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Frauen Cushmas Der Asháninka
Frauen Cushmas Der Asháninka
EINFÜHRUNG
Die Cushma, bis vor wenigen Jahrzehnten ein weit verbreitetes Kleidungs- Abb. 1 (linke Seite): Cushma/
stück der indigenen Bewohner am Ostabhang der peruanischen Anden, der so Kithaarentze (Detail) für
Frauen/Mädchen mit Babytragegurt
genannten Montaña¹, tritt heute im Alltag zunehmend zurück. Gleichzeitig (tsorompiro) und Halskette,
wird sie zu repräsentativen Anlässen und Festlichkeiten immer häufiger ge- Baumwolle, Samenkapseln,
tragen, um die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe zu zeigen, wie auch eine Patronenhülsen, Herstellerin
unbekannt, erworben am
gemeinsame Identität der indigenen Bewohner der Region hervorzuheben –
Rio Cutivireni, Peru (s. Abb. 2b).
allerdings vorwiegend von Männern. Bei den Asháninka besitzen nur wenige MFK, Inv. Nr. 10-333 527.
Frauen ein solches Kleidungsstück, obwohl auch sie zunehmend repräsenta- © Marianne Franke
tive politische Ämter und aktive Rollen in öffentlichen Auseinandersetzungen
und Identitätsbildungsprozessen übernehmen, und obgleich sie es sind, die
diese Kleidungsstücke herstellen. Auch in ethnologischen Sammlungen sind
Frauen Cushmas der Asháninka Mangelware, während diejenigen für Männer
relativ zahlreich vorhanden sind. Zudem hat der spezielle Schnitt von Frauen
Cushmas in der Vergangenheit zu Spekulationen über deren möglicherweise
späten, eventuell kolonialen Ursprung geführt. Unlängst ist die Cushma auch
auf den Laufstegen der Pariser Modewelt angekommen, wo Frauen elegant
drapierte Männer Cushmas tragen.
Der Beitrag begibt sich auf eine Spurensuche nach den Frauen Cushmas der
Asháninka in Vergangenheit und Gegenwart und geht der Frage nach, warum
ausschließlich die Kleidung der Frauen durch solche aus industriell gefer-
tigten Stoffbahnen ersetzt wird. Zugleich sollen die in den Sammlungen des
Museum Fünf Kontinente vorhandenen Cushmas der Asháninka vorgestellt
werden.
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längsseitig aneinander genäht, Hals- und Armausschnitte befinden sich an
den Stoffkanten. Die vertikal gestreiften Cushmas der Männer gleichen einem
an den Seiten geschlossenen Poncho mit spitzem Halsausschnitt, der durch
eine Aussparung in der Naht zwischen den beiden Stoffbahnen entsteht
(Abb. 3). Für die horizontal gestreiften Frauen Cushmas werden die Stoffbah-
nen quer verwendet, was einen von Schulter zu Schulter verlaufenden Hals-
ausschnitt nach sich zieht und die Armausschnitte nur nach oben zulässt
(Veber 1996; 2006: 63) (Abb. 2a und 2b). An den Schulterpartien werden
Rasselgehänge aus Samenkapseln, Muscheln, Knochenstücken etc. ange-
bracht. Ohne großen Aufwand können fertige Cushmas in solche für das je-
weils andere Geschlecht umgearbeitet werden. Dies erfordert lediglich das
Öffnen und Schließen einiger Nähte.
VOM URSPRUNG
Die Bezeichnung Cushma (bzw. kusma) stammt aus dem Quechua und be-
zeichnet in Peru Frauenkleidung ebenso wie die Kleidung der Bewohner der Abb. 2a: Cushma/Kithaarentze
für Frauen/Mädchen, Baumwolle,
Selva (Academia Mayor de la Lengua Quechua 2005), während sie im bolivia-
Samenkapseln, Patronenhülsen,
nischen Quechua ausschließlich für Frauenkleidung steht (Laime Ajacopa Herstellerin unbekannt, erworben
2007).² Der Ursprung der Cushma wird in präkolumbischer Zeit vermutet, am Rio Cutivireni, Peru.
denn Kleidungsstücke dieses Schnittmusters waren lange vor dem Eintreffen Nach den Angaben des Sammlers
stammt sie aus Tauschhandel
der europäischen Eroberer von der Küste über die Anden bis in die Montaña mit benachbarten Yanesha/Amuesha.
in Gebrauch (Veber 1996: 160f; Baer & Seiler-Baldinger 1989). Zur Zeit der Während die Rasselgehänge an
Inka, wie auch der Wari vor ihnen, konnte man an Farben, Mustern, Material den Schulterpartien für beide
Gruppen typisch sind, ist die –
und Verarbeitung der Unku genannten Tuniken im Schnitt der heutigen vermutlich unfertige – Verzierung
Cushma die Herkunftsregion, Berufsgruppe oder den Stand der Träger oder in der Mitte bei den Asháninka
Trägerinnen erkennen. In diesem Kontext könnte sich die Cushma als regio- eher unüblich. Slg. E. J. Fittkau
(H. Maulhardt vor 1979),
nale Tracht im Grenzraum eines größeren Staatsgebildes etabliert und im Ge-
L. 77 cm, B. 83 cm,
gensatz zu den präkolumbischen Trachten der Anden und der Küste bis heute MFK, Inv. Nr. 10-333 527.
erhalten haben. Dies lässt allerdings noch keine Rückschlüsse über einen ori- © Marianne Franke
ginär regionalen oder andinen Ursprung zu.
Ob die weite Verbreitung als Alltagskleidung auf den Einfluss von Missionaren dann, so Mehringer, zum beschriebenen, eigenartig anmutenden Schnitt der
während der Kolonialzeit zurückgeht, wie Zerries nahe legt (Zerries 1974: quergestreiften Frauen Cushma geführt haben (Mehringer 1986: 77). Gegen
198), lässt sich gegenwärtig nicht mit Sicherheit klären. Eine solche Annahme diese Vermutung spricht, dass Textilien dieses Zuschnitts aus querverlaufen-
würde allerdings die Frage aufwerfen, womit man sich in dieser von starken den Stoffbahnen, mit Halsausschnitt und Armlöchern an der Oberkante, be-
Temperaturschwankungen betroffenen, bergigen Region zuvor bekleidete. reits im präkolumbischen Peru vorkamen. Exemplarisch sollen hier zwei Be-
Zudem war der kolonialzeitliche Einfluss der Kirche dort von kurzer Dauer und legstellen angeführt werden: Die Miniaturkleidung einer weiblichen Figurine,
endete Mitte des 18. Jahrhunderts abrupt mit der Vertreibung der unbelieb- die der Chancay Kultur (Anfang 14. – Mitte 15. Jh.) zugeordnet wird, abgebil-
ten Kirchenmänner (siehe Seite 61). Mehringer zieht sogar in Erwägung, die det in Desrosiers & Pulini (1992: 55) und die Beschreibung von Grabfunden
Frauen Cushma könnte möglicherweise ganz auf Druck von Missionaren ent- aus dem Jequetepeque Tal bei Hecker & Hecker (1995: 126, 271, 273). Bei
wickelt worden sein, um quergestreifte Röcke zu ersetzen, wie sie noch heute letzteren handelt es sich um ein Miniaturhemd und ein Kinderhemd, beide als
bei einigen Gruppen der Region parallel in Gebrauch sind und die ursprünglich mit horizontal verlaufenden Kettfäden und Hals- und Ärmelschlitzen in der
barbusig getragen wurden. Eine Verlängerung der Röcke nach oben könnte Schulterlinie beschrieben (1995: 126). Auch wenn diese Beispiele nicht aus
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der Region der Asháninka stammen, sprechen sie doch gegen eine kolonial-
zeitliche Neuentwicklung des Schnittmusters von Frauen Cushmas. Damit
dürfte der Grund für ihr schnelleres Verschwinden m.E. nicht in einer gerin-
geren zeitlichen Tiefe liegen.
Die Cushma ist mehr als ein Kleidungsstück. Sie signalisiert das Geschlecht
des Gegenübers aus der Distanz, ist Ausdruck der Arbeitsteilung zwischen
Mann und Frau, wertvolles Handelsgut, lässt Rückschlüsse auf die ökonomi-
sche Situation der Träger und Trägerinnen zu und ist sichtbares Zeichen zu-
nehmenden kulturellen Selbstbewusstseins.
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Zu den Aufgaben der Männer gehört es bis heute, Handelspartnerschaften zu
pflegen, um benötigte Güter einzutauschen. Dazu werden persönliche Kon-
takte zu Ayompari genannten Tauschpartnern aufgebaut, die mitunter in weit
entfernten Siedlungen leben. Das Besondere dieser Form des Handels ist die
Möglichkeit, zeitversetzt zu tauschen, d.h. wenn die gewünschte Gegengabe
nicht verfügbar ist, kann auch gegen das Versprechen getauscht werden, sie
zu einem späteren Zeitpunkt zu leisten. Dieses Versprechen kann der neue
Besitzer weiter veräußern, was mitunter zu verschlungenen Wegen der ge-
schuldeten Gegengabe führt (Schäfer 1988: 250ff, 264ff; Bodley 1973: 595).
Zu den bevorzugten Tauschobjekten gehört alles, was man nicht oder nicht in
ausreichender Menge oder Qualität selbst herstellen kann: Macheten, Töpfe
und andere Metallgegenstände, Schusswaffen und Munition, aber auch
Cushmas, Garne zu deren Herstellung und tocuyo³ genannte Baumwollstoffe
aus industrieller Fertigung. Aus letzteren werden cushma-förmige Gewänder
genäht, die ausschließlich von Frauen und Kindern getragen werden (Veber
2006: 64), was Schäfer darauf zurückführt, dass tocuyo als Früchte des Tausch-
handels zu den Gaben der Männer an die Frauen zählen, während selbst ge-
webte Cushmas zu den Gaben der Frauen an die Männer gehören (Schäfer
1988: 270). Demnach kann ein Defizit an Cushmas aus eigener Produktion
ausschließlich auf der Seite der Frauen durch tocuyo kompensiert werden.
Die stetige Verknappung verfügbarer Anbauflächen durch externen Zugriff
auf das Land zieht zweifellos ein solches Defizit nach sich, denn auf den ver-
bleibenden Anbauflächen müssen lebensnotwendige Nahrungsmittel ange-
KLEIDUNG AL S S YMBOL DES WIDERS TANDS
baut werden, wodurch der Anbau von Baumwolle nur begrenzt möglich ist.
Beide Faktoren zusammen könnten mit ausschlaggebend für die abnehmende Widerstand gegen verschiedene Formen von Ausbeutung und Landraub hat Abb. 4: Cushma/Kithaarentze
Präsenz von Frauen Cushmas sein. Vielerorts haben Tuniken aus tocuyo inzwi- eine lange Tradition bei den Asháninka. Vermutlich stießen bereits die Ex- für Männer, Baumwolle, Herstellerin
unbekannt, erworben in
schen weitgehend die handgewebten Cushmas der Frauen ersetzt, oft in pansionsversuche des inkaischen Staates im 15. Jahrhundert auf Gegenwehr, der Mission San Francisco am
leuchtenden Farben (Kummels 2016: 185f). Mitunter werden auch sie heute denn sie konnten das Gebiet nicht in ihr Reich eingliedern und nur vereinzelt Rio Cutivireni, Peru. Auf der
als Cushmas bezeichnet. Hilfstruppen aus der Region rekrutieren. Spätestens mit den Aufständen des kurzen, dunkel überfärbten Männer
Cushma ist eine unvollendete
18. Jahrhunderts gegen die kolonialen Methoden von Missionaren trat der
Stickarbeit zu sehen.
In der Vergangenheit waren Cushmas auch ein Indikator für die ökonomische Widerstand in die Geschichtsschreibung ein und die Cushma avancierte zu Slg. E.J. Fittkau, 1979,
Situation ihrer Besitzer oder Besitzerinnen. Neue Cushmas, bei denen der seinem Symbol. Der größte und erfolgreichste der Aufstände begann 1742 L. 68 cm, B. 73 cm,
MFK, Inv. Nr. 10-330 252.
beige Ton heller, unbehandelter Baumwolle, unterbrochen durch Streifen- unter dem Anführer Juan Santos Atahualpa, der sich aus dem Hochland in das
© Marietta Weidner
muster überwiegt, galten als wertvoll und standen für den Wohlstand einer Gebiet der Asháninka zurückgezogen hatte. Ihm schlossen sich lokale Anfüh-
Familie. Ältere Exemplare mit starken Gebrauchsspuren überfärbte man rer verschiedener Ethnien ebenso an wie desertierte spanische Soldaten. Die
mehrmals mit Baumrinde, was einen gleichmäßigen Orange-Braunton nach Cushma wurde damals zur Kleidung der Rebellen und »Los Cushmas« zum
sich zieht, der die Streifenmuster nahezu verschwinden lässt (Veber 2006: 64) Synonym für die Aufständischen. Gemeinsam eroberte man innerhalb von
(Abb. 4). Eine Ausstattung mit hellen, also neuen, Cushmas ließ darauf schlie- zehn Jahren große Teile der peruanischen Montaña zurück, die etwa 100 Jahre
ßen, dass die Familie über ausreichend große Anbauflächen und genügend lang unter indigener Kontrolle und für Außenstehende unzugänglich blie-
freie Arbeitszeit der Frauen verfügte oder über Handelsgüter, die die Männer ben.⁴ Ab 1845 begannen die Truppen der jungen Republik einen schonungslo-
zum Tausch einsetzen konnten, um neue Cushmas zu erwerben. Heute ist hin- sen Eroberungsfeldzug gegen die Aufständischen, der zahlreiche Todesopfer,
gegen ein Wandel zu beobachten: Zuweilen werden braun überfärbte Cushmas Flucht und Vertreibung zur Folge hatte und den Weg für Agrarinvestoren,
als authentischer betrachtet und daher bevorzugt. Neusiedler und die Kautschukwirtschaft ebnete. Anschließend führte der in
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Auch heute tragen Aktivisten besonders bei Zusammenkünften und repräsen-
tativen Anlässen die Cushma bzw. Kithaarentze als unübersehbares Zeichen
ihrer Präsenz und ihres Willens als indigene Völker mit eigenen Kulturen wahr-
genommen und akzeptiert zu werden. Seltener sieht man die handgewebten
Kleidungsstücke bei Aktivistinnen, denn unter den Frauen haben sich solche
aus dem bereits erwähnten tocuyo durchgesetzt, deren Symbolgehalt inzwi-
schen vergleichbar ist. Der Widerstand richtet sich heute gegen Großprojekte
(Staudämme, Ölförderung), Abholzung, illegalen Goldabbau, Aktivitäten der
Drogenindustrie und Landraub, die die Lebensgrundlage gefährden, und ge-
gen Ausbeutung durch Neusiedler. Daneben gilt es fehlende Infrastruktur
aufzubauen (Schulen, Gesundheitsversorgung), Landtitel für Gemeinschafts-
land zu erwerben und neue Einkommensquellen zu schaffen. Heutige Ausei-
nandersetzungen gelten daher der Durchsetzung verbriefter Bürgerrechte
sowie aus internationalen Vereinbarungen resultierender Rechte, wie die ILO
Konvention 169⁶ oder die UN Resolution für die Rechte Indigener Völker⁷, die
in weiten Bereichen noch nicht eingehalten werden.
Zu öffentlichen Anlässen tragen heute auch Personen die Cushma, die sie im
Alltag nicht verwenden. In den Räumen einer Frauen-Kooperative für Kunst-
handwerk unweit von Satipo traf ich im Januar 2015 auf ein junges Paar, das
im Begriff war, eine Cushma zu entleihen. Der Ehemann wollte bei einem be-
vorstehenden Lehrerkongress in Lima als Asháninka wahrgenommen werden,
besaß aber keine eigene Cushma. Die Wahl fiel auf ein älteres, braun über-
Abb 5: Gruppenportrait einer dieser Region um 1870 einsetzende Kautschukboom zu einer extremen Zu- färbtes Exemplar mit deutlichen Gebrauchsspuren. Dies würde ihm nach sei-
Familie, um 1920, Aufnahmeort nahme von Schuldknechtschaft, Sklaverei und Menschenhandel, was noch ner Ansicht ein authentischeres Äußeres verleihen als eine neue, helle
unbekannt, Fotograf vermutlich
Wilhelm Haase Tillmann.
bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt mit lokalen Aufständen be- Cushma. Die anwesenden Frauen zeigten sich angetan, befanden aber, dass
Die gestreifte Cushma des Mannes antwortet wurde. Aber nicht alle betroffenen Gruppen reagierten zu dieser zusätzliche Accessoires unabdingbar seien. Wenig später verließen die bei-
korrespondiert mit den Mustern Zeit mit offenem Widerstand. Einige versuchten, sich mit den neuen Macht- den, ausgestattet mit der besagten Cushma, einer Schärpe aus Pflanzen-
der Schärpen aus Samenkapseln,
habern zu arrangieren, indem sie regelmäßig Menschen aus den eigenen Rei- samen und einem geflochtenen Kopfring mit Federn (Amatsaiventis), sichtlich
die er beidseitig trägt.
Slg. Haase, MFK, Inv. Nr. FO-103-1-5. hen abtraten, andere profitierten selbst von Sklavenjagden und Menschen- zufrieden das Ambiente. Diese Begegnung bestätigt den auch andernorts zu
© MFK, Sammlung Fotografie handel (Mehringer 1986: 67f; Brown & Fernández 2000: 184ff). Dass diese beobachtenden Wandel der Cushma von der Alltagskleidung zum Symbol für
spätkolonialen Praktiken in der abgelegenen Region noch extrem lange fort- kulturelle Zugehörigkeit und politische Selbstbestimmung, was nicht bedeu-
dauerten, zeigt eine Befragung, die John H. Bodley 1960 unter indigenen Be- tet, dass sie ausschließlich in dieser Weise verwendet wird, denn in einigen
wohnern einer Missionsstation durchführte. Damals berichteten ihm 30% der Gegenden wird sie nach wie vor im Alltag getragen.
Gesprächspartner, sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern seien Opfer von Skla-
venjagden geworden (Bodley 1971: 106 nach Brown & Fernández 2000: 186f).
CUSHMAS DER ASHÁNINKA
Entgegen der in der Vergangenheit verbreiteten Interpretation, die Aufstän-
IN DER SAMMLUNG DES MUSEUM FÜNF KONTINENTE
de der Asháninka seien mit einem in ihrer Mythologie verankerten Hang zu
milleniaristischen Bewegungen und einem damit verbundenen kulturimma- Im Museum Fünf Kontinente befinden sich 283 Gegenstände, die den Ashá-
nent hohen Gewaltpotenzial zu erklären, sehen neuere Untersuchungen, wie ninka zugeschrieben werden. Die beiden ältesten, ein Kopfring mit Arafedern
die von Veber, Brown und Fernández die Ursache in den aus der kolonialen Si- und eine Schärpe aus Pflanzensamen mit Vogelbälgen, erwarb Therese Prin-
tuation resultierenden sozialen und politischen Verhältnissen jener Zeit⁵ zessin von Bayern 1898 in Lima. (Abb. 6 und 7). Aus einer Zeit, in der die
(Abb. 5). Cushma bei den meisten Asháninka Gruppen als Alltagskleidung noch sehr
62 FORSCHUNGSBERICHTE: AMERIKA 63
Abb. 6: Kopfschmuck
aus Palmblattreif, Ara- und
Hahnenfedern, erworben
in Lima, Peru. Vermutlich
fehlt eine der geschwungenen
Hahnenfedern, denn
gewöhnlich wurden diese verbreitet war, stammen zwölf Exemplare in der Sammlung des Museums, von Abb. 7: Schärpe aus Samenkapseln
symmetrisch an beiden denen nur zwei für Frauen bzw. Mädchen geschnitten sind. Dem stehen sieben mit Vogelbälgen und getrockneten
Seiten angebracht. Schwingen, erworben in Lima,
Paare Rasselgehänge aus Samenkapseln gegenüber, wie sie an den Schulter- Peru. Slg. Therese Prinzessin von
Slg. Therese Prinzessin
von Bayern, 1898, partien von Frauen Cushmas – ob handgewebt oder aus tocuyo gefertigt –an- Bayern, 1898, L. 57 cm.,
H. 44 cm, D. 18 cm, gebracht werden. Dies gab den Anlass, im Jahr 2015 eine weitere Frauen B. 6 cm, L. Federanhänger ca. 33 cm,
MFK, Inv. Nr. 26-T-498. MFK, Inv. Nr. 26-T-489.
Cushma zu erwerben (siehe unten, Abb. 17).
© Marietta Weidner © Marietta Weidner
Acht der insgesamt 13 Asháninka Cushmas kaufte der Zoologe Prof. Ernst-
Josef Fittkau im Juni 1979 bei einem drei-tägigen Aufenthalt direkt von
Asháninka, die bei der Mission San Francisco am Rio Cutivireni, einem rechten
Nebenfluss des Rio Apurimac, wohnten bzw. sich dort aufhielten (Abb. 8–13,
siehe auch Abb. 2 und 4). Die Sammlung Fittkau enthält auch zwei Cushmas
von Heinrich Maulhardt, der lange Zeit ein Hotel in der peruanischen Selva
betrieb und Exkursionen für zahlreiche Wissenschaftler sowie Hobby-Forscher
organisierte (Abb. 14, siehe auch Abb. 3 a/b). Eine weitere Cushma der Samm-
lung Fittkau stammt von dem Ethnologen Jakob Mehringer, der sie 1981 von
seinem Forschungsaufenthalt aus dem Gran Pajonal mitbrachte (Abb. 15).
Von einer Missionsstation am Rio Ene stammt eine Männer-Cushma, die Rai-
ner Panholzer dort 1977 erwarb und dem Museum schenkte (Abb. 16).
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Abb. 8: Cushma/Kithaarentze für VOM VERSUCH, EINE FRAUEN CUSHMA ZU ERWERBEN
Männer, Baumwolle, Herstellerin
unbekannt, erworben in der Mission
San Francisco am Rio Cutivireni, Die Suche nach einer Frauen Cushma der Asháninka zur Ergänzung der Samm-
Peru. Diese Cushma stammt nach lung des Museum Fünf Kontinente führte mich im Januar und Februar 2015
Angaben des Sammlers von einem zunächst in die Gemeinde Pampas Verdes in der Reserva El Sira im Norden des
»Medizinmann«, womit ein sheripari
genannter religiöser Spezialist Asháninka Gebietes und anschließend nach Santa Rosa de Panakiari und
gemeint sein dürfte. Slg. E.J. Fittkau, Atahualpa unweit von Satipo. Pampas Verdes befindet sich am Rand des Na-
1979, L. 121 cm, B. 104 cm, turschutzgebietes El Sira, etwa eine Stunde Fußweg von der Forschungssta-
MFK, Inv. Nr. 10-330 249.
© Marietta Weidner
tion Panguana der Zoologischen Staatssammlung München am Rio Pichis,
südlich von Pucallpa zwischen Puerto Inca und Puerto Bermudes. Das Dorf
Abb. 9: Cushma/Kithaarentze für zeigt die typische Anordnung eines Asháninka Dorfes an der Peripherie zur
Frauen/Mädchen, Baumwolle, 10 11
nicht-indigenen Gesellschaft, dem die Anerkennung als Comunidad Indigena
Herstellerin unbekannt, erworben in
der Mission San Francisco am Rio
Cutivireni, Peru. Die relativ kurze
Frauen/Mädchen Cushma mit starken
Gebrauchsspuren dürfte aus einer
umgearbeiteten Männer Cushma
entstanden sein. Der nachträglich
geschlossene, ehemalige
Halsausschnitt ist noch zu erkennen.
Slg. E.J. Fittkau, 1979, L. 80 cm,
B. 105 cm, MFK, Inv. Nr. 10-330 251.
© Nicolai Kästner
68 FORSCHUNGSBERICHTE: AMERIKA 69
Sie gewann erneut an Bedeutung als Identifikationssymbol, als in den 1990er
Jahren nach dem Ende der Kriegshandlungen zwischen peruanischem Militär
und dem militant maoistischen so genannten Leuchtenden Pfad mit der Re-
strukturierung der Gemeinschaften auch ein Neuaufbau politischer Organisa-
tionsstrukturen begann. Seither wurden politische Organisationen und
Selbstverwaltung weiter ausgebaut und zeigen eine zunehmend erfolgreiche
Aneignung der Spielregeln politischer Teilhabe auf nationaler und interna-
tionaler Ebene. Die Cushma ist hierbei weiterhin sichtbarer Ausdruck unge-
brochenen Selbstbehauptungswillens in einer Zeit fortwährender Bedrohung
durch Landnahme von elementarem Ausmaß.
70 FORSCHUNGSBERICHTE: AMERIKA 71
Fernández, Eduardo 1986: Para que nuestra historia no se pierda. Testimonio de los asháninca Anka Krämer de Huerta
ABSTRAC T y nomatsiguenga sobre la colonización de la región Satipo-Pangoa. Lima. Ethnologin; Mitarbeiterin
Flores Galindo, Alberto 2010: In search of an Inca. Identity and utopia in the Andes. New York. in der Sammlung Fotografie und
The cushma, until a few decades ago a garment widely-used by indigenous Schriften des Museum
Hecker, Giesela & Wolfgang Hecker 1995: Die Grabungen von Heinrich Ubbelohde-Doering in
residents of the Peruvian Selva, today seems to be vanishing increasingly in Fünf Kontinente; Lehrbeauftragte
Pacatnamú, Nordperu. Untersuchungen zu den Huacas 31 und 14 sowie Bestattungen und Fund-
everyday life. At the same time its use at public events and festivities is am Institut fürEthnologie der
objekte. Berlin.
Ludwig-Maximilians-Universität
growing steadily to show group affiliation and stress the common identity of Kummels, Ingrid 2016: Unexpected Memories: Bringing Back Photographs and Films from München
the indigenous inhabitants of the region – though mostly by men. Few Ashá- the 1980s to an Asháninka Nomatsiguenga Community of the Peruvian Selva Central. In:
Photography in Latin America. Images and identities across time and space, Koch, Gisela
ninka women own the hand-woven version of this clothing, although they
Cánepa & Ingrid Kummels (Hg.), (Postcolonial Studies, volume 24), Bielefeld: 165–194.
also take part in public events, hold official functions, and are active players
Laime Ajacopa, T. 2007: Diccionario Bilingüe – Iskay simipi yuyayk’ancha: Quechua – Castellano;
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Likewise, in museum collections women’s cushmas are rare, while their male men der ostperuanischen Proto-Aruak Stämme. Hohenschäftlarn.
counterparts are numerous. The special cut of women’s cushmas formerly led Santos-Granero, Fernando 1993: Anticolonialismo, mesianismo y utopía en la sublevación
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cushma entered the catwalks of Parisienne fashion shows, women performing
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in stylish men’s cushmas. cushma. In: Journal of Material Culture 1 (2): 155–182.
Veber, Hanne 2003: Ashaninka Messianism. The production of a “Black Hole” in western
This paper seeks evidence of women’s cushmas asking why they were widely Amazonian ethnography. In: Current Anthropology 44 (2): 183–211.
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such as the loss of land for cotton production, together with internal rules of
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exchange between men and women, initiated a process of transformation in die Indianer der Wälder, Disselhoff, Hans Dietrich & Otto Zerries (Hg.), Berlin: 79–388.
women’s costume which shows continuity in style, meaning and cultural rules
at the same time. The paper also presents the Asháninka cushmas available
ANMERKUNGEN
in the collections of the Museum Fünf Kontinente.
1 Der Ausdruck Montaña ist in Peru ungebräuchlich, dort spricht man von der selva oder
ceja de selva, der Braue des Waldes.
2 Herzlichen Dank an Dr. Henry Kammler von der LMU München für die Hinweise zur Wort-
L I TERATUR bedeutung im Quechua bzw. Runasimi.
3 Das Wort tocuyo bezeichnet in einigen Ländern Lateinamerikas grobe, industriell gefer-
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Qheswa – Español – Qheswa Simi Taqe. 2nd ed. Cusco. Asháninka werden zuweilen auch die daraus gefertigten Kleidungsstücke so genannt.
Baer, Gerhard & Annemarie Seiler-Baldinger 1989: Cushmas der Matsigenka, Ost-Peru. In: 4 Mehringer 1986: 65ff; Flores Galindo 2010: 68ff; Veber 2003; Santos-Granero 1993; Brown
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Bodley, John H. 1971: Campa Socio-Economic Adaptation. Ph.D. diss., University of Oregon. 5 Veber 2003; Brown & Fernández 2000: 192ff; Fernández 1986.
Ann Arbor: University Microfilms.
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Bodley, John H. 1972: A transformative movement among the Campa of eastern Peru. In: ist das erste internationale Regelwerk zum Schutz der Rechte indigener Völker und ver-
Anthropos 67 (1/2): 220–228. pflichtet die unterzeichnenden Staaten, zu denen Peru gehört, zu deren Einhaltung. Dazu
Bodley, John H. 1973: Deferred Exchange among the Campa Indians. In: Anthropos 68 (3/4): gehören u.a. Vorabkonsultationen im Fall von geplantem Rohstoffabbau auf deren Land.
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Brown, Michael F. & Eduardo Fernández 2000: Tribe and state in a frontier mosaic. The 2007 konkretisiert die Forderungen der ILO Konvention 169 und fordert die unterzeich-
Ashaninka of eastern Peru. In: War in the tribal zone. Expanding states and indigenous warfare, nenden Staaten auf, Gesetze zu deren Umsetzung zu erlassen.
Ferguson, R. Brian & Neil L. Whitehead (Hg.), Santa Fe: 175–198. 8 Guadelupe Hilares verstarb unlängst nach schwerer Krankheit. Ihr sei der Artikel mit
Desrosiers, Sophie & Ilaria Pulini 1992: Tessuti precolombiani. Modena: Musei Civici di Mode- großem Dank gewidmet.
na. 9 Quién es Vivienne Westwood? In: Soy Selva 1/5, 2015: 20.