MINARETT BEKOMMT SEIN TONBAND
Gegenstände aus Deutschland
Verwandte.
Ein Ezan erklingt.
[…]
Der Dorfkönig Karagöz sitzt da.
Sein Rücken ist nackt.
Seine Frau setzt Teegläser auf seinen von Deutschland müden Rücken (Özdamar 1982: 36).

Und in der darauffolgenden Szene:


WIE DER 45 KARAGÖZ JESUS WURDE
Onkel: Bevor unser Karagöz kam, hatte ich Kopfschmerzen.
Kurz nach ihm war der Schmerz weg.
Alamania aus heterotopischer Sicht: Die Tür und das Theater 427

Tante: Seit unser Karagöz nach Alamania gegangen ist, sind unsere Kinder klug wie
Allah geworden.
[…]
Şemsettin: Karagöz, mein Jesus,
bevor ich dich kennenlernte,
hatte ich Hämoroiden [sic];
nachdem ich dich kennenlernte,
waren sie weg.
Oder:
Bevor ich dich kennenlernte,
hatte ich kein blaues Auge;
nachdem ich dich kennenlernte,
habe ich ein blaues Auge (Özdamar 1982: 37).

Nur Şemsettin, der kluge Esel, lässt sich nicht täuschen, denn er hat ja Alamania
und Karagöz’ Verwandlung miterlebt. Das idealisierte Bild Deutschlands als
„Land der technischen Zivilisation und des sozialen Fortschritts“ (Ha 2004: 37)
wird kritisch hinterfragt.6 Am Ende schenkt Karagöz seine Liebe einem Auto und
Şemsettin erleidet einen Herzanfall. Ersterer tauscht die Liebe für seinen treuen
Esel gegen die eines „Opel Record“, Symbol des Fortschritts. Seine Liebe gilt jetzt
einem leblosen und emotionslosen Gegenstand.
Ümmü, Karagöz’ Frau, wandert auch aus. In ihren Monologen steht sie mit
ihrem Kummer allein und in ihrer Einsamkeit gefangen vor der „Deutschland-­
Tür“: „Ich nicht aushalten können Deutschland“ […] „Ich nicht aushalten können
Türkei“ / „Ich habe Kopfdurchfall von Alleinsprechen“ (Özdamar 1982: 22, 25).
Özdamar verleiht Ümmü eine eigene Stimme, lässt auch Gastarbeiterinnen zu
Wort kommen und entwirft so ein Gegenbild, das die verinnerlichte Vision der
ersten MigrantInnen-­Generation als vorwiegend männlich (Ha 2004: 36) ver-
neint. Das ein- und ausgeschlossen Werden der Frauen wird beispielshaft sichtbar
in Szene 30, wo Ümmü, die Frau mit der Karre und die hinkende Frau zu Wort

6 Dieses Bild hatte sich auch in den 1960er Jahren in den Köpfen der spanischen Gesell-
schaft verfestigt, wie man in dem in Spanien sehr bekannten und populären Film Vente
a Alemania, Pepe (Komm nach Deutschland, Pepe) sehen kann. Im spanischen Dorf
gilt Deutschland als Land des Fortschritts und der Erotik, aber diese Vorstellung stellt
sich als falsch heraus, als der Protagonist nach Deutschland kommt (Regisseur: Pedro
Lazaga, 1971, Vente a Alemania, Pepe). Im Rahmen der heutigen Wirtschaftskrise hatte
2015 der Film Perdiendo el norte des Regisseurs Nacho G. Velilla seine Premiere, in dem
die neue Migrationswelle von jungen und ausgebildeten Spaniern nach Deutschland
gezeigt wird. Der Film ist auch als Hommage an die erste Generation von spanischen
Migranten zu verstehen.
428 Ana R. Calero Valera

kommen. Die Frau mit der Karre stößt mit Ümmü zusammen, die gerade von
Karagöz (und auch Şemsettin) aus Deutschland „geputzt“ wurde, wie es in der
Bühnenanweisung steht.
Aus der Deutschland-­Tür kommt eine Frau.
Sie schiebt eine Karre mit ihrem Mann.
Frau mit der Karre: Entschuldigung. Mein Mann ist verrückt geworden.
Ümmü: Meiner auch. Ist eurer verrückt auch wegen Waschmaschine?
Frau m. K.: Nein. Opel Karavan. Ich habe ihm gesagt: ‚Warum kaufen?‘ Er ist taub. Ich
scheisse [sic] auf mein Wort. Wer hört auf mich? Ich darf nicht einkaufen gehen, Türe
aufmachen, wenn klingelt. Immer in ein Zimmer. Ein Zimmer…
[…]
Hinkende Frau: […] Weisst [sic] du, ich putze Eishalle, Boxhalle, Schrebergarten, Neon-
lampen, Spinnhäuser, Friedhöfe, Botanischer Garten, ‚Lieber Georg‘ – Bühne… dann
rauche ich eine. […] Ich schicke 8 Jahre Geld. […] Er will auf sein Arsch sitzen und mich
schlaflos machen hier. Aber ich gehe nicht zurück (Özdamar 1982: 45–46).

Einerseits veranschaulicht die Frau mit der Karre ein Frauenschicksal, das oft den
Erwartungen einer bestimmten Leserschaft bzw. eines bestimmten Publikums
entspricht: eine Frau, die von ihrem Mann in den „40 Quadratmeter[n] Deutsch-
land“7 eingesperrt wird. Andererseits tritt die hinkende Frau als Gegenmodell auf,
denn sie verdient das Geld in Deutschland und ihr Mann ist im Herkunftsdorf
geblieben. Dennoch wird die Ausschließung der Migrantin in der Aneinander-
reihung der „Putzorte“ augenfällig, da diese hauptsächlich vom Zentrum des
Stadtlebens abgelegene Orte sind. Dies wird auch in dem Monolog Karriere einer
Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland (1990) thematisiert. Die Migrantin ist nur
als Putzfrau im Theater denkbar, aber nicht als Schauspielerin.8
Im Stück erscheinen auch andere weibliche Nebenfiguren, die die klischee-
haften Vorstellungen über türkische und deutsche Frauen aufdecken. Deutsch-
land als Land der „erotischen Verführung“ (Ha 2004: 37) mit seinen blonden,
sexuell gierigen Frauen entlarvt sich in Özdamars Stück als männliche Vision.
Die deutsche Frau erscheint als Lehrende, als Arbeitende und nicht als stereo-
typisiertes „Objekt der Begierde“.

7 40 Quadratmeter Deutschland ist ein Film von Tevfik Baser aus dem Jahre 1986, in dem
das Leben einer von ihrem Mann eingesperrten türkischen Frau gezeigt wird.
8 Auch in Perikızı, ihrem letzen Theaterstück, greift Özdamar auf Geschichten und
Motive zurück, die sie erstmals in Karagöz vorstellte, zum Beispiel auf das Vorurteil,
eine türkische Frau sei nur als Putzfrau vorstellbar. Die Autorin selbst setzt diesem
verinnerlichten Gedanken ihre eigene Berufslaufbahn entgegen.
Alamania aus heterotopischer Sicht: Die Tür und das Theater 429

Es treten die verschiedensten Personen auf, wobei all diesen Personen eine
entgegengesetzt wird: „der erleuchtete Intellektuelle“, der Le Monde liest. So wie
im traditionellen Karagöz-­Theater Figurentypen aller Gesellschaftsschichten
vertreten sind, kommen auch in Özdamars Theatertext vielfältige Personen vor,
wie eine Türkin ohne Kopftuch, eine Türkin mit Kopftuch (Özdamar 1982: 14),
Männer ohne Finger, ein Fußballer im Pyjama, der aus Deutschland hinaus-
geworfen wird (ibid.: 26), eine hinkende alte Hure, eine junge Blonde (ibid.: 30),
jemand beim Boxtraining, ein türkischer Gastarbeiter mit Hund und Pelzmantel,
ein türkischer Jugendlicher, ein Mann in Handschellen, ein Mann im Rollstuhl,
ein Mann mit einem Kinderwagen und einem Schild, auf dem Folgendes zu
lesen ist: „Spielen der Kinder auf / Hof, Flur und Treppen / ist im / Interesse aller
Mieter / untersagt“ (ibid.: 39), um nur einige zu erwähnen. Mit den „kleinen“
und mannigfaltigen Geschichten der Migration, die Özdamar durch diese ver-
schiedenen Figuren auf die Bühne bringt, entlarvt sie das Verhalten des „Er-
leuchteten“, denn er steht für die Menschen, die sich als tolerant, verständnisvoll
und mitfühlend ausgeben, aber in Wirklichkeit von einer engstirnigen und ein-
seitigen Mentalität geprägt sind.
Mit ähnlichen Zuspitzungen wird harte Kritik am imperialistischen Streben
der Kolonialmächte geübt. Imperialistische Haltungen nehmen Monumente
und Menschen ohne Rücksichtnahme in Besitz und ohne auf die Stimmen der
Anderen zu hören. Özdamar spielt u. a. auf die zwar wohlwollenden, doch nichts-
destotrotz umstrittenen Initiativen Harald Weinrichs und Irmgard Ackermanns
an.9 In der Szene mit der Überschrift „O Mitleid, meine ewigen Läuse“ gibt der
„Erleuchtete” seinen Ideen freien Lauf:

9 Siehe Teraoka (1987: 92–101). „Irmgard Ackermann and Harald Weinrich of the In-
stitute for German as a Foreign Language (Institut für Deutsch als Fremdsprache) at
Munich University have led the way among German scholars in focusing institutional
attention on the literature written by foreign workers. […] they have had the power,
in essence, to define and control the literary phenomenon they study” (ibid. 92 f.).
Ackermann und Weinrich veröffentlichten Anthologien, die aus Texten von den 1980
und 1982 von ihnen organisierten „literarischen“ Wettbewerben („Als Fremder in
Deutschland“ und „In zwei Sprachen leben“) bestanden. Teraoka kritisiert ihre im-
perialistische Haltung gegenüber den Autoren, deren einzige Gemeinsamkeit es war,
Deutsch als Fremdsprache gelernt zu haben. Sie erwähnt den möglichen Vergleich
zwischen ihrer Initiative und einem kulturellen Kolonialismus: „[…] Weinrich and
Ackermann call a German-­language literature of foreigners into being, just as […]
one might establish a colony and promote a kind of colonial culture modeled after the
European, […]“ (ibid. 94).
430 Ana R. Calero Valera

Was meint ihr dazu: man müsste unter den Gastarbeitern einen Gedicht- oder Kleidernäh-­
Wettbewerb machen. Dann könnte man prüfen, wie sie aus deutschen Stoffen ihre türki-
schen Kleider nähen; so könnte man sehen, wieviel von ihrer Identität noch da ist. Was
meint ihr dazu? […] Da sind 2 nackte Personen, ein türkisches Mädschen [sic] und ein
deutscher Junge. Nackt beide. Sie berühren sie [sic] mit ihren Fingerspitzen. Oder: eine
türkische und eine deutsche Göttin sollten gemeinsam die Geschichte untersuchen von
den Kreuzzügen bis zu Bismarck, von Bismarck bis heute. Oder es könnten 2 Figuren
aus unserer Stadt Pergamon erscheinen. Jetzt ist das Pergamon-­Museum in Berlin…
(Özdamar 1982: 41).

Der „Erleuchtete“ und Şemsettin sprechen aneinander vorbei; letzterer antwortet


ihm auf den hier zuletzt zitierten Satz -„Jetzt ist das Pergamon Museum in Ber-
lin…“- schlagfertig: „… das ihr euch von uns habt schenken lassen“ (Özdamar
1982: 41).
Die Begegnung zwischen dem „Erleuchteten“ und dem Jugendlichen ist von
besonderem Interesse. Der Jugendliche ist Vertreter der zweiten Generation von
Migranten in Deutschland, die dieses Land auch als ihr Zuhause empfinden und
die westlichen Werte (Geld, Autos, usw.) verinnerlicht haben und bei denen die
Nabelschnur zum Herkunftsland der Eltern bereits abgeschnitten ist. Die Auto-
rin bringt dieses Schicksal auf die Bühne und konfrontiert es mit der damaligen
offiziellen Politik: der Jugendliche ist achtzehn geworden und muss Deutsch-
land verlassen, was der Ausgangspunkt für Özdamars nächstes Theaterstück,
Keloğlan in Alamania. Die Versöhnung von Schwein und Lamm, sein wird, und
was weiterhin in Perikızı thematisiert wird. Der „Erleuchtete“ und der Jugendliche
unterhalten sich auf Englisch; diese „dritte“ Sprache markiert die Zugehörigkeit
zu einem anderen Raum, der weder deutsch noch türkisch ist, und charakterisiert
die doppelte Entfremdung der zweiten Generation. Die Begegnung zwischen den
beiden endet mit dem Satz des Jugendlichen: „Das Imperium schlägt zurück.
Good bye“ (Özdamar 1982: 40), und er wirft den „Erleuchteten“ mit einem Ka-
rateschlag zu Boden.
Diese von Özdamar geschriebenen Geschichten der Migration, der Männer
und Frauen der ersten Generation sowie der Jugendlichen der zweiten Generati-
on, zeigen, wie sich ihre Existenz im Schwellenraum, der von der Deutschland-­
Tür markiert wird, in ständiger Verhandlung befindet und stets neu definiert wird,
sowohl von den Anderen als auch von ihnen selbst. Diese Geschichten werden
auf deutschen Bühnen gespielt und konfrontieren ein homogenes Denken mit
einem „heterogenen“ Verständnis von Theater. Özdamars Begriff von Theater
kann als Heterotopie, als Versuch verstanden werden, die gesamte Institution
Theater zu untergraben.
Alamania aus heterotopischer Sicht: Die Tür und das Theater 431

3 Özdamars Theater als Heterotopie


Deutschland sei ein Einwanderungsland, heißt es mittlerweile sogar in der offiziellen
Sprachregelung der Politik. Und in der Tat hat mehr als ein Fünftel der Bevölkerung
einen Migrationshintergrund. Migration allerdings findet im deutschen Theater nur als
Marginalie statt (Schneider 2011: 9).

Mit diesen Worten fasst Wolfgang Schneider die Lage der deutschen Theater-
landschaft und der Migration zusammen. Wie Eron M. Boran anmerkt, ist die
Situation am türkisch-­deutschen Theater nicht anders:
Insgesamt präsentiert sich die deutsche Theaterlandschaft nach wie vor als eine geschlos-
sene Gesellschaft, was zur Folge hat, dass sich das türkisch-­deutsche Theater bis heute
meist auf Amateurbasis und fern der großen Bühnen im ‚kulturellen Abseits‘ oder, wie
ich es nenne, in den ‚Schattenzonen‘, zwischen Isolation und Integration abspielt (Boran
2004: 10).

Das Theater spielt hier eine zwielichtige Rolle: einerseits als Ort der Integration –
anderseits der Exklusion, aufgrund der fest verankerten Strukturen, denen die
Institution unterliegt.
Emine Sevgi Özdamar bildet eher eine Ausnahme – als Dramatikerin der Mi-
gration – und bietet ein Gegenmodell zum institutionalisierten Theater, indem
sie die Bühne in einen heterotopischen Raum verwandelt. Für Foucault ist das
Theater ein heterotopischer Raum per se:
Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich
nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen. So
bringt das Theater auf dem Rechteck der Bühne nacheinander eine ganze Reihe von Orten
zur Darstellung, die sich gänzlich fremd sind (Foucault 2006: 324).

In seinem Essay setzt Foucault das Theater dem Kino gleich und geht darauf nicht
näher ein. Aber wenn man versucht, gerade mit Hilfe des gesamten Textes von
Foucault das Theater als Ganzes als Heterotopie zu verstehen, kommt man zu
dem Schluss, dass es ein Zwischenraum ist, der „fließen [kann] wie Wasser, fest
und starr sein [kann] wie Stein oder Kristall“ (Foucault 2006: 319). Und gerade
in diesem Dazwischen positioniert sich Emine Sevgi Özdamars Theater, das u. a.
durch karnevaleske Mittel und intertextuelle Spiele die Gegengeschichten der Mi-
granten aus der ersten (bis dritten) Generation auf die Bühne bringt.10 Ihr Theater,
verstanden als Heterotopie, erweitert den ursprünglichen Sinn, den Foucault dem

10 Wie bereits erwähnt, bedient sich die Autorin westlicher und ‚östlicher‘ Traditionen,
der Hoch- und der Populärkultur. In Karagöz in Alamania findet man beispielsweise
die Übersetzung von türkischen Metaphern und Zitaten ins Deutsche, sowie die Ver-
432 Ana R. Calero Valera

Theater gab, denn die Orte und die Geschichten sind sich nicht „gänzlich fremd“
und außerdem durchdringen sich bei Özdamar Homogenes und Heterogenes.
Wie Wihstutz postuliert,
[…] geht [es] darum, die Heterotopie weniger als einen Behälterraum zu denken, viel-
mehr als einen Raum, dessen Grenzen permanent verschoben und performativ aus-
gehandelt werden können. […] Heterotopie […] als ein Schwellenraum […], in dem
Grenzen verschwimmen und ein liminales Zwischen jenseits von herrschenden Regeln
und Konventionen entstehen kann (Wihstutz 2012: 20, cf. Warning 2009).

4 Schluss
Özdamar kreiert einen literarischen heterotopischen Raum, in dem sie ihre eigene
Stimme artikulieren kann. Sie besetzt mit ihrer Schrift einen nicht zu fixierenden,
einen im Fluss befindlichen theatralischen Raum. Sie wehrt sich sowohl mit der
Form als auch mit dem Inhalt ihres Textes gegen jede mögliche Festlegung; sie
kritisiert festgeschriebene Mechanismen sowie verinnerlichte und verbreitete
Wertvorstellungen und Stereotypen von der und über die erste Generation von
MigrantInnen in Deutschland.
In Karagöz in Alamania gibt es keinen Spiegel, wie es in Özdamars letztem
Stück Perikızı der Fall ist, sondern eine Deutschland-­Tür. Nur die eine Seite wird
reflektiert. Die andere Seite, die man nicht sieht (sie erscheint nur in den Dialogen
der Personen, die durch die Deutschland-­Tür gehen und aus ihr herauskommen),
übt aber einen dermaßen großen Einfluss auf die Personen aus, dass sich im Laufe
des Stücks das Antlitz des einst dörflichen Lebens durch den aus Deutschland
eingebrachten „Fortschritt“ (in Form von Fernsehern, Tonbandgeräten und vor
allem Autos) stark verändert.
Özdamars Theater befindet sich aus heterotopischer Sicht in einem Dazwi-
schen. Die Bühne lässt sich mit einem Wasserfahrzeug vergleichen, das mit den
Gegengeschichten der ersten bis dritten Generation von Migranten in Deutsch-
land in einem Zwischenraum kreuzt. Für Foucault sind Schiffe „die Heterotopie
par excellence“, „ein Stück schwimmenden Raumes […], Orte ohne Ort, ganz auf
sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem endlosen Meer aus-
geliefert […]“ (Foucault 2006: 327). In diesem letzten Bild spiegelt sich Özdamars
Migrationstheater.

wendung von Gastarbeiter-­Deutsch, Türkisch, Englisch, literarische, biblische, mar-


xistische Zitate und deren Umkehrungen, Pop-­Songs sowie die Abwechslung von Vers
und Prosa.
Alamania aus heterotopischer Sicht: Die Tür und das Theater 433

Literatur
Boran, Erol M. 2004: Eine Geschichte des türkisch-­deutschen Theaters und Kaba-
retts. Dissertation. The Ohio State University, im Internet unter https://etd.
ohiolink.edu/!etd.send_file?accession=osu1095620178&disposition=inline
[06.10.2014]
Calero Valera, Ana R. 2013: „Das Spiel mit der Tradition: Emine Sevgi Özdamars
Karagöz in Alamania“, in: Sturm-­Trigonakis & Delianidou (eds.) 2013: 239–250
Dünne, Jörg 2004: Forschungsüberblick „Raumtheorie“, im Internet unter http://
www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4.pdf [15.9.2014]
Dünne, Jörg & Stephan Günzel (eds.) 2006: Raumtheorie. Grundlagentexte aus
Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
El Hissy, Maha 2012: Getürkte Türken. Karnavaleske Stilmittel im Theater, Kabarett
und Film deutsch-­türkischer Künstlerinnen und Künstler, Bielefeld: transcript
Foucault, Michel 2006: „Von anderen Räumen“, in: Dünne  & Günzel (eds.)
2006: 317–329
Ha, Kien Nghi 2004: Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle Identität, Dif-
ferenz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin: wvb
Mecklenburg, Norbert 2007: „Karnevalistische Ästhetik des Widerstands. Formen
des Gesellschaftlich-­Komischen bei Emine Sevgi Özdamar“, in: Peter Weiss
Jahrbuch 16 (2007): 85–102
Özdamar, Emine Sevgi 1982: Karagöz in Alamania. Ein türkisches Stück, Frankfurt
a. M.: Verlag der Autoren (Bühnenmanuskript)
Özdamar, Emine Sevgi 1990: „Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutsch-
land“, in: id. 1990: Mutterzunge. Erzählungen, Berlin: Rotbuch, 102–118
Özdamar, Emine Sevgi 2010: „Perikizi. Ein Traumspiel“, in: Ruhr.2010, Uwe
B. Carstensen & Stefanie v. Lieven (eds.): Theater Theater. Odyssee Europa Ak-
tuelle Stücke 20/10, Frankfurt a. M.: Fischer
Pazarkaya, Yüksel 1989: „Karagöz – Das Schattenspiel als Vorwegnahme des
epischen und absurden Dramas?“, in: id. 1989: Rosen im Frost. Einblicke in die
türkische Kultur, Zürich: Unionsverlag, 203–224
Schneider, Wolfgang 2011: „Warum wir kein Migranten-­Theater brauchen… aber
eine Kulturpolitik, die in Personal, Produktion und Publikum der dramati-
schen Künste multiethnisch ist“, in: id. (ed.) 2011: Theater und Migration. He-
rausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis, Bielefeld: transcript, 9–18
Sturm-­Trigonakis, Elke & Simela Delianidou (eds.) 2013: Sprachen und Kulturen
in (Inter)Aktion, Frankfurt a. M.: Peter Lang
434 Ana R. Calero Valera

Tantow, Lutz 1985: „‚aber mit ein bißl einem guten Willen tät man sich schon ver-
ständigen können‘. Aspekte des ‚Gastarbeiter‘-Theaters in der Bundesrepublik
Deutschland und West-­Berlin“, in: InfoDaF 12.3 (1985): 208–221
Teraoka, Arlene Akiko 1987: „Gastarbeiterliteratur: The Other Speaks Back“, in:
Cultural Critique 7 (1987): 77–101
Warning, Rainer 2009: Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München:
Wilhelm Fink
Wierschke, Annette 1996: Schreiben als Selbstbehauptung: Kulturkonflikt und Iden-
tität in den Werken von Aysel Özakin, Alev Tekinay und Emine Sevgi Özdamar.
Mit Interviews, Frankfurt a. M.: IKO
Wihstutz, Benjamin 2012: Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhand-
lungen im Gegenwartstheater, Zürich: diaphanes
Norbert Mecklenburg (Köln)

Transit Tauris-­Tenochtitlán-­Türkei:
Iphigenia als kulturelle Überläuferin und
transkulturelle poetische Spielfigur

Abstract: Euripides’ tragedy Iphigenia in Tauris is one of the most effective plays of Western
world literature. But its questionable inheritance is a type of othering represented by con-
trasting Greeks with ‘barbarians’. The most prominent turning point within the reception
history of Euripides’ play is Goethe’s drama Iphigenie auf Tauris, not least because of its
humanistic deconstruction of this Eurocentric pattern. Two modern non-­European writers
have used Euripides’ and Goethe’s plays as models for new dramatic versions. In both plays
Iphigenia decides not to return to Greece but to stay in Tauris permanently: She changes
her divine, miraculous transfer from Aulis to Tauris into an autonomous, cultural transit.
In Ifigenia cruel by the Mexican author Alfonso Reyes she prefers to work on as priest-
ess, slaughtering strangers, instead of becoming involved in the murderous history of her
family. In Iphigenia Tauris’te by the Turkish author Selâhattin Batu she marries Thoas, the
king of Tauris, and he on his part abolishes the institution of harem. But both works raise
serious critical questions with regard to Iphigenia’s cultural transit.

Auf der Halbinsel Krim begegnen sich, von Gewalt bedroht und zu Gewalt bereit,
Menschen aus zwei verschiedenen Gruppen, Völkern, Kulturen – das ist, zumin-
dest was den Handlungsort betrifft, die wahrhaftig nicht inaktuelle interkulturelle
Konstellation eines der ältesten und wirkungsmächtigsten Dramen der Welt-
literatur, nämlich der taurischen Iphigenie des Euripides. Dieses Stück, einerseits
ein dramatisches Meisterwerk der attischen Aufklärung, andererseits ein ideo-
logisches Tendenzstück, das gezielt ethnozentrisch ‚zivilisierte Griechen‘ gegen
‚primitive Barbaren‘ ausspielt, ist seit seiner Wiederentdeckung in der Renais-
sance immer wieder umgeschrieben worden. Es entstanden viele christianisierte,
eurozentrische, orientalistische (im Sinne Edward Saids) und kolonialistische
Versionen.
So gab Zarin Katharina 1768 eine italienische Oper Ifigenia in Tauride in
Auftrag: Diese sollte Entbarbarisierung als Christianisierung, also als Ent-­
Osmanisierung propagieren, ehe Russland dann tatsächlich 1783 die Krim
annektierte (Hall 2013: 177 ff.). Im Gegenzug dazu entwarf 1903 die Dichterin
Lesja Ukraïnka eine taurische Iphigenie, in der sich symbolisch eine radikale
ukrainische Widerstandskämpferin gegen Russenherrschaft und Patriarchat spie-
geln sollte (Hall 2013: 258–263). Den künstlerisch und geistig bedeutendsten
436 Norbert Mecklenburg

Wendepunkt in der gesamten Wirkungsgeschichte des antiken Dramas bildet


Goethes Iphigenie auf Tauris. Darin wird in aufklärerisch-­humanistischem Geist
mit dramatischen Mitteln der Barbaren-­Topos dekonstruiert, den die Griechen
an die Europäer vererbt hatten. Aber nach Goethe, vor allem im 20. Jahrhundert
der Extreme, blieb auch und gerade seine Iphigenie von Dekonstruktion nicht
verschont.
Iphigenie-­Stücke haben sich in der Moderne meist an dem Zwiespalt zwischen
mythischer Fabel, humanistischem Ideal und gesellschaftlicher Realität gerieben.
Der Akzent lag dabei entweder mehr auf Humanismuskritik oder auf politischer
Herrschaftskritik. Man könnte, stark abstrahierend, drei Typen unterscheiden:
erstens einen eurozentrischen, der an der Griechen-­Barbaren-­Asymmetrie mehr
oder weniger ungebrochen festhält; zweitens einen humanitätsskeptischen, der
sich am Widerspruch zwischen dem Klassizismus von Goethes Iphigenie und mo-
derner gesellschaftlicher Realität reibt und gern zwischen Zivilisationskritik und
politischer Kritik oszilliert; drittens einen ‚primitivistischen‘, der den Barbaren-­
Topos umkehrt oder dekonstruiert, so dass das zentrale Menschenopfer-­Motiv
keiner humanistischen Aufhebung bedarf.
Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden das ‚Transit‘-Thema an der
intertextuellen Konstellation konkretisieren, in der die Iphigenie-­Dramen von
Euripides und Goethe mit zwei modernen Dramen von nicht-­europäischen Au-
toren stehen. Ich werde aber weniger von dem Transit des Iphigenie-­Mythos und
-Dramas durch viele Epochen und Kulturen handeln (Hall 2013) als von einem
Transit zweier Iphigenie-­Figuren, die nicht nach Griechenland zurückkehren,
vielmehr in Tauris bleiben. Die etwas rätselhafte Alliteration des Titels „Tauris-­
Tenochtitlán-­Türkei“ soll andeuten, dass es sich jeweils um ein Stück aus Mexiko
und eins aus der Türkei handelt. Aber ich könnte meine Studie vielleicht auch,
einen postkolonialen Slogan aufgreifend, ganz einfach nennen: Tauris writes back.
In beiden Stücken wird der Escape- bzw. Return-­Plot, den auch Goethe nicht
angetastet hat, aus nicht-­europäischer Perspektive radikal umgeschrieben zu
einem Transit-­Plot: Iphigenie kehrt nicht in ihre griechische Heimat zurück,
sondern entscheidet sich bewusst für Tauris. Damit verwandelt sie ihren früheren,
göttlichen Transfer in einen selbstbestimmten, menschlichen Transit: Sie wird
zu einer kulturellen Überläuferin. Der Tempelbezirk, in dem alle vier Dramen
einheitlich spielen, wird in den beiden modernen Dramen zu einem einmaligen,
individuellen Transit-­Raum. Die Figur des Überläufers ist in ihnen jedoch nicht
etwa im Sinne einer Zivilisationsflucht modelliert, wie sie viele reale kulturelle
Überläufer motiviert hat (Kohl 1987), sondern im existentiellen Sinne eines Wag-
nisses, „das die eigene Identität aufs Spiel setzt“ (Ihekweazu 1991: 108).
Transit Tauris-­Tenochtitlán-­Türkei 437

Diese beiden Stücke, Ifigenia cruel von Alfonso Reyes und Iphigenia Tauris’te
von Selâhattin Batu, lassen sich den genannten drei Typen nicht glatt unterordnen,
sondern haben jeweils ein eigenständiges Profil. Die interkulturelle Problematik,
die mit der Fabel gegeben ist, wird in jedem von beiden sehr verschieden, aber
gleich markant umgeschrieben. Gemeinsam wiederum ist der Transit-­Plot: Iphi-
genie bleibt in Tauris. Während Reyes dabei eine zwar zwischen Humanismus und
Primitivismus schillernde, aber klar postkoloniale Position bezog, nahm Batu eher
eine späthumanistische, assimilatorische Position gegenüber der hegemonialen
westlichen Kultur ein. Und während Batu sich mehr an Goethe, hat Reyes sich
mehr an Euripides angelehnt. Darum gehe ich, wenn auch nur stichwortartig,
zunächst auf diese beiden Prätexte ein.
Euripides zeigt in seiner Iphigeneia bei den Taurern die Griechin als Fremde
unter Barbaren. Als sie Orest und seinen Freund Pylades wiedergefunden hat,
die mit dem Tod bedroht sind, ersinnt ihre weibliche List einen Fluchtplan. Als
dessen Ausführung im letzten Augenblick platzt und der König grausame Rache
anordnet, erscheint die Göttin Athene und gebietet ihm Einhalt. Und Thoas,
der fromme oder dumme Barbar, gehorcht aufs Wort. Wie Euripides hier eine
interkulturelle Begegnung inszeniert, das hat eine ausgesprochen ethnozentrische
Schlagseite. So komplex und meisterhaft das Stück ist, so ungebrochen propagiert
es den ideologischen Gegensatz ‚Griechen vs. Barbaren‘ (Hall 1989), hier gekop-
pelt mit dem Gegensatz ‚Europa vs. Asien‘. Die Männer Orest und Pylades emp-
finden für Tauris, seine Kultur und seinen König, nichts als Verachtung, was ihre
Bereitschaft zu den Verbrechen des Tempelraubs und sogar des Königsmordes nur
erhöht. Vor allem versucht Euripides das tragische Konfliktthema des Menschen-
opfers als interkulturelles Differenzkriterium hinzustellen: ‚nur Barbaren opfern
Menschen‘ – was sein Stück selbst jedoch Lügen straft.
Goethes Iphigenie dagegen hat als Priesterin in Tauris, nicht als griechische
Kulturmissionarin, sondern als Personifikation des Göttlichen im Menschen, das
Ritual des Menschenopfers abschaffen können. Aber einen Heiratsantrag, den ihr
König Thoas macht, lehnt sie wegen ihrer ungebrochenen Sehnsucht nach dem
„Land der Griechen“, also ihrer Heimat, ab. Der tragische Konflikt entsteht nun
so: Der gekränkte Thoas verlangt Wiederaufnahme der Menschenopfer; die zwei
dafür bestimmten Fremden stellen sich als Orest und Pylades heraus; Iphigenie
steht somit vor der Wahl, den ihr liebsten Menschen, ihren Bruder, durch List
und Betrug zu retten und selber in die Heimat zurückzugelangen, oder um jeden
Preis wahrhaftig und loyal zu sein und allein an Großmut und Menschlichkeit des
Königs zu appellieren. Als ihr dies tatsächlich gelingt und Thoas die Griechen zie-
438 Norbert Mecklenburg

hen lässt, bietet Iphigenie ihm statt einer Trennung in Feindschaft ein „freundlich
Gastrecht“ zwischen Griechen und Skythen an, worauf er nur mit einem kurzen
„Lebt wohl!“ antwortet.
Die trans- und interkulturelle Dimension1 von Goethes Drama, das nicht aus
klassizistischem Gips geformt, sondern ein echtes Drama der Aufklärung ist,
besteht in dem humanistischen Gegenentwurf zum ethnozentrischen Prätext von
Euripides. Der Griechen-­Barbaren-­Topos wird durch meisterhafte dramatische
Dialogizität dezentriert und dekonstruiert. Reale Kulturunterschiede, hier: die
von Griechen und Skythen, werden an den normativen Grundlagen interkulturel-
ler Verständigung gemessen, an einer universalistischen Ethik, die Anerkennung
von Differenz einschließt. Der Dramenschluss ist utopisch so modelliert, dass
beide Seiten, Taurer wie Griechen, auf die transkulturelle „Stimme der Wahrheit
und der Menschlichkeit“ hören. Von diesem humanistisch-­transnationalen Ideal
aus übt das Stück auch politische Kritik an Willkür von Herrschaft. Mit all dem
ist Goethes Iphigenie auf Tauris die bedeutendste Fortschreibung des Dramas von
Euripides in dessen gesamter Wirkungsgeschichte bis heute geblieben.
Ganz anders als Goethe hat der moderne mexikanische Autor Alfonso Reyes
das Stück von Euripides umgeschrieben. In welcher Richtung, das deutet er be-
reits mit dem Titel an: Ifigenia cruel, die grausame Iphigenie. Denn bei ihm ob-
liegt es der jungfräulichen Priesterin, eigenhändig Fremde als Menschenopfer
zu schlachten und zu zerlegen. Sie hat jedes Gedächtnis an ihre Herkunft ver-
loren oder verdrängt. Als sie dann, unter den bekannten Umständen, Orestes mit
Pílades begegnet, wird diese Anagnorisis für sie zu einem Schock: Sie erfährt die
unüberbietbar blutige Geschichte ihrer Familie, die sie als Opferpriesterin nun
ihrerseits fortsetzen müsste. Ihr einziger Ausweg scheint zu sein, dem nachdrück-
lichen Drängen ihres Bruders zu folgen und mit den beiden nach Griechenland
zu fliehen.
Aber Ifigenia erhebt entschieden einen zugleich weiblichen und ‚antikolo-
nialen‘ Einspruch gegen das autoritär-­männliche Gebaren und Konquistadoren-­
Gerede ihres Bruders, der Tauris einfach nach altbekanntem Muster als ‚Barbarei‘
diffamiert und sie unter die Fittiche ihrer mörderischen Familie bringen will.
Sie dagegen nimmt sich die Freiheit, Orestes’ Heimkehrforderung abzulehnen,
ihrem Amt in Tauris treu zu bleiben und aus einer bisher unbewussten zu einer
bewussten kulturellen Überläuferin zu werden. Mit dem Ausruf „No quiero!“, ‚Ich
will nicht!‘ zieht sie sich in den Tempel zurück – wobei offen bleibt, ob sie sich

1 Unter ‚transkulturell‘ verstehe ich, was über eine einzelne Kultur hinausgeht, unter
‚interkulturell‘, was sich zwischen zwei oder mehreren Kulturen abspielt.
Transit Tauris-­Tenochtitlán-­Türkei 439

damit auch einem Brudermord zu entziehen versucht. Dass die beiden Griechen
tatsächlich verschont und freigelassen werden, ist nicht ihr, sondern der souve-
ränen, humanen Milde von Toas zu verdanken.
Alfonso Reyes (1889–1959) war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die
überragende literarische Gestalt Mexikos. Seine Ifigenia cruel schrieb er nach der
Revolution im spanischen Exil. Bevorzugt man unter mehreren möglichen Lesar-
ten dieses poetisch sehr dichten und komplexen Stücks eine kritisch-­postkoloniale,
dann liest sich Ifigenia cruel als bewusste Arbeit an einem abendländischen My-
thos und Diskurs aus lateinamerikanischer Perspektive, als grenzüberschreitendes
inter- und transkulturelles poetisches Spiel (Ette 2001: 328, 337). Der Mythos wird
umgeschrieben, der escape plot fallengelassen: Ifigenia kehrt nicht heim, sondern
bleibt. Und der Diskurs wird gebrochen: Ihr Entschluss, bei den ‚barbarischen Pri-
mitiven‘ zu bleiben, ist mit ihrer Kritik an der Barbarei der ‚Zivilisierten‘ motiviert.
Das eurozentrische Griechen-­Barbaren-­Muster wird also, historisch treffend, in
seiner kolonialistischen und imperialistischen Modernisierung und seiner An-
wendung auf die Beziehung Europa / Lateinamerika kritisch vorgeführt und – bis
zu einem gewissen Punkt – dekonstruiert.
Dieser Kritik dienen die ebenso deutlichen wie diskreten altmexikanischen
Konnotationen: Tauris als Tenochtitlán, Reyes’ Theaterstück als Neuinszenierung
nicht nur der klassisch-­griechischen Menschenopfer-­Tragödie, sondern auch des
„sacrificial theatre“ der Azteken (Pizzato 2004: 41). Indem Reyes den taurischen
Opferkult als geradezu ‚aztekisch‘ inszeniert, greift er kritisch-­ironisch das euro-
zentrische Bild barbarischer ‚Vitzliputzli-­Azteken‘ auf. Schon Las Casas hatte in
dem berühmten Streitgespräch mit Sepúlveda erklärt, die Spanier hätten seit
der Entdeckung Amerikas der modernen Göttin der Gier unvorstellbar mehr
Menschen geopfert als die Indianer ihren alten Göttern (Keen 1971: 97). Auf
dieser Linie argumentierte zur Zeit der Entstehung der Ifigenia cruel auch eine
für Mexiko spezifische indigenistische Strömung: Dieser indianismo „presented
the Aztecs of the past as a sign of the civilized and the Spanish as a sign of the
barbaric“ (Conn 2002: 116). Ähnlich wägt offenbar auch Reyes’ Ifigenia die Bru-
talitäten ihrer griechisch-­europäischen Landsleute mit ihrer eigenen taurischen
Opferkultur ab. Für sie, die „Alta senora cruel y pura“ (Reyes 1959: 349), die
‚hohe Herrin, grausam und rein‘ (Ette 2001: 340), wie der Chor sie besingt, die
„carnicera“, die ‚Schlächterin‘, wie der Autor sie genannt hat (Ette 2001: 337),
steht das geweihte sacrifice höher als das banale victim, ist religiöse Gewalt eher
zu vertreten als familiäre (Barrenechea 2012: 7).
Warum, das bleibt jedoch eine Leerstelle in dem Stück, die viele Fragen auf-
wirft. Primitive vs. zivilisierte Barbarei, Opferkultur vs. Massakerkultur? Aber
440 Norbert Mecklenburg

die archaische Barbarei intraethnischer familialer Blutrache unter den Atriden


kann schwerlich ein Symbol für die moderne Barbarei des Genozid-­Verbrechens
der Spanier in Lateinamerika abgeben. Und wie weit trägt die poetische Ver-
fremdung des modernen zu einem präkolonialen Mexiko in Gestalt eines azte-
kisch uminszenierten Tauris? Repräsentiert die Figur einer grausamen Iphigenie
nur symbolisch und zugleich illusionslos realistisch die politische Lage in und
nach der mexikanischen Revolution? Beklagt der Autor, dem man einen „Huma-
nismus sui generis“ zugesprochen hat (Kozlarek 2009: 62), die gewaltförmigen
Widersprüche in seiner mexikanischen Heimat als ausweglos, oder ideologisiert
er sie, indem er sie zu kosmischer Tragik aufbläht – womöglich im Sinne eines
‚antihumanen Humanismus‘ und ‚antimodernen Modernismus‘, der wie in Eu-
ropa so auch in Lateinamerika in Mode war (Keen 1971: 421)? Einen solchen
vertrat bereits in der frühen Moderne, mit Berufung auf die Antike, z. B. der
Anti-­Aufklärer und Menschenopfer-­Philosoph de Maistre in seinem Traité sur
les sacrifices (1821) oder sein Schüler Nietzsche: „Von allen Mitteln der Erhebung
sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am
meisten erhoben und gehoben haben“ (Nietzsche 1966: III, 52). In Lateinamerika
tat das z. B. der mexikanische Gelehrte Manuel Orozco (Keen 1971: 421). Solchen
Spekulationen mag Reyes gefolgt sein, der, wie Ortega y Gasset, mit dem er in
Spanien zusammengearbeitet hatte, ein konservativer Denker und politisch ein
antisozialistischer Liberaler war: Sein Staatsideal war ein „authoritarian liberal
state“ (Conn 2002: 167).
Folgte auch Reyes dieser antihumanistischen, primitivistischen Spur, indem
er ein Tenochtitlán-­Tauris mit zugleich arkadisch friedlichen und archaisch
blutigen Zügen entwarf? Oder rettet seine grausame Ifigenia ihre Wahlheimat
Tauris „als Reservoir einer Humanität, die sich hinter ihrer Grausamkeit verbirgt“
(Ette 2001: 348)? Hinter oder eher neben ihr? Aber wie passt die Humanität, die
„clemencia“ des Toas, die an Thoas in Goethes Drama erinnert, mit der „crueldad“
seiner Priesterin zusammen? Soll damit etwa eine intrakulturelle Differenz Alt-­
Mexikos angedeutet sein, wo neben der hegemonialen aztekischen Kultur, deren
militaristische Ideologie Krieg und Menschenopfer zu Gesetzen des Universums
mystifizierte, eine residuale toltekische Kultur weiter fortbestand, die auf Frieden
und Harmonie, Humanität und Spiritualität setzte (Keen 1971: 43–47)? Noch
Ernesto Cardenal hat, z. B. in Quetzalcóatl (1985), diese toltekische Kultur als
utopisches Modell konstruiert (Conn 2002: 23). – Das alles sind ebenso belang-
volle wie offene Fragen an Reyes’ Iphigenie-­Stück.
Eine vierte Iphigenie-­Version kommt aus der Türkei, also genau dem ‚Orient‘,
als der Tauris in den christlich-­abendländischen Versionen imaginiert worden
Transit Tauris-­Tenochtitlán-­Türkei 441

ist. Die Ausgangssituation ist wie bei Goethe: Iphigenia, die sich in ihre Heimat
zurücksehnt, ist über den Heiratsantrag des Königs Thoas bestürzt. Aber nicht aus
Heimweh, sondern weil sie nicht Nebenfrau im Harem des orientalischen Herr-
schers sein will. Er jedoch bietet ihr sein Herz an, nicht ein Lustbett in seinem
Serail. Als es dann zur Begegnung mit Orest kommt, bietet die Schwester aus
Angst um ihn und seinen Begleiter dem König nun das Jawort an, falls er auf die
Tötung der beiden verzichte. Thoas, von ihrer Selbstlosigkeit ergriffen, sagt ihr
dies sofort großmütig zu, nimmt seinen Antrag einfühlsam zurück und erklärt
die griechischen Gefangenen und die Priesterin für frei, heimzukehren. Als sich
nun angesichts dieses Edelmuts Iphigenias tiefe Rührung in echte Liebe zu Thoas
verwandelt, zweifelt nun er seinerseits an diesem Wandel. Aber er selbst hat sich
gewandelt, denn Iphigenia hat ihm bewusst gemacht, wie unwürdig die Institution
des Harems ist, und verspricht ihr, ihn abzuschaffen: Nur sie allein werde von
nun an in seinem Herzen und in seinem Schloss herrschen. Als sie ihm darauf
schlicht antwortet: „Mein Herz ist dein“, vermag er ihr endlich zu glauben, und
das glückliche Ende ist gesichert.
Das ist Iphigenie auf Tauris in der Version des türkischen Autors Selâhattin
Batu (1905–1973), veröffentlicht 1942 als Versdrama unter dem Titel Iphigenia
Tauris’te in Ankara. Batu, der zur intellektuellen Elite der jungen Republik ge-
hörte, aktualisierte Goethes Iphigenie in Zusammenhang mit Modernisierungs-
problemen der türkischen Gesellschaft. Er griff die bei Euripides rudimentär, bei
Goethe intensiv ausgestaltete Geschlechter-­Thematik auf, um patriarchalische
Muster bewusst zu machen, die der Harem symbolisiert, und um für das ‚west-
liche‘ Ideal der Liebesehe zu werben, die auf wechselseitiger Achtung und emo-
tionaler Zuneigung von Mann und Frau beruht (Gabain 1954: 279).
Diesem modernen Ehekonzept entsprechend, läuft die dramatische Handlung
auf eine wechselseitige Menschlichkeits- und Liebesprobe hinaus. Das leitende
Konzept heißt Verinnerlichung und ist in der Rhetorik der Dialoge überdeutlich
greifbar: Das Herz wird gegen das Serail, die Sprache des Herzens gegen Tugend-
konvention und Misstrauen, das innere Bild und innere Licht Gottes im mensch-
lichen Herzen gegen Götterbilder und äußerliche Kultformen ausgespielt. Die
interkulturelle Botschaft des Stücks besteht nicht nur darin, dass es am Beispiel
einer interkulturellen Eheschließung demonstriert, wie die Sprache des Herzens
Sprach- und Kulturgrenzen überwinden kann, sondern auch in der Modellierung
einer sehr positiven Thoas-­Figur und damit einer Zurückweisung des traditionel-
ler Klischees von orientalischem Despotismus und exotischer Erotik.
Die Dramaturgie und Rhetorik der Liebe, die in Batus Stück dominieren,
enthalten indessen darin noch ein konservativ-­patriarchalisches Moment, dass
442 Norbert Mecklenburg

Mann und Frau ‚komplementär‘ gesehen werden: männlicher Edelmut – weib-


liche Zurückhaltung, männliche Initiative, weibliche Hingabe usw. Sehr viel
nachdenklicher stimmt jedoch, nicht ganz unähnlich wie bei Reyes, wie mit
dem Thema Menschenopfer umgegangen wird: Es bleibt auf der Strecke. Der
königliche Harem wird aufgehoben, über eine Aufhebung der Menschenopfer
verlautet nichts. Wird Iphigenia vor dem, was ihr als Priesterin Abscheu erregt
hat, als Königin die Augen verschließen? Das neue Herrscherpaar führt – ganz
nach kemalistischem Modell – von oben die bürgerlich-­moderne Ehe ein, aber
wie steht es mit weiteren Grund- und Menschenrechten? Für diese peinliche Frage
hat Batus bürgerliches Weihespiel türkischer Modernisierung, das sich auf das
Thema Liebe und Ehe konzentriert, keinen Raum. Sie bleibt offen, denn allzu
abstrakt und gesellschaftsfern feiert das Stück eine kulturelle Überläuferin und
eine interkulturelle Liebesehe.
Ich fasse zusammen: Euripides greift zwar gerade die interkulturellen Momente
des mythischen Stoffes auf, um ein dramatisches Modell für zivilisatorischen Fort-
schritt zu entwerfen, aber dabei verharrt er in einer ethnozentrischen Diffamie-
rung der Anderen als Barbaren, einer Haltung, die ihrerseits als Modell für die
Tradition europäischer Fremdenverachtung gelesen werden kann. Alfonso Reyes
modelliert gezielt postkolonial das Tauris des Euripides nach dem Muster des
mexikanischen Tenochtitlán und die Iphigenie-­Figur zu einer kulturellen Über-
läuferin. Bewusst in Kauf nimmt er dabei offenbar eine gewisse Zweideutigkeit
des Menschenopfer-­Motivs, dem etwas von indigenistischer, primitivistischer
oder tragisch-­vitalistischer Apologie der Gewalt anhaftet.
Auch in Selâhattin Batus Iphigenia Tauris’te wird der Tempelbezirk für die
Hauptfigur zum Transit-­Raum. Batu aber schreibt, gezielt anti-­orientalistisch,
jedoch an westlichen Mustern orientiert, das Iphigenie-­Drama Goethes so um,
dass er dessen Tendenz zu Verinnerlichung mit der Reduktion auf das Thema
‚monogame Ehe statt Harem‘ sogar noch überbietet. Und er ‚vergisst‘ dabei die
Problematik des Menschenopfers, d. h. staatlicher Gewalt und Verletzung von
Menschenrechten. Goethe zeigt in seiner Iphigenie auf Tauris zwar nicht, wie dem
glücklichen Augenblick gewaltloser Menschlichkeit, mit dem das Stück schließt,
Dauer verliehen werden könnte, wie es also in Tauris und in Mykene weiter-
gehen soll; aber auch Reyes und Batu zeigen nicht, welchen Preis Iphigenie für
ihr Überläufertum, für ihren kulturellen Transit nach Tauris zahlt. Da bleiben
viele Fragen offen.
Transit Tauris-­Tenochtitlán-­Türkei 443

Literatur
Adorno, Theodor W. 1958: Philosophie der neuen Musik, Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp
Barrenechea, Francisco 2012: „At the Feet of the Gods: Myth, Tragedy, and Re-
demption in Alfonso Reyes’ Ifigenia cruel“, in: Romance Quarterly 59 (2012):
6–18
Batu, Selâhattin 1942: Iphigenia Tauris’te, Ankara: [ohne Verlagsangabe]
Conn, Robert T. 2002: The Politics of Philology. Alfonso Reyes and the Invention of
the Latin American Literary Tradition, Lewisburg: Bucknell University Press
Ette, Ottmar 2001: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschrei-
tenden Schreibens in Europa und Lateinamerika, Weilerswist: Velbrück Wissen-
schaft
Euripides 1992: Iphigenie bei den Taurern, Stuttgart: Reclam
Gabain, Annemarie von 1954: „Ein türkisches Iphigenien-­Drama“, in: Meier (ed.)
1954: 278–287
Goethe, Johann Wolfgang 71974: Werke, ed. Erich Trunz, München: C.H. Beck
Hall, Edith 1989: Inventing the Barbarian. Greek Self-­Definition through Tragedy,
Oxford: Clarendon Press
Hall, Edith 2013: Adventures with Iphigenia in Tauris. A cultural history of Euri-
pides’ Black Sea tragedy, New York: Oxford University Press
Ihekweazu, Edith 1991: „Überläufer“, in: Shichiji (ed.) 1991: 107–113
Keen, Benjamin 1971: The Aztec Image in Western Thought, New Brunswick, New
Jersey: Rutgers University Press
Kohl, Karl-­Heinz 1987: „‚Travestie der Lebensformen‘ oder ‚kulturelle Konver-
sion‘? Zur Geschichte des kulturellen Überläufertums“, in: id. 1987: Abwehr
und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie, Frankfurt a. M.: Campus, 7–38
Kozlarek, Oliver 2009: „Humanismus in Lateinamerika“, in: Rüsen & Laass (eds.)
2009: 53–69
Meier, Fritz (ed.) 1954: Westöstliche Abhandlungen (Festschrift für Rudolf
Tschudi), Wiesbaden: Harrassowitz
Nietzsche, Friedrich 1966: Werke, ed. Karl Schlechta, München: Hanser
Pizzato, Mark 2004: Theatres of Human Sacrifice, New York: SUNY Press
Reyes, Alfonso 1959: Obras completas, Bd. 10, México: Fondo de Cultura Eco-
nómica
444 Norbert Mecklenburg

Rüsen, Jörn & Henner Laass (eds.): Interkultureller Humanismus, Schwalbach/


Ts.: Wochenschau
Shichiji, Yoshinori (ed.) 1991: Akten des  VIII. Internationalen Germanisten-­
Kongresses Tokyo 1990, Bd. 2, München: iudicium
Ukraïnka, Lesya 1971: „Iphigenia in Tauris“, in: The Ukrainian Review 18 (1971):
45–50
Svetlana Bartseva (Berlin)

Die Transformation von Dostoevskijs


„Krisenräumen“ in der Inszenierung von
Frank Castorfs „Der Idiot“

Abstract: The organisation of space in Frank Castorf ’s play The Idiot (2002) challenges the
spectator, as it provides the narrative and formal centre of the entire theatrical performance.
In his 1929 study on the polyphonic poetics of Dostoyevsky, Michail Bakhtin examines, inter
alia, the specific properties of the chronotopos. According to Bakhtin, Dostoyevsky endows
space with a universal character. At the same time, it is only significant as a place of transition
and crisis. Bakhtin offers the term threshold in this context, describing space as a carnival,
characterised by the inversion of any opposition and the abolition of any hierarchy. In his
production of The Idiot (2002), Castorf expands the dimension of Bakhtin’s “threshold” by
moving the borders of transit space and transforming it into a crisis space – particularly with
respect to the spectator/actor-­relationship. He does not only confront his stage characters with
this extreme situation of being imprisoned at the threshold, but also his spectators. By design-
ing extraordinary stage sets, Castorf creates a very close encounter between spectator and
actor. By integrating media elements into his spatial constellation, he distracts the audience’s
visual perception. The spectator is forced to leap between a real performance and cinematic
images which often duplicate the performance on stage while both are transferred simultane-
ously. Dostoyevsky’s threshold thus becomes a model of modern society, where the human
being, overwhelmed by multiple media realities, is captured in a continuous perceptual crisis.

In seiner Studie zur polyphonen Poetik von Dostoevskij, zuerst erschienen 1929,
untersucht Michail Bachtin (1971) speziell das Problem der Zeit- und Raumdar-
stellung im Werk von Dostoevskij und definiert den Raum im polyphonen Roman
von Dostoevskij als einen Krisenraum oder eine Schwelle. Später, in den 70er
Jahren, publiziert Bachtin eine Studie zu Formen der Zeit und des Raums in
der Literaturgeschichte, in der sich der Chronotopos der Schwelle neben anderen
sechs universellen Typen der Chronotopoi in der Literatur als eine selbststän-
dige zeiträumliche Kategorie wiederfindet (cf. Bachtin 2008). Chronotopos als
zeiträumliche Kategorie sieht Bachtin dabei als zentrales Merkmal der Gattungs-
geschichte überhaupt. Der Chronotopos der Schwelle, den Bachtin bei Dostoevs-
kij bereits in den 20er Jahren entdeckt hat, zeichnet sich vor allem durch einen
starken Krisencharakter aus:
Ein weiterer, von hoher emotional-­wertmäßiger Intensität durchdrungener Chronotopos
ist die Schwelle [Hervorh. im Original]. Dieser Chronotopos kann sich auch mit dem Mo-
446 Svetlana Bartseva

tiv der Begegnung verbinden, seine wesentliche Ergänzung aber ist der Chronotopos der
Krise und des Wendepunkts [Hervorh. im Original] im Leben. Allein das Wort „Schwelle“
hat ja schon im Redeleben (neben seiner realen Bedeutung) eine metaphorische Bedeu-
tung erlangt und sich mit dem Moment des Wendepunkts im Leben, der Krise, der das
Leben verändernden Entscheidung verknüpft (oder auch mit dem Moment des Zauderns,
der Furcht vor dem Überschreiten der Schwelle) (Bachtin 2008: 186).

Diese Reduzierung der Funktion des Raums auf seinen Krisencharakter ist eine
grundlegende Voraussetzung zur Herausarbeitung einer polyphonen Poetik bei
Dostoevskij:
Dostoevskij verwendet in seinen Werken die verhältnismäßig kontinuierliche, his-
torische und biografische Zeit so gut wie gar nicht, er „überspringt“ sie und konzentriert
die Handlung auf Krisenpunkte, Umbrüche und Katastrophen [Hervorh. im Original]
[…]. Und auch den Raum überspringt er im Grunde genommen und konzentriert die
Handlung auf nur zwei „Punkte“: auf die Schwelle [Hervorh. im Original] (an Türen,
am Eingang, auf der Treppe, im Korridor u. ä.), wo sich Krise und Umbruch voll-
ziehen, oder auf den Platz [Hervorh. im Original], an dessen Stelle gewöhnlich ein
Gästezimmer (Empfangsraum, Speisezimmer) tritt, wo sich die Katastrophe und der
Skandal abspielen. Eben das ist seine künstlerische Konzeption von Raum und Zeit. Er
überspringt oft auch die elementare, empirische Wahrscheinlichkeit und oberflächliche
Verstandeslogik. Deshalb kommt ihm die Gattung der Menippee auch so sehr entgegen
(Bachtin 1971: 168).

Der Raum bei Dostoevskij hat einen symbolischen, universellen Charakter, der
laut Bachtin in erster Linie auf die Gattung der Menippee zurückgeht. Die Me-
nippee, auf deren Tradition Dostoevskijs Romane bauen, sei eine „universale
Gattung der letzten Fragen“, schreibt Bachtin. „Ihre Handlung spielt sich nicht nur
‚hier‘ und ‚jetzt‘ ab, sondern auf der ganzen Welt und in Ewigkeit […]“ (Bachtin
1971: 165). Dabei handelt es sich in erster Linie um die Überprüfung einer phi-
losophischen Idee und „nicht um die Prüfung eines bestimmten individuellen
oder sozial-­typischen Charakters […]. In diesem Sinne kann man sagen, dass
die Abenteuer der Idee oder der Wahrheit in der Welt […] Inhalt der Menippee
sind“ (ibid.: 128 [Hervorh. im Orig.]). Diese Wahrheit kann aber nur in einer
Ausnahmesituation überprüft werden, in die die Figuren der Menippee, die Ideen-
träger, gebracht werden:
Die wichtigste Besonderheit der Menippee ist darin zu sehen, dass die kühnste, ungezü-
gelste Phantastik und das Abenteuer innerlich motiviert, gerechtfertigt und durch ein rein
ideologisch-­philosophisches Ziel geheiligt werden, durch das Ziel, Ausnahmesituationen
zu schaffen, in denen eine philosophische Idee, ein Wort, eine Wahrheit, verkörpert im
Bild eines Weisen, eines Menschen, der diese Wahrheit sucht, provoziert und geprüft
werden können (Bachtin 1971: 128).
Die Transformation von Dostoevskijs „Krisenräumen“ 447

Genau das ist die künstlerische Konzeption von Dostoevskij, die an die Tradition
der antiken Menippee anknüpft und sich zu einer neuen Gattung des polyphonen
Romans entwickelt. Die ideologischen Krisen und Umbrüche, die bei Dostoevskij
auf der Schwelle reifen, eskalieren in der Regel am öffentlichen Ort, auf einem
öffentlichen Platz, durch Beobachtung und Beurteilung eines Fremden. Die
Schwelle ist ein Raum, in dem die Figur in den Zustand einer Ausnahmesituation
versetzt wird und sich zwischen zwei entgegengesetzten Polen wie Glaube und
Atheismus, Hass und Liebe, Illusion und Wirklichkeit wiederfindet.
[E]s [das Sujet, S.B.] versetzt den Menschen in Ausnahmesituationen, die ihn enthüllen
und provozieren, lässt ihn unter ungewöhnlichen und unerwarteten Umständen mit
anderen Menschen zusammentreffen und kollidieren, um die Idee und den Menschen
der Idee, d. h. den „Menschen im Menschen“ zu erproben (Bachtin 1971:117 [Hervorh.
im Orig.]).

Bachtin weist darauf hin, dass die Schwellenpoetik im Roman Der Idiot sehr
deutlich zum Vorschein kommt, obwohl hier der Raum als topografischer Ort
fast komplett an Bedeutung verliert und einen hohen symbolischen Charakter
hat. Erzähltechnisch konstruiert Dostoevskij den Krisenraum durch Einführung
der berühmten Doppelgängerfiguren, anhand der Technik des inneren Mono-
logs. Die Schwellenpoetik ist keine ästhetische Neuentdeckung von Dostoevskij,
Bachtin verfolgt diese also von der Antike (Menippee) durch die karnevalisierte
Literatur des Mittelalters und der Renaissance bis zur ‚neuen‘ Gattung des poly-
phonen Romans. Dostoevskijs polyphone Romane knüpfen damit an die karne-
valistische Tradition der antiken und mittelalterlichen Literatur an. Die Struktur
der Krisenräume erklärt sich daher gut, wenn man sie im Lichte der Theorie des
Karnevals untersucht. In der Neuauflage seiner Studie zu Dostoevskij von 19631
hat Bachtin ein neues Kapitel eingeführt, das die Verbindung des Karnevals mit
der polyphonen Poetik bei Dostoevskij explizit erläutert. Hier definiert Bachtin
den Karneval primär als Inversion der binären Oppositionen im gesellschaftlichen
oder kulturellen Kontext.
Die karnevalistische Welt sei durch einen starken Dualismus geprägt, dabei
verbinden sich die dualen Ordnungen in einer bipolaren Einheit. Karnevaleske
Bilder sind laut Bachtin immer gedoppelt, binär und führen kontrastierende,
ambivalente Erscheinungen in sich zusammen. Als Beispiel der karnevalisti-
schen Umkehrungen analysiert er vor allem die Paare oben / unten, Tod / Ge-
burt, Jugend / Alter, Mann / Frau. Diese Oppositionen wechseln im Kontext des
Karnevals den Platz, treten in umgekehrten Rollen auf und werden zugleich auf

1 Dostoevskij 1971 beruht auf der russischen Neuauflage von 1963.


448 Svetlana Bartseva

eine Stufe gestellt. Im Karneval brechen damit alle möglichen Hierarchien des
menschlichen Lebens zusammen. Dostoevskijs Krisenräume sind genau von
dieser karnevalistisch-­dualen Struktur geprägt, in der die entgegengesetzten Op-
positionen ihre ‚normale‘ Wertung umpolen und einander gleichgestellt werden.
Das bedeutet vor allem, dass die Krise zu keiner Lösung führt, sondern als an-
dauernde Konflikteskalation auftritt.
Im Roman Der Idiot wird solch eine karnevalistische andauernde Ausnahme-
situation durch die Hauptfigur Fürst Myškin ausgelöst, der aus der Schweiz nach
Russland zurückkehrt, dort alle herrschenden Ordnungen auf den Kopf stellt und
alle Figuren um sich herum in eine Krisensituation einbezieht. Er selbst leidet an
Epilepsie und erlebt durch seine epileptischen Anfälle außergewöhnliche Grenz-
situationen, in denen die Zeit stehen bleibt und er in einen Zwischenraum zwi-
schen Leben und Tod, zwischen Glaube und Nicht-­Glaube versetzt wird. Nach der
Rückkehr in die Schweizer Klinik am Ende des Romans endet auch die karneva-
listische Zeit und die herkömmlichen Abläufe kehren an ihre Stellen zurück. Die
Schwelle ist also eine vorläufige Übergangssituation, in der die herkömmlichen
Ordnungen, oft entgegengesetzte Erscheinungen, umgekippt werden, ihren op-
positionellen Charakter verlieren und einander gleichgesetzt werden. Was passiert
aber mit diesem karnevalistischen Krisenraum, wenn der Roman auf der Bühne
inszeniert wird? Bachtin sah exakt bei diesem Thema eine Gefahr für Dostoevs-
kijs polyphone Poetik. Für Bachtin stand fest: Jede Art der Inszenierung von
Dostoevskijs Romanen im Theater sei unmöglich, weil der „universelle“ Raum
und die „Stimmen“ auf der Bühne eine konkrete visuelle Verkörperung findet.
Von dieser Visualisierung werden die polyphonen Strukturen beeinträchtigt.
Die Spezifik der Dostoevskij Welt ist auf der Bühne prinzipiell nicht darstellbar. […]
Wir haben keinen selbstständigen neutralen Platz für uns, wir können den Helden nicht
objektiv sehen; die Bühne ruiniert eine richtige Wahrnehmung des Werkes. Sein thea-
tralischer Effekt wäre eine dunkle Bühne mit Stimmen, nichts mehr (Bachtin 1979: 385;
Übersetzung aus dem Russischen S. B.).

Dostoevskij selbst äußerte sich allerdings nicht so kategorisch. In einem Brief


an Warwara Obolenskaja aus dem Jahr 1872, in dem der Schriftsteller über die
Diskrepanz zwischen der epischen und dramatischen Kunstform in Bezug auf
seinen eigenen Roman Schuld und Sühne (1866) schreibt, findet er eine Lösung
zur erfolgreichen Transformation des Romans in eine dramatische Form in der
möglichst starken Entfremdung vom Original.
Es gibt in der Kunst ein Geheimnis, deshalb wird eine epische Form nie eine Entspre-
chung in der dramatischen Form finden. Ich glaube sogar, dass es für verschiedene Kunst-
formen auch ihnen entsprechende poetische Gedankenfolgen gibt, so dass ein Gedanke
Die Transformation von Dostoevskijs „Krisenräumen“ 449

nie in einer anderen ihm nicht entsprechenden Form ausgedrückt werden kann. Es sei
denn, Sie ändern den Roman stark ab, lassen nur eine Episode für die Bearbeitung im
Drama, oder Sie nehmen nur die ursprüngliche Idee und verändern komplett das Sujet
(Zit. nach Wajda 2001: 5; Übersetzung aus dem Polnischen S. B.).

Die Idee der Entfremdung liegt Castorfs Theater nah. Bekannt als ‚Stückezer-
trümmerer‘, spielt Castorf seit Anfang der 90er Jahre, als er die Intendanz an der
Berliner Volksbühne am Rosa-­Luxemburg-­Platz übernahm, mit den Grenzen der
Zuschauerwahrnehmung, konfrontiert den Zuschauer mit seinen Experimenten
auf der Bühne, indem er durch die Einbeziehung neuer Medientechnologien die
traditionellen Theaterräume modifiziert, die Spannungsverhältnisse zwischen
der Bühne und dem Zuschauerraum neu konzipiert. Jens Roselt beschreibt sein
ästhetisches Prinzip als „Aufbrechen von Einheiten und von Linearität zugunsten
von diskontinuierlichen Augenblicken und Überblendungen. Das gilt für den Ort,
die Zeit, die Handlung und die dramatischen Figuren.“ (Roselt 2008: 209) Es sind
die Krisenräume, die Castorf bei Dostoevskij faszinieren:
Das ist eine Schwellenliteratur. Sie nimmt sich nicht Zeit, etwas in der Ruhephase zu
entwickeln, sondern orientiert sich an epileptischen Zuständen, am eruptiven Moment.
Im Bruchteil einer Sekunde offenbart sich im epileptischen Anfall eine ganze Welt, die
anderen Menschen verschlossen bleibt. Es sind diese Grenzsituationen, die die Menschen
erst interessant machen. Menschen am Rand des Nervenzusammenbruchs, überhaupt
Ausnahmezustände, sind für Theater immer interessant. Dass ich mich manchmal nach
solchen Extremmomenten sehne, hat sicher auch mit der Langeweile dieser Gesellschaft
zu tun (Laudenbach & Castorf 2012).

Was hat aber Dostoevskij mit Castorfs visuellen Provokationen zu tun? In der
Spielzeit 2002/2003 verwandelte sich die Berliner Volksbühne nach dem Entwurf
von Bert Neumann in eine ‚universelle‘ Stadt – Reisebüro, Supermarkt, Friseur-
salon, Hochhäuser, geschlossene Fenster, verriegelte Türen. Mitten in der ‚Neu-
stadt‘ wurde ein Hotel errichtet, das als ‚Zuschauerraum‘ fungierte, umgeben von
Häusern mit bis zu vier Stockwerken auf allen verfügbaren Flächen im Theater,
backstage und im Rang. Das dreistöckige Hotel, in dem die Zuschauer unter-
gebracht wurden, wurde mit zahlreichen Leinwänden ausgestattet und mitten im
Saal auf einem Drehpodest platziert, sodass für den Zuschauer eine Vielzahl von
Blickperspektiven geöffnet werden konnte.
In der ‚Neustadt‘ wird 2002 unter anderem auch die Inszenierung des Romans
Der Idiot von Dostoevskij aufgeführt (cf. Castorf & Blievernicht 2003). Wie bei der
Kamerafahrt im Film wird hier nicht die Dekoration, sondern das Auge des Be-
trachters selbst bewegt. Die Spielorte verteilen sich über alle möglichen Flächen,
auf dem ‚Zuschauerpodest‘, in der Stadt, hinter der Bühne. Medientechnisch wird
die Produktion durch mehrere Screens in unterschiedlicher Größe unterstützt,
450 Svetlana Bartseva

die sowohl für Liveübertragungen aus den nicht dem Blick des Zuschauers zu-
gänglichen Ecken dienen als auch per Bild die Außenwelt ins Theater mitliefern.
Dies führt dazu, dass die übliche Trennung zwischen dem Zuschauerraum und
der Bühne in der ‚Neustadt‘ komplett aufgelöst wird. Bühne und Zuschauerraum
wechseln nicht nur räumlich ihre Plätze, gespielt und zugeschaut wird regelrecht
an einem Ort. Die Spielorte des Romans, wie z. B. das Wohnzimmer des Ge-
nerals Jepantschin oder das dunkle Haus von Rogozin, werden von Castorf auf
der Bühne nicht rekonstruiert. Die ‚Neustadt‘ bleibt im wahrsten Sinne ein uni-
verseller Hintergrund, da diese Bühnenkonstruktion gleichzeitig für andere Auf-
führungen genutzt wird.
Castorf scheint sich wenig für die Handlung des Romans zu interessieren, ob-
wohl die Stückfassung sechs Stunden lang nah am Dostoevskij-­Text zu bleiben
versucht. Dies bleibt aber sekundär. Der Zuschauer wird von der Handlung des
Romans stets abgelenkt. Die Linearität der Handlung wird gebrochen, durch
‚fremde‘ Elemente ergänzt. In den Vordergrund des Theaterstücks rücken der
Wahrnehmungsprozess und die Beziehung zwischen dem, der sieht und dem,
der zeigt. Die Strukturen, die Dostoevskijs Krisenräume charakterisiert haben,
verschieben sich in Castorfs Inszenierung auf das Verhältnis zwischen Bühne und
Zuschauer, und zwar genau nach Bachtins Theorie des Karnevals. Castorf bestätigt
selbst, dass er sich bei seinen Inszenierungen von Dostoevskij sehr intensiv mit
Bachtins Studien befasst hat:
Ich lese jetzt gerade wieder Bachtin, die Theorie des karnevalistischen Weltempfindens.
Bachtin spricht vom Polymorphen. Das Unabgeschlossene, das Unfertige ist wichtig bei
Dostojewski. Man hat ihm ja das Ungeordnete seiner Romane vorgeworfen, ein Chaos der
unzähligen Stimmen, das gigantomanisch wolgahaft und reißend wegströmt. Nicht in der
Beschränkung liegt seine Meisterschaft, sondern im Gegenteil (Laudenbach & Castorf).

Nach dem Prinzip des Karnevals vollzieht Castorf eine komplette Inversion der
klassischen Konstellation Bühne – Zuschauerraum. Durch die Verschmelzung
der Bühne und des Zuschauerraums, die Einführung der Drehbühne und die
Integration der Videoprojektionen schafft er einen offenen, grenzenlosen und
direkten Wahrnehmungsprozess beim Zuschauer, der eine Gesamtbeobachtung
ermöglicht. Der Zuschauer fühlt sich motiviert und eingeladen, etwas im Theater
zu sehen, was vor ihm in ‚klassischen‘ Bühneninszenierungen verdeckt wird. Der
Zuschauer wird zum alleinigen Herrscher seines Blickes, er darf zwischen zahl-
reichen Optionen und Perspektiven wählen, die das Geschehen jeweils aus ver-
schiedenen Blickwinkeln vermitteln.
Gleichzeitig zeichnet sich die Inszenierung durch einen anderen Vorgang
aus, der eben dieser Einbeziehung des Zuschauers und dem angeblich offenen
Die Transformation von Dostoevskijs „Krisenräumen“ 451

Wahrnehmungsprozess entgegengesetzt ist. Die Schauspieler spielen nicht für


ihr Publikum. Sie scheinen nur mit sich selbst beschäftigt zu sein und ignorieren
die Tatsache, dass sie beobachtet werden – ganz nach der klassischen Vorstellung
der vierten Wand, in der sich eine Zweiteilung Bühne – Zuschauer manifestiert.
Diese Methode wird von Castorf aber radikalisiert. Die Schauspieler entziehen
sich den Blicken des Zuschauers, was ebenfalls von der Bühnenbildkonstruktion
unterstützt wird. Sie ziehen sich in verschlossene Zimmer der ‚Neustadt‘ zurück,
die teils vollständig undurchsichtige Wände haben. Die Sicht wird durch Plexiglas
erschwert und verzerrt. Das Publikum kann das Geschehen nur teilweise rekon-
struieren, da ihm nur ausschnitthafte Blicke in offene Fenster gewährt werden. Ein
verstärktes interaktives visuelles Erlebnis des Zuschauers wird durch das Bühnen-
konzept gleichzeitig reduziert und manipuliert, durch Liveaufnahmen ersetzt und
zerlegt, durch Glaswände deformiert.
Das Theater als ein gemeinsamer Raum mit der Möglichkeit sinnlicher und direkter
Erfahrung von Wirklichkeit – oder zumindest von Gegenwart – wird konsequent zerlegt.
Gespielt wird über weite Strecken aus dem Off – bevorzugt hinter vorgezogenen Gardi-
nen, heruntergelassenen Jalousien oder zumindest hinter einer Glasscheibe. Zu sehen
ist – das lernen wir schnell – jeweils nur ein Teil der Wahrheit. Die Gegenwärtigkeit des
Geschehens, gemeinhin ein beliebter Garant für Authentizität, ist nur noch zu ahnen.
Was bleibt, ist der Blick auf einen der zahlreichen Video-­Monitore, auf denen die Bilder
der allgegenwärtigen Kameraleute simultan übertragen werden. Wieder verstellt die Form
den Blick auf den Inhalt. Wieder nur ein Ausschnitt. Das ist ungenügend, wir haben die
Medienkritik verstanden, und mühsam ist es auch (Straub 2002).

Ähnliche Prozesse charakterisieren darüber hinaus die narrative Ebene des Stü-
ckes. Zwar folgt die Stückfassung Schritt für Schritt der Romanvorlage, die oft
wortwörtlich zitiert wird. Gleichzeitig scheinen die Schauspieler immer wieder
den Faden zu verlieren und erzählen eigene Geschichten, die mit dem Dostoevskij-­
Roman nichts mehr zu tun haben. Die Handlung wird dadurch verschachtelt und
verdreht und so für den Zuschauer trotz sechsstündiger Aufführung unnahbar
gemacht.
Statt der Bühne konstruiert Castorf einen neuen Transitraum, in dem sich
Schauspieler und die Zuschauer frei bewegen können. Er lässt sein Publikum
die Grenze zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum überqueren und sogar
hinter die Kulissen schauen. Gleichzeitig wird der Wahrnehmungsprozess des
Zuschauers stark manipuliert, in dem er die Handlung sowohl visuell als auch
narrativ nur zerstückelt, fragmentiert und reduziert sehen kann.
In seiner Inszenierung lässt Castorf den Krisenraum über die Grenzen der
Schwelle hinauswachsen. Der Krisenraum geht über die Bühne hinaus und invol-
viert ganz bewusst die Zuschauer in den Spielprozess. Mit der extremen Situation
452 Svetlana Bartseva

des ‚Gefangenseins‘ in einem Übergangsprozess sind nicht nur die Figuren kon-
frontiert, sondern auch die Zuschauer. Durch eine eigenartige Bühnengestaltung
schafft Castorf für Schauspieler und Zuschauer eine Begegnung, die nicht mehr
zu vermeiden ist, aus der es keinen Ausweg gibt.
Die beiden Tendenzen prallen aufeinander und erschaffen dadurch einen
Krisenraum, in dem das Publikum gefangen wird. Es handelt sich in Castorfs
Theater um eine Ausnahmesituation, in der das Publikum sechs Stunden lang
selbst auf die Probe gestellt wird, wobei die philosophische Idee von Dostoevs-
kij in seinen Romanen erst auf der Schwelle ‚erprobt‘ werden kann. Es ist nicht
mehr ein Konflikt der Figuren auf der Bühne, es ist der Konflikt, mit dem jeder
Anwesende konfrontiert wird. Konfliktlösung gibt es in Castorfs Theater nicht –
was eine Illusion und was eine Wahrheit ist, was eine Kopie und was ein Original
ist und wie man mit diesem Seherlebnis richtig umgehen muss, wird auch nach
sechs Stunden der Inszenierung nicht klar. Castorf wertet weder das eine noch das
andere positiv. Das Sehen und Hören als Wahrnehmungsprozess wird dadurch
enthüllt und profanisiert.
Eine scheinbar unbegrenzte Offenheit des Blickes, karnevalistische Nacktheit
und Enthüllung der Figuren (die Castorf gerne buchstäblich auf der Bühne als
nackte Körper präsentiert) treffen auf undurchdringliche Wände, auf verspiegelte
oder verzerrte Bilder, auf manipulierte, künstlich durch Bühnenbild und Medi-
entechnologien errichtete Grenzen, auf kontrollierte Blickperspektiven. Tobias
Hockenbrink analysiert Castorfs Theater in Bezug auf karnevalistische Struk-
turen und erhebt Karneval zum konstitutiven Merkmal der Ästhetik Castorfs,
die laut Hockenbrink in erster Linie mit den Konventionen des ‚konventionell-­
bürgerlichen‘ Theaters bricht (cf. Hockenbrink 2008). Aber auch der Krisenraum,
in dem der Zuschauer mit seinen eigenen Wahrnehmungen konfrontiert ist, baut
in Castorfs Theater auf dem Prinzip der karnevalistischen Inversion und Gleich-
setzung auf.
Trotz der Distanz zur literarischen Vorlage sind Castorfs theatralische Krisen-
räume eng mit Dostoevskijs Poetik verbunden. Diese beruhen auf genau dem-
selben karnevalistischen Prinzip, das die Grenzen zwischen den oppositionell
liegenden Ordnungen – Gut versus Böse, Illusion versus Wahrheit, Realität versus
Darstellung – nicht respektiert, sie austauscht und einander gleichstellt. Dostoevs-
kijs Schwelle wird in Castorfs Theater zu einem vielschichtigen Transitraum, in
dem der Zuschauer mit eigenen Wahrnehmungsprozessen konfrontiert wird.
Castorfs visuelle Experimente aus dem Jahr 2002, seine konstruierten Ereig-
nisräume, die sich gleichzeitig durch Offenheit und Manipulation auszeichnen,
scheinen jetzt ihren Weg aus dem Theater in die ‚Realität‘ gefunden zu haben,
Die Transformation von Dostoevskijs „Krisenräumen“ 453

nachdem zum Beispiel die Selbstinszenierung im Internet zum Alltag geworden


ist. Die Verbindung der allzu zugänglichen Sichtbarkeit und der gleichzeitig
kontrollierten und fragmentierten Selbstpräsentation erfasst die strukturellen
Merkmale der karnevalistischen Ausnahmesituation, die man in Castorfs Thea-
ter erlebt, nur mit dem wesentlichen Unterschied, dass die Vorläufigkeit, die als
Voraussetzung für die Existenz dieser künstlerischen Räume gilt, zu einer Kon-
stante wird.

Literatur
Bachtin, Michail 1971: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München: Hanser
Bachtin, Michail 1979: Ėstetika slovesnogo tvorčestva, Moskva: Iskusstvo
Bachtin, Michail 2008: Chronotopos, Berlin: Suhrkamp
Castorf, Frank & Lenore Blievernicht (eds.) 2003: Frank Castorfs Stückfassung
nach Dostojewskij in der Neustadt, Berlin: Synwolt
Hockenbrink, Tobias 2008: Karneval statt Klassenkampf. Das Politische in Frank
Castorfs Theater, Marburg: Tectum
Laudenbach, Peter & Frank Castorf 2012: „Im Gespräch mit Frank Castorf über
20 Jahre Volksbühne“, in TIP Berlin v. 1.12.2012, im Internet unter http://www.
tip-berlin.de/kultur-und-freizeit-theater-und-buehne/im-gesprach-mit-frank-
castorf-uber-20-jahre-volksbuhne [17.9.2016]
Roselt, Jens 2008: „Intermediale Transformationen zwischen Text und Bühne“,
in: Tigges (ed.) 2008: 205–213
Straub, Johanna (2002): „Castorfs ‚Idiot‘: Ich sehe, dass ich nichts sehe“, in: SPIE-
GEL online v. 17.10.2002, im Internet unter http://www.spiegel.de/kultur/
gesellschaft/castorfs-idiot-ich-sehe-dass-ich-nichts-sehe-a-218569.html
[17.09.2016]
Tigges, Stefan (ed.) 2008: Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen
Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld:
transcript
Wajda, Andrzej 2001: Dostoevskij – teatr sovesti. Tri inscenirovki, Krakov: Andrzej
Wajda – ARCHIWUM
Anschriften der Autoren

Dr. Swati Acharya
Savitribai Phule Pune University
German Section, Department of Foreign Languages
Ranade Institute Building
Fergusson College Road
Pune 411038, India
swatimr@yahoo.com
Dr. Hiltrud Arens
University of Montana
Department of Modern and Classical Languages
Liberal Arts Building 436
Missoula, MT 59801, USA
hiltrud.arens@mso.umt.edu
Prof. Dr. Julia Augart
Department of Language and Literature Studies
University of Namibia
Private Bag 13301
340 Mandume Ndemufayo Ave, Pionierspark
Windhoek, Namibia
jaugart@unam.na
Prof. em. Dr. Neeti Badwe
Savitribai Phule Pune University, India
German Section, Department of Foreign Languages
Priv.: ”Sanyogita” Apartments
897 Shivajinagar
Bhandarkar road, 3rd lane
Pune 411004, India
neetibadwe@gmail.com
Dr. Svetlana Bartseva
Freie Universität Berlin
Fb Philosophie und Geisteswissenschaften
Peter-­Szondi-­Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
456 Anschriften der Autoren

Habelschwerdter Allee 45
D-14195 Berlin
barsveta@googlemail.com
Deniz Bayrak
TU Dortmund
Fakultät Kulturwissenschaften
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Emil-­Figge-­Str. 50
D-44227 Dortmund
deniz.bayrak@tu-­dortmund.de
Dr. Withold Bonner
Fakultät für Kommunikationswissenschaften
Universität Tampere, Finnland
Priv.: Hämeenpuisto 13 B 36
FI-33210 Tampere, Finnland
withold.bonner@staff.uta.fi
Prof. Dr. Ana R. Calero Valera
Universitat de València
Facultat de Filologia, Traducció i Comunicació
Departament de Filologia Anglesa i Alemanya
Av. Blasco Ibáñez, 32
ES-46010 Valencia, Spanien
ana.r.calero@uv.es
Núria Codina
Technische Universität Chemnitz
Institut für Europäische Studien
Philosophische Fakultät
Technische Universität Chemnitz
D-09107 Chemnitz
nuria.codina-­sola@phil.tu-­chemnitz.de
Assoc. Prof. Alan Corkhill (em.)
Priv.: 5 Wattletree Place
The Gap, Brisbane
Queensland 4061, Australien
a.corkhill127@gmail.com
Anschriften der Autoren 457

Dr. Sabine Egger
Department of German Studies
Mary Immaculate College
University of Limerick
South Circular Road
Limerick V94VN26, Irland
sabine.egger@mic.ul.ie
Ass. Prof. Dr. Hala Farrag
Universität Kairo
Priv.: Ch. de la redoute 7
CH-1752 Villars-­sur-­Glâne
Freiburg, Schweiz
farrag.hala@gmail.com
Dr. Elena Giovannini
Università di Bologna
Dipartimento di Lingue, Letterature e Culture Moderne
Priv.: Via Carlo Cignani 23
IT-40128 Bologna, Italien
elena.giovannini6@unibo.it
Dr. Claudia Gremler
School of Languages and Social Sciences
Aston University
Aston Triangle
Birmingham B4 7ET, Großbritannien
c.gremler@aston.ac.uk
Dr. Marja-­Leena Hakkarainen
Universität Turku
Allgemeine Literaturwissenschaft
Priv.: Koulukatu 18 as 11
20100 Turku, Finnland
maleha@utu.fi
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W.B. Hess-­Lüttich, M.A., M.I.L.
Hon.Prof. Technische Universität Berlin (TUB)
Institut für Sprache und Kommunikation
Straße des 17. Juni 135, D-10623 Berlin, Germany
458 Anschriften der Autoren

Prof.em. German Department, University of Berne


Laenggass-­Str. 49, CH-3012 Berne, Switzerland
Hon.Prof. University of Stellenbosch (-2017)
Dept. of Modern Foreign Languages: German
Private Bag X1, Stellenbosch 7602 / South Africa
ernest.hess-­luettich@germ.unibe.ch
hess-­luettich@campus.tu-­berlin.de
home offices: hessluettich@icloud.com
Dr. Astrid Henning-­Mohr
Carl-­von-­Ossietzky-­Universität Oldenburg
Institut für Germanistik
Priv.: Kletterrosenweg 2
D-22177 Hamburg
astrid.henning@uni-­oldenburg.de
Dr. Garbiñe Iztueta
Institut für Anglistik, Germanistik und Übersetzungswissenschaft
Philologische Fakultät
Universität des Baskenlands
Paseo de la Universidad 5
ES-01006 Vitoria-­Gasteiz, Spanien
garbine.iztueta@ehu.eus
Prof. Dr. Mahmut Karakus
İstanbul Üniversitesi
Edebiyat Fakültesi
Alman Dili ve Edebiyati
TR-34459 Laleli /Istanbul
karakus.mahmut@gmail.com
Prof. Dr. Aleya Khattab
61 A, El Hadara street,
Nerko Buildings, New Maadi
Cairo, Egypt
khattabaleya@yahoo.de
Prof. Dr. Norbert Mecklenburg
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur I
Siebengebirgsallee 78
Anschriften der Autoren 459

D-50939 Köln
norbert.mecklenburg@uni-­koeln.de
Prof. Dr. Stephan Mühr
Department of Modern European Languages
HB 14–26, University of Pretoria
0001 Pretoria, South Africa
stephan.muehr@up.ac.za
Dr. Almut Constanze Nickel
Independent Postdoctoral Scholar (Kassel)
almut.nickel@gmx.de
Prof. Dr. Nergis Pamukoğlu Daş
Edebiyat Fakültesi
Ege Üniversitesi Kampüsü
TR-35040 Bornova / Izmir, Türkei
nergis.pamukoglu.das@ege.edu.tr
Prof. Dr. Thomas Pekar
Gakushuin University
German Department
1–5-1 Mejiro, Toshima-­ku
171–8588 Tokyo, Japan
thomas.pekar@gakushuin.ac.jp
Prof. Dr. Elena Polledri
DILL – Dipartimento di Lingue e Letterature, Comunicazione, Formazione e Società
Università degli Studi di Udine
Via Mantica, 3
IT-33100 Udine. Italien
elena.polledri@uniud.it
Sarah Reininghaus
TU Dortmund
Fakultät Kulturwissenschaften
Institut für deutsche Sprache und Literatur
Emil-­Figge-­Str. 50
D-44227 Dortmund
sarah.reininghaus @tu-­dortmund.de
460 Anschriften der Autoren

Lic. phil. Dieter Hermann Schmitz


Fakultät für Kommunikationswissenschaften
FIN-33014 Universität Tampere, Finnland
Dieter.Hermann.Schmitz@staff.uta.fi
Dr. Theresa Specht
Priv.: Steinfeldtstraße 24a
D-22119 Hamburg
th.specht@gmx.de
Prof. em. Dr. Astrid Starck-­Adler
Université de Haute Alsace
Faculté des Lettres et Sciences Humaines
10, rue des Frères Lumière
FR-68093 Mulhouse cedex, France
astrid.starck@uha.fr
Ass. Prof. Dr. Şebnem Sunar
İstanbul Üniversitesi
Edebiyat Fakültesi
Alman Dili ve Edebiyatı Anabilim Dalı
Ordu Cad. 196
TR-34459 Laleli / İstanbul
sebnemsunar@gmail.com
sunars@istanbul.edu.tr
Prof. Dr. Yoshito Takahashi
St. Agnes’ University
Shimodachiuri Nishi-­iru Karasuma-­dori
602–8013 Kyoto/Kamigyo-­ku
yoshito.takahashi.66u@st.kyoto-­u.ac.jp
Prof. Dr. Kathleen Thorpe
Dept. of Modern Languages – German Studies
School of Language Literature and Media
University of the Witwatersrand
Private Bag 3, P.O. Wits
2050 Johannesburg, South Africa
Kathleen.Thorpe@wits.ac.za
Anschriften der Autoren 461

Prof. Dr. Joachim Warmbold
Tel Aviv University
Faculty of Humanities
Dept. of History
Gilman Bldg., P.O.B. 39040
IL-69978 Ramat Aviv, Israel
warmboldj@gmail.com
CROSS CULTURAL COMMUNICATION

Edited by
Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Ernest W. B. Hess-Lüttich

Vol. 1 Ajit Pradeep Dhillon: Multiple Identities. A Phenomenology of Multicultural Communication.


1994.
Vol. 2 Sämi Ludwig: CONCRETE LANGUAGE. Intercultural Communication in Maxine Hong
Kingston’s The Woman Warrior and Ishmael Reed’s Mumbo Jumbo. 1996.
Vol. 3 Deborah M. Neil: Collaboration in Intercultural Discourse. Examples from a multicultural
Australian workplace. 1996.
Vol. 4 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Christoph Siegrist / Stefan Bodo Würffel (Hrsg.): Fremdverste-
hen in Sprache, Literatur und Medien. 1996.
Vol. 5 Richard J. Watts / Jerzy J. Smolicz (Eds.): Cultural Democracy and Ethnic Pluralism. Multi-
cultural and multilingual policies in education. 1997.
Vol. 6 Song Mei Lee-Wong: Politeness and Face in Chinese Culture. 2000.
Vol. 7 Heinz-Helmut Lüger (Hrsg.): Höflichkeitsstile. 2., korrigierte Auflage. 2002.
Vol. 8 Peter Colliander (Hrsg.): Linguistik im DaF-Unterricht. Beiträge zur Auslandsgermanistik.
2001.
Vol. 9 Nóra Tátrai Infanger: Der Sprachgebrauch der Ungarn in der Schweiz. Methoden zur Un-
tersuchung der Mehrsprachigkeit. 2003.
Vol. 10 Gudrun Held (Hrsg.): Partikeln und Höflichkeit. 2003.
Vol. 11 Claire O'Reilly: The Expatriate Life. A Study of German Expatriates and their Spouses in
Ireland. Issues of Adjustment and Training. 2003.
Vol. 12 Janet Shepherd: Striking a Balance. The Management of Language in Singapore. 2005.
Vol. 13 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Ulrich Müller / Siegrid Schmidt / Klaus Zelewitz (Hrsg.): Trans-
lation und Transgression. Interkulturelle Aspekte der Übersetzung(swissenschaft). 2009.
Vol. 14 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Ulrich Müller / Siegrid Schmidt / Klaus Zelewitz (Hrsg.): Diffe-
renzen? Interkulturelle Probleme und Möglichkeiten in Sprache, Literatur und Kultur. 2009.
Vol. 15 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Arupon Natarajan (Hrsg.): Der Gott der Anderen. Interkulturelle
Transformationen religiöser Traditionen. 2009. (GiG Publikationen 10)
Vol. 16 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Ulrich Müller / Siegrid Schmidt / Klaus Zelewitz (Hrsg.): Kom-
munikation und Konflikt. Kulturkonzepte der interkulturellen Germanistik. 2009. (GiG Publi-
kationen 11)
Band 17 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Peter Colliander / Ewald Reuter (Hrsg.): Wie kann man vom
‚Deutschen‘ leben? Zur Praxisrelevanz der interkulturellen Germanistik. 2009. (GiG Publi-
kationen 12)
Band 18 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Joachim Warmbold (Hrsg.): Empathie und Distanz. Zur Bedeu-
tung der Übersetzung aktueller Literatur im interkulturellen Dialog. 2009. (GiG Publikatio-
nen 13)
Band 19 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Anita Czeglédy / Ulrich H. Langanke (Hrsg.): Deutsch im inter-
kulturellen Begegnungsraum Ostmitteleuropa. 2010. (GiG Publikationen 14)
Band 20 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Nilüfer Kuruyazıcı / Şeyda Ozil / Mahmut Karakuş (Hrsg.):
Metropolen als Ort der Begegnung und Isolation. Interkulturelle Perspektiven auf den ur-
banen Raum als Sujet in Literatur und Film. 2011. (GiG Publikationen 15)
Band 21 Gudrun Held / Uta Helfrich (cur./éds./eds.): Cortesia – Politesse – Cortesía. La cortesia
verbale nella prospettiva romanistica. La politesse verbale dans une perspective roman-
iste. La cortesía verbal desde la perspectiva romanística. Aspetti teorici e applicazioni /
Aspects théoriques et applications / Aspectos teóricos y aplicaciones. 2011.
Band 22 Ernest W. B. Hess-Lüttich / Corinna Albrecht / Andrea Bogner (Hrsg.): Re-Visionen. Kul-
turwissenschaftliche Herausforderungen interkultureller Germanistik. 2012. (GiG Publikati-
onen 16)
Band 23 Djama Ignace Allaba: Literatur und Gesellschaft im interkulturellen Vergleich: Max Frischs
Die chinesische Mauer und Ahmadou Kouroumas Der schwarze Fürst. 2012.
Band 24 Ernest W.B. Hess-Lüttich / Aleya Khattab / Siegfried Steinmann (Hrsg.): Zwischen Ritual und
Tabu. Interaktionsschemata interkultureller Kommunikation in Sprache und Literatur. 2013.
(GiG Publikationen 17)
Band 25 Ernest W.B. Hess-Lüttich / Pornsan Watanangura (Hrsg.): KulturRaum. Zur (inter)kulturellen
Bestimmung des Raumes in Sprache, Literatur und Film. 2013. (GiG Publikationen 18)
Band 26 Roland Schmiedel: Schreiben über Afrika: Koloniale Konstruktionen. Eine kritische Untersu-
chung ausgewählter zeitgenössischer Afrikaliteratur. 2015.
Band 27 Ernest W.B. Hess-Lüttich / Yoshito Takahashi (Hrsg.): Orient im Okzident – Okzident im
Orient. West-östliche Begegnungen in Sprache und Kultur, Literatur und Wissenschaft. 2015.
(GiG Publikationen 19)
Band 28 Ernest W.B. Hess-Lüttich / Anita Czeglédy / Edit Kovács / Petra Szatmári /
Emese Zakariás (Hrsg.): Wendepunkte in der Kultur und Geschichte Mitteleuropas. 2015.
Band 29 Ernest W.B. Hess-Lüttich / Carlotta von Maltzan / Kathleen Thorpe (eds.): Gesellschaften
in Bewegung. Literatur und Sprache in Krisen- und Umbruchzeiten. 2016. (GiG Publikatio-
nen 20)
Band 30 Shan Cao: Interkulturelle Kommunikation und Ideologiekritik. Eine Untersuchung am Bei-
spiel der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 2008 in Beijing. 2016.
Band 31 Sabine Egger / Withold Bonner / Ernest W.B. Hess-Lüttich (Hrsg.): Transiträume und tran-
sitorische Begegnungen in Literatur, Theater und Film. 2017. (GiG Publikationen 21)

www.peterlang.com

Das könnte Ihnen auch gefallen