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Titel, Impressum, Inhaltsverzeichnis, Vorwort, 9783838529370, 2020
Poetik
Wilhelm Fink
Werner Jung
Eine Einführung
Der Autor:
Werner Jung, geb. 1955, Prof. Dr. phil., lehrt und forscht im Bereich der Neueren
Deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen; Schwerpunkte:
Literatur des 18.-21.Jhdts, insbesondere Gegenwartsliteratur, Ästhetik, Poetik, Lite-
raturtheorie und Editionsphilologie. Letzte Veröffentlichungen: „Du fragst, was
Wahrheit sei?“ Ludwig Harigs Spiel mit Möglichkeiten (2002); Mitherausgeber des
Jahrbuchs der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft (seit 1996), der Georg-
Lukács-Werkausgabe sowie der Kölner Ausgabe Heinrich Bölls und der Ludwig-
Harig-Werkausgabe.
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tung in elektronischen Systemen.
Printed in Germany.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
2. Horaz ....................................................................... 34
3. Longinus ................................................................. 40
II. Poetik des Mittelalters: Im Dienste des Gotteslobs ... 46
Titel, Impressum, Inhaltsverzeichnis, Vorwort, 9783838529370, 2020
Werner Jung
Duisburg, den 30.4.2007
0. Einleitung
1
Rötzer, Hans Gerd, Art. Poetik, in: Brockhaus Enzyklopädie,
Mannheim 1992, Bd. 17, S. 269f.; vgl. außerdem Koppe, Franz,
Art. Poetik, in: Jürgen Mittelstraß u.a. ( Hg.), Enzyklopädie Philo-
sophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart-Weimar 1995, Bd. 3,
S. 278ff.
0. Einleitung 9
2
Rötzer, Hans Gerd, Art. Poetik, in: Ders., Literarische Grundbe-
griffe, Bamberg 1995, S. 153.
3
Kühnel, Jürgen, Art. Poetik, in: Günther und Irmgard Schweikle
( Hg.), Metzler Literatur Lexikon, Stuttgart 1990, S. 353f.
10 0. Einleitung
4
Vgl. Kösser, Uta, Wenn die Weltanschauung in die Brüche geht,
ist es besser, sich die Welt anzuschauen, in: Weimarer Beiträge,
H. 2, 1993, S. 190-207.
12 0. Einleitung
*
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Einleitung, 9783838529370, 2020
1. Aristoteles
Er ist nicht der erste, gewiß aber der erste, der systematisch die
Probleme der Poesie behandelt hat. Und zwar in seiner nur
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1
Vgl. dazu ausführlich Schadewaldt,Wolfgang, Die Anfänge der
Philosophie bei den Griechen, Die Vorsokratiker und ihre Voraus-
setzungen, Frankfurt/M. 1978, S. 47-113.
I. Poetik der Antike 15
schaft, die Hegel mit Aristoteles verbindet, ist der Hinweis auf
das ‚Einzelne‘ und ‚Besondere‘ überaus charakteristisch; da-
durch ist auch noch Aristoteles’ Verfahren in der Poetik präzi-
se bezeichnet. Denn Aristoteles widmet sich hier strikt den
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dings auch, wovon jedoch nicht weiter die Rede ist, „das Flö-
ten- und Zitherspiel“ mit ein. (ebd.) Alle Gattungen der Dicht-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
pendiert sein. Was also gefällt, ist das Bild, ist die in den Schein
transformierte Sache, ist dasjenige, was spätere Aristoteles-
Kommentatoren der Renaissance, wie z.B. Castelvetro (1570),
mit Ähnlichkeit („rassomiglianza“) übersetzt haben. Während
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uns die Sache selbst, etwa der Tod, bedrückt und plagt, kön-
nen wir sie im ästhetisch-poetisch gestalteten Werk (mögli-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
cherweise) freudig genießen, sie auf jeden Fall aber anders be-
und verarbeiten: sie belastet uns nicht länger, weil wir von der
Realität entlastet sind. (Über verfehlte Lektüren, solche, die
den Schein für das Sein halten und damit grundsätzlich die
Ebenen verwechseln, handelt die europäische Literatur späte-
stens seit Don Quichotte – mit verheerenden Folgen, wie das
Schicksal einer Emma Bovery beweist. Aristoteles war da
schon weiter!) Auf diesen impliziten ästhetischen Standpunkt
kommt Aristoteles mehrfach wieder zurück, wenn er z.B. mit
Blick auf die dramatisch exponierten Handlungen von „schwe-
rem Leid“, von „Todesfällen“ oder auch von „Schmerz“ und
„Verwundungen“ spricht. (vgl. a.a.O. 37) Es handelt sich um
jene berühmte, periodisch immer wieder neu diskutierte Frage,
warum die Menschen Freude an tragischen Gegenständen
empfinden und woher dieses Gefallen rührt. Für Aristoteles
ist, wie wir sehen werden, die Frage noch leichter zu beantwor-
ten, weil er – und darin schillert seine Argumentation, erhält
sie etwas Zweideutiges – die Poesie zweckhaft besetzt, weil sie
klare Funktionen von ihm zudiktiert bekommt.
Nachahmung bzw. die Tätigkeit des Nachahmens wird von
Aristoteles ganz allgemein in erkenntnistheoretischen Zusam-
20 I. Poetik der Antike
wirkt.“ (a.a.O. S. 19) Auf einige Details ist nun näher einzuge-
hen: Nachahmung einer guten Handlung, auf die Begriffe Jam-
mer (‚eleos‘), Schaudern (‚phobos‘) und Reinigung (‚kathar-
sis‘) – Grundbegriffe tragischer Dichtung, die in der Nachfolge
von Aristoteles anhaltend für Verwirrung gesorgt haben.
Hilfreich für den Gesichtspunkt der Mimesis bzw. Nachah-
mung einer Handlung, worunter man ganz allgemein mit Her-
mann Koller deren Darstellung verstehen sollte6, kann eine
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Stelle aus der „Nikomachischen Ethik“ sein, die das dem Men-
schen Eigentümliche charakterisiert. Dort sagt Aristoteles, daß
das dem Menschen Wesentliche die „Tätigkeit der Seele“ ist,
„die sich nach der Vernunft oder doch nicht ohne Vernunft
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vollzieht“: „wenn also das so ist und wir als die eigentümliche
Leistung des Menschen ein bestimmtes Leben annehmen und
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
6
Koller, Hermann, Die Mimesis in der Antike, Bern 1954, S. 117.
Zur neueren Diskussion um den Mimesis-Begriff vgl. den Artikel
von Jürgen H. Petersen, ‚Mimesis‘ versus ‚Nachahmung‘, Die Poe-
tik des Aristoteles – nochmals neu gelesen, in: arcadia, Bd. 27,
1992, S. 3-46;außerdem noch: Metscher, Thomas, Mimesis, Biele-
feld 2001.
22 I. Poetik der Antike
7
Vgl. Grassi a.a.O. S. 128.
8
Grassi ebd.
9
Vgl. Fuhrmann, Manfred: Anmerkungen, in: Aristoteles, Poetik,
Stuttgart 1993, S. 110, Anm. 8.
I. Poetik der Antike 23
hat, als wenn er ein Gemälde angefertigt hat, das seinen Ge-
genstand schlecht nachahmt.“ (a.a.O. S. 89) Anders gesagt: die
Darstellung muß in sich stimmig sein oder plausibel.
Die Tragödie wie überhaupt alle Literatur spielt Möglichkei-
ten durch, menschliches „Probehandeln“ (D. Wellershoff); sie
erweitert dadurch den Horizont, indem sie Erkenntnis- und
Handlungsperspektiven verbreitert. Sie treibt, so hat es ein
moderner Interpret formuliert, „die Suche nach einer progres-
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Wirklichkeit angelegt ist und […] schon von daher keine Tat-
sachenkopie. So könnte man die aristotelische Kunst-Definition
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11
Zapf, Hubert, Kurze Geschichte der angloamerikanischen Litera-
turtheorie, München 1991, S. 32.
12
Wiegmann, Hermann, Geschichte der Poetik, Stuttgart 1977, S. 6.
26 I. Poetik der Antike
sein, ohne dabei die Gesetze der Natur zu verletzen. Erst viel
später, im 24. Kapitel, greift Aristoteles diesen Gedanken des
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
Nur der Mensch, heißt es an einer Stelle bei Karl Marx über
unsere anthropologische Grundausstattung, formiere nach den
Gesetzen der Schönheit!)
In Kapitel 21 beschreibt Aristoteles u.a. die für die poeti-
sche Sprache maßgeblichen Tropen. Eine herausragende Be-
deutung kommt der Metapher zu (vgl. a.a.O. S. 67ff.), die gera-
dezu zum Merkmal des Poetischen erklärt wird: „es ist aber bei
weitem das Wichtigste, daß man Metaphern zu finden weiß.
Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen
erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Denn gute Me-
taphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erken-
nen vermag.“ (a.a.O. S. 75ff.) Im Finden von Metaphern zeigt
sich, um eine Schleiermachersche Formulierung zu gebrau-
chen, daß und inwieweit ein jeder in der Sprache mitzuarbeiten
in der Lage ist; zugleich ist die Metapher für Aristoteles ein
Kriterium des Dichters, eines poietischen Künstlers, der so et-
was wie einen neuen „Beziehungssinn“ (Fr. Nietzsche) stiftet,
weil er (bislang verborgene) Ähnlichkeiten ans Licht der Spra-
che hebt und uns damit neue Aspekte sehen läßt. Der poeti-
sche Genius ist – das impliziert die aristotelische Aussage –
nicht unter Regeln zu zwingen; seine sprachschöpferischen
28 I. Poetik der Antike
13
Ricoeur, Paul, Die lebendige Metapher, München 1986, S. 51f.
14
Ricoeur a.a.O. S. 55.
15
Greisch, Jean, Hermeneutik und Metaphysik, München 1993,
S. 78.
I. Poetik der Antike 29
18
Vgl. insgesamt die Arbeit von Bernays, Jakob, Zwei Abhandlungen
über die Aristotelische Theorie des Drama, Berlin 1880; außerdem
Volkelt, Johannes, Ästhetik des Tragischen, Vierte, neubearbeitete
Auflage, München 1923, S. 278ff.
19
Thiele, Michael, Die Negation der Katharsis, Zur Theorie des ari-
stotelischen Begriffs als ästhetisches Phänomen, Düsseldorf 1982,
S. 61f.
32 I. Poetik der Antike
2. Horaz
20
Vgl. dazu ausführlich Fuhrmann a.a.O. (Anm. 3) S. 145-161.
I. Poetik der Antike 35
rede“ vermittelt, zum anderen aber zugleich Satire ist und als
solche ein „Spiegelbild des Dichters“ zeichnet.22 Aufs Ganze,
die Gesamtanlage gesehen, resümiert dann Klingner: Horaz
charakterisiere eine bestimmte Situation, in der die Unberufe-
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nen, die sich als Dichter nur aufspielen, der Dichtkunst selbst
gegenüberstehen. „Zwischen beiden befindet sich Horaz, nicht
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
21
Topitsch, Ernst, Der Gehalt der Ars Poetica des Horaz, in: Wiener
Studien, Bd. 66, 1953, S. 117-130.
22
Vgl. Klingner, Friedrich, Horazens Brief an die Pisonen, Leipzig
1937, S. 14.
36 I. Poetik der Antike
23
A.a.O. S. 61.
24
A.a.O. S. 65.
25
Fuhrmann a.a.O. S. 127ff.
I. Poetik der Antike 37
zum Schluß kommt, daß der Dichter entweder der Sage folgen
oder aber erdichten soll, also entweder an die Tradition und
Überlieferung anknüpfen oder aber seine Inspiration benutzen
soll. (vgl. a.a.O. 11, 119-122) Einerseits – andererseits, ohne
dialektische Vermittlungen.
Die Quintessenz seiner Vorstellung, gewissermaßen die Lö-
sung zieht Horaz in den Versen 408ff., wo es heißt, daß ‚stu-
dium‘ und ‚ingenium‘ zu gleichen Teilen angenommen werden
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müssen und sich gegenseitig auf die Sprünge helfen: „Ob durch
Naturtalent eine Dichtung Beifall erringt oder durch Kunst-
verstand, hat man gefragt. Ich kann nicht erkennen, was ein
Bemühen ohne fündige Ader oder was eine unausgebildete Be-
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gabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andren und ver-
schwört sich mit ihm aus Freundschaft.“ (a.a.O. 31, 408-411)
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
winkt an allen Ecken und Enden, ohne daß eine direkte Beein-
flussung oder Kenntnis nachweisbar wäre, und überhaupt ist
Horaz wenig originell. Er deutet die Regeln der Dichtkunst
entsprechend den Erfordernissen seiner Zeit um; er bewahrt
den klassischen Kanon, weil er selbst, wie Fuhrmann es ausge-
drückt hat, „nach Klassizität“ strebt.27 Zusammenfassend: Die
„Ars poetica“ „begnügt sich damit, das Gültige zu kodifizieren;
sie bietet eine Synthese dar, so sehr sie auch eklektisch mit ih-
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rem Stoffe verfährt; sie zieht die Summe ihrer Epoche, der au-
gustinischen Klassik, die ihrerseits in ihren theoretischen Auf-
fassungen stark in der Schuld des Hellenismus steht.“ 28
Abgesehen vom Klassizismus und Eklektizismus der Hora-
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3. Longinus
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29
Gellert, Christian Fürchtegott, Gesammelte Schriften, Kritische,
kommentierte Ausgabe, Bd. 4, Roman, Briefsteller, ( Hg.) Bernd
Witte u.a., Berlin, New York 1989, S. 197.
I. Poetik der Antike 41
30
von Wilamowitz-Möllendorf, Ulrich, Die griechische Literatur des
Altertums, in: Ders. u.a. (Hg.), Die griechische und lateinische Li-
teratur und Sprache, Berlin 1905, S. 148f.
31
Otto Schönberger: Nachwort, in: Longinus: Vom Erhabenen.
Stuttgart 1988. S. 135f.; Fuhrmann a.a.O. (Anm. 3) S. 163f.
32
Schönberger a.a.O. S. 137.
42 I. Poetik der Antike
schaffen, was sie hörte.“ (a.a.O. S. 17) Damit aber diese Wir-
kung im Zuhörer bzw. Zuschauer überhaupt erzielt werden
kann, sei es geboten, dem Dichter, dem Genie, durchaus Zügel
in Gestalt von technischen Regeln anzulegen. „Genies brau-
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chen nämlich ebenso oft wie den Sporn auch den Zügel.“
(a.a.O. S. 7) So formuliert Longinus denn auch lang und breit
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020
Die Kunst sei dann am Ziel, „wenn sie Natur scheint; die Na-
tur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar ein-
schließt.“ (a.a.O. S. 61) Die „schönen Worte“ seien unabding-
bare Voraussetzung für „das wahre Licht des Gedankens“
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37
Aguado, Maria Isabel Pena, Ästhetik des Erhabenen, Burke, Kant,
Adorno, Lyotard, Wien 1994, S. 13.
II. Poetik des Mittelalters: Im Dienste des Gotteslobs
1
Krohn, Rüdiger, Kulturgeschichtliche Bedingungen, in: Deutsche
Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. von Horst Albert Glaser,
Bd. 1, Reinbek 1988, S. 29.
II. Poetik des Mittelalters 47
bei den Dichter weniger als Genie denn als Handwerker, der
zwar über spezifische Anlagen verfügt, aber insgesamt doch
Kunst nach Regeln produziert. Die Dichtkunst wie die Kunst
überhaupt ist also niemals Selbstzweck, sondern ist funktiona-
listisch eingebunden in die christliche Ontologie. Sie ist stets
Mittel zum Zweck.
Bekanntlich umfaßt das Mittelalter einen enormen histori-
schen Zeitraum von tausend Jahren. Unabhängig aber von
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tel- und Südeuropa und dem Norden bis hin nach Island, Skandi-
navien, Finnland, im Südosten bis nach Palästina‘ [ P. Lehmann].
Der einfache Mann wie der Gebildete weiß, daß es zwei Sprachen
gibt: die des Volkes und die der Gelehrten (clerici, litterati ). Die
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020
– wie schon dem Römer Varro – als eine von weisen Männern er-
fundene, unveränderliche Kunstsprache. Man übersetzte sogar
volkssprachliche Dichtungen ins Latein. Noch Jahrhunderte hin-
durch ist das Latein als Sprache des Unterrichts, der Wissenschaft,
der Verwaltung, der Justiz, der Diplomatie lebendig geblieben.3
Dennoch wäre es falsch zu glauben, daß es im Mittelalter keine
Innovationsschübe gegeben habe. Nur müssen sie anders be-
griffen werden. Walter Haug hat in seiner instruktiven, bündig
zusammengefaßten Einführung in die Literaturtheorie des deut-
schen Mittelalters darauf hingewiesen, daß Innovation in der
Verwendung topischer Elemente zu finden ist.
So stellt sich […] heraus, daß mit traditionellen Versatzstücken al-
lein durch die Art ihrer Kombination höchst individuelle, situa-
tionsbezogene Aussagen möglich sind, wobei die Verschleierung im
Konventionellen einen besonderen Reiz ausmachen kann. Topoi
sind somit nicht nur als Traditionskonstanten zu werten, sie kön-
nen vielmehr als variable Größen fungieren, mit deren Hilfe man
sich zugleich traditionell und individuell gibt. Ja, gerade aus dieser
Spannung heraus kann sich eine besonders sublime Form der gei-
2
Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mit-
telalter, Bern-München 1973, S. 29.
3
A.a.O. S. 35f.
II. Poetik des Mittelalters 49
4
Haug, Walter, Literaturtheorien im deutschen Mittelalter, Darm-
stadt 1985, S. 12.
5
Wehrli, Max, Literatur im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1984,
S. 110.
50 II. Poetik des Mittelalters
vor einer Reihe von Fehlern, die sich insbesondere bei antiken
Autoren wie Vergil, Lucan oder Terenz fänden, weshalb es den
modernen (moderni) darum zu gehen habe, nicht in jedem Fal-
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020
Galfred von Vinsauf hat mit seiner Neuen Poetik wohl das
einflußreichste und verbreitetste Werk vorgelegt – noch Dante
und Chaucer haben darauf zurückgegriffen. Er preist die Wür-
de (gravitas) des sprachlichen Ausdrucks und hält der Amplifi-
kation im stilistischen Bereich eine Lobrede. Der rhetorische
Grundcharakter der Abhandlung zeigt sich bereits in der Glie-
derung, die analog zur üblichen Schulrhetorik aufgebaut ist: in-
ventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio oder actio.
Klopsch meint denn auch, daß das Eigentliche der Poesie auf-
grund der starken Systematisierung und Rationalisierung rheto-
rischer Zugriffe hier zu kurz komme.
Johannes von Garlandias Pariser Poetik ist eine komplette
Rhetorik unter Einschluß noch der Epistolographie, sie um-
faßt die gesamte Wortkunst. Bemerkenswert ist die Stillehre, die
drei unterschiedliche Stilgattungen differenziert: den schweren
Stil (gravis stilus), den mittleren (mediocris) und den unteren
(humilis). Diesen werden auf dem Hintergrund der ständi-
schen Rangordnung auch verschiedene Figurenensembles zu-
geordnet. Während z.B. im schweren Stil Feldherrn mit Pferd
und Schwert auftauchen und im mittleren der Bauer mit Och-
8
Klopsch, Paul, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen
Mittelalters, Darmstadt 1980, S. 127.
52 II. Poetik des Mittelalters
sen und Pflug, rangiert auf unterer Ebene der Hirte mit Schaf
und Stab. Man hat deshalb auch von einem „stoffgebundenen
Stil“ (Klopsch) gesprochen: „Der stilus ist ein an eine persona
geknüpftes Sachgebiet mit den dazugehörigen Bezeichnungen,
er ist die materia, repräsentiert durch die nomina der personae
et res […]“ 9
Ebenso wie man sich im Mittelalter wie selbstverständlich
alten Quellen im Hinblick auf poetologisches und ganz allge-
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„sie sind auch ein Schatz der Lebens- und Weltweisheit. In den
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9
A.a.O. S. 151f.; vgl. auch Göttert, Karl-Heinz, Einführung in die
Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, München
1991, S. 140-145.
10
Curtius a.a.O. S. 68.
II. Poetik des Mittelalters 53
Inhalts wie die Chroniken und das geistliche Spiel oder welt-
lich orientiert wie die Minnelyrik, die Spruchdichtung und Pro-
sagroßepen, z.B. der Renner. Belehrung ist und bleibt konstitu-
tives Element von Literatur.
Boesch belegt das an zahllosen Beispielen. Kunst soll zur
Tugend führen und Würde erzeugen; sie ist die Führerin. In
Gottfrieds Tristan kann man lesen:
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11
Scherer, Wilhelm, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin
1917, S. 145; vgl. dazu auch: Haug, Walter, Literaturtheorien im
deutschen Mittelalter a.a.O. S. 191ff.
56 II. Poetik des Mittelalters
(Es gibt heutzutage viele, die es sich angelegen sein lassen, das
Gute schlechtzumachen, während sie das Schlechte für gut erklä-
ren. Solche Leute fördern [das gute/die Kunst] nicht, sondern
schaden [ ihm/ihr]. Wie gut Kunst und genaue Urteilskraft auch
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020
12
Gottfried von Straßburg, zit. nach: Haug, Walter, Literaturtheorien
im deutschen Mittelalter a.a.O. S. 201.
II. Poetik des Mittelalters 57
danke, den nur Dante allein vertrat, und nur Er allein hatte die
Unbefangenheit und Frische des Sinns, um dem stolzen Clerus
vulgaria temnit des jungen Gelehrten gegenüber auf die natür-
liche Kraft und Fülle der jugendfrischen Muttersprache zu ver-
weisen.“ 1 Die italienische Literatur – das Dreigestirn Dante,
Boccaccio und Petrarca – gibt schließlich auf gesamteuropäi-
scher Ebene den Ton an. Und in ihrem Gefolge bestimmt
dann auch Italien die dichtungstheoretischen Debatten.
In den Worten von Jost Schillemeit aus seinem Artikel über
die Poetik: „Seit 1300 war der literarische Primat von Frank-
reich nach Italien übergegangen. Dem Aufblühen der italieni-
schen Dichtung folgt seit 1500 eine unvergleichliche Produkti-
vität auf dem Felde der Literaturtheorie. Sie greift von Italien
aus auf Frankreich und England über, mit einer gewissen Ver-
spätung auch auf Spanien und Deutschland. Die italienischen
Renaissancepoetiken bleiben bis ins 18. Jahrhundert hinein der
mehr oder weniger sichtbare Hintergrund für alles, was in
Europa als Poetik auftritt.“ 2
1
Vossler, Karl, Poetische Theorien in der italienischen Frührenais-
sance, Berlin 1900, S. 30f.
2
Schillemeit, Jost, Art. Poetik, in: Fischer Lexikon Literatur, hrsg.
von Friedrich, Wolf-Hartmut/Killy, Walther, Bd. 2/2, Frank-
furt/M. 1965, S. 430.
III. Poetik der Renaissance 59
4
Buck, August, Einleitung, in: Scaliger, Julius C., Poetices libri VII,
Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. XIII (Nachdruck der Ausgabe
Lyon 1561).
5
Ebd. S. XIIIf.
6
Vgl. Scaliger a.a.O. S. 11 (Buch 1, Kap. 6 ).
7
Ebd. (Buch 1, Kap. 5).
III. Poetik der Renaissance 63
[…] definiert hat […]. Daher kann man auch den moralisch inter-
pretierten Katharsis-Begriff auf das Epos übertragen,. das vermit-
tels von ‚Schrecken und Mitleid‘ dem Leser das Laster hassenswert
machen soll. Ihre Krönung findet diese Auffassung von heroi-
schen Epos in dem Bild, das Torquato Tasso in seinen ‚Discorsi
sul poema eroico‘ vom epischen Helden als einem Muster aller
Tugenden entworfen hat.8
Im Zusammenhang von Rhetorik und Poetik formuliert Scaliger
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11
Ahrens, Rüdiger, Art. „The Defence of Poesie“, in: Lexikon litera-
turtheoretischer Werke, hrsg. von Renner, Rolf Günter/Habekost,
Engelbert, Stuttgart 1995, S. 79f.
III. Poetik der Renaissance 65
seiner Geschichte der Poetik u.a. auf Konrad Celtis’ 1486 erschie-
nene Ars versificatoria, auf H. Bebels Ars versificandi von 1506,
auf Joachim von Watts De poetica et carminis ratione von 1518,
auf Melanchthons Epistula de legendis Tragoediis et Comoediis von
1545 (mit dem ersten deutschen Hinweis auf Aristoteles) und
J. Camerarius’ Abhandlung De Tragico Carmine & illius praecipuis
authoribus apud Graecos von 1534 hin. Mit J. Pontanus’ lnstitutio
Poetica von 1594 beginnt dann die Rezeption der italienischen
Renaissancepoetiken mit den wichtigen Quellen Scaliger und
Viperano. (vgl dazu insgesamt Wiegmann 1977. S. 39ff.)
Eine treffende Formulierung, was die Bemühungen der Re-
naissance um die Poetik anbelangt, hat August Buck schließ-
lich am Ende eines Aufsatzes gefunden, der sich mit der roma-
nischen Dichtung und Dichtungslehre in der Renaissance
befaßt: „Es ist die Tradition der Antike, von der alle Dichtung
der Renaissance das Gesetz empfängt, dem sie gehorcht:
Schon Gestaltetem neue Gestalt zu geben, kurz, Bildungsdich-
tung zu sein.“ 13
12
Hausmann, Frank Rutger, Die Literatur der Renaissance, in: Fran-
zösische Literaturgeschichte, hrsg. von Grimm, Jürgen, Stuttgart
1991, S. 112f.
13
Buck, August, Romanische Dichtung und Dichtungslehre in der
Renaissance, in: Deutsche Vierteljahresschrift, Bd. 33, 1959, S. 607.
IV. Poetik des Barock: Rede- und Tichtkunst
In den ersten Kapiteln befaßt sich Opitz mit Aufgabe, Wesen und
Ursprung der Poesie. Er geht dann zur Rechtfertigung der deut-
schen Kunstdichtung über, wobei er sich auf die Errungenschaf-
ten der altdeutschen Dichtung beruft. Nach der Lehre von der
Invention oder Erfindung behandelt er die Disposition oder Ab-
teilung der Dinge oder Sachen. Dieser Abschnitt befaßt sich mit
den poetischen Gattungen. Das Kapitel ‚Von der zuebereitung
vnd ziehr der worte‘ entspricht den Erörterungen über die „elocu-
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tio“ in den Rhetoriken und behandelt Fragen der Sprache und des
Stils. Die Anordnung: Invention, Disposition und Elokution war
noch am Anfang des 18. Jahrhunderts verbindlich. Schließlich be-
schäftigt sich Opitz mit Metrik und Reim. – Die Anlage der Poetik
folgt – mit Ausnahme des einführenden Teils und des Kapitels
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020
3
Zit. nach Schöne, Albrecht (Hg.), Die Deutsche Literatur, Texte
und Zeugnisse, Bd. III, Das Zeitalter des Barock, München 1988,
S. 20f.
IV. Poetik des Barock 69
4
Hildebrandt-Günther, Renate, Antike Rhetorik und deutsche lite-
rarische Tradition im 17. Jahrhundert, Marburg 1966, S. 46.
5
Braungart, Georg, Art. „Poetischer Trichter“, in: Lexikon litera-
turtheoretischer Werke, ( Hg.) Rolf Günter Renner und Engelbert
Habekost, Stuttgart 1995, S. 298.
6
Zit. nach Szyrocki a.a.O. S. 90.
70 IV. Poetik des Barock
Ziel des Poeten schließlich sei der Nutzen und zugleich wieder
die Belustigung.7
Letzterem begegnet man auf Schritt und Tritt. In der überaus
wirkungsmächtigen Poetik von August Buchner, die zwischen
1630 und 1640 entstanden und in Vorlesungen häufig verbreitet
worden, jedoch erst 1665 postum zum Druck gekommen ist,
heißt es über das Amt und den Zweck des Poeten, daß er belu-
stigen und lehren müsse. „Denn wann er nur belustigen wolte/
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wehre er nicht viel besser/ als etwa ein Gauckler/ oder kurtz-
weiliger Rath und Bossenreisser. Lehren aber allein/ stehet nun-
mehr zuförderst den Philosophen zu/ welche von allen Sachen
bessern und gründlichern Bericht thun/ doch meistentheils
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020
7
A.a.O. S. 92.
8
Buchner, Augustus, Anleitung zur Deutschen Poeterey, (Hg.) Ma-
rian Szyroki, Tübingen 1966, S. 32f.
9
A.a.O. S. 33.
10
Vgl. nur etwa das eindrucksvolle Literaturverzeichnis von Grimm
a.a.O. [ Anm. 1] S. 758-789.
IV. Poetik des Barock 71
11
Baur, Rolf, Didaktik der Barockpoetik, Die deutschsprachigen
Poetiken von Opitz bis Gottsched als Lehrbücher der ‚Poeterey‘,
Heidelberg 1982, S. 117.
12
Johann Hübner, zit. nach Baur, Rolf a.a.O. S. 120.
13
Vgl. auch dazu wiederum Baur a.a.O. S. 133f., 147.
72 IV. Poetik des Barock
14
A.a.O. S. 65, 130.
15
Vgl. dazu allgemein Grimm a.a.O. [ Anm. 1], besonders S. 115ff.
16
Stüssel, Kerstin, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln,
Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden
19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 36.
V. Von der Regel zum Genie: Poetik der Aufklärung
Lebensweg u.a.m. Dafür muß sie aber – und dies gilt schließ-
lich für alle bekannten Gattungen – ganz auf das reale Leben,
auf die gemeinen schlechten und rechten Menschen ihrer Zeit-
genossenschaft eingeschworen werden. Mit anderen Worten:
ein Plädoyer für den Realismus. Beispielhaft formuliert: nahe-
zu zwangsläufig muß Gottsched, der erste deutsche Literatur-
papst der Aufklärung, den Hanswurst von der Bühne verban-
nen, entspinnt sich ein langer ästhetisch-poetologischer Streit
um das Wunderbare und seine Funktion für die Literatur, lobt
endlich Lessing die Gellertschen Stücke ob ihrer Realitätsnähe
und verurteilt Lichtenberg wieder die romanhaften, sprich: ro-
mantischen deutschen Liebesgeschichten.
Hermann Wiegmann kann man nur zustimmen, wenn er in
seiner kurzgefaßten Geschichte der Poetik bemerkt, daß die
Zeit zwischen 1730 und 1800, also zwischen Gottscheds „Cri-
tischer Dichtkunst“ und Novalis’ ästhetischen Reflexionen,
„die fruchtbarste und folgenreichste Zeit poetologischer Aus-
einandersetzung“ gewesen ist.1 Ein Traktat jagt ein anderes Sy-
stem; Aufsätze, Abhandlungen und ganze voluminöse Kom-
pendien erscheinen in rascher Folge. Das Bemerkenswerteste
daran ist die Tatsache – im Gegensatz etwa zur Zeit zwischen
1
Wiegmann a.a.O. S. 56.
V. Poetik der Aufklärung 75
der Dicht- und Redekunst“ von 1727 anschließen, die ihm den
Boden bereitet haben. König durch die Eindeutschung des
französischen ‚bon goût‘ und Thomasius durch seine Hoch-
schätzung der deutschen Sprache auch in akademischen Ange-
legenheiten. Überhaupt ist Gottsched ein Eklektiker. Er schließt
seine Theorie namentlich an die antiken Klassiker an wie auch
an Opitz, Boileau, Fontenelle, Dacier, Perrault, Shaftesbury,
allesamt anerkannte europäische Größen. Trotzdem schreibt
er seine Abhandlung ‚vor die Deutschen‘, wie es heißt. Sein
Hauptziel hat er darin gesehen, den aristotelischen Grundsatz
der Poetik, das Mimesis-Prinzip, als inhaltlichen und verbindli-
chen Grund auszuweisen. Anknüpfungspunkt für Gottsched
ist dabei die Philosophie Christian Wolffs, die nun für die
Poetik ausgeschrieben wird: Dichtkunst ist für Gottsched
„philosophische Poetik“, die zeigen möchte, daß sich in der
Dichtkunst nicht nur in bezug auf alle verschiedenen Gattun-
gen Regeln (der Produktion wie selbstverständlich auch der
Rezeption) auffinden, sondern daß darüber hinaus noch diese
Regeln sich zu einem Gesetz zusammenziehen lassen. Darin er-
2
Vgl. Birke, Joachim, Gottscheds Neuorientierung der deutschen
Poetik an der Philosophie Wolffs, in: Zeitschrift für deutsche Phi-
lologie, Bd. 85, 1966, S. 56-575.
76 V. Poetik der Aufklärung
3
Markwardt, Bruno, Geschichte der deutschen Poetik, 5 Bde., Ber-
lin 1956, Bd. II, S. 33.
4
Zit. nach Birke a.a.O. S. 574, Anm.
V. Poetik der Aufklärung 77
6
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 79.
7
Windfuhr, Manfred, Nachwort, in: Johann Jakob Breitinger, Criti-
sche Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrau-
che der Gleichnisse, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740,
Stuttgart 1967, S. 5*.
V. Poetik der Aufklärung 79
den poetischen Erzeugnissen auf das Herz und die Sitten, also
in erster Linie: auf die Sinnlichkeit einwirken, ganz im Sinne
des Philosophen und Begründers der wissenschaftlichen Diszi-
plin Ästhetik Alexander Gottlob Baumgarten, der eine höhere
Verstandeserkenntnis von einer niederen, sinnlichen Erkennt-
nis unterschieden hat. Gellerts literarisches Œuvre umfaßt alle
den Zeitgenossen vertrauten Gattungen, also Fabeln, Lieder
und Oden, Lustspiele, einen Roman, daneben eine Reihe von
moralischen und poetologischen Abhandlungen, Reden und
Vorlesungen. Den obersten Grundsatz seines Schaffens hat er
einmal als Moral in einer Fabel folgendermaßen ausgedrückt:
Dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein
Bild zu sagen. Gellert möchte also mit seinen Texten, den Fa-
beln ebenso wie den von ihm auch theoretisch begründeten
und legitimierten rührenden Lustspielen sowie dem empfind-
samen Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G**“,
seine Zeitgenossen bilden und zugleich unterhalten. Der
Aspekt der Rührung, der Herzensergreifung, steht dabei an
oberster Stelle. Die Leser, Zuhörer bzw. Zuschauer müssen
‚vor Freuden‘ ergriffen werden; sie müssen einsehen lernen,
daß in diesen Texten ihre Probleme – und aller tugendhaften
Bürger Probleme – verhandelt werden. Gellert versteht sich als
Lehrer, als Praeceptor Germaniae, als, wie es noch Goethe
80 V. Poetik der Aufklärung
8
Vgl. dazu Schmidt, Jochen, Die Geschichte des Genie-Gedankens
in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945,
2 Bde., Darmstadt 1985, Bd. 1, S. XIII.
9
Baeumler, Alfred, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und
Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darm-
stadt 1975, S. 155f.
82 V. Poetik der Aufklärung
phern zu finden, und dies sei dazu „das Einzige, das man nicht
von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Bega-
bung.“ ( Aristoteles: Poetik S. 75ff.) Genialität, Phantasietätig-
keit und Metaphorik gehören unzertrennlich zusammen, wie
sie dann auch, das reflektiert der Erkenntnisprozeß des gesam-
ten 18. Jahrhunderts, die Geltung der Regeln schlußendlich
völlig suspendieren werden – mit Folgen bis heute.
Zum Kreis um Gellert zählen auch die beiden Brüder Jo-
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10
Zit. nach Boetius a.a.O. S. 117.
11
Ebd.
V. Poetik der Aufklärung 83
„wenn es weiter nichts, als deutlich ist, [ist] oft sehr langwei-
lig und ekelhaft. Nur das Sinnliche ist dasjenige, was das
Schöne von seiner vortheilhaftesten Seite zeigt, […].“ 13 Nur
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020
durch das Sinnliche finde das Schöne ( wie auch das Gute
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12
A.a.O. S. 119.
13
A.a.O. S. 121f.
14
A.a.O. S. 124.
15
A.a.O. S. 126.
84 V. Poetik der Aufklärung
die Regeln ab und verbessert aus ihnen die Begriffe.“ 16 Mit an-
deren Worten: zunächst kommt die Kunst, das einzelne Werk,
das nach keinen vorab festgesetzten Regeln zustande gebracht
werden kann; setzt es sich dann durch und findet öffentliche
Billigung durch den guten Geschmack, so lassen sich post
festum, aber als Muster ohne Wert sozusagen, ohne normative
Verbindlichkeit gewisse Regeln des Produziertseins deduzie-
ren. Auch das wiederum ist höchst modern, weist voraus auf
die Ästhetiken späterer Epochen, erinnert z.B. an das frühro-
mantische Diktum, wonach jedes Kunstwerk allererst selbst
die Regeln zu seiner Beurteilung hervorbringt. Aber Johann
Adolf Schlegel ist ja bekanntlich auch der Vater des romanti-
schen Brüderpaars Friedrich und August Wilhelm.
Mindestens in seinen jungen Jahren muß der Berliner Auf-
klärungspapst, die Inkarnation aufklärerischen Buch- und Ge-
lehrtenwesens, Friedrich Nicolai, ebenfalls an die Seite der
Schlegel und Gellerts gestellt werden. Denn früh schon setzt er
sich gegen die Autorität Gottscheds zur Wehr und redet dem
Geniegedanken das Wort, wenn er in den bekannten „Briefen
über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in
Deutschland“ (1755) mehrfach, insbesondere schon gleich zu
16
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 113.
V. Poetik der Aufklärung 85
selber welche!
Aber noch in einer anderen Hinsicht ist Nicolai bedeutsam.
Er ist nämlich der erste Aufklärer, der hellsichtig bereits die
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020
17
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 166.
18
Vgl. dazu allgemein Bürger, Christa u.a. ( Hg.), Aufklärung und li-
terarische Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1980.
86 V. Poetik der Aufklärung
19
Nicolai, Friedrich, Sebaldus Nothanker, Kritische Ausgabe, ( Hg.)
Bernd Witte, Stuttgart 1991, S. 71.
20
Schulte-Sasse, Jochen, Das Konzept bürgerlich-literarischer Öf-
fentlichkeit und die historischen Gründe seines Zerfalls, in: Bür-
ger, Christa a.a.O. [ Anm. 18] S. 99f. (im Original gesperrt).
V. Poetik der Aufklärung 87
23
A.a.O. S. 173.
24
Zit. nach Hart Nibbrig, Christiaan L., Ästhetik, Materialien zu ih-
rer Geschichte, Ein Lesebuch, Frankfurt/M. 1978, S. 89.
25
Markwardt a.a.O. S. 182.
V. Poetik der Aufklärung 89
nicht mehr bloß gelehrt und verfährt nicht mehr bloß kombi-
nierend wie der ‚witzige Kopf‘; es ist Natur, aber vernunftge-
mäße Natur.“ 26 Man könnte auch vom Genie als einer natürli-
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020
27
Vgl. zu den Aspekten des Schrecklichen und Häßlichen im
18. Jahrhundert die Arbeiten von Zelle, Carsten, „Angenehmes
Grauen“, Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schreckli-
chen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987; Schönheit und Erhaben-
heit, Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Denis, Bodmer
und Breitinger, in: Christine Pries ( Hg.), Das Erhabene, Zwischen
Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 55-73.
V. Poetik der Aufklärung 91
nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines an-
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(vgl. a.a.O. S. 430) Auch von einem solchen war bei Aristoteles
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ausdrücklich selten die Rede war, ist zu sagen, daß die Tragö-
die, das Trauerspiel, an erster Stelle kommt, danach dann die
von der Antike über Renaissance und den Barock geschätz-
ten Gattungen ( Fabel, Heldengedicht). Langsam und zöger-
lich zunächst noch setzen dann erste Diskussionen um die Ly-
rik (in unserem heutigen Sinne mit Blick auf das Lied und die
Ode) ein, mit Chr. Fr. Blanckenburgs 1774 anonym publizier-
tem „Versuch über den Roman“ auch die erste systematische
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stand erhebt.
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28
Vgl. dazu allgemein Jung, Werner, Von der Mimesis zur Simula-
tion, Hamburg 1995.
VI. Goethezeit
Rückblickend fällt vieles leichter. Auch der Blick auf das eigene
Leben sieht vom Ende her anders aus, wenn von einem er-
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sage: „Lernt: Die Natur schreib in das Herz sein Gesetz ihm!“ 2
Und in der Programmschrift „Die deutsche Gelehrtenrepublik,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
2
Klopstock, Friedrich Gottlieb, Ausgewählte Werke, (Hg.) Karl
August Schleiden, München 1962, S. 133.
3
A.a.O. S. 904.
96 VI. Goethezeit
4
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 4, S. 288f. – In der zweiten Auflage
heißt es noch präziser über diesen Klopstock-Einfluß: „Ich erin-
nerte mich sogleich der herrlichen Oden, die ihr in Gedanken lag,
und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser
Losung über mich ausgoß. ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre
Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen.“ (a.a.O.
S. 404 )
VI. Goethezeit 97
den Engländer, und Lenz entwirft ein Jahr später, also 1774, in
seinen „Anmerkungen übers Theater“ ebenfalls eine Shake-
speare-Apologie.
„Die erste Seite, die ich in ihm las“, orakelt Goethe, „mach-
te mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten
Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine
Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich
erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine
Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das
ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen.“ Shakespeare,
das ist die Freiheit, die ästhetische und wohl auch politische
Befreiung, die Befreiung von einengenden poetologischen Re-
geln und zugleich die Offenbarung eines „geheimen Punkts“,
wie es bei Goethe weiter heißt, „in dem das Eigentümliche
unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem
notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.“ „Er wett-
eiferte mit dem Prometheus,“ schließt Goethe sodann.5
5
Zit. nach Sturm und Drang, Weltanschauliche und ästhetische
Schriften, ( Hg.) Peter Müller, 2 Bde., Berlin und Weimar 1978,
Bd. 2, S. 3ff.
98 VI. Goethezeit
nicht. „Die Poesie scheint sich dadurch von allen Künsten und
Wissenschaften zu unterscheiden, daß sie diese beiden Quellen
vereinigt, alles scharf durchdacht, durchforscht, durchschaut –
und dann in getreuer Nachahmung zum andern und wieder her-
vorgebracht.“ 8 Der Pendelausschlag erfolgt nach zwei Seiten:
nach der Seite der Aufklärung einerseits, an deren Prinzipien
Lenz in vielen Punkten anknüpft, nach der Seite einer unbän-
digen, auch ungezügelten Genialität andererseits.
Vielleicht markantestes Beispiel dafür ist die Position, die
der junge Herder einnimmt, u.a. in einer als Preisschrift einge-
reichten Abhandlung des Jahres 1774. In diesem Text „Übers
Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele“, der ge-
nauso als sprachphilosophisch-hermeneutischer Versuch dis-
kutiert werden kann, redet Herder den Empfindungen als ba-
saler Stufe allen Erkennens das Wort. Er behauptet, daß „die
psychologische Physiologie“, die er auch „Physiognomik“
nennt, „der wichtigste Teil der Weltweisheit“ sei.9 Und es folgt
die für die Zeitgenossen wohl schockierende These – ein radi-
8
Zit. nach Sturm und Drang a.a.O. Bd. 2, S. 152.
9
Zit. nach Sturm und Drang a.a.O. Bd. 2, S. 416.
100 VI. Goethezeit
10
A.a.O. S. 417.
11
A.a.O. S. 418.
12
A.a.O. S. 421.
13
A.a.O. S. 423.
14
A.a.O. S. 427.
15
A.a.O. S. 425.
VI. Goethezeit 101
riode hat einiges für sich, wenn er sagt: „Aber man fühlt mehr,
als man es beweisen konnte, da man über die Gründe und Un-
tergründe, daß man vor allem über das Abgründige, Hinter-
gründige des Werkschöpferischen anderer Meinung war.“ 17
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16
Vgl. dazu Schmidt, Jochen a.a.O. Bd. 1, S. 149.
17
Markwardt a.a.O. S. 296.
18
A.a.O. S. 356.
19
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 1, S. 321
102 VI. Goethezeit
20
Schmidt a.a.O. S. 261ff.
21
Schmidt a.a.O. S. 259ff.; Markwardt a.a.O. S. 321.
22
Schmidt a.a.O. S. 264.
VI. Goethezeit 103
25
Jeßing, Benedikt, Johann Wolfgang Goethe, Stuttgart-Weimar
1995, S. 14.
26
Vgl. dazu allgemein Bennholdt-Thomsen, Anke und Guzzoni, Al-
fredo, Der „Asoziale“ in der Literatur um 1800, Königstein/Ts.
1979.
VI. Goethezeit 105
2. Klassik
27
A.a.O. S. 22 u. 24.
28
Herold, Theo und Wittenberg, Hildegard, Aufklärung, Sturm und
Drang, Stuttgart 1983, S. 114.
106 VI. Goethezeit
und das Projekt einer deutschen Klassik starten. Kurz vor der
Rückkehr nach Deutschland Mitte 1788 vertraut er Herzog
Karl August in einem Brief vom 17.3.1788 an: „Ich darf wohl
sagen: ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit
selbst wiedergefunden; aber als was? – Als Künstler!“ 29 Goethe
kehrt also nach Weimar zurück, wo nach einer zunächst noch
folgenlosen Begegnung mit Schiller 1788 ab 1794 dann der
Freundschaftsbund besiegelt wird. Schiller hält sich zwar noch
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29
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 19, S. 105.
30
Friedenthal, Richard, Goethe, Sein Leben und seine Zeit, Mün-
chen 1963, S. 399.
VI. Goethezeit 107
32
Vgl. Schmidt a.a.O. S. 345 u. 350.
33
Schiller, Friedrich, Über das Schöne und die Kunst, Schriften zur
Ästhetik, München 1984, S. 208.
VI. Goethezeit 109
34
Schiller a.a.O. S. 147.
35
Schiller a.a.O. S. 230.
110 VI. Goethezeit
36
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 14, S. 181.
37
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 9, S. 529 [ Nr. 281].
VI. Goethezeit 111
entschieden ist.“ 40
Hier nun tut sich eine Problematik auf, auf die vor Jahr-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
38
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 13, S. 294.
39
Vgl. Markwardt a.a.O. Bd. III. S. 84f.
40
Zit. nach Markwardt a.a.O. Bd. III. S. 115.
112 VI. Goethezeit
41
Schiller, Brief an Goethe vom 4.4.1797, zit. nach Goethe, Ge-
denkausgabe Bd. 19, S. 322f.
42
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 20 S. 472.
VI. Goethezeit 113
zur Entwickelung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der Cha-
rakter der Hauptfigur muß sich nach dem Ende drängen und nur
aufgehalten werden. Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht
im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen verlangt
man Wirkung und Tat. Grandison, Clarissa, Pamela, der Landprie-
ster von Wakefield, Tom Jones selbst sind, wo nicht leidende,
doch retardierende Personen, und alle Begebenheiten werden ge-
wissermaßen nach ihren Gesinnungen gemodelt. Im Drama mo-
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delt der Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er räumt
und rückt die Hindernisse aus dem Wege oder unterliegt ihnen.44
Resümierend dann noch: während im Roman der Zufall
durchaus Platz hat, wird im Drama ein Schicksal verhandelt.
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44
Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 10, S. 321.
VI. Goethezeit 115
voraus.
Auf diesen Aspekt hebt auch die neuere Forschung ab. Zu-
sammenfassend und stellvertretend für viele seien hier zwei
Einschätzungen zitiert. „Wilhelm Meister“, schreibt Jochen
Schmidt, „dominiert das Geschehen nicht im traditionellen
Sinne eines Romanhelden. Er ist überhaupt nicht mehr als
starkes, auffallendes Individuum markiert. Geradezu unschein-
bar lebt er nur seinen vergesellschaftenden Bezügen, Verbin-
dungen, Pflichten und Aufträgen. Immer wieder verliert er sich
im Geflecht des von ihm selbst mithergestellten größeren Zu-
sammenhangs. Und sein „Wandern“ ist nicht mehr wie im
Frühwerk – am eindringlichsten in ‚Wandrers Sturmlied‘ – eine
Chiffre ruhelosen, einsamen Schöpfertums, sondern eine ge-
sellschaftlich vermittelnde Bewegung, die das eigene Ich bis an
die Grenzen der Selbstentäußerung reduziert und es in einem
gelegentlich okkasionalistisch anmutenden Maß den konkreten
„Gelegenheiten“ überantwortet, in denen es nützen und zu
helfen vermag.“ 47 In der Klettschen Literaturgeschichte aus der
46
Lukács, Georg, Goethe und seine Zeit a.a.O. S. 92.
47
Schmidt a.a.O. S. 347.
VI. Goethezeit 117
Reihe Pegasus urteilen die Verfasser ganz auf der Linie Lu-
kács’, wenn sie davon sprechen, daß „die Erfahrung einer im-
mer komplexer und weiträumiger werdenden Welt“ in den Ro-
man eingegangen sei.
‚Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte
zusammengenommen die Welt.‘ Die ‚entschlossene Tätigkeit‘, der
‚Forderung des Tages‘ zu gehorchen, wird die vordringlichste Auf-
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muß angesichts der Moderne viel eher einen Weg finden, seine
selbstischen Wünsche zu beschränken und sie den Bedürfnissen
der Gesellschaft anzupassen. Am bündigsten hat Goethe diese
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
48
Große, Wilhelm und Grenzmann, Ludger, Klassik/Romantik, Ge-
schichte der deutschen Literatur, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 81f.;
dazu allgemein auch Jeßing a.a.O. S. 149ff.
49
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 14 S. 370.
118 VI. Goethezeit
3. Romantik
Weimar ist das eine Zentrum, Jena das andere. In jenem wird
die klassische Literatur geboren, in diesem die romantische aus
der Taufe gehoben. Dabei gilt, was auch schon in bezug auf
die Klassik geäußert worden ist, daß nämlich, von Romantik,
gar einer romantischen Epoche zu reden, überaus problema-
tisch ist. Denn man muß, wie im Fall der Klassik auch, hin-
sichtlich der Romantik von einer Gleichzeitigkeit ausgehen.
Andersherum formuliert: es kommt in den Jahren zwischen
1790 und 1810 zu einer Ausdifferenzierung der Literatur.
Viele Romantiker der ersten Generation, Friedrich und Au-
gust Wilhelm Schlegel oder Tieck, haben in Goethe, insbeson-
dere im Meister-Roman, ihr großes Vorbild gesehen, den Be-
freier einer neuen deutschen Literatur. Andere, wie Novalis
z.B., haben Goethe dagegen heftig kritisiert und ihm Philister-
50
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 14 S. 398.
VI. Goethezeit 119
51
Novalis, Schriften, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von
Hardenbergs, 2 Bde., ( Hg.) Hans-Joachim Mähl und Richard Sa-
muel, Darmstadt 1978, Bd. 2, S. 261ff.
120 VI. Goethezeit
roders Vater war preußischer Beamter, und Tieck kam aus einer
Handwerkerfamilie), doch aufs ganze gesehen setzt sich die ro-
mantische Schule wie andere Elitebildungen zuvor aus gebildetem
Bürgertum und Adel zusammen: Novalis, Achim von Arnim,
Kleist, auch Brentano sind adliger Herkunft. Immerhin läßt sich
eine deutliche Tendenz zur Verbreiterung der sozialen Basis er-
kennen. Man versteht sich als Repräsentant der breiten Volks-
schichten, und Frauen, Jugendliche und Juden, die bisher oft aus-
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ne gespielt werden, dies eben erweckt den Witz und belebt und
schafft den feinern Geist der Unterhaltung; […].“ 55 Leben und
lieben wie ein Roman, wie im Roman. An anderer Stelle wird
der witzige Vergleich zwischen einer Mahlzeit und dem Ver-
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54
A.a.O. S. 26.
55
A.a.O. S. 45.
56
A.a.O. S. 61f.
57
A.a.O. S. 64.
58
A.a.O. S. 77.
122 VI. Goethezeit
glühendes Plädoyer für die wahre Kunst, die er „für ein Unter-
pfand unsrer Unsterblichkeit“ ansieht. In einem hochgestimm-
ten idealistischen Tonfall äußert er sich über die richtige und
wahre Kunst, eine, die nicht nach Geld geht, nicht auf etwel-
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haft Hohe darf und kann nicht nützen; dieses Nützlichsein ist
seiner göttlichen Natur ganz fremd, und es fodern heißt die
Erhabenheit entadeln und zu den gemeinen Bedürfnissen der
Menschheit herabwirtschaften.“ 61 Im folgenden entwirft Tieck
dann Richtlinien einer Produktionsästhetik, in deren Mittel-
punkt der schaffende Künstler steht. Scharf weist er dabei die
Ansinnen des Kunstmarktes zurück, die den Künstler in sei-
nem Schaffen zu versklaven drohen: „Es ist zu bejammern,
daß in unserm irdischen Leben der Geist so von der Materie
abhängig ist. […] schon oft hat es mir Tränen ausgepreßt, daß
sich der Künstler muß bezahlen lassen, daß er mit den Ergie-
ßungen seines Herzens Handel treibt und oft von kalten See-
len in seiner Not die Begegnung eines Sklaven erfahren muß.“ 62
Hier klingt eine Kritik an der Kunstvermarktung an, bei der
das Werk zur frei flottierenden Ware wird, was wir bereits aus
spätaufklärerischen Schriften kennen. Schon Nicolai, für den
und mit dem Tieck im übrigen zeitweise gearbeitet hat, attak-
61
Tieck, Wilhelm, Franz Sternbalds Wanderungen, Studienausgabe,
( Hg.) Alfred Anger, Stuttgart 1979, S. 174ff.
62
A.a.O. S. 176.
124 VI. Goethezeit
Schlegel stellt lapidar in einer Notiz von 1800 fest: „Poesie ist
durchaus C[entrum] in jeder Hinsicht.“ 64 Sie ist alles andere als
Nachahmung, nämlich Schöpfung einer zweiten Welt, nicht
auf Gesetze oder Regeln zu bringen, „indefinissabel“, wie No-
valis es ausgedrückt hat, gleichwohl jedoch auf Erkenntnis
– Erkennbarkeit – bezogen und auf Auslegung, die die Früh-
romantiker im Begriff der Kritik zusammenfassen, angewiesen.
Dafür prägt Friedrich Schlegel dann auch den Begriff der
Transzendentalpoesie, womit zum einen der Aspekt der – mo-
dern gesprochen – Selbstreflexivität, zum anderen auch der
Aspekt der notwendigen Deutung des poetischen Werkes im
Sinne einer kritischen Nach- und Weiterschrift gemeint ist.
63
Vgl. Nivelle, Armand, Frühromantische Dichtungstheorie, Berlin
1970, S. 112; außerdem auch allgemein dazu Benjamin, Walter,
Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders.:
Gesammelte Schriften, Bd. I/1, Abhandlungen, (Hg.) Rolf Tiede-
mann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 7-
122 sowie Mennemeier, Franz Norbert, Friedrich Schlegels Poe-
siebegriff, München 1971.
64
Schlegel, Friedrich, Literarische Notizen 1797-1801, (Hg.) Hans
Eichner, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980, S. 186, Nr. 1827.
VI. Goethezeit 125
zelebriert, die sich um die Ikone des Werks – freilich als Idee
der Schönheit verstanden – schart. Die Selbstbefreiung der
Menschheit im Zeichen der Kunst, könnte man vielleicht sa-
gen. Schiller läßt grüßen.
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66
Vgl. Benjamin a.a.O. [ Anm. 63] S. 81.
67
Vgl. Schlegel, Friedrich, Über das Studium der griechischen Poe-
sie, (Hg.) Enst Behler, Paderborn, München, Wien, Zürich 1981,
S. 184; dazu allgemein auch Jung, Werner, Schöner Schein der
Häßlichkeit oder Häßlichkeit des schönen Scheins, Frankfurt/M.
1987, Kap. III.
VI. Goethezeit 129
Ende gar für das neue romantische Kunstwerk, das der Schle-
gel-Kreis theoretisch im Athenäum begründet und praktisch
in einer Reihe von als Mustern begriffenen Prosawerken, Ro-
manen, umgesetzt hat. Walter Benjamin in seiner bahnbre-
chenden Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der
deutschen Romantik hat pauschal, aber zutreffend davon ge-
sprochen, daß für den Schlegel-Kreis die „Idee der Poesie“ die
Prosa ist. „Dies ist die abschließende Bestimmung der Idee der
Kunst, […].“ 69
Läßt man die poetologischen Kernaussagen aus dem Athe-
näum Revue passieren, dann kann man Benjamins Einschät-
zung nur bestätigen. Das neue romantische Kunstwerk ist
selbstverständlich ein poetisches Werk, und zwar eines, das
Friedrich Schlegel durch die Momente der Progressivität und
der Transzendentalität gekennzeichnet sieht. Des weiteren
steht in der Hierarchie poetischer Werke der Roman (als ro-
mantisches Buch) an oberster Stelle; dieser ist ein geniales
Mischprodukt, dazu eines, das mißverstehbar ist – also grund-
68
Schlegel a.a.O. [ Anm. 67 ] S. 182.
69
Benjamin a.a.O. S. 101.
130 VI. Goethezeit
70
Benjamin a.a.O. S. 65f. u. 69.
71
Schlegel a.a.O. [ Anm. 64] S. 84, Nr. 667; vgl. auch S. 256.
VI. Goethezeit 131
lein frey ist, und das als ihr wesentliches Gesetz anerkennt, daß die
Wirklichkeit des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die roman-
tische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die
Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle
Poesie romantisch seyn. (Athenäum I, 204ff.)
Diese neue Poesie nennt Schlegel verschiedentlich auch „Tran-
szendentalpoesie“ in Abwandlung von Kants Programm einer
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sches Monstrum, aber als solches einzig noch in der Lage, ein
„Bild des Zeitalters“ abzugeben, d.h. der Zerrissenheit eine
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
lichkeit erfaßt hat, ohne sie, wie dann das klassische idealisti-
sche Programm (Goethe oder Hegel), harmonisch auflösen
und damit beenden zu können. „Der Begriff Ironie“, schreibt
Armand Nivelle, „bezeichnet […] eine Haltung des Geistes,
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73
Nivelle a.a.O. S. 140.
74
Nivelle a.a.O. S. 141; vgl. auch Ueding a.a.O. S. 124ff.
VI. Goethezeit 133
unter er, an Jean Pauls Romane erinnernd, nicht nur die Fähig-
keit des Erzählers zu permanenten Abschweifungen (= Di-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
75
Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie II, Von der nor-
mativen zur spekulativen Gattungspoetik, Schellings Gattungspoe-
tik, (Hg.) Wolfgang Fietkau, Frankfurt/M. 1974, S. 150.
134 VI. Goethezeit
76
Klinger, Cornelia, Flucht Trost Revolte, Die Moderne und ihre äs-
thetischen Gegenwelten, München, Wien 1995, S. 137.
77
A.a.O. S. 138.
VI. Goethezeit 135
denz an, wenn er davon spricht, daß nach innen der geheimnis-
volle Weg führt. Aber er führt, so Klingers Argumentation,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
nicht wieder heraus! Die Idee vom Künstler als Führer und Se-
her bekommt vielmehr einen üblen Beigeschmack, wenn man
über die (Früh-)Romantik, wenn man über die Katakomben des
Ich bei der mittleren und späten Romantik (von Bettina v. Ar-
nim über Brentano und Hoffmann bis zu Eichendorff oder
Mörike) bis ins 20. Jahrhundert (die Avantgarden) vorausschaut.
Dann nämlich muß man feststellen, „daß diese hybride Gestalt
des seines Allgemeinheitsstatus entkleideten Absoluten bzw.
des zum Absoluten aufgespreizten Einzelnen die gefährlichste
Variante des modernen Subjekts darstellt.“ 78 Klinger sieht Ent-
wicklungslinien von der Romantik zum Faschismus verlaufen.
Noch einmal und in durchaus modern-aktuellem Gewand re-
formuliert sie Thesen, die bereits Georg Lukács seit den 30er
Jahren, zusammengefaßt in „Die Zerstörung der Vernunft“
(1954), geäußert hat. Wo Lukács von der Irrationalisierung der
deutschen Philosophie seit der Romantik redet, da setzt Klin-
ger dafür das Prinzip einer haltlos gewordenen Subjektivität,
eines leeren, gleichwohl aus Mangel zum Absoluten verstiege-
nen Ich ein – mit denselben fatalen historischen Folgen.
78
A.a.O. S. 153.
136 VI. Goethezeit
Wie gesagt, die Rezeption der Romantik ist davon eher als
die Romantik selbst betroffen. Auch wenn man die Konse-
quenzen und Folgerungen, die Klinger in aller Schärfe zieht,
nicht unbedingt mitmachen muß, ihr Ausgangspunkt bei den
Problemen eines gebeutelten Ich – Stichwort immer wieder:
Zerrissenheit – hat einiges für sich. Denn hierdurch lassen sich
die Problembestände der romantischen Entwicklung in der er-
sten Hälfte des 19. Jahrhunderts besser fixieren. Hierdurch las-
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nissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, so-
bald es gleich und ähnlich wird; […].“ (a.a.O. S. 201) Er reprä-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
Bd. IX, 195f., Bd. XI, 466) „Schlage die Trommel und fürchte
dich nicht,/ Und küsse die Marketenderin!/ Das ist die ganze
Wissenschaft,/ Das ist der Bücher tiefster Sinn.“ (a.a.O. VII,
412) Damit besetzt er einen Übergang. Er ist ein Außenseiter,
der gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzt, was auch in
seinen vielfältigen ästhetisch-theoretischen Reflexionen zum
Ausdruck kommt. Einerseits und bis zuletzt redet er einer hy-
pertrophen Genieästhetik das Wort und kanzelt das Volks-
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empfinden wie auch den Geschmack der Menge derb ab: „Nur
dem Gotte steht er Pate,/ Nicht dem Volke – In der Kunst,/
Wie im Leben, kann das Volk/ Töten uns, doch niemals rich-
ten. –“ (a.a.O. XI, 135) Andererseits dann aber plädiert Heine
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für eine Verbindung von Kunst und Kampf, votiert er für ein
politisch-praktisches Engagement des Künstlers und beklagt
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
frivole Literat „das Heilige dem Gelächter als ein in sich Nich-
tiges preis[gibt]“ und daß ihm „die Pietät in der Ehe, Freund-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
84
Vischer, Friedrich Theodor, Aesthetik oder Wissenschaft des
Schönen, 6 Bde., Reutlingen und Leipzig 1846-57, Bd. 1, S. 465.
85
Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, Unveränderter reprogr.
Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1853, Darmstadt 1979,
S. 271.
86
Ruge, Arnold, Heinrich Heine charakterisiert nach seinen Schrif-
ten, in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und
Kunst, Nr. 25, 1838, Sp. 224.
87
Ruge, Arnold, Heinrich Heine und seine Zeit, 1838 und 1846, in:
Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Mannheim 1847, S. 38.
88
Rosenkranz a.a.O. S. 264; vgl. dazu ganz allgemein auch: Jung,
Werner, Schöner Schein der Häßlichkeit oder Häßlichkeit des
schönen Scheins, Frankfurt/M. 1987.
VI. Goethezeit 143
hält, prangert mit den Mitteln von Witz, Satire, Ironie und Hu-
mor die Häßlichkeit der Zeit an; die Hegelianer hingegen ver-
teidigen selbst die häßlichste Realität noch gegen die Poesie, in
die sie die Verklärung und Versöhnung, den schönen Schein
der Kunst eben, hineingeheimnissen möchten.
Dieser Gegensatz entläßt uns schließlich auf ein weites Feld,
das sich seit dem Ausgang der historischen Romantik vor uns
auftut. Heine markiert beides, das Ende der Romantik und ei-
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ist, welche Gewichtung man welchem Pol verleiht und wie die
Referentialität zu bewerten ist. Literatur als Erklärung oder
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020
nach dem „Ende der Kunstperiode“ bis etwa zum Beginn des
Naturalismus. Es handelt sich um das bürgerliche 19. Jahrhun-
dert, um jene – in den Augen des Bürgertums späterer Dezen-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
nien – ‚gute alte Zeit‘, wo das Glück allein im trauten Heim ze-
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tion und vor allem ihre Kultur ein einheitliches Gepräge ver-
lieh. Sie vermochte in einigen kaum industrialisierten Städten
ihre Geschlossenheit zu bewahren. Anderswo, wie in Ham-
burg, Frankfurt, Köln und Düsseldorf, verband sie sich mit
den bürgerlichen Kaufleuten. Die kulturelle Tradition blieb le-
bendig. Jede Stadt besaß ihre Akademie, ihren Konzertsaal,
ihre Bibliothek. Die Kinder besuchten das Gymnasium. Ärzte,
Rechtsanwälte, Professoren und Beamte waren im wesentli-
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wir noch sehen werden, ein Mehrfaches: die Distanz und deut-
liche Abgrenzung zu den europäischen Realismen, zu Balzac
und Flaubert, zu Dickens oder den Russen, die Betonung von
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
Tendenz von links ist später die nicht minder tendenziöse Ver-
klärung von rechts getreten.
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
*
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3
Witte, Bernd, Literaturtheorie, Literaturkritik und Literaturgeschich-
te, in: Deutsche Literatur, Eine Sozialgeschichte, ( Hg.) Horst Al-
bert Glaser, Bd. 6, Vormärz: Biedermeier, Junges Deutschland,
Demokraten, (Hg.) Bernd Witte, Reinbek 1980, S. 72.
150 VII. Vormärz und Biedermeier
dem, wie Laube glaubt, die Literatur „bereits auf der Höhe des
Demokratismus“ angelangt sei.6 Gleichwohl beklagen die Jung-
deutschen, daß sie als Speerspitze der demokratischen Bewe-
gung eigentlich noch gar kein Publikum haben, daß sie sich
erst eines schaffen bzw. erschreiben müssen. Gutzkow beklagt
die „Nichtexistenz eines deutschen Publicums“ 7, was er insge-
samt auf die Borniertheit und Zersplitterung Deutschlands in
Provinzen zurückführt. Es fehlt eine kritische Öffentlichkeit,
mehr noch eine geistige Metropole. Deutschland sei ein einzi-
ger großflächiger Winkel, allerdings weitab vom vormals damit
verbundenen Glück im Winkel. Das Junge Deutschland, darin
kommen seine Repräsentanten überein, müsse sich also erst
sein Publikum kreieren, und zwar ein mündiges Volk, das sich
unter dem Banner der Demokratie und des Liberalismus ver-
sammelt habe. Wienbarg greift die verschiedenen Aspekte ab-
schließend noch einmal in der letzten seiner ästhetischen Vor-
lesungen auf, wenn er dort schreibt:
4
Wienbarg, Ludolf, Aesthetische Feldzüge, 2. Aufl., mit einem Vor-
wort von Alfred Kerr, Hamburg/Berlin 1919, S. 7.
5
Wienbarg a.a.O. S. V; auch Wülfing a.a.O. S. 34.
6
Zit. nach Wülfing a.a.O. S. 29.
7
Zit. nach Wülfing a.a.O. S. 38.
VII. Vormärz und Biedermeier 151
Die neue Prosa ist von der einen Seite vulgärer geworden, sie ver-
rät ihren Ursprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Leben, von
der anderen Seite aber kühner, schärfer, neuer an Wendungen, sie
verrät ihren kriegerischen Charakter, ihren Kampf mit der Wirk-
lichkeit, besonders auch ihren Umgang mit der französischen
Schwester, welcher sie außerordentlich viel zu verdanken hat. Der
deutsche Prosaist ist seit der Französischen Revolution und eben
durch französische Schriften, Herr und Meister geworden über
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kommen ist, tritt die Prosa, die sich einmischt, die vulgärer ge-
worden, nämlich – durchaus mit Hegel – am praktischen All-
tagsleben der Bürger orientiert ist und die sich historisch von
den Neuerungen seit der französischen Revolution (Pressewe-
sen, Feuilletonismus, eingreifende Prosa) herschreibt, deren
„Appellfunktion“ folglich im Mittelpunkt steht.9 Als Vorbilder
berufen sich die Jungdeutschen dabei immer wieder auf Heine
und Börne wie auf die dahinterstehende ästhetische Program-
matik, die in Begriffen wie Witz, Ironie, Satire oder Humor zu-
sammenläuft. Angezeigt werden soll eine kritische Distanz zur
eigenen Zeit und Gegenwart wie auch eine ironisch-witzige
Kommentierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das impliziert
weiterhin den Begriff der Subjektivität im Blick auf die neue
Prosaliteratur, was Heinrich Laube so ausdrückt: „Eine kriti-
sche Epoche der Weltgeschichte wird begleitet von einer sub-
jectiven der Poesie; denn jedes Individuum verlangt hartnäckig
sein Recht, also auch sein Recht zu fühlen und zu sagen, und
8
Wienbarg a.a.O. S. 244.
9
Vgl. dazu Nies, Fritz, Das System der literarischen Gattungen, Kon-
tinuitäten, Brüche, Schwerpunktzentren (1789-99), in: Die Franzö-
sische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins,
( Hg.) Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt, München 1988,
S. 250ff.
152 VII. Vormärz und Biedermeier
*
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Die andere ge-
schätzte Seite verkörpert die realistische Literatur der zweiten
Jahrhunderthälfte, repräsentieren Gustav Freytag und Otto
Ludwig, Theodor Storm und Gottfried Keller, Theodor Fon-
tane und Friedrich Spielhagen. Realismus jedoch meint keinen
Naturalismus. Er wird zwar in der bestehenden Realität veran-
kert, aber zugleich wird wieder über die bloße Realität hinaus-
gegangen. Ziel aller Unternehmungen in Roman, Erzählung
oder Novelle ist die „Aufdeckung der von einer inessentiellen
Schale eingehüllten Essenz.“ 12 Dahinter steckt noch die Hegel-
sche Ansicht von der Vernünftigkeit alles Wirklichen, wenn
man erst unter die gleißende Oberfläche, jenen schlechten
Schein, hindurchgedrungen ist. Auch die deutschen Realisten,
die sich in ihren programmatischen Selbstaussagen vielfach als
Idealrealisten bezeichnet haben, glauben an einen festen We-
senskern, an das Substantielle, das im Verborgenen und unter
der Akzidenz schlummert. An diesem Punkt unterscheiden
12
Eisele, Ulf, Realismus-Theorien, in: Deutsche Literatur, Eine So-
zialgeschichte, ( Hg.) Horst Albert Glaser, Bd. 7, Vom Nachmärz
zur Gründerzeit: Realismus 1848-1880, (Hg.) Horst Albert Glaser,
Reinbek 1982, S. 41, auch S. 39.
156 VII. Vormärz und Biedermeier
13
Steinecke a.a.O. S. 52.
14
Vgl. Lukács, Georg, Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Ber-
lin 1953, S. 5.
15
Eisele a.a.O. S. 37.
VII. Vormärz und Biedermeier 157
und was darüber hinaus die literarische Signatur der Zeit cha-
rakterisiert.
Zum Realismus gehört unabdingbar die Prosa hinzu. Und
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
ner Ästhetik, also schon in den 20er Jahren des 19. Jahrhun-
derts, als modernes Epos gedeutet und den einige Jahrzehnte
nach den deutschen Realisten der junge Lukács als die Epopöe
der gottverlassenen Welt, als den der modernen bürgerlichen
Gesellschaft angemessenen literarischen Ausdruck bezeichnet
hat. Diese Romanprosa schillert jedoch. Einerseits hält sie sich
– im mimetischen Sinne – an eine Abbildung der Zeit, ande-
rerseits aber legt sie sich Daumenschrauben bzw. Augenklappen
an, wenn es um die Schattenseiten dieser Wirklichkeit geht,
wenn es sich um die Häßlichkeiten handelt. In dem Punkt
kann man daher Erich Auerbachs bahnbrechender Studie „Mi-
mesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Litera-
tur“ immer noch zustimmen, wenn er zusammenfassend über
die deutsche Literatur jener Jahre schreibt: „Keiner der Män-
ner zwischen 1840 und 1890, von Jeremias Gotthelf bis zu
Theodor Fontane, zeigt in voller Ausbildung und Vereinigung
die Hauptmerkmale des französischen, das heißt des sich bil-
denden europäischen Realismus: nämlich ernste Darstellung
der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit
auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung,
16
Ebd.
158 VII. Vormärz und Biedermeier
17
Auerbach, Erich, Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abend-
ländischen Literatur, Bern 1988, S. 480.
18
A.a.O. S. 482.
19
Eisele a.a.O. S. 44.
VII. Vormärz und Biedermeier 159
über den Parteien schwebend sein muß. Der Gott, der in den
Schicksalen der Menschen sich offenbart, darf nicht schlimmer
als der christliche Gott sein, nicht geradezu ungerecht, fühllos
u.s.w.“ (a.a.O. S. 348f.) Hier taucht er wieder auf: der Gedanke
von der halbierten Realität, einer idealisierten und im Lichte ei-
ner Idee geschönten Wirklichkeit, die der Poet von erhabener
Warte aus – von oben herab – betrachtet. Wieder an anderer
Stelle fällt der Begriff der „gesteigerten Wirklichkeit“ im Blick
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20
Zit. nach Bucher, Max u.a. (Hg.), Realismus und Gründerzeit, Ma-
nifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 2,
Stuttgart 1975, S. 95.
21
Lukács a.a.O. [ Anm. 14] S. 147.
22
Keller, Gottfried, Werke, Zürcher Ausgabe, (Hg.) Gustav Steiner,
Zürich 1978, Bd. 2, S. 6.
VII. Vormärz und Biedermeier 161
23
Zit. nach Bucher a.a.O. [ Anm. 20 ] S. 367.
24
Zit. nach Rilla, Paul (Hg.), Über Gottfried Keller, Zürich 1978,
S. 262.
25
Zit. nach Markwardt a.a.O. Bd. IV S. 326.
26
Vischer, zit. nach Bucher a.a.O. S. 367.
162 VII. Vormärz und Biedermeier
pitel des dritten Bandes unter dem Titel „Arbeit und Beschau-
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27
Zit. nach Rilla a.a.O. S. 334; vgl. dazu auch Žmegač, Viktor, Der
europäische Roman, Geschichte seiner Poetik, Tübingen 1990,
S. 174ff.
28
Keller a.a.O. [ Anm. 22] S. 6.
VII. Vormärz und Biedermeier 163
auch entlarvt Freytag auf eher unfreiwillige Art und Weise die
Langeweile des bürgerlichen Alltags, der, auf Ehre, Anstand,
Sittlichkeit beruhend, tatsächlich nurmehr sein Augenmerk
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
hat. Beim sturen Blick aufs Geld muß man sich abends – am
Feierabend – aber zwangsläufig langweilen, wie der männli-
che Protagonist Anton Wohlfahrt oder wie die Schwester des
Prinzipals Sabine und im Grunde genommen alle jungen
Frauen, die ihr Leben in der Warteschleife bzw. Hoffnung
auf die gute Partie verbringen. (Wonach dann freilich wieder
die perennierende Langeweile als Krankheit zum Tode ein-
setzt! ) Was Freytag anläßlich der Lektüre des geschätzten
Charles Dickens einmal geäußert hat, mag auch als Vorsatz
seine eigenen Schriften, an erster Stelle „Soll und Haben“,
zieren, wird doch hierin unmißverständlich das Projekt einer
Verklärung und Idealisierung, einer Idyllisierung der Alltags-
realität umrissen:
Die fröhliche Auffassung des Lebens, das unendliche Behagen,
der wackere Sinn, welcher hinter der drolligen Art hervorleuchte-
te, waren dem Deutschen damals so rührend, wie dem Wanderer
eine Melodie aus dem Vaterhause, die unerwartet in sein Ohr tönt.
Und alles war modernes Leben, im Grund alltägliche Wirklichkeit
und die eigene Weise zu empfinden, nur verklärt durch das liebe-
volle Gemüth eines echten Dichters.30
30
Freytag, Gustav, Gesammelte Werke, Leipzig 1910, Bd. 16, S. 241.
VII. Vormärz und Biedermeier 165
Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der
Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertier-
chen, dessen Weltall der Tropfen ist: den höchsten Gedanken,
die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grü-
beleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind
sein Stoff. Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will
nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese: er will am al-
lerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre.
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Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebel-
hafte, das Abgestorbene – vier Dinge, mit denen wir glauben,
eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben.“ (a.a.O.
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020
31
Fontane, Theodor, Briefe I, Briefe an den Vater, die Mutter und
die Frau, (Hg.) Kurt Schreinert, Zu Ende geführt mit einem
Nachwort von Charlotte Jolles, Frankfurt/M., Berlin 1968, S. 200.
VII. Vormärz und Biedermeier 167
sich aus, diskutieren über die Zeitläufte. Die Zukunft ist offen,
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stimmt. Wer und was nicht mit dem Helden in irgend einem
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32
Spielhagen, Friedrich, Neue Beiträge zu Theorie und Technik der
Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 213.
33
Vgl. Spielhagen, Friedrich, Beiträge zur Theorie und Technik des
Romans, Leipzig 1883, S. 117, 342.
34
A.a.O. S. 28.
VII. Vormärz und Biedermeier 169
daß „der Roman, […], […] wie einen Makel verbergen [soll],
was er ist – ein Produkt des Erzählers.“ 35
Die Problematik und Widersprüchlichkeit des Ansatzes lie-
gen damit klar auf der Hand: nicht nur daß jegliche Subjektivi-
tät (und damit Modernität) ohne Not einfach preisgegeben
wird, um statt dessen – von Ferne an den Naturalismus erin-
nernd – die objektive Realität quasi aus sich selbst heraus spre-
chen zu lassen, sondern darüber hinaus wieder soll, was ein
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35
Hellmann, Winfried, Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst,
Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens, in: Deutsche Romantheo-
rien, ( Hg.) Reinhold Grimm, 2 Bde., Frankfurt/M. 1974, Bd. 1,
S. 228.
36
Hellmann a.a.O. S. 249.
170 VII. Vormärz und Biedermeier
37
Martini, Fritz, Zur Theorie des Romans im deutschen ‚Realismus‘,
in: Deutsche Romantheorien, ( Hg.) Reinhold Grimm, 2 Bde.,
Frankfurt/M. 1974, Bd. 1, S. 206.
38
Huyssen, Andreas (Hg.), Bürgerlicher Realismus, Die deutsche Li-
teratur, Ein Abriß in Text und Darstellung, Bd. 11, Stuttgart 1974,
S. 16f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
1.
1890 sah das freilich ganz anders aus. Da engagiert sich selbst
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020
2
Simmel, Georg, Vom Wesen der Moderne, ( Hg.) Werner Jung,
Hamburg 1990, S. 163f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 173
3
Simmel, Georg, Das Individuum und die Freiheit, Essais, Berlin
1984, S. 200.
4
Kretzer, Max, Großstadtmenschen, Neue Berliner Geschichten,
Berlin 1908, S. 26.
174 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
und Kultur“ all diese Aspekte zusammen und deutet die hyste-
risch-nervösen Komponenten der Zeit als ein Handeln der
Menschen „unterm Drucke von Suggestionen.“ 5 Hektik und
Nervosität haben entscheidend auch mit der gestiegenen Ge-
schwindigkeit zu tun – der Geschwindigkeit der Fortbewe-
gung, also der Transportmittel, und insgesamt aller Bewe-
gungsabläufe. Langsam aber sicher beginnt das Automobil
seinen Triumphzug anzutreten. Frühes Zeugnis dieser Auto-
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5
Hellpach, Willy, Nervosität und Kultur ( 1902), zit. nach Hamann,
Richard und Hermand, Jost, Epochen deutscher Kultur von 1870
bis zur Gegenwart, 5 Bde., Impressionismus, Bd. 3, Frankfurt/M.
1977, S. 42.
6
Diesel, Eugen, Autoreise 1905, Leipzig 1941, S. 28f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 175
( „Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich
glücklich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um
mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit
noch Armut, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen“
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020
7
Kaufmann, Hans, Krisen und Wandlungen der deutschen Litera-
tur von Wedekind bis Feuchtwanger, Berlin und Weimar 1966,
S. 48.
8
Scheuer, Helmut, Zwischen Sozialismus und Individualismus –
Zwischen Marx und Nietzsche, in: Ders. (Hg.), Naturalismus, Bür-
gerliche Dichtung und soziales Engagement, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1974, S. 154ff.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 179
9
Zola, Emile, Der Experimentalroman, Eine Studie, Leipzig 1904,
S. 31.
10
A.a.O. S. 37.
180 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
11
Zit. nach Brauneck, Manfred und Müller, Christine ( Hg.), Natura-
lismus, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-
1900, Stuttgart 1987, S. 663f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 181
13
Zit. nach Brauneck/Müller a.a.O. S. 140-151.
14
Cowen, Roy C., Der Naturalismus, Kommentar zu einer Epoche,
München 1981, S. 90.
15
Holz a.a.O. [ Anm. 12] Bd. 10, S. 214.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 183
16
Vgl. a.a.O. S. 501.
17
Holz a.a.O. Bd. 1, S. 74.
184 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
Predigen in der Wüste der Großstadt. Sein Werk ist die Pro-
duktion einer neuen Kunst, die das soziale Elend rein aussagt:
Was soll uns Shakespeare, Kant und Luther?
Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter
erhabner als der ganze Faust!18
Werfen wir abschließend noch einen Blick auf die Prosa. Man
hat die eigentümliche Leistung des Naturalismus zu Recht in
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18
Holz a.a.O. Bd. 1, S. 83.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 185
19
Zit. nach Brauneck/Müller a.a.O. S. 45.
20
Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, Bde. V u. VI, Die geisti-
ge Welt, Leipzig und Berlin 1924, Bd. VI, S. 240.
21
Zit. nach Brauneck/Müller a.a.O. S. 45.
22
A.a.O. S. 46.
186 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
23
Vgl. Zola, Emile, Das Werk, (Hg.) Rita Schober, Berlin o.J. S. 431.
24
Kretzer, Max, Die Verkommenen, Berliner Sitten-Roman, Leipzig
o.J., S. 440.
25
Kretzer a.a.O. S. 2.
26
A.a.O. S. 47.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 187
27
A.a.O. S. 237.
28
A.a.O. S. 194.
29
A.a.O. S. 324.
188 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
2.
32
Fontane, Theodor, SW, Bd. 21/2. S. 269f.; ähnlich auch Tagebü-
cher Bd. 2, S. 233.
33
Vgl. dazu Hillebrand, Bruno, Ästhetik des Nihilismus, Von der
Romantik zum Modernismus, Stuttgart 1991.
190 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
Stefan George ist der Heros der Einsamkeit, sein Werk ver-
leiht der Erfahrung sozialer Entwurzeltheit die Stimme. In der
Nachfolge der französischen Moderne von Baudelaire („Fleurs
du mal“), Rimbaud und Verlaine bis zu Mallarmé, die er auch
übersetzt hat, schreibt sich die hermetische, oft hochgetriebe-
ne und dabei in den Manierismus abgleitende Lyrik Georges in
künstliche Welten und gegenweltliche Paradiese hinein – frei-
lich in keine des schönen Scheins, der einem häßlicheren Sein
kontrastiert würde, sondern in eine der Grausamkeit und Ge-
walt, die im Tod endet. Die „Algabal“-Dichtung von 1892
schlägt den Ton an und gibt die Richtung vor. George erkennt
im dekadenten spätrömischen Kaiser Heliogabalus einen Gei-
stesverwandten, dessen abscheuliche Taten er zu ästhetischen
Maßnahmen deklariert, ja die ausdrücklich gerechtfertigt wer-
den, wie z.B. der Tod jenes lydischen Knechts, der die Ruhe
seines Kaisers stört und deshalb sterben muß. Zugleich möch-
te George, analog zum vermessenen Wunsch des Kaisers,
ebenfalls ein neues Reich absoluter Künstlichkeit schaffen. Ra-
dikaler als Baudelaires künstliche Paradiese, als geträumte
Nachtschatten und Gegenbilder zur großstädtischen Metropo-
le, inszeniert George eine Welt post mortem, eine totenstarre
Landschaft, wie sie etwa im berühmten Gartengedicht des Zy-
klus beschrieben wird. In diesem Garten nämlich gibt es weder
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 191
her und Künder, ein Weiser, der die frohe Botschaft an seine
Jünger wie Manna austeilt, der die Wissenschaft und Gesell-
schaft verachtet, um mit Nietzsche dem Kult des Übermen-
schen zu huldigen.
Überhaupt ist Nietzsche für George, wie es in der Samm-
lung „Der siebente Ring“ (1907) in dem Nietzsche-Gedicht
heißt, der Donnerer und Erlöser, ähnelt er Jesus („führer mit
der blutigen krone“), der allerdings das verkündete Land selbst
nie zu Gesicht bekam. Denn ‚Einsamkeit‘ hätte ihn umge-
bracht. Eine Lösung läge einzig im Kult der Gemeinsamkeit,
einer Gemeinschaft von lauter Einsamen: „sich bannen in den
kreis den liebe schliesst…“ Am Ende, so raunt George seinem
Nietzsche zu, hätte diese einsame Seele, der Erkenntnis von
Sokrates in der Zelle nachfolgend, „singen/Nicht reden sol-
len“.35 Der Dichter ersetzt also den Philosophen, das Bild und
die Metapher den Diskurs bzw. die rationale Erklärung. Poesie
statt Philosophie und – ineins damit – Wissenschaft. Die
Wahrheit steckt in der Dichtung. Und einzig hier.
34
Vgl. George, Stefan, Werke, Ausgabe in zwei Bänden, München
und Düsseldorf 1958, Bd. 1, S. 47.
35
George a.a.O. S. 231f.
192 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
Der Kreis um George wie auch das Publikum sind eher ex-
quisit, die happy few, auch wenn sie weniger happy sind, die
– paradoxerweise – Einsamkeit und Führertum zugleich kulti-
vieren. Eine größere Wirkung, gar eine Massenwirkung ließ
sich mit Georges Hermetik nicht erreichen. Die war schon
eher im Falle Arthur Schnitzlers (‚Arthur, der Zerschnitzler‘)
gegeben, partiell auch Hugo von Hofmannsthals. Das hatte
vor allem mit dem Skandal und den Prozessen um Schnitzlers
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36
Zit. nach Wunberg, Gotthart ( Hg.), Die Wiener Moderne, Litera-
tur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1992,
S. 147, auch S. 138.
194 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
Augenblick – und das ist wieder und wieder natürlich die sexu-
elle – höchstes Ziel männlicher wie weiblicher Vorstellungen,
mögen dabei auch die Motive durchaus unterschiedliche sein.
Deutlich ist das vor allem in den Stücken „Anatol“, „Reigen“
oder „Liebelei“. Diese Menschen inszenieren sich für den Au-
genblick; alles Reden, die Dialoge, dienen der Vorbereitung
und Kontaktanbahnung. Es ist bloßes Geschwätz, ein Rau-
schen, von dem nichts zurückbleibt. Der Augenblick als Ziel-
punkt offenbart aber noch andere Aspekte. Er unterbricht
nämlich die gewöhnliche Zeitordnung aus Linearität und Zy-
klik, denn plötzlich bricht etwas auf oder aus im Menschen.
Eine bestimmte Situation oder eine kleine Irritation in der
Wahrnehmung, eine verschobene Perspektive, die einen ande-
ren Blick auf die Dinge freigibt – und plötzlich ist die Welt
nicht mehr so wie zuvor.
Schnitzler hat die Erfahrung des gefährlichen Augenblicks,
der eine Adaption Freud- und Machschen Denkens ist, in er-
zählerische Muster umgesetzt. In der „Traumnovelle“ (1925)
z.B. schildert er die Erlebnisse des Arztes Fridolin, der bislang
in geordneten bürgerlichen Ehebahnen wandelte und der in ei-
37
Vgl. dazu allgemein Weinzierl, Ulrich, Arthur Schnitzler, Lieben
Träumen Sterben, Frankfurt/M. 1994.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 195
liegen, „die hinter dem Bewußtsein sich auftun“, „wo kein Ge-
wissen, Verantwortung wohnt und herrscht.“ 38 Irritiert bleibt
auch der Leser zurück, findet letzten Endes keine beruhigende
Erklärung für den seltsamen Dialog, den das Ehepaar nach
langen Gesprächen im Morgengrauen so beendet: „‚Was sollen
wir tun, Albertine?‘ – Sie lächelte, und nach kurzem Zögern er-
widerte sie: ‚Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, daß wir
aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den
wirklichen und aus den geträumten.‘ – ‚Weißt du das auch ganz
gewiß?‘ fragte er. – ‚So gewiß, als ich ahne, daß die Wirklichkeit
einer Nacht, ja daß nicht einmal die eines ganzen Menschenle-
bens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.‘ – ‚Und
kein Traum‘, seufzte er leise, ‚ist völlig Traum.‘“ 39
Wahrheit und Wirklichkeit sind auseinandergetreten, die Rea-
lität und der Traum dagegen wieder zusammen. Aber wo liegt
die Wahrheit? Kann man sie überhaupt noch fassen? – Unter
dem Parlando-Ton der Schnitzlerschen Texte, einem lockeren
Geplauder, liegen erschreckende Untiefen, radikale Destruktio-
nen abendländischer Geläufigkeiten. Schnitzlers Philosophie
38
H. Bahr zit. nach Wunberg a.a.O. S. 173.
39
Schnitzler, Arthur, Das erzählerische Werk, 7 Bde., Frankfurt/M.
1979, Bd. 6, S. 128.
196 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
40
Hofmannsthal, Hugo von, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe,
( Hg.) Rudolf Hirsch, Christoph Perels, Heinz Rölleke, Bd. XXXI,
Erfundene Gespräche und Briefe, ( Hg.) Ellen Ritter, Frankfurt/M.
1991, S. 52.
41
Vgl. a.a.O. S. 54.
42
A.a.O. S. 49.
198 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
halten ihn nur von der Wirklichkeit ab. Sein Text und die
Stadt, das Eigene und das Fremde, sind zwei inkompatible An-
gelegenheiten. Eine Vermittlung findet nicht statt. Das Erzäh-
len ist längst an sein Ende gekommen („Daß man erzählte,
wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein.“ 4 4 ),
aber auch das Schreiben. Es ist Erinnerungsarbeit. Die Realität
dagegen ist flüchtig, nicht in einen Text zu bringen. Und Malte
spürt das allerorten, wenn er durch die Stadt streift: „ich war
leer. Wie ein leeres Blatt Papier trieb ich an den Häusern ent-
lang, den Boulevard wieder hinauf.“ 45 An die Stelle des Schrei-
bens, der literarischen Inszenierung, tritt das pure Benennen,
die Aufzählung, die Reihenbildung. Das Schreiben und die
Welt sind zwei verschiedene Dinge, die unterschiedlichen Zeit-
ordnungen folgen. Das Schreiben ist Konstruktion, Erfindung
einer phantastischen Ordnung, jedoch einer selbstgeschaffe-
nen, während die Wirklichkeit unübersichtlich, komplex und in
keine lineare Ordnung zu zwängen ist.
43
Rilke, Rainer Maria, Werke in sechs Bänden, Frankfurt/M. 1980,
Bd. 5, S. 110f.
44
A.a.O. S. 244.
45
A.a.O. S. 174.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 199
Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das
Geringste. Es ist alles aus soviel einzigen Einzelheiten zusammen-
gesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über
sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die
Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich.46
3.
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46
A.a.O. S. 254.
200 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
gefügt waren, sahen in den Älteren diejenigen, die eine nicht ver-
nünftig und menschlich geordnete Welt repräsentieren. Die Sozial-
demokratie erschien ihnen nicht als Alternative, da sie ihnen
erstarrt und verbürgerlicht vorkam. Langeweile, Lebensekel korre-
spondieren mit politischem Aktivismus.47
Das ist eine zutreffende Beschreibung. Die Gemeinsamkeit
dieser neuen Generation, die sich auch in den Texten mehr
oder minder deutlich herauskristallisiert, läßt sich in folgen-
den Aspekten zusammenfassen: die Generations- und Gesell-
schaftsproblematik wird ebenso vorrangig behandelt wie die
Probleme des Fortschritts und der Technologie, des groß-
städtischen Lebens. Bilder der Häßlichkeit und Gewalt grun-
dieren die Texte, eine bisweilen divinatorische Weitsicht kon-
trastiert mit einem überwältigenden, heute nur noch schwer
erträglichen Pathos, das getragen ist von einer ekstatischen
Aufbruchsstimmung.
„Was Expressionisten sind, wußte 1920 ein jeder, 1910
aber, als der Expressionismus begann, wußte es eigentlich
noch niemand…“, schreibt Heinrich Eduard Jacob aus der
Erinnerung an die Jahre zwischen 1910 und 1920. Jene Jahre
47
Götte, Jürgen W. ( Hg.), Expressionismus, Texte zum Selbstver-
ständnis und zur Kritik, Frankfurt/M. 1976, S. 13.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 201
(in einer etwas schwärmerischen Art) gegen die Lüge.“ 49 Das ist
zwar wenig differenziert, hat aber den Vorteil der starken Wor-
te auf seiner Seite. Wie überhaupt die markige Formulierung
ohne Rand- und Tiefenschärfe zum Sprachgestus expressioni-
stischer Autoren gehört. Paul Hatvani in seinem „Versuch
über den Expressionismus“ spricht vom Überfluten des Ich
über die Welt. „So gibt es auch kein Außen mehr: der Expres-
sionist verwirklicht die Kunst auf eine bisher unerwartete Wei-
se.“ Die Kunst werde „elementar“, der Expressionismus sei
„die Revolution für das Elementare.“ 50 Und Kasimir Edschmid legt
im selben Jahr, in einer Rede mit dem Titel „Expressionismus
in der Dichtung“, das Programm der ganzen Bewegung dar:
„Es kommen die Künstler der neuen Bewegung. […] Ihnen
entfaltet das Gefühl sich maßlos. – Sie sahen nicht. – Sie schau-
ten. – Sie photographierten nicht. – Sie hatten Gesichte. –
Statt der Rakete schufen sie die dauernde Erregung.“ Dazu be-
48
Zit. nach Raabe, Paul (Hg.), Expressionismus, Aufzeichnungen
und Erinnerungen der Zeitgenossen, Olten und Freiburg i.Br.
1965, S. 15 u. 22.
49
Zit. nach Anz, Thomas und Stark, Michael ( Hg.), Expressionis-
mus, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-
1920, Stuttgart 1982, S. 36.
50
A.a.O. S. 39.
202 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
51
A.a.O. S. 46f.
52
A.a.O. S. 48.
53
A.a.O. S. 57f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 203
nung und Aufbruch“ liegen, wie eine andere von Karl Otten
später herausgegebene Anthologie expressionistischer Prosa-
texte heißt. Kurt Pinthus kann daher schon 1922 anläßlich
einer Neuausgabe der Menschheitsdämmerung resümierend
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020
58
Hermand a.a.O. S. 317.
59
Wiegmann, Hermann, Geschichte der Poetik, Ein Abriß, Stuttgart
1977, S. 148.
60
A.a.O. S. 150.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 207
61
Vgl. Anz, Thomas, Expressionismus, in: Moderne Literatur in
Grundbegriffen, (Hg.) Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač,
Tübingen 1994, S. 142-52.
62
Vgl. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974.
208 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
63
Zit. nach Riha, Karl, Dada (Dadaismus), in: Moderne Literatur in
Grundbegriffen a.a.O. [ Anm. 61] S. 64.
64
Zit. nach Riha, Karl ,.Da DADA da war, ist DADA da, Aufsätze
und Dokumente, München1980, S. 32.
65
A.a.O. S. 31.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 209
Wer hier nach tieferem Sinn sucht, ist, folgt man Dada, selber
schuld. Auch diese Bewegung war nur von kurzer Dauer. Spä-
testens ab Mitte der 20er Jahre sprach niemand mehr von den
dadaistischen Provokationen, verloren sich ihre Protagonisten
aus den Augen, orientierten sich um oder gaben die Kunst völ-
lig auf.
In gewisser Weise ist der Surrealismus die Fortsetzung des
Dadaismus; ja, der Surrealismus eines André Breton („Mani-
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Und da der Surrealismus einen guten Magen hatte, sind die Eigen-
schaften des Verschlungenen mit in den gekräftigten Körper des
Überlebenden eingegangen. Gut so! Fest steht, daß Methode und
Disziplin des Surrealismus wesentlich Bretons Werk sind. Er
machte aus dem explosiven Dada im Surrealismus und auf ratio-
naler Grundlage eine irrationale Kunstbewegung, die zwar Dada
gänzlich übernahm, aber die Dada-Rebellion in einer strengen gei-
stigen Disziplin kanonisierte.66
Der Surrealismus blieb freilich mit wenigen Ausnahmen auf
Frankreich beschränkt, und er führte Ende der 20er Jahre zu
einer engen Bindung an die kommunistische Partei und deren
Politik (namentlich bei Aragon und Eluard), wenngleich auch
– insbesondere in der Person Bretons – immer an eine ästheti-
sche Revolution dabei mitgedacht war.
66
Zit. nach Riha a.a.O. [ Anm. 63] S. 67.
210 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden
67
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, (Hg.) Gretel Adorno
und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970, S. 38.
68
Bollenbeck, Georg, Avantgarde, in: Moderne Literatur in Grund-
begriffen a.a.O. [ Anm. 61] S. 41ff.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 211
69
Adorno a.a.O. S. 379.
70
Bürger, Peter, Ende der Avantgarde?, in: Neue Rundschau, H. 4,
1995, S. 27.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?
Zielen, für die sie wirbt, votieren moderne Poetiken in der Re-
gel ‚rein‘ für die Kunst (und oft genug in aller Deutlichkeit ge-
gen die Gesellschaft), die sie vom Leben abtrennen möchten.
Das muß nicht gleich schon postmodern oder gar dekonstruk-
tiv sein. Angezeigt darin ist aber auf jeden Fall – und dies selbst
noch und ausdrücklich bei Verfechtern einer politischen Äs-
thetik wie Brecht oder Sartre – die Reinhaltung der Sphäre
Kunst. Mit anderen Worten: Kunst ist Kunst, die Gesellschaft
bleibt die Gesellschaft. Das ist so banal wie basal. Kunst bzw.
Literatur sind Konstruktionen, Schöpfungen eines Autors mit
Eigenweltcharakter, mag es dabei auch noch so viele Bezugs-
punkte, Referenzen zur Außenwelt geben. Verwechseln darf
der Leser um den Preis der Lächerlichkeit die unterschiedli-
chen Ebenen nicht. Dort, wo, wie etwa im Faschismus oder
Stalinismus, auf ruinöse Weise auf die unmittelbar praktische
Relevanz der (sogenannten) Kunst fürs Leben der Gesellschaft
abgestellt wurde, führte das zu jenen Resultaten, die Heinz
Schlaffer so beschrieben hat: „Als praktische Lebenshilfe, als
symbolische Lebensdeutung, als politische Erziehung verstan-
den, sollen die Kunstwerke in den gewohnten Realitätszusam-
menhang, den sie verlassen haben, wieder zurückkehren. Wech-
selseitige Verdunkelung der beiden Sphären ist das Resultat
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 215
1
Schlaffer, Heinz, Poesie und Wissen, Die Entstehung des ästheti-
schen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frank-
furt/M. 1990, S. 155.
2
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, (Hg.) Gretel Adorno
und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970, S. 87.
216 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?
3
Vgl. Titzmann, Michael, Poetik, in: Literatur Lexikon, ( Hg.) Wal-
ther Killy, München 1993, Bd. 14, S. 221.
4
Harth, Dietrich und vom Hofe, Gerhard, Unmaßgebliche Vorstel-
lung einiger literaturtheoretischer Grundbegriffe, in: Dietrich Harth
und Peter Gebhardt ( Hg.), Erkenntnis der Literatur, Stuttgart
1989, S. 31.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 217
die Sprache ein eigentümliches System aus; sie „hat ihre eigenen
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020
wie die Sprache innerhalb der Sprache, wie die Gebrauchs- und
Kommunikationsformen in der Poesie aufgehoben und trans-
formiert werden können, mehr noch, wie aufgrund dessen die
Erfahrung eines „ICHs“ vermittelt werden kann, „das in wun-
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10
Wellershoff, Dieter, Gottfried Benn, Phänotyp dieser Stunde,
Köln 1986, S. 14.
11
Hohendahl, Peter Uwe, Gottfried Benns Poetik und die deutsche
Lyriktheorie nach 1945, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesell-
schaft, 24, 1980, S. 398.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 223
geblichkeit verweist, und bis dahin – auf das Tragen von Lasten.
Epische Blutrunst ist durch umsichtige Polizeiüberwachung un-
möglich gemacht, und die Ritterlichkeit ist von den Modeorakeln
der Boulevards umgebracht worden. Es rasseln keine Rüstungen
mehr, kein Nimbus ist um den Edelmut, kein Hüteschwenken,
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kein Bramarbasieren!12
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020
12
Joyce, James, Kritische Schriften, Frankfurt/M. 1973, S. 26.
224 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?
nige, wie Brecht, Artaud, Ionesco oder Sartre, mit einer eige-
nen Theorie und Programmatik aufgetreten sind. Im Vor-
dergrund der Überlegungen, ausgelöst durch Diskussionen
im Umfeld von Brechts ästhetisch-theoretischen, Erwin Pis-
cators technisch-praktischen Theaterkonzepten, rangiert die
Frage nach den grundsätzlichen Möglichkeiten der Abbild-
barkeit von etwas Außerkünstlerischem. Brecht (als guter
Marxist) geht nicht nur von der Komplexität der modernen
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vor Augen bringt, versteht sich die neue Technik als eine, die
das Vertraute, das allen Geläufige, fremd macht, um in dieser
Distanz zwischen dem banal Alltäglichen und dem Verfremde-
ten Erkenntnisprozesse, die wieder auf eine Intervention, auf
die praktische Veränderung der Verhältnisse und Zustände
hinauslaufen, zu provozieren. Brecht vergleicht seine Vorstel-
lungen mit dem Verfahren Galileo Galileis, der jenen fremden
Blick auf die bekannten Pendelausschläge eines Kronleuchters
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heißt aber, daß ich mich nicht einfach an seine Stelle, sondern
ihm gegenüber sitzen muß, uns alle vertretend. Darum muß
das Theater, was es zeigt, verfremden.“ (a.a.O. S. 126, vgl. auch
S. 140) Also noch einmal: Kunst ist Antizipation, Vorschein,
Andeutung von Menschenmöglichem und Menschheitsper-
spektiven, die sich natürlich beim Marxisten Brecht mit der
kommunistischen Utopie einer befreiten Menschheit bzw. –
mit Marx – eines gestalteten Humanismus verbinden. Kunst
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einen Stil zu geben, der ihr fehlt.“ 13 Man kann dies auch die
Anthropomorphisierungsfunktion der Kunst nennen, mit dem
ungarischen Philosophen Georg Lukács aus dessen großer Äs-
thetik: ihre defetischisierende Wirkung.
Beides, Anthropomorphisierung und Defetischisierung, kann
aber auch noch anders – radikal anders – zur Sprache gebracht
werden. Und zwar in Gestalt der Autonomieästhetik, einer
Form der Autonomie, die in völliger Negativität zur Wirklich-
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keit steht. Nach dem Motto, daß sich nur etwas sagen oder
ausdrücken läßt, indem man davon absieht – sei’s, daß man
schweigt (die hermetische Lyrik Celans), oder, daß man die
Dinge parodiert, verkehrt und ins Absurde treibt ( Beckett,
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13
Camus, Albert, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 207.
232 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?
14
Anders, Günther, Kafka pro und contra, München 1972, S. 9.
15
Vgl. Anders ebd.
16
Vgl. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde.,
München 1980, Bd. 1, S. 215.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 233
17
Coenen-Mennemeier, Brigitta, Artikel „Le Théatre et son Double“,
in: Lexikon literaturtheoretischer Werke, ( Hg.) Rolf Günter Ren-
ner und Engelbert Habekost, Stuttgart 1995, S. 376.
234 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?
der Prosa des 20. Jahrhunderts zeigt sich genauso der Zeit-
roman von realistisch-naturalistischem Zuschnitt mit Beken-
nerton wie auch ein Orte und Zeiten sprengender Ästhetizis-
mus; das Theater inszeniert ebenso die Bewußtseinsschulung
wie die Entfesselung der Sinnlichkeit, setzt auf den Aspekt der
moralisch-politischen Schulung wie auf den einer Körperlich-
keit und puren Präsenz.
‚Il faut être absolument moderne‘ – das zumindest. Und das
heißt dann, noch einmal: Kritik an bzw. Skepsis gegenüber tra-
ditionellen (Glaubens-)Gewißheiten wie denen von der Unver-
wechselbarkeit und Authentizität des Individuums, von der
Selbstverständlichkeit von Lebenswelten, von der transzenden-
talen Geborgenheit, vom Glück und vom Fortschritt, vom
Sieg der Vernunft und überhaupt von der Vernunft und Ver-
nünftigkeit in der Wirklichkeit.
18
Bürger, Peter, Prosa der Moderne, Frankfurt/M. 1988, S. 249 u.
251.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden
4
Genazino, Wilhelm, Die Botschaft des Unscheinbaren, Gespräch
mit Wilhelm Genazino, in: neue deutsche literatur, H. 3, 1995,
S. 101. Die Zusammenfassung seiner poetologischen Überzeugun-
gen liefert auch Genazinos Band: Die Belebung der toten Winkel,
Frankfurter Poetikvorlesungen, München-Wien 2006.
238 X. Sich selbst im Schreiben erfinden
zählen kann, die Teleologie in die Brüche gegangen ist und be-
stenfalls perspektivische Ausschnitte, also Sehweisen, geboten
werden können. Um es mit der Schlichtheit des Youngsters
von Petersdorff, aber zugleich mit der doch notwendigen Deut-
lichkeit auszudrücken: die Rollen- bzw. Textbücher der Groß-
väter und Väter haben ausgespielt. „Ich bin“, sagt v. Peters-
dorff, „keine Figur in einer großen Geschichte, in der ich eine
Rolle hätte, ein Textbuch, eine Fahne, ein Kostüm und Farbe
im Gesicht. Auch ich selbst bin keine Geschichte. Denn die
Psychologie ist tot, und der Existentialismus ist auch tot. Ge-
blieben sind: Atemtherapie, Urschrei, Rebirthing. Es liegt mir
fern, diese Situation nach dem Zusammenbruch großer Sinn-
konstruktionen zu heroisieren.“ Im Blick auf das literarische
Szenario heißt es dann weiter: „Die Geschichten sind zu Ende,
die Figuren gehen umher, unsicher, mit schlaksigen Sätzen,
steif, stolpern dann und wann. Und schauen verwundert um-
her. Ohne Textbuch, Fahne, Schminke im Gesicht.“ 11 Was ist
noch des Berichtens wert?
11
v. Petersdorff, Dirk, Bekenntnisse, in: Roman oder Leben, Post-
moderne in der deutschen Literatur, ( Hg.) Uwe Wittstock, Leipzig
1994, S. 308.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 241
heit nicht gibt, muß man sie erfinden, denn nur die erfundene
Wahrheit, so Harigs Schillersches Schlußresümee, macht frei.
Was wäre schließlich ein Humorist wert, wenn er nicht so-
gleich schelmisch hinzufügte: „Ich sage die Wahrheit. Ich lüge
nicht.“ 17
Einerseits wirkt Hermann Lenz altväterlich und betulich,
wie ein Fossil aus der fernen Zeit der großen Erzählungen,
eine Stimme aus dem Land ‚es war einmal‘; andererseits aber
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ebenso schält sich auch für den Leser eine andere Sichtweise
heraus: die Realität bekommt phantastische Züge, Altes und
Vertrautes erhält plötzlich etwas Unerwartetes.
Die Welt und meine Welt. Von den Verfremdungen im Gro-
ßen und Ganzen oder im Kleinen und Partikularen handeln
die Texte von Brigitte Kronauer und Wilhelm Genazino, von
Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl oder Hans Joachim Schädlich.
Für Brigitte Kronauer, die ihren Romanen und Erzählungen
eine Reihe von Aufsätzen und essayistischen Reflexionen zur
Seite gestellt hat, ist Literatur Konstruktion. Sie verabschiedet
alles naiv Autobiographische zugunsten der strikt nach Maß-
gabe einer Idee durchgeführten Versuchsanordnung. Brigitte
Kronauer möchte einerseits die Ideologien der Wahrnehmung
zeigen und damit durchsichtig machen, den poetischen Nach-
weis darüber führen, daß wir – und d.h. jedermann – uns unse-
re Wirklichkeit entsprechend ideologischer Muster schaffen,
22
A.a.O. S. 99.
23
A.a.O. S. 100.
24
A.a.O. S. 15.
25
A.a.O. S. 103.
26
A.a.O. S. 104.
248 X. Sich selbst im Schreiben erfinden
erklären und deuten, womit wir Ordnung ins Chaos der Wirk-
lichkeit bringen; andererseits inszenieren ihre Texte Welten hin-
ter der scheinbar ordentlichen wie geordneten Realität, offenba-
ren neue Perspektiven, wie sie sich für uns alle beispielsweise in
jenen kurzen Momenten vor dem Aufwachen, im Dämmern,
beim Tagträumen zeigen, um nicht gar von den ebenfalls von
Brigitte Kronauer beschriebenen epiphanischen Augenblicken
der Ekstase zu sprechen. Die Dinge und ihre Gegenstände wer-
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im Nächsten – auf der Straße vor der Haustüre. Und daher fla-
nieren seine Helden durch die Straßen, Anlagen und Gärten,
benutzen mit Vorliebe öffentliche Verkehrsmittel, um auf ih-
ren Fahrten und Gängen in jedem Moment auf unerwartete
und irritierende Motive im Alltäglichen zu stoßen. Man müsse,
sagt Genazino einmal – und dasselbe trifft wohl auch auf seine
Figuren zu –, der Gewöhnlichkeit gegenüber Dankbarkeit ab-
statten. Denn in diesem Gewöhnlichen steckt der Vorwurf,
der Ansporn fürs Schreiben.
Auf radikal entgegengesetzte Art und Weise begreift dage-
gen Wolfgang Hilbig die Gewöhnlichkeit des Alltags. Alltagsle-
ben – und hier schließen sich dann Reinhard Jirgl oder Hans
Joachim Schädlich durchaus an – ist entfremdetes Leben, nicht
im klassisch marxistischen Sinne des Verdinglichungsparadig-
mas, sondern vielmehr im Sinne einer totalen Entmündigung
durch den Staat und seine Organe: konkret durch die Firma
Stasi. Sie hat dem Menschen die Sprache genommen – seinen
authentischen Ausdruck, dessen Verlust die Autoren auf sehr
verschiedene Art in allerdings immer verschlüsselter und hoch-
27
Vgl. dazu allgemein auch Jung, Werner, Schauderhaft Banales,
Über Literatur und Alltag, Opladen 1994.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 249
29
Vgl. allgemein Winkels, Hubert, Einschnitte, Zur Literatur der
80er Jahre, Köln 1988; außerdem Ortheil, Hanns-Josef, Schaupro-
zesse, Beiträge zur Kultur der 80er Jahre, München 1990, S. 212.
30
Kirchhoff, Bodo, Legenden um den eigenen Körper, Frank-
furt/M. 1995, S. 26f.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 251
31
A.a.O. S. 62.
32
A.a.O. S. 113.
33
A.a.O. S. 143.
34
A.a.O. S. 164.
35
Vgl. Timm, Uwe, Erzählen und kein Ende, Köln 1993, S. 16ff.
36
A.a.O. S. 18.
252 X. Sich selbst im Schreiben erfinden
37
A.a.O. S. 19.
38
Ebd.
39
A.a.O. S. 119f.
40
A.a.O. S. 117.
41
Delius a.a.O. [ Anm. 8] S. 9.
42
A.a.O. S. 11.
43
A.a.O. S. 101.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 253
44
Vgl. a.a.O. S. 27.
45
Vgl. a.a.O. S. 35.
46
Vgl. a.a.O. S. 53.
47
A.a.O. S. 17.
254 X. Sich selbst im Schreiben erfinden
1
Vgl. dazu pauschal Lyotard, Jean-François, Anima minima, in: Die
Aktualität des Ästhetischen, (Hg.) Wolfgang Welsch, München
1993, S. 417-427.
256 XI. Die Poetik und die Wissenschaften
2
Hermand, Jost, Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S. 62.
258 XI. Die Poetik und die Wissenschaften
3
Scherer, Wilhelm, Poetik, ( Hg.) Gunter Reiß, Tübingen 1977,
S. XIV.
4
Vgl. a.a.O. S. 57.
5
A.a.O. S. 18.
6
A.a.O. S. 28.
7
A.a.O. S. 50.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 259
8
Vgl. ebd.
9
A.a.O. S. 51.
10
A.a.O. S. 52.
260 XI. Die Poetik und die Wissenschaften
geschrieben, und zwar die noch ein Jahr vor Scherer publizier-
te Abhandlung „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine
für eine Poetik“. Anders als Scherer knüpft Dilthey unmittel-
bar an die Ergebnisse der neueren Ästhetik an, also geradezu
beim Gedanken des subjektiven (Geschmacks-)Urteils im Sin-
ne Kants und damit bei der „Anarchie des Geschmacks.“ 11 Re-
ferenzpunkt der Diltheyschen Theorie, die – vom Ende her –
so etwas wie eine Theorie gegen die Theorie, eine Antitheorie
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11
Dilthey, Wilhelm, Die geistige Welt, Einleitung in die Philosophie
des Lebens, Gesammelte Schriften, VI. Band, Leipzig und Berlin
1924, S. 104.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 261
sant die moderne Form des Essays, wie sie von Simmel, Bloch
und Lukács, von Benjamin, Kracauer und Adorno, aber auch
von Ernst Jünger oder Rudolf Borchardt entwickelt und zur
Höchstform gesteigert worden ist.
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften, 9783838529370, 2020
12
Vgl. dazu Jung, Werner, Georg Lukács als Schüler Wilhelm Dil-
theys, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissen-
schaften, Bd. 5, 1988, S. 240-257.
262 XI. Die Poetik und die Wissenschaften
13
Verweyen, Theodor und Witting, Gunther, Artikel „Grundbegriffe
der Poetik“, in: Lexikon literaturtheoretischer Werke, (Hg.) Rolf
Günter Renner und Engelbert Habekost, Stuttgart 1995, S. 165.
14
Vgl. Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik, Fünfte Auflage, Zü-
rich 1961, S. 217.
15
A.a.O. S. 220 u. 254.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 263
16
A.a.O. S. 243f.
17
Ingarden, Roman, Das literarische Kunstwerk, Dritte, durchgese-
hene Auflage, Tübingen 1965, S. XI u. 2.
264 XI. Die Poetik und die Wissenschaften
die äußere, die empirische Welt und führt ihn zu sich selbst zu-
rück und damit zu seiner Wahrheit.“ 22 Sie führt ihn eben zu
seiner, nämlich jedermanns Wahrheit – ein Wimmeln vor Will-
kür, hätte an dieser Stelle wieder Hegel eingewandt.
Die Poetik verschwindet nicht nur in der Ästhetik, sondern
wird von einem weiteren grundsätzlichen Problem – dem einer
allgemeinen Verstehenstheorie – eingeholt. (Darauf sei hier le-
diglich pauschal hingewiesen; Stoff genug liegt hier für weitere
Ausführungen, ganze Bücher – nicht zuletzt eigene Einführun-
gen – zum Problem vor, das man abkürzend im Begriff Her-
meneutik zusammenfassen kann.)
Eine dritte Richtung sei hier ebenfalls bloß erwähnt: der
Szientismus, der sich etwa in Gestalt strukturalistischer Schu-
len im Ausgang von linguistischen Richtungen (de Saussure
etwa) z.B. bei Roman Jakobson, bei den Prager Strukturalisten
oder bei semiotisch orientierten Theoretikern gemeldet und
schlußendlich in postmodernen und poststrukturalistischen
Erwägungen (von Roland Barthes über Paul de Man bis zu
Jaques Derrida) wieder selbst dekonstruiert – man könnte auch
sagen: überwunden – hat. Die verzweifelt gesuchte feste Ori-
entierung im Blick auf poetisch-poetologische Prinzipien und
22
A.a.O. S. 293.
266 XI. Die Poetik und die Wissenschaften
1
Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph ( Hg.), Einführung in die Neuere
deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart-Weimar 2003, S. 262;
ganz ähnlich argumentieren auch Petersen, Jürgen H./Wagner-
Egelhaaf, Martina ( Hg.), Einführung in die neuere deutsche Lite-
268 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.
dann sogleich schon bei den Titeln neuerer Arbeiten ins Auge
– insbesondere bei solchen, die dem Feld der Poetik zuge-
wandt sind, unter der nun – angestoßen durch den Historiker
Hayden White und den ‚New Historicism‘ – eine Poetik der
Kulturen verstanden wird: da ist etwa von einer „Kleine[n]
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020
Poetik der Neuen Welt“ (bei Christian Kiening) oder auch ei-
ner „Poetik des Extremen“ (so Uwe Schultze) die Rede. Die
Liste ließe sich fortsetzen.
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Wenn der Text als literarischer gelten soll, dann muß er ebenso
rand- wie tiefenscharf gefaßt werden – dann müssen nämlich
zunächst Text-, dann auch Literarizitäts- bzw. Poetizitätsmerk-
male bestimmt werden. Und hier bewähren sich schließlich
nicht nur linguistische und semiotische Theorien, sondern
gelangen wiederum altehrwürdige Traditionen von der Rhe-
torik über die Poetik bis zur Ästhetik zu ihrem Recht. In
270 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.
maßen: „Ein Werk spiegelt nicht nur seine Zeit, sondern es er-
schließt eine neue Welt, die es in sich trägt.“ 2 Und dies, wie
Ricoeur in einer Vielzahl von Arbeiten gezeigt hat, vor allem
mit den Mitteln der Metaphorik – denn in der Metapher, so
Ricoeur in direktem Anschluß an die aristotelische Poetik,
‚feiert‘ die Sprache geradezu. Dies könnte als Mindestanfor-
derung für die Poetizität von Texten gelten. So kann man
auch, um im Bild zu bleiben, behaupten, daß die Wirkung des
literarischen Textes solange in der Zeit andauert, solange –
dies ließe sich mühelos anhand kanonischer Werke der Welt-
literatur zeigen – sie immer wieder neu und anders gelesen
werden können.
Der junge, von Kant inspirierte Georg Lukács hat in seiner
geplanten Habilitationsschrift den Begriff des ‚Schemas mögli-
cher Inhaltserfüllung‘ geprägt, um diesen Sachverhalt auszu-
drücken.3 Der Text müsse – nicht zuletzt aufgrund seines me-
2
Ricoeur, Paul, Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen,
in: Texte zur Theorie des Textes, ( Hg.) Kammer, Stephan/Lüde-
ke, Roger, Stuttgart 2005, S. 206; vgl. ganz allgemein auch von Ri-
coeur, Paul, Die lebendige Metapher, München 1986.
3
Vgl. dazu ganz allgemein: Lukács, Georg, Heidelberger Philoso-
phie der Kunst ( 1912-1914), in: Ders., Werke, Bd. 16, (Hg.) Ben-
272 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.
halten der Zeit den Spiegel nur insofern vor, daß sie die Zeit in
der Ewigkeit sich spiegeln lassen.“
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Der Text ist als literarischer Text und – weit mehr noch – als
literarisches Werk, das zwar ‚dauerhaft fixiert‘ (Wilhelm Dil-
they) vor unseren Augen steht, dennoch niemals statuarisch in
sich ruhend, sondern – der Zeitfaktor ist bereits angesprochen
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4
Zit. nach: Fauser, Markus, Einführung in die Kulturwissenschaft,
Darmstadt 2004, S. 15.
5
David Morley, zit. nach: Lindner, Rolf, Die Stunde der Cultural
Studies, Wien 2000, S. 84.
6
Vgl. Lindner, Rolf a.a.O. S. 114; vgl. auch Jannidis, Fotis, Litera-
risches Wissen und Cultural Studies, in: Huber, Martin/Lauer,
Gerhard ( Hg.), Nach der Sozialgeschichte, Konzepte für eine Li-
teraturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kultur-
geschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 355.
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. 275
7
G. Bentele, zit. nach: Lenk, Carsten, Kultur als Text, Überlegun-
gen zu einer Interpretationsfigur, in: Glaser, Renate/Luserke, Mat-
thias (Hg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft, Positio-
nen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 119.
8
Vgl. Ort, Claus-Michael, Was leistet der Kulturbegriff für die Lite-
raturwissenschaft? Anmerkungen zur Debatte, in: Germanistik als
Kulturwissenschaft. Mitteilungen des Deutschen Germanistenver-
bandes, H. 4, 1999, S. 536f.
276 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.
9
Brenner, Peter J., Was ist Literatur?, in: Glaser, Renate/Luserke,
Matthias (Hg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft, Posi-
tionen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 37.
10
Bachtin, Michail, Das Problem des Textes, in: Texte zur Theorie des
Textes, ( Hg.) Kammer, Stephan/Lüdeke, Roger, Stuttgart 2005,
S. 175.
11
Ort a.a.O. S. 541.
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