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Titel, Impressum, Inhaltsverzeichnis, Vorwort, 9783838529370, 2020

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Poetik

Wilhelm Fink
Werner Jung

Eine Einführung
Der Autor:
Werner Jung, geb. 1955, Prof. Dr. phil., lehrt und forscht im Bereich der Neueren
Deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen; Schwerpunkte:
Literatur des 18.-21.Jhdts, insbesondere Gegenwartsliteratur, Ästhetik, Poetik, Lite-
raturtheorie und Editionsphilologie. Letzte Veröffentlichungen: „Du fragst, was
Wahrheit sei?“ Ludwig Harigs Spiel mit Möglichkeiten (2002); Mitherausgeber des
Jahrbuchs der Internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft (seit 1996), der Georg-
Lukács-Werkausgabe sowie der Kölner Ausgabe Heinrich Bölls und der Ludwig-
Harig-Werkausgabe.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der


Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2007 Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG


ISBN 978-3-7705-4551-3
Internet: www.fink.de

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbei-
tung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany.
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

UTB-Bestellnummer: ISBN 978-3-8252-2937-5


Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe ........................................................ 7


0. Einleitung ........................................................................ 8
I. Poetik der Antike ........................................................... 14
1. Aristoteles ............................................................... 14
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2. Horaz ....................................................................... 34
3. Longinus ................................................................. 40
II. Poetik des Mittelalters: Im Dienste des Gotteslobs ... 46
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III Poetik der Renaissance: Altes in neuer Gestalt ......... 58


IV. Poetik des Barock: Rede- und Tichtkunst ................. 66
V. Von der Regel zum Genie: Poetik der Aufklärung .... 73
VI. Goethezeit ....................................................................... 94
1. Sturm und Drang ................................................... 94
2. Klassik ..................................................................... 105
3. Romantik ................................................................. 118
VII. Vormärz und Biedermeier.
Realismus und Gründerzeit .......................................... 144
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden .................... 171
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? ................................ 213
X. Sich selbst im Schreiben erfinden ............................... 235
XI. Die Poetik und die Wissenschaften ............................ 255
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.
Literaturwissenschaft und/oder Kulturwissenschaften
Statt eines Nachwortes .................................................. 267
XIII. Literaturverzeichnis ....................................................... 277
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Vorwort zur Neuausgabe

Diese Neuausgabe ist gegenüber der ersten Auflage unter dem


Titel „Kleine Geschichte der Poetik“ (Hamburg, Junius, 1997)
um ein weiteres, letztes Kapitel ergänzt worden; alle anderen
Kapitel des Bandes, der sich im akademischen Unterricht über
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Jahre bewährt hat, sind noch einmal kritisch durchgesehen und


z.T. überarbeitet bzw. ergänzt worden im Blick auf neuere
Forschungsliteratur. Dasselbe gilt schließlich noch für das Li-
teraturverzeichnis, das auf den aktuellen Stand gebracht wor-
den ist.
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Werner Jung
Duisburg, den 30.4.2007
0. Einleitung

In dem nicht zu verachtenden, überaus ausführlichen Artikel


Poetik aus dem neuen Brockhaus wird der Begriff folgender-
maßen definiert: „Poetik […], die Lehre von der Dichtkunst,
ihrem Wesen und ihrer Wirkung, ihren Erscheinungsweisen,
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ihren Form- und Gestaltungsgesetzen und ihren Gestaltungs-


mitteln. Als Theorie der Poesie gehört sie in den Bereich der
Literaturwissenschaft, als Reflexion über den Charakter von
Kunstwerken ist sie Teil der Ästhetik, während sie sich in der
Untersuchung der Darstellungsmittel der Dichtung vielfach
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mit Stilistik und Rhetorik berührt. Soweit die P. normativen


Anspruch erhebt, liefert sie einerseits Anweisungen zum ‚rich-
tigen‘ Dichten und steht andererseits in Zusammenhang mit
Einleitung, 9783838529370, 2020

der Literaturkritik.“ 1 Diese Definition deutet die Problematik


der Poetik schon an: ihre Weite. Sie ist zugleich „Lehre von
der Dichtkunst“ und Theorie der Dichtkunst, also, wenn man
so will, ebenso praktisch wie theoretisch. Sie war und ist
Selbstreflexion der Schreibenden, theoretische Analyse, Recht-
fertigung und Ermunterung der Schriftsteller; sie war – in ih-
ren Anfängen und bis ins 18. Jahrhundert hinein – entweder
im Rahmen der praktischen Philosophie oder auch im Zusam-
menhang der Rhetorik-Ausbildung ein klassisches Thema, und
sie ist – spätestens seit der akademischen Etablierung der Lite-
raturwissenschaften im mittleren 19. Jahrhundert – schließlich
ein Teilbereich dieser Disziplinen. Man muß also ein weites
Feld bestellen und sich – von Fall zu Fall, von Epoche zu

1
Rötzer, Hans Gerd, Art. Poetik, in: Brockhaus Enzyklopädie,
Mannheim 1992, Bd. 17, S. 269f.; vgl. außerdem Koppe, Franz,
Art. Poetik, in: Jürgen Mittelstraß u.a. ( Hg.), Enzyklopädie Philo-
sophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart-Weimar 1995, Bd. 3,
S. 278ff.
0. Einleitung 9

Epoche – mit den verschiedensten angrenzenden Wissenschaf-


ten und Gebieten beschäftigen.
Nehmen wir noch zwei weitere Lexikaeinträge. Die von
Hans Gerd Rötzer herausgegebenen „Literarische[n] Grundbe-
griffe“, die sich vornehmlich wohl an Oberstufenschüler wen-
den, weisen darauf hin, daß Poetik auf das griechische Verbum
für ‚machen‘ zurückgeht und seit ihren Anfängen so etwas wie
„eine Verstehenshilfe“ darstellt, „in der die kompositorische
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Vielfalt, die Elemente der einzelnen Gattungen und die sprach-


lichen Mittel beschrieben und erklärt werden.“ 2 Dabei wird
freilich der theoretische Aspekt zu sehr in den Vordergrund
gestellt und die Selbstreflexion der Schreibenden nicht gese-
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hen. Der von Jürgen Kühnel für das ambitionierte „Metzler


Literatur Lexikon“ geschriebene Poetik-Artikel hebt vor aller
historischen Begründung drei systematische Aspekte des Be-
Einleitung, 9783838529370, 2020

griffs hervor: Poetik sei „Dichtungstheorie“, d.h. „theoretische


Auseinandersetzung mit dem Wesen der Dichtung und der
poetischen Gattungen, ihren Funktionen, ihren spezifischen
Ausdrucksmitteln“, sie sei eine „normative praktische Anweisung
zum ‚richtigen‘ Dichten“ und weiterhin „Dichtungskritik “.3
Diese Begriffstrias veranschaulicht vielleicht am besten,
worum es in der Poetik geht: Poetik, die immer schon als eine
Praxistheorie betrachtet werden muß, führte (und führt weiter-
hin unter bestimmten Voraussetzungen), ja verführt zu norma-
tiven Setzungen – zu Regelpoetiken –, dort, wo sie sich dog-
matisch verhärtet (Beispiel Aufklärung), oder aber auch zum
direkten Gegenteil, zur Dichtungskritik, wie sie in den Litera-
turwissenschaften gepflegt wird. Alles in allem also: Poetik
muß von Beginn an bei den Griechen als das Nachdenken
über die literarische Kunst, als Reflexion des Werks und seiner

2
Rötzer, Hans Gerd, Art. Poetik, in: Ders., Literarische Grundbe-
griffe, Bamberg 1995, S. 153.
3
Kühnel, Jürgen, Art. Poetik, in: Günther und Irmgard Schweikle
( Hg.), Metzler Literatur Lexikon, Stuttgart 1990, S. 353f.
10 0. Einleitung

Wirkung und Selbstreflexion des Künstlers angesehen werden.


Das führt dann zwangsläufig zu den poetologischen Grundbe-
griffen, zu den Gattungen und ihren Merkmalen, zu Wirk-
aspekten (Rhetorik), zu produktions- und rezeptionstheoreti-
schen Zusammenhängen – insgesamt: zu einigen (wenn auch
nicht gerade wenigen, so doch immer noch überschaubaren)
Konstellationen, die sich zwar unterschiedlich historisch aus-
kristallisieren, in ihren Grundzügen aber ähneln. Seit jeher
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wird darüber nachgedacht, in welchem Verhältnis Kunst und


Realität, die schöpferische Einbildung, die Phantasie (schon
bei Platon), und das materielle Substrat der Wirklichkeit zuein-
anderstehen, wie die Schaffenskraft zu deuten ist (als göttliche
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Inspiration oder als regelabhängige Produktion) und wie, war-


um und mit welcher Maßgabe literarisch-künstlerische Produk-
te auf Betrachter bzw. Leser wirken.
Einleitung, 9783838529370, 2020

Die beiden von Aristoteles in seiner Poetik eher beiläufig,


jedenfalls nicht systematisch ausgearbeiteten Begriffe der ‚mi-
mesis‘ und der ‚katharsis‘ stellen zentrale Bezugsgrößen dar, an
denen sich die nachfolgende Geschichte über Jahrhunderte
hinweg abgearbeitet hat. Um ein Bonmot aus der Philosophie
abzuwandeln: wenn im Grunde genommen die ganze euro-
päische Philosophiegeschichte eine einzige Ansammlung von
Fußnoten zu Platon ist, dann gilt dasselbe – ungleich stärker
noch – im Blick auf die Poetikgeschichte, die sich im glos-
sierenden Kommentar zu Aristoteles bewegt. Dies minde-
stens bis weit ins 18. Jahrhundert hinein, teilweise reichen die
Ausläufer sogar noch bis ins 20. herüber (Brecht, Lukács,
Adorno). Eine starke These, die im Verlauf der historischen
Darstellung zu überprüfen und zu präzisieren sein wird.
Noch eine zweite, damit eng zusammenhängende These sei
hier im Vorgriff formuliert: Mit der Subjektivierung der Kunst
und Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert (Autonomie-Ge-
danke, Genieapologie, Entstehung und Verbreitung des Kunst-
marktes), also in der Sturm- und-Drang-Dekade, in Klassik
und Romantik, verliert die Poetik ihre Geltung und ihren ange-
0. Einleitung 11

stammten Platz; sie wird nun zum Bestandteil der Ästhetik,


und diese befaßt sich entweder mit der Subjektivität von Ge-
schmacksurteilen bei Kant oder wird gänzlich zum histori-
schen Kompendium bei Hegel und seinen Schülern. Um es an-
ders auszudrücken: die poetologische Reflexion wird nun
willkürlich und beliebig, so viele Dichter – so viele Poetiken.
Der Geltungsverlust der Normen und der Verzicht auf jegliche
Normativität befreien einerseits die Künstler von Traditionen
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und Regeln, lassen sie andererseits aber mit den Problemen


ihres Schaffens und der Verbreitung ihrer Werke allein. Und
diese Konstellation besteht im Grunde bis heute fort. Aus-
druck und Gestalt nimmt sie u.a. in den in vielfacher Form
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vorliegenden poetologischen Selbstverständigungen an, in Preis-


reden (s. Büchnerpreis) oder ganzen Poetikvorlesungen (etwa
in Duisburg-Essen, Frankfurt, München und Paderborn). Me-
Einleitung, 9783838529370, 2020

taphorisch ausgedrückt: Wenn die Welt-Anschauung in die


Brüche geht, ist es besser, sich die Welt anzuschauen.4 Mit
Blick auf die Poetik: nachdem die festen Orientierungspunkte,
die transzendentale Heimat mit ihren Verbindlichkeiten, ge-
schwunden sind, haben sich die Literaten und Künstler auf
sich selbst zu besinnen und neu anzufangen – immer wieder
neu und von vorn. Das ist eine Erkenntnis, die in aller Strikt-
heit bereits die Frühromantiker auf den Punkt gebracht haben,
indem sie einen neuen Werk- und Kritikbegriff entworfen ha-
ben. In jedem Kunstwerk beginnt die Kunst wieder von neu-
em, und die Kritik ist das produktive Weiterschreiben des
Werks auf anderer Ebene. Nach innen jedenfalls geht, so No-
valis, der geheimnisvolle Weg, ins Innere nämlich ebenso des
Werks wie des Individuums.
Um es also historisch zuzuspitzen: Der Bruch, der im spä-
ten 18. Jahrhundert entsteht und als Umstellung von der Regel

4
Vgl. Kösser, Uta, Wenn die Weltanschauung in die Brüche geht,
ist es besser, sich die Welt anzuschauen, in: Weimarer Beiträge,
H. 2, 1993, S. 190-207.
12 0. Einleitung

(Vorschrift, Norm) auf die Willkür (Autonomie, Genie) inter-


pretiert werden muß, ist der folgenschwerste für die Poetik-
geschichte insgesamt. Denn nach über 2000 Jahren wird ein
Schlußstrich gezogen. Die alte (normative) (Gattungs-)Poetik
hört auf, wiewohl sie später und heute noch im Bereich der
Philologien unter z.T. anderen Bezeichnungen (wie Stilistik)
weiterhin kursiert, um etwas Neuem Platz zu machen. Einem
Neuen freilich, das unter dem einfachen und wohldefinierten
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Begriff Poetik nicht mehr zu fassen ist, dennoch im Plural


möglicherweise einige Berechtigung beanspruchen mag.

*
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In Fortsetzung meiner Einführung in die Geschichte der Äs-


thetik möchte ich den (mindestens mit Blick auf den Gegen-
Einleitung, 9783838529370, 2020

stand) engeren Bereich der Poetik vorstellen – und das heißt


vor allem: eine an den historischen Quellentexten ausgerichtete
Übersicht und Darstellung maßgeblicher Theorien von Aristo-
teles und der Antike über das Mittelalter, die Renaissance und
den Barock bis in aktuelle Zusammenhänge anbieten.
Im Gegensatz zur postmodernen Konjunktur der Ästhetik
fristet die Poetik eher ein Schattendasein. Das zeigt sich bereits
bei der Sichtung des Buchmarktes. Abgesehen von mono-
graphischen Darstellungen aller möglichen Detailprobleme aus
allen Epochen, fehlt seit langem eine kompakte einführende
Gesamtwürdigung, die historisch ausgerichtet ist, bisweilen
aber auch auf systematische Aspekte achtet. Zu Rate zu ziehen
sind – und das heißt ganz konkret: die Bibliothek benutzen! –:
Hermann Wiegmann: Geschichte der Poetik. Ein Abriß. Stutt-
gart 1977 ( hierin wird kurz, aber überaus prägnant, manchmal
allerdings irritierend schnell über alle relevanten poetologi-
schen Positionen informiert); Bruno Markwardt: Geschichte
der deutschen Poetik. 5 Bde. Berlin 1937-67 (ein mehr als 2000
Seiten umfassendes Kompendium, das allerdings häufig aus-
ufert, so daß der Wald – die Kernprobleme eines Autors oder
0. Einleitung 13

einer Epoche – vor lauter Bäumen nicht mehr erkannt wird);


Hubert Zapf: Kurze Geschichte der angloamerikanischen Lite-
raturtheorie. München 1991 (unter dem etwas mißlichen Titel
verbirgt sich eine gut geschriebene, leicht lesbare Einführung
in die Poetik – nicht nur, wie angedeutet, im angloamerika-
nischen Raum, sondern auch unter Bezug auf antike, mittel-
alterliche und renaissancistische Überlegungen); Rolf Günter
Renner, Engelbert Habekost: Lexikon literaturtheoretischer
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Werke. Stuttgart 1995 (ein nützliches Nachschlagewerk, das


auch alle einschlägigen Poetiken seit der Antike jeweils in
einem Artikel vorstellt und den einen oder anderen Literatur-
hinweis gibt).
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*
Einleitung, 9783838529370, 2020

Was die Notwendigkeit und den Nutzen einer Beschäftigung


mit der Geschichte der Poetik im Fach Germanistik betrifft, so
mag schlußendlich der Hinweis auf den Bamberger Neugerma-
nisten Wulf Segebrecht das letzte Wort hier behalten. Der hat
nämlich ein schmales Bändchen unter dem Titel „Was sollen
Germanisten lesen?“ (Berlin 1994) vorgelegt. Unter den vielen
Büchern und Titeln seiner Lektüreliste befinden sich auch fast
alle großen, kanonischen Werke der Poetik, angefangen bei
Aristoteles und Horaz, endend u.a. mit Peter Weiss’ giganti-
schem Romanessay „Ästhetik des Widerstands“, der in eins
Roman und Ästhetik bzw. eine Poetik in Romanform ist. Die
alte und die neue Poetik – hier sind sie in der trauten Eintracht
einer schlichten Literaturliste versammelt. – Gedankt sei an
dieser Stelle Burkhard Biella und Thomas Thelen, die mir mit
etlichen Tips sowie Korrekturarbeiten hilfreich zur Seite ge-
standen haben.
Duisburg, 5.11.1996
I. Poetik der Antike

1. Aristoteles

Er ist nicht der erste, gewiß aber der erste, der systematisch die
Probleme der Poesie behandelt hat. Und zwar in seiner nur
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unvollständig überlieferten Abhandlung „Über die Dicht-


kunst“. Dichtungstheoretische Aussagen und Reflexionen las-
sen sich bis zu Homer und Hesiod zurückverfolgen, die in ih-
ren Epen – von Hegel Jahrhunderte später mit der glücklichen
Formulierung als Sage, Buch und „Bibel eines Volkes“, als
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„absolut erste Bücher“ bezeichnet (Hegel: Ästhetik. II. S. 407) –


neben theogonischen und kosmologischen Erzählungen auch
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Kunde über den Dichter-Sänger als Verkünder von Weisheiten


und Wahrheiten der Musen ablegen.1 Und auch Platons Ge-
samtwerk, insbesondere die Dialoge „Ion“ und „Phaidros“ so-
wie die Abhandlung über den Staat, enthält eine ganze Reihe
von Bemerkungen zur Dichtungsproblematik, über Funktion
und Bedeutung des Dichters und insgesamt zum Verhältnis
von Dichtkunst und Philosophie. Dabei sind die Verdikte Pla-
tons nur allzu bekannt, hat der Bannspruch über die Dichter,
ihre Verbannung aus dem idealen Staat, eine zweifelhafte Kar-
riere als geflügeltes und häufig kolportiertes Wort hinter sich.
Mit einigem Recht läßt sich die aristotelische Argumentation
als Auseinandersetzung, Abrechnung und – mit Maßen auch –
als Widerlegung der platonischen Dichterschelte lesen.
„Aristoteles“, hat einmal Hegel in seinen Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie ganz allgemein bemerkt,
„scheint immer nur über Einzelnes, Besonderes philosophiert
zu haben und nicht zu sagen, was das Absolute, Allgemeine,

1
Vgl. dazu ausführlich Schadewaldt,Wolfgang, Die Anfänge der
Philosophie bei den Griechen, Die Vorsokratiker und ihre Voraus-
setzungen, Frankfurt/M. 1978, S. 47-113.
I. Poetik der Antike 15

was Gott ist; er geht immer von Einzelnem zu Einzelnem fort.


Er nimmt die ganze Masse der Vorstellungswelt vor und geht
sie durch: Seele, Bewegung, Empfindung, Erinnerung, Den-
ken, sein Tagewerk, was ist – wie ein Professor seine Arbeit im
halbjährigen Kursus –, und scheint nur das Wahrhafte im Be-
sonderen, nur Besonderes erkannt zu haben, eine Reihe von
besonderen Wahrheiten; das Allgemeine hebt er nicht heraus.“
(Hegel: GW 19. S. 151) Abgesehen von der Wahlverwandt-
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schaft, die Hegel mit Aristoteles verbindet, ist der Hinweis auf
das ‚Einzelne‘ und ‚Besondere‘ überaus charakteristisch; da-
durch ist auch noch Aristoteles’ Verfahren in der Poetik präzi-
se bezeichnet. Denn Aristoteles widmet sich hier strikt den
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Einzelfällen, Tragödien und – in geringerem Maße – Komö-


dien, die er entweder aus der Überlieferung kennt oder aber
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

von eigener Anschauung. Induktiv gewinnt er sodann vom


empirischen Material aus poetologische Grundsätze. Darauf
weist auch noch Ernst Bloch hin, der erwiesene utopische Ma-
terialist, wenn er in seinen Leipziger Vorlesungen zur Philoso-
phiegeschichte vom aristotelischen Ideal spricht, das „aller-
dings an vorhandenen Kunstwerken“ nachgewiesen werde.2
Anhaltend ist von Philologen und Kommentatoren über die
Entstehung der Poetik spekuliert worden; allem Anschein nach
muß davon ausgegangen werden, daß die Schrift entweder
noch unter der Aufsicht Platons oder aber während Aristote-
les’ Meisterzeit, in den Jahren ab 336 v. Chr., verfaßt worden
ist. Die vielfältigen Hinweise auf damals zeitgenössische Tra-
gödien verweisen auf eine solche Datierung. Darüber hinaus
ist sich die Forschung einig in dem Punkt, daß die Poetik zu
Aristoteles’ esoterischen, d.h. für den engeren Schülerkreis be-
stimmten, Werken zu zählen ist. Die zahlreichen Brüche, argu-
mentativen Sprünge und bloßen Andeutungen sowie Querver-
weise auf andere einschlägige Schriften, etwa die Rhetorik,
2
Bloch, Ernst, Antike Philosophie, Leipziger Vorlesungen zur Ge-
schichte der Philosophie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1985, S. 313.
16 I. Poetik der Antike

unterstützen noch diese Hypothese. Eine weitere Schwierigkeit


im Umgang mit dem Text bereitet der Umstand, daß die Poe-
tik in den größeren Kontext einer Reihe von verschollenen
Werken gehört, wozu etwa der (drei Bücher umfassende) Dia-
log „Über die Dichter“ oder das (aus sechs Büchern bestehen-
de) Werk „Homerprobleme“ zählen. Alles in allem kann man
dem Aristoteles-Übersetzer und Kommentator Manfred Fuhr-
mann wohl zustimmen, wenn er diese Schwierigkeiten im
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Umgang mit der aristotelischen Poetik bilanziert: „Die Poetik,


insbesondere die Hypothesen über die Entstehung und Ent-
wicklung der dramatischen Gattungen haben […] auf einem
breiten empirischen Fundament beruht, das sich dem heutigen
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Leser weithin entzieht. Andererseits aber ist die kleine Schrift


durch ihre Begrifflichkeit, durch die den Gang der Argumenta-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

tion steuernden Kategorien eng mit dem System der aristoteli-


schen Philosophie verknüpft. Sie ist offensichtlich ein Teil der
praktischen Philosophie; sie sucht ihrerseits ein Stück der poli-
tisch-kulturellen Wirklichkeit ihrer Zeit theoretisch zu durch-
dringen und gehört somit wie die Rhetorik zum Bereich der Po-
litik und Ethik.“ 3 D.h., es empfiehlt sich durchaus, von Fall zu
Fall während der Lektüre der Poetik andere Texte von Aristo-
teles zu konsultieren.
Die aristotelische Poetik umfaßt in der uns überlieferten
Gestalt 26 Kapitel, die sich leicht zu drei Komplexen bündeln
lassen: in den Kapiteln 1-5 werden dichtungstheoretische
Grundbegriffe wie ‚Poeisis‘ und ‚Mimesis‘ erörtert; Kapitel 6-
22 beschäftigen sich mit der Tragödie, ihrem Begriff, einer
Analyse ihrer Struktur, den thematischen Vorwürfen (= My-
thos), den dramatischen Charakteren sowie der sprachlichen
Präsentation; Kapitel 23-26 schließlich widmen sich dem
Epos. Dazwischengestreut sind Bemerkungen über die Komö-
die – eine eigene Abhandlung über die Komödie als zweiter
3
Fuhrmann, Manfred, Dichtungstheorie der Antike, Aristoteles –
Horaz – ‚Longin‘, Darmstadt 1992, S. 9f.
I. Poetik der Antike 17

Teil der Poetik ist verschollen – und einläßliche Passagen über


einzelne Tragödien.
Von zentraler Bedeutung sind die ersten fünf Kapitel, die
den Gegenstand der Poetik benennen bzw. ‚konstituieren‘.
„Von der Dichtkunst selbst und von ihren Gattungen, welche
Wirkung eine jede hat und wie man die Handlungen zusam-
menfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll, ferner aus
wie vielen und was für Teilen eine Dichtung besteht“ (Aristo-
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teles: Poetik, 5) – dies (und einiges andere mehr) sei Thema


der Untersuchung. Unter Gattungen versteht Aristoteles gleich
im folgenden Absatz die „Epik“, „die tragische Dichtung“,
„die Komödie und die Dithyrambendichtung“, schließt aller-
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dings auch, wovon jedoch nicht weiter die Rede ist, „das Flö-
ten- und Zitherspiel“ mit ein. (ebd.) Alle Gattungen der Dicht-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

kunst kommen in dem Punkt überein, daß sie Nachahmungen


sind. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Mittel der
Nachahmung, d.h. mit Blick auf Rhythmus, Sprache und Melo-
die. (vgl. ebd.) Hegel bezeichnet das Verfahren seiner eigenen
Ästhetik, seiner Vorlesungen über die Philosophie der Kunst,
als ‚lemmatisch‘, womit er ausdrücken will, daß sein Begriff von
Kunst resp. Ästhetik als ein durch das System seiner Philoso-
phie gegebener, also vorausgesetzter Begriff verstanden werden
müsse. Ähnlich lemmatisch verfährt auch Aristoteles, der den
Begriff der Dichtkunst ebenfalls voraussetzt; verbürgt ist er al-
lerdings weniger durch ein System der Philosophie als durch die
Tradition. Tradition und Überlieferung – dasjenige, was anhal-
tend gefällt, könnte man sagen – entscheidet über Wert und
Güte, ja fixiert das Dichtwerk. Aristoteles konstruiert also kei-
nen Begriff, sondern analysiert die Bestandteile von durch Em-
pirie und Tradition legitimierter Dichtkunst, um dann jedoch
(post festum gleichsam) zu durchaus normativen Setzungen zu
gelangen: dieses und jenes sind gute und wahre Dichtwerke.
Die folgenden Kapitel behandeln das Problem der Nachah-
mung, jener Mimesis, die oftmals als Kern und Zentrum der
aristotelischen Dichtungstheorie bezeichnet worden ist. Nach-
18 I. Poetik der Antike

ahmung, so heißt es gleich zu Beginn von Kapitel 2, ist immer


Mimesis von menschlicher Praxis: „Die Nachahmenden ah-
men handelnde Menschen nach.“ (Aristoteles: Poetik, 7) Wo-
bei diese nachgeahmten Menschen entweder besser oder
schlechter oder gar ebenso sind wie wir selbst als Rezipienten,
was Aristoteles zum gattungstheoretischen Unterschied zwi-
schen der Komödie (= Darstellung schlechterer Menschen)
und Tragödie (= Darstellung besserer Menschen) zuspitzt. In
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jedem Fall aber „ahmen“ Dramen „sich Betätigende“ nach.


(vgl. a.a.O. S. 9) Literatur ist Mimesis der Praxis bzw., in einer
Formulierung von Ernesto Grassi, „die ‚künstlerische‘ Poeisis
[wird] als Mimesis bestimmt.“ 4 Hinsichtlich der Art und Weise
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der Nachahmung differenziert Aristoteles zwischen dem Be-


richt, wie ihn das homerische Epos auszeichnet, und der Hand-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

lung, die in Tragödie wie Komödie im Vordergrund steht. Die


Begründung für die Nachahmung verlegt Aristoteles dabei ins
Anthropologische; denn die Tätigkeit des Nachahmens sei den
Menschen „angeboren“, und die ersten Lernschritte des Kin-
des erfolgten über Imitationen, also Nachahmungen. Jeder-
mann, so Aristoteles weiter, empfinde „Freude“ „an Nachah-
mungen“. Wofür er „eine Erfahrungstatsache“ ins Feld führt,
nämlich „von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern
erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildun-
gen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und
von Leichen.“ (a.a.O. S. 11) Hinter diesem vermeintlich empi-
rischen Argument verbirgt sich ein ästhetischer Standpunkt –
und zwar einer, der in der Geschichte der Ästhetik und Poetik
häufig und unter wechselnden Gesichtspunkten und Begriff-
lichkeiten diskutiert worden ist: etwa unter den Begriffen des
Erhabenen (seit Longin) oder – später – des Häßlichen. Ästhe-
tischer Standpunkt meint, daß eine grundsätzliche Distanz zur
faktischen Realität da ist und auch vom Rezipienten (wie
4
Grassi, Ernesto, Die Theorie des Schönen in der Antike, Köln
1962, S. 122.
I. Poetik der Antike 19

selbstverständlich auch dem Produzenten) eingenommen und


durchgehalten wird; nur auf Distanz vermag Häßliches, Grauen-
erregendes, ja Gefährliches ertragen oder sogar „mit Freude“
vernommen zu werden. Um mit einem modernen Begriff des
Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen zu reden: Hand-
lungsentlastung ist immer vorausgesetzt; das Phänomen, das
zum Kunstwerk weiterverarbeitet ästhetische Freude oder Ge-
fallen bereitet, muß ausdrücklich vom wirklichen Leben sus-
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pendiert sein. Was also gefällt, ist das Bild, ist die in den Schein
transformierte Sache, ist dasjenige, was spätere Aristoteles-
Kommentatoren der Renaissance, wie z.B. Castelvetro (1570),
mit Ähnlichkeit („rassomiglianza“) übersetzt haben. Während
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uns die Sache selbst, etwa der Tod, bedrückt und plagt, kön-
nen wir sie im ästhetisch-poetisch gestalteten Werk (mögli-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

cherweise) freudig genießen, sie auf jeden Fall aber anders be-
und verarbeiten: sie belastet uns nicht länger, weil wir von der
Realität entlastet sind. (Über verfehlte Lektüren, solche, die
den Schein für das Sein halten und damit grundsätzlich die
Ebenen verwechseln, handelt die europäische Literatur späte-
stens seit Don Quichotte – mit verheerenden Folgen, wie das
Schicksal einer Emma Bovery beweist. Aristoteles war da
schon weiter!) Auf diesen impliziten ästhetischen Standpunkt
kommt Aristoteles mehrfach wieder zurück, wenn er z.B. mit
Blick auf die dramatisch exponierten Handlungen von „schwe-
rem Leid“, von „Todesfällen“ oder auch von „Schmerz“ und
„Verwundungen“ spricht. (vgl. a.a.O. 37) Es handelt sich um
jene berühmte, periodisch immer wieder neu diskutierte Frage,
warum die Menschen Freude an tragischen Gegenständen
empfinden und woher dieses Gefallen rührt. Für Aristoteles
ist, wie wir sehen werden, die Frage noch leichter zu beantwor-
ten, weil er – und darin schillert seine Argumentation, erhält
sie etwas Zweideutiges – die Poesie zweckhaft besetzt, weil sie
klare Funktionen von ihm zudiktiert bekommt.
Nachahmung bzw. die Tätigkeit des Nachahmens wird von
Aristoteles ganz allgemein in erkenntnistheoretischen Zusam-
20 I. Poetik der Antike

menhängen gesehen. Jedes Erkennen ist Wiedererkennen auf-


grund von Nachahmungen. Als besonders begabt werden end-
lich die Dichter bezeichnet, da sie – der Sprache und ihrer For-
men mächtig – auf privilegierte Weise nachahmen. Aristoteles’
daran geknüpfte weitere Behauptung ist die von einer Naturge-
schichte der Dichtung, die sich aus der Improvisation über das
Epos bis zur Tragödie und Komödie fortentwickelt habe. (vgl.
a.a.O. 13ff.) Kapitel 5 stellt noch einmal Komödie und Tragö-
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die (unter Einschluß des Epos) einander gegenüber und resü-


miert folgendermaßen: „Die Komödie ist, […], Nachahmung
von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede
Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerli-
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che am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit


Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche


Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von
Schmerz.“ (a.a.O. 17) In der Komödie geht es also um
schlechte Menschen, deren Laster häßlich, jedoch, weil sie un-
gefährlich sind und keinen Schmerz ausdrücken bzw. auch
auslösen, der Lächerlichkeit preisgegeben sind. Wir können sie
belachen, uns im Verlachen gleichsam darüber hinwegsetzen.
Das Lächerliche ist das Harmlose, die Komödie mithin jene
Gattung, worin – ganz allgemein gesprochen – „typische Feh-
ler dem Gelächter“ überlassen werden.5
Mit dem 6. Kapitel erreichen wir ein Herzstück der Poetik:
die Einführung und Begründung der Tragödie. Als „Bestim-
mung ihres Wesens“ gibt Aristoteles die „Nachahmung einer
guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter
Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formen-
den Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden ange-
wandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht
durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hier-
durch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen be-
5
Fuhrmann a.a.O. S. 65ff.
I. Poetik der Antike 21

wirkt.“ (a.a.O. S. 19) Auf einige Details ist nun näher einzuge-
hen: Nachahmung einer guten Handlung, auf die Begriffe Jam-
mer (‚eleos‘), Schaudern (‚phobos‘) und Reinigung (‚kathar-
sis‘) – Grundbegriffe tragischer Dichtung, die in der Nachfolge
von Aristoteles anhaltend für Verwirrung gesorgt haben.
Hilfreich für den Gesichtspunkt der Mimesis bzw. Nachah-
mung einer Handlung, worunter man ganz allgemein mit Her-
mann Koller deren Darstellung verstehen sollte6, kann eine
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Stelle aus der „Nikomachischen Ethik“ sein, die das dem Men-
schen Eigentümliche charakterisiert. Dort sagt Aristoteles, daß
das dem Menschen Wesentliche die „Tätigkeit der Seele“ ist,
„die sich nach der Vernunft oder doch nicht ohne Vernunft
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vollzieht“: „wenn also das so ist und wir als die eigentümliche
Leistung des Menschen ein bestimmtes Leben annehmen und
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

als solches die Tätigkeit der Seele und die vernunftgemäßen


Handlungen bestimmen und als die Tätigkeit des hervorragen-
den Menschen eben diese Tätigkeit in hervorragendem Maße,
und wenn endlich dasjenige hervorragend wird, was im Sinne
der ihm eigentümlichen Leistungsfähigkeit vollendet wird –,
wenn das alles so ist, dann ist das Gute für den Menschen die
Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besondern Befähigung,
und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der be-
sten und vollkommensten; und dies außerdem noch ein volles
Leben hindurch.“ (Aristoteles: NE, 1097b. S. 66f.) Um es in
Kürze auszudrücken: Aristoteles meint das „Ethos“ eines
Menschen, demgemäß er handeln soll. Ein Mensch kommt
dann seiner Bestimmung nach, wenn er seine Anlagen reali-
siert, wenn er seinem Ethos gemäß agiert, d.h. wenn er sich

6
Koller, Hermann, Die Mimesis in der Antike, Bern 1954, S. 117.
Zur neueren Diskussion um den Mimesis-Begriff vgl. den Artikel
von Jürgen H. Petersen, ‚Mimesis‘ versus ‚Nachahmung‘, Die Poe-
tik des Aristoteles – nochmals neu gelesen, in: arcadia, Bd. 27,
1992, S. 3-46;außerdem noch: Metscher, Thomas, Mimesis, Biele-
feld 2001.
22 I. Poetik der Antike

ebenso rational wie ethisch verhält. Sich richtig zu verhalten in


aristotelischem Sinne bedeutet: „das Sich-Vollenden, das Sich-
Verwirklichen dem Logos entsprechend, also ein Verhalten
des Menschen zur Meisterung der Leidenschaften, die sich
dem Logos fügen müssen.“ 7
Wenn wir nun diese Bestimmung mit der Poetik-Stelle zu-
sammenbringen, dann ist die Interpretation Ernesto Grassis
wohl einleuchtend, daß „Gegenstand der Mimesis […] nur die
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für den Menschen spezifische Handlung sein [darf], das heißt


diejenige Praxis, die vom Ethos bestimmt wird und von ihm ih-
ren Sinn erhält.“ 8 Mit Blick auf die poetische Form der Tragö-
die bedeutet das die gute Handlung, deren Darstellung beim
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Zuschauer „Jammer“ und „Schaudern“ und eben dadurch am


Ende wieder eine „Reinigung“ bewirkt. Die poetischen Mittel
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

der Nachahmung fixiert Aristoteles in den Aspekten von „Me-


lodik“ und „Sprache“ überhaupt, nachgeordnet schließlich
noch der Bereich der „Inszenierung“, der gleichwohl – rein
technisch – an erster Stelle kommt. (vgl. Aristoteles a.a.O. S. 19)
Als „Nachahmung von Handlung“ bezeichnet er sodann den
„Mythos“, worunter er „die Zusammensetzung der Gescheh-
nisse“ begreift und was man – mit Fuhrmann – ganz allgemein
als Handlungsstruktur, Fabel oder Plot9 ausweisen kann. Die-
ser Gesichtspunkt sei auch der „wichtigste Teil“ bei der Tragö-
die, die ja „nicht Nachahmung von Menschen, sondern Hand-
lung und von Lebenswirklichkeit“ präsentiere. (vgl. a.a.O.
S. 21) Wenig später heißt es auch, daß der Mythos das „Funda-
ment und gewissermaßen die Seele der Tragödie“ ist. (vgl.
a.a.O. S. 23) Hinzu kommen dann die Charaktere, also jene
besseren Menschen als wir selbst, deren Schicksal im Mythos
abgehandelt wird. Zusammengefaßt: „Die Tragödie ist Nach-

7
Vgl. Grassi a.a.O. S. 128.
8
Grassi ebd.
9
Vgl. Fuhrmann, Manfred: Anmerkungen, in: Aristoteles, Poetik,
Stuttgart 1993, S. 110, Anm. 8.
I. Poetik der Antike 23

ahmung von Handlung und hauptsächlich durch diese auch


Nachahmung von Handelnden.“ (ebd.) Weitere Momente sind
dann die „Erkenntnisfähigkeit“ (in bezug auf den Charakter,
der das Vermögen haben müsse, „das Sachgemäße und das
Angemessene“ auszudrücken), die „Sprache“ (als Verständi-
gungsmittel), die „Melodik“ und die „Inszenierung“. Dies sind
die sechs Momente der Tragödie, von denen freilich die wich-
tigsten, wie erwähnt, der Mythos sowie die Charaktere sind –
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oder, mit einer anderen Formulierung: es dreht sich bei der


Tragödie um die Exposition einer Handlung von bestimmten
Charakteren, einer vom Ethos geleiteten Praxis bedeutender
Menschen.
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Bevor Aristoteles auf die Bestimmung von Jammer und


Schaudern bzw. auch der Reinigung eingeht (Kap. 9 und 11),
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

untersucht er noch eine Reihe von weiteren Aspekten – ein


Beweis wiederum dafür, daß der Text der Poetik in der überlie-
ferten Gestalt nicht sehr systematisch erscheint, ja etliche ab-
rupte Wendungen enthält. So betont Aristoteles in Kapitel 7
die Geschlossenheit einer Handlung und die Respektierung ei-
ner bestimmten Größe – Überschaubarkeit –, kommt beiläufig
auf den Begriff des Schönen zu sprechen, der im übrigen an-
sonsten in der Poetik nur an einigen wenigen Stellen (darunter
immerhin der erste Satz!) auftaucht, und hebt in Kapitel 8 die
Einheit der Handlung hervor: „die Nachahmung einer einzi-
gen, und zwar einer ganzen Handlung.“ (a.a.O. S. 29) Mit Blick
auf diese einzige, ganze Handlung muß hinzugefügt werden,
daß dies die einzige Einheit ist, die Aristoteles ausdrücklich
fordert; jene beiden anderen die Dramentheorie der Neuzeit
beschäftigenden Einheiten des Ortes und der Zeit sind Zuta-
ten, die sich erst aus Castelvetros Kommentar ableiten lassen.
Ein anderer zentraler Punkt der Theorie wird im 9. Kapitel
behandelt, wenn Aristoteles über die Aufgaben des Dichters
redet. Im Unterschied zum Geschichtsschreiber, der nur das
mitteilt (und darüber hinaus in der Regel in Prosa), was wirk-
lich geschehen ist, schreibt der Dichter über das Mögliche,
24 I. Poetik der Antike

über dasjenige, „was geschehen könnte.“ (a.a.O. S. 29) Aristo-


teles schließt denn auch daraus: „Daher ist Dichtung etwas
Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung;
denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichts-
schreibung hingegen das Besondere mit.“ (ebd.) Ergänzen soll-
te man freilich, daß hier mit dem Besonderen das Einzelne
bzw. Partikulare gemeint ist im Sinne des Zufälligen. Denn das
Allgemeine tritt selbstverständlich immer auch als Besonderes,
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als „Kategorie Besonderheit“ (G. Lukács) auf. Es geht um je


besondere Schicksale und Handlungen, die freilich vom Rezi-
pienten ins Allgemeine – ins Allgemeingültige – hochgerechnet
werden. Interessant ist dabei der Aspekt des Möglichen. Was
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dann wiederum entscheidende Rückschlüsse auf den Mimesis-


Begriff zuläßt. Wenn es nämlich bei der dramatischen Mimesis
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

um die Möglichkeiten menschlicher Handlungen, um Simula-


tionen bzw. Fiktionen geht, dann muß das Verständnis von
Mimesis als Abbildung oder Repräsentation wirklicher Hand-
lungen relativiert werden.
Vor allem der Altphilologe Koller hat in verschiedenen Pu-
blikationen darauf hingewiesen, daß die aristotelische Bedeu-
tung von Mimesis (auch wenn es eine einzige Stelle gibt, die
den Gedanken des Abbild-Charakters nahezulegen scheint) nie
auf bloße ‚Nachahmung‘ zielt. „Aristoteles ist kein Kronzeuge
für eine realistische Kunst.“ 10 Vielmehr müsse man von so et-
was wie – modern gesprochen – ‚Selbstreferentialität‘ oder auch
‚Autonomie‘, von einem ästhetischen Standpunkt ausgehen,
den Koller so definiert: die Richtigkeit der Darstellung muß an
der Darstellung selbst gemessen werden, „nicht aber an einem
entsprechenden Gegenstand der Wirklichkeit.“ (a.a.O. S. 117)
Werktreue könnte man dazu auch sagen. Koller bezieht sich
auf eine Passage des 25. Kapitels, worin Aristoteles die Fehler
der Dichtkunst aufzählt. So ist etwa der Fehler geringer,
„wenn jemand nicht wußte, daß die Hirschkuh kein Geweih
10
Vgl. Koller a.a.O. S. 118.
I. Poetik der Antike 25

hat, als wenn er ein Gemälde angefertigt hat, das seinen Ge-
genstand schlecht nachahmt.“ (a.a.O. S. 89) Anders gesagt: die
Darstellung muß in sich stimmig sein oder plausibel.
Die Tragödie wie überhaupt alle Literatur spielt Möglichkei-
ten durch, menschliches „Probehandeln“ (D. Wellershoff); sie
erweitert dadurch den Horizont, indem sie Erkenntnis- und
Handlungsperspektiven verbreitert. Sie treibt, so hat es ein
moderner Interpret formuliert, „die Suche nach einer progres-
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siven Vervollkommnung der menschlichen Kultur voran.“ 11


Und ein anderer stimmt denselben Ton an, wenn er, Ernst
Blochs Philosophie des utopischen Vorscheins bemühend,
sagt: Nachahmung sei „Gestaltung von Möglichem, das in der
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Wirklichkeit angelegt ist und […] schon von daher keine Tat-
sachenkopie. So könnte man die aristotelische Kunst-Definition
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

als darstellendes Hervorbringen in sich zweckvoller mensch-


licher Handlung umschreiben, welches nicht sklavisch dem
Vorgegebenen folgt, sondern dem in den Latenzen und Ten-
denzen der Wirklichkeit angelegten Möglichen.“ 12 Bloch war
es schließlich auch, der sich in seiner eigenen Philosophie ver-
schiedentlich auf den aristotelischen Möglichkeitsbegriff, wie
er z.B. in der Metaphysik in seinem Doppelcharakter entwik-
kelt wird, bezogen hat: dem kata to dynaton, dem nach Maß-
gabe des Möglichen, steht das dynamei on, das In-Möglichkeit-
Sein, gegenüber. (Bloch: GW 15. S. 139) Ersteres verweist auf
historische Möglichkeiten, letzteres auf den ontologischen Sta-
tus von Möglichkeit überhaupt. Wenn man denn die Übertra-
gung möchte, könnte man sagen: das kata to dynaton ist Auf-
gabe des Geschichtsschreibers, wohingegen das dynamei on
das Werk des Dichters ist. Nur der Dichter schreibt über das
Mögliche und die vielen Möglichkeiten.

11
Zapf, Hubert, Kurze Geschichte der angloamerikanischen Litera-
turtheorie, München 1991, S. 32.
12
Wiegmann, Hermann, Geschichte der Poetik, Stuttgart 1977, S. 6.
26 I. Poetik der Antike

Allerdings muß er die Gesetze der Wahrscheinlichkeit oder


Notwendigkeit beachten. (vgl. a.a.O. S. 31) Schlecht sind die
bloß episodischen Fabeln und Handlungen, weil sie eben nicht
„nach der Wahrscheinlichkeit noch nach der Notwendigkeit
aufeinanderfolgen.“ (a.a.O. S. 33) In diesem Kontext kommt
Aristoteles auch wieder auf die Gesichtspunkte des „Schauder-
erregenden und Jammervollen“ zurück. Denn diese Wirkungen
im Rezipienten und Zuschauer entstehen, „wenn die Ereignis-
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se wider Erwarten eintreten und gleichwohl folgerichtig aus-


einander hervorgehen.“ (ebd.) Wenn also der Zufall ausgespart
bleibt, jedoch gleichzeitig etwas Wunderbares in die Handlung
hineinkommt. Das Wunderbare muß etwas Überraschendes
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sein, ohne dabei die Gesetze der Natur zu verletzen. Erst viel
später, im 24. Kapitel, greift Aristoteles diesen Gedanken des
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Wunderbaren erneut auf. Dort heißt es dann, daß auch im Ge-


biet der Tragödie dem Wunderbaren Einlaß zu gewähren sei,
denn es bereite Vergnügen, was nicht zuletzt damit zusam-
menhänge, daß, wie aus Alltagsbeobachtungen bereits hervor-
geht, „jedermann übertreibt, wenn er eine Geschichte erzählt,
in der Annahme, dem Zuhörer hiermit einen Gefallen zu er-
weisen.“ (a.a.O. S. 83)
Wieder einmal, hier mit Blick auf Erzähltechniken ausge-
drückt, meldet sich bei Aristoteles so etwas wie ein ästheti-
scher Standpunkt zu Wort, der einmal mit dem Argument der
Distanz operiert, ein anderes Mal mit raffinierten Techniken
zur Aufmerksamkeitssteigerung arbeitet. In jedem Fall wird
Alltägliches transformiert bzw. wird der Referenz- bzw. Ab-
bildcharakter gesprengt. Dargestellte Realität ist immer ästhe-
tisch verfremdete, poetisch raffinierte Wirklichkeit nach Maß-
gabe des Möglichen unter Einschluß des Wunderbaren – etwas
Wahrscheinliches eben. Die Bühne ist die Bühne, das Drama
ist das Drama, und der Zuschauer verbleibt – mindestens so-
lange die Aufführung dauert – in der Rolle des Zuschauers.
An drei unterschiedlichen Punkten soll der ästhetische
Standpunkt von Aristoteles verdeutlicht werden: in bezug auf
I. Poetik der Antike 27

den tragischen Helden, mit Blick auf die poetische Sprache


und schließlich hinsichtlich des Unmöglichen. – Kapitel 15
stellt vier verschiedene Merkmale von Charakteren vor: Tüch-
tigkeit, Angemessenheit, das Ähnliche und das Gleichmäßige.
Aristoteles betont, daß in jedem Fall der Dichter so verfahren
soll wie gute Porträtmaler: „Denn auch diese geben die indivi-
duellen Züge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schö-
ner ab.“ (a.a.O. S. 49) Ähnlich und zugleich schöner, d.h.: der
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Künstler – Porträtmaler oder Dichter – arbeitet mit den Mit-


teln der Stilisierung, Idealisierung und damit Distanzierung.
(Wonach der Fall des in der Antike geschätzten Zeuxis, der
Trauben so ‚ähnlich‘ malte, daß selbst noch die Tauben daran
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pickten, gar nicht mehr auftauchen darf; hätte er sie ‚schöner‘


gemalt, wären die Tauben nicht so versessen darauf gewesen.
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Nur der Mensch, heißt es an einer Stelle bei Karl Marx über
unsere anthropologische Grundausstattung, formiere nach den
Gesetzen der Schönheit!)
In Kapitel 21 beschreibt Aristoteles u.a. die für die poeti-
sche Sprache maßgeblichen Tropen. Eine herausragende Be-
deutung kommt der Metapher zu (vgl. a.a.O. S. 67ff.), die gera-
dezu zum Merkmal des Poetischen erklärt wird: „es ist aber bei
weitem das Wichtigste, daß man Metaphern zu finden weiß.
Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen
erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung. Denn gute Me-
taphern zu bilden bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erken-
nen vermag.“ (a.a.O. S. 75ff.) Im Finden von Metaphern zeigt
sich, um eine Schleiermachersche Formulierung zu gebrau-
chen, daß und inwieweit ein jeder in der Sprache mitzuarbeiten
in der Lage ist; zugleich ist die Metapher für Aristoteles ein
Kriterium des Dichters, eines poietischen Künstlers, der so et-
was wie einen neuen „Beziehungssinn“ (Fr. Nietzsche) stiftet,
weil er (bislang verborgene) Ähnlichkeiten ans Licht der Spra-
che hebt und uns damit neue Aspekte sehen läßt. Der poeti-
sche Genius ist – das impliziert die aristotelische Aussage –
nicht unter Regeln zu zwingen; seine sprachschöpferischen
28 I. Poetik der Antike

Akte und Fähigkeiten sprengen das Korsett regelgeleiteter Sy-


steme. Daher ist die von Paul Ricoeur neuerdings unter An-
schluß an die aristotelische Definition der Metapher (in der
Poetik ebenso wie in der Rhetorik) gewonnene Formulierung,
daß die Metapher „das Abenteuer des Wortes“ ist, aufgrund
derer allererst Literatur entsteht, gewiß diskussionswürdig. Ja,
Ricoeur geht noch weiter und stellt – im Sinne Kollers, der
freilich nicht genannt wird – den Zusammenhang von Mimesis
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und dichterischer Rede folgendermaßen her: „einerseits ist die


Nachahmung zugleich ein Bild des Menschlichen und eine ori-
ginelle Gestaltung; andererseits besteht sie in einer Wiedergabe
und in einer Erhöhung“, wobei dann „das Geheimnis der Me-
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tapher als Sinnverschiebung“ dank der Abweichung von der


gewöhnlichen Sprache gerade zum „bevorzugten Mittel der
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Sinnerhebung, in der die mimesis besteht“, taugt.13 Alles in al-


lem: „In der aristotelischen mimesis“ erkennt Ricoeur „die
Wahrheit des Imaginären, die ontologische Erschließungskraft
der Dichtung.“ 14 Zwar mag dagegen der Einwand erfolgen,
daß für Aristoteles der Gebrauch von Metaphern sozusagen
den sprachlichen „Ausnahmezustand“ 15 darstellt. Andererseits:
ist die Poesie nicht an sich schon der Ausnahmezustand, das
Besondere, das abgehoben von sprachlicher (Alltags-)Praxis
dasteht? Die Ausnahme bildet ihr Gütesiegel und erstes Quali-
tätskriterium.
Schließlich noch der Aspekt des Unmöglichen. In Fortset-
zung seiner Bemerkungen über das Wunderbare in Kapitel 24
geht Aristoteles auch auf die Frage des Unmöglichen ein.
Wenn dieses Unmögliche glaubwürdig ist, dann soll ihm der
Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist, gebühren.
Auch darin erkennt man wieder die Werktreue bzw. den Ge-

13
Ricoeur, Paul, Die lebendige Metapher, München 1986, S. 51f.
14
Ricoeur a.a.O. S. 55.
15
Greisch, Jean, Hermeneutik und Metaphysik, München 1993,
S. 78.
I. Poetik der Antike 29

sichtspunkt der Wahrscheinlichkeit. Wenn das Werk, die Hand-


lung und die Charaktere in sich einheitlich und stimmig aus-
sehen, dann kann selbst das Unmögliche darin integriert wer-
den. Als Beispiel führt Aristoteles hier Porträts von Zeuxis an,
der angeblich Menschen dargestellt habe, die auf diese Weise
unmöglich in der Wirklichkeit vorkämen. Worauf er dann ant-
wortet, daß Zeuxis die Menschen eben „zum Besseren hin ge-
malt“ habe; „das Beispielhafte muß ja die Wirklichkeit über-
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treffen.“ (a.a.O. S. 93)


Aus allen Fällen spricht recht eindeutig Aristoteles’ ästheti-
scher Standpunkt, sein Votum für die aus der herrschenden
Alltagspraxis herausgehobene Stellung der Poesie. Künstleri-
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sche Mimesis ist – in aller Kürze noch einmal – Mimesis von


Praxis, worunter ein ideales – ebenso idealisiertes wie stilisier-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

tes – Handeln nach den Gesetzen des Wahrscheinlichen und


der Möglichkeit zu verstehen ist. Und dargestellt bzw. insze-
niert wird ein bestimmter Mythos, der ebenso wie die handeln-
den Charaktere einheitlich und in sich gerundet oder abge-
schlossen zu sein hat.
Kehren wir nun wieder an die Anfänge der Poetik zurück,
an die Ausführungen über die Tragödie, wie Kapitel 6 sie dar-
legt. – Zweck der Mimesis bei der Tragödie sind eleos und
phobos, Jammer und Schaudern, die im Zuschauer hervorge-
rufen werden sollen, damit er sich zugleich wieder von derarti-
gen Erregungszuständen reinige. (vgl. a.a.O. S. 19) Was mag
darunter zu verstehen sein? Anhaltend kontrovers ist dasjeni-
ge, was Aristoteles im Begriff der Katharsis (freilich nur an ei-
ner einzigen Stelle unter dieser Terminologie) faßt, im Laufe
der Jahrhunderte diskutiert worden. Versteht man unter der
Mimesis eine irgendgeartete Abbildung oder Nachbildung von
(außerkünstlerischer) Wirklichkeit, dann löst sich das Kathar-
sisproblem leichter auf: dann nämlich meint Katharsis die ad-
äquate Rezeption der Mimesis, die Wiedererkennung qua Em-
pathie. Wenn Literatur, insbesondere natürlich die Tragödie,
ästhetisch heteronom, mit Blick auf außerliterarische gesell-
30 I. Poetik der Antike

schaftliche Zusammenhänge definiert wird – man könnte sa-


gen: funktionalisiert –, dann ist die Angelegenheit einfach zu
lösen. Wenn man den Abbildcharakter jedoch mit guten Grün-
den bestreiten kann, dann stellt der Gesichtspunkt der Kathar-
sis vor erhebliche Probleme – vor Probleme, die einer be-
stimmten Rezeptionsrichtung von der Renaissance bis zur
Aufklärung im Blick auf eine moralisierende Betrachtung bzw.
Auslegung der Tragödie geschuldet sind. Aristoteles’ Argu-
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mentation ist jedoch alles andere als moralisch. Jammer und


Schaudern müssen in psychophysischem Sinne begriffen wer-
den, als, wenn man so will, Seelenhygiene. Auch der Begriff
einer „kollektiven Psychotherapie“, von der ein neuerer Inter-
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pret gesprochen hat, mag angebracht sein. „Die Träume, Äng-


ste und ungelösten Konflikte in der Psyche des Zuschauers
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

werden auf der Bühne symbolisch vergegenwärtigt. […] Und


im Akt der Identifikation mit dieser vergrößerten und intensi-
vierten Version seines Alltagslebens kann der Zuschauer von
seinen ungelösten emotionalen Spannungen gereinigt werden
und die innere Balance seiner Persönlichkeit wiedergewinnen.“ 16
Das Publikum fühlt mit dem tragischen Helden und der dra-
matisch exponierten Handlung mit, versetzt sich in sie hinein,
empfindet Jammer und Schaudern beim tragischen Ausgang
und befreit sich auf diese Weise schlußendlich selbst von den
bedrückenden Affekten. Erst aus dem „erkennende[n] Mitvoll-
zug des Zuschauers“, so interpretiert Fuhrmann, ergibt sich
„seine affektische Beteiligung.“ 17 Schlichter ausgedrückt: der
ganze Mensch ist im Rezipienten gefordert, Verstand und Ge-
fühl, Erkenntnis und Miterleben nötigt ihm die Tragödie ab.
Katharsis also nicht im Sinne von moralischer Verbesserung
und Einweisung in Recht, Sitte und Gesetz einer bestehenden
Gemeinschaft – Kunst mithin eben nicht als moralische An-
stalt –, sondern in anthropologischem Sinne. Darauf haben be-
16
Zapf a.a.O. S. 37.
17
Fuhrmann a.a.O. (Anm. 3) S. 38.
I. Poetik der Antike 31

reits Philologen des 19. Jahrhunderts verschiedentlich hinge-


wiesen18; mit einer neueren Arbeit, die den Stand der For-
schung resümiert, läßt sich festhalten: „Katharsis baut Erre-
gungszustände homöopathisch und ohne jegliche Gefährdung
ab. Sie hat keine der öffentlichen Sitte und Ordnung Gefahr
bringenden Folgen […]. Katharsis ist harmlos. Die Katharsis,
für Platon noch Ursprung theologisch-politischer Verwirrung,
ist für Aristoteles nur unschädliche ‚Bewegung der Seele‘, […],
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die keine Aufwallung der Affekte (wie von Platon beanstan-


det), sondern sogar deren Beruhigung zur Folge hat […].“ 19
Aristoteles bezieht eindeutig seinen nun bekannten ästheti-
schen Standpunkt, der alle Fragen nach der Moral, nach den
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Zweckanweisungen suspendiert. Die durch eleos und phobos


ausgelöste Katharsis ist keine Reinigung der Leidenschaften,
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

sondern vielmehr eine von den Leidenschaften, was das „hier-


durch“ in der Übersetzung Fuhrmanns der betreffenden Stelle
erklären mag: „Nachahmung von Handelnden […], die Jam-
mer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung
von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (a.a.O. S. 19)
Nicht um den sittlich-praktischen Nährwert der Tragödie han-
delt es sich, sondern um das Vergnügen an tragischen Gegen-
ständen – modern gesprochen: um den ‚thrill‘, die starke sinn-
liche Affektion bzw. den ‚kick‘. Darin ist Aristoteles gewiß
moderner als viele seiner Nachahmer, Kommentatoren und
Epigonen späterer Jahrhunderte, mögen sie nun Gryphius,
Lessing und Schiller oder Corneille und Racine heißen.

18
Vgl. insgesamt die Arbeit von Bernays, Jakob, Zwei Abhandlungen
über die Aristotelische Theorie des Drama, Berlin 1880; außerdem
Volkelt, Johannes, Ästhetik des Tragischen, Vierte, neubearbeitete
Auflage, München 1923, S. 278ff.
19
Thiele, Michael, Die Negation der Katharsis, Zur Theorie des ari-
stotelischen Begriffs als ästhetisches Phänomen, Düsseldorf 1982,
S. 61f.
32 I. Poetik der Antike

Wodurch aber wird die tragische Wirkung erreicht? Jammer


und Schaudern, so Aristoteles in Kapitel 11, werden vor allem
durch die Peripetie und die Wiedererkennung erzielt; Peripetie
bedeutet den „Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in
das Gegenteil“, und die Wiedererkennung meint den „Um-
schlag von Unkenntnis in Kenntnis“. Als dritten Aspekt fügt
Aristoteles noch „das schwere Leid“ hinzu. (vgl. a.a.O. S. 35ff.)
Alles in allem soll die Zusammensetzung der Tragödie nicht
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einfach, sondern kompliziert sein, was beinhaltet, daß der


Idealfall eines Helden jener ist, wo jemand „nicht trotz seiner
sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeits-
strebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Ge-
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meinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen


eines Fehlers – […].“ (a.a.O. S. 39) Solche Fälle erkennt Ari-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

stoteles im Schicksal eines Ödipus oder Thyestes. Die auf die


Bühne gebrachten Charaktere dieser Männer müssen vier
Merkmale aufweisen: sie sollen tüchtig sein, sollen sich ange-
messen verhalten, müssen (uns und dem überlieferten mythi-
schen Geschehen) ähnlich sein sowie gleichmäßig, d.h. einheit-
lich. (vgl. a.a.O. S. 47; dazu Fuhrmann Anm. S. 121) Jammer
und Schaudern resultieren also aus der geglückten Verbindung
von Charakteren und einem entsprechenden Handlungsgefüge,
das Aristoteles wiederum nach vier Möglichkeiten durchspielt.
Die beste Möglichkeit ist diejenige, bei der jemand willentlich
und wissentlich eine Tat beabsichtigt, dann davor zurück-
schreckt und am Ende Einsicht zeigt. Diese Möglichkeit – für
uns heute ein gänzlich untragischer Fall! – sieht Aristoteles z.B.
in der Iphigenie. (vgl. a.a.O. S. 45) Hier kommen dann auch
Peripetie und Wiedererkennung wieder zusammen, und die
Zuschauer sind erschüttert. Im Blick sodann auf die Wiederer-
kennung unterscheidet Aristoteles vier Fälle: a) Wiedererken-
nung durch Zeichen, b) vom Dichter erdachte, c) aufgrund der
Erinnerung, d) durch Schlußfolgerung. (vgl. a.a.O. S. 51ff.) In
jedem Fall ist Wiedererkennung, die aus den Geschehnissen
selbst resultiert, die beste.
I. Poetik der Antike 33

Darauf behandelt Aristoteles noch eine ganze Reihe von


sprachlich-stilistischen Dingen, die hinsichtlich der dramati-
schen Exposition, aber auch noch in bezug auf die Unter-
scheidung vom Epos zu berücksichtigen sind, die uns hier je-
doch weniger interessieren. In Kürzestform: „Jede Tragödie
besteht aus Verknüpfung und Lösung.“ (a.a.O. S. 57) „Unter
Verknüpfung verstehe ich den Abschnitt vom Anfang bis zu
dem Teil, der der Wende ins Glück oder ins Unglück unmit-
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telbar vorausgeht, unter Lösung den Abschnitt vom Anfang


der Wende bis hin zum Schluß.“ (ebd.) Während es im Epos
um eine „Handlungsvielfalt“ geht (a.a.O. S. 59), beschränkt
sich das Drama auf eine einheitliche, übersichtliche und ge-
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schlossene Handlung. Die Gesetze der Rhetorik, so führt


Aristoteles in Kapitel 19 aus, behandeln den Aspekt der Ge-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

dankenführung, etwa „Beweisen und Widerlegen“, wodurch


dann die Affekte Jammer und Schaudern hervorgerufen wer-
den. (vgl. ebd.) Endlich kommt er noch auf die Elemente der
Sprache überhaupt und die poetische Sprache zu reden. Ins-
gesamt, so Aristoteles, sei – neben dem Gebrauch der Meta-
pher – die vollkommene sprachliche Form „klar“ und „nicht
banal“, eine Mischung verschiedenster Aspekte, wozu etwa die
Neubildung, Erweiterung oder Verkürzung gehören. (vgl.
a.a.O. S. 67ff.)
Den Schluß der Poetik bildet eine kleine Apologie der Tra-
gödie, die Aristoteles nun eindeutig über die anderen Gattun-
gen stellt, namentlich vor allem über das Epos. Die bis dahin
weitgehend deskriptiv verfahrende Begründung, die eine Fülle
empirischen Materials aufgeboten und durchmustert hat, kippt
völlig ins Normative um. Die Tragödie sei besser als das Epos,
weil sie schneller zum Ziel gelange, weil sie die „Nachahmung
mit einer geringeren Ausdehnung“ verknüpfe und dadurch
„mehr Vergnügen“ bereite. (a.a.O. S. 97) Endlich erreiche die
Tragödie „ihre Wirkung besser“ (a.a.O. S. 99) – nämlich eleos
und phobos und damit die Katharsis aufgrund einer drama-
tisch einheitlichen Handlung, einer Mimesis der Praxis.
34 I. Poetik der Antike

2. Horaz

Nach Aristoteles entsteht eine gewaltige theoretische Lücke,


ein ästhetisches Vakuum, das erst Horaz (65-8 v. Chr.) wieder
im letzten Lebensjahrzehnt seines Schaffens mit seinem Brief
an die Pisonen, seit Quintilian als „Ars poetica“ bezeichnet,
schließt. Ausgedehnte philologische Forschungen seit dem
19. Jahrhundert haben jedoch ergeben, daß die Horazische
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Versepistel, worin sich ebenso aristotelisches wie hellenisti-


sches Gedankengut spiegelt, eine zentrale Quelle erkennen
läßt: die Poetik des Neoptolemos, die – selbst nicht erhalten –
vom Horaz-Kommentator Porphyrio erwähnt und schließlich
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aufgrund der wiedergefundenen Schriften des Philodemos von


Gadara in ihren Hauptzügen bekannt gemacht worden ist.20
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Insofern kann man mit einigem Recht davon sprechen, daß


Horaz die Brücke zwischen den älteren antiken Auffassungen
und dem Hellenismus darstellt.
Die erste und zentrale Irritation der Horazischen Schrift
bildet ihre Präsentation. Sie ist, was sogleich in die Augen
fällt, keine systematische Abhandlung, keine Theorie im ei-
gentlichen philosophischen Sinne. Dafür springt ihr Verfas-
ser zu sehr hin und her, argumentiert nicht und läßt sich zu
diversen Gedankenspielen verleiten. Alle Versuche, aus der
Horazischen Schrift eine einsichtige Ordnung herauszulesen,
sind daher gescheitert. Es handelt sich um ein Stück Dich-
tung, um ein Lehrgedicht in der Gestalt einer Versepistel.
Eine Verbindung aus Dichtung und Reflexion über Dichtung
– oder: ein Werk dichterischer Selbstreflexion, das sein Ver-
fasser geschrieben hat, nachdem er bereits auf ein stattliches
Œuvre zurückblicken konnte, auf Satiren, Epoden, Oden und
Episteln.

20
Vgl. dazu ausführlich Fuhrmann a.a.O. (Anm. 3) S. 145-161.
I. Poetik der Antike 35

Ernst Topitsch hat die Schrift eine „kunstvoll geführte Plau-


derei“ genannt.21 Angeknüpft hat er an die Arbeit Friedrich
Klingners, der im übrigen auch die kritische Edition der „Ars
poetica“ besorgt hat, worin „das Geheimnis ‚dieses problema-
tischen Werkes‘“ zwar nicht endgültig gelüftet, wohl aber eini-
ges zum Verständnis der Problematik erhellt wird. Klingner
weist nämlich darauf hin, daß Horaz’ „Ars poetica“ zum einen
Briefcharakter trägt und den Pisonen „ernste Lehre und Mahn-
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rede“ vermittelt, zum anderen aber zugleich Satire ist und als
solche ein „Spiegelbild des Dichters“ zeichnet.22 Aufs Ganze,
die Gesamtanlage gesehen, resümiert dann Klingner: Horaz
charakterisiere eine bestimmte Situation, in der die Unberufe-
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nen, die sich als Dichter nur aufspielen, der Dichtkunst selbst
gegenüberstehen. „Zwischen beiden befindet sich Horaz, nicht
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

ohne Ironie verzichtend auf das Dichtertum, aber zugehörig


der wahren Kunst und ihr Anwalt und Lehrer und lebhaft an
dem Ergehen der Kunst in Rom beteiligt. Bald ist er mehr im
satirischen Geplauder dem Unwesen der Gegenseite zuge-
wandt, bald mehr dem Gegenstand seiner Liebe, aber immer
sind doch beide Seiten gegenwärtig. Um ihn sind die Jünger
der Dichtkunst, vor denen er seine Sache vertritt und die etwa
Nutzen ziehen mögen. Ihnen ist er teils lehrend, teils mahnend
und warnend zugewandt. Die angeredeten Pisonen sind gewis-
sermaßen Ehrengäste in dieser Schar; Menschen dieser Art
sind es, in deren Gesellschaft man so spricht wie Horaz es tut.
Die herkömmlichen Kunstlehren mit ihren festen Lehrstücken
sind nicht etwa die Kunst selber oder die hohen Ansichten der
Kunst, worauf Horaz hinblickt, sondern locker aufgerafft und

21
Topitsch, Ernst, Der Gehalt der Ars Poetica des Horaz, in: Wiener
Studien, Bd. 66, 1953, S. 117-130.
22
Vgl. Klingner, Friedrich, Horazens Brief an die Pisonen, Leipzig
1937, S. 14.
36 I. Poetik der Antike

gereiht dienen sie nur dazu, auf das Eigentliche hinzudeuten,


das unausgesprochen bleibt.“ 23
Das ist eine markante Deutung, die uns nicht nur bei unse-
rer kursorischen Beschäftigung mit Horaz’ Schrift leiten soll,
sondern die – mit gutem Recht – den Anspruch späterer Kom-
mentatoren, die in der Glanzzeit der „Ars poetica“ zwischen
dem 15. und dem 18. Jahrhundert aus ihr eine Regel- und An-
weisungspoetik herausdestillieren wollten, wieder relativiert,
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ja ihn zurückweist. Das Eigentliche und Wesentliche – von


Klingner später „die schlackenlos verwirklichte Ordnung des
Gemäßen“ 24 genannt – glänzt durch Abwesenheit. Es bleibt
wohl dabei – und wir werden im folgenden einige Punkte der
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Horazischen Schrift herausgreifen –, daß der Brief an die Piso-


nen so etwas wie eine Dichtungs- und Dichterkritik formuliert
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

unter Einschluß einiger ästhetischer sowie gattungspoetischer


Reflexionen.
Wenn sich im Text auch kein pedantisches Schema erkennen
läßt, so kann man doch in gewisser Weise von einer themati-
schen Zweiteilung sprechen, wobei der erste Teil (1-294) werk-
ästhetische Materien, der zweite Teil dann ( 295-476) vor allem
produktions- und wirkungsästhetische Aspekte behandelt.25
Den Auftakt der Schrift bildet ein Bekennntnis zur Freiheit
des Dichters – eine Freiheit ( „zu wagen, was sie nur wollen“
[ Horaz, 5, 10]) jedoch, die zugleich gezügelt werden muß. Das
Werk des Dichters müsse „geschlossen und einheitlich“, ja
ganz sein (simplex, unus, totus; vgl. a.a.O. 5, 23). Andernfalls
entstünde Unsinn, würde Unangenehmes zusammengebracht,
wie Horaz’ Eingangsbild zeigt, das einen Maler vorführt, der
zum Kopf eines Menschen etwa den Hals eines Pferdes füge
usw. Zwar ist seit Demokrit der antiken Vorstellung geläufig,
daß dasjenige, was ein Dichter in heiliger Begeisterung, aus In-

23
A.a.O. S. 61.
24
A.a.O. S. 65.
25
Fuhrmann a.a.O. S. 127ff.
I. Poetik der Antike 37

spiration, niederschreibt, sicherlich schön ist und darüber hin-


aus, wie Cicero auch dem Demokrit zuschreibt, durch „einen
gewissen Anhauch von Wahnsinn“ 26 zustande kommt, doch
muß nach Horaz diese Form der Genialität wieder gebremst
werden. Der Überschwang muß gemäßigt, das gewählte The-
ma, der Stoff soll angemessen präsentiert werden. Daraus könn-
te man nun wieder eine Zuwendung zu einer gewissen Regel-
haftigkeit herauslesen, aber sogleich votiert Horaz ganz im
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Sinne von Aristoteles’ Metapherntheorie dafür, neue Worte zu


prägen. Grundsätzlich formuliert er: „Immer schon war es er-
laubt und wird auch immer erlaubt sein, Wörter, vom Stempel
der Gegenwart geprägt, in Umlauf zu setzen.“ (a.a.O. 7, 58f.)
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Dieses Oszillieren zwischen dem Einerseits und dem Ande-


rerseits ist überaus charakteristisch für Horaz und läßt sich an
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

vielen Stellen des Textes beobachten. Es ist die Dialektik von


Tradition und Innovation, von regelgeleiteter Konvention und
genialer Inspiration, was sich wie ein Faden durch diese Poetik
hindurchzieht. – Einige repräsentative Stellen hierzu: In den
Zeilen 99-100 heißt es etwa, daß es nicht genügt, daß Dichtun-
gen bloß schön sind, sie müssen auch gewinnend sein, d.h. sie.
sollen den Sinn des Hörers lenken, wohin sie nur wollen („non
satis est pulchra esse poemata: dulcia sunto/ et quocumque
volunt animum auditoris agunto.“ [a.a.O. 10, 99-100]). Mit an-
deren, nämlich den berühmtesten wie berüchtigsten Worten
der Poetik überhaupt: „Entweder nützen oder erfreuen wollen
die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs
Leben ist, sagen.“ („aut prodesse volunt aut delectare poetae/
aut simul et iucunda et ideonea dicere vitae.“ [a.a.O. 24, 323-
324]) Der ästhetische Standpunkt wird uno actu wieder gebro-
chen, Literatur wird heteronom bestimmt: Gefallen und Nut-
zen werden zugleich als Merkmale gesetzt. Dem korrespon-
diert eine weitere Stelle, worin sich Horaz Gedanken macht
über Handlungen und Charaktere von Tragödien und dann
26
Capelle, Wilhelm ( Hg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1968, S. 465.
38 I. Poetik der Antike

zum Schluß kommt, daß der Dichter entweder der Sage folgen
oder aber erdichten soll, also entweder an die Tradition und
Überlieferung anknüpfen oder aber seine Inspiration benutzen
soll. (vgl. a.a.O. 11, 119-122) Einerseits – andererseits, ohne
dialektische Vermittlungen.
Die Quintessenz seiner Vorstellung, gewissermaßen die Lö-
sung zieht Horaz in den Versen 408ff., wo es heißt, daß ‚stu-
dium‘ und ‚ingenium‘ zu gleichen Teilen angenommen werden
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müssen und sich gegenseitig auf die Sprünge helfen: „Ob durch
Naturtalent eine Dichtung Beifall erringt oder durch Kunst-
verstand, hat man gefragt. Ich kann nicht erkennen, was ein
Bemühen ohne fündige Ader oder was eine unausgebildete Be-
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gabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andren und ver-
schwört sich mit ihm aus Freundschaft.“ (a.a.O. 31, 408-411)
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Die Naturanlage ist Voraussetzung, Talent eine Notwendig-


keit, um danach, den Gebrauch der Regeln kennend, poetische
Werke verfassen zu können. Wer einseitig die eine oder die an-
dere Seite bevorzugt, verfehlt die Dichtkunst. So hat Horaz für
den rasenden Dichter – ein Beispiel für das ungebremste Ge-
nie – nur Spott übrig; dieser stürze sich ins Verderben, wie
Empedokles in den Ätna. (vgl. a.a.O. 33, 453ff.) Vor dem ‚fa-
naticus error‘ (454) schützen das Wissen um die Regeln, die
Kenntnis der Alten und das Bewußtsein von Tradition. Die
‚Mimesis‘ – das ist nun der entscheidende Punkt bei Horaz –
ist allerdings nicht länger in aristotelischem Sinne Nachah-
mung von Praxis, sondern Nachahmung von Kunst, die auf-
grund von Tradition verbürgt und allgemein akzeptiert ist. Was
schließlich wiederum impliziert, daß auch das ‚ingenium‘ des
Poeten nicht zuletzt auf dem Wissen um die Kunst der Alten
aufbaut. Eckart Schäfer hat daher zu Recht im Nachwort zu
der von ihm herausgegebenen Übersetzung von Horaz betont,
daß Horaz „keine deskriptive Poetik, die sich die Erkenntnis
von Kunstgesetzen zum Ziel bestimmt, sondern ein Literatur-
programm, das auf ein bestimmtes Kunstideal verpflichten
will“, geschrieben hat. (vgl. Horaz a.a.O. S. 61) Aristoteles
I. Poetik der Antike 39

winkt an allen Ecken und Enden, ohne daß eine direkte Beein-
flussung oder Kenntnis nachweisbar wäre, und überhaupt ist
Horaz wenig originell. Er deutet die Regeln der Dichtkunst
entsprechend den Erfordernissen seiner Zeit um; er bewahrt
den klassischen Kanon, weil er selbst, wie Fuhrmann es ausge-
drückt hat, „nach Klassizität“ strebt.27 Zusammenfassend: Die
„Ars poetica“ „begnügt sich damit, das Gültige zu kodifizieren;
sie bietet eine Synthese dar, so sehr sie auch eklektisch mit ih-
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rem Stoffe verfährt; sie zieht die Summe ihrer Epoche, der au-
gustinischen Klassik, die ihrerseits in ihren theoretischen Auf-
fassungen stark in der Schuld des Hellenismus steht.“ 28
Abgesehen vom Klassizismus und Eklektizismus der Hora-
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zischen „Ars poetica“ ist dennoch sein ‚ästhetischer Stand-


punkt‘, wie ich es nennen möchte, bemerkenswert. Denn Ho-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

raz stellt – modern formuliert – auf die Selbstreferentialität des


Kunstsystems um. Es geht ihm nicht um Naturnachahmung,
damit um eine Fremdreferentialität, wenn man so will, sondern
explizit um Kunstnachahmung. Vorbilder für die Kunst stam-
men selbst wieder – und immer nur – aus der Kunst: aus anti-
ken Quellen, Homer insbesondere und den tragischen Klassi-
kern. Diese bilden Norm und Muster, sind die Bezugspunkte.
Womit dann ein ästhetisch-poetologisches Denken bei Horaz
installiert wird, das über Jahrhunderte hinweg Geltung besitzen
soll. Nicht nur die Renaissance-Poetik, sondern noch maßgeb-
liche Theoretiker der Aufklärung greifen fleißig auf Horaz,
dessen Poetik z.T. einflußreicher als die des Aristoteles war,
zurück. Nicht nur Gottsched mit seinem „Versuch einer criti-
schen Dichtkunst“ (1729), sondern selbst noch eine Über-
gangsgestalt – und gewiß Zentralfigur der literarischen Ent-
wicklung im mittleren 18. Jahrhundert in Deutschland – wie
Christian Fürchtegott Gellert stellt sich unmittelbar in die
Nachfolge Horazens, wenn er in seiner Rede „Wie weit sich
27
Fuhrmann a.a.O. S. 114.
28
Fuhrmann a.a.O. S. 125.
40 I. Poetik der Antike

der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie er-


strecke“ von 1756 ganz in Horazschem Sinne sagt: „Wenn
man nicht Genie, nicht Gelehrsamkeit besitzt: so werden uns
die Regeln in der Ausarbeitung zu nichts helfen, als daß sie uns
die kunstmäßige Einrichtung einer Rede, oder eines Gedichts,
entwerfen und beurteilen lehren. Haben wir Genie, so können
uns die Regeln viel nützen; aber sie können uns doch die An-
wendung nicht lehren. Diese kömmt auf unsre Einsicht, auf
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unsern Geschmack an.“ 29

3. Longinus
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Einer der Großen der Altphilologie des 19. Jahrhunderts, Ul-


I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

rich von Wilamowitz-Möllendorff, urteilt in seiner Geschichte


der griechischen Literatur des Altertums folgendermaßen über
( Pseudo-)Longinus und seine Abhandlung „Vom Erhabenen“:
sie sei „das schönste stilkritische Buch der Griechen.“ „Sie wen-
det sich gegen den Sikelioten Cäcilius, einen offenbar höchst
energischen, kenntnisreichen und betriebsamen Rhetor, der
aber ein allzu fanatischer Attiker war, so daß seine Bücher ver-
loren sind. Die Gegenschrift hat ihren Stoff zum überwiegen-
den Teile von ihm übernommen, aber sie führt von sich aus
ins Feld, was man bei einem Griechen so selten findet, das Ge-
fühl für das Ursprüngliche, Unbewußte, das Naturgroße: das
hat der Mann bei keinem Rhetor gelernt; philosophische Bil-
dung ist unverkennbar. Er hat denn auch das bittere Gefühl, in
einer verkümmerten epigonenhaften Welt zu leben: der Welt-
frieden des Kaiserreichs ist für diese freie Griechenseele nur
der eines Käfigs, wie für die seines jüdischen Zeitgenossen

29
Gellert, Christian Fürchtegott, Gesammelte Schriften, Kritische,
kommentierte Ausgabe, Bd. 4, Roman, Briefsteller, ( Hg.) Bernd
Witte u.a., Berlin, New York 1989, S. 197.
I. Poetik der Antike 41

Paulus.“ 30 Jahrzehnte zuvor bereits hat Hegel in seinen Ästhe-


tik-Vorlesungen an einer Stelle Longin neben Aristoteles und
Horaz plaziert und alle drei als Ärzte der Kunst bezeichnet, die
freilich, wie er eher spöttisch hinzufügt, „für die Heilung der
Kunst noch weniger sichere Rezepte als die Ärzte für die Wie-
derherstellung der Gesundheit“ zu verschreiben haben. Zu-
treffend ist jedoch die Einschätzung, daß es Longins Absicht
gewesen sei, Vorschriften und Regeln zu fixieren, „nach denen
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man hauptsächlich in den Zeiten der Verschlechterung der


Poesie und Kunst Kunstwerke hervorzubringen habe.“ (Hegel
1976. Bd. 1. S. 26f.)
Wilamowitz-Möllendorff ebenso wie Hegel stecken den
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Rahmen ab, innerhalb dessen die Schrift „Vom Erhabenen“ zu


verstehen ist. Über den Verfasser selbst und seine Herkunft ist
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

nur wenig bekannt. Umstritten auch die Datierung der Schrift,


wobei die Hinweise auf Cicero und den Gegner Caecilius von
Kale, gegen dessen Schrift über das Erhabene der Anonymus
(Pseudo-)Longin seine eigene Abhandlung richtet, nahelegen,
die Entstehungszeit zwischen 25 und 40 n. Chr. anzusetzen.31
Möglicherweise war der Verfasser der Schrift ein Rhetor, was
die vielfältigen Anspielungen und Hinweise auf die Redekunst,
nicht zuletzt auch das „pädagogische Ziel“ 32 anzudeuten ver-
mögen.
„‚Longinus‘ war eine freie, unabhängige Persönlichkeit, die
den Weltfrieden des Kaiserreichs eher als Beengtheit erlebte.
Er war ein sehr belesener Mann, der Homer, Herodot, Thuky-
dides, Xenophon, Platon ebenso kannte wie die Tragiker und
Lyriker. Philosophische Bildung ist unverkennbar und äußert

30
von Wilamowitz-Möllendorf, Ulrich, Die griechische Literatur des
Altertums, in: Ders. u.a. (Hg.), Die griechische und lateinische Li-
teratur und Sprache, Berlin 1905, S. 148f.
31
Otto Schönberger: Nachwort, in: Longinus: Vom Erhabenen.
Stuttgart 1988. S. 135f.; Fuhrmann a.a.O. (Anm. 3) S. 163f.
32
Schönberger a.a.O. S. 137.
42 I. Poetik der Antike

sich besonders im Zurückführen großer Gedanken auf seeli-


sche Größe. Dabei hing ‚Longinus‘ keiner Schule in besonde-
rem Maße an. Er war mit Platon und den hellenistischen Phi-
losophenschulen vertraut und ist am ehesten noch als der Stoa
nahestehend zu bezeichnen; Stoiker im strengen Sinne war er
nicht.“ 33 Auch Manfred Fuhrmann spricht in seiner „Dich-
tungstheorie der Antike“ davon, daß man im Grunde genom-
men die Abhandlung als den rhetorischen Traktat eines unbe-
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kannten Verfassers lesen soll, der Anleitungen zur Produktion


erteilt und den Redner als Adressaten anspricht.34
Zwar ist selten vom Erhabenen und der Erhabenheit expli-
zit die Rede, doch stehen sie ständig im Mittelpunkt. Es gibt
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auch keine strenge Definition des Phänomens, viel weniger


noch den Versuch zu einer begrifflich-systematischen Fest-
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

legung. Nur in konzentrischen Annäherungen, in vielen Bei-


spielen positiver wie negativer Art umkreist der Verfasser das
Erhabene. Am deutlichsten noch fällt die Gegnerschaft zu
Caecilius ins Auge, dessen Schrift nach Meinung von Longinus
„ihrem Thema nicht ganz gerecht wird, das Wesentliche kaum
erfaßt und den Lesern nur wenig jedenfalls von dem Nutzen
gewährt, den ein Autor vor allem anstreben muß.“ (Longinus,
S. 5) Weiterhin moniert Longinus, daß Caecilius den Wirkungs-
aspekt des Erhabenen – die Förderung unserer Natur und
Steigerung zu einer gewissen Größe – völlig übergangen habe.
(vgl. ebd.) Demgegenüber dann behauptet er, „daß die erha-
bensten Stellen Vollendung und Gipfel sprachlicher Gestal-
tung sind und die größten Dichter und Schriftsteller nur durch
sie den Preis errangen und ihrem Ruhm Unsterblichkeit ge-
wannen.“ (ebd.) Schon der anschließende Satz unterstreicht die
wirkungsbezogene Argumentation des Verfassers, wenn er da-
von spricht, daß das Großartige die Hörer nicht überzeugt
sondern verzückt, weil von ihm „unwiderstehliche Macht“
33
Schönberger a.a.O. S. 136.
34
Fuhrmann a.a.O. S. 164.
I. Poetik der Antike 43

ausgehe. (vgl. a.a.O. S. 7) Implizit mindestens drückt sich hier-


in auch eine gewisse Gegenstellung zur durch Horaz festge-
schriebenen Formel aus, wonach die Kunst zu gefallen wie zu
nützen habe. Longinus fordert vielmehr, daß das Erhabene
(im Sinne des Großartigen und Überwältigenden) zur Sprache
kommen soll. Und nur dadurch werde unsere Seele auch „von
Natur aus emporgetragen“, schwinge „sich hochgemut auf“
und werde „mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selbst ge-
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schaffen, was sie hörte.“ (a.a.O. S. 17) Damit aber diese Wir-
kung im Zuhörer bzw. Zuschauer überhaupt erzielt werden
kann, sei es geboten, dem Dichter, dem Genie, durchaus Zügel
in Gestalt von technischen Regeln anzulegen. „Genies brau-
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chen nämlich ebenso oft wie den Sporn auch den Zügel.“
(a.a.O. S. 7) So formuliert Longinus denn auch lang und breit
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Warnungen und stellt Verbotsschilder für die Dichter auf; der


sprachliche Schwulst sei z.B. ein unverzeihlicher, wenn auch
„am schwersten vermeidbare[r]“ Fehler (vgl.a.a.O. S. 11), au-
ßerdem solle man sich vor „unzeitige[m], hohle[n] Pathos“
(ebd.) hüten wie auch vor dem Frostigen. Insgesamt, so resü-
miert Longinus, kommen „diese Stilfehler […] allein aus einer
Ursache, der Jagd nach Neuheit der Gedanken, auf die gerade
unsere Zeit ganz toll versessen ist.“ (vgl. a.a.O. S. 15)
Longinus nennt „fünf ergiebige Quellen“ für hohen Stil: zu-
nächst „die kraftvolle Fähigkeit, erhabene Gedanken zu zei-
gen“, dann die „starke, begeisterte Leidenschaft“, schließlich
„die besondere Bildung der Figuren“ hinsichtlich der „Gedan-
ken- und Ausdrucksfiguren“ sowie im Blick auf „die großartige
Sprache“, am Ende noch „die würdevolle gehobene Wort- und
Satzfügung“. (vgl. a.a.O. S. 19) Fuhrmanns Hinweis, daß Lon-
ginus sozusagen auf die Anthropologie, nämlich die anthropo-
logische Deutung der Ausdrucksmittel, zielt, ist gewiß zutref-
fend.35 Denn er setzt beim Produzenten wie Rezipienten
(modern gesprochen) dasselbe Vermögen voraus: Sprach- und
35
Fuhrmann a.a.O. S. 165.
44 I. Poetik der Antike

Ausdruckskompetenz wie – damit verbunden – eine starke


Sensibilität. Dichter wie Zuhörer werden von Longinus als
Erotiker des Wortes begriffen; der Dichter vermag es, seinen
Affekten Ausdruck zu geben und zugleich wieder die Zuhörer
zu ergreifen. Ohne nun im einzelnen die verschiedenen rheto-
rischen Mittel zu eruieren, von denen die Amplifikation (Stei-
gerung) nicht eben das geringste ist (vgl. a.a.O. S. 37), sei nur
noch kurz auf die Zielperspektive von Longinus hingewiesen.
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Die Kunst sei dann am Ziel, „wenn sie Natur scheint; die Na-
tur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar ein-
schließt.“ (a.a.O. S. 61) Die „schönen Worte“ seien unabding-
bare Voraussetzung für „das wahre Licht des Gedankens“
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(a.a.O. S. 75), und – metaphorisch ausgedrückt – die hellste


Flamme werde von genialen Schriftstellern entzündet, deren
I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

Darstellungen uns „fast bis zur Majestät Gottes“ erheben. (vgl.


a.a.O. S. 89)
Noch einmal und vom Ende her: die Wirkung des Erhabe-
nen – und darauf vor allem stellt Longinus immer wieder ab –
ist die Überwältigung, ist die existentielle Dimension, auf die
Ernesto Grassi zu Recht hinweist. „Ein Werk ist gelungen,
wenn es einem vollendeten Menschen entspringt, und dessen
erhabene Gesinnung nährt sich vom Eros, dem Drang nach
dem Höheren, der das tiefere Wesen des Menschen aus-
macht.“ 36 Ergriffenheit und Überwältigung, so lauten die Si-
gnaturen des Erhabenen bei Longinus: der dichterischen Spra-
che vor allem, woran sich auch in der späteren Renaissance der
Erhabenheit als ästhetischer Kategorie von Burke und Kant
bis zur postmodernen Adaption eines Lyotard grundsätzlich
kaum etwas geändert hat. So trifft denn auch die Bemerkung
von Maria Isabel Pena Aguado, die sich in einer Dissertation
mit der Ästhetik des Erhabenen beschäftigt hat, durchaus be-
reits auf Longinus zu: „Das Erhabene ist kein Epitheton, son-
dern ein Zustand. Dieser Zustand ist allein als Gefühl erfahr-
36
Grassi a.a.O. S. 172.
I. Poetik der Antike 45

bar. Dieses Gefühl tritt als Symptom auf. Stotternde Wörter,


zitterndes Schweigen, ein fast unvernehmbares Murmeln sind
Zeichen, welche eine besondere Sensibilität erwecken. Eine
Sensibilität ohne Referenzen, ohne möglichen Zugriff auf be-
reits Bekanntes.“ 37
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I. Poetik der Antike, 9783838529370, 2020

37
Aguado, Maria Isabel Pena, Ästhetik des Erhabenen, Burke, Kant,
Adorno, Lyotard, Wien 1994, S. 13.
II. Poetik des Mittelalters: Im Dienste des Gotteslobs

Die kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen des mittelalter-


lichen Literaturbetriebs umschreibt der Altgermanist Rüdiger
Krohn in seinem Beitrag für die Literaturgeschichte von Horst
Albert Glaser folgendermaßen:
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Die Entwicklung der mittelalterlichen Literatur führt im wesentli-


chen vom Lateinischen zur Volkssprache und von geistlichen
Schriften über chronikalische Texte zu dichterischen Werken. Die-
ser Abfolge, die ein zeitliches Nebeneinander unterschiedlicher
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

Gattungen sowie Sprachformen keineswegs ausschließt, entspricht


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die Verlagerung der literarischen Zentren von den Klöstern und


Stiften über die Kanzleien an die geistlichen bzw. weltlichen Höfe
und schließlich in die Städte, in denen die Pflege der höfischen
Dichtung erst späterhin durch die Entstehung einer spezifisch
bürgerlichen Literatur abgelöst wurde. Wiederum ist dieser Prozeß
nicht als striktes Nacheinander der einzelnen Entwicklungsstufen
zu verstehen.1
Das Mittelalter insgesamt kennt keine eigentliche Poetik, ge-
nauer gesagt, es geht im wesentlichen nicht über das bereits in
der Antike, insbesondere von Horaz und den antiken Rhetori-
kern (Cicero, Quintilian) Formulierte hinaus. Die Regeln liegen
fest, antike „auctores“ besitzen uneingeschränkte Autorität,
nur der Rahmen, der Kontext sozusagen, in dem sich die Poe-
tik bewegt, hat sich geändert. Denn wesentliche Funktion der
Dichtung ist das Gotteslob. Die Verherrlichung Gottes und
der Aufstieg des Gläubigen zu Gott sind vornehmlichste Auf-
gabe der Dichtkunst. Dichtung selbst ist selbstverständlich
lehr- und lernbar; der Autor hat seine Fähigkeiten, seine Anla-
ge zur Kunst, von Gott. Freilich denkt sich das Mittelalter da-

1
Krohn, Rüdiger, Kulturgeschichtliche Bedingungen, in: Deutsche
Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. von Horst Albert Glaser,
Bd. 1, Reinbek 1988, S. 29.
II. Poetik des Mittelalters 47

bei den Dichter weniger als Genie denn als Handwerker, der
zwar über spezifische Anlagen verfügt, aber insgesamt doch
Kunst nach Regeln produziert. Die Dichtkunst wie die Kunst
überhaupt ist also niemals Selbstzweck, sondern ist funktiona-
listisch eingebunden in die christliche Ontologie. Sie ist stets
Mittel zum Zweck.
Bekanntlich umfaßt das Mittelalter einen enormen histori-
schen Zeitraum von tausend Jahren. Unabhängig aber von
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der Einteilung in bestimmte Epochen, mit Blick auf Deutsch-


land und die deutsche Literatur in die frühmittelalterliche (ca.
750/770 bis 1150/1170), die hochmittelalterliche (ca. 1170
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

bis 1230) und die spätmittelalterliche (bis 1500/1520) Peri-


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ode, bleibt sich das gesamte Mittelalter mehr oder minder


gleich, was die Fragen der Poetik anbelangt. Auch die Bedeu-
tung der Sprachentwicklung, die sich im Verlauf des Mittelal-
ters vom Lateinischen immer mehr zu den Volkssprachen
verschiebt, spielt bei den poetologischen Überlegungen zu-
nächst keine gravierende Rolle. Vielmehr kann man durchaus
feststellen, daß sich jene poetologischen Regeln, die die latei-
nische Literatur – die Literatur der Gelehrten und des Klerus
– festgeschrieben hat, auch in den jeweiligen volkssprachli-
chen Literaturen behaupten. Das spätantike Bildungsgut wird
von den Gelehrten, Klerikern und Schulmännern in ihrer
Sprache weitertransportiert und in einer Reihe von Traktaten
behandelt. Auf diesen Aspekt hat vor allem Ernst Robert
Curtius in seiner bahnbrechenden Studie über „Europäische
Literatur und lateinisches Mittelalter“ (1948) aufmerksam ge-
macht. Curtius nämlich hat mit guten Gründen auf das Wei-
terwirken der lateinischen Spätantike in der mittelalterlichen
Literatur hingewiesen und davon gesprochen, daß die Exi-
stenzweise der Antike im Mittelalter zugleich Rezeption und
Umwandlung umfaßt.
Diese Umwandlung kann sehr verschiedene Formen annehmen.
Sie kann Verarmung, Verwilderung, Schrumpfung, Mißverständnis
48 II. Poetik des Mittelalters

bedeuten, aber auch gelehrtes Sammeln […], schülerhaftes Nach-


buchstabieren, beflissenes Nachbilden formaler Muster, Aneig-
nung von Bildungsgehalten, enthusiastische Einfühlung.2
Auch wenn es im 12. und 13. Jahrhundert zu einem Aufblühen
der Volkssprache kommt, ändert das an der Bedeutung der la-
teinischen Literatur nur wenig. Curtius:
Lateinische Sprache und Literatur reichen in dieser Zeit von ‚Mit-
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tel- und Südeuropa und dem Norden bis hin nach Island, Skandi-
navien, Finnland, im Südosten bis nach Palästina‘ [ P. Lehmann].
Der einfache Mann wie der Gebildete weiß, daß es zwei Sprachen
gibt: die des Volkes und die der Gelehrten (clerici, litterati ). Die
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

Gelehrtensprache, das Latein, heißt auch grammatica und gilt Dante


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– wie schon dem Römer Varro – als eine von weisen Männern er-
fundene, unveränderliche Kunstsprache. Man übersetzte sogar
volkssprachliche Dichtungen ins Latein. Noch Jahrhunderte hin-
durch ist das Latein als Sprache des Unterrichts, der Wissenschaft,
der Verwaltung, der Justiz, der Diplomatie lebendig geblieben.3
Dennoch wäre es falsch zu glauben, daß es im Mittelalter keine
Innovationsschübe gegeben habe. Nur müssen sie anders be-
griffen werden. Walter Haug hat in seiner instruktiven, bündig
zusammengefaßten Einführung in die Literaturtheorie des deut-
schen Mittelalters darauf hingewiesen, daß Innovation in der
Verwendung topischer Elemente zu finden ist.
So stellt sich […] heraus, daß mit traditionellen Versatzstücken al-
lein durch die Art ihrer Kombination höchst individuelle, situa-
tionsbezogene Aussagen möglich sind, wobei die Verschleierung im
Konventionellen einen besonderen Reiz ausmachen kann. Topoi
sind somit nicht nur als Traditionskonstanten zu werten, sie kön-
nen vielmehr als variable Größen fungieren, mit deren Hilfe man
sich zugleich traditionell und individuell gibt. Ja, gerade aus dieser
Spannung heraus kann sich eine besonders sublime Form der gei-

2
Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mit-
telalter, Bern-München 1973, S. 29.
3
A.a.O. S. 35f.
II. Poetik des Mittelalters 49

stigen Auseinandersetzung entwickeln. Individualität realisiert sich


hier in hohem Maße – und das gilt weitgehend für das Mittelalter
überhaupt – in der je spezifischen Verwendung des Traditionellen.4
Mit anderen Worten: Innovation zeigt sich in der souveränen
Beherrschung und Transformation traditioneller Topoi, im
Umgang mit dem Formenkanon. Das gilt gleichermaßen für
die lateinische Dichtung wie für diejenige der Volkssprachen.
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Max Wehrli hat in diesem Zusammenhang auch von „Tradi-


tion und spontaner Neuschöpfung“ geredet. „Diese aber“,
fügt er erklärend hinzu, „ist niemals geniale Hervorbringung
eines „individuum ineffabile“ des Poeten. Der Dichter kann
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

sich nur als Mund und Mittel einer objektiven künstlerischen


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Wahrheit verstehen.“ 5 Objektivität ist verbürgt durch die gött-


liche Welt- und Heilsordnung, eine christliche Ontologie, die
der Dichter zu befestigen und zu vertiefen hilft.
Wie sieht es nun aber im einzelnen mit dem spätantiken
Erbe in mittelalterlicher Dichtung und Poetik aus? Auch da
kann uns zunächst die allgemeine Einschätzung von Max
Wehrli weiterhelfen. Es fehlt eine geschlossene Dichtungslehre
im Mittelalter.
Die Poesie im engern Sinn als Versform ist Teil der Grammatik,
im weiteren Sinn gehört sie zur Rhetorik oder gar Dialektik. An-
ders gesagt: alle Formen der Sprachhandhabung haben unter Um-
ständen mit Dichtung zu tun, diese ruht durchaus auf den Lehr-
und lernbaren Artes und bedient sich insbesondere der Regeln des
„bene dicere“. Zwar wird seit Aristoteles die Dichtung allgemein
von der nicht-poetischen Redeform unterschieden: sie stellt in ih-
rer Nachahmung der Wirklichkeit ( „mimesis“ in einem ganz allge-
meinen Sinn) ein Werk her, während der Redner direkt sein Publi-
kum zu beeinflussen sucht. Aber die Mittel sind doch in beiden

4
Haug, Walter, Literaturtheorien im deutschen Mittelalter, Darm-
stadt 1985, S. 12.
5
Wehrli, Max, Literatur im deutschen Mittelalter, Stuttgart 1984,
S. 110.
50 II. Poetik des Mittelalters

Künsten praktisch dieselben, so daß sich die Poetik der Rhetorik


gleich – oder unterordnet.6
Die Poesie ist abhängig, und zwar von verschiedenen Wissens-
formen, die im System der sogenannten ‚Artes liberales‘ zu-
sammengefaßt sind: es handelt sich um Grammatik, Dialektik
und Rhetorik, das Trivium (= Dreiweg), und um Musik, Geo-
metrie, Arithmetik und Astronomie, das Quadrivium. „Das
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Trivium stellt die Grundlage ma. Wissensvermittlung dar: wer


immer Schulbildung besitzt, verfügt über Kenntnisse aus die-
sem Bereich […]. Das Quadrivium bleibt zunächst denjenigen
vorbehalten, die eine klerikale Laufbahn einschlagen.“ 7
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

Poesie ist also verortet im Netz der ‚Artes liberales‘, wird


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bestimmt von Grammatik, insbesondere aber von der Rheto-


rik. Diese geht im Mittelalter im wesentlichen zurück auf Cice-
ros Abhandlung über den Redner (De Oratore), worin jener das
Ideal eines umfassend gebildeten Rhetors entwirft, auf die
( fälschlicherweise Cicero zugeschriebene) Rhetorik an Herennius
sowie auf Quintilians Institutio Oratoria. Von der „durchgängi-
gen Rhetorisierung der Literatur“ (Wiegmann 1977. S. 22)
sind alle mittelalterlichen Poetiken bestimmt.
Spricht man von mittelalterlicher Poetik, sind insbesondere
drei Autoren mit ihren Arbeiten gemeint: Matthäus von
Vendôme, der eine Dichtkunst (ca. 1175) geschrieben hat, Gal-
fred von Vinsauf mit seiner Neuen Poetik (ca. 1208-1213) und
Johannes von Garlandias Pariser Poetik (nach 1229).
Die Bedeutung von Matthäus von Vendômes Poetik hat der
Latinist Paul Klopsch darin gesehen, daß hier versucht wird,
„das Abfassen von Gedichten in einem selbständigen Lehrge-
bäude darzustellen. Mag auch […] die Ausführung hinter dem
Konzept zurückgeblieben sein, so ist die Ars versificatoria
6
A.a.O. S. 123f.
7
Brandt, Rüdiger, Kleine Einführung in die mittelalterliche Poetik
und Rhetorik. Mit Beispielen aus der deutschen Literatur des 11.
bis 16. Jahrhunderts, Göppingen 1986, S. 3.
II. Poetik des Mittelalters 51

doch als Zeugnis für das erwachte Selbstbewußtsein mittelal-


terlicher Dichter und als wirkungsreiches Lehrbuch von Be-
deutung.“ 8 Vendôme behandelt vor allem Stilfragen, wobei er
den Beschreibungen von Personen wie Sachen eine besondere
Aufmerksamkeit widmet; weiterhin spielt die Figurenlehre eine
wichtige Rolle und dabei vor allem – wie schon bei Aristote-
les – die Frage der Metapher und auch die Farbe (Color) und
Festlichkeit der Worte (festivitas verborum). Er warnt auch
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vor einer Reihe von Fehlern, die sich insbesondere bei antiken
Autoren wie Vergil, Lucan oder Terenz fänden, weshalb es den
modernen (moderni) darum zu gehen habe, nicht in jedem Fal-
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

le bloß sklavisch nachzuahmen.


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Galfred von Vinsauf hat mit seiner Neuen Poetik wohl das
einflußreichste und verbreitetste Werk vorgelegt – noch Dante
und Chaucer haben darauf zurückgegriffen. Er preist die Wür-
de (gravitas) des sprachlichen Ausdrucks und hält der Amplifi-
kation im stilistischen Bereich eine Lobrede. Der rhetorische
Grundcharakter der Abhandlung zeigt sich bereits in der Glie-
derung, die analog zur üblichen Schulrhetorik aufgebaut ist: in-
ventio, dispositio, elocutio, memoria, pronuntiatio oder actio.
Klopsch meint denn auch, daß das Eigentliche der Poesie auf-
grund der starken Systematisierung und Rationalisierung rheto-
rischer Zugriffe hier zu kurz komme.
Johannes von Garlandias Pariser Poetik ist eine komplette
Rhetorik unter Einschluß noch der Epistolographie, sie um-
faßt die gesamte Wortkunst. Bemerkenswert ist die Stillehre, die
drei unterschiedliche Stilgattungen differenziert: den schweren
Stil (gravis stilus), den mittleren (mediocris) und den unteren
(humilis). Diesen werden auf dem Hintergrund der ständi-
schen Rangordnung auch verschiedene Figurenensembles zu-
geordnet. Während z.B. im schweren Stil Feldherrn mit Pferd
und Schwert auftauchen und im mittleren der Bauer mit Och-
8
Klopsch, Paul, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen
Mittelalters, Darmstadt 1980, S. 127.
52 II. Poetik des Mittelalters

sen und Pflug, rangiert auf unterer Ebene der Hirte mit Schaf
und Stab. Man hat deshalb auch von einem „stoffgebundenen
Stil“ (Klopsch) gesprochen: „Der stilus ist ein an eine persona
geknüpftes Sachgebiet mit den dazugehörigen Bezeichnungen,
er ist die materia, repräsentiert durch die nomina der personae
et res […]“ 9
Ebenso wie man sich im Mittelalter wie selbstverständlich
alten Quellen im Hinblick auf poetologisches und ganz allge-
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mein auf jegliches Bildungsgut anschloß, zitierte man immer


dieselben klassischen Autoren in allen Angelegenheiten des Le-
bens und des Wissens. Diese sind nicht nur Wissensquellen,
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„sie sind auch ein Schatz der Lebens- und Weltweisheit. In den
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antiken Dichtern fanden sich Hunderte und Tausende von Ver-


sen, die eine psychologische Erfahrung oder eine Lebensregel
auf knappste Form brachten.“ 10 Walther von Speyer liest um
975 auf der Schule u.a. Vergil, Homer, Horaz, Juvenal, Boen-
thius, Terenz und Lukan. Konrad von Hirsau in der ersten
Hälfte des 12. Jahrhunderts nennt 21 Schulautoren, darunter
neben den Genannten noch die Fabelsammlungen Aesops und
Avians, aber auch Sallust und Ovid sowie den bedeutendsten
frühchristlichen Dichter um 400, Prudentius. Eberhard der
Deutsche vermittelt in seinem rhetorischen Lehrgedicht Labo-
rintus (nach 1212) gar 36 Schulautoren. Eine Hierarchie dieser
Autoren gibt es allerdings nicht; sie sind alle gleich wichtig,
gleich bedeutend – nämlich von überzeitlicher Geltung.
Wie gesagt: Was in den gelehrten lateinischen poetologi-
schen Abhandlungen formuliert wurde, besitzt Gültigkeit auch
für die Literaturen der Volkssprachen. Nur ist es dabei oft
nicht so offenkundig. Vielmehr stecken poetologische Hinter-
grundannahmen in den Selbstaussagen der Dichter, wie sie

9
A.a.O. S. 151f.; vgl. auch Göttert, Karl-Heinz, Einführung in die
Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, München
1991, S. 140-145.
10
Curtius a.a.O. S. 68.
II. Poetik des Mittelalters 53

häufiger in den Vorbemerkungen und Einleitungen – in rheto-


rischer Terminologie: im Proömium – anklingen. Selbstver-
ständlich für alle Dichter ist dabei die Annahme, daß die Kunst
des Dichters auf Können und Wissen beruht, was freilich Got-
tesgaben sind. Die Kunst ist ein verstandesmäßiges Schaffen,
zugleich aber auch ein Zeugnis von Meisterschaft. Epitheta des
Werks sind „hoch“, „groß“ oder auch „recht“.
Einen umfassenden Überblick über die Poetik des Mittel-
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alters in der deutschen Literatur, über das poetologische


Selbstverständnis der Autoren hat Bruno Boesch bereits 1936
gegeben:
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

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An keiner Stelle im Mittelalter erscheint uns die Kunst ohne Absich-


ten und Zwecke außerkünstlerischer Art: sie ist nicht selbstherrlich
eine Welt für sich, sondern aufs engste mit den sittlichen Anschau-
ungen der Zeit verknüpft. An dem ihr zugewiesenen Platz und mit
den ihr zu Gebote stehenden Mitteln hilft sie dem Menschen auf
dem Wege zur höchsten Tugend, der innigsten Verschmelzung hö-
fisch-christlicher Lebensführung. Auch da, wo sie ergötzen und un-
terhalten will, tut sie es nicht um der selbsgenügsamen Freude am
Stoff oder am Spiel der Phantasie willen; höfisches Dichten ist nie
freies Schaffen, es erhält seine Aufgabe grundsätzlich von Außen, ist
ein ‚ästhetisch-unterhaltsames, lehrhaft-nützliches Wirken im Dienst
der Gesellschaft‘. (Boesch 1936, S. 27)
Am besten erhellt das aus einer kurzen Bemerkung Konrad
von Würzburgs im Eingang seines Silvester, wo es heißt:
ez [daz maere] tribet vürder und verjaget
den liuten swaeren urdrutz
und git da bi so richen nutz
daz man dervon gebezzert wirt. (zit. nach: Boesch a.a.O. S. 27 )
Literatur soll also – hier wirkt wieder das Erbe Horaz’ – eben-
so nutzen wie gefallen; sie soll dem Menschen Freude und
„nutz“ geben, ihn aber auch bessern im christlichen Sinne des
Wortes. Literatur ist lehrhaft, der pädagogisch erhobene Zeige-
finger schaut aus allen Texten hervor, sei sie explizit religiösen
54 II. Poetik des Mittelalters

Inhalts wie die Chroniken und das geistliche Spiel oder welt-
lich orientiert wie die Minnelyrik, die Spruchdichtung und Pro-
sagroßepen, z.B. der Renner. Belehrung ist und bleibt konstitu-
tives Element von Literatur.
Boesch belegt das an zahllosen Beispielen. Kunst soll zur
Tugend führen und Würde erzeugen; sie ist die Führerin. In
Gottfrieds Tristan kann man lesen:
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ez [daz maere] staetet triuwe und tugendet leben,


ez kann wol lebene tugende geben.
(zit. nach Boesch a.a.O. 33)
Und bei Konrad heißt es dazu:
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

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man überhübe tugende vil,


die niht zu liehte würden braht,
ob sanges unde rede gedaht
nie waere in tiutscher zugen.
(zit. nach Boesch a.a.O. S. 33)
Zugleich ist Kunst ein Spiegel, Abbild der Wirklichkeit, kon-
frontiert den Menschen mit tugendhaftem ebenso wie mit ver-
werflichem Verhalten: „der eren spiegel ist diu scham“ (Der
Marner, zit. nach: Boesch a.a.O. S. 52); „gesang ist ein man,
der zucht und scham zu aller zit duot leren“ (Muscatblüt, zit.
nach: Boesch a.a.O. S. 52).
Dennoch ist man zugleich auch wieder skeptisch in bezug
auf die Wirkung von Dichtkunst, selbst noch was die Predigt
anbelangt So meint etwa Hugo von Trimberg in seinem Renner :
Swi vil ir tihten oder schriben,
doch küne wir unzuht niht vertribe.
manic dinc buoz ungerochen beliben
an boesen mannen und boesen wiben.
(zit. nach Boesch a.a.O. S. 54)
Neben dieser Dimension von Kunst existiert noch die durchaus
weltliche Funktion, nämlich zur Steigerung des Lebensgefühls
beizutragen. Markantestes Beispiel dafür ist etwa Gottfried von
II. Poetik des Mittelalters 55

Straßburg: Kunst verschönert den Alltag, adelt das Leben, ist


Freudenspenderin, erleichtert von Not und Sorgen. Im beson-
deren mindert sie die „swaere“, heilt also den Liebeskummer:
der [der welde] han ich mine unmüezekeit
zu kurzewile vür geleit,
daz si mit minem maere
ir nahe gende swaere
ze halber senfte bringe,
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ir not da mite geringe.


(zit. nach Boesch a.a.O. S. 67 )
Und überhaupt muß Gottfried in seinem Tristan als Dichtungs-
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

theoretiker par excellence angesehen werden.


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In einer vielgenannten Erörterung biegt er von dem geraden Wege


seiner Geschichte ab, um sich mit seinen dichterischen Zeitgenos-
sen auseinander zu setzen und seine künstlerischen Prinzipien dar-
zulegen. Anstatt Tristans Ritterschlag rasch zu erzählen und ihn in
seine ersten Jugendtaten zu begleiten, wie es das Epos erfordert
hätte, erklärt er, in der Beschreibung des Festes mit seinen Vor-
gängern nicht wetteifern zu wollen, und redet dann nicht bloß von
den Epikern, die vor ihm gedichtet, sondern auch von den Lyri-
kern, die gar nichts bei der Sache zu tun haben. Die Charakteristi-
ken selbst, die er entwirft, sind allerdings glänzend und gehören zu
den schönsten Proben der geistigen Freiheit und der zart bezeich-
neten Worte, welche damals in Deutschland für literarische Urteile
zu Gebote standen. Er spricht mit Bewunderung von Hartmann
von Aue, von Glicker von Steinach […], von Heinrich von Velde-
ke, Reinmar von Hagenau und Walther von der Vogelweide. Aber
er polemisiert auf das heftigste gegen einen Ungenannten, den er
mit Gauklern und Taschenspielern vergleicht, der nach dunklen
Worten suche und der mit seinen Geschichten einen Erklärer aus-
schicken müsse. Gottfried dagegen will den Dichterlorbeer nur
demjenigen zugestehen, dessen Rede glatt wie eine Ebene sei, über
die ein Mann von schlichtem Sinn ohne Straucheln traben könne.11

11
Scherer, Wilhelm, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin
1917, S. 145; vgl. dazu auch: Haug, Walter, Literaturtheorien im
deutschen Mittelalter a.a.O. S. 191ff.
56 II. Poetik des Mittelalters

Ir ist so vil, die des nu pflegent,


daz si daz guote zübele wegent,
daz übel wider zu guote wegent:
die pflegent niht, si widerpflegent.
Cunst unde nahe schinen sehender sin
swie wol diu schinen under in,
geherberget nit zuo zin,
er leschet kunst unde sin.
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(Es gibt heutzutage viele, die es sich angelegen sein lassen, das
Gute schlechtzumachen, während sie das Schlechte für gut erklä-
ren. Solche Leute fördern [das gute/die Kunst] nicht, sondern
schaden [ ihm/ihr]. Wie gut Kunst und genaue Urteilskraft auch
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

zusammenspielen mögen, wenn Bosheit sich bei ihnen einnistet,


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dann erstickt sie die Kunst wie den kritischen Geist.)12


Eine treffende Zusammenfassung mittelalterlicher Ansichten
zur Poetik und Funktion der Literatur im Leben der Gesell-
schaft hat Bruno Boesch an einer Stelle seiner Monographie
gegeben, die daher hier in voller Länge wiedergegeben sei:
„Die Darstellung der Wahrheit erscheint dem mhd. Dichter
als ein Haupterfordernis, das an sein Werk gestellt wird. Daß
es sich dabei um ein Stück antiker Kunstanschauung handelt,
ist längst erkannt. Bei geistlichen Autoren, die weltliche Er-
zählungen nicht bloß als sündhafte, sondern geradezu als lü-
genhafte Gebilde bezeichnen, ist der Begriff der poetischen
Wahrheit identisch mit dem der göttlichen: was als christlich
überlieferte Lehre und Geschichte gilt, hat allein vollen An-
spruch auf Glaubwürdigkeit. Der Wahrheitsbegriff der weltli-
chen epischen Dichter entspricht vielmehr dem historischen:
alles, von dem man verläßliche Kunde besitzt, daß es sich in
Wirklichkeit zugetragen habe, gilt als wahr und der Dichtung
zugänglich. Als weltliche Dichter, „auctor saecularis“, will Gott-
fried als „historiographus“, nicht als „poeta“ aufgefaßt werden;

12
Gottfried von Straßburg, zit. nach: Haug, Walter, Literaturtheorien
im deutschen Mittelalter a.a.O. S. 201.
II. Poetik des Mittelalters 57

unter der wahren Aventiure versteht er nicht die beste Fassung


vom dichterischen Standpunkte aus, sondern vielmehr diejeni-
ge, die der (fiktiven) historischen Wirklichkeit am nächsten
steht. Das Kriterium der geschichtlichen Wahrheit ist analog
dem Exaktheitsbegriff in Wissenschaft und Technik für die
Dichtkunst bedeutsam, dienen doch Dichtung und Wissen-
schaft letztlich den gleichen Zielen. Seiner Quelle steht der
Dichter durchaus nicht kritiklos gegenüber, und es ist ihm
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wichtig, einer zuverlässigen folgen zu können. Freie Erfindung


aus dem ungebundnen Spiel der Phantasie fehlt der mhd.
Dichtung in sehr weitgehendem Maße. Wo wir ihre Spuren
II. Poetik des Mittelalters Im Dienste des Gotteslobs, 9783838529370, 2020

finden, da bedeutet dies einen schweren Vorwurf gegen den


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epischen Dichter. Denn seine Tätigkeit erschöpft sich im


Übersetzen und „im Einkleiden des Stoffes, antiken wie breto-
nischen, wie nationalen, wie legendären, in die volle höfische
Form, in das reife vollkommene Treffen des vollendeten höfi-
schen Stils“. Im Gehalt ist der Dichter nicht schöpferisch;
nicht die Erfindung, die Wandlung ist das Bedeutsame an die-
sem Vorgang. Das Finden des für die einzelne Dichterpersön-
lichkeit und ihre künstlerischen Absichten geeigneten Stoffes
wird zu einer wichtigen Vorarbeit des Dichters. Er verwirklicht
seine Idee nicht in freier Gestaltung, es ist ein in seinen
Grundzügen vorgestalteter Gehalt, der sich seinen Dichter er-
wählt; große Kunst und nicht bloß nachschaffende Überset-
zung entsteht erst da, wo der Dichter es vermag, durch seine
Formkraft in einer neuen Gestalt seine eigene Persönlichkeit in
ihrem ganzen Sein und Wollen zur Verkörperung zu bringen.
In der Form liegt das Wesen des künstlerischen Prozesses. Der
Stoff steht überliefert und gegeben fest.“ ( Boesch a.a.O. S. 75f.)
III. Poetik der Renaissance: Altes in neuer Gestalt

Dante markiert den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit.


Sein Werk ist Höhepunkt, Abschluß und Ankündigung einer
neuen Literatur zugleich, eines neuen Zeitalters. Auch in litera-
turtheoretischen Abhandlungen, darunter De vulgari eloquentia
( 1529), reflektiert er den neuen Standpunkt. Vehement enga-
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giert er sich für die Volkssprache, das „vulgare“, und trägt so


zur Überwindung des allmächtigen Lateinischen als Gelehrten-
sprache, aber auch als Sprache der Dichtung bei. „Dass auch
das Vulgare zum Tempel des Ruhms führen könne, ist ein Ge-
III. Poetik der Renaissance Altes in neuer Gestalt, 9783838529370, 2020

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danke, den nur Dante allein vertrat, und nur Er allein hatte die
Unbefangenheit und Frische des Sinns, um dem stolzen Clerus
vulgaria temnit des jungen Gelehrten gegenüber auf die natür-
liche Kraft und Fülle der jugendfrischen Muttersprache zu ver-
weisen.“ 1 Die italienische Literatur – das Dreigestirn Dante,
Boccaccio und Petrarca – gibt schließlich auf gesamteuropäi-
scher Ebene den Ton an. Und in ihrem Gefolge bestimmt
dann auch Italien die dichtungstheoretischen Debatten.
In den Worten von Jost Schillemeit aus seinem Artikel über
die Poetik: „Seit 1300 war der literarische Primat von Frank-
reich nach Italien übergegangen. Dem Aufblühen der italieni-
schen Dichtung folgt seit 1500 eine unvergleichliche Produkti-
vität auf dem Felde der Literaturtheorie. Sie greift von Italien
aus auf Frankreich und England über, mit einer gewissen Ver-
spätung auch auf Spanien und Deutschland. Die italienischen
Renaissancepoetiken bleiben bis ins 18. Jahrhundert hinein der
mehr oder weniger sichtbare Hintergrund für alles, was in
Europa als Poetik auftritt.“ 2
1
Vossler, Karl, Poetische Theorien in der italienischen Frührenais-
sance, Berlin 1900, S. 30f.
2
Schillemeit, Jost, Art. Poetik, in: Fischer Lexikon Literatur, hrsg.
von Friedrich, Wolf-Hartmut/Killy, Walther, Bd. 2/2, Frank-
furt/M. 1965, S. 430.
III. Poetik der Renaissance 59

Zentrale Poetiker des Cinquecento sind Vida, Robortello,


Minturno, Scaliger und Castelvetro, in England daneben noch
Sidney und in Frankreich Du Bellay. Deutschland spielt dem-
gegenüber zunächst keine besondere Rolle. Diese wird ihm
erst im 17. Jahrhundert mit den Barockpoetiken zukommen.
Wenn man ganz allgemein die Renaissancepoetiken charak-
terisieren möchte, dann fällt ins Auge, daß sie vom 14. und
15. Jahrhundert die rhetorischen Überzeugungen vom „doce-
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re“ der Poesie übernehmen. Literatur solle auf angenehme


Weise belehren, die Tugenden feiern und die Laster geißeln.
Horaz ist die alles überragende dichtungstheoretische Größe.
Dann aber – und darin muß die eigentümliche Leistung der Re-
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naissance gesehen werden – entdeckt man „plötzlich“ die Ari-


stotelische Poetik wieder. Und mit ihr die zentralen Themen
der „imitatio“, des Verhältnisses von Mimesis und Katharsis,
sowie gattungspoetologische Aspekte (Rangfolge von Tragö-
die, Komödie, Epos).
1498 erscheint die erste (allerdings noch schlechte) lateini-
sche Übersetzung der Aristotelischen Poetik durch Giorgio
Valla, der dann 1536 eine oft nachgedruckte ordentliche,
jedoch kontrovers diskutierte Edition von Alessandro Pazzi
de Medici folgt. Bereits 1508 war der griechische Urtext bei
Manutius herausgekommen. Im Laufe des Jahrhunderts reißt
dann die Aristoteles-Kommentierung nicht mehr ab. Das
hängt, wie August Buck in seiner Arbeit über die italieni-
schen Dichtungslehren festgestellt hat, mit dem „Bedürfnis
nach einer weiteren Normierung des literarischen Schaffens“
zusammen. „Nun erschien die Rhetorik nicht mehr ausrei-
chend, um das Wesen der Dichtung zu erfassen.“ ( Buck
1952, S. 144)
Den Anfang zu diesen neuen dichtungstheoretischen Refle-
xionen und Abhandlungen macht Marco Girolamo Vidas 1527
erschienene De arte poetica, ein aus drei Büchern bestehender, in
lateinischen Hexametern verfaßter Text, den man als den er-
sten selbständigen modernen Rivalen Horazens bezeichnet
60 III. Poetik der Renaissance

hat. „Zum ersten Mal in der Renaissance“, stellt Buck fest,


„wird hier der Versuch gemacht, einen systematischen Über-
blick über die Probleme zu bieten, die mit dem Wesen der
Dichtung im engeren Sinne zusammenhängen. Obwohl der
Dichter der inneren Eingebung bedarf, kann er ohne künstleri-
sche Schulung kein vollendetes Werk schaffen.“ (Buck ebd.)
Die poetische Veranlagung bildet zwar die Voraussetzung, um
künstlerische Werke zu schreiben, aber es bedarf dennoch re-
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gelgeleiteter Übung; es geht also um ein Zusammenwirken von


Natur und Kunst im Dichter.
Kunst sei durchs Studium zu erlernen. Den Weg dazu weise
die Poetik. „Letztes Auskunftsmittel bleibt nach wie vor die
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lmitatio der antiken Stilmuster.“ (Buck a.a.O. S. 145) Freilich


erhält den Vorzug nun nicht mehr – entgegen der Aristoteli-
schen Hochschätzung – Homer, sondern vielmehr Vergil, und
das Epos wird der Tragödie vorgezogen.
Francesco Robortello veröffentlicht 1548 In librum Aristotelis
De Arte Poetica explicationes gemeinsam mit einer Paraphrasis in li-
brum Horatii qui vulgo De Arte Poetica ad Pisones inscribitur. „Heiß
umstrittene Vorstellungen wie z.B. das Erzeugen von Wahr-
scheinlichkeit durch literarische Fiktion sind aus dem Streben
nach Harmonisierung der beiden Poetiken hervorgegangen. Die
Gelehrten kommentierten die Poetik in Lehrveranstaltungen,
bevor sie ihre lateinischen, später auch italienischen Kommen-
tarwerke herausgeben.“ 3 „Für Robortello“, so faßt Buck des-
sen Lehren auch in Kürze zusammen, „sind Gegenstand der
Dichtung die Fiktionen, die Fabeln; der Dichter ahmt nicht die
Dinge nach, wie sie sind, sondern wie sie sein sollten, wobei er
seinen Stoff nach Belieben aus der Geschichte entnehmen
oder ihn frei erfinden kann. Der Zweck, den er damit verfolgt,
ist einzig die Unterhaltung seiner Leser; ein moralischer Nut-
zen ergibt sich höchstens ‚per accidens‘. Dementsprechend
3
Kapp, Volker ( Hg.), Italienische Literaturgeschichte, Stuttgart-Wei-
mar 1992, S. 162.
III. Poetik der Renaissance 61

gibt Robortello auch der Katharsis keine ethische Auslegung.


Die Furcht und das Mitleid, welche die Tragödien in den Zu-
schauern erwecken, mildern in deren Seele die Stärke dieser
Affekte, da sich die Seele auf diese Weise an sie gewöhnt.“
(Buck a.a.O. S. 148)
A.S. Minturno schreibt zwei Poetiken, zum einen die in
platonisierender Weise verfaßte De poeta, zum anderen die in
italienisch geschriebene Ars poetica, die sich wieder an Aristote-
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les anschließt und ethisch argumentiert, wenn die Katharsis er-


klärt wird.
Von paradigmatischer Bedeutung, insbesondere mit Blick
auf die Wirkungsgeschichte über die beiden folgenden Jahr-
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hunderte hinweg, ist Julius Cäsar Scaligers Poetices libri septem,


eine Abhandlung, die 1561 erstmals erschien und bis 1617
noch fünf weitere Auflagen erlebte. Der Humanist Scaliger
(1484-1558) schrieb nach Studien in Bologna lateinische Ge-
dichte und eine Reihe von Gelegenheitsschriften, u.a. auch
eine lateinische Grammatik mit dem Titel De causis linguae lati-
nae ( 1540). Dabei ist im Grunde genommen die Scaligersche
Position weder besonders originell noch auch neu zu nennen.
Eklektisch durch und durch, zeichnet sich seine weitgespannte
Abhandlung vor allem durch Gelehrsamkeit, Systematik und
eine beeindruckende Stoffülle aus. Scaligers Poetik wurzele,
so Buck in der Einleitung zur von ihm herausgegebenen Fak-
simileausgabe, „in der an der Schwelle der Neuzeit durch den
Humanismus hervorgerufenen Besinnung des modernen Gei-
stes auf das Wesen der Dichtung und die Möglichkeiten ihrer
Neugründung – gleichviel in welcher Sprache – durch Rück-
griff auf ihre in der Antike liegenden Archetypen. Der Glau-
be an die Autorität der Antike ist die lebendige Mitte von
Scaligers Poetik, mochte er auch im einzelnen die antike
Tradition dem kritischen Urteil seines Verstandes unterwer-
fen. Obwohl er sich nicht scheut, an Aristoteles Kritik zu üben
und von ihm abzuweichen, bleibt der Stagirit doch für ihn ‚im-
perator noster, omnium bonarum artium dictator perpetuus‘
62 III. Poetik der Renaissance

(VII, 2).“ 4 Und weiter: „Unter seiner an Aristoteles gerichte-


ten lnvocatio steht der erste vier Bücher umfassende theoreti-
sche Teil der Poetik; ihm folgt im Zeichen Vergils der zweite
praktische Teil, dessen beide Bücher kritische Urteile über an-
tike und moderne Autoren, sowie einen Abriß der lateinischen
Literaturgeschichte enthalten; ein siebentes erst eine Zeitlang
nach den vorangegangenen Teilen verfaßtes Buch bildet in un-
systematischer Form eine Art Nachtrag zu den ersten sechs
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Büchern.“ 5 Für Scaliger ist der Dichter ein Schöpfer, jemand,


dessen Taten ihn „in einen zweiten Gott“ verwandeln; dahin-
ter steht gewiß die Platonische Inspirationslehre, wie sie im Ion
oder Phaidros beispielsweise analysiert wird. Mit Horaz teilt
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Scaliger die Ansicht vom moralischen Nutzen der Poesie; und


hinsichtlich der Formulierungslehre (elocutio) schließt er sich
der klassischen Rhetorik an, deren Redefiguren er ausführlich
zergliedert. Anders jedoch als seine antiken Vorbilder stellt er
gattungspoetologisch das Epos über die Tragödie und hält
wiederum, wie bereits Vida, Vergil für einen größeren Dichter
als Homer. Gut aristotelisch werden Tragödie und Komödie
definiert: Die Tragödie handle von Herrschern und anderen
Mächtigen, habe einen schrecklichen Ausgang, sei in einem
hohen Stil verfaßt und erzeuge schließlich Furcht6, während
die Komödie für die Kurzweil zuständig sei und einen volks-
tümlich-niederen Stil pflege.7 Dem Epos gebührt deshalb die
Vorrangstellung, weil in ihm vollkommene Helden dargestellt
werden können. Buck bemerkt dazu:
Indem ein solcher Heldentyp zur Nachfolge aufruft, dient er dem
pädagogischen Zweck des Epos, wie ihn u.a. ein Bernardo Tasso

4
Buck, August, Einleitung, in: Scaliger, Julius C., Poetices libri VII,
Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. XIII (Nachdruck der Ausgabe
Lyon 1561).
5
Ebd. S. XIIIf.
6
Vgl. Scaliger a.a.O. S. 11 (Buch 1, Kap. 6 ).
7
Ebd. (Buch 1, Kap. 5).
III. Poetik der Renaissance 63

[…] definiert hat […]. Daher kann man auch den moralisch inter-
pretierten Katharsis-Begriff auf das Epos übertragen,. das vermit-
tels von ‚Schrecken und Mitleid‘ dem Leser das Laster hassenswert
machen soll. Ihre Krönung findet diese Auffassung von heroi-
schen Epos in dem Bild, das Torquato Tasso in seinen ‚Discorsi
sul poema eroico‘ vom epischen Helden als einem Muster aller
Tugenden entworfen hat.8
Im Zusammenhang von Rhetorik und Poetik formuliert Scaliger
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zu Beginn des siebten Buches, daß alle Rede Nachahmung ist


und die poetische Rede zudem mit Vergnügen belehren soll:
„Denique imitationem esse in omni sermone. quia verba sint
imagines rerum: Poetae finem esse, docere cum iucunditate.“ 9
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Wenn Scaliger seine Dichtungslehre weithin als eine Interpretation


der aristotelischen Poetik aufgefaßt hat, so ist es ein mit römischen
Augen – vor allem durch die Brille der lateinischen Rhetorik gese-
hener Aristoteles, den er dem europäischen Klassizismus vermit-
telt und zugleich auferlegt hat.10
Der aus dem Hochadel stammende und als Ideal des elisa-
bethanischen Edelmannes geltende Sir Philip Sidney (1554-
1586) hat neben Sonetten und Romanzen auch ein hoch be-
deutendes poetologische Werk, An Apologie for Poetrie (1595,
auch unter dem Titel The Defence of Poesie), verfaßt. Er vertritt
darin aristotelisches und platonisches Gedankengut, was im
einzelnen zu konzeptionellen Widersprüchen führt. Auch bei
ihm gebührt den Alten der Vorrang, wenngleich er durchaus
die Bedeutung neuer Poesie von Dante. Boccaccio, Petrarca
oder Chaucer anerkennt. Rüdiger Ahrens meint hierzu:
Die ‚Krone der Weisheit‘ gebührt nach Sidney nicht den Philoso-
phen ( wie Platon, Aristoteles, Parmenides und Pythagoras), da
diese nur in abstrakten Sätzen moralische Anwendungen formulie-
ren können. Auch die Geschichtsschreibung vermag nicht dieselbe
8
Vgl. Buck, Einleitung a.a.O. S. XI.
9
Scaliger a.a.O. S. 347 ( Buch 7, Kap. 1).
10
Buck a.a.O. S. XIX.
64 III. Poetik der Renaissance

Wirkung wie die Dichtung zu erzielen, weil der Historiker an die


Faktizität gebunden ist und nicht zu den allgemeinen Wahrheiten
vordringt. Nur der Dichter kann durch die Bildhaftigkeit seiner
Sprache das Allgemeine mit dem Besonderen verbinden. Diese
hohen Maßstäbe legt Sidney in gleicher Weise an die literarischen
Gattungen an. […] Einflußreich war The Defence of Poesie auch we-
gen der Hinweise auf die Bedeutung der Einbildungskraft und die
dichterische Originalität, so daß sich die Romantik, insbesondere
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P.B. Shelley in seiner Defence of Poetry (1821; Verteidigung der Poesie)


auf sie berufen konnte.11
Ansonsten aber steht Sidney in der englischen Literatur ver-
gleichsweise isoliert da.
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Ähnliches gilt auch für den französischen Poetiker Joachim


Du Bellay (1522-1560), der nicht nur die Sonette in die franzö-
sische Literatur einführte, sondern auch mit einer Abhandlung
über die französische Sprache, Defense et illustration de la langue
francaise (1549), in den Streit um Bedeutung und Rang der eige-
nen Sprache und Literatur engagiert eingriff. Das Werk ist
eigentlich ein Gemeinschaftsprodukt, entstanden als Reaktion
der Pléiade genannten Gruppe einiger Gelehrter (u.a. Ronsard,
Dorat und Du Bellay) auf die Poetik von Sebillet (Art poétique,
1548).
Der Titel ist bewußt zweigliedrig: Im I. Teil (12 Kap.) wird die
französische Sprache gegen die griechische und lateinische vertei-
digt, der Prestigeanspruch der neulateinischen Dichtung bestritten;
im II. Teil ( 12 Kap.) werden die mittelalterlichen Gattungen, die
die Marotiques und die Lyoner noch gepflegt hatten, zugunsten
antiker und italienischer Formen verworfen. Ob sich Du Bellay
der Doppelbödigkeit seiner Argumentation bewußt ist, die einer-
seits das Französische gleichwertig neben die klassischen Sprachen
und das Italienische, wo nicht gar über sie stellt, andererseits ohne
ihre Schätze das Französische gar nicht aufwerten kann, sei dahin-

11
Ahrens, Rüdiger, Art. „The Defence of Poesie“, in: Lexikon litera-
turtheoretischer Werke, hrsg. von Renner, Rolf Günter/Habekost,
Engelbert, Stuttgart 1995, S. 79f.
III. Poetik der Renaissance 65

gestellt. […] Du Bellay übernimmt z.T. wörtlich Passagen aus


Sperone Speronis Dialogo della lingua ( 1542), der in der italienischen
Sprachenfrage, der ‚Questione della lingua‘, für die Gleichstellung
des Italienischen mit dem Latein eingetreten war. Er zieht aber
auch die Schlußfolgerungen aus der Ordonnance de Villers-Cotte-
rets und überträgt sie auf die französische Dichtung. Die Deffence
empfiehlt in der ‚Conclusion‘ den Franzosen: ‚Marchez courageu-
sement vers cette superbe cite romaine: et des serves depouilles
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d’elle … ornez vos temples et autels‘.12


In Deutschland fallen dagegen die poetologischen Reflexio-
nen mindestens in eigenen systematischen Darstellungen und
Kompendien – eher mager aus. Hermann Wiegmann weist in
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seiner Geschichte der Poetik u.a. auf Konrad Celtis’ 1486 erschie-
nene Ars versificatoria, auf H. Bebels Ars versificandi von 1506,
auf Joachim von Watts De poetica et carminis ratione von 1518,
auf Melanchthons Epistula de legendis Tragoediis et Comoediis von
1545 (mit dem ersten deutschen Hinweis auf Aristoteles) und
J. Camerarius’ Abhandlung De Tragico Carmine & illius praecipuis
authoribus apud Graecos von 1534 hin. Mit J. Pontanus’ lnstitutio
Poetica von 1594 beginnt dann die Rezeption der italienischen
Renaissancepoetiken mit den wichtigen Quellen Scaliger und
Viperano. (vgl dazu insgesamt Wiegmann 1977. S. 39ff.)
Eine treffende Formulierung, was die Bemühungen der Re-
naissance um die Poetik anbelangt, hat August Buck schließ-
lich am Ende eines Aufsatzes gefunden, der sich mit der roma-
nischen Dichtung und Dichtungslehre in der Renaissance
befaßt: „Es ist die Tradition der Antike, von der alle Dichtung
der Renaissance das Gesetz empfängt, dem sie gehorcht:
Schon Gestaltetem neue Gestalt zu geben, kurz, Bildungsdich-
tung zu sein.“ 13
12
Hausmann, Frank Rutger, Die Literatur der Renaissance, in: Fran-
zösische Literaturgeschichte, hrsg. von Grimm, Jürgen, Stuttgart
1991, S. 112f.
13
Buck, August, Romanische Dichtung und Dichtungslehre in der
Renaissance, in: Deutsche Vierteljahresschrift, Bd. 33, 1959, S. 607.
IV. Poetik des Barock: Rede- und Tichtkunst

Die barocke Tradition knüpft unmittelbar an die Errungen-


schaften der Renaissancepoetiken an. Insbesondere was die
Hochschätzung der Volkssprache gegenüber dem Lateinischen
angeht, setzt der Barock ältere Überlegungen der französi-
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schen und – vor allem – italienischen Theoretiker fort. Scaliger


ist neben den antiken Autoren die unbedingte Autorität. Und
auch der intime Zusammenhang von Rhetorik und Poetik
bleibt weiter bestehen. Daher sollte man nicht zuviel an Neue-
rungen erwarten. Tradition und Innovation gehen vielmehr
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020

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Hand in Hand. Die entscheidendste Neuerung wird man in der


konkreten Anwendung poetologischer Muster und Überzeu-
gungen auf die deutsche Sprache sehen dürfen – mehr noch:
die deutschen Autoren sind der unbedingten Überzeugung von
der Bedeutung und dem Wert der eigenen Sprache und ihrer
Kultur, die nicht nur verteidigt, sondern gegenüber den ande-
ren europäischen Sprachen hochgehalten werden. Galten des-
halb bis ins 17. Jahrhundert noch ausländische Vorbilder und
Muster als unbedingte Autoritäten, so vertraut man seit dem
Barock den eigenen Überzeugungen.
Bahnbrechend ist die Poetik von Martin Opitz, die 1624 als
kleines, in kürzester Zeit geschriebenes Büchlein unter dem Ti-
tel „Buch von der Deutschen Poeterey“ herauskam. „Selten ist
einem rasch hingeworfenen Pamphlet“, so drückt es Klaus
Garber aus, „eine lebhaftere Resonanz zuteil geworden.“ Und
Gunter E. Grimm resümiert an einer Stelle seiner imposanten
Monographie über „Literatur und Gelehrtentum in Deutsch-
land“, „daß das von Opitz eingeführte theoretische Modell un-
angefochten die poetologische und die poetische Produktion
beherrschte.“ 1
1
Garber, Klaus, Art. „Buch von der Deutschen Poeterey“, in: Lexi-
kon literaturtheoretischer Werke, ( Hg.) Rolf Günter Renner und
IV. Poetik des Barock 67

In den ersten Kapiteln befaßt sich Opitz mit Aufgabe, Wesen und
Ursprung der Poesie. Er geht dann zur Rechtfertigung der deut-
schen Kunstdichtung über, wobei er sich auf die Errungenschaf-
ten der altdeutschen Dichtung beruft. Nach der Lehre von der
Invention oder Erfindung behandelt er die Disposition oder Ab-
teilung der Dinge oder Sachen. Dieser Abschnitt befaßt sich mit
den poetischen Gattungen. Das Kapitel ‚Von der zuebereitung
vnd ziehr der worte‘ entspricht den Erörterungen über die „elocu-
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tio“ in den Rhetoriken und behandelt Fragen der Sprache und des
Stils. Die Anordnung: Invention, Disposition und Elokution war
noch am Anfang des 18. Jahrhunderts verbindlich. Schließlich be-
schäftigt sich Opitz mit Metrik und Reim. – Die Anlage der Poetik
folgt – mit Ausnahme des einführenden Teils und des Kapitels
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über Reimkunst – der Materialanordnung der Rhetoriken, denen


die Poetiken weitgehend den Stoff entnehmen und ihn ihren spe-
ziellen Forderungen anpassen. Vieles wird dabei nur angedeutet
und als aus Rhetorik und Grammatik bekannt stillschweigend vor-
ausgesetzt.2
Nach Hinweisen auf Aristoteles, Horaz, Vida und Scaliger, an
die er sich anschließt, möchte Opitz, wie er es bereits in seiner
Vorrede ausdrückt, „das was vnsere deutsche Sprache vornem-
lich angeht/ etwas vmbstendtlicher für augen stellen.“ (Opitz,
zit. nach: Szyrocki 1977. S. 3) Opitz weist im folgenden darauf
hin, daß es eine wichtige Aufgabe jedes Poeten sei, neue Wör-
ter zu erfinden, sich dabei aber keineswegs auf „frembde wör-
ter“ – als Ausdrücke aus Fremdsprachen – zu besinnen. Auch
solle man alles vermeiden, was die Wörter „tunckel vnd vnver-
ständlich macht.“ (a.a.O. S. 16) „Newe wörter/ welches ge-
meiniglich epitheta, derer wir bald gedencken werden/ vnd

Engelbert Habekost, Stuttgart 1995, S. 62; Grimm, Gunter E., Li-


teratur und Gelehrtentum in Deutschland, Untersuchungen zum
Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklä-
rung, Tübingen 1983, S. 115, vgl. auch S. 135.
2
Szyrocki, Marian, Die deutsche Literatur des Barock, Reinbek
1968, S. 21.
68 IV. Poetik des Barock

von andern wörtern zuesammen gesetzt sind/ zue erdencken/


ist Poeten nicht allein erlaubet/ sondern macht auch den ge-
tichten/ wenn es mässig geschiehet/ eine sonderliche anmutig-
keit“ (a.a.O. S. 14) Die besondere „dignitet“ der Poesie liege in
den „tropis vnnd schematibus“ (a.a.O. S. 18). Schließlich un-
terscheidet Opitz noch je nach Art des Figurenpersonals in
den dramatischen Stücken verschiedene Stilebenen voneinan-
der: „Denn wie ein anderer habit einem könige/ ein anderer ei-
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ner priuatperson gebühret/ vnd ein Kriegesman so/ ein Bawer


anders/ ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß
man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden;
sondern ze niedrigen sachen schlechte/ zue hohen ansehliche/
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020

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zue mittelmässigen auch mässige vnd weder zue grosse noch


zue gemeine worte brauchen.“ (a.a.O. S. 19) In den Komödien
und Hirtengedichten werden „schlechte vnnd gemeine leute
eingeführet“, wohingegen in den Tragödien jene wichtigen Sa-
chen, „da von Göttern/ Königen/ Fürsten/ Städten vnd der-
gleichen gehandelt wird“, vorkommen. (vgl. a.a.O. S. 20)
Opitz bleibt in der Folge erste Bezugsgröße und Stichwort-
geber. Johann Rist bemerkt bereits 1634 in der Vorrede seiner
„Musa Teutonica“ über Opitz, daß mit ihm „daß Eiß gebro-
chen [ward]/ vnd vns Teutschen die recht Art gezeiget/ wie
auch wir in vnsrer Sprache/ Petrarchas, Ariostos, vnd Ronsar-
dos haben können.“ Mehr noch: Opitz sei der deutsche Ho-
raz.3 Ähnliches formulieren auch Harsdörffer und Buchner,
Morhof und Weise.
Georg Philipp Harsdörffers Poetik, unter dem Titel „Poeti-
scher Trichter“ in mehreren Teilen 1647/48 und 1653 erschie-
nen, knüpft mit seiner Apologie der deutschen Sprache unmit-
telbar an Opitz an. Selbstverständlich schreibt auch er wieder
eine Anweisungspoetik, dennoch fallen seine gegenüber den

3
Zit. nach Schöne, Albrecht (Hg.), Die Deutsche Literatur, Texte
und Zeugnisse, Bd. III, Das Zeitalter des Barock, München 1988,
S. 20f.
IV. Poetik des Barock 69

zeitgenössischen Regelpoetiken eigenständigen Urteile, fällt die


„eigenständig wertende Haltung“ 4 ins Auge. Zentrale Ge-
sichtspunkte seiner Überlegungen bilden die Frage nach den
poetischen Bildern, das Malen im Dichterischen sowie die Ein-
teilung der Dramatik.
Seine Poetik nimmt die Materialität der Sprache ernst, was seine
Modernität und die erneute Hochschätzung im 20. Jh. (‚Konkrete
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Poesie‘) begründet: Wortspiel, Anagramm, Akrostichon, Lautma-


lerei, Klangspiele, visuelle Gedichte und Verwandtes gehören für
ihn wesentlich zur Poesie. Die unendliche spielerische Neukombi-
nation des sprachlichen Materials ist eine wichtige Quelle der poe-
tischen ‚Erfindung‘ […]. – Zweites wichtiges Charakteristikum der
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Poesie ist ihre Bildhaftigkeit. Bilder eignen sich für Harsdörffer


nicht nur besonders zur Erfüllung der moralisch-didaktischen
Zielsetzung von Dichtung – sie erregen schnell die Aufmerksam-
keit des Rezipienten und haften besser im Gedächtnis –, sondern
sie sind auch eine wichtige Inspirationsquelle für die poetische
Verfahrensweise: Hervorgehoben werden dabei besonders Meta-
phern, Gleichnisse, Sinnbilder ( Embleme) und Personifikationen
– vor allem allegorische Schreibweisen.5
Die Arbeit des Poeten definiert Harsdörffer folgendermaßen
gleich zu Beginn: „Der Poet handlet von allen und ieden Sa-
chen/ die ihm vorkommen/ wie der Mahler alles/ was er
sihet/ bildet; ja auch/ was er nie gesehen/ als in seinen sinn-
reichen Gedanken;/ Deswegen wird er auch ein Poet/ oder
Dichter genennet/ daß er nemlich aus dem/ was nichts ist/ et-
was machet; oder das/ wz bereit ist/ wie es seyn könte/ kunst-
zierlich gestaltet/ darvon hernach ein mehrers folgen wird.“ 6

4
Hildebrandt-Günther, Renate, Antike Rhetorik und deutsche lite-
rarische Tradition im 17. Jahrhundert, Marburg 1966, S. 46.
5
Braungart, Georg, Art. „Poetischer Trichter“, in: Lexikon litera-
turtheoretischer Werke, ( Hg.) Rolf Günter Renner und Engelbert
Habekost, Stuttgart 1995, S. 298.
6
Zit. nach Szyrocki a.a.O. S. 90.
70 IV. Poetik des Barock

Ziel des Poeten schließlich sei der Nutzen und zugleich wieder
die Belustigung.7
Letzterem begegnet man auf Schritt und Tritt. In der überaus
wirkungsmächtigen Poetik von August Buchner, die zwischen
1630 und 1640 entstanden und in Vorlesungen häufig verbreitet
worden, jedoch erst 1665 postum zum Druck gekommen ist,
heißt es über das Amt und den Zweck des Poeten, daß er belu-
stigen und lehren müsse. „Denn wann er nur belustigen wolte/
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wehre er nicht viel besser/ als etwa ein Gauckler/ oder kurtz-
weiliger Rath und Bossenreisser. Lehren aber allein/ stehet nun-
mehr zuförderst den Philosophen zu/ welche von allen Sachen
bessern und gründlichern Bericht thun/ doch meistentheils
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020

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ohne sonderliche Anmuth.“ 8 Seine Werke sollen „lieblich und


anmuthig“, „nützlich und ersprießlich“ sein.9
Die Anzahl der deutschen Barockpoetiken ist Legion.10 Eine
gedrängte Übersicht über die wirkmächtigsten Abhandlungen
liefert Rolf Baur, der 42 Titel aufzählt und analysiert, darunter
neben Opitz, Harsdörffer und Buchner auch Schottels „Teut-
sche Vers- und ReimKunst“ (1656), Sacers „Nützliche Erinne-
rungen Wegen der Deutschen Poeterey“ (1661), Kindermanns
„Der Deutsche Poet“ (1664), Birkens „Teutsche Rede-bind-
und Dicht-Kunst“ (1679), Morhofens „Unterricht von der
Teutschen Sprache und Poesie“ (1700) oder Weises „Curiöse
Gedancken Von Deutschen Versen“ (1692). Für alle Arbeiten,
so dickleibig sie auch daherkommen mögen, bleiben doch die
wenigen antiken und renaissancistischen Grundregeln unbe-
dingt weiter in Geltung. Die Horazische Formel bildet das non
plus ultra: die Poesie muß erfreuen und belehren, sie muß un-

7
A.a.O. S. 92.
8
Buchner, Augustus, Anleitung zur Deutschen Poeterey, (Hg.) Ma-
rian Szyroki, Tübingen 1966, S. 32f.
9
A.a.O. S. 33.
10
Vgl. nur etwa das eindrucksvolle Literaturverzeichnis von Grimm
a.a.O. [ Anm. 1] S. 758-789.
IV. Poetik des Barock 71

terhaltsam und zugleich von Nutzen sein. Fraglos auch die


Geltung der antiken Überzeugung vom Doppelcharakter der
Poesie hinsichtlich ihrer Produktionsbedingungen; denn der
Dichter, so lautet die unerschütterliche Meinung, ist ebenso in-
spiriert wie gelehrt, d.h. dann, daß Poetik ein notwendiges Ge-
schäft ist, aber andererseits in den zu Belehrenden immer
schon ein Maß an Begabung als Naturgabe voraussetzt. „Nicht
daß diese angedeutete Wissenschaft oder Anleitung/ an sich
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einen Poeten machen/ und demselben die Kunst eintröpflen


künnen“, schreibt Schottel in seiner Poetik. Dennoch „domi-
niert in den poetologischen Lehrgebäuden […] die ‚ratio‘ über
die Phantasie.“ 11 Das drückt Johann Hübner in einer Abhand-
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020

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lung, die 1712 unter dem Titel „Neu-vermehrtes Poetisches


Hand-Buch“ erschienen ist, folgendermaßen aus: „Wenn einer
vorgiebt, er wolle aus einem jedweden Klotze einen Poeten
machen, der wird billich vor einen Auffschneider gehalten. –
Denn es wird doch wohl biß ans Ende der Welt wahr bleiben,
was die Alten gesagt haben: Poetae non fiunt, sed nascuntur. –
Wer aber auch die Leute bereden will, daß die Poeten fix und
fertig wie die Piltze aus der Erden wüchsen, und also keines
Menschen Hülffe bedürfften; der schimpffet alle Professores
Poeseos, welche ja alle darzu bestellet sind, daß sie die Poesie
als eine freye Kunst profitiren sollen.“ 12 Ähnliche Zeugnisse
lassen sich im Blick auf andere aus der Antike überlieferte
Überlegungen, wie die Mimesis und Katharsis-Problematik, den
Möglichkeitsbegriff in der Poesie u.a.m., zuhauf ausmachen.13
Eine überaus entscheidende Intention für die überwiegende
Zahl der Barockpoetiken mag die pädagogisch-didaktische
Zielsetzung gewesen sein. Alle Texte sind – mit Baur zu spre-

11
Baur, Rolf, Didaktik der Barockpoetik, Die deutschsprachigen
Poetiken von Opitz bis Gottsched als Lehrbücher der ‚Poeterey‘,
Heidelberg 1982, S. 117.
12
Johann Hübner, zit. nach Baur, Rolf a.a.O. S. 120.
13
Vgl. auch dazu wiederum Baur a.a.O. S. 133f., 147.
72 IV. Poetik des Barock

chen – adressatenbezogen.14 Ob es sich dabei im einzelnen –


wie im Falle von Opitz – um ein gelehrtes Publikum gehandelt
hat und also um eine Gelehrtenpoetik15 oder aber um Texte
für Schulmänner und Schüler, das spielt zunächst keine erheb-
liche Rolle: es geht um handfeste Anweisungen, was und wie
zu schreiben sei, welche Figur und welcher Tropus, wie Reime
und Metren zu handhaben seien, nicht zuletzt schließlich auch
– dabei kreuzen sich die Intentionen, erhalten die Texte einen
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Doppelcharakter – wie man die eigene Muttersprache einset-


zen könne. Rhetorik und Pädagogik schießen zusammen an
dem Punkt, wo deutlich wird, daß die Poetik – das poetische
Lehrbuch – ein durchaus nützliches Unternehmen in bezug
IV. Poetik des Barock Rede- und Tichtkunst, 9783838529370, 2020

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auf die Allgemeinbildung (Stichworte: Erweiterung von Sprach-


kompetenzen, Geschicklichkeit und Sensibilität im Umgang
mit der Sprache) wie am Ende auch hinsichtlich des Erwerbs
von sinnvollen Zusatzqualifikationen vorstellt. Wir würden
heute von Schlüsselqualifikationen sprechen; nichts anderes
meint auch Kerstin Stüssel, wenn sie schreibt: „Das Verferti-
gen von Versen dient vermittelt und direkt der Karriere und
dem Ansehen des einzelnen, sofern es den Anlässen angepaßt
ist, zu denen die höfische Gesellschaft dem einzelnen ‚Gele-
genheit‘ gibt, seine gelehrten Fertigkeiten zu demonstrieren
und sich dadurch bei Höhergestellten zu empfehlen. […] Das
horazische prodesse et delectare wird also unter den Bedingungen
der hierarchischen Ständegesellschaft als Bedingungsgefüge un-
ter dem Primat des privaten Nutzens gedeutet: Poetische Ele-
mente verleihen einer nützlichen Rede ‚angenehme‘ Züge, und
poetische Werke nützen, indem sie ihren Autor ‚recommen-
diren‘, weil sie den höhergestellten Adressaten zu erfreuen ver-
sprechen und ihn so dem Autor geneigt machen.“ 16

14
A.a.O. S. 65, 130.
15
Vgl. dazu allgemein Grimm a.a.O. [ Anm. 1], besonders S. 115ff.
16
Stüssel, Kerstin, Poetische Ausbildung und dichterisches Handeln,
Poetik und autobiographisches Schreiben im 18. und beginnenden
19. Jahrhundert, Tübingen 1993, S. 36.
V. Von der Regel zum Genie: Poetik der Aufklärung

Das 18. Jahrhundert steht ganz im Zeichen der Aufklärung, die


eine europäische Großbewegung gewesen ist. Man wollte eine
neue Kultur und Gesellschaft schaffen, eine bürgerliche, die
sich ausschließlich vor dem Richterstuhl der Vernunft zu ver-
antworten hätte. Demgemäß sieht dann auch der Umgang mit
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Kunst und Literatur aus. Diese werden eingespannt in andere,


nämlich kunstexterne Zwecke. Sie haben im Dienst der neuen
Gesellschaft zu stehen – einer Gesellschaft, die freilich allererst
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

noch geschaffen werden muß. Hilfsmittel dazu – ideologische


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Armatur – stellt eine auf Erziehung und Bildung abzielende,


also durch und durch funktionalisierte Literatur dar. Es gilt,
Werte und Normen, eine neue Moral, neue Ansichten vom
praktischen Zusammenleben und Gesellschaftsverkehr zu ver-
mitteln. Adressat ist der Bürger, ein Mensch, auf den als Pri-
vatmensch eingewirkt werden soll, damit am Ende auch die
öffentliche Sphäre davon profitieren mag. Der Bürger als Pri-
vatmann meint die häusliche Lebenswelt, den Bezirk der Fami-
lie, den Ort und Raum der Bildung.
Daran kann die Literatur (und ihre Theorie) mühelos an-
knüpfen. Denn sie wird – mit Ausnahme des Theaters – gele-
sen, d.h. – in aller Regel – im stillen Winkel und in Vereinze-
lung angeeignet. Was u.a. schließlich auch in der Epoche der
Aufklärung zum sprunghaften Anwachsen der literarischen Gat-
tung des Romans führt. Im Grunde alle aufklärerischen Poeti-
ken, zunächst in Frankreich, zunehmend dann in Deutschland,
das ab der Jahrhundertmitte zum Kernland der Ästhetik und
Poetik aufrücken wird, reagieren auf diesen Funktionswechsel
oder -wandel der Literatur. Diese repräsentiert nun nicht län-
ger etwelches Herrscherlob oder – wie im Barock – verliert
sich in ornamentalem Zierat und Schwulst und erfüllt dabei
noch Sensationsbedürfnisse, sondern sie wird für einige Jahr-
zehnte wieder ‚trockener‘, ‚spröder‘. Alte und älteste poetologi-
74 V. Poetik der Aufklärung

sche Grundsätze bleiben weiterhin in Geltung, allen anderen


voran Aristoteles und Horaz. Wobei der Aspekt der Nützlich-
keit der Poesie nun vielfach herausgestrichen wird. Zwar soll
die Kunst und Poesie in Maßen gefallen, mehr noch soll und
muß sie aber belehren, nützen, lebenspraktisch wirken. Poesie
ist eine Angelegenheit der Vernunft und zugleich eine des Her-
zens. Dort, wo sie nach Meinung der Aufklärer gelungen oder
vollkommen ist, wirkt sie total, nämlich auf den ganzen Men-
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schen ein, dem sie praktisch zur Seite steht – lebensbewälti-


gend. Literatur liefert Modelle des richtigen und gelungenen
Lebens frei Haus: tugendhafte Menschen und Warnungen vor
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

Lastern, Konfliktlösungsstrategien, Ansichten vom besseren


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Lebensweg u.a.m. Dafür muß sie aber – und dies gilt schließ-
lich für alle bekannten Gattungen – ganz auf das reale Leben,
auf die gemeinen schlechten und rechten Menschen ihrer Zeit-
genossenschaft eingeschworen werden. Mit anderen Worten:
ein Plädoyer für den Realismus. Beispielhaft formuliert: nahe-
zu zwangsläufig muß Gottsched, der erste deutsche Literatur-
papst der Aufklärung, den Hanswurst von der Bühne verban-
nen, entspinnt sich ein langer ästhetisch-poetologischer Streit
um das Wunderbare und seine Funktion für die Literatur, lobt
endlich Lessing die Gellertschen Stücke ob ihrer Realitätsnähe
und verurteilt Lichtenberg wieder die romanhaften, sprich: ro-
mantischen deutschen Liebesgeschichten.
Hermann Wiegmann kann man nur zustimmen, wenn er in
seiner kurzgefaßten Geschichte der Poetik bemerkt, daß die
Zeit zwischen 1730 und 1800, also zwischen Gottscheds „Cri-
tischer Dichtkunst“ und Novalis’ ästhetischen Reflexionen,
„die fruchtbarste und folgenreichste Zeit poetologischer Aus-
einandersetzung“ gewesen ist.1 Ein Traktat jagt ein anderes Sy-
stem; Aufsätze, Abhandlungen und ganze voluminöse Kom-
pendien erscheinen in rascher Folge. Das Bemerkenswerteste
daran ist die Tatsache – im Gegensatz etwa zur Zeit zwischen
1
Wiegmann a.a.O. S. 56.
V. Poetik der Aufklärung 75

Opitz und Gottsched, wo es ebenfalls rund 100 Poetiken ge-


geben hat2 –, daß sich diese neuen Theorien auf einem er-
staunlichen Niveau bewegen und oft genug so etwas wie eine
persönliche Note ihrer Verfasser erkennen lassen, was bei den
zahllosen Schulautoren unter den Vorgängern nicht der Fall
gewesen ist.
Wie gesagt: Johann Christoph Gottsched (1700-1766)
schreibt mit seiner „Critischen Dichtkunst“ die erste und um-
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fassendste neue Poetik der Aufklärung in Deutschland. Dabei


kann er ebenso an Christian Thomasius’ deutsche Vorlesung
„Von Nachahmung der Franzosen“ von 1687 wie an Johann
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

Ulrich Königs „Untersuchung von dem guten Geschmack in


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der Dicht- und Redekunst“ von 1727 anschließen, die ihm den
Boden bereitet haben. König durch die Eindeutschung des
französischen ‚bon goût‘ und Thomasius durch seine Hoch-
schätzung der deutschen Sprache auch in akademischen Ange-
legenheiten. Überhaupt ist Gottsched ein Eklektiker. Er schließt
seine Theorie namentlich an die antiken Klassiker an wie auch
an Opitz, Boileau, Fontenelle, Dacier, Perrault, Shaftesbury,
allesamt anerkannte europäische Größen. Trotzdem schreibt
er seine Abhandlung ‚vor die Deutschen‘, wie es heißt. Sein
Hauptziel hat er darin gesehen, den aristotelischen Grundsatz
der Poetik, das Mimesis-Prinzip, als inhaltlichen und verbindli-
chen Grund auszuweisen. Anknüpfungspunkt für Gottsched
ist dabei die Philosophie Christian Wolffs, die nun für die
Poetik ausgeschrieben wird: Dichtkunst ist für Gottsched
„philosophische Poetik“, die zeigen möchte, daß sich in der
Dichtkunst nicht nur in bezug auf alle verschiedenen Gattun-
gen Regeln (der Produktion wie selbstverständlich auch der
Rezeption) auffinden, sondern daß darüber hinaus noch diese
Regeln sich zu einem Gesetz zusammenziehen lassen. Darin er-

2
Vgl. Birke, Joachim, Gottscheds Neuorientierung der deutschen
Poetik an der Philosophie Wolffs, in: Zeitschrift für deutsche Phi-
lologie, Bd. 85, 1966, S. 56-575.
76 V. Poetik der Aufklärung

kennt Bruno Markwardt gar einen Wesenszug der Aufklärung


schlechthin, wenn er schreibt: „Der Weg von der Regel zum Gesetz,
den die Aufklärung bewußt einschlägt, sucht von der Vielfalt
der Einzelvorschriften, die in der Barockpoetik vorherrscht,
zur Einheit und in gewissem Sinne auch zu einer Einfalt der
einfachen, alles klärenden Formel zu gelangen.“ 3 Die Eigen-
schaften der Poesie erblickt Gottsched in der Fabel; diese sei
„der Ursprung und die Seele der ganzen Dichtkunst.“ (vgl.
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Gottsched: Crit. Dichtkunst. IV. Kap. § 7, S. 202; ähnlich § 28)


Der Zweck der Fabel ist selbstverständlich die Belehrung, und
Gegenstand aller Poesie ist immer die Nachahmung der Natur,
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

wobei die Poesie im Unterschied zur klaren und deutlichen Er-


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kenntnis (= Diskursivität) der Philosophie im Bereich der


Sinnlichkeit agiert. Gottsched stellt Dichter und Philosophen
aber in eine Reihe; er spricht davon, daß die ersten Dichter der
Menschheit Philosophen, also: Lehrer, gewesen seien. So ge-
langt er zum Kernpunkt seiner Poetik, seinem Rezept, dem
vielgescholtenen Satz: „Zu allererst wähle man sich einen lehr-
reichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum
Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man
sich zu erlangen, vorgenommen.“ (Gottsched a.a.O. IV. Kap.
§ 21, S. 215) Dies im übrigen eine Formulierung, der man, dar-
auf hat Birke hingewiesen, bei dem französischen Poetiker Le
Bossu bereits begegnet, wenn es in dessen „Traité du Poeme
poétique“ von 1675 heißt: „La prémiere chose par ou l’ont
doit commencer pour faire une Fable, est de choisir l’instruc-
tion & le point du Morale qui lui doit servir de fond, selon le
dessein & la fin l’on se propose.“ 4 Die Kehrseite von Gott-
scheds gänzlich aufs Vernunftprinzip (= vernünftige Erkennt-
nis der Natur und Gesellschaft) abgestellter Poetik ist die
völlige Ausmerzung der Einbildungskraft und Phantasie, die

3
Markwardt, Bruno, Geschichte der deutschen Poetik, 5 Bde., Ber-
lin 1956, Bd. II, S. 33.
4
Zit. nach Birke a.a.O. S. 574, Anm.
V. Poetik der Aufklärung 77

Exstirpation des Wunderbaren und Phantastischen. Das Genie


als jenes produktive Vermögen der Einbildungskraft und
Schöpferin der Poesie wird ausgeschlossen. Poesie ist vielmehr
lehr- und lernbar, mehr noch: nach Gottschedianischen Regeln
und Vorschriften erkennbar.
Kein Wunder ist es daher, daß sich die Gottschedsche
Theorie schon bald nach Erscheinen heftigsten Kritiken ausge-
setzt sah, von denen die bekanntesten und einflußreichsten
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von den beiden Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698-


1783) und Johann Jakob Breitinger (1701-1767) stammen, wie-
wohl die schärfste Kritik aus der Feder des Schriftstellers Ja-
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

kob Immanuel Pyra (1715-1744) fließt, der in dem Aufsatz


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„Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack ver-


derbe“ (1743) einen sozusagen immanenten Standpunkt ein-
nimmt und auf argumentative Widersprüche innerhalb der
Gottschedschen Theorie hinweist. Aber bekannter und folgen-
reicher waren die Überlegungen von Bodmer und Breitinger,
insbesondere die „Critische Dichtkunst“ des letzteren von
1740. Darin hält er ein Plädoyer für die Neuheit als dem
Hauptcharakteristikum des Poetischen und definiert im weite-
ren Verlauf seiner Abhandlung dann diese Neuheit mit dem
Begriff des Wunderbaren. Das Wunderbare ist zwar nicht das
Unwahrscheinliche – darin ist Breitinger durchaus dem früh-
aufklärerischen Rationalismus verpflichtet –, sondern verbleibt
im Bereich des logisch Einsehbaren (es ist „nichts anderes, als
ein vermummtes Wahrscheinliches“ 5 ), zugleich aber sprengt er
doch das enge Gottschedsche Korsett, das die Poesie ins allzu
Bekannte und Vertraute einschnüren wollte. Breitinger möchte
vor allem den Naturbegriff erweitern und der Poesie Neuland
aufschließen. Entscheidender Einsatzpunkt dafür ist die Auf-
wertung der Phantasie – in direktem Gegensatz zu Gottsched.
Für Breitinger ist die Phantasie, jenes „Auge der Seele“, wie es
5
Zit. nach Boetius, Henning ( Hg.), Dichtungstheorien der Aufklä-
rung, Tübingen 1971, S. 45.
78 V. Poetik der Aufklärung

in der „Critischen Dichtkunst“ einmal heißt, die Schöpferin


der Poesie: „Wie nun der Maler zur Materie der Nachahmung
alles dasjenige nehmen kann, was dem sinnlichen Werkzeuge
des Gesichtes durch Licht und Farben kann begreiflich ge-
macht werden; also stehet es in dem Vermögen der poetischen
Malerkunst, alles, was mit Worten und Figuren der Rede auf
eine sinnliche, fühlbare und nachdrückliche Weise kann nach-
geahmet und der Phantasie als dem Auge der Seele eingepräget
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werden, nach dem Leben und der Natur abzurechnen.“ 6 Die


Phantasietätigkeit weist Breitinger dann in einer peniblen „Cri-
tischen Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem
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Gebrauche der Gleichnisse“, ebenfalls von 1740, nach und er-


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klärt zur Hauptaufgabe der Phantasie – durchaus konform mit


der aristotelischen Poetik – das Auffinden von Metaphern.
Metaphorik also – das klingt ganz modern – als Kriterium der
Poesie. Der französische Philosoph Paul Ricoeur spricht heu-
te in eben diesem Sinne von der Metapher als einer Feier
der Sprache. „Breitinger möchte die Produktivität im Bereich
der Metaphorik stark anregen und wünscht sich Dichtungen
mit reichhaltiger, neuer und schöpferischer Bildlichkeit. Die
Metaphorik soll entscheidend dazu beitragen, eine ‚poetische
Schreibart‘ zu entwickeln, die sich von der gewöhnlichen Pro-
sasprache unterscheidet.“ 7 Mit all dem, könnte man durchaus
behaupten, ist zwar nicht der Verstand für die Poesie aus-
gehebelt, gleichwohl wird er ins hintere Glied gestellt. Bei
Breitinger wie bei seinem Mitstreiter Bodmer, der seinerseits
einflußreiche Abhandlungen, darunter etwa die „Critische Ab-
handlung von dem Wunderbaren in der Poesie“ (1740), ge-
schrieben hat, läßt sich auch bereits ein Übergang zur Literatur

6
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 79.
7
Windfuhr, Manfred, Nachwort, in: Johann Jakob Breitinger, Criti-
sche Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrau-
che der Gleichnisse, Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740,
Stuttgart 1967, S. 5*.
V. Poetik der Aufklärung 79

der Jahrhundertmitte feststellen, zu dem, was die Literaturge-


schichtsschreibung die Epoche der Empfindsamkeit genannt
hat und was der mittleren Zeit der Aufklärung entspricht.
Zentraler Vertreter dieser Zeit – ja, im Grunde der einfluß-
reichste, meistgelesene Autor des 18. Jahrhundert in Deutsch-
land vor Goethe – ist der Sachse Christian Fürchtegott Gellert
(1713-1769). Er markiert einen Wendepunkt in der deutschen
Literatur, auch innerhalb der poetologischen Diskussion. Der
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strenge Rationalismus, das Einwirken auf den Verstand wird


von Gellert und seinem Kreis, wozu u.a. die beiden in ästhe-
tisch-theoretischer Hinsicht einflußreichen Brüder Johann Elias
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und Johann Adolf Schlegel gehören, gemildert. Man will mit


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den poetischen Erzeugnissen auf das Herz und die Sitten, also
in erster Linie: auf die Sinnlichkeit einwirken, ganz im Sinne
des Philosophen und Begründers der wissenschaftlichen Diszi-
plin Ästhetik Alexander Gottlob Baumgarten, der eine höhere
Verstandeserkenntnis von einer niederen, sinnlichen Erkennt-
nis unterschieden hat. Gellerts literarisches Œuvre umfaßt alle
den Zeitgenossen vertrauten Gattungen, also Fabeln, Lieder
und Oden, Lustspiele, einen Roman, daneben eine Reihe von
moralischen und poetologischen Abhandlungen, Reden und
Vorlesungen. Den obersten Grundsatz seines Schaffens hat er
einmal als Moral in einer Fabel folgendermaßen ausgedrückt:
Dem, der nicht viel Verstand besitzt, die Wahrheit durch ein
Bild zu sagen. Gellert möchte also mit seinen Texten, den Fa-
beln ebenso wie den von ihm auch theoretisch begründeten
und legitimierten rührenden Lustspielen sowie dem empfind-
samen Roman „Leben der schwedischen Gräfin von G**“,
seine Zeitgenossen bilden und zugleich unterhalten. Der
Aspekt der Rührung, der Herzensergreifung, steht dabei an
oberster Stelle. Die Leser, Zuhörer bzw. Zuschauer müssen
‚vor Freuden‘ ergriffen werden; sie müssen einsehen lernen,
daß in diesen Texten ihre Probleme – und aller tugendhaften
Bürger Probleme – verhandelt werden. Gellert versteht sich als
Lehrer, als Praeceptor Germaniae, als, wie es noch Goethe
80 V. Poetik der Aufklärung

empfunden und ausgedrückt hat, das sittliche Gewissen und


Empfinden der deutschen Nation. Er hält zwar noch an eini-
gen Grundeinsichten aufklärerischer Poetik fest, so bezüglich
des unterhaltend-lehrhaften Charakters von Dichtung jedwe-
der Art, so auch noch mit Blick auf die Gültigkeit poetischer
Regeln der Alten (Aristoteles, Horaz, Quintilian). Aber zu-
gleich deutet sich in Person und Werk Gellerts etwas Neues,
Vorwärtsweisendes an. Denn Gellert hält sich für einen – und
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genauer gesagt: den ersten – Originalautor der Deutschen, für


ein Originalgenie, das es, wie es an versteckter Stelle in einer
autobiographischen Skizze einmal heißt, nicht nötig habe, aus-
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ländische, insbesondere französische Vorbilder nachzuahmen.


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In anderen Zusammenhängen dann, in seinen poetologischen


Reflexionen, etwa über den „Nutzen der Regeln in der Bered-
samkeit und Poesie“ von 1756 oder „Von den Ursachen des
Vorzugs der Alten vor den Neuern“ (Druck 1769), weist er
zwar auf die Regelkenntnis als Notwendigkeit des modernen
Dichters hin, unterstreicht dann aber nachdrücklich den Ge-
sichtspunkt der Originalität. Mangle es daran (und am entspre-
chenden Genie), dann könne bloß aufgrund schematischer Re-
gelbefolgung niemals Poesie entstehen. Apodiktisch heißt es in
Gellerts epistolographischen Schriften, seinen überaus einfluß-
reichen Briefstellern von 1742 und 1751, daß die besten Re-
geln die wenigsten sind. Und man könnte noch auf diverse in
Gellerts Werk verstreute Passagen hinweisen, die immer wie-
der denselben Gedanken plausibilisieren möchten: Ursprung
und Grund, ja die Mutter aller Poesie und Kunst ist die per-
sönliche Genialität, eine besondere Anlage, die sich nicht mit
Gesetzen und Regeln der Poetik einfach verrechnen läßt. Mehr
und weiter noch plädiert Gellert in seinen Briefstellern dafür,
daß jedermann (und jede Frau) seinem „eignen Naturelle“ im
Schreiben folgen soll – d.h. sich also nicht durch pedantisch-
sklavische Vorschriften einschnüren lassen möge. Damit ist
bereits der Boden für die Genieästhetik, für die Fluchtlinie, auf
der sich die künstlerisch-literarische Entwicklung vom Sturm
V. Poetik der Aufklärung 81

und Drang (Goethes Prometheus-Hymne, Werther) über die


Frühromantik eines Novalis oder der Schlegel-Brüder bis zur
Klassik des reifen Goethe oder Schiller weiterbewegen wird,
bestens vorbereitet.
Wie überhaupt – darüber ist verschiedentlich von literatur-
wissenschaftlicher wie philosophiegeschichtlicher Seite ( Jochen
Schmidt oder Alfred Baeumler) gehandelt worden – seit Mitte
des 18. Jahrhunderts der Geniegedanke in Traktaten und Pole-
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miken zum zentralen Reflexionsgegenstand aufrückt. Es ent-


steht ein Mode-Interesse am Genie, das bereits 1787 einen
Graf und Herrn von Werthern zu der Abhandlung mit dem
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bezeichnenden Titel: „Über das Genie; als eine Seuche unserer


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Tage“ veranlaßt hat.8 Auf einen ganz entscheidenden Gesichts-


punkt hat dabei Alfred Baeumler, der den Geniebegriff für den
„bedeutungsvollsten ästhetischen Begriff des 18. Jahrhunderts
überhaupt“ hält, hingewiesen: „Witz, Metapher und Genie ge-
hören für das Gefühl des 18. Jahrhunderts zusammen. Das
Verbindende liegt im Moment der Erfindung. Die Metapher
ist als objektive poetische Form dasselbe, was das Genie sub-
jektiv ist: Quelle von Beziehungen, Überraschungen, Bildern
und belebenden Vorstellungen.“ 9 Das schließt die Schweizer
Bodmer und Breitinger mit dem Gellert-Kreis eng zusammen:
Witz oder Phantasie bzw. schöpferische Einbildungskraft be-
zeichnen immer dasselbe Vermögen im Subjekt, dem Genie,
aufgrund dessen es diesem allererst möglich ist, in die tieferen
Sprachregionen vorzustoßen, dorthin, wo plötzlich neue Bilder
– Metaphern – gefunden werden. Wie hieß es noch in der ari-
stotelischen Poetik, im Kapitel 22: es sei das Wichtigste, Meta-

8
Vgl. dazu Schmidt, Jochen, Die Geschichte des Genie-Gedankens
in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945,
2 Bde., Darmstadt 1985, Bd. 1, S. XIII.
9
Baeumler, Alfred, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und
Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darm-
stadt 1975, S. 155f.
82 V. Poetik der Aufklärung

phern zu finden, und dies sei dazu „das Einzige, das man nicht
von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Bega-
bung.“ ( Aristoteles: Poetik S. 75ff.) Genialität, Phantasietätig-
keit und Metaphorik gehören unzertrennlich zusammen, wie
sie dann auch, das reflektiert der Erkenntnisprozeß des gesam-
ten 18. Jahrhunderts, die Geltung der Regeln schlußendlich
völlig suspendieren werden – mit Folgen bis heute.
Zum Kreis um Gellert zählen auch die beiden Brüder Jo-
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hann Elias und Johann Adolph Schlegel, letzterer einer der


engsten Freunde und Briefpartner sowie Korrektor des Leipzi-
ger Professors. Beide haben sich neben ihren eigenen literari-
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schen Produktionen, Johann Elias’ Lustspielen und Johann


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Adolphs Oden und Liedern, auch ästhetisch-theoretisch geäu-


ßert: Johann Elias vor allem in Abhandlungen über das Thea-
ter, der jüngere Johann Adolph als Übersetzer und Kommen-
tator des französischen Ästhetikers Charles Batteux. Dessen
einflußreiche Schrift „Les Beaux-Arts réduits à un meme prin-
cipe“ (Paris 1746), ein Grundbuch aufklärerischer Poetik, hat
Adolf Schlegel 1759 ins Deutsche übersetzt und mit eigenen
Abhandlungen angereichert, in denen die Gottschedsche Rich-
tung der Aufklärung milde, aber nachdrücklich abgestraft wird.
Im Mittelpunkt stehen die Auseinandersetzung mit dem Nach-
ahmungspostulat, das abgelehnt wird, und der Vorsatz, daß Li-
teratur lehren müsse. Demgegenüber vertritt Adolf Schlegel,
ähnlich seinem älteren Bruder, die Auffassung, wonach die
Poesie mehr als alles andere gefallen müsse. Ihre Wirkung auf
das Herz, die Herzensbildung, sei ausschlaggebend. Dies sei
ihr „Endzweck“ 10; Poesie, deren oberster Wert die Schönheit
zu sein habe, sei, „vermöge ihrer Absicht zu gefallen, zur
Wahrheit weit weniger verbunden, als zur Ordnung.“ 11 Das
heißt konkret: die immanente poetische Logik des Kunst-

10
Zit. nach Boetius a.a.O. S. 117.
11
Ebd.
V. Poetik der Aufklärung 83

werks, seine innere Stimmigkeit, ist entscheidender als seine di-


daktische Funktion.
Wenn oberster Zweck der Poesie die gelungene Unterhal-
tung, das Gefallen, ist, dann muß die Fragerichtung der Poetik
jetzt auch verändert werden, dann muß nämlich nun auf die
Binnenlogik des Kunstwerks geachtet werden, darauf, wie die
„Ordnung der Anmuth“ 12 zustande gebracht wird. Schlegel re-
habilitiert auch die Sinnlichkeit: „das Deutliche“, schreibt er,
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„wenn es weiter nichts, als deutlich ist, [ist] oft sehr langwei-
lig und ekelhaft. Nur das Sinnliche ist dasjenige, was das
Schöne von seiner vortheilhaftesten Seite zeigt, […].“ 13 Nur
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durch das Sinnliche finde das Schöne ( wie auch das Gute
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letztendlich) in der Poesie „Zugang zu unserm Herzen.“ 14 Wo-


bei das Herz wiederum ein Synonym für Empfindung, sinnli-
che Erkenntnis und – alles in allem – das Gemüt des Menschen
darstellt; Erziehung des Herzens meint so die Bildung des Ge-
müts, ein den ganzen Menschen umfassendes Projekt. Auch
bei Schlegel – und er weist sogar explizit darauf hin – ist der
Einfluß A. G. Baumgartens, des Begründers der Ästhetik, deut-
lich spürbar. Wenn Baumgarten die höhere Erkenntnis von
der niederen, sinnlichen unterscheidet und letztere der Poesie
als einem Gegenstand und Gebiet der neuen Wissenschaft von
der Ästhetik zuweist, dann begegnet uns diese Auffassung bei
Schlegel wieder. „Ein Gedicht ist“, sagt Schlegel unter direk-
tem Verweis auf die Baumgartensche Definition (sensitiva ora-
tio perfecta), „eine vollkommene sinnliche Rede. Diese Erklä-
rung hat eine philosophische Deutlichkeit; denn sie ist dem
erklärten Begriffe völlig angemessen; sie unterscheidet die
Dichtkunst auf eine kenntliche Weise von der Weltweisheit so
wohl, als von der Beredsamkeit; […].“ 15 Poesie ist nicht länger

12
A.a.O. S. 119.
13
A.a.O. S. 121f.
14
A.a.O. S. 124.
15
A.a.O. S. 126.
84 V. Poetik der Aufklärung

‚ancilla philosophiae‘, sondern besitzt einen Eigenwert, ihr ei-


genes Recht und ihre eigene Dignität, mit der sie auf die Emp-
findungen der Menschen einwirkt. Sie ist autonom und gleich-
berechtigt, vermittelt Wahrheiten besonderer Art.
Weiterhin ist für Schlegel klar, daß das schöpferische Sub-
jekt, das Genie, auf keine Regeln zu bringen ist, daß es allererst
das Werk schafft. So schreibt er in der Vorrede: „Wir können
nicht allezeit aus Grundsätzen schließen, was in der Ausfüh-
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rung möglich sein und wohlgeraten werde, sondern wir müs-


sen aus der Erfahrung auf die Grundsätze zurückschließen.
Das Genie wagt Versuche, der Geschmack urteilt vom Erfolge; dann
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ziehet die Kritik aus den vom Geschmack gebilligten Arbeiten


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die Regeln ab und verbessert aus ihnen die Begriffe.“ 16 Mit an-
deren Worten: zunächst kommt die Kunst, das einzelne Werk,
das nach keinen vorab festgesetzten Regeln zustande gebracht
werden kann; setzt es sich dann durch und findet öffentliche
Billigung durch den guten Geschmack, so lassen sich post
festum, aber als Muster ohne Wert sozusagen, ohne normative
Verbindlichkeit gewisse Regeln des Produziertseins deduzie-
ren. Auch das wiederum ist höchst modern, weist voraus auf
die Ästhetiken späterer Epochen, erinnert z.B. an das frühro-
mantische Diktum, wonach jedes Kunstwerk allererst selbst
die Regeln zu seiner Beurteilung hervorbringt. Aber Johann
Adolf Schlegel ist ja bekanntlich auch der Vater des romanti-
schen Brüderpaars Friedrich und August Wilhelm.
Mindestens in seinen jungen Jahren muß der Berliner Auf-
klärungspapst, die Inkarnation aufklärerischen Buch- und Ge-
lehrtenwesens, Friedrich Nicolai, ebenfalls an die Seite der
Schlegel und Gellerts gestellt werden. Denn früh schon setzt er
sich gegen die Autorität Gottscheds zur Wehr und redet dem
Geniegedanken das Wort, wenn er in den bekannten „Briefen
über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in
Deutschland“ (1755) mehrfach, insbesondere schon gleich zu
16
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 113.
V. Poetik der Aufklärung 85

Beginn im zweiten Brief, das Genie betont. Im 18. Brief heißt


es auch: „Das Genie, die vivida vis animi ist die einzige Tür zu
dem Vortrefflichen in den schönen Wissenschaften; […].“ 17
Daran ändert nichts, daß der spätere Nicolai zum erbar-
mungslosen Kritiker des mit dem Sturm und Drang und der
Romantik identifizierten Geniegedankens aufrücken wird,
von Bewegungen, für die er nur Spott und Unverständnis üb-
rig hat. Merke: die schärfsten Kritiker der Elche waren früher
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selber welche!
Aber noch in einer anderen Hinsicht ist Nicolai bedeutsam.
Er ist nämlich der erste Aufklärer, der hellsichtig bereits die
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Aporien und Nachtseiten dieser Bewegung erkennt und zur


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Sprache gebracht hat. Lesenswert bis heute seine Aufklärungs-


satire, der Roman „Leben und Meinungen des Herrn Magi-
sters Sebaldus Nothanker“ (1773-76). Die Kantsche Maxime
des Selbstdenkens, des ‚sapere aude‘, diesem Leitspruch der
Aufklärung über alle Ländergrenzen hinweg, ist längst trave-
stiert und kolportiert worden, so Nicolai, vom gefräßigen
Buchmarkt, der nicht nach Ideen, sondern nach Absatzmög-
lichkeiten giert. Aufklärung, die mit Büchern und mit Wissen,
mit Bildung und Erziehung von Anfang an zu tun hat, hat sich
selbst ans Geschäft verraten. Die Ware Buch – und hier wäre
dann auch schon der Punkt, die neue, um den Geniegedanken
kreisende Poetik wieder kritisch zu hinterfragen – muß ver-
kauft werden; verkauft wird schließlich das, was am meisten
und am besten gefällt: unter der Flagge der Aufklärung segeln-
de Abenteuer- und Sensationsliteratur, Romane aller Art. Es
setzt ein, was wir heute als die Dichotomisierung von hoher
und niederer Literatur bezeichnen.18 Das hat Nicolai bereits
deutlich gesehen und unmißverständlich ausgedrückt: „Da ist
mehr als ein Verleger, der seinen Autoren aufträgt was er zu

17
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 166.
18
Vgl. dazu allgemein Bürger, Christa u.a. ( Hg.), Aufklärung und li-
terarische Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1980.
86 V. Poetik der Aufklärung

brauchen denkt: Geschichte, Romanen, Mordgeschichten, zuverläßige


Nachrichten von Dingen die man nicht gesehen hat, Beweise,
von Dingen die man glaubt, Gedanken, von Sachen die man
nicht versteht.“ 19 Literatur geht nach Geld und auf die Suche
nach immer neuen Sensationen – und das Publikum zahlt’s in
klingender Münze den Verlegern zurück. Der Literaturwis-
senschaftler Jochen Schulte-Sasse hat den Konfliktpunkt der
Aufklärung – und das hat auch mit der Emanzipation aufklä-
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rerischer Poetik zu tun – zur Sprache gebracht: „die Aufklä-


rung hat den latenten Widerspruch zwischen ihren idealistisch-
pädagogischen und ihren wirtschaftlichen Interessen nicht
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wahrgenommen; sie hat in der Doppelexistenz des Buches als


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Ware und als Geist kein Problem gesehen. In dem Maße, in


dem der Markt diesen Widerspruch verschärfte, mußten bür-
gerliche Interessen als unterschiedlich und konfliktauslösend
erfahren werden. Dies aber bedeutete a) den Zerfall der […]
homogenen bürgerlichen Öffentlichkeit sowie b) den nunmehr
naheliegenden Mißbrauch der neuen literarischen Wirkungs-
mittel […].“ 20
Bevor wir aber ans Ende der Aufklärung kommen, womit
wir uns rein chronologisch mit Nicolai bereits mächtig genä-
hert haben, müssen wir uns noch mit einigen anderen Positio-
nen und Vertretern vertraut machen. Verzichtet sei hier auf die
Wiedergabe von ästhetisch-poetologischen Positionen so wich-
tiger Literaten wie Lichtenberg, Wieland oder Karl Philipp
Moritz, die mehr oder minder bekannte Argumente wieder-
holen. Auch die zahlreichen, überaus einflußreichen gelehr-
ten Abhandlungen, Poetiken und Handbücher, darunter etwa
J. G. Sulzers „Allgemeine Theorie der schönen Künste“ (1771-

19
Nicolai, Friedrich, Sebaldus Nothanker, Kritische Ausgabe, ( Hg.)
Bernd Witte, Stuttgart 1991, S. 71.
20
Schulte-Sasse, Jochen, Das Konzept bürgerlich-literarischer Öf-
fentlichkeit und die historischen Gründe seines Zerfalls, in: Bür-
ger, Christa a.a.O. [ Anm. 18] S. 99f. (im Original gesperrt).
V. Poetik der Aufklärung 87

74) oder F. J. Riedels „Theorie der schönen Künste und Wis-


senschaften“ (1767), bleiben außer acht; sie verstärken – wie
Sulzer – die traditionelle Ansicht vom moralischen Nutzen der
Poesie oder arbeiten – wie Riedel – einer philosophischen Äs-
thetik vor, die in Kant dann ihren ersten Höhepunkt erlebt.
Ich möchte hier und jetzt kurz auf die Positionen von Mo-
ses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, Mendels-
sohns Freund, eingehen. Beide haben längere Zeit in intensi-
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vem Gedankenaustausch miteinander gestanden, was seinen


konkreten Niederschlag u.a. in dem Projekt eines Briefwech-
sels über das Trauerspiel von 1757/58 ( wobei im übrigen auch
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noch Nicolai beteiligt war) gefunden hat. Mendelssohns zen-


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trale Schrift poetologischen Inhalts sind die „Betrachtungen


über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste
und Wissenschaften“ von 1757, die man wohl eine systemati-
sche Ästhetik nennen kann, wobei die Krone der Ästhetik der
Dichtkunst eingeräumt wird. Hauptziel ist die Schönheit, wor-
unter Mendelssohn in erster Linie die Idealisierung, d.h. die
Verschönerung aller Gegenstände, versteht. Man hat darauf
hingewiesen, daß diese Überlegungen die Lessingschen Gedan-
ken aus der kunsttheoretischen Schrift „Laokoon“ vorwegge-
nommen haben. Die Naturnachahmung wird von Mendelssohn
zugunsten der Ansicht vom Illusionscharakter der Kunst auf-
gegeben; „die Illusion wird zum Träger der Wahrheit.“ 21 Hin-
sichtlich des Verhältnisses von Genie und Regel urteilt Men-
delssohn moderater als viele Zeitgenossen, wenn er schreibt,
daß „die Regeln […] Vorbereitungen [sind], dadurch der Dich-
ter sich selbst und seinen zu bearbeitenden Gegenstand in die
Verfassung setzen soll, die Schönheiten in ihrem mächtigsten
Reize zu zeigen. Bei der Ausarbeitung muß er sich hüten, sie allzu
deutlich vor Augen zu haben.“ 22 An anderer Stelle seiner, wie es
Markwardt einmal zu Recht ausgedrückt hat, um „psychologi-
21
Wiegmann a.a.O. S. 68.
22
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 171f.
88 V. Poetik der Aufklärung

sche Untergründung der Poetik“ 23 bemühten Abhandlung


heißt es: „In den Regeln der Schönheit, die das Genie des
Künstlers empfindet, und der Kunstrichter in Vernunftschlüs-
se auflöset, liegen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele ver-
borgen. Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung
in der Seelenlehre.“ 24 D.h. mit anderen Worten: die Schönheit
ist nur der Sammelname für das ‚je ne sais quoi‘, worin mir die
menschliche Psyche aufgeschlossen wird. Auch das ist hoch-
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modern und ließe sich mit einer Menge modernster Aussagen


über die Bedeutung der Kunst und Literatur parallelisieren.
Das Genie Lessings verkörpert beides, den Künstler-
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Schriftsteller und den umfassend gebildeten Gelehrten. Er hat


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bekanntlich etliche Fabeln sowie Lustspiele und Trauerspiele


geschrieben, daneben auch überaus einflußreiche kunst- und
literaturtheoretische Abhandlungen und Aufsätze. Immer ist
beides in ihm am Werk. „Lessing schrieb keine ‚kritische
Dichtkunst‘, keine ‚kritische‘ Poetik nach Art der Gottsched
und Breitinger, also im Sinne der Zeit, die unter ‚kritischer‘
Poetik so etwas wie ‚philosophische‘ Poetik verstand. Aber er
schrieb als Kritiker seine Poetik und insofern eine kritische
Poetik im modernen Sinne. Er schrieb sie nicht nur als Kriti-
ker, sondern auch als ein künstlerisch Schaffender.“ 25 Man
kann es auch so ausdrücken: Lessing ist zugleich Theoretiker
und Praktiker, er schreibt eine Praxistheorie, wenn er sich über
die Gattung der Fabel äußert oder wenn er seine „Hamburgi-
sche Dramaturgie“ auf dem Hintergrund eigener Stücke, „Miß
Sara Sampson“ oder „Emilia Galotti“, entwickelt. Stets steht
die praktische Forderung einer neuen Literatur bei ihm im
Vordergrund.

23
A.a.O. S. 173.
24
Zit. nach Hart Nibbrig, Christiaan L., Ästhetik, Materialien zu ih-
rer Geschichte, Ein Lesebuch, Frankfurt/M. 1978, S. 89.
25
Markwardt a.a.O. S. 182.
V. Poetik der Aufklärung 89

In Kürze nun einige Grundüberzeugungen Lessings. Auch


er spricht vom Genie als Schöpfer von Kunstwerken, bleibt
dabei noch ganz Kind der Aufklärung, des aufklärerischen Ra-
tionalismus, wie Jochen Schmidt meint, der unter Hinweis auf
Stellen aus der Hamburgischen Dramaturgie (30. u. 34. Stück)
deshalb schreibt: Lessings „neuer Grundbegriff, statt des Gott-
schedschen Regelsystems, ist der des Genies – eines Genies al-
lerdings, das noch weitgehend rational organisiert ist. Es ist
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nicht mehr bloß gelehrt und verfährt nicht mehr bloß kombi-
nierend wie der ‚witzige Kopf‘; es ist Natur, aber vernunftge-
mäße Natur.“ 26 Man könnte auch vom Genie als einer natürli-
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

chen Vernünftigkeit sprechen, was dann an die berühmte


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Kantsche Formel aus der „Kritik der Urteilskraft“ erinnert,


daß im Genie die Natur der Kunst die Regel gibt. (vgl. KU.
§ 46) Lessing kennt auch eine Hierarchie der Künste. Der Poe-
sie gebühre der oberste Rang, weil sie – im Unterschied etwa,
so heißt es im „Laokoon“, zur bildenden Kunst, die nur je-
weils einen bestimmten Augenblick und Ausdruck fixieren
könne – die „weitere Kunst“ sei und über eine Vielzahl von
Ausdrucksmöglichkeiten verfüge, die auf die Einbildungskraft
wirken. Körper, so Lessing weiter, sind Gegenstände der Male-
rei, „Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.“ Ein
interessanter Nebenaspekt, den Lessing im „Laokoon“ behan-
delt, ist die Frage der Häßlichkeit. Während er bezüglich der
Malerei die Häßlichkeit auszuschließen wünscht, weil sie hier
wie in der Natur alle ihre Kräfte beisammen“ hat, daher „ab-
scheulich“ wirkt und schließlich „Unlust“ „in uns erwecket“,
vermag er sie für die Literatur durchaus zuzugeben. Denn hier-
in (namentlich etwa in Homers Schilderung des Thersites, des
hinkenden Krüppels) dient sie als „Ingrediens, um gemischte
Empfindungen hervorzubringen und zu verstärken, mit wel-
chen er uns, in Ermangelung rein angenehmer Empfindungen,
unterhalten muß. Diese vermischte Empfindungen sind das
26
Schmidt a.a.O. Bd. 1, S. 8, außerdem S. 91ff.
90 V. Poetik der Aufklärung

Lächerliche, und das Schreckliche.“ (Lessing 1967. Bd. 2.


S. 132) Häßlichkeit wird also von Lessing immer als aufzuhe-
bendes Moment zur Verstärkung und Kontrastierung mit dem
Schönen betrachtet, wobei er immer – das ist sozusagen das
Kennzeichen seiner Theorie – strikt wirkungsästhetisch argu-
mentiert.27 Die Kunst soll wirken, soll bestimmte Empfindun-
gen, Lust, evozieren, um kathartische Reflexe auszulösen. Der
Hinweis auf die vermischten Empfindungen aus dem letzten
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Satz des Zitats läßt im übrigen erkennen, an welche literarische


Kunstform Lessing in erster Linie denkt, nämlich an das Dra-
ma. Es ist – metaphorisch gesprochen – das Juwel in der Kro-
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

ne, die der Poesie in der Hierarchie aller Kunstwerke gebührt.


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Lessing selbst hat entscheidend zur Entwicklung des deut-


schen Dramas beigetragen. Im Anschluß an Gellerts rührend-
empfindsame Lustspiele, in denen es bereits weniger darum
ging, lasterhafte Charaktere satirisch bloßzustellen, als viel-
mehr tugendhaft-altruistische Verhaltensweisen empfindsamer
Figuren auf die Bühne zu bringen, konzipiert Lessing seine
bürgerlichen Trauerspiele, die ebenfalls zunächst noch emp-
findsames Personal vorführen („Miß Sara Sampson“), um am
Ende in der „Emilia Galotti“ eine Selbstkritik der Aufklärung
zu leisten. Emilia stirbt ja durch die Hände eines rächend-stra-
fenden Vaters, der der möglichen Verführung durch den Prin-
zen – genauer: Emilias Verführbarkeit – zuvorkommt.
In entscheidenden Passagen nun ist die „Hamburgische
Dramaturgie“, die zunächst als kritisches Rezensionsorgan für
eine zu schaffende deutsche Schaubühne in Hamburg gedacht

27
Vgl. zu den Aspekten des Schrecklichen und Häßlichen im
18. Jahrhundert die Arbeiten von Zelle, Carsten, „Angenehmes
Grauen“, Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schreckli-
chen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987; Schönheit und Erhaben-
heit, Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Denis, Bodmer
und Breitinger, in: Christine Pries ( Hg.), Das Erhabene, Zwischen
Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 55-73.
V. Poetik der Aufklärung 91

war, die theoretische Legitimation von Lessings Dramenpro-


duktion. Zugleich ist sie eine Auseinandersetzung mit der ari-
stotelischen Poetik und eine Kritik am zeitgenössischen, vor
allem französischen Theater. Unter Rückgriff auf die beiden
Bestandteile der Katharsis-Lehre, eleos und phobos, die Les-
sing – gegen die Tradition der Aristoteles-Kommentatoren
und Übersetzer – statt mit Mitleid und Schrecken mit den Be-
griffen Mitleid und Furcht wiedergibt, startet er seine Theorie.
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Den Zusammenhang beider Begriffe skizziert er folgenderma-


ßen: „Er [Aristoteles] spricht von Mitleid und Furcht, nicht
von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines an-
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dern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht,


welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für
uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle,
die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können;
es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst
werden können. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns
selbst bezogene Mitleid.“ (Lessing 1967. Bd. 1. S. 420)
Überdeutlich springt die wirkungsästhetische Komponente
von Lessings Konzeption ins Auge: das dramatische Kunst-
werk, das bürgerliche Trauerspiel, gestaltet typische Lebens-
situationen, modern gesprochen: greift Probleme aus der ak-
tuellen Lebenswelt der Zeitgenossenschaft auf. Durch diese
Aktualität erst ist das Nach- und Mitempfinden mit den tragi-
schen (leidenden) Figuren sichergestellt. Mehr noch: damit die
Rechnung aufgeht, muß der Rezipient den tragischen Konflikt
als seinen Konflikt erleben – nacherleben –, muß er gewahr
werden, daß es um sein Leben geht. Dieser Gesichtspunkt ei-
ner bedingungslosen Empathie – Frage an die Wirkungsästhe-
tik: Geht es überhaupt noch um Kunst dabei? – hat freilich
mit Aristoteles nur wenig gemeinsam; denn Aristoteles beab-
sichtigt ja in eins mit der Katharsis auch eine psychophysische
Reinigung von den Leidenschaften, also in anderen Worten:
eine Distanz zum und vom Bühnengeschehen. Bei Lessing
92 V. Poetik der Aufklärung

dagegen zielt die Einfühlungsästhetik, besiegelt am Ende im


faktischen „Tränenvorhang“ (Peter Szondi), mit dem die zeit-
genössischen Aufführungen beendet wurden, ganz auf lebens-
praktische Konsequenzen. Kunst ist zwar nicht das Leben,
aber verschärft, pointiert, aktualisiert doch reale lebensprakti-
sche Konflikte – im Bereich der Politik, der Moral, des Gesell-
schaftlichen überhaupt. Das Heldenpersonal stellt Kopiervor-
lagen positiver wie negativer Art für die Wirklichkeit bereit.
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Die Tragödie, so resümiert Lessing im 77. Stück dann, ist ein


Gedicht, „welches Mitleid erreget.“ (a.a.O. S. 428) Und genau
das ist der entscheidende Punkt, der moralische Endzweck.
V. Von der Regel zum Genie Poetik der Aufklärung, 9783838529370, 2020

(vgl. a.a.O. S. 430) Auch von einem solchen war bei Aristoteles
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nie die Rede. Erst Lessing macht die Dramatik ‚moralinsauer‘,


funktionalisiert das Trauerspiel – überstrapaziert es am Ende.
Es soll Erkenntnisse vermitteln, zugleich auf die Moral und
Sitten wirken, indem es an das Herz appelliert, gemischte
Empfindungen hervorruft und lebenspraktisch relevante Kon-
sequenzen beim Zuschauer zeitigt. Das ist – mag es auch über
die Jahrhunderte anhaltend gewirkt haben – maß- und hem-
mungslos; damit wird Kunstwerken etwas abverlangt, was sie
nicht leisten können – nicht leisten sollen, weil es nicht ihr Ge-
biet ist. Die Religion, Politik (= Ideologie) und Therapie helfen
da wesentlich weiter.
Damit sind wir am Ende der Beschäftigung mit aufkläreri-
schen Poetiken angekommen; als roter Faden zieht sich durch:
die Diskussion um die Regelhaftigkeit einerseits, die Geniali-
tät andererseits. In jedem Fall bleibt die Horazische Formel
( Nutzen und Gefallen) weiterhin bestehen, wird mal mehr
von der Seite des Nutzens (Gottsched), mal mehr von der
Seite des unterhaltenden Spiels ( Schlegel) betrachtet. Wir-
kungsästhetisch – selbst noch bei den überzeugten Vertretern
des Geniegedankens – argumentiert man allemal. Mehr und
mehr setzt sich der Gedanke einer Hierarchie der Kunst
durch, eine Frage, die in aller Regel mit der Hochschätzung
der Poesie beantwortet wird. Gattungspoetologisch, wovon
V. Poetik der Aufklärung 93

ausdrücklich selten die Rede war, ist zu sagen, daß die Tragö-
die, das Trauerspiel, an erster Stelle kommt, danach dann die
von der Antike über Renaissance und den Barock geschätz-
ten Gattungen ( Fabel, Heldengedicht). Langsam und zöger-
lich zunächst noch setzen dann erste Diskussionen um die Ly-
rik (in unserem heutigen Sinne mit Blick auf das Lied und die
Ode) ein, mit Chr. Fr. Blanckenburgs 1774 anonym publizier-
tem „Versuch über den Roman“ auch die erste systematische
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Beschäftigung mit dem in der Folge nachgerade wichtigsten li-


terarischen Genre, das – mit Blanckenburg – die Entwicklung
der inneren „Bildung und Formung der Person“ zum Gegen-
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stand erhebt.
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Hingewiesen sei am Ende noch auf einen Punkt, der zwar


dezent im zweimaligen Blick auf den Philosophen A. G. Baum-
garten angedeutet, aber ausdrücklich nicht diskutiert worden
ist, der aber, was freilich Gegenstand eines anderen Gebiets ist,
vielleicht der zentrale Gesichtspunkt einer (genaueren) Be-
schäftigung mit den Entwicklungen im 18. Jahrhundert zu sein
hätte: Entstehung und Entwicklung der Ästhetik als philoso-
phischer Disziplin mit ihrer Auswirkung auf die Poetik – ja mit
der Eliminierung geradezu von der Poetik.28 Nur soviel als
kleine Andeutung: der Ansatzpunkt der Ästhetik beim Subjekt,
ihre Subjektzentriertheit, suspendiert schlußendlich alle objek-
tivierenden und normativen Poetiken; an die Stelle der Wirkung
rückt die Frage nach dem Subjekt und seinen Produktions-
bedingungen – wobei das produktive Rezeptionsvermögen da-
bei durchaus miteingeschlossen ist. Produktionsästhetik ersetzt
Wirkungspoetik! Schlußendlich: Ästhetik ersetzt die Poetik.

28
Vgl. dazu allgemein Jung, Werner, Von der Mimesis zur Simula-
tion, Hamburg 1995.
VI. Goethezeit

1. Sturm und Drang

Rückblickend fällt vieles leichter. Auch der Blick auf das eigene
Leben sieht vom Ende her anders aus, wenn von einem er-
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reichten Standpunkt aus, einem Ziel, der Weg dorthin be-


schrieben wird. Bis heute gilt Goethes Autobiographie „Dich-
tung und Wahrheit“ als Norm der Gattung. Strikt kausal und
teleologisch beschreibt Goethe seine Entwicklung, d.h. den Weg
der Selbstfindung und Entfaltung als Künstler. Auf die Kind-
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heit und frühe Jugend folgen die Leipziger Studienjahre, u.a.


bei Gellert, wo Goethe die berühmten Stil-Übungen und mo-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

ralischen Vorlesungen besucht hat, und dann die Bekanntschaft


mit jenen jungen Künstlern und Literaten, die nachmals unter
der Bewegung des Sturm und Drang zusammengefaßt werden
sollten. Im 12. Buch seiner Autobiographie schreibt Goethe:
[ Ich kam] mit jenen in einige Berührung, die sich, jung und talent-
voll, zusammenhielten, und nachher so viel und mannigfaltig wirk-
ten. Die beiden Grafen Stolberg, Bürger, Voß, Hölty und andere
waren im Glauben und Geiste um Klopstock versammelt, dessen
Wirkung sich nach allen Seiten hin erstreckte. In einem solchen
sich immer mehr erweiternden deutschen Dichterkreise entwickel-
te sich zugleich mit so mannigfaltigen poetischen Verdiensten
auch noch ein anderer Sinn, dem ich keinen ganz eigentlichen Na-
men zu geben wüßte. Man könnte ihn das Bedürfnis der Unab-
hängigkeit nennen, welches immer im Frieden entspringt, und ge-
rade da, wo man eigentlich nicht abhängig ist. […]1
Nicht nur die Namen des Dichterkreises werden hier bekannt
gemacht, Goethe redet auch über den inneren Geist der Grup-
pe, die sich um ihr Künstlerideal Klopstock, diesem ersten
1
Goethe, Johann Wolfgang, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und
Gespräche, (Hg.) Ernst Beutler, Zürich 1950, Bd. 10, S. 584f.
VI. Goethezeit 95

freien deutschen Schriftsteller, der nur aus den Einkünften sei-


ner Schriften lebt, versammeln. Da ist auf numinose Weise
von Freiheit die Rede, von einem antigesellschaftlichen Affront
– heute würden wir gar sagen: einer antiautoritären Geste –,
was die Jungen eint.
Der Name Klopstocks birgt zugleich ein Programm in sich;
denn der Dichter einer neuen Empfindsamkeit und Gefühls-
kultur, die sich in Oden und Liedern zu artikulieren versteht,
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hat auch ein reflektiertes Verhältnis zu seinem Schaffen und zu


seiner Rolle, was sich in etlichen Essays und Aufsätzen zeigt.
So wirbt er vehement für das neue Autorenbild, für die Rolle
des Genies. In der Ode „Ästhetiker“ etwa lautet die Kernaus-
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sage: „Lernt: Die Natur schreib in das Herz sein Gesetz ihm!“ 2
Und in der Programmschrift „Die deutsche Gelehrtenrepublik,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

ihre Einrichtung, ihre Gesetze“ von 1774 heißt es erläuternd


dazu: „Frag du den Geist, der in dir ist, und die Dinge, die du
um dich siehst und hörst, und die Beschaffenheit des, wovon
du vorhast zu dichten; und was die dir antworten, dem folge.“ 3
Das Genie produziert die Kunstwerke, und zwar nicht nach
vorgängigen Regeln, sondern aufgrund seines ihm angebore-
nen und weiterentwickelten Talents. Deshalb kann Klopstock
dann auch immer wieder auf den Begriff der Erfahrung rekur-
rieren. So oder so stimmt der Dichter ein hohes Lied auf die
Genialität an.
Die jungen Literaten folgen ihm darin, schreiben seine Lite-
ratur und Poetologie fort. Das eindrucksvollste Dokument
über die enorme Wirkung Klopstocks, über seine Funktion als
Kultautor, hat der junge Goethe mit seinem Werther-Roman
vorgelegt. An einer zentralen Stelle des Briefromans wird unter
dem vermeintlich lapidaren Hinweis auf Klopstock tatsächlich
auf eine gemeinsame intensive Gefühlskultur hingewiesen. Im

2
Klopstock, Friedrich Gottlieb, Ausgewählte Werke, (Hg.) Karl
August Schleiden, München 1962, S. 133.
3
A.a.O. S. 904.
96 VI. Goethezeit

Namen Klopstocks kann die Vereinigung zweier Herzen und


Seelen vollzogen werden; der Name gilt als Initial, als Erken-
nungszeichen: „Wir traten an’s Fenster, es donnerte abseit-
wärts und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der
erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen
Luft zu uns auf. Sie stand auf ihrem Ellenbogen gestützt und
ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf
mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die
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meinige und sagte – Klopstock! Ich ertrugs nicht, neigte mich


auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollesten Thrä-
nen.“ 4 Die Erwähnung des Dichters ist eine „Losung“, eine,
die Gemeinsamkeit stiftet, aber auch eine, die – in literatur-
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theoretischem Sinne – Intertextualität anzeigt. Denn Goethe


spielt in dieser Szene auf eine bestimmte Klopstocksche Ode,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

„Die Frühlingsfeier“, von 1759 an, worin der Dichter eine


ähnliche Naturschilderung (Frühlingslandschaften, Gewitter-
stürme, Lob Gottes als des Schöpfers) vorlegt und dabei den
Aspekt der Erhabenheit – ein grandioses Naturschauspiel, das
den Betrachter in ein wahres Sturmbad der Gefühle und Af-
fekte versetzt – vermitteln möchte. Und genau das ist der
springende Punkt in der Erzählung dann: die – letztlich – lite-
rarisch induzierte (oder evozierte) Gefühlsreaktion. Hoch-
gerechnet: ein Leben aus zweiter Hand, aus dem Buch. (Ich er-
innere nur an Werthers Ende; neben dem sterbenden Werther
steht eine angebrochene Flasche Wein und liegt Lessings
„Emilia Galotti“ aufgeschlagen auf dem Pult.)

4
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 4, S. 288f. – In der zweiten Auflage
heißt es noch präziser über diesen Klopstock-Einfluß: „Ich erin-
nerte mich sogleich der herrlichen Oden, die ihr in Gedanken lag,
und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser
Losung über mich ausgoß. ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre
Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen.“ (a.a.O.
S. 404 )
VI. Goethezeit 97

Die Stürmer und Dränger – Goethe steht hier pars pro


toto –, mögen sie Lenz oder Klinger, Herder oder Wagner,
Maler Müller, die Grafen Stolberg, Jung Stilling, Schiller oder
wie immer heißen, sie sind allesamt Eklektiker. Sie schließen
sich an fortgeschrittene Positionen aus der Aufklärung an und
haben, darauf ist verschiedentlich hingewiesen worden, keine
eigene Poetik entwickelt. Das Genie wird in den Vordergrund
gerückt, alle Regeln über Bord geworfen. Der Künstler ist als
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Schöpfer ein zweiter Gott, Prometheus ist Leitfigur, Shake-


speare heißt das große Vorbild. So kommt es denn auch nicht
von ungefähr, daß die jungen Stürmer und Dränger in den frü-
hen 70er Jahren ihre literarische Positionierung im Zeichen
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Shakespeares vornehmen. Goethe schreibt 1771 eine kurze


Rede zum Shakespeare-Tag, Herder 1773 einen Essay über
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

den Engländer, und Lenz entwirft ein Jahr später, also 1774, in
seinen „Anmerkungen übers Theater“ ebenfalls eine Shake-
speare-Apologie.
„Die erste Seite, die ich in ihm las“, orakelt Goethe, „mach-
te mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten
Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine
Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich
erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine
Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das
ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen.“ Shakespeare,
das ist die Freiheit, die ästhetische und wohl auch politische
Befreiung, die Befreiung von einengenden poetologischen Re-
geln und zugleich die Offenbarung eines „geheimen Punkts“,
wie es bei Goethe weiter heißt, „in dem das Eigentümliche
unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem
notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.“ „Er wett-
eiferte mit dem Prometheus,“ schließt Goethe sodann.5

5
Zit. nach Sturm und Drang, Weltanschauliche und ästhetische
Schriften, ( Hg.) Peter Müller, 2 Bde., Berlin und Weimar 1978,
Bd. 2, S. 3ff.
98 VI. Goethezeit

Herder, der theoretisch wohl begabteste Kopf der jungen


Generation, beschäftigt sich mit den ästhetischen und poetolo-
gischen Regeln der Alten, die er – darin erweist sich sein
Standpunkt als überlegen – nicht ablehnt, sondern historisch
relativiert (ähnlich wie Winckelmann mit Blick auf die antike
Kunstgeschichte). Das literarische Werk stellt eine aparte eige-
ne Welt für sich vor, eine Welt, die zwar auf Elemente in der
wirklichen Welt zurückgreift, die insgesamt aber eine Welt sui
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generis, eine Illusion, ist. Um eine „Begebenheit“, so analysiert


Herder den Gegensatz zwischen Shakespeare und den Grie-
chen, bei denen die dramatische Handlung um einen Charakter
im Mittelpunkt steht, dreht sich eine geschlossene Totalität,
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eine eigene, eigentümliche Welt. „In Othello, dem hohen, wel-


che Welt! welch ein Ganzes! lebendige Geschichte der Entstehung,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Fortgangs, Ausbruchs, traurigen Endes der Leidenschaft dieses Edlen


Unglückseligen! und in welcher Fülle, und Zusammenlauf der
Räder zu einem Werke!“ 6 Als Resümee dann: „Im Gange seiner
Begebenheit, im ordine successivorum und simultaneorum sei-
ner Welt, da liegt sein Raum und seine Zeit.“ 7 Was sich nicht
nur gegen die überkommene Drei-Einheiten-Lehre richtet,
sondern weiter noch darauf hinweist, daß dem literarischen
Werk die ihm eigenen Zeit-Raum-Koordinaten, die keine aus
der Realzeit bzw. Topographie der historischen Lebenswelt
sind, zugesprochen werden müssen. (Ein moderner französi-
scher Theoretiker, Gaston Bachelard, hat von einer eigentümli-
chen „Poetik des Raumes“ (1957; dt. 1960) gesprochen; der
postmoderne Philosoph Foucault gar von einer Sprache des
Draußen!)
Der Dramatiker Lenz ist soeben dabei, mit seinen Stücken
„Der Hofmeister“ (1774) und „Die Soldaten“ (1776), Dramen
über die Zerstörung der bürgerlichen Familie (und insofern
Fortsetzungen des bürgerlichen Trauerspiels), schließlich mit
6
Zit. nach Sturm und Drang a.a.O. Bd. 1, S. 283f.
7
A.a.O. S. 291.
VI. Goethezeit 99

seinem „Pandämonium Germanicum“ (entstanden vermutlich


1775), einer köstlichen Literatursatire über die Aufklärung, ein
neues Theater zu schaffen. Theoretisch reflektiert er darüber
in seinen „Anmerkungen übers Theater“ von 1774, einer
Schrift, die man zu den ästhetischen Kernschriften der Sturm-
und-Drang-Bewegung zählt. Dies insbesondere deshalb, weil
sich darin die Widersprüchlichkeit und Problematik der neuen
Bewegung spiegelt. Was ihren theoretischen Gehalt dagegen
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anbelangt, so ist der schmale Aufsatz eher dürftig zu nennen.


Unklarheiten in der Positionierung, wenn z.B. einerseits am
Paradigma der Naturnachahmung als dem Wesen der Poesie
festgehalten, andererseits dann aber der Schöpfungsgedanke
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des Genies hochgehalten wird. Aber schließen sich nicht Na-


turnachahmung und Genialität geradezu aus? Für Lenz jedoch
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

nicht. „Die Poesie scheint sich dadurch von allen Künsten und
Wissenschaften zu unterscheiden, daß sie diese beiden Quellen
vereinigt, alles scharf durchdacht, durchforscht, durchschaut –
und dann in getreuer Nachahmung zum andern und wieder her-
vorgebracht.“ 8 Der Pendelausschlag erfolgt nach zwei Seiten:
nach der Seite der Aufklärung einerseits, an deren Prinzipien
Lenz in vielen Punkten anknüpft, nach der Seite einer unbän-
digen, auch ungezügelten Genialität andererseits.
Vielleicht markantestes Beispiel dafür ist die Position, die
der junge Herder einnimmt, u.a. in einer als Preisschrift einge-
reichten Abhandlung des Jahres 1774. In diesem Text „Übers
Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele“, der ge-
nauso als sprachphilosophisch-hermeneutischer Versuch dis-
kutiert werden kann, redet Herder den Empfindungen als ba-
saler Stufe allen Erkennens das Wort. Er behauptet, daß „die
psychologische Physiologie“, die er auch „Physiognomik“
nennt, „der wichtigste Teil der Weltweisheit“ sei.9 Und es folgt
die für die Zeitgenossen wohl schockierende These – ein radi-
8
Zit. nach Sturm und Drang a.a.O. Bd. 2, S. 152.
9
Zit. nach Sturm und Drang a.a.O. Bd. 2, S. 416.
100 VI. Goethezeit

kaler Konstruktivismus avant la lettre –, daß wir nur entspre-


chend unseren Empfindungen, daß wir „nur im beständigen Ho-
rizont [des] Körpers“ erkennen können.10 Alles in allem: „Wir
leben immer in einer Welt, die wir uns selbst bilden.“ 11 Dies
mit allen daran hängenden Konsequenzen des Solipsismus, des
Mißverstehens, der Nicht-Mitteilbarkeit: „Der tiefste Grund
der Empfindungen ist allemal individuell; er liegt aber auch so
tief, daß er nicht mitgeteilt werden kann noch soll.“12 Von hier
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leitet Herder dann über zu einer Genielehre, vielmehr: zu einer


Typenlehre der Genies. Er unterscheidet ein tiefes von einem
reichen Genie, eines, das „mit innigem Empfindungsvermö-
gen“ ausgestattet ist und sich daher „tief“ in jeden Gegenstand
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einfühlen kann13, und eines, das „ein verbreitetes Empfin-


dungsvermögen“ hat, welches „leicht gleitet und also schwä-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

cher auf jedem Punkte würket.“ 14 Entscheidend ist für Herder


einzig das Empfindungsvermögen selbst – weniger die Artiku-
lation oder, mit Hegel zu reden, die Objektivation bzw. Verge-
genständlichung –, weshalb er auch an einer Stelle mit Blick
auf das von ihm favorisierte tiefe Genie erklärt, daß „die mei-
sten, die in den Tollhäusern liegen, Genies [sind]; nur sie sind
die wenigsten: die meisten ihrer Brüder laufen frei umher.“ 15
(Wir werden, wenn wir uns mit der Romantik befassen, einer
ganz ähnlichen Position in Jean Pauls „Vorschule der Ästhe-
tik“ wiederbegegnen. Mit dem entscheidenden Unterschied
freilich, daß Jean Paul immer die Werke der Genies, ihre Ent-
äußerungen, im Visier hat.) Herder artikuliert dagegen die Pro-
bleme einer frei vagierenden, einer ungebremsten Genialität,
die – lax formuliert – vor lauter Kraft nicht gehen kann! ( Daß

10
A.a.O. S. 417.
11
A.a.O. S. 418.
12
A.a.O. S. 421.
13
A.a.O. S. 423.
14
A.a.O. S. 427.
15
A.a.O. S. 425.
VI. Goethezeit 101

er sich bereits wenige Zeit später schon selbst korrigiert und


das einseitige Bild des Genies von der Kraftnatur und Künst-
lerindividualität wieder zurückgewiesen hat, sei hier lediglich
erwähnt. In der Abhandlung von 1800 „Von Kunstrichterei,
Geschmack und Genie“ spricht Herder von einem „höhere[n]
himmlische[n] Geist“, der „gemäß seiner Natur“ „zum Dienst
der Menschen“ bestimmt sei.1 6 )
Bruno Markwardts Einschätzung der Sturm-und-Drang-Pe-
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riode hat einiges für sich, wenn er sagt: „Aber man fühlt mehr,
als man es beweisen konnte, da man über die Gründe und Un-
tergründe, daß man vor allem über das Abgründige, Hinter-
gründige des Werkschöpferischen anderer Meinung war.“ 17
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Die alten Theorien und Systeme werden abgelehnt, die Natur


und das Organische bilden Bezugspunkte, um in deren Bild
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

das Gesellschaftliche als das Verknöcherte, das Mechanische


zurückzuweisen. Das Genie stand im Zentrum, Shakespeare war
seine Inkarnation, der Kraftkerl das Ziel. Aber auch die Pro-
metheus-Figur. „Genialität“, so schließt Markwardt sein Kapi-
tel über die Sturm-und-Drang-Poetik, „war für die Jungen zu-
gleich Poesiezeit, war ihre Zeit, wo Genie und Poesie endlich
als Einheit erlebt und erstrebt wurden.“ 18
Wenn man so will, hat Goethe mit seiner Prometheus-
Hymne vom Herbst 1774 den ‚foundation text‘ der ganzen Be-
wegung geliefert. Obwohl der Begriff selbst an keiner Stelle
fällt, so ist das Genie doch der einzige Gegenstand der Ode,
die zu Goethes bekanntesten Gedichten zählt und deren letzte
Strophe lautet: „Hier sitz’ ich, forme Menschen/ Nach mei-
nem Bilde,/ Ein Geschlecht, das mir gleich sei,/ Zu leiden, zu
weinen,/ Zu genießen und zu freuen sich,/ Und dein nicht zu
achten,/ Wie ich!“ 19 Jochen Schmidt nennt das Kapitel, das

16
Vgl. dazu Schmidt, Jochen a.a.O. Bd. 1, S. 149.
17
Markwardt a.a.O. S. 296.
18
A.a.O. S. 356.
19
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 1, S. 321
102 VI. Goethezeit

sich mit dieser Ode im Rahmen seiner zweibändigen Mono-


graphie über den Geniegedanken auseinandersetzt, die „Auto-
nomie-Erklärung des schöpferischen Menschen“.20 Völlig zu
Recht. Denn es geht Goethe darin um die Selbstermächtigung
des Genies als des produktivsten aller schöpferischen Men-
schen, dem im Bild des Halbgottes Prometheus – hier mag
sich Goethe der Prometheus-Einschätzung des englischen sen-
sualistischen Philosophen Shaftesbury angeschlossen haben21 –
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ein Denkmal gesetzt wird. So wie Prometheus Menschen, so


schafft das künstlerische Genie Artefakte – frei und selbstherr-
lich, ohne die Götter dabei zu achten. Der Begriff muß jetzt
unweigerlich fallen: Autonomie. Schöpfertum bedeutet näm-
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lich Autonomie, Selbständigkeit, Unabhängigkeit. Der Relatio-


nen gibt es dabei denkbar viele: Bezüge zur Gesellschaft, zum
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Markt, zu den ästhetischen Regeln und zum Geschmack. Von


all dem befreit sich das schöpferische Genie. In der Formulie-
rung Jochen Schmidts: „Der ganz aus sich heraus schaffende
autonome Künstler Prometheus ist Exponent einer Mensch-
heit, die sozial, politisch und geistig nach Selbstbestimmung
strebt. Das Autonomie-Konzept signalisiert die Loslösung von
überkommenen Autoritäten. Es gilt der Emanzipation aus nicht
mehr plausiblen Abhängigkeiten – von poetischen Regeln und
literarischen Vorbildern wie von ständischen Grenzen und re-
ligiösen Fixierungen.“ 22 „Zu fragen bleibt“, so Schmidt im fol-
genden, „ob sich die Worte des Prometheus „Hier sitz’ ich,
forme Menschen/ Nach meinem Bilde…“ auf künstlerische
Produktion einschränken lasse. Wohl geht es Goethe, dem
Dichter, zunächst um den künstlerischen Schaffensakt; aber
doch nicht allein. Denn sonst wären die Menschen, die Prome-
theus nach seinem Bilde formt, lediglich Produkte der Einbil-
dungskraft, im Falle Goethes also literarische Fiktionen. Der

20
Schmidt a.a.O. S. 261ff.
21
Schmidt a.a.O. S. 259ff.; Markwardt a.a.O. S. 321.
22
Schmidt a.a.O. S. 264.
VI. Goethezeit 103

Duktus der gesamten Ode, die sich auf Lebenserfahrungen be-


ruft, legt es nahe, die prometheische Formung des Menschen-
geschlechts umfassender zu verstehen: als eine Heranbildung
der realen Menschheit zu einem neuen Lebensgefühl und ei-
nem neuen Bewußtsein. Soweit künstlerisches Schaffen ge-
meint ist, dient es diesem übergeordneten Ziel.“ 23 Darüber
wird man freilich streiten können. Neue Welt- und Lebensan-
schauung mit der Ideologie eines restlos säkularisierten Men-
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schentums im Vordergrund hin oder her, fest steht, daß in be-


zug auf die Kunst bzw. Literatur die unbedingte Freiheit des
Schöpfertums wie – am Ende auch – des geschaffenen Werks
eingeklagt wird. Das Subjekt und seine Kreationen sind frei
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von den Regeln und Gesetzen; gebunden ist es einzig durch


seine Natur, wie es in anderen Oden Goethes aus derselben
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Zeit heißt (etwa „Mahomets-Gesang“), das Werk schließlich


ist nur um seiner selbst willen da, was Herder bereits 1770 in
einem „Kritischen Wäldchen“ bündig in der Formel zugespitzt
hatte: „Ein Kunstwerk ist der Kunst wegen da.“ 24
Eine gelungene Zusammenfassung unter Einschluß der
Forschungsliteratur zum jungen Goethe bietet die Einschät-
zung von Benedikt Jeßing:
Goethes Prometheus-Hymne umreißt den gesellschaftspolitischen,
weltanschaulichen und poetologischen Stellenwert, den die junge
Generation der Literatur zumaß. Literatur wird hier einerseits zum
Medium einer politisch oppositionellen Haltung der jungen bür-
gerlichen Intellektuellen: Der Mangel an politischer Öffentlich-
keit und Beteiligungsmöglichkeit wird vermeintlich kompensiert
durch die Begründung der bürgerlichen und unter anderem lite-
rarischen Öffentlichkeit. Gleichzeitig wird in dieser Literatur der
alten und überlebten herrschenden Klasse, dem Feudaladel, die
Erfindung des bürgerlichen Subjektes entgegengesetzt – als eines,
das sich ausspricht über seine neuartige Innerlichkeit und Emp-
findsamkeit. […] In neuer Sprache und dichterischer Form wer-
23
A.a.O. S. 268.
24
Zit. nach Markwardt a.a.O. S. 304.
104 VI. Goethezeit

den neuartige Bewußtseinsereignisse und Subjektentwürfe dich-


terisch konstituiert […].25
Folgt man dieser Interpretation, dann wird zudem deutlich, in
wie enger Nachbarschaft – ob gewollt oder nicht – sich das
neue Sturm-und-Drang-Konzept zu gewissen empfindsamen
Tendenzen aus der Linie Gellert-Klopstock befindet. Man kann
es auch so ausdrücken: die Literatur des Sturm und Drang ein-
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schließlich ihrer poetologischen Maximen fällt durchaus nicht


vom Himmel, sondern setzt Traditionen fort, radikalisiert sie,
ohne im wesentlichen etwas anderes, grundsätzlich Neues zu
artikulieren. Diese Radikalisierung der Literatur wird man am
ehesten noch im Bereich der Inhalte und Gegenstände, sehr
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viel weniger im Bereich der Formensprache antreffen. Die


Stürmer und Dränger bevorzugen nämlich neben dem Genie
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

und dem Kraftmenschen auch die Außenseiter und Sonderlin-


ge, wozu auch die besonders Empfindsamen – die Sensibel-
chen vom Schlage Werthers – zählen. Auf der Bühne tummeln
sich Kindsmörderinnen (Klinger) und Räuber (Schiller), Pro-
stituierte (Wagner, Lenz), Selbstmörder (Lenz’ Stolzius in „Die
Soldaten“) sowie Wahnsinnige aller Schattierungen, wovon
insbesondere auch die erzählende Literatur auf vielfältige Wei-
se handelt (u.a. Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“,
Heinses „Ardinghello“).26 Diese Favorisierung des Asozialen,
eines von der Norm abweichenden Charakters, mag damit zu
tun haben, daß in und mit ihm die junge Generation einen
„Einwand gegen das Bürgertum“, eine „Infragestellung seiner
Wertvorstellungen“ formulieren möchte – sozusagen die „In-
fragestellung eines optimistischen Menschen- und Weltbildes“

25
Jeßing, Benedikt, Johann Wolfgang Goethe, Stuttgart-Weimar
1995, S. 14.
26
Vgl. dazu allgemein Bennholdt-Thomsen, Anke und Guzzoni, Al-
fredo, Der „Asoziale“ in der Literatur um 1800, Königstein/Ts.
1979.
VI. Goethezeit 105

schlechthin.27 Das bestätigt allein schon wieder der Blick auf


Goethe: denn dieser schreibt den Werther und zeitgleich seine
Prometheus-Ode, ein Jahr zuvor bereits seinen „Götz von
Berlichingen“. Beide aber, der Weichling bzw. die schöne Seele
und der Kraftmensch, dessen ganzer Sinn auf Freiheit steht,
kommen um. Wenn man möchte, kann man daraus so etwas
wie eine Selbstkritik der Bewegung herauslesen – und zwar
eine Selbstkritik der unbedingten Genialität und schrankenlo-
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sen Subjektivität, die um die Setzung des eigenen Selbstbe-


wußtseins (als höchster Denk- und Handlungsmaxime) gravi-
tiert. „Die ‚Prometheus‘-Hymne und die Sesenheimer Lieder
gestalten jeweils Situationen, in denen dieses Selbstbewußtsein
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sich als innere Kraft behauptet und behaupten kann, weil es


nicht auf Widerstände trifft. Im ‚Werther‘ dagegen bewirkt der
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Subjektivismus das Scheitern und den Untergang des Helden.


Ähnliches gilt für Götz, um den es zum Schluß seines Lebens
immer stiller wird und der schließlich in tragischer Vereinsa-
mung stirbt.“ 28 Deutsche Herzen, deutsche Helden! Stolz und
frei bis in den Tod – ob kraftvoll oder kraftlos.

2. Klassik

Kommen wir noch einmal zurück auf Goethes Autobiographie


„Dichtung und Wahrheit.“ Nachdem Goethe seine Sturm-
und-Drang-Phase beschrieben hat, seine darauf folgenden Ex-
kursionen in die Politik am Weimarer Hof (immerhin zehn
Jahre lang), auch Irrungen und Wirrungen bei der Erziehung
seines Herzens, endet der Text mit dem Aufbruch nach Italien,
Ort und Hort der antiken Kunstdenkmäler. Danach wird er
mit neuen Augen und als ausgebildeter Künstler zurückkehren

27
A.a.O. S. 22 u. 24.
28
Herold, Theo und Wittenberg, Hildegard, Aufklärung, Sturm und
Drang, Stuttgart 1983, S. 114.
106 VI. Goethezeit

und das Projekt einer deutschen Klassik starten. Kurz vor der
Rückkehr nach Deutschland Mitte 1788 vertraut er Herzog
Karl August in einem Brief vom 17.3.1788 an: „Ich darf wohl
sagen: ich habe mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit
selbst wiedergefunden; aber als was? – Als Künstler!“ 29 Goethe
kehrt also nach Weimar zurück, wo nach einer zunächst noch
folgenlosen Begegnung mit Schiller 1788 ab 1794 dann der
Freundschaftsbund besiegelt wird. Schiller hält sich zwar noch
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mehr oder minder glücklos in Jena als Professor für Geschich-


te auf, siedelt 1799 aber ebenfalls endgültig nach Weimar über.
Ihre respektvoll-reservierte Freundschaft gründet in der ge-
meinsamen Antike-Begeisterung, einer tiefen Verunsicherung
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bzw. auch Verstörung über die politischen Zustände in Frank-


reich seit der französischen Revolution, schließlich im gemein-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

samen Bemühen, eine neue Literatur zu schaffen. Erster Aus-


druck dieser Gemeinschaft sind die Zeitschriften „Horen“ und
„Propyläen“. Schiller berät Goethe bei seinen Schreibprojek-
ten, ermuntert ihn zur Weiterarbeit am Faust, ist u.a. maßgeb-
lich an der Entstehung von „Hermann und Dorothea“ betei-
ligt, während Goethe seinerseits als Berater und Kritiker von
Schillers Dramen, etwa dem „Wallenstein“ oder der „Maria
Stuart“, auftritt. Überhaupt stellt der bis zu Schillers frühem
Tod am 9.5.1805 andauernde Briefwechsel zwischen beiden
Dichterheroen eine wahre Fundgrube für eine neue Poetik dar,
für eine deutsche Klassik, die dem Vorbild der Antike eben-
bürtig sein soll.
„Man analysiert“, schreibt der Goethe-Biograph Richard
Friedenthal, „vor allem auf das eingehendste sich selber,
denn im Grunde ist es ein Dialog auf einer einsamen Hoch-
ebene, die weder Baum noch Strauch hat.“ 30 Wenn Goethe in
„Dichtung und Wahrheit“ rückblickend auf seine Sturm-und-

29
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 19, S. 105.
30
Friedenthal, Richard, Goethe, Sein Leben und seine Zeit, Mün-
chen 1963, S. 399.
VI. Goethezeit 107

Drang-Jahre despektierlich über die damaligen „ästhetischen


Spekulationen“ urteilt und „alles Theoretisieren auf Mangel
oder Stockung vor Produktionskraft“ zurückführt, dann ist das
neue Kunstverständnis quasi-organisch. Es kommt nicht von
außen, wird nicht als Gesetz oder Regel an die Werke herange-
tragen, sondern ist den Texten inhärent. Auch der Geniekult
wird jetzt abgelehnt. Zwar teilen beide – Schillers auch in theo-
retischen Texten reflektiertes Verhältnis zur Kantschen Philo-
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sophie – die Ansicht aus der „Kritik der Urteilskraft“, wo-


nach im Genie die Natur der Kunst die Regel gibt. Allerdings
genügt beiden auch sogleich diese einfache Feststellung, die
Goethe einmal in abgewandelter Formulierung in seinen „Ma-
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ximen und Reflexionen“ so beschrieben hat: Kunst sei die


Auslegerin der Natur. „Wem die Natur ihr offenbares Ge-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

heimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwidersteh-


liche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.“ 31
Auch das ist längst bekannt; Goethe verbindet nur Kant mit
antiken, mittelalterlichen und renaissancistischen Vorstellun-
gen (Kunst als Dolmetscherin, als – mit Dante – „Gottes En-
kelin“). Mit Maßen neu daran ist allenfalls die Überzeugung,
daß die Kunst dennoch autonom zu sein habe. Ihre Wirkung –
durchaus eine moralische – sei implizit; Kunst belehrt, auch
ohne daß dies noch ästhetisch-theoretisch forciert vorgetragen
werden müßte.
Unter Bezug auf Goethes Alterswerk, „Wilhelm Meisters
Wanderjahre“, beschreibt Jochen Schmidt die Umakzentuie-
rung innerhalb des poetologischen Grundgerüsts folgenderma-
ßen: „Alles Schöpferisch-Individuelle wird nun abgewertet.
Nicht der große einzelne gilt in den ‚Wanderjahren‘, sondern
die Gemeinschaft, nicht der autonom und zweckfrei schaffen-
de geniale Künstler, sondern der dem gesellschaftlichen Nut-
zen verpflichtete Handwerker. Nicht auf Originalität kommt es
an, sondern auf Organisation der schon vorhandenen Kräfte.“
31
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 9, S. 510 [ Nr. 201].
108 VI. Goethezeit

Und an anderer Stelle weiter: „Während die Kunst in der Ge-


nie-Ästhetik als autonom und primär zweckfrei, wenn auch
nicht wirkungslos gilt, da sie wesentlich von ihrem Ursprung
her begriffen wird, ist sie nun ganz und gar zweckgerichtet. Sie
repräsentiert nicht Sein an sich, sondern wird einem überge-
ordneten Sinn dienstbar gemacht. Die Kunst erhält ihre Legiti-
mation nur aus diesem außerkünstlerischen Sinnhorizont. […]
Kunst ist Mittel der Erziehung – der Erziehung zur Gemein-
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schaft. Sie dient als psychosoziales Organisationsmittel.“ 32 Hin-


zufügen sollte man jedoch, daß Goethe (wie Schiller) nicht auf
heteronome ästhetische Konzepte vom Schlage der Aufklä-
rung – Moral als vorgeordnete Instanz – zurückfällt, sondern
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durchaus das Eigenrecht der Kunst sieht. Mit anderen Worten:


das Kunstwerk wirkt aus sich heraus, kraft der Überzeugung
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

und poetischen Stimmigkeit, nicht aber aufgrund eines gesetz-


ten äußeren ästhetisch-poetologischen Rahmens. Ziel des Un-
ternehmens ist, was auch Schmidt deutlich formuliert hat, die
Beförderung der Humanität bzw. – in Schillers Terminologie –
das Projekt einer ästhetischen Erziehung, die die Mängel der
politischen Welt, die Crux der sozialen Revolution kompen-
siert und auf andere Wege lenkt.
Ästhetische Erziehung meint hier eine Erziehung der Sinne
und durch die Sinnlichkeit anhand nicht zuletzt der Kunst im
Freiraum handlungsentlasteter Muße – Schiller redet vom
Spieltrieb. Nur wo er spielt, schreibt Schiller – und darin wer-
den ihm Soziologen und Psychologen bis heute gern folgen –,
ist der Mensch frei, nämlich entlastet von alltagspraktischen
Zwängen und Reaktionsmustern. Spielerisch – also in Freiheit
– kann er sich dann Kompetenzen aneignen, die ihm fürs wei-
tere Leben helfen können. Im ästhetischen Zustand entledigt
sich der Mensch von der „Macht der Natur“ 33, den Natur-

32
Vgl. Schmidt a.a.O. S. 345 u. 350.
33
Schiller, Friedrich, Über das Schöne und die Kunst, Schriften zur
Ästhetik, München 1984, S. 208.
VI. Goethezeit 109

schranken, und bildet sich zum ganzen Menschen, zu einer


Totalität34, aus. Am Ende steht die neue schöne Gemeinschaft,
ein ästhetischer Staat, den Schiller in den letzten Zeilen seiner
„Briefe über die ästhetische Erziehung“ schon vorgebildet
sieht „in jeder feingestimmten Seele“, „in einigen wenigen aus-
erlesenen Zirkeln“ 35 – also in ihrer eigenen Goethe-Schiller-
schen Gemeinschaft! Erziehung und Bildung zur Humanität,
so lautet die Maxime. Kunst und Literatur heißen die probaten
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Mittel. Die Antike ist Vorbild und Muster, geschichtsphiloso-


phisches Gegenmodell zur verdorbenen aktuellen Gegenwart.
Das klassische Projekt ist also in erster Linie ein Bildungs-
projekt. Was aber heißt klassische Literatur und wodurch
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zeichnet sie sich aus? – Goethe zäumt diese Fragestellung fol-


gendermaßen auf: Man muß, schreibt er in dem Aufsatz „Lite-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

rarischer Sansculottismus“ von 1795, der sich kritisch auf ei-


nen Aufsatz des Aufklärers Daniel Jenisch, „Über Prosa und
Beredsamkeit der Deutschen“, bezieht, danach fragen, wann
und wo ein klassischer Nationalautor entsteht. Und er antwor-
tet darauf:
Wenn er in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten
und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit
vorfindet; wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe,
in ihren Empfindungen Tiefe und in ihren Handlungen Stärke und
Konsequenz nicht vermißt; wenn er selbst, vom Nationalgeiste
durchdrungen, durch ein einwohnendes Genie sich fähig fühlt, mit
dem Vergangnen wie mit dem Gegenwärtigen zu sympathisieren;
wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Kultur findet,
so daß ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Mate-
rialien gesammelt, vollkommene oder unvollkommene Versuche
seiner Vorgänger vor sich sieht, und so viel äußere und innere
Umstände zusammentreffen, daß er kein schweres Lehrgeld zu
zahlen braucht, daß er in den besten Jahren seines Lebens ein gro-

34
Schiller a.a.O. S. 147.
35
Schiller a.a.O. S. 230.
110 VI. Goethezeit

ßes Werk zu übersehen, zu ordnen und in einem Sinne auszufüh-


ren fähig ist.36
Also, vorausgesetzt sind: „Nationalgeist“, ein gewisses „Genie“,
die Kompetenz, Vergangenes mit Gegenwärtigem zu verknüp-
fen, schließlich ein hoher Grad erreichter Kultur. Äußere Vor-
aussetzungen müssen auf innere Dispositionen treffen. Bildung,
Kultur, Wissen auf den verschiedensten Gebieten sind unver-
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zichtbar – in subjektiver wie objektiver Hinsicht, onto- wie


phylogenetisch.
Im Blick auf die Beschaffenheit des Werks selbst, seine poe-
tologische Organisation, bemüht Goethe immer wieder den
Begriff des Symbols. So heißt es beispielsweise in den „Maxi-
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men und Reflexionen“:


Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

das Besondere sucht, oder im Besonderen das Allgemeine schaut.


Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Bei-
spiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigent-
lich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans
Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses
Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne
es gewahr zu werden, oder erst spät.37
Das klassische Kunstwerk ist symbolisch, aus dem Besonderen
schaut zwanglos das Allgemeine heraus. Adressat ist der ganze
Mensch; so wie dieser als psycho-physische Einheit, als den-
kend-empfindende Ganzheit, sozusagen organisch geschlossen
gedacht wird, so begreift Goethe (wie auch Schiller) das
Kunstwerk, nämlich als eine harmonisch gerundete Totalität.
In einem Gespräch aus der Kunstnovelle „Der Sammler und
die Seinigen“ von 1798/99 schreibt Goethe: „Aber der Mensch
ist nicht bloß ein denkendes, er ist zugleich ein empfindendes
Wesen. Er ist ein Ganzes, eine Einheit vielfacher, innig ver-

36
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 14, S. 181.
37
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 9, S. 529 [ Nr. 281].
VI. Goethezeit 111

bundener Kräfte, und zu diesem Ganzen des Menschen muß


das Kunstwerk reden, es muß dieser reichen Einheit, dieser ei-
nigen Mannigfaltigkeit in ihm entsprechen.“ 38 Gelingt dem
Künstler das, dann hat er hervorgebracht, was man mit Bruno
Markwardt die wesenhafte Form nennen könnte.39
Schiller denkt noch weitaus strikter als Goethe, klassischer,
wenn man so will, denn er knüpft in seinem Begriff von Klas-
sik direkt an die Antike an: So impliziere, bemerkt er in einer
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brieflichen Äußerung vom 10.3.1789, Klassizität immer auch


Gattungsgemäßheit. Eins gehöre zum anderen notwendig da-
zu. Ja, man muß geradezu „einem Kunstwerk Classizität (ab-
sprechen), wenn seine Gattung nicht auf das Bestimmteste
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entschieden ist.“ 40
Hier nun tut sich eine Problematik auf, auf die vor Jahr-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

zehnten bereits der ungarische Philosoph und Ästhetiker Georg


Lukács hingewiesen und die dann der früh verstorbene Litera-
turwissenschaftler Peter Szondi in seinen immer noch lesens-
werten Vorlesungen, darunter „Von der normativen zur spe-
kulativen Gattungspoetik“, breit geschildert hat: die geforderte
Klassizität der neuen Dichtung – also des in Koautorschaft ge-
starteten Projekts einer deutschen Klassik – steht vor der Fra-
ge, wie man es mit den alten klassischen Gesetzmäßigkeiten,
mit der antiken Klassik überhaupt, zu halten habe. Als Frage
zugespitzt: schließt nicht die Forderung einer neuen Klassik,
die zugleich auch die eigene Zeit zum Anlaß und Vorwurf für
die Kunst reklamiert, die Orientierung an althergebrachten Re-
geln und Vorschriften apriori aus?
Die Widersprüchlichkeit zeigt sich in den möglichen Ant-
worten, die Schiller und Goethe hierauf gegeben haben. Schil-
ler z.B. hält dafür, daß „der ganze Cardo rei in der Kunst liegt,
eine poetische Fabel zu erfinden.“ Dies aber gelinge dem

38
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 13, S. 294.
39
Vgl. Markwardt a.a.O. Bd. III. S. 84f.
40
Zit. nach Markwardt a.a.O. Bd. III. S. 115.
112 VI. Goethezeit

Neueren, der sich „mit Zufälligkeiten und Nebendingen“ her-


umschlage, weil er „der Wirklichkeit recht nahe zu kommen“
versuche, kaum. Denn er laufe Gefahr, „die tiefliegende Wahr-
heit zu verlieren, worin eigentlich alles Poetische liegt. Er
möchte gern einen wirklichen Fall vollkommen nachahmen
und bedenkt nicht, daß eine poetische Darstellung mit der
Wirklichkeit eben darum, weil sie absolut wahr ist, niemals ko-
inzidieren kann.“ 41 Schiller fordert also die Idealisierung, die
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idealtypische bzw. – in Goethescher Redeweise – symbolische


Behandlung für ein dramatisches Kunstwerk. Damit aber, das
erfaßt oder erahnt Goethe instinktiv, entfernt sich das Kunst-
werk wieder von der Wirklichkeit. Realismus und Klassizismus
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schließen einander aus; in ästhetisch-theoretischer Rede: der


geforderte Wirklichkeitsbezug suspendiert notwendigerweise
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

wieder die Gattungspoetik. Goethe deutet das an im Brief-


wechsel mit Schiller unter dem Datum vom 23.12.1797: „Es ist
mir dabei recht aufgefallen, wie es kommt, daß wir Moderne
die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind, ja daß wir gar
nicht einmal imstand sind, sie voneinander zu unterscheiden.“ 42
Schiller argumentiert an der zitierten Stelle als ‚Ancien‘, Goe-
the als ‚Moderne‘; der eine votiert für die Klassizität der Antike
als unbedingtes Muster und als ewiggültige Norm, der andere
für ein vorsichtiges Sprengen der Gattungsgrenzen.
Lukács hat diese (letztendlich gewiß nie lösbare) Aporie auf
den Punkt gebracht: „Entweder soll aus dem Studium der An-
tike das System jener künstlerischen Gesetzmäßigkeiten abge-
leitet werden, mit deren Hilfe der Künstler die spezifische Eigen-
art des modernen Lebens ausdrücken kann. Also das Studium
der Antike dient dazu, die Formen und die Formgesetze der
modernen bürgerlichen Periode zu entdecken und aufzubauen. Oder
aber es soll vermittels dieser Erkenntnis ein System allgemei-

41
Schiller, Brief an Goethe vom 4.4.1797, zit. nach Goethe, Ge-
denkausgabe Bd. 19, S. 322f.
42
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 20 S. 472.
VI. Goethezeit 113

ner, „zeitloser“ Gesetze erkannt werden, mit deren Hilfe auch


in der Gegenwart – trotz der kunstfeindlichen Problematik des
gegenwärtigen Lebens – eine klassische Kunst geschaffen wer-
den kann, also die Überwindung der gesellschaftlich-inhaltlichen
Problematik der bürgerlichen Gegenwart mit Hilfe der schöpferisch
erneuerten antiken Form.“ 43
Zwei Wege sind möglich, und beide ist die Klassik, worauf
Lukács dann auch zu sprechen kommt, gegangen: der eine
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führt in den Klassizismus einer Idylle vom Schlage „Hermann


und Dorothea“, worin die politischen und sozialen Probleme
ästhetisch gelöst – nämlich wegeskamotiert – werden (das rein
Menschliche triumphiert über das Politische, die behäbige Bür-
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gerlichkeit über den Revolutionismus getreu dem Goetheschen


Vorsatz, „die großen Bewegungen und Veränderungen des
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Welttheaters aus einem kleinen Spiegel zurückzuwerfen“) –,


der andere bereitet dem späteren Realismus den Weg, so die
Meister-Romane, vor allem die Wanderjahre. Denn darin rea-
giert auch die Form auf die veränderten politischen und sozia-
len Verhältnisse in der realen Gegenwart, die man eine bürger-
lich-kapitalistische nennen und die man durchaus schon im
Begriff der Zerrissenheit fassen kann. Zerrissenheit als das
Auseinanderfallen der verschiedenen Interessensphären, – mo-
dern gesprochen, aber sehr wohl für die damalige Zeit zutref-
fend – der unterschiedlichen Lebenswelten.
Schon in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ von 1794-96 gibt
es ein in ästhetisch-poetologischer Hinsicht überaus aufschluß-
reiches Kapitel (V, 7), worin sich eine Gesellschaft unter Be-
teiligung von Wilhelm über die Gattungsunterschiede zwi-
schen Roman und Drama unterhält. Dort heißt es:
Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten
vorgestellt werden; im Drama Charaktere und Taten. Der Roman
muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müs-
sen, es sei auf welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen
43
Lukács, Georg, Goethe und seine Zeit, Berlin 1955, S. 91f.
114 VI. Goethezeit

zur Entwickelung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der Cha-
rakter der Hauptfigur muß sich nach dem Ende drängen und nur
aufgehalten werden. Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht
im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen verlangt
man Wirkung und Tat. Grandison, Clarissa, Pamela, der Landprie-
ster von Wakefield, Tom Jones selbst sind, wo nicht leidende,
doch retardierende Personen, und alle Begebenheiten werden ge-
wissermaßen nach ihren Gesinnungen gemodelt. Im Drama mo-
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delt der Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er räumt
und rückt die Hindernisse aus dem Wege oder unterliegt ihnen.44
Resümierend dann noch: während im Roman der Zufall
durchaus Platz hat, wird im Drama ein Schicksal verhandelt.
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Andere Stellen in Goethes Werken legen dann nahe, daß der


Roman von ( in der Vergangenheit ) abgeschlossenen Handlun-
gen berichtet, wohingegen das Drama ganz auf die Gegenwär-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

tigkeit eingestellt ist.


Wenn man diese Gattungsbestimmungen für den Roman
nimmt (Darstellung von „Gesinnungen und Begebenheiten“
in einer „langsamen“ Exposition), dann resultiert daraus
zwangsläufig ein Mehrfaches: die Entwicklung hin zu einem
realistischen Verfahren, das zudem in Richtung auf eine psy-
chologische Durchdringung der Figuren, eine Analyse ihrer
Gesinnungen und Antriebe, ihrer Motive und Handlungsdis-
positionen geht, schließlich dasjenige, was der junge Georg
Lukács später die extensive Totalität genannt hat, nämlich eine
dem Epos nachgebildete breite Ausmalung des jeweiligen hi-
storischen Hintergrunds. Sodann erkennt Goethe auch scharf,
daß der Held des Romans – mindestens der moderne – wenn
nicht gar ein leidender, so doch wenigstens ein passiver Cha-
rakter ist, was – wiederum in der Sprache Lukács’, der sich da-
bei freilich eng an Goethes Zeitgenossen Hegel anlehnt – mit
der Handlungsinkompetenz des „problematischen Menschen“
zu schaffen hat, der die Insuffizienz seines Tuns erkennen

44
Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 10, S. 321.
VI. Goethezeit 115

muß, wie er überhaupt schmerzlich unter seinen Erkenntnis-


sen leidet. Bei Goethe heißt diese problematische Natur im
Meister-Roman schöne Seele; Lukács (in der Nachfolge He-
gels) bezeichnet sie dann als zu ‚breite‘ Seele, worunter er ver-
steht, daß diese vor lauter Möglichkeiten und Alternativen fak-
tisch gar nicht mehr eingreifen, nicht mehr handeln kann. Die
moderne Welt als tragender Hintergrund des Romans ist zu-
gleich weiter und enger geworden; weiter, weil sie viele Mög-
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lichkeiten zur persönlichen Entwicklung – der Biographiepla-


nung – zunächst anbietet, enger, weil man sich schlußendlich
für einen Weg entscheiden muß, für einen Beruf, eine Familie,
einen Lebensplan. Deshalb interpretiert Lukács denn auch,
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wohl hinsichtlich des Gesamtprojekts, des Meister-Romans,


die Absicht des Goetheschen Erziehungs- und Bildungsro-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

mans so: das Erziehungsmäßige zeigt, „daß das schließliche


Ankommen des Helden in eine resignierte Einsamkeit nicht
einen völligen Zusammenbruch oder ein Beschmutztwerden
aller Ideale bedeutet, sondern die Einsicht in die Diskrepanz
zwischen Innerlichkeit und Welt, […].“ „Die Gebärde des Ankom-
mens drückt den gegenwärtigen Weltzustand aus, ist aber we-
der ein Protest dagegen noch seine Bejahung: nur ein verstehen-
des Erleben; ein Erleben, das gegen beide Seiten gerecht zu
werden bestrebt ist und das in dem Sich-nicht-auswirken-Kön-
nen der Seele in der Welt nicht nur die Wesenlosigkeit dieser,
sondern auch die innere Schwäche jener erblickt.“ 45
Die Signaturen der modernen Welt und bürgerlichen Ge-
sellschaft lauten auf „Diskrepanz zwischen Innerlichkeit und
Welt“ und „verstehendes Erleben“ – in Hegels ungleich be-
kannterer Formulierung: die „Poesie des Herzens“ rivalisiert
mit der „Prosa der Verhältnisse“, der Anspruch der Subjektivi-
tät mit den objektiven Ordnungen. Goethes Alterswerk, der
die Zeitgenossen arg irritierenden Fortsetzung des Meister-
45
Lukács, Georg, Die Theorie des Romans, Darmstadt-Neuwied
1976, S. 121f., Hervorhebungen W. J.
116 VI. Goethezeit

Romans unter dem Titel „Wilhelm Meisters Wanderjahre“,


gelingt ein umfassendes Porträt der eigenen Zeit, weil darin
– auch hinsichtlich der künstlerischen Form (Fragmentcharak-
ter, Sprengen der Linearität usw.) – die Widersprüchlichkeit
und eben benannte Zerrissenheit der Zeiterfahrung reflektiert
wird. Es ist „der erste große Versuch“, „Probleme des moder-
nen bürgerlichen Lebens in Deutschland in bewegter Totalität,
als umfassendes Gesamtbild darzustellen“; seine Größe be-
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steht darin, „die Totalität dieser Probleme in einem großen


epischen Zusammenhang zu gestalten, […].“ 46 Die Wanderjah-
re bereiten dem modernen Roman den Weg, seine offene
Form widerstreitet nicht nur Goethes früheren ästhetischen
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Überlegungen, sondern weist schon auf die fernere Romanent-


wicklung des 19. Jahrhunderts (Balzac, Flaubert, Dickens usw.)
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

voraus.
Auf diesen Aspekt hebt auch die neuere Forschung ab. Zu-
sammenfassend und stellvertretend für viele seien hier zwei
Einschätzungen zitiert. „Wilhelm Meister“, schreibt Jochen
Schmidt, „dominiert das Geschehen nicht im traditionellen
Sinne eines Romanhelden. Er ist überhaupt nicht mehr als
starkes, auffallendes Individuum markiert. Geradezu unschein-
bar lebt er nur seinen vergesellschaftenden Bezügen, Verbin-
dungen, Pflichten und Aufträgen. Immer wieder verliert er sich
im Geflecht des von ihm selbst mithergestellten größeren Zu-
sammenhangs. Und sein „Wandern“ ist nicht mehr wie im
Frühwerk – am eindringlichsten in ‚Wandrers Sturmlied‘ – eine
Chiffre ruhelosen, einsamen Schöpfertums, sondern eine ge-
sellschaftlich vermittelnde Bewegung, die das eigene Ich bis an
die Grenzen der Selbstentäußerung reduziert und es in einem
gelegentlich okkasionalistisch anmutenden Maß den konkreten
„Gelegenheiten“ überantwortet, in denen es nützen und zu
helfen vermag.“ 47 In der Klettschen Literaturgeschichte aus der
46
Lukács, Georg, Goethe und seine Zeit a.a.O. S. 92.
47
Schmidt a.a.O. S. 347.
VI. Goethezeit 117

Reihe Pegasus urteilen die Verfasser ganz auf der Linie Lu-
kács’, wenn sie davon sprechen, daß „die Erfahrung einer im-
mer komplexer und weiträumiger werdenden Welt“ in den Ro-
man eingegangen sei.
‚Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte
zusammengenommen die Welt.‘ Die ‚entschlossene Tätigkeit‘, der
‚Forderung des Tages‘ zu gehorchen, wird die vordringlichste Auf-
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gabe. Erst wenn ‚unsre redlichen menschlichen Gesinnungen‘ in


einen ‚praktischen Bezug ins Weite‘ und nicht nur zu dem ‚Näch-
sten‘ gesetzt werden, kann den Ansprüchen einer modernen Welt
Genüge getan werden. Ein sich auf den einzelnen konzentrieren-
der Bildungsbegriff ist damit fragwürdig geworden. Der Mensch
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muß angesichts der Moderne viel eher einen Weg finden, seine
selbstischen Wünsche zu beschränken und sie den Bedürfnissen
der Gesellschaft anzupassen. Am bündigsten hat Goethe diese
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Maxime durch den Untertitel der ‚Wanderjahre‘ ausgedrückt: ‚Die


Entsagenden‘.48
So führt das Projekt Klassik, dessen ästhetisch-poetologische
Leitlinien und Überzeugungen wir in groben Umrissen ken-
nengelernt haben – man müßte nun detailliert auf Goethes und
Schillers Dramatik, Schillers Lehrgedichte und philosophische
Schriften eingehen, wozu hier freilich der Platz fehlt –, zum ei-
nen in die neue Zeit des bürgerlich-kapitalistischen 19. Jahr-
hunderts, zum anderen aber auch wieder im Blick auf die theo-
retische Fundierung der Kunst in die Aufklärung zurück. Am
Ende seines Lebens schrieb Goethe den kurzen Aufsatz „Über
das Lehrgedicht“ (1827), worin es heißt: „Alle Poesie soll be-
lehrend sein, aber unmerklich; sie soll den Menschen aufmerk-
sam machen, wovon sich zu belehren wert wäre; er muß die
Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem Leben“ 49 Und noch

48
Große, Wilhelm und Grenzmann, Ludger, Klassik/Romantik, Ge-
schichte der deutschen Literatur, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 81f.;
dazu allgemein auch Jeßing a.a.O. S. 149ff.
49
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 14 S. 370.
118 VI. Goethezeit

später, in dem postum erschienenen Aufsatz „Ein Wort für


junge Dichter“ (1833), formuliert Goethe eine Lebensmaxime:
Wenn ich aber aussprechen soll, was ich den Deutschen über-
haupt, besonders den jungen Dichtern geworden bin, so darf ich
mich wohl ihren Befreier nennen; denn sie sind an mir gewahr ge-
worden, daß, wie der Mensch von innen heraus leben, der Künst-
ler von innen heraus wirken müsse, indem er, gebärde er sich wie
er will, immer nur sein Individuum zutage fördern wird.50
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Neues und Altes zugleich, in unreiner Mischung, einer Ge-


mengelage: Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik und Ro-
mantik. Denn hier, wie wir noch sehen werden, geht der ge-
heimnisvolle Weg nach Innen, um mit Novalis zu reden.
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Goethe ist Bezugspunkt, Reflexionsgegenstand, aber auch der


Wetzstein ihrer Kritik.
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

3. Romantik

Weimar ist das eine Zentrum, Jena das andere. In jenem wird
die klassische Literatur geboren, in diesem die romantische aus
der Taufe gehoben. Dabei gilt, was auch schon in bezug auf
die Klassik geäußert worden ist, daß nämlich, von Romantik,
gar einer romantischen Epoche zu reden, überaus problema-
tisch ist. Denn man muß, wie im Fall der Klassik auch, hin-
sichtlich der Romantik von einer Gleichzeitigkeit ausgehen.
Andersherum formuliert: es kommt in den Jahren zwischen
1790 und 1810 zu einer Ausdifferenzierung der Literatur.
Viele Romantiker der ersten Generation, Friedrich und Au-
gust Wilhelm Schlegel oder Tieck, haben in Goethe, insbeson-
dere im Meister-Roman, ihr großes Vorbild gesehen, den Be-
freier einer neuen deutschen Literatur. Andere, wie Novalis
z.B., haben Goethe dagegen heftig kritisiert und ihm Philister-

50
Goethe, Gedenkausgabe Bd. 14 S. 398.
VI. Goethezeit 119

tum vorgeworfen. Allein, ein Unterscheidungskriterium liefert


das freilich noch nicht. Vor allen literatur- und kunsttheoreti-
schen Unterschieden muß der wesentliche Unterscheidungs-
punkt in einer gänzlich anderen Welt- und Lebensanschauung
gesehen werden. An die Stelle des Heroen, des Künstler-Ge-
nies, rückt jetzt eine schöne Gemeinschaft, der Geselligkeits-
kult gleich Denkender und Empfindender. Anders als in der
Aufklärung, die noch bei der Konstruktion einer empfindsa-
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men Gemeinschaftskultur an eine neue bürgerliche Gesell-


schaft dachte, definieren sich die jungen Romantiker – Schüler
und Studenten – als Außenseiter, opponieren gegen eine zer-
rissene, zweckrational eingestellte Gesellschaft.
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Keine neue Gesellschaft also, erst recht keine bürgerliche,


die ihnen im Bild des Philisters entgegentritt, sondern ein be-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

wußter Ausstieg aus der Gesellschaft. Daher entfällt auch der


Bildungs- bzw. Erziehungsgedanke bei den jungen Romanti-
kern. Man liebt und treibt Kunst und Literatur um ihrer selbst
willen, haßt dagegen den bürgerlichen Betrieb und das Alltags-
leben. „Unser Alltagsleben“, schreibt Novalis in einem Blü-
thenstaub-Fragment, „besteht aus lauter erhaltenden, immer
wiederkehrenden Handlungen. Dieser Zirkel von Gewohn-
heiten ist nur Mittel zu einem Hauptmittel, unserm irdischen
Daseyn überhaupt, das aus mannichfaltigen Arten zu existiren
gemischt ist. – Philister leben nur ein Alltagsleben. Das Haupt-
mittel scheint ihr einziger Zweck zu seyn.“ 51 Gegen ein sol-
cherart entfremdetes Leben setzen die jungen Romantiker ihre
Geselligkeitsformen, deren Ort die erweiterte Familie oder der
Salon ist.
Die Schriftsteller des frühromantischen Kreises stammten zwar in
ihrer Mehrheit aus dem mittelständischen Bürgertum (die Schle-
gels, Schelling, Schleiermacher waren Pfarrerssöhne, Wacken-

51
Novalis, Schriften, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von
Hardenbergs, 2 Bde., ( Hg.) Hans-Joachim Mähl und Richard Sa-
muel, Darmstadt 1978, Bd. 2, S. 261ff.
120 VI. Goethezeit

roders Vater war preußischer Beamter, und Tieck kam aus einer
Handwerkerfamilie), doch aufs ganze gesehen setzt sich die ro-
mantische Schule wie andere Elitebildungen zuvor aus gebildetem
Bürgertum und Adel zusammen: Novalis, Achim von Arnim,
Kleist, auch Brentano sind adliger Herkunft. Immerhin läßt sich
eine deutliche Tendenz zur Verbreiterung der sozialen Basis er-
kennen. Man versteht sich als Repräsentant der breiten Volks-
schichten, und Frauen, Jugendliche und Juden, die bisher oft aus-
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geschlossen waren, gehören selbstverständlich zur Gesellschaft


und bilden sogar, denken wir an Rahel Levin und Henriette Herz,
in vielen Fällen das organisatorische und intellektuelle Zentrum.52
Man schreibt und liest, nicht zuletzt eben die eigenen Produk-
tionen, musiziert und diskutiert. Unterhaltung als Lebens-
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zweck, als bedeutendste Form einer geselligen Vergesellschaf-


tung. Ludwig Tiecks Roman „Phantasus“, der in vielfacher
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Hinsicht ein typisches romantisches Kunstwerk darstellt, hat in


seiner Rahmenhandlung ein eindringliches Porträt dieser Ge-
selligkeit gezeichnet. Geplant in den Jahren 1799/1800 in Jena,
aber erst 1812 bzw. 1816 erschienen, reagiert Tiecks Roman auf
die Erfahrungen im Jenaer Freundeskreis aus der Zeit vor der
Jahrhundertwende. Äußere Zeichen für diesen aktuellen Bezug
drücken die Widmung an den Freund A. W. Schlegel aus („Es
war eine schöne Zeit meines Lebens, als ich Dich und Deinen
Bruder Friedrich zuerst kennen lernte; eine noch schönere, als
wir und Novalis für Kunst und Wissenschaft vereinigt lebten,
und uns in mannigfaltigen Bestrebungen begegneten.“ 5 3 ),
aber auch die in der Rahmenhandlung wiedergegebenen Ge-
sprächssituationen des Freundschaftsbundes, zu dem sich sie-
ben Männer und einige Frauen zusammenfinden. Da wird eine
52
Ueding, Gert, Klassik und Romantik, Deutsche Literatur im Zeit-
alter der Französischen Revolution 1789-1815, 2 Bde., München
1988, Bd. 1, S. 107f.
53
Tieck, Ludwig, Phantasus, ( Hg.) Manfred Frank, in: Ders., Schrif-
ten in zwölf Bänden, (Hg.) Manfred Frank u.a., Bd. 6., Frank-
furt/M. 1985, S. 9.
VI. Goethezeit 121

komplexe Lebensphilosophie mit den Zentren Freundschaft,


Liebe, Geselligkeit, Kunst und Poesie, aber auch Ästhetik und
Kritik im Plauderton entworfen. Die Freundschaft wird als
Kunst bezeichnet54, die Geselligkeit in Verbindung mit der Li-
teratur gebracht: „Im Gegenteil“, so äußert sich einer der Prot-
agonisten, „finde ich es natürlich und schicklich, daß in jeder
gemischten Gesellschaft, in welcher sich junge Männer und an-
mutige Frauen und reizende Mädchen befinden, kleine Roma-
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ne gespielt werden, dies eben erweckt den Witz und belebt und
schafft den feinern Geist der Unterhaltung; […].“ 55 Leben und
lieben wie ein Roman, wie im Roman. An anderer Stelle wird
der witzige Vergleich zwischen einer Mahlzeit und dem Ver-
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lauf eines Schauspiels angestellt; ebenso wie ein Gastmahl ver-


schiedene Gänge umfaßt, mit Entrées und Suppen beginnt,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

um über ausgetüftelte Hauptgerichte beim Nachtisch zu enden,


so beinhaltet auch die Dramatik eine sich steigernde Komple-
xion, wie Lothar, der Erzähler, an den Lustspielen Shakespeares
nachzuweisen versteht, die sich in „dem allerliebsten albernen,
aber bedeutenden Gesang des liebenswürdigsten Narren“ 56
runden. Ja, „jede Tischunterhaltung sollte selbst ein Kunst-
werk sein, das auf gehörige Art das Mahl akkompagnierte und
im richtigen Generalbaß mit ihm gesetzt wäre.“ 57 Gegenstände
der Unterhaltung beim geselligen Beisammensein sind insbe-
sondere Kunst und Literatur, wobei Tieck flugs in seinen Ro-
mantext Apologien der neuen romantischen Dichter hinein-
schreibt. Nach Goethe, dem „Vater und Befreier unserer
Kunst“ 58, werden Schiller und Jean Paul, Friedrich und August
Wilhelm Schlegel, am Ende noch Novalis, der „Vorkämpfer

54
A.a.O. S. 26.
55
A.a.O. S. 45.
56
A.a.O. S. 61f.
57
A.a.O. S. 64.
58
A.a.O. S. 77.
122 VI. Goethezeit

der Religion, der Liebe und der Unschuld“ 59 genannt. Alles in


allem, könnte man zusammenfassen, geht es darum, das Leben
zu poetisieren, d.h. die Wirklichkeit in Phantasie zu überfüh-
ren oder, wie es an einer Stelle unmißverständlich heißt, „aus
witziger Willkür mit der Wirklichkeit wie mit Träumen [zu]
spielen.“ 60 Der Witz gilt den jungen Künstlern wie schon den
Aufklärern und auch Jean Paul, an dessen theoretische Vor-
stellungen aus der „Vorschule der Ästhetik“, im übrigen auch
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namentlich von Tieck erwähnt, sie anknüpfen, als schöpferi-


sches Vermögen, als Phantasietätigkeit, die mit Paradoxen spielt
und Realität ‚annihiliert‘ (um eine wichtige Vokabel Friedrich
Schlegels zu gebrauchen). Der Tiecksche Roman, ein buntes
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Gemisch aus Erzählungen und Novellen, Märchen, Lustspie-


len, Gedichten, essayistischen Reflexionen, das von einer Rah-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

menhandlung im Sinne Boccaccios umgeben ist, spielt auf alle


frühromantischen Themen und Aspekte an. Mehr noch: er löst
dasjenige ein, was in den programmatischen theoretischen Äu-
ßerungen der führenden Zeitgenossen gefordert wird. Ver-
wunderlich ist das freilich nicht, da Tieck seine Jenenser
Jahre in engster räumlicher Nähe mit den Schlegel-Brüdern,
mit Schelling und Schleiermacher verbracht hat. Bereits diese
Namen können vermitteln, daß der frühromantische Zirkel
von den unterschiedlichsten Temperamenten, Einflüssen und
Aspekten beherrscht wird. Poesie und Philosophie, Religion
und Wissenschaft, Ästhetik und Kritik, schließlich die Herme-
neutik geben sich ein Stelldichein. Produktive Verunsicherun-
gen werden allüberall ausgelöst, Grenzen der Wissenschaft wie
Poesie gesprengt, eine neue Poetik wird inszeniert, eine neue
Literatur geschaffen.
Dazu noch einmal Ludwig Tieck, diesmal mit Formulierun-
gen aus seinem frühen Roman „Franz Sternbalds Wanderun-
gen“ von 1796, der zeitlich noch vor den Jenenser Sturmläufen
59
A.a.O. S. 79.
60
A.a.O. S. 84.
VI. Goethezeit 123

liegt, aber bereits die Kunstideale der neuen Bewegung vor-


wegnimmt. In diesem in der Dürer-Zeit angesiedelten Roman
gibt es ein Gespräch zwischen dem jungen Künstler Franz
Sternbald und dem reichen Handelsmann und Bürger Vansen
aus Antwerpen. Während Vansen die Kunst als „unnütze Spie-
lerei“, ja „schädliche[n] Zeitverderb“ abtut, weil sie bloß eine
„armselige Nachahmung der Wirklichkeit“ sei und bestenfalls
dazu diene, „elende Begierden zu erwecken“, hält Franz ein
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glühendes Plädoyer für die wahre Kunst, die er „für ein Unter-
pfand unsrer Unsterblichkeit“ ansieht. In einem hochgestimm-
ten idealistischen Tonfall äußert er sich über die richtige und
wahre Kunst, eine, die nicht nach Geld geht, nicht auf etwel-
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che Bedürfnisse des Publikums abzweckt und dennoch eine


erhabene Wirkung erzielt: „Ich sage es noch einmal, das wahr-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

haft Hohe darf und kann nicht nützen; dieses Nützlichsein ist
seiner göttlichen Natur ganz fremd, und es fodern heißt die
Erhabenheit entadeln und zu den gemeinen Bedürfnissen der
Menschheit herabwirtschaften.“ 61 Im folgenden entwirft Tieck
dann Richtlinien einer Produktionsästhetik, in deren Mittel-
punkt der schaffende Künstler steht. Scharf weist er dabei die
Ansinnen des Kunstmarktes zurück, die den Künstler in sei-
nem Schaffen zu versklaven drohen: „Es ist zu bejammern,
daß in unserm irdischen Leben der Geist so von der Materie
abhängig ist. […] schon oft hat es mir Tränen ausgepreßt, daß
sich der Künstler muß bezahlen lassen, daß er mit den Ergie-
ßungen seines Herzens Handel treibt und oft von kalten See-
len in seiner Not die Begegnung eines Sklaven erfahren muß.“ 62
Hier klingt eine Kritik an der Kunstvermarktung an, bei der
das Werk zur frei flottierenden Ware wird, was wir bereits aus
spätaufklärerischen Schriften kennen. Schon Nicolai, für den
und mit dem Tieck im übrigen zeitweise gearbeitet hat, attak-

61
Tieck, Wilhelm, Franz Sternbalds Wanderungen, Studienausgabe,
( Hg.) Alfred Anger, Stuttgart 1979, S. 174ff.
62
A.a.O. S. 176.
124 VI. Goethezeit

kierte im „Sebaldus Nothanker“ heftig den Buchmarkt seiner


Zeit. Zwanzig Jahre später haben sich diese Verhältnisse weiter
dramatisch zugespitzt. Kunst und insbesondere eine (Unter-
haltungs-)Literatur, die nach Geld und auf hohe Auflagenzif-
fern schielt, ist verdammungswürdig; auf sie saust die geballte
Kritik der Frühromantiker herab – Tieck hat sie verschiedent-
lich, nicht zuletzt auch in satirischen Seitenhieben aus der Rah-
menhandlung des „Phantasus“ zur Zielscheibe gewählt.
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Die Kunst der Romantiker bzw. ihr Kunstverständnis, das


sich in einer großen Zahl von Essays, Aufsätzen, Fragmenten
und Aphorismen artikuliert hat, kreist um den Grundbegriff
der Poesie als eines kosmischen Elements, einer „Urkraft der
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Menschheit“ bzw. – in einer Formulierung A. W. Schlegels –


des Ursprünglichsten, der Ur- und Mutterkunst.63 Friedrich
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Schlegel stellt lapidar in einer Notiz von 1800 fest: „Poesie ist
durchaus C[entrum] in jeder Hinsicht.“ 64 Sie ist alles andere als
Nachahmung, nämlich Schöpfung einer zweiten Welt, nicht
auf Gesetze oder Regeln zu bringen, „indefinissabel“, wie No-
valis es ausgedrückt hat, gleichwohl jedoch auf Erkenntnis
– Erkennbarkeit – bezogen und auf Auslegung, die die Früh-
romantiker im Begriff der Kritik zusammenfassen, angewiesen.
Dafür prägt Friedrich Schlegel dann auch den Begriff der
Transzendentalpoesie, womit zum einen der Aspekt der – mo-
dern gesprochen – Selbstreflexivität, zum anderen auch der
Aspekt der notwendigen Deutung des poetischen Werkes im
Sinne einer kritischen Nach- und Weiterschrift gemeint ist.
63
Vgl. Nivelle, Armand, Frühromantische Dichtungstheorie, Berlin
1970, S. 112; außerdem auch allgemein dazu Benjamin, Walter,
Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders.:
Gesammelte Schriften, Bd. I/1, Abhandlungen, (Hg.) Rolf Tiede-
mann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 7-
122 sowie Mennemeier, Franz Norbert, Friedrich Schlegels Poe-
siebegriff, München 1971.
64
Schlegel, Friedrich, Literarische Notizen 1797-1801, (Hg.) Hans
Eichner, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980, S. 186, Nr. 1827.
VI. Goethezeit 125

Sehen wir uns nun diese Aspekte bzw. verschiedenen Mo-


mente ein wenig genauer an.
Der ‚foundation text‘ der ganzen Bewegung, ja der ganzen
Generation (unter Einschluß der Philosophen) ist das soge-
nannte „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“.
In der Handschrift Hegels überliefert, muß – darüber ist sich
die Forschung heute weitgehend einig – von einer Beteiligung
Schellings und Hölderlins, die alle drei gemeinsam das Tübin-
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ger Stift besucht haben, ausgegangen werden. Zeitlich liegt die


kurze Abhandlung – mutmaßlich im Juni 1796 – noch vor der
Geburtsstunde der Frühromantik (1798). Aber alle wichtigen
Themen und Thesen werden hierin schon vorweggenommen.
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Auf die enorme philosophische und auch politische Bedeutung


des Textfragments kann hier nicht näher eingegangen wer-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

den. Der Text ist so hermetisch und dabei beziehungsreich,


daß er bereits viele detaillierte philologische wie philosophi-
sche Deutungsarbeit herausgefordert hat. Uns kommt es le-
diglich auf die Stellung und Funktion der Poesie an, die der
Text, der die Grundlinien eines neuen ästhetisch-politischen
Bildungsprogramms (in Auseinandersetzung mit dem Schiller-
schen Entwurf) vorzeichnet, entwirft. Im Anschluß an die Tri-
nitätsformel Thomas von Aquins, die die drei Stiftsschüler so
ausdeuten, daß „Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit ver-
schwistert sind“, daß also in der werkgewordenen Idee der
Schönheit die Logik des Verstandes und die der Moral verei-
nigt sind, halten sie sodann dafür, daß die Poesie „am Ende
wieder [wird], was sie am Anfang war – Lehrerin der (Geschichte)
Menschheit“.65
Kein aufklärerisches Erziehungsmodell, sondern ein weit
anspruchsvolleres – man könnte auch sagen: hemmungslose-
res – Projekt, denn das Ziel ist eine neue Mythologie, eine Re-
ligion, innerhalb deren dem Dichter-Poeten die Aufgabe des
65
Zit. nach Frank, Manfred und Kurz, Gerhard (Hg.), Materialien zu
Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt/M. 1975, S. 111f.
126 VI. Goethezeit

Sehens und Kündens zufällt. Der Poet ist – antiken Eingeden-


kens – wieder zum ‚Vates‘ aufgestiegen. Man sollte das Sy-
stemprogramm mit Blick auf die Poesie so lesen, daß es hier
um die Selbstermächtigung der Produktivität, des produktiven
Schöpfers geht. Insofern handelt es sich um ein Weiterden-
ken Goethescher Positionen, handelt es sich um eine Pro-
duktionsästhetik. Zugleich aber schießt der Text wieder dar-
über hinaus, insofern er eine säkularisierte Kunstreligion
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zelebriert, die sich um die Ikone des Werks – freilich als Idee
der Schönheit verstanden – schart. Die Selbstbefreiung der
Menschheit im Zeichen der Kunst, könnte man vielleicht sa-
gen. Schiller läßt grüßen.
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Das älteste Systemprogramm steckt in gewisser Weise den


Rahmen ab, innerhalb dessen dann der frühromantische Zirkel
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

seine spezifischen Vorstellungen zur Poetik entwirft. Das Or-


gan der Bewegung – ihr Zentrum auch in den Jahren zwischen
1798 und 1800 –, worin die kritischen Selbstreflexionen ihren
angemessenen Ausdruck finden, ist die Zeitschrift „Athenae-
um“. Novalis liefert für sie die Fragmentsammlung „Blüthen-
staub“ und die „Hymnen an die Nacht“, August W. Schlegel
u.a. kritische Betrachtungen und Rezensionen zur zeitgenössi-
schen Literatur, Friedrich Schlegel, der der Hauptbeiträger ist,
schließlich ebenfalls Sammlungen von Fragmenten, außerdem
das berühmte „Gespräch über die Poesie“ und den als kriti-
schen Rückblick zu verstehenden Essay „Ueber die Unver-
ständlichkeit“, der den Beschluß der Zeitschrift darstellt. Aber
auch wenn die Beiträge des Athenäums namentlich gekenn-
zeichnet sind, so sind sie doch im Grunde alle Gemeinschafts-
arbeiten, entstanden in pausenlosen Diskussionen. Sie drücken
ein Gemeinschaftsgefühl, eine gemeinschaftliche Haltung und
selbstverständlich auch eine gemeinsame kunst- bzw. litera-
turtheoretische Position aus, was sich etwa durch eine Viel-
zahl gleichklingender Formulierungen aus der Feder von No-
valis oder den Schlegel-Brüdern, nicht zuletzt auch Tiecks
belegen läßt.
VI. Goethezeit 127

Der auf kunst- und literaturtheoretischem oder -kritischem


Gebiet versierteste Romantiker ist wohl Friedrich Schlegel;
wenn Novalis der Poet und gefeierte Künstler der Szene ist,
August Wilhelm Schlegel der exakte Wissenschaftler, der Phi-
lologe und Übersetzer, dann muß der jüngere Schlegel-Bruder
als Stichwortgeber, Projektemacher und quirlig-umtriebiger
Initiator bezeichnet werden. Auf einen Mangel an eigener lite-
rarischer Produktivität, wobei allerdings der Roman „Lucinde“
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(1799) in mehrfachem Sinne herausragt, was man für ein


glückloses Drama sowie die Lyrik nicht wird behaupten kön-
nen, hat man Friedrich Schlegels Vorliebe für das Fragment
und den Aphorismus zurückgeführt. Tatsächlich aber greift
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diese psychologisierende Einschätzung viel zu kurz, denn sie


verkennt, daß sich in der Wahl des Mediums – in dem sich üb-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

rigens ja auch Schleiermacher und Novalis bewegt haben –


eine bewußte Distanz, ja ein gezielter Angriff auf traditionelle
Poetiken und Ästhetiken zeigt. Der mutmaßliche Mangel an
Systematik und Ordnung und die Favorisierung eines überbor-
denden Fragmentenhaufens, eines wahren Chaos, stellt eine
scharfe Attacke auf die kommode Verstandestätigkeit dar. An
die Stelle des philosophischen und überhaupt jedes wissen-
schaftlichen Systems sollen philosophische Blüten und literari-
sche Sämereien (vgl. Athenäum, I, S. 73 u. 106), schöne oder
witzige Gedanken (ebd.) treten. Echtes Nachdenken wird ge-
fordert, das den „Text des Zeitalters“ (I, S. 248) in „echappées
de vue“ (I, S. 234), „Randglossen“ oder „fermenta cognitionis“
(I, S. 248) zu entziffern versucht. (Man kann sich unschwer
vorstellen, was ein gründlicher Systematiker wie Hegel, ein
Zeitgenosse der Schlegel-Brüder, davon gehalten und wie er,
z.B. in seinen eigenen Ästhetik-Vorlesungen, diese ‚ruchlose
Denkungsart‘ abgekanzelt hat.)
Auch Friedrich Schlegels poetologische Ansichten fin-
den sich in einer Unzahl von fragmentarischen und essayisti-
schen Äußerungen; sie sind ‚beihergesprochen‘. Dabei hat er
in seinen allerersten Anfängen, die ihn als Ultraklassizisten zei-
128 VI. Goethezeit

gen66, durchaus gründlich und systematisch gearbeitet. In sei-


ner bekannten Abhandlung „Über das Studium der griechischen
Poesie“ (1795-1797) hält er einen geschichtsphilosophisch tin-
gierten Rückblick auf die klassische griechische Poesie, der er
wahre Objektivität und ein Höchstmaß an poetischer Schön-
heit attestiert. Und diese Zeiten glücklicher Harmonie – hier
entwirft er eine Vorstellung, die dann zum Gemeingut aller
idealistischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts aufsteigen wird
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– sind unwiederbringlich vorüber. Gleichwohl erkennt und


formuliert Schlegel in aller Schärfe die Tendenzen der neuen,
modernen Literatur – einer, die er unter dem Begriff des In-
teressanten zusammenfaßt. Diese Poesie ist keinesfalls schön,
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sondern im schlimmsten Fall sogar häßlich, weil sie die Re-


geln verletzt (= Inkorrektheit ), den Kanon aller Gattungen
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

sprengt und inhaltlich schließlich auf das „Piquante“, „Frap-


pante“ und „Choquante“ (das Abenteuerliche, Ekelhafte, Gräß-
liche) setzt.67 Der Ultraklassizismus ist, wenn man so will, die
Bedingung dafür, daß Schlegel allererst distanzierter und diffe-
renzierter zugleich das Wesen der modernen, der zeitgenössi-
schen Literaturproduktion zu erfassen in der Lage ist. In ein
geschichtsphilosophisches Schema, das der griechischen Anti-
ke Einheit und Harmonie zuweist und in der Moderne à la
Schiller überall nur Zerrissenheit und Entfremdung, eine Ver-
wilderung des guten Geschmacks aufspürt, wird eine folgenrei-
che poetologische Demarkationslinie eingezeichnet: Schönheit
vs. Interessantheit bzw. Häßlichkeit.
Die Arbeiten aus den Athenäum-Jahren werten im Grunde
nur das als interessant/häßlich stigmatisierte Kunstwerk der

66
Vgl. Benjamin a.a.O. [ Anm. 63] S. 81.
67
Vgl. Schlegel, Friedrich, Über das Studium der griechischen Poe-
sie, (Hg.) Enst Behler, Paderborn, München, Wien, Zürich 1981,
S. 184; dazu allgemein auch Jung, Werner, Schöner Schein der
Häßlichkeit oder Häßlichkeit des schönen Scheins, Frankfurt/M.
1987, Kap. III.
VI. Goethezeit 129

Moderne wieder auf. Sie positivieren die Moderne, hinter die


nicht länger zurückgegangen werden kann, und schreiben das-
jenige, was Schlegel im Studium-Aufsatz den „ästhetischen
Kriminalkodex“ genannt hat, als Gütezeichen und unverzicht-
bare Merkmale von Modernität ein. Es handelt sich um einen
Mangel an Vollkommenheit (a), um die „Verletzung der tech-
nischen Richtigkeit“ (b), um „Künstelei“ (c), worunter Schlegel
die Vergötterung der Werkzeuge und eigenen Virtuosität ver-
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steht, und – pauschal – „Subjektivität“ (d). „Aus diesem Man-


gel der Allgemeingültigkeit, aus dieser Herrschaft des Manirier-
ten, Charakteristischen und Individuellen, erklärt sich von
selbst die durchgängige Richtung der Poesie, ja der ganzen äs-
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thetischen Bildung der Modernen aufs Interessante.“ 68 Das In-


teressante ist ein Synonym für das moderne, häßliche, am
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Ende gar für das neue romantische Kunstwerk, das der Schle-
gel-Kreis theoretisch im Athenäum begründet und praktisch
in einer Reihe von als Mustern begriffenen Prosawerken, Ro-
manen, umgesetzt hat. Walter Benjamin in seiner bahnbre-
chenden Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der
deutschen Romantik hat pauschal, aber zutreffend davon ge-
sprochen, daß für den Schlegel-Kreis die „Idee der Poesie“ die
Prosa ist. „Dies ist die abschließende Bestimmung der Idee der
Kunst, […].“ 69
Läßt man die poetologischen Kernaussagen aus dem Athe-
näum Revue passieren, dann kann man Benjamins Einschät-
zung nur bestätigen. Das neue romantische Kunstwerk ist
selbstverständlich ein poetisches Werk, und zwar eines, das
Friedrich Schlegel durch die Momente der Progressivität und
der Transzendentalität gekennzeichnet sieht. Des weiteren
steht in der Hierarchie poetischer Werke der Roman (als ro-
mantisches Buch) an oberster Stelle; dieser ist ein geniales
Mischprodukt, dazu eines, das mißverstehbar ist – also grund-
68
Schlegel a.a.O. [ Anm. 67 ] S. 182.
69
Benjamin a.a.O. S. 101.
130 VI. Goethezeit

sätzlich: das auf hermeneutische Deutungsarbeit, auf Verste-


hensakte angewiesen ist, die – so die Pointe romantischer
Kunstkritik, wie sie Benjamin so luzide interpretiert hat – das
Werk weiterschreiben. Kritik, so Benjamin, meint nicht „Refle-
xion über ein Gebilde“, sondern die Reflexion des Geistes „in
einem Gebilde“. Kritik mithin nicht als „Beurteilung eines
Werks“, sondern „als die Methode seiner Vollendung.“ 70 Eine
tatsächlich die Poetik revolutionierende Formulierung. „Alle
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classischen Schriften werden nie ganz verstanden“, schreibt


Friedrich Schlegel in seinen Notizbüchern an einer Stelle, die
in geringfügig geänderter Form auch wieder Eingang in die ge-
druckten Lyceum-Fragmente gefunden hat, sie „müssen daher
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ewig kritisirt und interpretirt werden.“ 71


Ausführlicher sei hier das berühmte Athenäum-Fragment
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

116 von Friedrich Schlegel zitiert, das die charakteristischen


Merkmale der neuen romantischen Poesie zur Sprache bringt:
Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre
Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie
wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie, und
Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie
und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie
bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig,
und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz
poetisiren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungs-
stoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen
des Humors beseelen. […] Nur sie kann gleich dem Epos ein
Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters wer-
den. […] Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollstän-
dig zergliedert werden. Die romantische Dichtkunst ist noch im
Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden,
nie vollendet seyn kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft
werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr
Ideal charakterisiren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie al-

70
Benjamin a.a.O. S. 65f. u. 69.
71
Schlegel a.a.O. [ Anm. 64] S. 84, Nr. 667; vgl. auch S. 256.
VI. Goethezeit 131

lein frey ist, und das als ihr wesentliches Gesetz anerkennt, daß die
Wirklichkeit des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die roman-
tische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die
Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle
Poesie romantisch seyn. (Athenäum I, 204ff.)
Diese neue Poesie nennt Schlegel verschiedentlich auch „Tran-
szendentalpoesie“ in Abwandlung von Kants Programm einer
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Transzendentalphilosophie (vgl. etwa a.a.O. I, 241), womit der


Gesichtspunkt der Selbstreflexivität des Produzenten gemeint
ist. Die Poesie ist also progressiv, ständig im Werden begrif-
fen, weshalb fixe gattungspoetologische Definitionen an ihr
abprallen; sie ist ein Mischprodukt, also unförmig, ein poeti-
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sches Monstrum, aber als solches einzig noch in der Lage, ein
„Bild des Zeitalters“ abzugeben, d.h. der Zerrissenheit eine
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

getreue künstlerische Form zu geben. Schließlich ist sie laut


Schlegel, der darin die Sturm-und-Drang-Poetik überbietet und
zugleich vom Gedanken des bloßen Abbild- bzw. Nachah-
mungsparadigmas ablenkt, ein Produkt künstlerischer Willkür,
mithin Erfindung und nichts anderes. Damit sind unter dem
Strich alle modernen (heute noch gültigen) poetologischen
Äußerungen zusammengefaßt: der Aspekt der Autonomie, der
produktionsästhetische Gesichtspunkt, die umfassende ästheti-
sche Lizensierung – aber auch noch der Gedanke vom Er-
kenntnischarakter, wenn auch nur modo negativo, dabei je-
doch ungleich inspirierter, wenn die künstlerische Form, die
Technik also, von Schlegel als Resultat historisch-gesellschaft-
licher Prozesse entziffert wird.
Damit das aber gelingen, also die Poesie wirken kann – No-
valis spricht dieser Wirkung einen geradezu therapeutischen
Charakter zu, nämlich die „Erhebung des Menschen über sich
selbst“ 72 –, müssen bestimmte Konstruktionsprinzipien zu-
grunde liegen. Im Mittelpunkt steht die Ironie. Diese hat so-
wohl subjektive wie objektive Dimensionen; sie drückt zum
72
Novalis a.a.O. [ Anm. 51 ] Bd. 2, S. 324.
132 VI. Goethezeit

einen die Haltung und Gesinnung des Künstlers und Poeten


aus – seine Distanziertheit, sein Annihilationsvermögen, dem
nichts mehr heilig ist und das als Souverän im eigenen Reich
auftritt ( „Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernich-
tung“; Athenäum I, 190) –, zum anderen gibt sie dem Werk
in Form und Inhalt sein Gepräge. Die Ironie ist die Form des
Paradoxen, Ausdruck einer grundsätzlich skeptischen Welt-
haltung, die die Widersprüche und Gegensätze in der Wirk-
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lichkeit erfaßt hat, ohne sie, wie dann das klassische idealisti-
sche Programm (Goethe oder Hegel), harmonisch auflösen
und damit beenden zu können. „Der Begriff Ironie“, schreibt
Armand Nivelle, „bezeichnet […] eine Haltung des Geistes,
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der sich des Grundzwiespalts der Welt bewußt geworden ist


und sich die Aufgabe gestellt hat, diesen Zwiespalt in der
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Kunst und in der Philosophie zu überwinden.“ 73 Überwinden


heißt aber nicht auflösen, aufheben im Sinne von versöhnen,
sondern bedeutet vielmehr Vernichtung. Das ironische Sub-
jekt, so Nivelle weiter, bestätigt sich selbst, seine Freiheit, in-
dem es seine Werke wieder vernichtet. „Es verwirklicht sich
als freies Wesen, indem es sich zerstört. Das ist die ‚Form der
Paradoxie‘.“ 74
Seine Erfüllung findet die frühromantische Poetik schließ-
lich in einer Theorie des Romans. Dabei muß sofort bemerkt
werden, daß die Begriffe Roman, romantisch, poetisch und
modern synonym gebraucht werden. Der Roman, heißt es ver-
schiedentlich, ist ein romantisches Buch (vgl. Athenäum III,
123), und er enthält in sich gleichsam „die ganze moderne
Poesie.“ (a.a.O. I, 214) Denn nur im Roman ist möglich, was
Schlegel mit Blick auf die romantische, progressive Universal-
poesie aus dem Fragment 116 gefordert hat: die Mischung der
verschiedenen Gattungen und Dichtarten. Damit, so Peter

73
Nivelle a.a.O. S. 140.
74
Nivelle a.a.O. S. 141; vgl. auch Ueding a.a.O. S. 124ff.
VI. Goethezeit 133

Szondi, kommt die Moderne im Roman zu sich selbst.75 Der


Roman ist für die Frühromantiker das paradigmatische Werk;
praktisch eingelöst findet es sich dann in Schlegels „Lucinde“
oder auch in Tiecks „Phantasus“.
Warum das so ist, kann man in Friedrich Schlegels „Ge-
spräch über die Poesie“ mit seinem Herzstück „Brief über den
Roman“ lesen. Da definiert der Verfasser des Briefs z.B. den
Roman als ein Mischprodukt aus Erzählung, Gesang und an-
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deren Formen (vgl. Athenäum III, 124), spricht er von der


Selbstreflexivität dieser Gattung, die mit dem Werk immer zu-
gleich auch seine Theorie mitformuliert (vgl. a.a.O. III, 125),
und bringt dann noch den Begriff der Arabeske ins Spiel, wor-
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unter er, an Jean Pauls Romane erinnernd, nicht nur die Fähig-
keit des Erzählers zu permanenten Abschweifungen (= Di-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

gressionen), sondern auch dessen Plädoyer für die Subjektivität


subsumiert. Das Beste, so lautet die Quintessenz, „in den be-
sten Romanen“ ist nichts anderes „als ein mehr oder minder
verhülltes Selbstbekenntnis des Verfassers, der Ertrag seiner
Erfahrung, die Quintessenz seiner Eigenthümlichkeit.“ (a.a.O.
III, 126) Wir erinnern uns wieder an den Kriminalkodex aus
Schlegels Studium-Aufsatz, der die vier tadelnswerten Punkte
der modernen und interessanten Poesie zum Ausdruck brach-
te. Der Brief über den Roman greift diese Punkte wieder auf,
positiviert sie allerdings grundsätzlich und sieht in ihnen die
einzige Möglichkeit zu einer der modernen Zeit und Gesell-
schaft angemessenen Literatur. Alles in allem: die Literatur der
Moderne drängt zur Prosa – dies ein Gedanke übrigens, zu
dem die systematische Ästhetik Hegels auf dialektisch ver-
schlungenen Wegen ebenfalls gelangt, wenn sie schlußendlich
in der damals zeitgenössischen Gegenwart angekommen ist.
Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der „Prosa der

75
Szondi, Peter, Poetik und Geschichtsphilosophie II, Von der nor-
mativen zur spekulativen Gattungspoetik, Schellings Gattungspoe-
tik, (Hg.) Wolfgang Fietkau, Frankfurt/M. 1974, S. 150.
134 VI. Goethezeit

Verhältnisse“, von einer ordentlich und vernünftig, nämlich in-


stitutionell reglementierten bürgerlichen Gesellschaft, die kei-
nen Raum mehr für poetische Eskapaden zuläßt und daher
zwangsläufig zur Form des Romans finden muß.
Hier nun mag ein knapper Exkurs erlaubt sein. Cornelia
Klinger hat eine Monographie über „die Moderne und ihre äs-
thetischen Gegenwelten“ vorgelegt, wie der Untertitel des Bu-
ches lautet. Anlaß und Ausgangspunkt für ihre Überlegungen
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ist dabei die historische Romantik, die sie im umfassenden Sin-


ne als kulturrevolutionäre Bewegung – weniger dagegen als
bloß literarische Epoche – und Startpunkt der Moderne be-
greift. Zu Recht weist sie auf die romantische Lebensphiloso-
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phie, den Kult der Gemeinschaft, auf neue Orientierungen im


Denken, schließlich auch auf die ästhetischen Innovationen
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

hin. Im Mittelpunkt der Romantik sieht sie eine hybride Sub-


jektkonstruktion, die vom Einzelnen alles Heil und die Lösung
der Probleme dieser Welt erwartet. Darin eingelagert ist auch
die ästhetisch-poetologische Konzeption, an deren Spitze die
„ästhetische Versöhnung“ rangiert. „In einer Mischung aus ge-
steigerten Erwartungen und deren zunehmender Enttäuschung
in der Wirklichkeit richten sich die romantischen Hoffnungen
auf die Kunst. Je weiter die Erwartung schwindet, daß das
neue bürgerliche Zeitalter das ersehnte Zeitalter der Synthese
sein werde, desto mehr konzentrieren sich die Erwartungen
auf eine ästhetische Versöhnung.“ 76 In der ästhetischen Sphä-
re, dem Bereich der Kunst, soll dem Subjekt möglich sein, was
ihm in der Realität versagt bleibt, nämlich eine Welt aus Nichts
zu schaffen.77 Das trifft auf bestimmte philosophische Positio-
nen unumschränkt zu (Schelling, auch Schillers ästhetische
Aufsätze), auf den frühromantischen Kreis dagegen nur be-
dingt. Ihnen geht es um die Kunst, um einen neuen Kunstbe-

76
Klinger, Cornelia, Flucht Trost Revolte, Die Moderne und ihre äs-
thetischen Gegenwelten, München, Wien 1995, S. 137.
77
A.a.O. S. 138.
VI. Goethezeit 135

griff, eine neue Kritik und um eine Befreiung der Poetik, so


daß sie der Vorwurf einer maßlosen Ich-Vergottung, einer
‚ruchlosen Denkungsart‘ eigentlich nicht treffen kann, oder
doch weniger. Auf einem anderen Blatt steht freilich – und das
ist einer der vielen bedenkenswerten Punkte der Klingerschen
Arbeit –, ob nicht in der romantischen Bewegung mit Blick auf
ihre historische Entwicklung geradezu eine fatale Dialektik
steckt, die – ablesbar u.a. in der späteren Konversion Friedrich
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Schlegels oder Schellings zum Katholizismus oder in der reak-


tionären politischen Romantik eines Görres – letztlich auf eine
Absolutsetzung des Ich, auf eine maßlose Übersteigerung der
Subjektivität hinauslaufen muß. Bei Novalis deutet sich die Ten-
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denz an, wenn er davon spricht, daß nach innen der geheimnis-
volle Weg führt. Aber er führt, so Klingers Argumentation,
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

nicht wieder heraus! Die Idee vom Künstler als Führer und Se-
her bekommt vielmehr einen üblen Beigeschmack, wenn man
über die (Früh-)Romantik, wenn man über die Katakomben des
Ich bei der mittleren und späten Romantik (von Bettina v. Ar-
nim über Brentano und Hoffmann bis zu Eichendorff oder
Mörike) bis ins 20. Jahrhundert (die Avantgarden) vorausschaut.
Dann nämlich muß man feststellen, „daß diese hybride Gestalt
des seines Allgemeinheitsstatus entkleideten Absoluten bzw.
des zum Absoluten aufgespreizten Einzelnen die gefährlichste
Variante des modernen Subjekts darstellt.“ 78 Klinger sieht Ent-
wicklungslinien von der Romantik zum Faschismus verlaufen.
Noch einmal und in durchaus modern-aktuellem Gewand re-
formuliert sie Thesen, die bereits Georg Lukács seit den 30er
Jahren, zusammengefaßt in „Die Zerstörung der Vernunft“
(1954), geäußert hat. Wo Lukács von der Irrationalisierung der
deutschen Philosophie seit der Romantik redet, da setzt Klin-
ger dafür das Prinzip einer haltlos gewordenen Subjektivität,
eines leeren, gleichwohl aus Mangel zum Absoluten verstiege-
nen Ich ein – mit denselben fatalen historischen Folgen.
78
A.a.O. S. 153.
136 VI. Goethezeit

Wie gesagt, die Rezeption der Romantik ist davon eher als
die Romantik selbst betroffen. Auch wenn man die Konse-
quenzen und Folgerungen, die Klinger in aller Schärfe zieht,
nicht unbedingt mitmachen muß, ihr Ausgangspunkt bei den
Problemen eines gebeutelten Ich – Stichwort immer wieder:
Zerrissenheit – hat einiges für sich. Denn hierdurch lassen sich
die Problembestände der romantischen Entwicklung in der er-
sten Hälfte des 19. Jahrhunderts besser fixieren. Hierdurch las-
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sen sich bestimmte literarische Tendenzen, nicht zuletzt etwa


die sogenannte „gespensterschaffende Phantasie“ 79, genauer
erklären. Der Somnambulismus eines Prinzen von Homburg
( Kleist), wahnsinnige Figuren (Zacharias Werner) und insge-
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samt die Nachtseiten der Gesellschaft und Kultur, wie sie


E. T. A. Hoffmann eindrucksvoll und mit weitreichender Wir-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

kung auf andere Literaturen dargestellt hat, schreiben sich alle


von derselben historischen Erfahrung her: von der Einsamkeit
des bürgerlichen Individuums, von der „transzendentalen Ob-
dachlosigkeit“ (Lukács unter Anspielung auf Fichte und Nova-
lis) des modernen Menschen. Dieses Leiden schlägt um in den
Wahnsinn, das Verbrechen, den Mystizismus; es äußert sich
ebenso in psychosomatischen Störungen wie in Drogenexzes-
sen, in Angstphobien geradeso wie in Rückzugsgelüsten. Also:
in der Darstellung großstädtischer Erfahrungen, wie sie wie-
derum Hoffmann in seiner Novelle „Vetters Eckfenster“ ge-
staltet hat, ebenso wie in der Anrufung einer numinosen „Wald-
einsamkeit“ (Tieck, Eichendorff ) oder eines „sanften Gesetzes“
(Stifter). Das zeigt sich auch in der künstlerischen Form. Der
Realismus entsteht mit und aus der Romantik, wenn diese de-
tailgenau die Poetik des Wahnsinns und die ‚andere Seite‘ der
Realität illustriert; andererseits wird wiederum die Zerrissen-
heit der Seelen und irrlichternden Geister in eine künstlerische
Form gepaßt, die die strikte Linearität des Erzählens aufgibt,
79
Weiße, Christian Hermann, System der Ästhetik als Wissenschaft
von der Schönheit, Leipzig 1830, Reprint Hildesheim 1966, S. 198.
VI. Goethezeit 137

so etwa in Hoffmanns Doppelroman „Lebensansichten des


Kater Murr“.
Poetologisch aufschlußreich sind dafür auch theoretische
Reflexionen von Kleist, Jean Paul oder Heine. Alle drei, wenn
auch aus drei verschiedenen Generationen, reagieren doch auf
dasselbe Phänomen der Zerrissenheit und des künstlerischen
Selbstzweifels: Jean Paul, der älteste und der Generation der
Klassiker noch nahestehende Autor, für den gleichwohl die
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klassische Objektivität nicht mehr fraglos gegeben ist und der


daher in seiner „Vorschule der Ästhetik“ von 1804 über eine
Theorie des Witzes und des Humors eine gebrochene Objekti-
vität wieder herzustellen versucht; Kleist, dessen vieldiskutierte
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Kant- und damit Erkenntniskrise in Briefen und Essays wie


dem über das Marionettentheater oder über die allmähliche
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Verfertigung der Gedanken beim Reden verarbeitet wird; Hei-


ne, der jüngste in der Reihe, der sich ausdrücklich hin- und
hergeworfen fühlt zwischen der Romantik und dem Jungen
Deutschland, der dann in seiner Arbeit über die romantische
Schule einen Schwanengesang auf die „Endschaft der ‚Goethe-
schen Kunstperiode‘“ 80 anstimmt.
Den Untergrund für Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik“
bildet ein vertrautes geschichtsphilosophisches Schema, das
die Antike als Zeitalter harmonischer Vollendung und Voll-
kommenheit der Moderne als „kranker Zeit“ (Jean Paul: Wer-
ke. Bd. 9. S. 25) kontrastiert. Die Gegenwart, so Jean Paul, sei
von einer „gesetzlosen Willkür“ bzw. einer „Willkür der Ich-
sucht“ bestimmt (a.a.O. S. 31), und die Menschen hätten nicht
nur den Himmel, sondern auch noch die Erde eingebüßt.
(vgl. a.a.O. S. 401) Für Jean Paul stellt der Dichter, der Prosa-
ist, so etwas wie einen Arzt für Fragen der transzendentalen
Gesundheit dar. Allerdings versteht er unter einem solchen
Dichter einen, der mit den Ingredienzien des Witzes und Hu-
80
Heine, Heinrich, Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, ( Hg.) Klaus
Briegleb, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, Bd. 5, S. 360.
138 VI. Goethezeit

mors – Jean Pauls ausführlich entwickelten ästhetisch-poetolo-


gischen Grundkategorien – gesegnet ist. Zugleich deutet sich
im Verweis auf diese beiden Begriffe auch die Defizienz des
modernen Autors an. Dieser sei nämlich nicht mehr in der
Lage, schöne Kunst und Literatur zu schreiben, weil die Welt
eben nicht mehr danach aussehe. Vielmehr gähnt das weite
Reich der Häßlichkeit und Indezenz, die Jean Paul selbst u.a.
in der Erzählung „Dr. Katzenbergers Badereise“ breit ausge-
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malt hat. Der moderne Autor müsse witzig und humorvoll


sein; er müsse beide Tendenzen in sich vereinigen. Den Witz
definiert Jean Paul als „Geister- und Götter-Leugner“, der „an
keinem Wesen Anteil [nimmt], sondern nur an dessen Verhält-
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nissen; er achtet und verachtet nichts; alles ist ihm gleich, so-
bald es gleich und ähnlich wird; […].“ (a.a.O. S. 201) Er reprä-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

sentiert so etwas wie einen moderaten Nihilismus, der sich


über Gott und die Welt erhebt. Im Humor dagegen wird er
wieder gemildert, weil dieser sich durch Anteilnahme und En-
gagement auszeichnet. Der Humor vermag wieder zu vermit-
teln, ja zu versöhnen. Der Humorist ist der wahrhaft ernste
Mensch (vgl. a.a.O. S. 129), der die Realität durchschaut, aber
nun keine pessimistische Weltabkehr (à la Schopenhauer) lehrt,
sondern vielmehr für eine milde Versöhnung mit dem Erden-
treiben plädiert. Paradigmatische Gattung für eine solche neue
Kunst ist der Roman – sind Romane, wie sie Jean Paul selbst
in einer Vielzahl und Vielfalt vorgelegt hat.
Kleists Denken und ästhetische Theorie sind ebenfalls ge-
schichtsphilosophisch dimensioniert. Prägende Erfahrung ist
die eigene (und des Zeitalters) Zerrissenheit, der eine unvor-
denkliche Harmonie in der Antike entgegengestellt wird. Dies
wird kryptisch in dem Essay „Über das Marionettentheater“,
der 1810 in den von Kleist herausgegebenen „Berliner Abend-
blättern“ erschienen ist, ausgedrückt, wenn dort z.B. die Ge-
schichte eines badenden Jünglings erzählt wird, der krampfhaft
und erfolglos versucht, eine ihm einmal in einem flüchtigen
Augenblick gelungene graziöse Bewegung zu wiederholen. Die
VI. Goethezeit 139

Erfahrung des Jünglings ist die ins Kurze zusammengefaßte


des modernen Menschen schlechthin, der seinen Naturzustand,
Naivität und Freiheit, eingebüßt hat und ins Korsett der Kul-
tur und Bildung gezwängt worden ist. Das Paradies, schreibt
Kleist, ist „verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen
die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von
hinten irgendwo wieder offen ist.“ 81 Hierin deutet sich aber
auch eine mögliche Perspektive an, utopische oder distopische
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Hoffnungsschimmer, die Kleist verschiedentlich in seinem lite-


rarischen Werk gestaltet hat, etwa in der Novelle „Das Erdbe-
ben in Chili“ von 1807, wo nicht nur eine ‚unerhörte Begeben-
heit‘ aus dem 17. Jahrhundert geschildert, sondern zugleich der
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jederzeit mögliche peripatetische Umschlagspunkt von Ord-


nung ins Chaos, ein plötzlicher Zusammenbruch, in Szene ge-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

setzt wird.82 Überhaupt markiert die Plötzlichkeit, die Erfah-


rung des Sprengens einer kontinuierlichen Zeitordnung, der
Linearität und Progression, ein zentrales Erlebnis von Kleist.
Im Reden können bereits die Gedanken durchaus durcheinan-
dergewirbelt werden, weil und insofern sich assoziatives Phan-
tasiespiel einstellt (vgl. „Über die allmähliche Verfertigung der
Gedanken beim Reden“); dies hat dann wiederum erhebliche
Bedeutung für die sprachkritische Behandlung von Gegenstän-
den. So ist z.B. auch über Kleists Schreiben bemerkt worden:
„Seine Sprache fließt nicht, sein Stil ist nicht glatt und gefäl-
lig, sondern wie zerhackt wirken seine Sätze, in denen bruch-
stückhaft die einzelnen Informationen gereiht sind, wobei
erst am Schluß der Sinn der ganzen Periode deutlich wird.“ 83
81
Kleist, Heinrich v., Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., ( Hg.)
Helmut Sembdner, München 1985, Bd. 2, S. 342.
82
Vgl. dazu allgemein Wellbery, David E. (Hg.), Positionen der Lite-
raturwissenschaft, Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists
‚Das Erdbeben in Chili‘, München 1985.
83
Borries, Ernst und Erika von, Deutsche Literaturgeschichte Bd. 4,
Zwischen Klassik und Romantik: Hölderlin, Kleist, Jean Paul,
München 1993, S. 157; auch Bohrer, Karl Heinz, Plötzlichkeit,
140 VI. Goethezeit

Kleists Erlebnis, so hat es Karl Heinz Bohrer einmal bezeich-


net, ist der Kontingenzschock gewesen, etwas, das sich jeder-
zeit und überall einstellen kann und eine eminent moderne
Erfahrung kennzeichnet, ja, eine die Moderne allererst konsti-
tuierende Erfahrung. Denn Zufälligkeit, Willkürlichkeit, Alteri-
tät kann nur ein modernes, aus alten Traditionen entlassenes,
ein in seinem Denken und Handeln obdachlos gewordenes
Subjekt am eigenen Leibe erfahren. Kleist hat das durchlebt,
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durchlitten, durchschrieben – am Ende steht dann bekanntlich


der Selbstmord.
Auch Heines theoretische Ansichten sind existentiell grun-
diert. Nur die ‚Gnade der späten Geburt‘ hindert ihn daran,
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das Kleistsche Schicksal zu teilen. Das Ende der Goetheschen


Kunstperiode, das Ende des Idealismus und aller hochge-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

stimmten Entwürfe, dazu die politischen Erfahrungen in


Frankreich (1830, 1848) und damit wieder zusammenhängende
Hoffnungen haben ihn ‚abgebrühter‘ werden lassen. Was nicht
heißt, daß er nicht dennoch von tiefem Zweifel und Selbst-
zweifel immer wieder gepackt und zerfleischt worden wäre.
Heine – der Name steht für den schreibenden Widerspruch: er
ist durch und durch Romantiker, vielleicht der letzte aus der
Epoche der historischen Romantik, dann wieder, vor allem in
seiner Prosa und den Essays, ein moderner Realist, der härte-
ste und unnachsichtigste Kritiker von Klassik und Romantik.
Ein Romantiker mit schlechtem Gewissen, der dafür plädiert,
sozial und politisch Anstößiges in der Literatur zu verarbeiten,
also die ästhetische Häßlichkeit bewußt einzukalkulieren, was
sich mit der von Heine oft beschriebenen Wirkungspoetik gut
verbindet.
Heine ist Romantiker und Aufklärer, der locker tändelnd
politische Einsichten und Perspektiven, das tiefste Geheimnis
der Hegelschen Philosophie, ausplaudert. (vgl. Heine: Werke.

Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981,


S. 161ff.
VI. Goethezeit 141

Bd. IX, 195f., Bd. XI, 466) „Schlage die Trommel und fürchte
dich nicht,/ Und küsse die Marketenderin!/ Das ist die ganze
Wissenschaft,/ Das ist der Bücher tiefster Sinn.“ (a.a.O. VII,
412) Damit besetzt er einen Übergang. Er ist ein Außenseiter,
der gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzt, was auch in
seinen vielfältigen ästhetisch-theoretischen Reflexionen zum
Ausdruck kommt. Einerseits und bis zuletzt redet er einer hy-
pertrophen Genieästhetik das Wort und kanzelt das Volks-
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empfinden wie auch den Geschmack der Menge derb ab: „Nur
dem Gotte steht er Pate,/ Nicht dem Volke – In der Kunst,/
Wie im Leben, kann das Volk/ Töten uns, doch niemals rich-
ten. –“ (a.a.O. XI, 135) Andererseits dann aber plädiert Heine
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für eine Verbindung von Kunst und Kampf, votiert er für ein
politisch-praktisches Engagement des Künstlers und beklagt
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

auf vielen Seiten die Unmöglichkeit, diese Vermittlung tatsäch-


lich herzustellen. Besonders markant ist jene Stelle aus dem
Prolog zu der Sammlung der „Neuen Gedichte“ von 1844,
worin es heißt: „So, in holden Hindernissen,/ Wind ich mich
in Lust und Leid,/ Während andre kämpfen müssen/ In dem
großen Kampf der Zeit.“ (a.a.O. VII, 298) Der Dichter weidet
sich eben „in Lust und Leid“, und die Muse kommt ihm stö-
rend dazwischen.
Heine ist noch kein politischer Schriftsteller im Sinne Bör-
nes und der Jungdeutschen, der zugunsten politischer Einfluß-
nahme die Poesie verabschiedet, um journalistisch zu interve-
nieren (im Feuilleton) und dabei Gebrauchsprosa (Glossen,
Reportagen, Leitartikel) abzusondern. Er betont die Form, den
ästhetisch-poetischen Mehrwert, den künstlerischen Ausdruck;
er fordert Mehrdeutigkeit statt Eindeutigkeit. Er beansprucht
die Position des sensiblen Kritikers, der gleich unverläßlich auf
alle wirkt und seine Ungerechtigkeit gegenüber allen und
jedem gerecht verteilt. Die Zeitgenossen Heines haben ihn
deshalb häufig genug als frivol charakterisiert. Und für die He-
gelianer als die damals tonangebenden Theoretiker auf den
philosophischen Lehrstühlen wie auch in der publizistischen
142 VI. Goethezeit

Öffentlichkeit, gleich ob sie politisch rechts oder links angesie-


delt waren, bedeutet der Vorwurf der Frivolität die härteste
Kritik. Man rügt Heines „gebrochenen Humor“ 84, die „Malice“
der Frivolität85, ja verurteilt den ganzen „Dreck“ der Heine-
schen Obszönität und Häßlichkeit.86 Als Hegelschüler halten
sie der vermeintlichen Substantialität alles Wirklichen und Ver-
nünftigen die Treue und verdammen alle diejenigen als Nest-
beschmutzer, die die geringsten Schatten auf dem strahlenden
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Bild der Wirklichkeit in den Vordergrund rücken. Für Ruge als


den ärgsten Verächter Heines ist dieser gar in den Kot gefal-
len87; und Karl Rosenkranz, liberaler und auch ein wenig mo-
derater in seinen Urteilen, äußert sich dahingehend, daß der
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frivole Literat „das Heilige dem Gelächter als ein in sich Nich-
tiges preis[gibt]“ und daß ihm „die Pietät in der Ehe, Freund-
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

schaft, Vaterlandsliebe, Religion“ „als eine Borniertheit und


Schwachheit“ gelten, „über welche sich der starke Geist als
Vorurtheile des gemeinen Haufens erhebt.“ 88
Zwei radikal entgegengesetzte Positionen begegnen sich
hier: Heine, der in allen Künsten „nur den Spiegel des Lebens“
erkennt, der die eigene „schlechte Zeit“, bedroht vom „Ge-
schrei von rohen Pöbelstimmen“ und zugleich vom Kichern
eines katholischen „Mettenglöckchens“, für poesieabträglich

84
Vischer, Friedrich Theodor, Aesthetik oder Wissenschaft des
Schönen, 6 Bde., Reutlingen und Leipzig 1846-57, Bd. 1, S. 465.
85
Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, Unveränderter reprogr.
Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1853, Darmstadt 1979,
S. 271.
86
Ruge, Arnold, Heinrich Heine charakterisiert nach seinen Schrif-
ten, in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und
Kunst, Nr. 25, 1838, Sp. 224.
87
Ruge, Arnold, Heinrich Heine und seine Zeit, 1838 und 1846, in:
Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Mannheim 1847, S. 38.
88
Rosenkranz a.a.O. S. 264; vgl. dazu ganz allgemein auch: Jung,
Werner, Schöner Schein der Häßlichkeit oder Häßlichkeit des
schönen Scheins, Frankfurt/M. 1987.
VI. Goethezeit 143

hält, prangert mit den Mitteln von Witz, Satire, Ironie und Hu-
mor die Häßlichkeit der Zeit an; die Hegelianer hingegen ver-
teidigen selbst die häßlichste Realität noch gegen die Poesie, in
die sie die Verklärung und Versöhnung, den schönen Schein
der Kunst eben, hineingeheimnissen möchten.
Dieser Gegensatz entläßt uns schließlich auf ein weites Feld,
das sich seit dem Ausgang der historischen Romantik vor uns
auftut. Heine markiert beides, das Ende der Romantik und ei-
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nen Neuanfang im Zeichen des Realismus. Die Frage bleibt


bestehen und wird weiter anhaltend diskutiert, wie das Verhält-
nis, das Beziehungsgeflecht bzw. die Relationen von Kunst
und Realität, von Literatur und Leben zu denken und deuten
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ist, welche Gewichtung man welchem Pol verleiht und wie die
Referentialität zu bewerten ist. Literatur als Erklärung oder
VI. Goethezeit, 9783838529370, 2020

Verklärung, als Angriff oder Versöhnung, als Nutzen oder als


Spiel, Notwendigkeit oder Überfluß? – Schon immer oszillier-
ten die Poetiken zwischen diesen Entgegensetzungen, fanden
sie auch unterschiedliche Antworten darauf, aber erst seit dem
Anfang der Moderne, also – grosso modo – seit der Mitte des
19. Jahrhunderts, dem Ende der Romantik und dem Beginn
des europäischen Realismus/Naturalismus hat sich die Debat-
te zugespitzt – und zwar derart, daß schließlich seit dieser Zeit
auch oft genug Literatur ohne Theorie dasteht, daß sich Poeti-
ken im Universitäts- und Bibliotheksstaub als gelehrte Angele-
genheit von Fachphilologen entwickeln, während die Litera-
ten isoliert im Winkel ihre Reflexionen (mehr oder weniger
theoretischer Art) anstellen und dabei selten genug ernstge-
nommen werden. Literatur und Wissenschaft von der Litera-
tur, damit natürlich auch von der Poetik, differenzieren sich zu
aparten Sphären aus. Der Kanon der Philologen wird als Boll-
werk gegen ästhetisch-poetische Innovationen seitens der Lite-
ratur aufgeboten. Mißverhältnisse und Mißverständnisse, die
bis heute andauern.
VII. Vormärz und Biedermeier: Realismus und
Gründerzeit

Die Fülle der Bezeichnungen verweist auf die Problematik der


Periodisierung, verweist auf die Schwierigkeit der Paradigmen-
bildung. Konkreter ist da schon die zeitliche Terminierung; ge-
meint ist der Zeitraum zwischen 1830 und 1890 – also die Zeit
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nach dem „Ende der Kunstperiode“ bis etwa zum Beginn des
Naturalismus. Es handelt sich um das bürgerliche 19. Jahrhun-
dert, um jene – in den Augen des Bürgertums späterer Dezen-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

nien – ‚gute alte Zeit‘, wo das Glück allein im trauten Heim ze-
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lebriert und die wachsende wirtschaftliche Prosperität noch


relativ unproblematisch mit einem Geschichtstelos zusammen-
gedacht werden konnte.
Dennoch gibt es auch hier ein Vorher und ein Nachher,
nämlich ein durchaus demokratisch und liberal gesinntes Bür-
gertum in den Jahren zwischen 1830 und 1848 sowie ein na-
tionalkonservativ gewendetes in den Jahrzehnten nach 1848.
Bezugspunkt ist das Revolutionsjahr 1848; es ist die Wegkreu-
zung. Und das Scheitern dieser Revolution (im gesamteuropäi-
schen Rahmen nicht zuletzt) führt zu einer Roll-back-Strategie,
dazu, daß man nun einzig auf Bestandserhaltung, Besitzstands-
wahrung aus und ängstlich um ein Abschotten nach unten be-
müht ist, endlich geradezu phobisch auf sozialistische bzw.
linksliberale Aktivitäten reagiert.
Das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts charakteri-
siert der französische Historiker Guy Palmade folgenderma-
ßen: „Den Bürger alter Art gab es lange vor der Entstehung
der Industrie. Er wohnte in einer alten Stadt, die mit Stolz auf
ihre Vergangenheiten und ihre Freiheiten blickte. Über mehre-
re Generationen hin hatte seine Familie eine Ehrenstellung be-
kleidet, und in einigen frei gebliebenen Städten erhielt sich die-
ses Privileg durch das Zensuswahlrecht. Es ging hier um eine
Gesellschaftsgruppe, der ihre Verhaltensnormen, ihre Tradi-
VII. Vormärz und Biedermeier 145

tion und vor allem ihre Kultur ein einheitliches Gepräge ver-
lieh. Sie vermochte in einigen kaum industrialisierten Städten
ihre Geschlossenheit zu bewahren. Anderswo, wie in Ham-
burg, Frankfurt, Köln und Düsseldorf, verband sie sich mit
den bürgerlichen Kaufleuten. Die kulturelle Tradition blieb le-
bendig. Jede Stadt besaß ihre Akademie, ihren Konzertsaal,
ihre Bibliothek. Die Kinder besuchten das Gymnasium. Ärzte,
Rechtsanwälte, Professoren und Beamte waren im wesentli-
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chen die Erben dieses alten Bürgertums. – Das Handelsbür-


gertum war dagegen der Motor der wirtschaftlichen Revolu-
tion. Großkaufleute, Fabrikbesitzer mit mehr als 50 Arbeitern,
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

Bankiers – insgesamt einige 10.000 Personen – bildeten das


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Großbürgertum. Zur bürgerlichen Mittelschicht gehörten Kauf-


leute, Kleinunternehmer, Ärzte, Anwälte und andere Freibe-
rufliche.“ 1 Palmade unterscheidet also ein altes Bürgertum, die
Stadtbürger, von einem neuen Großbürgertum. Innovativ, so
Palmade, ist insbesondere das Großbürgertum, insofern es
neue Produktionsweisen durchsetzt und den Technisierungs-
prozeß vorantreibt. Paradoxerweise verbindet es das jedoch
mit einem Habitus, der sich eng an aristokratische Verhaltens-
und Denkmuster anlehnt. Demgegenüber setzt das nachmalige
Bildungsbürgertum auf Traditionen, auf – im Grunde – aufklä-
rerische Werte und Normen, die freilich ebenso anachroni-
stisch zu werden beginnen wie zugleich dogmatisch einfach
weiter gesetzt werden. Hebbels bürgerliches Trauerspiel „Ma-
ria Magdalena“ ist dafür das probate literarische Beispiel: die
Inszenierung eines heruntergekommenen bürgerlichen Tugend-
katalogs! Teile dieses mittleren und kleinen Bürgertums stehen
stets am Rande zur Pauperisierung, der Verarmung durch das
Verschwinden von Berufszweigen und die zunehmende wirt-
schaftliche Konzentration – das Verdrängen des Handwerks
durch die Industrie usw.
1
Palmade, Guy, Das bürgerliche Zeitalter, Frankfurt/M. 1980,
S. 169.
146 VII. Vormärz und Biedermeier

Natürlich darf Literatur nicht zum Auferstehungsengel der


Geschichte gerinnen – und sie tut es auch nicht. Gleichwohl
dient sie immer in gewisser Weise dazu, den Index der Mensch-
heits- und Gesellschaftsentwicklung auf dialektisch wie auch
immer verwickelte Art und Weise anzuzeigen. So sind die Jah-
re zwischen 1830 und 1848 nicht nur in Deutschland, sondern
auf gesamteuropäischem Boden eine Zeit des Aufbruchs, der
Gärung, des Kampfs um die endgültige Durchsetzung bürger-
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lich-demokratischer Freiheiten (Wahlrecht, Pressefreiheit, Ver-


sammlungsfreiheit ) und des Ausfechtens von Widersprüchen.
Gleichzeitig wird tatsächlich und symbolisch die Epoche der
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

Klassik und Romantik sowie des Idealismus zu Grabe getra-


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gen: Goethe und Hegel sterben und hinterlassen eine irritie-


rende Ratlosigkeit. In Deutschland bestimmen für einige Jahre
eine Reihe von jungen Leuten, die Jungdeutschen, das literari-
sche Geschehen entscheidend mit. Theodor Mundt und Karl
Gutzkow, Heinrich Laube und Ludwig Wienbarg etwa heißen
die jungen Heißsporne und Tendenzliteraten, die ästhetisch-
theoretisch wie künstlerisch-praktisch die Literatur aufs engste
an die Kämpfe der Zeit binden möchten. Hierher müssen auch
noch – mit Maßen – Heine, auf jeden Fall aber Börne und
Büchner, schließlich solche Revolutionslyriker wie Freiligrath
oder Herwegh, die eiserne Lerche des Proletariats (Engels), ge-
zählt werden. Zur Disposition steht der alte Autonomiegedan-
ke. Poesie müsse wieder parteilich und demokratisch engagiert
zu Werke gehen.
Aber die Zeit der Jungdeutschen und ihres Aufbruchs währt
nur kurz; abgesehen davon ist die poetische Produktivität oh-
nehin eher bescheiden, wiewohl ihre ästhetisch-theoretischen
bzw. poetologischen Reflexionen von einiger Brisanz sind. Die
Revolution von 1848 – genauer gesagt: das Scheitern dieser
Bewegung – führt zur Ernüchterung, zu Resignation, Pessimis-
mus oder mindestens zum Desengagement. Kein Wunder
auch, daß die ideologisch-weltanschaulichen Optionen sich
nun völlig wegbewegen vom Idealismus Hegelianischer Her-
VII. Vormärz und Biedermeier 147

kunft und die Schopenhauersche Philosophie auf der einen,


positivistisch-szientistische oder naturwissenschaftlich-mate-
rialistische Überlegungen auf der anderen Seite nun ihre
Durchschlagskraft entfalten. Die Tendenz- und Parteiliteratur
im Zeichen der Demokratie und des politischen Liberalismus
muß einem Realismus weichen, der auf gut deutsche und gut
bürgerliche Manier ideal bzw. poetisch gemildert ist und sich
daher z.B. auch ‚Idealrealismus‘ nennt. Angezeigt darin ist, wie
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wir noch sehen werden, ein Mehrfaches: die Distanz und deut-
liche Abgrenzung zu den europäischen Realismen, zu Balzac
und Flaubert, zu Dickens oder den Russen, die Betonung von
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Harmonie und Versöhnung, Verklärung geradezu, was dann


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auch die Vermeidung des Negativen, der Schattenseiten der


Gesellschaft impliziert. Gemeint ist die Stigmatisierung des
Häßlichen – und darunter fallen in aller Regel immer gesell-
schaftlich anstößige Gehalte: Elend und Kriminalität, Krank-
heit und Prostitution, alles, was den Firniß einer wachsenden
Prosperität abblättern lassen könnte. In diesem Punkt sind
sich alle deutschen Realisten einig, mögen sie Immermann
oder Ludwig, Freytag oder Spielhagen, Storm oder Keller,
Fontane oder noch Raabe heißen. Die Genauigkeit im einzel-
nen und Privaten, der Detailrealismus im Blick auf die bürger-
liche Alltäglichkeit stockt doch immer dann, wenn Sand das
Getriebe der Gesellschaft anzuhalten droht. Deshalb: entweder
Augen zu oder die rosarote Brille aufgesetzt!
Was dem deutschen Bürgertum daher ganz besonders ge-
fällt, das sind jene populären Lesestoffe, die im Stil von Vers-
epen Stoffe aus unvordenklichen und daher harmlosen Ver-
gangenheiten verklären: Joseph Victor von Scheffels „Der
Trompeter von Säckingen“ (1854; 1892 in der 200. Aufla-
ge) oder Friedrich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden“ (1878;
15 Jahre später in der 60. Auflage). Hinzu kommen die in der
zweiten Jahrhunderthälfte sich rasant ausbreitenden Familien-
blätter wie die „Gartenlaube“ (seit 1853; 382.000 Exemplare
im Jahre 1875), „Daheim“ (seit 1864; mit einer Auflage von
148 VII. Vormärz und Biedermeier

70.000 Exemplaren im Jahre 1870) oder „Über Land und


Meer“ (seit 1858), wofür u.a. Storm und Keller schreiben. Die
Ethik verdrängt die Ästhetik; die rechte Gesinnung, in die ent-
weder eingewiesen oder die noch verstärkt werden soll, trium-
phiert über Fragen der literarisch-künstlerischen Form.
Vielleicht ist das am Ende dann doch wieder der Einigungs-
punkt, in dem die Vormärzliteraten den Realisten aus der
zweiten Jahrhunderthälfte begegnen: an die Stelle der offenen
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Tendenz von links ist später die nicht minder tendenziöse Ver-
klärung von rechts getreten.
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

*
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Die Jungdeutschen sind keine literarische Gruppe im engeren


Sinne, dazu sind die Figuren zu gegensätzlich. Dennoch eint
sie die Gemeinsamkeit eines intensiv geäußerten Lebensge-
fühls, das vor allem ein Zeitgefühl ist, wie Wulf Wülfing
schreibt: „Die Impulse, von denen dieses Gefühl getragen
wird, gehen nicht so sehr zurück auf Reflexionen etwa über die
Bestimmung des Menschen allgemein, sondern sie beziehen
ihre Kraft aus dem Bewußtsein, in einer bestimmten histori-
schen Situation zu leben, die einer neuen Generation, als die
man sich fühlt, neue Aufgaben stellt.“ 2 Die Schlagworte des
Jungen Deutschland, ihre Ideologeme, lauten: Freiheit und
Emanzipation, Rehabilitation des Fleisches und der Sinnlich-
keit, Befreiung der Frau, Verbot der Zensur, Pressefreiheit,
Demokratie. Dafür engagieren sie sich in Pamphleten und
Traktaten, in theoretischen Abhandlungen, aber auch in Er-
zählungen und Romanen. Zu den bekanntesten Werken, die
die Bewegung in einigen wenigen Jahren hervorgebracht hat,
zählen Heinrich Laubes „Das junge Europa“ (1833) und seine
„Reisenovellen“ (1834), Theodor Mundts „Moderne Lebens-
2
Wülfing, Wulf, Junges Deutschland, Texte-Kontexte, Abbildun-
gen, Kommentar, München, Wien 1978. S. 104.
VII. Vormärz und Biedermeier 149

wirren“ (1834) und „Madonna“ (1835), Gutzkows „Wally, die


Zweiflerin“ (1835) und „Die Ritter vom Geiste“ (1850), letzte-
res freilich erst lange nach dem Ende der Bewegung geschrie-
ben und publiziert. Neben diesen Prosatexten, die alles in al-
lem als Zeitromane apostrophiert werden können, weil sie
durchaus hellsichtig auf innere gesellschaftliche Zustände bzw.
Mißstände aufmerksam machen, müssen auf jeden Fall noch
theoretische Arbeiten von Ludolf Wienbarg und Mundt ge-
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nannt werden. Wienbargs „Ästhetische Feldzüge“ (1834) into-


nieren z.B. als erstes den jungdeutschen Aufbruch und kenn-
zeichnen den Abstand zur Generation der Klassiker und
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

Romantiker; Theodor Mundt schreibt eine systematische Äs-


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thetik (1854), die auf Distanz zur übermächtigen Hegelschen


Position geht, und eine „Geschichte der Literatur der Gegen-
wart“ (1842) ganz im Zeichen der jungdeutschen Erneuerung.
Im Mittelpunkt steht bei Mundt ebenso wie bei Wienbarg
die Einschätzung, wonach Literatur „Ausdruck der Individua-
lität des einzelnen wie des Volkes zu sein hat.“ 3 Dabei wird
diese Individualität deutlich als bürgerliche ausgeflaggt und po-
lemisch dem Aristokratismus, auch dem in der Literatur, ent-
gegengesetzt. Das äußert sich dann explizit in der Hochschät-
zung der Prosa – Mundt hat 1837 ein Buch unter dem Titel
„Die Kunst der deutschen Prosa“ vorgelegt – und in der Favo-
risierung von solchen Formen wie dem Reisebericht, der Brief-
sammlung oder auch dem Feuilleton. Damit wird in gewisser
Weise ein Antikanon installiert. Wichtiger als die ästhetische ist
für Wienbarg die politische Bildung. So fordert er, daß das
„Nationalgefühl […] dem Gefühl fürs Schöne, politische Bil-

3
Witte, Bernd, Literaturtheorie, Literaturkritik und Literaturgeschich-
te, in: Deutsche Literatur, Eine Sozialgeschichte, ( Hg.) Horst Al-
bert Glaser, Bd. 6, Vormärz: Biedermeier, Junges Deutschland,
Demokraten, (Hg.) Bernd Witte, Reinbek 1980, S. 72.
150 VII. Vormärz und Biedermeier

dung der ästhetischen vorausgehen“ müsse.4 (vgl. Wienbarg


1919. S. 7) In diesem Sinne schreibt er seine 24 Vorlesungen,
die sich, wie es in der Zueignung heißt, an das Junge Deutsch-
land richten, das Wienbarg so charakterisiert: „Wer aber dem
jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeut-
schen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche tote Ge-
lehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden ver-
wünscht, und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg
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erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten


Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen willens ist.“ 5 Im Zeichen
der Demokratie wird insgesamt der Zopfzeit der Kampf ange-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

sagt, ein „Kampf gegen die aristokratischen Principien“, bei


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dem, wie Laube glaubt, die Literatur „bereits auf der Höhe des
Demokratismus“ angelangt sei.6 Gleichwohl beklagen die Jung-
deutschen, daß sie als Speerspitze der demokratischen Bewe-
gung eigentlich noch gar kein Publikum haben, daß sie sich
erst eines schaffen bzw. erschreiben müssen. Gutzkow beklagt
die „Nichtexistenz eines deutschen Publicums“ 7, was er insge-
samt auf die Borniertheit und Zersplitterung Deutschlands in
Provinzen zurückführt. Es fehlt eine kritische Öffentlichkeit,
mehr noch eine geistige Metropole. Deutschland sei ein einzi-
ger großflächiger Winkel, allerdings weitab vom vormals damit
verbundenen Glück im Winkel. Das Junge Deutschland, darin
kommen seine Repräsentanten überein, müsse sich also erst
sein Publikum kreieren, und zwar ein mündiges Volk, das sich
unter dem Banner der Demokratie und des Liberalismus ver-
sammelt habe. Wienbarg greift die verschiedenen Aspekte ab-
schließend noch einmal in der letzten seiner ästhetischen Vor-
lesungen auf, wenn er dort schreibt:

4
Wienbarg, Ludolf, Aesthetische Feldzüge, 2. Aufl., mit einem Vor-
wort von Alfred Kerr, Hamburg/Berlin 1919, S. 7.
5
Wienbarg a.a.O. S. V; auch Wülfing a.a.O. S. 34.
6
Zit. nach Wülfing a.a.O. S. 29.
7
Zit. nach Wülfing a.a.O. S. 38.
VII. Vormärz und Biedermeier 151

Die neue Prosa ist von der einen Seite vulgärer geworden, sie ver-
rät ihren Ursprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Leben, von
der anderen Seite aber kühner, schärfer, neuer an Wendungen, sie
verrät ihren kriegerischen Charakter, ihren Kampf mit der Wirk-
lichkeit, besonders auch ihren Umgang mit der französischen
Schwester, welcher sie außerordentlich viel zu verdanken hat. Der
deutsche Prosaist ist seit der Französischen Revolution und eben
durch französische Schriften, Herr und Meister geworden über
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das ungeheure Material der Sprache, […].8


Noch einmal die wesentlichen Punkte: an die Stelle einer ver-
klärenden Poesie, einer Poesie, die durch eine verkitschte,
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

mißverstandene Romantik unter die Räder der Trivialität ge-


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kommen ist, tritt die Prosa, die sich einmischt, die vulgärer ge-
worden, nämlich – durchaus mit Hegel – am praktischen All-
tagsleben der Bürger orientiert ist und die sich historisch von
den Neuerungen seit der französischen Revolution (Pressewe-
sen, Feuilletonismus, eingreifende Prosa) herschreibt, deren
„Appellfunktion“ folglich im Mittelpunkt steht.9 Als Vorbilder
berufen sich die Jungdeutschen dabei immer wieder auf Heine
und Börne wie auf die dahinterstehende ästhetische Program-
matik, die in Begriffen wie Witz, Ironie, Satire oder Humor zu-
sammenläuft. Angezeigt werden soll eine kritische Distanz zur
eigenen Zeit und Gegenwart wie auch eine ironisch-witzige
Kommentierung gesellschaftlicher Verhältnisse. Das impliziert
weiterhin den Begriff der Subjektivität im Blick auf die neue
Prosaliteratur, was Heinrich Laube so ausdrückt: „Eine kriti-
sche Epoche der Weltgeschichte wird begleitet von einer sub-
jectiven der Poesie; denn jedes Individuum verlangt hartnäckig
sein Recht, also auch sein Recht zu fühlen und zu sagen, und
8
Wienbarg a.a.O. S. 244.
9
Vgl. dazu Nies, Fritz, Das System der literarischen Gattungen, Kon-
tinuitäten, Brüche, Schwerpunktzentren (1789-99), in: Die Franzö-
sische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins,
( Hg.) Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt, München 1988,
S. 250ff.
152 VII. Vormärz und Biedermeier

zwar individuell zu fühlen und zu singen.“ 10 Ob es freilich der


jungdeutschen Prosa, insbesondere den Erzählwerken, gelun-
gen ist, die neue Programmatik zu vermitteln, mag hier dahin-
gestellt bleiben. Einige zeitgenössische Popularität hat die Be-
wegung allererst durch ihr Verbot, durch einen Beschluß der
Bundesversammlung gegen das Junge Deutschland im Jahre
1835 erfahren. Mithin keine literarische Anerkennung, sondern
eine politische Würdigung bzw. Abstrafung.
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Die Zeit-, Tendenz- und Gesellschaftsromane der Jungdeut-


schen sind heute, berechtigt oder nicht, weitgehend vergessen
und nur noch Stoff für historistisch versessene Spezialisten.
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Sie sind zu sehr zeitgeistverhaftet und damit Fälle fürs Archiv


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und die Bibliotheken geworden. Einzig vielleicht noch Teile


des Gutzkowschen Werks mögen, obwohl weitgehend ungele-
sen auch er, Aufmerksamkeit auf sich lenken. Gutzkow näm-
lich hatte hellsichtig erkannt, daß, um ein lebendiges Panorama
der Zeit zu zeichnen und die Gegensätze und Widersprüche
zwischen den Parteien angemessen auszudrücken, es notwen-
dig sei, einen Roman des Nebeneinander zu schreiben, d.h. im
Raum und in der Zeit des Romans nebeneinander die verschie-
denen Figuren, Handlungen, Verwicklungen agieren zu lassen,
was natürlich dramaturgische und erzählpraktische Probleme
von erheblicher Bedeutung aufkommen lassen muß und von
Gutzkow auch nur unzulänglich (in ausufernden Abschweifun-
gen und Unterbrechungen) bewältigt worden ist. Paradigmati-
sches Werk ist Gutzkows Zeitroman „Die Ritter vom Geiste“
(1850-51), worin eine Fülle von Personen und Ideen nebenein-
ander dargestellt wird. Gutzkow „erläuterte das synchronisti-
sche Darstellungsprinzip durch den Vergleich mit der „Durch-
schnittsbezeichnung“ eines Bergwerks oder einer Fabrik: „Wie
hier das nebeneinander existirende Leben von hundert Kam-
mern und Kämmerchen, die eine von der andern keine Ein-
sicht haben, doch zu einer überschauten Einheit sichtbar
10
Wülfing a.a.O. S. 33.
VII. Vormärz und Biedermeier 153

wird“, stelle der „Roman des Nebeneinander“ den Versuch


dar, „den Einblick zu gewähren in hundert sich kaum sichtlich
berührende und doch von einem einzigen großen Pulsschlag
des Lebens ergriffene Existenzen. […] Dem socialen Roman ist
das Leben ein Concert, wo der Autor alle Instrumente und
Stimmen zu gleicher Zeit in- und nebeneinander hört.“ 11
Als Gutzkows Roman erscheint, ist jedoch die jungdeutsche
Bewegung bereits längst zu Ende, befinden wir uns in der Zeit
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nach 1848, in einer Zeit der konservativen ‚Wende‘. Geblieben


ist wenig bis gar nichts. Viele sind konvertiert, nämlich – poli-
tisch – vom Liberalismus zum Nationalliberalismus, womit
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dann die entscheidenden demokratischen Forderungen verab-


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schiedet werden. Im ästhetisch-poetischen Raum irrlichtern die


Werke einiger versprengter Solitäre und Solipsisten wie Börne
und Heine, die zudem, wir haben bereits früher darauf hinge-
wiesen, als frivol, häßlich und degoutant disqualifiziert werden,
oder wie Georg Büchner, der nie verstanden worden ist und
vielleicht sogar das Glück hatte, jung genug zu sterben, und die
Spätromantiker, die als Irre oder Somnambule stigmatisiert
werden. Versuche, Ästhetik und Politik radikal zusammenzu-
denken und zu inszenieren wie in Büchners Werk („Lenz“,
„Dantons Tod“ oder „Woyzeck“), sind ebenso bereits verges-
sen oder verdrängt wie die bizarre Phantastik Hoffmanns oder
Zacharias Werners, von der Kleistschen Ästhetik der Gewalt
völlig zu schweigen.
Selbst noch ein durchaus anerkannter Dramatiker wie Fried-
rich Hebbel, der in den 40er Jahren in der Öffentlichkeit, aber
auch in interessierten Kritikerkreisen für Furore gesorgt hatte
mit seinen Lustspielen, insbesondere aber auch mit seinem
bürgerlichen Trauerspiel „Maria Magdalena“, verliert mehr und
mehr an Zuspruch. Schließlich gibt er auch noch aktuelle Zeit-
bezüge preis, um historische und biblisch-mythologische Stof-
11
Zit. nach Steinecke, Hartmut, Romanpoetik von Goethe bis Tho-
mas Mann, München 1987, S. 34f.
154 VII. Vormärz und Biedermeier

fe zu bearbeiten. In seinen dramentheoretischen Schriften aus


den 40er Jahren, in Vorworten, Essays und Tagebuchaufzeich-
nungen, redet Hebbel davon, daß er das bürgerliche Trauer-
spiel regenerieren und zugleich zeigen möchte, „daß auch im
eingeschränktesten Kreis eine zerschmetternde Tragik möglich
ist, wenn man sie nur aus den rechten Elementen, aus den die-
sem Kreise selbst angehörigen, abzuleiten versteht.“ (Hebbel
1978. Bd. 2. S. 443) Noch ist er der festen Meinung, daß das
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Drama die höchste poetische Kunstform sei, weil es „die welt-


anschauliche Aufgabe selbst lösen“ helfe, wie er im Vorwort
zu „Maria Magdalena“ einmal schreibt, „zwischen der Idee
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und dem Welt- und Menschenzustand“ zu vermitteln. (vgl.


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a.a.O. S. 298) Kunst vermittelt danach also Erkenntnisse und


Wahrheiten; „sie ist die realisirte Philosophie“ (a.a.O. S. 296)
bzw., wie es in „Ein Wort über das Drama“ auch heißt, „die
höchste Geschichtsschreibung.“ (a.a.O. S. 276) „Das Drama
stellt den Lebensprozeß an sich dar.“ (a.a.O. S. 275) Von diesem
ästhetisch-poetologischen Konzept bewegt sich der spätere
Hebbel seit den 50er Jahren völlig weg. Der geschichtsphiloso-
phische Zusammenhang, nicht zuletzt mit aktuellen Gesell-
schaftsproblemen verbunden, wird zugunsten eines sich in un-
vordenklichen Zeiten abspielenden Stoffes („Die Nibelungen“
von 1862) preisgegeben. Klassizismus rückt an die Stelle einer
zeitgemäß-aktuellen Dramatik.
Richard Wagner steigt in der zweiten Jahrhunderthälfte,
nachdem auch er revolutionäre Anwandlungen, utopische Äs-
thetik-Konzepte verworfen hat, zum gefeierten Medienstar
auf. Sein in Bayreuth verewigtes und Stein gewordenes Ge-
samtkunstwerk will weder lehren noch nützen oder sonstwie
überzeugen als vielmehr beeindrucken und überwältigen – da-
mit einem, ein geflügeltes Hegelsches Wort kolportierend,
beim dröhnenden Ouvertüren-Klang des ‚Rings‘ tatsächlich
Hören und Sehen zu vergehen scheinen. Unterhaltung pur –
und zwar als Ablenkung, als momentane Unterbrechung und
Aufhebung der Alltagszwänge. Kunst als Flucht, als giganti-
VII. Vormärz und Biedermeier 155

sche Inszenierung von Schein ohne Sein und Deckung. Als


spektakuläres Spiel, mehr und mehr dann auch als Gesell-
schaftsspiel von ‚Sehen-und-Gesehen-Werden‘. Es handelt
sich um dasjenige, was Adorno später in seiner „Ästhetischen
Theorie“ immer wieder als Banausie anprangern wird, was
aber schon Nietzsche, den zunächst glühenden Bewunderer
und Verehrer Wagners, zunehmend gestört hat. Nietzsche hat
oft von der Gefahr Wagners gesprochen, davon, daß dieser
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bloß auf die Massen wirke, auf den Pöbelgeschmack.

*
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Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Die andere ge-
schätzte Seite verkörpert die realistische Literatur der zweiten
Jahrhunderthälfte, repräsentieren Gustav Freytag und Otto
Ludwig, Theodor Storm und Gottfried Keller, Theodor Fon-
tane und Friedrich Spielhagen. Realismus jedoch meint keinen
Naturalismus. Er wird zwar in der bestehenden Realität veran-
kert, aber zugleich wird wieder über die bloße Realität hinaus-
gegangen. Ziel aller Unternehmungen in Roman, Erzählung
oder Novelle ist die „Aufdeckung der von einer inessentiellen
Schale eingehüllten Essenz.“ 12 Dahinter steckt noch die Hegel-
sche Ansicht von der Vernünftigkeit alles Wirklichen, wenn
man erst unter die gleißende Oberfläche, jenen schlechten
Schein, hindurchgedrungen ist. Auch die deutschen Realisten,
die sich in ihren programmatischen Selbstaussagen vielfach als
Idealrealisten bezeichnet haben, glauben an einen festen We-
senskern, an das Substantielle, das im Verborgenen und unter
der Akzidenz schlummert. An diesem Punkt unterscheiden

12
Eisele, Ulf, Realismus-Theorien, in: Deutsche Literatur, Eine So-
zialgeschichte, ( Hg.) Horst Albert Glaser, Bd. 7, Vom Nachmärz
zur Gründerzeit: Realismus 1848-1880, (Hg.) Horst Albert Glaser,
Reinbek 1982, S. 41, auch S. 39.
156 VII. Vormärz und Biedermeier

sich dann auch die deutschen Realisten von der gesamteuro-


päischen Bewegung des Realismus.
Man hat vom deutschen Sonderweg gesprochen und davon,
daß die deutsche Wirklichkeitsbearbeitung rückständiger sei.
Diese These hat einiges für sich, wenn man mit Hartmut Stei-
necke der Überzeugung ist, daß die Entwicklung der mo-
dernen Prosa, und hierbei insbesondere des Romans als para-
digmatischer literarischer Gattung, mit der der Demokratie
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korreliert. Dann nämlich läßt sich auch im Umkehrschluß, was


den Abstand zwischen Deutschland und England oder Frank-
reich noch deutlicher werden läßt, behaupten, daß Deutsch-
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land „weder eine reiche demokratische Tradition noch eine


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Überfülle literarisch bedeutender Romane aufweisen [kann].“ 13


Gewiß müssen Einzelurteile im Blick auf Keller oder Storm,
Fontane oder Raabe sehr viel differenzierter ausfallen und ist
Lukács, der sich intensiv mit den deutschen Realisten ausein-
andergesetzt hat, in vielen Punkten Recht zu geben, wenn er
immer wieder den bornierten Zeit- und Gesellschaftshorizont
für die Zurückgebliebenheit verantwortlich macht, wenn er für
die „Diskontinuität der deutschen Literaturentwicklung“ als
„Grund“ den „Anachronismus der deutschen Zustände im
Vergleich zur bürgerlichen Entwicklung in Westeuropa“ an-
gibt.14 Dennoch bleibt als Quintessenz der poetologischen Be-
mühungen zur Begründung des deutschen Realismus ein enor-
mes Defizit zurück. Ein Defizit auch im Vergleich zu
avancierten Positionen früherer Jahrzehnte.
Der deutsche Realismus hat „keine eigentlich programma-
tischen Schriften hervorgebracht, jedenfalls keine, die seine
Positionen kohärent deutlich machen würden.“ 15 Es existiert
keine „ausgearbeitete, konsistente realistische literarische Theo-

13
Steinecke a.a.O. S. 52.
14
Vgl. Lukács, Georg, Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts, Ber-
lin 1953, S. 5.
15
Eisele a.a.O. S. 37.
VII. Vormärz und Biedermeier 157

rie.“ 16 Man muß, will man den deutschen Realismus in seiner


Selbsteinschätzung kennenlernen, auf Vorworte, verstreute
Äußerungen in Aufsätzen und Rezensionen, auf briefliche Do-
kumente zurückgehen. Einzig noch Friedrich Spielhagen hat
1883 „Beiträge zur Theorie und Technik des Romans“ vorge-
legt, eine mit Maßen theoretisch-systematische Schrift, die eine
Anzahl von Essays aus den 70er Jahren bündelt. Spielhagen
resümiert darin nur, was allen Realisten im Grunde gemein ist
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und was darüber hinaus die literarische Signatur der Zeit cha-
rakterisiert.
Zum Realismus gehört unabdingbar die Prosa hinzu. Und
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an oberster Stelle rangiert der Roman, den bereits Hegel in sei-


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ner Ästhetik, also schon in den 20er Jahren des 19. Jahrhun-
derts, als modernes Epos gedeutet und den einige Jahrzehnte
nach den deutschen Realisten der junge Lukács als die Epopöe
der gottverlassenen Welt, als den der modernen bürgerlichen
Gesellschaft angemessenen literarischen Ausdruck bezeichnet
hat. Diese Romanprosa schillert jedoch. Einerseits hält sie sich
– im mimetischen Sinne – an eine Abbildung der Zeit, ande-
rerseits aber legt sie sich Daumenschrauben bzw. Augenklappen
an, wenn es um die Schattenseiten dieser Wirklichkeit geht,
wenn es sich um die Häßlichkeiten handelt. In dem Punkt
kann man daher Erich Auerbachs bahnbrechender Studie „Mi-
mesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Litera-
tur“ immer noch zustimmen, wenn er zusammenfassend über
die deutsche Literatur jener Jahre schreibt: „Keiner der Män-
ner zwischen 1840 und 1890, von Jeremias Gotthelf bis zu
Theodor Fontane, zeigt in voller Ausbildung und Vereinigung
die Hauptmerkmale des französischen, das heißt des sich bil-
denden europäischen Realismus: nämlich ernste Darstellung
der zeitgenössischen alltäglichen gesellschaftlichen Wirklichkeit
auf dem Grunde der ständigen geschichtlichen Bewegung,

16
Ebd.
158 VII. Vormärz und Biedermeier

[…].“ 17 Lediglich Theodor Fontane spricht Auerbach wenig


später „Ansätze zu echter Zeitrealistik“ 18 zu, wiewohl gerade
am Falle Fontanes, in dessen poetologischen Äußerungen und
Selbstreflexionen die Selbstbeschränkungen, ja Borniertheiten
am nachdrücklichsten ins Auge springen. „So will der frühe
Fontane unter Realismus ausdrücklich nicht „das nackte Wie-
dergeben alltäglichen Lebens, am allerwenigsten seines Elends
und seiner Schattenseiten“ verstanden wissen, und er führt da-
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bei sicherlich nicht zufällig als Beispiel ausgerechnet die „Dar-


stellung eines sterbenden Proletariers“ an, „den hungernde
Kinder umstehen“.“ 19 Häßlichkeit und Alltäglichkeit – so lau-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

ten die Sammelbegriffe für sozial Anstößiges, für die perhor-


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reszierte Gewöhnlichkeit, die die Realisten in den milden


Glanz der Versöhnung und Verklärung tauchen möchten. Rea-
lismus ist immer idealistisch gebrochen, ist immer halbiert und
mit einer lügnerischen Maske der Normativität ausgestattet.
Nichts Schlimmes geschieht. Noch im Tod erstrahlt der Glanz
des schönen Scheins; es sind immer schöne Leichen, ganz im
Gegensatz zur grauenerregenden Wasserleiche, wie sie Emile
Zola in seinem Erstling „Thérèse Raquin“ (1867) naturalistisch
derb beschrieben hat.
Sehen wir uns nun einige theoretische Äußerungen deut-
scher Schriftsteller genauer an. Als erster mag hier Otto Lud-
wig stehen, dessen Tragik, wenn man so will, darin bestanden
hat, daß er sich selbst zeitlebens als Dramatiker – und zwar als
gescheiterter – mißverstanden hat, während seine eigentliche,
von ihm selbst nur geringgeschätzte Produktivität auf dem Feld
des Romans und der Erzählprosa gelegen hat. So existieren
etwa von seinem geplanten Agnes-Bernauer-Drama annähernd
achtzig Entwürfe. Mit leichter Hand hingegen hat er seine Ro-

17
Auerbach, Erich, Mimesis, Dargestellte Wirklichkeit in der abend-
ländischen Literatur, Bern 1988, S. 480.
18
A.a.O. S. 482.
19
Eisele a.a.O. S. 44.
VII. Vormärz und Biedermeier 159

mane, „Die Heiteretei und ihr Widerspiel“ oder „Zwischen


Himmel und Erde“, geschrieben. Und stets hat Ludwig seinen
Schreibprozeß auch theoretisch begleitet und reflektiert. Ganz
allgemein heißt es über die Aufgabe des Schriftstellers, daß die-
ser berufen sei, „praktische Lebensweisheit zu lehren.“ „Die
Welt des Gedichts“, fährt er dann fort, „sollte die wirkliche
Welt sein, nur durchsichtiger, woran der Leser seinen Lebens-
sinn schärfen, Erfahrungen machen kann, kurz eine Art Vor-
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schule für die Schule des wirklichen Lebens habe.“ ( Ludwig


1924. Bd. 6. S. 412) In seinen epischen Studien beschäftigt sich
Ludwig eindringlich mit dem Roman, dessen Rückgrat die Ge-
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schichte eines Helden sei, also eine Biographie. (vgl. a.a.O.


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S. 340) Die Hauptkunst bestehe sodann darin, ein „Arrange-


ment“ herzustellen, also einiges zu verschweigen, anderes da-
gegen in den Vordergrund zu rücken. In diesem Punkt ähnelt
der Dichter dem lieben Gott, weil er nicht nur wie dieser über
den Dingen schwebt, sondern auf poetische Gerechtigkeit
dringt, was Ludwig gleichermaßen ästhetisch und moralisch
für „zweckmäßig“ ansieht. (a.a.O. S. 342) Großes Vorbild ist
Dickens, an dem Ludwig rühmt, daß hier alles „Handlung und
Empfindung“ und eben „nie abstrakte Reflexion“ sei. „Die
Phantasie ist die Basis seiner wie aller wahren Dichtung, die üb-
rigen Vermögen in ihrem Dienste verwandeln sich ganz in sie.“
(a.a.O. S. 344) Zugleich müsse die Phantasie, wie es an anderer
Stelle heißt, rückgekoppelt werden an die Historie. Denn der
Roman behandle anders als das Drama, wo es um die Psycholo-
gie gehe, „die historischen Agentien.“ (a.a.O. S. 348) Der Ro-
man, so Ludwigs Forderung, müsse unterhaltend und deshalb
auch spannend sein. Alles in allem resümiert er dann über das
Verhältnis von moderner Poesie und Wirklichkeit: „Poesie der
Wirklichkeit, die nackten Stellen des Lebens überblumend, die
an sich poetisch nicht über die Wahrscheinlichkeit hinausge-
hen. Erstres besonders durch Ausmalung der Stimmungen
und Bedeutung des Gewöhnlichen im Leben mit dem Lichte
der Ideen, die aber nie ein Parteistandpunkt, sondern stets
160 VII. Vormärz und Biedermeier

über den Parteien schwebend sein muß. Der Gott, der in den
Schicksalen der Menschen sich offenbart, darf nicht schlimmer
als der christliche Gott sein, nicht geradezu ungerecht, fühllos
u.s.w.“ (a.a.O. S. 348f.) Hier taucht er wieder auf: der Gedanke
von der halbierten Realität, einer idealisierten und im Lichte ei-
ner Idee geschönten Wirklichkeit, die der Poet von erhabener
Warte aus – von oben herab – betrachtet. Wieder an anderer
Stelle fällt der Begriff der „gesteigerten Wirklichkeit“ im Blick
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auf den Roman, womit zusätzlich auch die Wirkung gesteigert


werde. (a.a.O. S. 448) Der Roman, so lautet die Quintessenz,
bestellt einen „weiten Raum“, was an die bekannte Fontane-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

sche Formulierung vom weiten Feld erinnert und womit auf


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den Gesichtspunkt der Totalität abgezweckt wird. Die Roman-


welt, ihre Topographie, vermißt eine extensive Totalität, karto-
graphiert eine zweite höhere Wirklichkeit, die – und das ist
auch die tiefste innere Überzeugung Fontanes – als die wirkli-
che fungiert, gemäß dem Satz von Julian Schmidt, dem Groß-
kritiker jener Jahre, daß „die Idee der Dinge […] auch ihre
Realität [ist].“ 20
Die Poetik des Schweizers Gottfried Keller, den Georg
Lukács den „Klassiker der Demokratie“ genannt hat21, schaut
ganz ähnlich aus. Auch wenn man Kellers Realismus, wie
Lukács wohl zu Recht erkennt, als Ende der Kunstperiode be-
zeichnen muß, weil es Keller darum geht, wie es im „Grünen
Heinrich“ heißt, „etwas Lebendiges und Vernünftiges hervor-
zubringen“ 22, so darf man doch nicht übersehen, daß auch bei
ihm Verklärung und Idealisierung stets mit im Spiel sind. Die
Zeitgenossen haben das genossen und Kellers Realismus gefei-

20
Zit. nach Bucher, Max u.a. (Hg.), Realismus und Gründerzeit, Ma-
nifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880, Bd. 2,
Stuttgart 1975, S. 95.
21
Lukács a.a.O. [ Anm. 14] S. 147.
22
Keller, Gottfried, Werke, Zürcher Ausgabe, (Hg.) Gustav Steiner,
Zürich 1978, Bd. 2, S. 6.
VII. Vormärz und Biedermeier 161

ert, weil dieser, in den Worten eines so maßgeblichen Ästheti-


kers wie Friedrich Theodor Vischer, „die echte Idealität in sich
begreift.“ 23 In einem Brief vom 25. Juni 1860 an Berthold Au-
erbach äußert sich Keller über die „Pflicht eines Poeten“, wor-
unter er u.a. versteht, daß er „nicht nur das Vergangene zu ver-
klären, sondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft so
weit zu verstärken und zu verschönern [habe], daß die Leute
noch glauben können, ja, so seien sie, und so gehe es zu!“ 24
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Und später, nämlich in einem Brief an Heyse vom 7. Septem-


ber 1884, drückt sich Keller, den französischen Naturalismus
vor Augen, noch weitaus drastischer aus: „Daudet … ist mit
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verhängtem Zügel der Nana’s [Zolas] nachgeritten und dort


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angekommen, wo es unaufhörlich stinkt. Was liegt denn der


Welt an den ewigen Lebenslügen dieser Pariser Huren und an
ihrem täglichen, ja, stündlichen Lakenreißen? Nichts!“ 25 An die
Stelle eines großstädtischen Panoramas, wie es Balzac oder
auch Zola bieten mit ihren An- und Ausblicken auf die Stützen
der besseren Gesellschaft wie auch auf die gemeine Hefe, rük-
ken beschauliche Verhältnisse: statt Paris das fiktive Seldwyla –
„einer Art von schweizerischem Abdera, worauf alle Thorhei-
ten und Schwindeleien abgeladen sind die der Dichter aufs
Korn nimmt. Inmitten der guten Seldwyler Leute erzieht er
nun seine heranreifenden Jünglinge nicht zu weitwirkenden
Staatsmännern oder feinen Humanisten, sondern eben zu soli-
dem Gewerke und Gewerbe.“ 26 Die ‚krude Wirklichkeit‘ bleibt
ausgespart; selbstherrlich regiert der Autor in seinem poeti-
schen Reich, was Keller, ebenfalls brieflich, wiederum an Paul
Heyse am 27. Juli 1881 folgendermaßen auf den Begriff ge-
bracht hat: „Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmit-

23
Zit. nach Bucher a.a.O. [ Anm. 20 ] S. 367.
24
Zit. nach Rilla, Paul (Hg.), Über Gottfried Keller, Zürich 1978,
S. 262.
25
Zit. nach Markwardt a.a.O. Bd. IV S. 326.
26
Vischer, zit. nach Bucher a.a.O. S. 367.
162 VII. Vormärz und Biedermeier

telbarkeit der Poesie, d.h. das Recht zu jeder Zeit, auch im


Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte,
das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das
man sich nach meiner Meinung durch keine Kulturwandlun-
gen nehmen lassen soll.“ 27
Sein poetologisches Credo gleichsam hat Keller in seinem
Roman „Der grüne Heinrich“ formuliert, diesem Bildungs-
und Entwicklungsroman um den ‚grünen‘, mit wenig Fortüne
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als Landschaftsmaler agierenden Heinrich Lee, der schlußend-


lich als Verwaltungsbeamter in der heimischen Schweiz sein
Auskommen und seine Liebe findet. So heißt es im ersten Ka-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

pitel des dritten Bandes unter dem Titel „Arbeit und Beschau-
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lichkeit“, worin der Icherzähler von den „Umwandlungen“ in


seiner „Anschauung vom Poetischen“ erzählt: Statt alles „in
Leben und Kunst“ poetisch zu nennen, lernt Heinrich zu be-
greifen, „daß das Unbegreifliche und Unmögliche, das Aben-
teuerliche und Überschwengliche nicht poetisch ist und daß,
wie dort die Ruhe und Stille in der Bewegung, hier nur
Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten
herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbe-
deutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzu-
bringen, mit einem Worte, daß die sogenannte Zwecklosigkeit
der Kunst nicht mit Grundlosigkeit verwechselt werden darf.
Dies ist zwar eine alte Geschichte, indem man schon im Ari-
stoteles ersehen kann, daß seine stofflichen Betrachtungen
über die prosaisch-politische Redekunst zugleich die besten
Rezepte auch für den Dichter sind.“ 28 Lukács hat aus diesem
Bekenntnis zu einer gewissen Erdnähe gleich einen Hang
zum Materialismus in Gestalt der Feuerbachschen Philoso-
phie, wovon Keller bekanntlich ein Anhänger war, herausle-

27
Zit. nach Rilla a.a.O. S. 334; vgl. dazu auch Žmegač, Viktor, Der
europäische Roman, Geschichte seiner Poetik, Tübingen 1990,
S. 174ff.
28
Keller a.a.O. [ Anm. 22] S. 6.
VII. Vormärz und Biedermeier 163

sen wollen. Die Zusammenstellung des Lebendigen mit dem


Vernünftigen erinnert freilich mehr an die Hegelsche Posi-
tion, wie auch die Aversion gegen romantische Überspannt-
heiten, gegen das Unmögliche oder Überschwengliche. Der
Begriff Autonomie ist gemeint, wenn Keller von Zwecklosig-
keit spricht, gleichwohl aber für eine Verankerung, einen
Grund in der Realität plädiert – freilich immer einer geschön-
ten bzw. idealisierten.
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Das Grundbuch allerdings des poetischen Realismus oder


Idealrealismus, zugleich – in gewisser Weise – auch das verlo-
genste Buch der ganzen Richtung hat Gustav Freytag mit sei-
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

nem Roman „Soll und Haben“ von 1855 geschrieben. Dieser


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Roman, der sogleich begeisterten Zuspruch ebenso von vie-


len maßgeblichen Kritikern der Zeit wie von einem Massen-
publikum erfahren hat und zu den auflagenstärksten Büchern
der zweiten Jahrhunderthälfte zählt, gibt vor, wie es im vor-
angestellten Motto von Julian Schmidt heißt, das deutsche
Volk „bei seiner Arbeit“ darzustellen. Darin liege auch die
zeitgemäße Wahrheit des Schriftstellers, dessen Roman „wahr
nach den Gesetzen des Lebens und der Dichtkunst erfunden
und doch niemals zufälligen Ereignissen der Wirklichkeit
nachgeschrieben ist.“ 29 Obzwar also erfunden, sei die Ge-
schichte doch einer wesentlichen Realität nachgeschrieben,
einer – wieder einmal – im Licht der Idee verklärten Realität,
deren Notwendigkeit auffällig mit den Interessen und der
Ideologie des Bürgertums korrespondiert. So sind denn auch
am Roman alle landläufigen Ideologeme der Zeit ablesbar, sind
die Selbstinszenierungen des Bürgertums darin ebenso prä-
sent wie seine Aversionen. Gutes bürgerliches Kapital in einer
christlich gesunden Kaufmannsfamilie steht einem raffenden
jüdischen Kapital gegenüber; Gesundheit gegen Krankheit,
Ehre und Anstand gegen Verschlagenheit und kriminelle
Energie. Fontane rühmt das Buch, weil er darin die „Verherr-
29
Freytag, Gustav, Soll und Haben, München, Wien 1977, S. 10.
164 VII. Vormärz und Biedermeier

lichung des Bürgertums und insonderheit des deutschen Bürger-


tums“ ( Fontane: WuS 28, 104) zu erkennen glaubt. Man wird
damit freilich seine Schwierigkeiten haben. Denn eine auf-
merksame Lektüre dieser Scharteke zeigt mindestens ein
Zweifaches, worin jedoch auch eine Beschäftigung mit dem
Roman anhaltend gerechtfertigt ist: unmißverständlich wer-
den Vorurteilsstrukturen beschrieben, wird der Antisemitis-
mus in seinen historischen Wurzeln erkennbar, zugleich aber
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auch entlarvt Freytag auf eher unfreiwillige Art und Weise die
Langeweile des bürgerlichen Alltags, der, auf Ehre, Anstand,
Sittlichkeit beruhend, tatsächlich nurmehr sein Augenmerk
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

aufs Anwachsen des Kontos und der Kapitalerträge gerichtet


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hat. Beim sturen Blick aufs Geld muß man sich abends – am
Feierabend – aber zwangsläufig langweilen, wie der männli-
che Protagonist Anton Wohlfahrt oder wie die Schwester des
Prinzipals Sabine und im Grunde genommen alle jungen
Frauen, die ihr Leben in der Warteschleife bzw. Hoffnung
auf die gute Partie verbringen. (Wonach dann freilich wieder
die perennierende Langeweile als Krankheit zum Tode ein-
setzt! ) Was Freytag anläßlich der Lektüre des geschätzten
Charles Dickens einmal geäußert hat, mag auch als Vorsatz
seine eigenen Schriften, an erster Stelle „Soll und Haben“,
zieren, wird doch hierin unmißverständlich das Projekt einer
Verklärung und Idealisierung, einer Idyllisierung der Alltags-
realität umrissen:
Die fröhliche Auffassung des Lebens, das unendliche Behagen,
der wackere Sinn, welcher hinter der drolligen Art hervorleuchte-
te, waren dem Deutschen damals so rührend, wie dem Wanderer
eine Melodie aus dem Vaterhause, die unerwartet in sein Ohr tönt.
Und alles war modernes Leben, im Grund alltägliche Wirklichkeit
und die eigene Weise zu empfinden, nur verklärt durch das liebe-
volle Gemüth eines echten Dichters.30

30
Freytag, Gustav, Gesammelte Werke, Leipzig 1910, Bd. 16, S. 241.
VII. Vormärz und Biedermeier 165

Starke Zweifel sind angebracht, ob Freytag selbst die Qualitä-


ten zum echten Dichtertum in sich trägt. Diese müssen ohne
jeden Zweifel dem jüngeren Zeitgenossen Theodor Fontane
zugesprochen werden. Lange bevor er mit seinem Alterswerk,
den Romanen der 80er und 90er Jahre, die volle literarische
Anerkennung findet, hat er sich bereits als journalistischer Ta-
gesschriftsteller, Rezensent und Theaterkritiker auch zu ästhe-
tisch-theoretischen Sachverhalten geäußert. Früh auch hat er
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Partei für Gustav Freytag ergriffen, im Zusammenhang mit


dessen Roman „Die Ahnen“ er sich sogar grundsätzlich über
die Gattung Roman äußert: „Was soll ein Roman? Er soll uns,
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unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine


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Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer


Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben,
ohne aufzuregen: er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augen-
blicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns wei-
nen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluß aber empfin-
den lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter
charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben,
deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte,
klärte und belehrte.“ (Fontane: WuS 28, 118f.) Die Fiktion soll
als Realität erscheinen, der Roman soll, wie Fontane dann im
folgenden schreibt, „ein Bild der Zeit sein, der wir selber ange-
hören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an des-
sen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere
Eltern noch erzählten.“ (a.a.O. S. 121) Der moderne Roman,
so schließt Fontane, „soll ein Zeitbild sein, ein Bild seiner Zeit.“
(ebd.) D.h. Fontane plädiert für einen realistischen Zeit- und
Gesellschaftsroman, der aus dem Alltagsleben der Leser her-
vorgeht, ohne freilich das „Elend“ und die „Schattenseiten“ zu
zeigen. Unter gutem und echtem Realismus versteht Fontane
vielmehr „die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller
wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst; er ist,
wenn man uns diese scherzhafte Wendung verzeiht, eine „In-
teressenvertretung“ auf seine Art. Er umfängt das ganze reiche
166 VII. Vormärz und Biedermeier

Leben, das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus, der der
Welt eine neue zum Geschenk machte, und das Wassertier-
chen, dessen Weltall der Tropfen ist: den höchsten Gedanken,
die tiefste Empfindung zieht er in sein Bereich, und die Grü-
beleien eines Goethe wie Lust und Leid eines Gretchen sind
sein Stoff. Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will
nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese: er will am al-
lerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre.
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Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebel-
hafte, das Abgestorbene – vier Dinge, mit denen wir glauben,
eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben.“ (a.a.O.
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

S. 44) Dies schreibt er bereits 1853 in einem Beitrag, der sich


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mit der lyrischen und epischen Poesie seit 1848 beschäftigt


und worin er, was auch im letzten Satz unseres Zitates un-
überhörbar anklingt, der romantischen Poesie die Leviten
liest. Im Realismus, im realistischen Roman insbesondere,
sind die Aspekte der Wahrheit und der Schönheit miteinan-
der verkoppelt. „Der ächte Realismus“, behauptet Fontane in
einem Brief vom 14. Juni 1883, „wird auch immer schön-
heitsvoll sein, denn das Schöne, Gott sei Dank, gehört dem
Leben gerade so gut an wie das Häßliche. Vielleicht ist es
noch nicht einmal erwiesen, daß das Häßliche präponderirt.“ 31
Probates Mittel, um die Verklärung und Idealisierung zu be-
werkstelligen und damit auch die manifesten Häßlichkeiten der
faktischen Realität aufzuheben, die die französischen Naturali-
sten so grell gezeichnet haben, ist der Humor. Und darunter
wieder versteht Fontane, was zum geflügelten Wort avanciert,
das heitere Darüberstehen. Eine Position über allen Wassern –
eine Position schließlich, die sich im erzählerischen Werk
Fontanes auf Schritt und Tritt verfolgen läßt. Ein souveräner
auktorialer Erzähler zieht die Drähte, läßt die Geschichten

31
Fontane, Theodor, Briefe I, Briefe an den Vater, die Mutter und
die Frau, (Hg.) Kurt Schreinert, Zu Ende geführt mit einem
Nachwort von Charlotte Jolles, Frankfurt/M., Berlin 1968, S. 200.
VII. Vormärz und Biedermeier 167

vor den Augen seiner Leser abrollen – oft genug beginnen


diese (kameratechnisch gesprochen) mit einem Blick auf die
Totale, den geschlossenen äußeren Ort der Handlung, um
dann in Schwenks einzelne Segmente dieser Realität genauer
auszuleuchten. Nur im späten Stechlin-Roman verändert sich
die Perspektive. Eine Polyvalenz der Stimmen, die Indiz ist
für eine im Umbruch begriffene Zeit, für Interessensgegensät-
ze und eine Rivalität verschiedenster Meinungen und Stand-
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punkte, drängt den analysierenden und kommentierenden Er-


zähler in den Hintergrund. Adel und Bürgertum begegnen
einander auf Soiréen und bei anderen Festivitäten, tauschen
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sich aus, diskutieren über die Zeitläufte. Die Zukunft ist offen,
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der teleologische Schlußakkord fehlt. Statt dessen wird aus-


führlich und intensiv an vielen Stellen des Romans die Wirk-
lichkeit besprochen – ganz konkret: in einer Vielzahl von Ge-
sprächen unter den Beteiligten erörtert. Auf jeden Fall, so
könnte man resümieren, wird hier der idealistische Aspekt der
deutschen Realismus-Konzeption entscheidend gekappt. Mö-
gen die Häßlichkeiten auch nicht gestaltet werden – und für
Fontane nicht gestaltbar sein –, mindestens als besprochene
Realität, als Gegenstand des Nachdenkens und der Reflexion,
tauchen sie auf. 1897 erscheint der Stechlin, zu einer Zeit, da
bereits der Naturalismus eines Hauptmann oder des Schrift-
stellergespanns Holz/Schlaf auf der einen Seite, der Impressio-
nismus und die Dekadenz auf der anderen Seite in Gestalt der
Werke von Hofmannsthal, Schnitzler oder Stefan George den
Ton angeben.
Bevor wir uns diesen veränderten Welt- und Kunstanschau-
ungen nähern, soll abschließend noch auf einen maßgeblichen
Theoretiker des deutschen Realismus hingewiesen werden.
Friedrich Spielhagen, der selbst eine stattliche Reihe von (heu-
te nur noch wenig bekannten) Zeit- und Gesellschaftsromanen
vorgelegt hat, u.a. „In Reih und Glied“ (1866), „Hammer und
Amboß“ (1869), „Sturmflut“ (1877), publiziert 1883 seine
„Beiträge zur Theorie und Technik des Romans“, denen 1898
168 VII. Vormärz und Biedermeier

eine zweite Sammlung mit „Neue[n] Beiträge[n] zur Theorie


und Technik der Epik und Dramatik“ folgt. In diesen Aufsatz-
sammlungen werden noch einmal alle wesentlichen Aspekte
des Idealrealismus zusammengefaßt, weshalb die Kernaussa-
gen hier kurz resümiert werden sollen. Spielhagens episches
Bekenntnis lautet, daß die alles entscheidende Dimension im
modernen Roman die Handlung sei. Darunter versteht er in
erster Linie die Bewegung der Personen, und dabei, so Spielha-
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gen, müsse ein Held im Mittelpunkt stehen. Dieser sei „das


Centrum, welchem innerhalb der Peripherie alles zustrebt; er
ist auch der Radius, welcher den Umfang der Peripherie be-
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stimmt. Wer und was nicht mit dem Helden in irgend einem
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Zusammenhang steht, gehört nicht in den Roman, und dieser


Zusammenhang darf nicht zu entfernt sein, oder der Roman
verliert mit dem Maße der Entfernung an Übersichtlichkeit
und mit der Übersichtlichkeit an Schönheit.“ 32 Durch Über-
sichtlichkeit entsteht also eine Harmonie des Ganzen, entsteht
Schönheit, wie Spielhagen glaubt. Insgesamt sei der Roman ein
idealisiertes bzw. verklärtes Bild der Welt33; gleichwohl sinnt er
der epischen Gestaltung Objektivität an. Dies könne nur so
bewerkstelligt werden, daß der Erzähler sich gleichsam selbst
verleugnet und als aparte Figur innerhalb des Textes zum Ver-
schwinden kommt. Die Geschehnisse wie die Figuren müssen
als wirklich erlebt werden, ganz sinnlich und körperhaft; oder,
wie Spielhagen auch formuliert, sie müssen „aus dem Rahmen
der Dichtung heraustreten und unter uns wandeln zu können
scheinen.“ 34 Ein Interpret, Wilfried Hellmann, hat daher zu
Recht gegen das Spielhagensche Konzept geltend gemacht,

32
Spielhagen, Friedrich, Neue Beiträge zu Theorie und Technik der
Epik und Dramatik, Leipzig 1898, S. 213.
33
Vgl. Spielhagen, Friedrich, Beiträge zur Theorie und Technik des
Romans, Leipzig 1883, S. 117, 342.
34
A.a.O. S. 28.
VII. Vormärz und Biedermeier 169

daß „der Roman, […], […] wie einen Makel verbergen [soll],
was er ist – ein Produkt des Erzählers.“ 35
Die Problematik und Widersprüchlichkeit des Ansatzes lie-
gen damit klar auf der Hand: nicht nur daß jegliche Subjektivi-
tät (und damit Modernität) ohne Not einfach preisgegeben
wird, um statt dessen – von Ferne an den Naturalismus erin-
nernd – die objektive Realität quasi aus sich selbst heraus spre-
chen zu lassen, sondern darüber hinaus wieder soll, was ein
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Kennzeichen des Naturalismus Zolascher Provenienz ist, die


gegebene Wirklichkeit um ihre Nacht- und Schattenseiten ge-
kürzt werden. Der Idealismus – die Verschönung und Versöh-
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nung im Licht einer Idee – triumphiert am Ende auch bei


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Spielhagen. Deutlich etwa, wenn er gegen Zola und dessen


„Grellheit und Schiefheit eines sogenannten Weltbildes“ vom
Leder zieht, um dagegen die Tugenden des deutschen realisti-
schen Erzählens aufzubieten. In Spielhagens eigenen Worten:
Zola begehe eine epische Todsünde, weil er „anstatt eines ob-
jektiven richterlichen Resümé“ bloß ein Staatsanwaltsplädoyer
halte, mithin einen bestimmten Parteistandpunkt einnehme.36
Friedrich Spielhagen schreibt die zusammenfassende Theorie
des nachmärzlichen bürgerlichen Romans, eine eklektische
Sammlung weitverbreiteter Ansichten zum Thema. Zwischen
Roman und Wirklichkeit klafft eine Lücke. Mögen die Texte
und die dahinterstehenden Poetologien noch so sehr vom
Zeit- und Gesellschaftsroman sprechen, mögen sie, Hegel wei-
terschreibend und mißverstehend, von der Objektivität und
Substantialität schwadronieren, ihre Wirklichkeit erscheint im-
mer schon als geschöntes Bild – sie ist nämlich ideologisch

35
Hellmann, Winfried, Objektivität, Subjektivität und Erzählkunst,
Zur Romantheorie Friedrich Spielhagens, in: Deutsche Romantheo-
rien, ( Hg.) Reinhold Grimm, 2 Bde., Frankfurt/M. 1974, Bd. 1,
S. 228.
36
Hellmann a.a.O. S. 249.
170 VII. Vormärz und Biedermeier

hochgerüstet und alles andere denn objektiv. Die Interessen


des Bürgertums drängen sich mit Macht in den Mittelpunkt.
Fritz Martini hat dies mit anderen Worten in einem Auf-
satz, der auch die Unterschiede zwischen den europäischen
Realismen und dem spezifischen deutschen Realismus her-
ausarbeitet:
der deutsche Roman des 19. Jahrhunderts [ hat] diese Kämpfe und
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Leiden [sc. um die zunehmende Entfremdung von Gesellschaft


und individueller Existenz ( W. J.)] unter dem Aspekt des bürgerli-
chen Lebensgefühls und seines humanistischen Erbes, unter dem
Primat des Ethischen als noch festgehaltenem Wertsystem, unter
VII. Vormärz und Biedermeier Realismus und Gründerzeit, 9783838529370, 2020

dem Zeichen des Gemüthaften und von Versöhnungen, selbst


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Verklärungen geschildert, die mehrfach den Konflikt im Senti-


mentalen auflösen. Er hat an der Psychologie des Einzelmenschli-
chen, an der Möglichkeit einer Weltversöhnung durch seinen Hu-
mor, seine Ergebung, seine liebende Überwindung festgehalten.37
Was hier weitgehend geistesgeschichtlich beschrieben wird,
kann man aber auch schärfer sozialgeschichtlich dimensionie-
ren, wie dies Andreas Huyssen in der Einleitung zur von ihm
herausgegebenen Sammlung mit Texten des bürgerlichen Rea-
lismus getan hat, womit wir hier schließen wollen:
Entscheidend für das Entstehen des bürgerlichen Realismus war
eine Verunsicherung und Verstörung des Realitätsbewußtseins im
Zeitalter der gescheiterten politisch-sozialen Revolution, des wirt-
schaftlich-industriellen Aufschwungs und der Entwicklung zur
modernen Massengesellschaft nach 1871 bei einer gleichzeitigen
explosionsartigen Anhäufung wissenschaftlicher Einzelerkenntnis-
se in Naturwissenschaft und Technik, Ökonomie und Psychologie.38

37
Martini, Fritz, Zur Theorie des Romans im deutschen ‚Realismus‘,
in: Deutsche Romantheorien, ( Hg.) Reinhold Grimm, 2 Bde.,
Frankfurt/M. 1974, Bd. 1, S. 206.
38
Huyssen, Andreas (Hg.), Bürgerlicher Realismus, Die deutsche Li-
teratur, Ein Abriß in Text und Darstellung, Bd. 11, Stuttgart 1974,
S. 16f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

1.

„Es ist eine Tatsache“, schreibt der Philosoph Georg Simmel


1902 in einem Beitrag für das amerikanische Magazin „Inter-
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national Monthly“, worin er über die „Tendenzen im deut-


schen Leben und Denken seit 1870“ informiert, „daß die Ver-
besserung der unmittelbaren Lebensbedingungen der mittleren
Schichten in den letzten 20-30 Jahren, […], selbst heute zum
Ausgangspunkt für alle erdenklichen Arten der ästhetischen
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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Verfeinerung und für die Kultur im allgemeinen zu werden be-


ginnt.“ Und Simmel versteht darunter ganz konkret „[d]ie
Ausgestaltung der Wohnungen, das daraus erwachsende Inter-
esse an allen dekorativen Künsten, insbesondere am Kunst-
gewerbe, die gestiegene Aufmerksamkeit für gewisse Äußer-
lichkeiten, […] die Verfeinerung der gesellschaftlichen Sitten,
de[n] vermehrte[n] Reiseverkehr.“ 1 Es kommt, was Simmel
klar gesehen und zureichend erfaßt hat, zu einer Ausdifferen-
zierung der Lebensstile, zu einer Pluralität, die auch die Künste
mit einschließt. Simmel nennt das verschiedentlich auch die
Differenzierung im Nebeneinander. Und nebeneinander exi-
stieren um 1900 die verschiedensten Bewegungen und Stile:
Impressionismus, Jugendstil und Symbolismus, Neuromantik
und Neuklassik, die Heimatkunstbewegung, wenige Jahre spä-
ter die klassischen Avantgarden vom Futurismus über den Ex-
pressionismus zum Surrealismus. Mehr oder weniger allen Be-
wegungen gemeinsam ist das Formbekenntnis, der Wille zur
Form und zur radikalen Autonomie. Das Experiment steht vor
der Aussage, die Form dominiert den Inhalt. Radikal verab-
schiedet wird der Naturalismus als das in den 80er und 90er
1
Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche, Tendenzen im
deutschen Leben und Denken seit 1870, Hamburg 1990, S. 10f.
172 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Jahren weithin herrschende Literaturverständnis. Mit und in


ihm als sozusagen radikaler Form des Realismus sagt man adé
zu den traditionellen Stiltechniken und Wirkungsweisen, also
Mimesis und Katharsis nicht zuletzt. Statt zu wirken und auf-
zuklären, sollen die Künste nun wieder bloß gefallen – orna-
mentaler Schmuck und bombastischer Zierrat, wie aus Jugend-
stilfassaden sattsam bekannt, bestimmen den Ton, und
Böcklinsche Landschaften und Faune verschönern die Salons.
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1890 sah das freilich ganz anders aus. Da engagiert sich selbst
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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noch ein später so erbitterter Gegner das Naturalismus wie


Georg Simmel für Hauptmanns Stücke. So heißt es etwa über
„Die Weber“, daß „dies Werk die tiefen Strömungen zum
Ausdruck [bringt], zu deren Träger und Symbol jede moderne
Lebensäußerung, willig oder unwillig, sich gestalten muß.“
Mehr noch sei dies Stück Indiz dafür, „wie tief schon in die
verborgenen, unbewußten Quellen der dichterischen Phantasie
das Elend der Massen und ihre Sehnsucht nach Erlösung hin-
abgedrungen ist.“ 2 Der Ton und die Richtung, in die Haupt-
mann zielt, sind unüberhörbar: die Literatur ist so etwas wie
ein Sprachrohr sozialer Bewegungen. Und sie klärt und weckt
auf; ineins ist sie Erkenntnismedium und zugleich in gewisser
Weise Anleitung zur Praxis. Das verbindet den Naturalismus,
dessen Repräsentanten sich verschiedentlich auch als die
„Jüngstdeutschen“ bezeichnet haben, wieder mit der jungdeut-
schen Bewegung der 30er Jahre. Wie diese klagt der Naturalis-
mus gegenüber dem Idealrealismus des 19. Jahrhunderts die
Realität – und zwar ohne jede Verschönung und Versöhnung
– ein. Er ist der konsequentere Realismus, und zwar einer, der

2
Simmel, Georg, Vom Wesen der Moderne, ( Hg.) Werner Jung,
Hamburg 1990, S. 163f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 173

sich dezidiert an europäische Vorbilder, an Zola und Dickens,


Dostojewski und Tolstoi, Ibsen und Strindberg anschließt.
Im Vordergrund aller Bemühungen in der Lyrik, auf der
Bühne wie im Roman steht die Auseinandersetzung mit der
neuen sozialen Realität einer urbanen Lebenswelt, einer mehr
oder minder metropolitanen Zivilisation. Ein wesentlicher
Aspekt dieser großstädtisch geprägten Lebensweise ist neben
dem engen räumlichen Nebeneinander, auch dem der ver-
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schiedensten Klassen und Schichten, der Beschleunigungsfak-


tor, damit also die Verkürzung von Zeiten, weshalb wiederum
Georg Simmel auf solche damit verbundenen Aspekte wie
Hektik, Nervosität und Neurasthenie, Nietzsches Pathos der
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Distanz, hinweisen kann. Nirgends, so Simmel, fühle man sich


schließlich „so einsam und verlassen“ „als eben in dem groß-
städtischen Gewühl.“ 3 Eine Erzählung von Max Kretzer, auf
den noch zurückzukommen sein wird, aus dessen Sammlung
„Großtstadtmenschen“ von 1908 beginnt folgendermaßen:
„Alle meine Bekannten wissen, daß ich ein nervöser Mensch
bin, der sich schon dadurch als Zeitgenosse besonders be-
währt. Welcher Mitbürger unserer Millionenstadt könnte be-
haupten, er wäre es nicht? Und wenn er es wirklich behaupten
sollte, so müßte ich mich in die Notwendigkeit versetzt sehen,
ihm mit einem ungläubigen Blick zu antworten: „Schon, daß
Sie es bestreiten, ist ein Zeichen Ihrer Nervosität. Wer streitet,
ist immer erregt, und wer erregt ist, ist immer nervös. Also!“ Je
ruhiger mir ein Mensch von vornherein erscheint, je mehr ver-
dächtig kommt er mir vor, und so gehe ich ihm lieber aus dem
Wege, ehe ich mich der Gefahr aussetze, plötzlich mit einem
ganzen Sprühregen nervöser Meinung überschüttet zu wer-
den.“ 4 1902 faßt Willy Hellpach in seinem Buch „Nervosität

3
Simmel, Georg, Das Individuum und die Freiheit, Essais, Berlin
1984, S. 200.
4
Kretzer, Max, Großstadtmenschen, Neue Berliner Geschichten,
Berlin 1908, S. 26.
174 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

und Kultur“ all diese Aspekte zusammen und deutet die hyste-
risch-nervösen Komponenten der Zeit als ein Handeln der
Menschen „unterm Drucke von Suggestionen.“ 5 Hektik und
Nervosität haben entscheidend auch mit der gestiegenen Ge-
schwindigkeit zu tun – der Geschwindigkeit der Fortbewe-
gung, also der Transportmittel, und insgesamt aller Bewe-
gungsabläufe. Langsam aber sicher beginnt das Automobil
seinen Triumphzug anzutreten. Frühes Zeugnis dieser Auto-
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mobilisierung sind etwa Otto Julius Bierbaums im Auftrag ei-


nes Verlags durchgeführte ‚sentimentale Autoreise‘ nach Ita-
lien, freilich noch unter dem Wahlspruch: Lerne reisen, ohne
zu rasen!, oder Eugen Diesels Aufzeichnungen über eine Au-
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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toreise im Jahre 1905, worin es zu Beginn und im Blick auf die


erhöhte Mobilität innerhalb des urbanen Raums bemerkens-
werterweise heißt: „Die ‚grenzenlos verlängte Großstadt‘ war
die erste Entdeckung. Wir traten in eine neue Beziehung zur
Masse der Mietskasernen, Fabriken, Schrebergärten, Arbeiter,
siedelnden Kleinbürger, vor allem zum Weichbild der Groß-
stadt, wo eine nackte Brandmauer über dem wogenden Hafer-
feld ragt, einige Gaskandelaber in die Landschaft vorstoßen als
Vorboten der Eroberung des Feldes durch das Häusermeer.“ 6
Entdeckt werden jetzt nicht zuletzt all jene verborgenen
Ecken und Winkel proletarischer Kümmernisse, die die natu-
ralistischen Texte aus den 90er Jahren beinahe bis zum Über-
druß schildern: etwa Hauptmanns Stücke, Holz’ Phantasus-
Dichtung oder Kretzers Romane. Theoretisch hingegen ist es
eher schlicht bestellt um den Naturalismus. Es existiert kein
kardinaler Text, keine zentrale Theorie. Vielmehr muß man
sich durch eine Fülle von mehr oder minder theoretisch ausge-

5
Hellpach, Willy, Nervosität und Kultur ( 1902), zit. nach Hamann,
Richard und Hermand, Jost, Epochen deutscher Kultur von 1870
bis zur Gegenwart, 5 Bde., Impressionismus, Bd. 3, Frankfurt/M.
1977, S. 42.
6
Diesel, Eugen, Autoreise 1905, Leipzig 1941, S. 28f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 175

richteten Essays, Aufsätzen und Vorworten, auch durch Brief-


zeugnisse und autobiographische Aufzeichnungen hindurch-
wühlen, um einen ungefähren Aufriß über die Positionen zu
gewinnen.
Sehr viel eindringlicher und instruktiver als alle theoreti-
schen Äußerungen vermag allerdings eine Lektüre von Gerhart
Hauptmanns frühem Stück „Vor Sonnenaufgang“ (Druck und
Uraufführung 1889) Einblick in die naturalistischen Themen
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und Programmatiken zu geben. Der Titel „Vor Sonnenauf-


gang“ hat eine doppelte Bedeutung: zum einen geschehen in
jenen Stunden zwischen Nacht und Morgen all die Dinge, die
die sittliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft ins Wan-
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ken bringen ( Ehebrüche, Saufgelage mit anschließenden Strei-


tereien), zum anderen endet zu dieser Zeit auch die tragisch
desaströse Handlung des Stücks, das vordergründig die Alko-
holismusproblematik und Vererbungslehre thematisiert, hin-
tergründig aber ein großes Panorama mit politischen, sozialen
und kulturellen Aspekten inszeniert. Ein reich gewordener Ka-
pitalist, ein Bourgeois, der sich ein Bauernmädchen samt üppi-
ger Erbschaft unter den Nagel gerissen hat, eine schwer alko-
holabhängige Ehefrau, ein debiler Vater und eine protzende
Mutter sind ebenso von der Partie wie die edle und tugendhaf-
te, die kindliche jüngere Schwester, die sich in den soziali-
stischen Journalisten, Freidenker und (männlichen) Femini-
sten verliebt, oder dummdreiste, aber saturierte Bauerntölpel
und menschenliebende, aber irgendwie enttäuschte Landärzte.
Hauptmann bietet einen panoramatischen Blick auf die bürger-
liche Gesellschaft zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, wo, mit
Fontane zu sprechen, die Ingenieure zwar die neuen, zeitgemä-
ßen Helden abgeben, aber doch immer auch Dreck am Stek-
ken haben und ihre Leichen im Keller verbergen. Andererseits
– und das ist wiederholt von der Hauptmann-Forschung fest-
gestellt worden – mögen die positiven Charaktere zwar strah-
lende Tugendhelden sein, etwas Anachronistisches haftet ih-
nen dennoch an, wo nicht gar etwas auf verbissene Weise
176 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

geradezu Verbohrtes, wie im Falle Alfred Loths, des sozialisti-


schen Journalisten, der aufs Land gereist ist, um seinen alten
Studienfreund Hoffmann zu besuchen und gleichzeitig die
konkreten Arbeitsbedingungen von Minenarbeitern zu unter-
suchen. Schnell muß er feststellen, daß die Proleten schändlich
ausgebeutet werden und daß diese Praktiken auf seinen Freund
Hoffmann zurückgehen. Doch letzten Endes bleibt Loths Be-
kenntnis zu einem irgendwie christlich inspirierten Sozialismus
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( „Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich
glücklich sein, so müßten es erst alle anderen Menschen um
mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit
noch Armut, weder Knechtschaft noch Gemeinheit sehen“
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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[Hauptmann, zit. nach Cowen 1981. Bd. 1. S. 41]), genauso


abstrakt und bloße Parole wie die Überzeugung seines Wider-
sachers Hoffmann („… man muß – alles ruhig seinen natürli-
chen Gang gehen lassen. Was kommen soll, kommt! Praktisch,
praktisch muß man verfahren!“ [a.a.O. S. 14]). Beide müssen
zwangsläufig scheitern – scheitern am selben unterstellten Ge-
setz der Vererbung, was auf den Einfluß Zolas und der mit
Zola verbundenen Denkhaltungen ( Darwinismus, Positivis-
mus) zurückgeht. Die Lebensplanung Hoffmanns zerbricht am
Alkoholismus seiner Frau, die ein totes Kind gebiert, mag da-
bei auch der debile Zustand durch komfortablen Reichtum ein
wenig gemildert sein. Loth auf der anderen Seite wird auf ver-
mitteltere Art Opfer seiner Ideologie, in deren Mittelpunkt
nicht zuletzt der beständige Kampf gegen den Alkoholismus
rangiert, weshalb er eine Frau verlassen muß, die er als Ab-
kommen einer höchstprozentig verseuchten Familie weiß. Was
bleibt, ist Parole, ideologisches Gewäsch, moralinsaures Predi-
gertum – der strahlende Held als lächerliche Figur. Hat Hoff-
mann nicht recht, wenn er an einer Stelle Loth einen „lächerli-
che[n], gespreizte[n] Tugendmeier“ schimpft? (vgl. a.a.O. S. 62)
Dieser Loth schwadroniert über vernünftige und unvernünfti-
ge Lektüren, verurteilt Goethes „Werther“ als „dummes Buch“,
um dagegen allen Ernstes Felix Dahns „Kampf um Rom“ als
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 177

„vorbildlich“ hinzustellen, weil darin Menschen gemacht wer-


den, „nicht, wie sie sind, sondern wie sie einmal werden sol-
len.“ Zola und Ibsen wiederum sind „keine Dichter, sondern
notwendige Übel“, die „Medizin“ für Kranke verbreiten. Er,
Loth, sei aber „ehrlich durstig und verlange von der Dicht-
kunst einen klaren, erfrischenden Trunk.“ (a.a.O. S. 40) An an-
derer Stelle wieder predigt er sein Credo über die Entsagung,
die seine künftige Frau leisten müsse, damit der Mann seiner
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höchsten Bestimmung, Dienst im Auftrag der Gemeinschaft


aller Armen und Notleidenden, nachkommen könne: „Nur in-
sofern verlange ich Entsagung, oder besser, nur auf den Teil
meines Wesens, der meiner Lebensaufgabe gehört, müßte sie
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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freiwillig und mit Freuden verzichten.“ (a.a.O. S. 57) Anderer-


seits hat aber, wer das fordert, kein Sensorium für atmosphäri-
sche Stimmungen und ist so borniert, daß er seine hehren
Ideale über seine Gefühle und Liebesregungen stellt. Ein rech-
ter Gesinnungsethiker eben. Den Preis dafür zahlen andere
– die Geliebte bringt sich mit dem Hirschfänger um –, damit
der Tugendbold mit weißer Weste dastehen kann.
Hauptmanns frühes Stück bündelt die naturalistische Pro-
grammatik. Es ist ein genaues Zeit- und Gesellschaftsbild, in
dem die Figuren so agieren und sprechen, wie sie in der Reali-
tät auftreten (Dialekt). Die Topographie des Gesellschafts-
raums wird minuziös vermessen; Reichtum und Armut geben
sich ein Stelldichein, wobei auch die Outcasts, gesellschaftliche
Subkulturen, nicht fehlen dürfen. Selbst vermeintliche Rand-
probleme der Gesellschaft wie die Migration, die Gründung
einer utopischen Kolonie in den USA (die Ikarier), oder die
Folgen des Sozialistengesetzes, Haftstrafen usw., werden bei-
läufig erwähnt.
Das Stück ist aber noch weit mehr. Denn im Grunde ge-
nommen drückt es schon die naturalistische Selbstkritik aus,
insofern es im Blick auf den Helden und, wenn man so will,
positiven Charakter dessen Humanismus als abstrakte und
verstiegene Angelegenheit denunziert. Der Einsatz für die
178 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Menschlichkeit, das Engagement für den Sozialismus, das Be-


kenntnis zum Volk, dies alles scheitert bereits in den Ansätzen,
weil der Konflikt in der Nähe gar nicht gesehen wird. Hans
Kaufmann spricht sogar davon, daß Hauptmanns Helden „in
satirisch-komische Beleuchtung“ geraten.7 Nicht von der Hand
zu weisen ist auch die Einschätzung Helmut Scheuers, der, die
ganze naturalistische Bewegung vor Augen, von einem „Sozial-
romantizismus“ gesprochen hat, welcher aus der undeutlichen
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ideologischen Positionierung zwischen Marx und Nietzsche,


Klassenkampf und Übermenschentum, Massenfaszination und
Messianismus resultiert.8 Roy C. Cowen, der einen einleuch-
tenden Kommentar zur Epoche des Naturalismus vorgelegt
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hat, muß wohl zugestimmt werden, wenn er eine Vielzahl von


geistes- und ideengeschichtlichen Einflüssen aufzählt und kon-
kret nachweisen kann. Prägungen auf die Naturalisten gehen
ebenso von der Aufklärung (Prinzip der Klarheit) wie vom
Sturm und Drang und dem Jungen Deutschland (Kraftmen-
schentum, Gefühl der Modernität), von Büchner (den die Na-
turalisten allererst bekannt machen) wie von den europäischen
Realisten (Dostojewski, Tolstoi, Ibsen, Strindberg, Zola, Dik-
kens) aus. Cowen hat darüber hinaus den plausiblen Vorschlag
gemacht, den deutschen Naturalismus in verschiedene Phasen
zu unterteilen, die das jeweilige Verhältnis zum großen Stich-
wortgeber Zola anzeigen.
Zola ist bekanntlich der Erfinder des naturalistischen Er-
zählens. Nach seinem beeindruckenden Erstling, „Thérèse
Raquin“ von 1867, worin das naturalistische Glaubensbe-

7
Kaufmann, Hans, Krisen und Wandlungen der deutschen Litera-
tur von Wedekind bis Feuchtwanger, Berlin und Weimar 1966,
S. 48.
8
Scheuer, Helmut, Zwischen Sozialismus und Individualismus –
Zwischen Marx und Nietzsche, in: Ders. (Hg.), Naturalismus, Bür-
gerliche Dichtung und soziales Engagement, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1974, S. 154ff.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 179

kenntnis von der zwingenden Macht des Milieus und wohl


auch der Vererbung gestaltet wird, hat Zola in seinem zwan-
zigbändigen Romanzyklus „Les Rougon-Maquart“ (1871-93)
anhand einer weitverzweigten Familiengeschichte zugleich die
Geschichte des zweiten Kaiserreichs, also der Jahre nach der
48er Revolution, in einem gigantischen Fresko ausgemalt.
Vom Kapitalisten und Warenhausbesitzer über Intellektuelle,
Geistliche und Künstler bis zu den Grubenarbeitern hinab
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oder – wieder hinauf – bis zu den Edelnutten gelingt Zola ein


ebenso anschauliches wie auch glaubwürdiges Porträt seiner
Zeit und Zeitgenossen auf dem Land wie in der Stadt. Glaub-
würdig wohl auch deshalb, weil die Romane, einschließlich der
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Erzählungen und Novellen, über den enggesteckten theore-


tisch-poetologischen Rahmen, wie ihn Zola in seiner Pro-
grammschrift „Le roman expérimental“ von 1880 entwickelt
hat, hinausreichen. Theoretisch nämlich hatte Zola im Anschluß
an Überlegungen des Arztes Claude Bernard („Introduction à
l’étude de la médecine expérimentale“) den Experimental-
roman gefordert, eine erzählerische Mischung aus Physiologie,
Anthropologie und Soziologie. Der Romanschreiber sei ein
Beobachter und zugleich Experimentator, der, vom Einfluß
der Vererbung überzeugt, „die menschliche Maschine Stück
um Stück zerlege und wieder aufbaue, um sie unter dem Ein-
fluß der Lebensweise funktionieren zu lassen.“ 9 Damit trage
der Schriftsteller ebenfalls zum großen Werk der Geschichts-
entwicklung bei, die Zola so definiert: „wir arbeiten mit dem
ganzen Jahrhundert an dem grossen Werke der Eroberung der
Natur, der Verzehnfachung der menschlichen Macht.“ 10 Mag
er auch von diesen eher schlichten Ansichten tief überzeugt
gewesen sein, sein erzählerisches Werk ist nichtsdestotrotz un-

9
Zola, Emile, Der Experimentalroman, Eine Studie, Leipzig 1904,
S. 31.
10
A.a.O. S. 37.
180 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

gleich besser, nämlich ästhetisch-poetologisch raffinierter ge-


baut als die theoretische Fundierung.
Gleichwohl haben diese Ansichten breit gewirkt, bestim-
men sie maßgeblich nach einer ersten, die Zolaschen Romane
aus moralischen Gründen diskreditierenden Rezeptionsphase
(1875-1880) die zweite Rezeptionswelle (in den 80er Jahren),
wo Zola zum bedeutendsten europäischen Schriftsteller auf-
rückt. Insbesondere die beiden Romane „Germinal“ und
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„L’assomoir“ (Der Totschläger) beeinflussen gewaltig die deut-


schen Adepten, die sich in München um die eben gegründete
Zeitschrift „Gesellschaft“ scharen und zu denen u.a. Michael
Georg Conrad, die beiden Brüder Heinrich und Julius Hart
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und Karl Bleibtreu zählen. Ein enthusiastisches Loblied stimmt


Conrad in seinem 1885 publizierten Essay „Zola und Daudet“
an, wenn er Zola wegen seiner „[t]reuen Wiedergabe des Le-
bens unter strengem Ausschluß des romantischen, die Wahr-
scheinlichkeit der Erscheinung beeinträchtigenden Elementes“
rühmt und dann fortfährt: „keine ‚Helden‘ mehr von Ueber-
lebensgröße, keine phantastischen Puppen in Riesenformat,
sondern wirkliche Menschen […]; die Schönheit des Werkes
besteht nicht in der idealisierenden Vergrößerung im Rechten
wie im Schlechten, sondern in der Harmonie und Wahrheit des
Ganzen wie der Teile, in der höchstmöglichen Genauigkeit des
‚menschlichen Dokuments‘, […].“ 11 Die Wahrheit des Abbilds
gemessen am Vorbild der Realität ist das entscheidende Wer-
tungs- und zugleich Wirkkriterium der Zolaschen Erzählung.
Auch ein zweiter naturalistischer Kreis, der in Berlin ange-
siedelt war und in dem sich in dem 1886 gegründeten Verein
„Durch“ bis Mitte des Jahres 1887 u.a. Arno Holz, Johannes
Schlaf, Wilhelm Bölsche und Gerhart Hauptmann mehr oder
minder regelmäßig trafen, unterstreicht die Bedeutung Zolas,

11
Zit. nach Brauneck, Manfred und Müller, Christine ( Hg.), Natura-
lismus, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-
1900, Stuttgart 1987, S. 663f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 181

wenn auch Ibsen als Dramatiker und Tolstoi als Erzähler


gleichberechtigt zur Seite stehen. In Arno Holz’ „Buch der
Zeit“ liest sich das in dem Text „Zwischen Alt und Neu“ fol-
gendermaßen: „Zola, Ibsen, Leo Tolstoi,/ eine Welt liegt in
den Worten,/ eine, die noch nicht verfault,/ eine, die noch
kerngesund ist!// Klammert euch, ihr lieben Leutchen,/ klam-
mert euch nur an die Schürze/ einer längst verlotterten,/ abge-
takelten Ästhetik:/ unsre Welt ist nicht mehr klassisch,/ unsre
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Welt ist nicht romantisch,/ unsre Welt ist nur modern!“ 12


Holz, der hierin sein Credo ablegt, ist es auch, der als Pro-
grammatiker des deutschen Naturalismus vielleicht am stärk-
sten gewirkt hat, dessen Kunstgesetz jedenfalls – schon ob sei-
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ner Kürze und Plakativität – zu den häufigst zitierten Theorien


über die Kunst zählt. Vor Holz hatten bereits die Brüder Hart
in ihren „Kritischen Waffengängen“ (1882), Karl Bleibtreu in
seiner Schrift „Revolution der Literatur“ (1886) oder auch Wil-
helm Bölsche mit seinen „naturwissenschaftlichen Grundlagen
der Poesie“ (1887) dem Naturalismus den Boden in Deutsch-
land bereitet und ein Plädoyer für die Verbindung des Physi-
schen mit dem Psychischen gehalten, wie es Bölsche formu-
liert hat. 1890 dann legt Holz seine Textsammlung „Die
Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze“ vor, worin er von der
„Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“ spricht und von der
Grundüberzeugung ausgeht, daß die Soziologie (im Anschluß
an die exakten Naturwissenschaften) die zentrale, einzige Wis-
senschaft zur Erfassung der menschlichen Gesellschaft ist. Na-
hezu modern mutet die Feststellung von Holz an, daß die Ge-
sellschaft ein umfassendes und komplexes System darstellt,
wovon die Kunst „ein jedesmaliger Teilzustand“ ist. Aufgabe
sei es, aus dem Wissen um und über die Kunst „eine Wissen-
schaft von der Kunst“ zu machen. Schließlich formuliert er
sein aus der Betrachtung einer unzureichenden kindlichen
12
Holz, Arno, Buch der Zeit, in: Das Werk von Arno Holz, Erste
Ausgabe, Erster Band, Berlin 1924, S. 351.
182 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Zeichnung auf einer Kreidetafel gewonnenes Kunstgesetz, das


allen Artefakten, zwischen denen „kein Art- , sondern nur ein
Gradunterschied“ bestehe, zugrundeliegt: das Kunstwerk sei,
schlußfolgert Holz in Anwendung einer Zolaschen Formel
(„Une oeuvre d’art est un coin de la nature vu à travers un
tempérament“), ein Stück Natur minus X. Und weiter: „Gera-
de um dieses X handelt es sich ja! Aus welchen Elementen es
zusammengesetzt ist.“ Nämlich um die beiden Elemente der
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„Reproduktionsbedingungen der Kunst“, ihr Material bzw. die


Technik, und der „Handhabung“, also der Fertigkeit. So lautet
dann endlich das Kunstgesetz: „Die Kunst hat die Tendenz,
wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer je-
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weiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung“.13


Es dreht sich also nach Holz bei der Kunst einzig darum, die
Natur mimetisch nachzuahmen, und zwar auf dem Stand bzw.
gemäß der je aktuellen Technik, was selbstverständlich jegli-
chen Klassizismus und jegliche Normierung durch Traditionen
per definitionem ausschließt.
Mit Holz’ Schriften zur Kunst, schreibt Cowen, „erreichen
wir den Höhepunkt und das Ende der naturalistischen Ästhe-
tik in Deutschland, zumal Holz bis zu seinem Tode seinen
Entdeckungen treu bleibt trotz der neuen Entwicklungen.“ 14
Praktisch umgesetzt hat Holz seine Ansichten vor allem in
Dramen, insbesondere in dem gemeinsam mit seinem Freund
Johannes Schlaf verfaßten „Die Familie Selicke“ von 1890
( Druck und Erstaufführung), einem Stück, das in Konkurrenz
zu Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ entstand, wie in Ge-
dichtsammlungen, hier vor allem in der Phantasus-Dichtung.
In Dramatik wie Lyrik möchte Holz zur „Sprache des Le-
bens“ 15 wieder zurückkehren, möchte er die Dinge wieder rein

13
Zit. nach Brauneck/Müller a.a.O. S. 140-151.
14
Cowen, Roy C., Der Naturalismus, Kommentar zu einer Epoche,
München 1981, S. 90.
15
Holz a.a.O. [ Anm. 12] Bd. 10, S. 214.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 183

sagen bzw. benennen, ohne auf Nebenbedeutungen – Meta-


phorik – zu kommen.16 Dabei sind die Gegenstände und An-
lässe, die Holz inspirieren, überaus vertraut, stammen sie doch
aus dem vergleichsweise engen Fundus naturalistischer The-
men: Großstadt und Armut, Außenseitertum des Künstlers
wie der Prostituierten, Gewalt und Kriminalität. Leitmotivisch
klingen diese in der Phantasus-Dichtung immer wieder an:
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Ihr Dach stieß fast bis an die Sterne,


vom Hof her stampfte die Fabrik,
es war die richtge Mietskaserne
mit Flur- und Leiermannsmusik!
Im Keller nistete die Ratte,
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parterre gab’s Branntwein, Grog und Bier,


und bis ins fünfte Stockwerk hatte
das Vorstadtelend sein Quartier.
Dort saß er nachts vor seinem Lichte
– duck nieder, nieder, wilder Hohn! –
und fieberte und schrieb Gedichte,
ein Träumer, ein verlorner Sohn!
Sein Stübchen konnte grade fassen
ein Tischchen und ein schmales Bett;
er war so arm und so verlassen,
wie jener Gott aus Nazareth!17
Der Dichter kennt die Armut aus eigener Erfahrung, er erlebt
sie tagtäglich am eigenen Leibe. Deshalb kann er ein besonde-
res Lied davon singen. Und ein innerer Zwang treibt ihn näch-
tens an, lyrisch Bekenntnis abzulegen. Er ist ein „Träumer, ein
verlorner Sohn“, aber auch – und nicht nur wegen seiner Ar-
mut, sondern aufgrund seines Schöpfertums – wie „jener Gott
aus Nazareth“. Seine Aufgabe ist das Benennen, das Kennt-
lichmachen und Zur-Sprache-Bringen, ist die Aufklärung – das

16
Vgl. a.a.O. S. 501.
17
Holz a.a.O. Bd. 1, S. 74.
184 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Predigen in der Wüste der Großstadt. Sein Werk ist die Pro-
duktion einer neuen Kunst, die das soziale Elend rein aussagt:
Was soll uns Shakespeare, Kant und Luther?
Dem Elend dünkt ein Stückchen Butter
erhabner als der ganze Faust!18
Werfen wir abschließend noch einen Blick auf die Prosa. Man
hat die eigentümliche Leistung des Naturalismus zu Recht in
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der Dramatik gesehen, und übrig geblieben – das bestärkt eine


solche Ansicht –, d.h. gelesen (nicht zuletzt in der Schule!) und
gespielt auf den Bühnen werden weiterhin naturalistische Klas-
siker wie Hauptmanns „Weber“, „Der Biberpelz“ und „Die
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Ratten“, seltener, aber immer noch Halbes „Jugend“ oder Pa-


nizzas „Liebeskonzil“. Von der Lyrik dagegen ist mit Ausnah-
me von Holz’ Phantasus kaum etwas im Gedächtnis geblieben.
Und von den zahllosen naturalistischen Romanen kennt man
bestenfalls noch die Namen ihrer Verfasser und etliche Titel,
u.a. Hauptmanns „Bahnwärter Thiel“ oder Max Kretzers
„Meister Timpe“.
Ich möchte hier noch einige Anmerkungen eben zu Max
Kretzer, dem „deutschen Zola“, wie er von den Zeitgenossen
bezeichnet worden ist, geben. Kretzer war nicht nur der flei-
ßigste Prosaautor des Naturalismus (35 Romane), der insbe-
sondere das Feld der Großstadt immer wieder thematisiert hat,
sondern auch einer, an dem sich die Widersprüchlichkeit der
naturalistischen Bewegung schon in ihren ersten Anfängen ab-
lesen läßt – in den Anfängen, d.h. bereits 1883, dem Jahr, in
dem Kretzers Berliner Hinterhofroman „Die Verkommenen“,
im Untertitel als „Berliner Sitten-Roman“ ausgewiesen, er-
scheint. (Die vierte Auflage mit einem Vorwort ist 1908 her-
ausgekommen.)
Karl Bleibtreu sieht in diesem Roman die „Revolution der
Literatur“ sich ankündigen und hält Max Kretzer für den

18
Holz a.a.O. Bd. 1, S. 83.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 185

„Schöpfer des deutschen Realismus“ und einen ebenbürtigen


„Jünger Zola’s“.19 Tatsächlich breitet Kretzer auch den neuen
Lebensraum Großstadt mit seinen vielfachen sozialen Proble-
men vor seinen Lesern aus. Er gestaltet den unüberbrückbaren
Gegensatz zwischen Armut und Reichtum, zwischen Müßig-
gang und alkoholgetrübtem Dämmern, zwischen dem Villen-
und Passagenviertel des Bürgertums auf der einen und den
Elendsquartieren und Pfandleihhäusern der Proleten auf der
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anderen Seite. Sicherlich kann man ihm die genaue Detail-


kenntnis des geschilderten Milieus nicht absprechen. Darin ist
er der gelehrige Schüler Zolas. Ob Kretzer aber auch ein Recht
auf die wenige Jahre später vom Philosophen Wilhelm Dilthey
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ins Spiel gebrachte Anwartschaft darauf hat, zum „gelesensten


Schriftsteller unseres Volkes“ zu werden, mag bezweifelt wer-
den. Zwar hat er sich an die von Dilthey gestellte Aufgabe der
Kunst gemacht, „die großen Zentren des Lebens in ihrem We-
sen wie ihrer Bedeutsamkeit aufzufassen“ 20, doch bleibt als
entscheidendes Manko von Kretzers Darstellung die Statik der
Verhältnisse, das perennierende Elend der Zustände. Dabei
will ich Kretzer nicht mit Bleibtreu seinen „grauenhaften Pes-
simismus“ 21 vorhalten. Im Gegenteil sehe ich darin sogar eher
noch die Stärke des Buches, das sich in einem „wildgenialen
Schluss“ 22 entlädt. Dieses Ende, das eine Entsprechung in Zo-
las drei Jahre später erschienenem Roman „Das Werk“ findet,
übertrifft das bekannte und auch bedeutendere Nachbild den-
noch in seiner Kraßheit und seinem brutalen Verismus. Wo
Zola seinem Künstler Claude ein „Meisterwerk“ in der Porträ-
tierung seines toten Kindes und zugleich ein Dokument „un-

19
Zit. nach Brauneck/Müller a.a.O. S. 45.
20
Dilthey, Wilhelm, Gesammelte Schriften, Bde. V u. VI, Die geisti-
ge Welt, Leipzig und Berlin 1924, Bd. VI, S. 240.
21
Zit. nach Brauneck/Müller a.a.O. S. 45.
22
A.a.O. S. 46.
186 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

endlicher Traurigkeit“ vollbringen läßt23, da läßt Kretzer seinen


proletarischen Künstler Franz Merk in der Berliner Morgue
„mit Sorgfalt und Liebe“ das Konterfei der Wasserleichen sei-
ner Schwester und ihres Liebhabers abzeichnen.24 (Im übrigen
geht auch diese Vorliebe für die Morgue auf Zolas Erstling zu-
rück.) Doch paßt dieser Schluß mit seiner vermeintlichen Äs-
thetisierung des Schreckens und des Todes nicht zur Gesamt-
anlage des Romans und wirkt vielmehr kolportagehaft, einzig
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auf die Sensationsgier und den frivolen Kitzel der Leserschaft


abzielend. Kretzers Beschränktheit zeigt sich vor allem darin,
daß er seine oft noch so gelungenen nüchternen Darstellungen
von proletarischem Elend durch platteste ethische Reflexionen
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und Erzählerkommentare unterbricht, die dem soeben Ge-


schilderten geradezu hohnsprechen. Zwar sucht er das Schick-
sal der Familie des Eisendrehers Merk aus den „Nachwehen
der goldenen Zeit des Gründens und des Schwindels“ 25 zu
entwickeln, läßt seine Protagonisten in der Kneipe, ihrer „Burg
des Proletariats“ 26, über die soziale Frage räsonnieren und da-
bei kräftig auf die Bourgeoisie schimpfen, um einmütig für die
Sozialdemokratie einzustehen, doch erscheint dies alles bloß
als unverbindliches Gerede. Kretzer kennt keine Kämpfer, erst
recht nicht für die Interessen ihrer Klasse, sondern nur gute
Gatten und sorgende Väter, betende und aufopferungsvoll lie-
bende Mütter. Wer von diesem kleinbürgerlichen Pfad der
Tugend abweicht, ist lasterhaft, unsittlich und böse. Kretzers
Ideal ist die „sich selbst genügende Zufriedenheit“, „die den
Menschen selbst in den beschränktesten Verhältnissen empor-
hebt über die Alltäglichkeit, ihn in der Bescheidenheit veredelt

23
Vgl. Zola, Emile, Das Werk, (Hg.) Rita Schober, Berlin o.J. S. 431.
24
Kretzer, Max, Die Verkommenen, Berliner Sitten-Roman, Leipzig
o.J., S. 440.
25
Kretzer a.a.O. S. 2.
26
A.a.O. S. 47.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 187

und durch neidloses Entsagen sittlich stärkt.“ 27 Vollends pein-


lich sind Passagen, die Kretzer aus obsoleten Trost- und Er-
bauungsbüchern abgeschrieben zu haben scheint: „Die Scham
ist jedenfalls das keuscheste und reinste Gewand eines Men-
schen; sie gleicht der echten Perle, deren Wert ewig derselbe
bleiben wird, welch schmutzige Hände sie auch betasten mö-
gen. Selbst unter lumpenhafter Hülle wird sie etwas von dem
Abglanz überirdischen Schimmers verbreiten, der die gemein-
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ste Lästerzunge verstummen macht, sei es auch nur aus Über-


raschung vor dem nicht Erwarteten.“ 28 Das ist – wohlgemerkt –
nicht ironisch gemeint. Die Familie und vor allem die Mütter
sind immer Ort und Hort der Sittlichkeit, einer Sittlichkeit, in
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die die Proleten sich zurückziehen können. Die wirklich Ver-


antwortlichen für das soziale Elend werden nicht einmal beim
Namen genannt, geschweige denn zur Rechenschaft gezogen.
So tendiert die Romankonstruktion Kretzers zum ideologischen
Spießertum und zur moralinsauren Empfindsamkeitsschrulle.
Hinzu kommen landläufige Vorurteile, die kräftig affirmiert
werden. Der Judenjunge Leonhard Sirach z.B., natürlich aus
sozialistischem Elternhause, macht als Musiker Karriere nicht
zuletzt durch eine heimlich-unheimlich im Hintergrund wir-
kende Cliquenwirtschaft, während der aufrechte Deutsche
Oskar Schwarz, der von „deutsche[r] ehrliche[r] und saure[r]
Arbeit“ 29 faselt, als angehender Literat scheitert und sich am
Ende umbringen muß.
Mangels fester Orientierung und eines weltanschaulichen
Fundaments schlägt das Ansinnen, der Wirklichkeit den unge-
schminkten Spiegel vorzuhalten und ihr die häßliche Wahrheit
ins Gesicht zu sagen, ins direkte Gegenteil um. Die Momente
Häßlichkeit und Wahrheit werden zu einem selbstgenügsamen
ästhetischen Spiel, wovon die gesellschaftliche Realität letzten

27
A.a.O. S. 237.
28
A.a.O. S. 194.
29
A.a.O. S. 324.
188 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Endes völlig unbetroffen bleibt. Die vermeintlichen Tabuver-


letzungen und ästhetischen Grenzüberschreitungen genießt ein
bürgerlich-kleinbürgerliches Publikum als angenehmen Sinnen-
kitzel, bei dem die klammheimliche Lust am Anrüchigen, an
stinkenden Hinterhöfen und abenteuerlich-fremden Mietska-
sernen in Berlin, auf schauerromantische Weise auf ihre Ko-
sten kommt. Kretzers Methode, die Opfer für die eigentlich
Schuldigen zu erklären und das Judentum als parasitären Nutz-
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nießer selbstverschuldeter fremder Armut zu denunzieren, ver-


trägt sich vollends mit der herrschenden Ideologie.
Kretzer ist der Typ des Gesellschaftsschriftstellers, der die
neue naturalistische Methode – die Enttabuisierung gesell-
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schaftlicher Indezenzen – geschickt auszunutzen versteht, um


mit gehörigem Gewinn sein Werk auf dem literarischen Markt
zu plazieren. „Die Verkommenen“ sind ein Reißer, versehen
mit allen Mängeln der Kolportage (mangelnde Logik und Mo-
tivierung, Widersprüche in der Charakterisierung der Figuren
u.a.m.), der durch die „niedrigsten Höhlen des Lasters“ führt,
„Buhldirnen“ und ihre „aristokratischen Freunde“ zeigt, Ver-
brechen schildert und „eine äußerst charakteristische Zeich-
nung menschlicher Schwächen und Wandlungen“ 30 liefert –
dies alles, um den Leser in ständiger (An-)Spannung zu halten:
man muß nur den „richtigen Volkston zu treffen“ 31 versuchen!
Vor dem Hintergrund des realen Elends breiter Bevölkerungs-
schichten in der beginnenden Millionenstadt Berlin gestaltet
Kretzer die epische Totalität einer in Dreck und Elend erstar-
renden Hinterhofwelt. Doch alles taucht er in einen letztlich
zu nichts verpflichtenden schönen Schein der Häßlichkeit, die
folglich auch keinen Erkenntnis-, sondern bloß einen kurzen
Unterhaltungswert in sich trägt.
Theodor Fontane war es, der 1886 in einer (freilich unge-
druckten) Notiz vor Unterhaltungsschriftstellern vom Schlage
30
A.a.O. S. 249.
31
A.a.O. S. 260.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 189

Kretzers eindringlich warnte und in bezug auf Kretzer gar von


einem „furchtbaren Menschen“ sprach, „der angestellt scheint,
um Flaubert, Zola und den echten Realismus zu diskreditie-
ren.“ Der umsichtige Fontane hatte schnell erkannt, daß Kret-
zer sein „äußerliches Schilderungstalent“ einzig zur Versilbe-
rung seiner Einkünfte nutzte.32
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2.

Die Situation nach 1900 ist also gekennzeichnet durch einen


Pluralismus von Stilen, durch eine Gemengelage, die unter den
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unterschiedlichsten Bezeichnungen kursiert und auf dasjenige


verweist, was Georg Simmel die Differenzierung im Nebenein-
ander genannt hat: Impressionismus und Neuromantik, Sym-
bolismus und Jugendstil, Décadence, Fin de Siècle, schließlich
noch eine eigentümliche Wiener Moderne um Bahr, Hof-
mannsthal und Schnitzler, nicht zu vergessen ein Stichwort wie
Nihilismus, worin sich die grundsätzliche Skepsis gegenüber
der modernen, bürgerlich-kapitalistischen Welt- und Gesell-
schaftsordnung artikuliert.33 Im Zeichen Nietzsches, Freuds
und Ernst Machs, die zu einer erdrutschartigen Geisteskrise
beigetragen haben, weil sie dem Relativismus und der Willkür
das Wort reden, ja von der ‚Unrettbarkeit des Ich‘ sprechen,
wie Mach, und die Unmöglichkeit aller Wertbegründungen
nachweisen, wird die Saturiertheit des Bürgertums gegeißelt.
Den materiellen Erfolgen dieser Welt – gigantische Erhöhun-
gen in der Kohleförderung, bei der Roheisenproduktion und
der Stahlerzeugung, Erfolge auf dem Gebiet der chemischen
und elektrotechnischen Industrie, sprunghaftes Wachstum der

32
Fontane, Theodor, SW, Bd. 21/2. S. 269f.; ähnlich auch Tagebü-
cher Bd. 2, S. 233.
33
Vgl. dazu Hillebrand, Bruno, Ästhetik des Nihilismus, Von der
Romantik zum Modernismus, Stuttgart 1991.
190 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Großstädte seit 1871 – steht jedoch eine geistige Leere, die


Obdachlosigkeit und Unbehaustheit gegenüber. Alle literari-
schen und künstlerischen Bewegungen, wie immer die Ismen
im Einzelfall auch lauten mögen, reagieren auf diese krisenhaf-
te Situation und versuchen Antworten zu formulieren: die Pa-
lette reicht von der Stilisierung künstlerischer Gegenwelten
und Antiwelten bei gleichzeitiger Inthronisation des absoluten
Künstlertums ( Stefan George) über die impressionistische Se-
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zierung und Entlarvung bürgerlich-kleinbürgerlicher Innen-


wie Außenwelten (bei Arthur Schnitzler) bis zur Proklamation
einer neuen Welt, der Revolution im Zeichen eines neuen Gei-
stes, einer neuen Jugend ( im Expressionismus).
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Stefan George ist der Heros der Einsamkeit, sein Werk ver-
leiht der Erfahrung sozialer Entwurzeltheit die Stimme. In der
Nachfolge der französischen Moderne von Baudelaire („Fleurs
du mal“), Rimbaud und Verlaine bis zu Mallarmé, die er auch
übersetzt hat, schreibt sich die hermetische, oft hochgetriebe-
ne und dabei in den Manierismus abgleitende Lyrik Georges in
künstliche Welten und gegenweltliche Paradiese hinein – frei-
lich in keine des schönen Scheins, der einem häßlicheren Sein
kontrastiert würde, sondern in eine der Grausamkeit und Ge-
walt, die im Tod endet. Die „Algabal“-Dichtung von 1892
schlägt den Ton an und gibt die Richtung vor. George erkennt
im dekadenten spätrömischen Kaiser Heliogabalus einen Gei-
stesverwandten, dessen abscheuliche Taten er zu ästhetischen
Maßnahmen deklariert, ja die ausdrücklich gerechtfertigt wer-
den, wie z.B. der Tod jenes lydischen Knechts, der die Ruhe
seines Kaisers stört und deshalb sterben muß. Zugleich möch-
te George, analog zum vermessenen Wunsch des Kaisers,
ebenfalls ein neues Reich absoluter Künstlichkeit schaffen. Ra-
dikaler als Baudelaires künstliche Paradiese, als geträumte
Nachtschatten und Gegenbilder zur großstädtischen Metropo-
le, inszeniert George eine Welt post mortem, eine totenstarre
Landschaft, wie sie etwa im berühmten Gartengedicht des Zy-
klus beschrieben wird. In diesem Garten nämlich gibt es weder
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 191

Luft noch Wärme, keine Tages- und Jahreszeiten, sondern nur


Kohle und Lava, also Bilder für den Tod. Und zeugen, so der
Dichter, möchte er in diesem selbstgeschaffenen Heiligtum die
„dunkle grosse schwarze blume“ – also ein Zeugen des Todes
und des Toten, worin man nicht zuletzt auch eine Travestie je-
ner romantischen Sehnsucht nach der ‚blauen Blume‘ erken-
nen muß.34
Was hier in Georges Frühwerk grundgelegt worden ist, zieht
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sich durchs gesamte spätere Werk hindurch, mit Modifikatio-


nen freilich, wovon der Kult um die eigene Person, um die wie
Satelliten einige wenige Auserwählte, die Jünger, gelegentlich
kreisen dürfen, die erheblichste sein dürfte. Der Dichter ist Se-
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her und Künder, ein Weiser, der die frohe Botschaft an seine
Jünger wie Manna austeilt, der die Wissenschaft und Gesell-
schaft verachtet, um mit Nietzsche dem Kult des Übermen-
schen zu huldigen.
Überhaupt ist Nietzsche für George, wie es in der Samm-
lung „Der siebente Ring“ (1907) in dem Nietzsche-Gedicht
heißt, der Donnerer und Erlöser, ähnelt er Jesus („führer mit
der blutigen krone“), der allerdings das verkündete Land selbst
nie zu Gesicht bekam. Denn ‚Einsamkeit‘ hätte ihn umge-
bracht. Eine Lösung läge einzig im Kult der Gemeinsamkeit,
einer Gemeinschaft von lauter Einsamen: „sich bannen in den
kreis den liebe schliesst…“ Am Ende, so raunt George seinem
Nietzsche zu, hätte diese einsame Seele, der Erkenntnis von
Sokrates in der Zelle nachfolgend, „singen/Nicht reden sol-
len“.35 Der Dichter ersetzt also den Philosophen, das Bild und
die Metapher den Diskurs bzw. die rationale Erklärung. Poesie
statt Philosophie und – ineins damit – Wissenschaft. Die
Wahrheit steckt in der Dichtung. Und einzig hier.

34
Vgl. George, Stefan, Werke, Ausgabe in zwei Bänden, München
und Düsseldorf 1958, Bd. 1, S. 47.
35
George a.a.O. S. 231f.
192 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Der Kreis um George wie auch das Publikum sind eher ex-
quisit, die happy few, auch wenn sie weniger happy sind, die
– paradoxerweise – Einsamkeit und Führertum zugleich kulti-
vieren. Eine größere Wirkung, gar eine Massenwirkung ließ
sich mit Georges Hermetik nicht erreichen. Die war schon
eher im Falle Arthur Schnitzlers (‚Arthur, der Zerschnitzler‘)
gegeben, partiell auch Hugo von Hofmannsthals. Das hatte
vor allem mit dem Skandal und den Prozessen um Schnitzlers
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frühes Stück „Reigen“ zu tun, was andererseits jedoch nach-


haltig darauf hinweist, daß Schnitzler tatsächlich mit seinem
Stück – ja insgesamt mit seinen Dramen – den Nerv der Zeit
getroffen hat. Der immer wieder gegen Schnitzlers Stück erho-
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bene Vorwurf des Pornographischen, des Spiels der Verfüh-


rung, wird von einem tiefsitzenden Affekt begleitet, der Angst
vor der Perspektivlosigkeit bzw. der Versöhnungslosigkeit.
Denn Schnitzlers Welt ist eine des doppelten Bodens und der
doppelten Buchführung, nämlich der perfiden bürgerlichen
Doppelmoral. Auf nichts und niemanden ist genau Verlaß, die
Moral im dumpfen Triebbegehren restlos auf den Hund ge-
kommen. Alle machen sich etwas vor, spielen sich Gesell-
schaftsspiele vor, tatsächlich aber regiert sexuelles Verlangen in
alle menschlichen Angelegenheiten hinein. Kommunikation
dient nicht zum Austausch, sondern einzig um das Begehren
anzubahnen. Die vermeintlichen bürgerlichen Werte sind auf
die schiefe Ebene gerutscht und taumeln nun haltlos am Ab-
grund des Bodenlosen. Eine ähnliche Dramaturgie hatten vor
Schnitzler in Ansätzen schon Ibsen, insbesondere aber Strind-
berg („Fräulein Julie“) entwickelt. Schnitzler radikalisiert deren
Ansätze in gewisser Weise dadurch, daß er das dramatische
Spiel komödiantisch zuspitzt oder zu einer lockeren Szenenfol-
ge von Farcen („Anatol“) ausstaffiert. Dort, wo er dagegen die
Tradition des bürgerlichen Trauerspiels beerbt, in „Liebelei“,
ist der Eindruck sehr viel weniger stark.
Was verschiedene Theoretiker der frühen Moderne, was
Philosophen, Soziologen oder Psychologen über das Wesen
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 193

der Moderne und das Unwesen moderner Menschen herausge-


funden haben, erlebt in Schnitzlers Werken seine künstlerische
Verdichtung – wobei das Schnitzlersche Œuvre hier gleichsam
pars pro toto steht für eine ganze Reihe von Autoren der
„Wiener Moderne“, mögen sie nun Hofmannsthal, Bahr, Sal-
ten oder Beer-Hofmann, ja sogar Peter Altenberg oder – ein
wenig anders gelagert – Karl Kraus heißen. Seit Baudelaires
Definition von Modernität als flüchtiger, vorübergehender und
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zufälliger Angelegenheit reißen jene Denkbemühungen nicht


mehr ab, die die objektive und subjektive Kultur in der moder-
nen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft beschreiben. Der
Rationalität nicht nur in den exakten Wissenschaften, sondern
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auch im Wirtschaftsleben steht eine massive Orientierungslo-


sigkeit des einzelnen gegenüber. Nietzsche hat bereits früh
über die Psychopathologie des Alltagsmenschen geschrieben,
die Simmel, an Nietzsche geschult, in den Begriffen der Hek-
tik, Nervosität und Neurasthenie – wir haben schon darauf
hingewiesen – festgehalten hat. Ernst Mach hat dieser Ge-
fühlsdisposition, diesem Kontingenzschock, die philosophi-
schen Weihen erteilt, wenn er, was dann zum geflügelten Wort
in Wiener Caféhäusern aufsteigen wird, über die Unrettbarkeit
des Ich schreibt: „Das Ich ist so wenig absolut beständig als
die Körper.“ Es löse ich vielmehr in Stimmungen und Gefüh-
len auf. Beständig sei allein die Kontinuität im Wandel. In Her-
mann Bahrs populärerer Version: das Ich „ist nur ein Name.
Es ist nur eine Illusion. Es ist ein Behelf, den wir praktisch
brauchen, um unsere Vorstellungen zu ordnen. Es gibt nichts
als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räu-
men, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen,
Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Verände-
rung.“ 36 Schließlich entdeckt Freud die geheimnisvollen Kräfte

36
Zit. nach Wunberg, Gotthart ( Hg.), Die Wiener Moderne, Litera-
tur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1992,
S. 147, auch S. 138.
194 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

des Unterbewußten, die Kavernen der Seele, analysiert Träume


als verschobene Wunscherfüllungen und diagnostiziert Risse
und Brüche im Gehäuse eines Ich, dessen Kern im Grunde
nur aus lauter Schalen besteht.
Schnitzler schreibt dazu sein Werk, Stücke, Erzählungen,
Novellen und Romane.37 Obwohl im Wien der Jahrhundert-
wende angesiedelt, beschreiben seine Texte eigentlich die ge-
samte moderne Seelenlandschaft. Seine Protagonisten, Ange-
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hörige sämtlicher Schichten der Gesellschaft, unterscheiden


sich nur unwesentlich voneinander; sie leben in und für den
flüchtigen Augenblick, im Bewußtsein der Vergänglichkeit und
der Folgenlosigkeit alles Tuns. Deshalb ist die Erfüllung im
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Augenblick – und das ist wieder und wieder natürlich die sexu-
elle – höchstes Ziel männlicher wie weiblicher Vorstellungen,
mögen dabei auch die Motive durchaus unterschiedliche sein.
Deutlich ist das vor allem in den Stücken „Anatol“, „Reigen“
oder „Liebelei“. Diese Menschen inszenieren sich für den Au-
genblick; alles Reden, die Dialoge, dienen der Vorbereitung
und Kontaktanbahnung. Es ist bloßes Geschwätz, ein Rau-
schen, von dem nichts zurückbleibt. Der Augenblick als Ziel-
punkt offenbart aber noch andere Aspekte. Er unterbricht
nämlich die gewöhnliche Zeitordnung aus Linearität und Zy-
klik, denn plötzlich bricht etwas auf oder aus im Menschen.
Eine bestimmte Situation oder eine kleine Irritation in der
Wahrnehmung, eine verschobene Perspektive, die einen ande-
ren Blick auf die Dinge freigibt – und plötzlich ist die Welt
nicht mehr so wie zuvor.
Schnitzler hat die Erfahrung des gefährlichen Augenblicks,
der eine Adaption Freud- und Machschen Denkens ist, in er-
zählerische Muster umgesetzt. In der „Traumnovelle“ (1925)
z.B. schildert er die Erlebnisse des Arztes Fridolin, der bislang
in geordneten bürgerlichen Ehebahnen wandelte und der in ei-
37
Vgl. dazu allgemein Weinzierl, Ulrich, Arthur Schnitzler, Lieben
Träumen Sterben, Frankfurt/M. 1994.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 195

ner einzigen Nacht voll der sonderbarsten Begebenheiten seine


eigensten Abgründe, jene „geheimen Bezirke“, über die er ein-
gangs mit seiner Frau redet, kennenlernen muß. Er gerät dabei
nicht nur an die Peripherie der Gesellschaft, sondern zugleich
auch seiner eigenen Existenz, die er momentweise durchaus
aufzugeben bereit ist. Nacheinander erlebt er die Flüchtigkeit
aller Gefühlsregungen, lernt sexuelles Begehren kennen, er-
fährt weibliche Untreue, und es dämmert die Erkenntnis von
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der Undurchschaubarkeit ebenso des Anderen wie letztlich


auch des eigenen Ich. In die geheimsten, innersten Winkel ge-
langt man nie (oder doch nur ganz selten), auf jeden Fall nicht
durchs Denken, dorthin nämlich, wo die Abgründe verborgen
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liegen, „die hinter dem Bewußtsein sich auftun“, „wo kein Ge-
wissen, Verantwortung wohnt und herrscht.“ 38 Irritiert bleibt
auch der Leser zurück, findet letzten Endes keine beruhigende
Erklärung für den seltsamen Dialog, den das Ehepaar nach
langen Gesprächen im Morgengrauen so beendet: „‚Was sollen
wir tun, Albertine?‘ – Sie lächelte, und nach kurzem Zögern er-
widerte sie: ‚Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, daß wir
aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den
wirklichen und aus den geträumten.‘ – ‚Weißt du das auch ganz
gewiß?‘ fragte er. – ‚So gewiß, als ich ahne, daß die Wirklichkeit
einer Nacht, ja daß nicht einmal die eines ganzen Menschenle-
bens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.‘ – ‚Und
kein Traum‘, seufzte er leise, ‚ist völlig Traum.‘“ 39
Wahrheit und Wirklichkeit sind auseinandergetreten, die Rea-
lität und der Traum dagegen wieder zusammen. Aber wo liegt
die Wahrheit? Kann man sie überhaupt noch fassen? – Unter
dem Parlando-Ton der Schnitzlerschen Texte, einem lockeren
Geplauder, liegen erschreckende Untiefen, radikale Destruktio-
nen abendländischer Geläufigkeiten. Schnitzlers Philosophie

38
H. Bahr zit. nach Wunberg a.a.O. S. 173.
39
Schnitzler, Arthur, Das erzählerische Werk, 7 Bde., Frankfurt/M.
1979, Bd. 6, S. 128.
196 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

im Boudoir, aus dem Chambre séparée oder auch dem behagli-


chen Salon widerlegt alle Grundüberzeugungen bürgerlicher
Identitätsbildung. Das Ich ist ein Fliegengewicht, die Moral
Gesprächsstoff für den Biertisch, die Werte liegen im Dreck.
Man müsse nun, heißt es einmal beim Zeitgenossen Georg
Lukács, aus Eigenem Eigenes bauen. Und Ziel dieser Denkbe-
mühungen, hier trifft Schnitzler auf einen Misanthropen wie
Arthur Schopenhauer, der Gültiges über den modernen Men-
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schen seit dem 19. Jahrhundert in seiner „Metaphysik der Ge-


schlechtsliebe“ formuliert hat, ist das Finden eines Partners –
damit ein jeder Hans seine Grete bekommt. Mindestens vor-
übergehend, würde Schnitzler sagen, oder als Lebensabschnitts-
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begleiter von immer kürzer werdender Verweildauer, wie wir


uns auszudrücken belieben. Aber bauen kann man darauf auch
nicht mehr, wie schon Strindberg in seinem „Fräulein Julie“ an
einer Stelle bündig formuliert hat: Ich bin ihr Freund, aber ver-
lassen sie sich nicht auf mich!
Wie tief die Krise sitzt, wie verunsichert die Menschen der
Jahrhundertwende und noch auf Jahre danach sind, minde-
stens die sensibelsten unter ihnen, die Intellektuellen, Künstler,
Wissenschaftler, läßt sich an Texten Hofmannsthals oder Ril-
kes ablesen. Belangvoll in poetologischen Fragen ist vor allem
Hofmannsthals „Chandos-Brief“, jenes Dokument, das er dem
fiktiven Lord Chandos in die Feder anläßlich eines Briefes dik-
tiert, den dieser an den Philosophen Bacon, Inkarnation des
neuzeitlichen Wissenschaftlers und Rationalisten, schreibt. Lord
Chandos kann bei der Abfassung des Briefes bereits auf ein
stolzes literarisches Œuvre zurückblicken; er ist der gefeierte
Literat seiner Zeit, aber er befindet sich in einer Krise, denn er
hat erkennen müssen, daß das vorliegende Werk im Grunde
inauthentisch, nach überkommenen, traditionellen Mustern
der Poetik (der Antike und des Mittelalters) abgefaßt ist und
Originalität vermissen läßt. Ihm dämmert die Einsicht, daß
man, um wirklich Poesie, nämlich eine ebenso originelle wie
authentische, schreiben zu können, wieder näher an die Dinge
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 197

herangehen müsse. Daß man eine völlig neue Sprache, eine


Natursprache sozusagen, die sich mimetisch den Dingen an-
verwandelt, eine Sprache der Unmittelbarkeit, dazu erfinden
müsse. Um einem „Leben von kaum glaublicher Leere“ und
einer „Starre“ des „Inneren“ zu entkommen, müsse man ler-
nen, „mit dem Herzen zu denken.“ 40 Und in bezug auf den
Poeten ergeht die Norm, daß man eine unbekannte Sprache,
die aus den „stummen Dingen“ spricht, gebrauchen muß.41 Im
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Visier hat Hofmannsthal natürlich den abendländisch-neuzeit-


lichen Logozentrismus, den der Nietzsche-Kenner und fleißige
Exzerpierer mit dessen bekannten Argumenten attackiert. Die
Selbstverständlichkeiten sind für Hofmannsthal, wofür er ge-
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schickt an die Gründungsdaten des europäischen Rationalis-


mus erinnert und gegen den Großmeister Bacon einen Gegen-
spieler, natürlich einen Poeten, aufbaut, geschwunden. Daß
das Denken mittels der Begriffe die Dinge identifiziert und
Ordnung damit stiftet, diese Fähigkeit ist ihm ebenso abhan-
den gekommen wie die Selbstverständlichkeit, abstrakte Worte
zu bilden. Sie zerfallen ihm „im Munde wie modrige Pilze.“ 42
Derselben Sprachkrise, die eine umfassende Orientierungs-
und Denkkrise anzeigt, begegnet man auch in Rilkes Roman
„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, der die Er-
fahrungen von Fremdheit und Entfremdung thematisiert. Mal-
te, der in die fremde Stadt Paris, in einen fremden Kultur- und
Lebenskreis gekommen ist und dort einsam bleibt, reagiert ‚an-
ders‘ auf die ihn umgebenden Eindrücke. Die diskursive Ord-
nung, könnte man sagen, wird suspendiert zugunsten einer
neuen sinnlichen Erkenntnis, einer Orientierung, die über hap-

40
Hofmannsthal, Hugo von, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe,
( Hg.) Rudolf Hirsch, Christoph Perels, Heinz Rölleke, Bd. XXXI,
Erfundene Gespräche und Briefe, ( Hg.) Ellen Ritter, Frankfurt/M.
1991, S. 52.
41
Vgl. a.a.O. S. 54.
42
A.a.O. S. 49.
198 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

tische, olfaktorische und visuelle Perzeptionen abläuft. Wenn


er, wie es gleich eingangs des Romans heißt, ausgeht, dann
‚sieht‘ er Menschen und Dinge, ‚riecht‘ die Stadt und ‚hört‘ de-
ren Lärm. „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es
geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle ste-
hen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres,
von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß
nicht, was dort geschieht.“ 43 Malte beginnt zu schreiben, möch-
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te damit das Leben, Erfahrungen und Erinnerungen durchs


bloße Aufschreiben bannen, muß dabei aber feststellen, daß er
der neuen großstädtischen Wirklichkeit nicht auf die Spur
kommt. Das Schreiben wie auch das Lesen, der „Leseschlaf“,
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halten ihn nur von der Wirklichkeit ab. Sein Text und die
Stadt, das Eigene und das Fremde, sind zwei inkompatible An-
gelegenheiten. Eine Vermittlung findet nicht statt. Das Erzäh-
len ist längst an sein Ende gekommen („Daß man erzählte,
wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein.“ 4 4 ),
aber auch das Schreiben. Es ist Erinnerungsarbeit. Die Realität
dagegen ist flüchtig, nicht in einen Text zu bringen. Und Malte
spürt das allerorten, wenn er durch die Stadt streift: „ich war
leer. Wie ein leeres Blatt Papier trieb ich an den Häusern ent-
lang, den Boulevard wieder hinauf.“ 45 An die Stelle des Schrei-
bens, der literarischen Inszenierung, tritt das pure Benennen,
die Aufzählung, die Reihenbildung. Das Schreiben und die
Welt sind zwei verschiedene Dinge, die unterschiedlichen Zeit-
ordnungen folgen. Das Schreiben ist Konstruktion, Erfindung
einer phantastischen Ordnung, jedoch einer selbstgeschaffe-
nen, während die Wirklichkeit unübersichtlich, komplex und in
keine lineare Ordnung zu zwängen ist.

43
Rilke, Rainer Maria, Werke in sechs Bänden, Frankfurt/M. 1980,
Bd. 5, S. 110f.
44
A.a.O. S. 244.
45
A.a.O. S. 174.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 199

Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das
Geringste. Es ist alles aus soviel einzigen Einzelheiten zusammen-
gesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über
sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die
Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausführlich.46

3.
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Man hat den Impressionismus einen verfeinerten Naturalismus


genannt. Daran ist gewiß soviel richtig, daß in Texten Schnitz-
lers oder auch Rilkes eine Selbstkritik naturalistischer Pro-
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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gramme und Schreibweisen vorgeführt wird, so wenn Rilkes


durch die Stadt vagierender Held an der Gestaltungsunfähig-
keit verzweifelt, die Dinge zwar unbeholfen beim Namen zu
nennen versteht, aber kein realistisch-naturalistisches Text-
stück mehr zustandebringt. Von hier ist es nicht mehr weit bis
zum Expressionismus, dieser Revolte der Jungen gegen die Al-
ten, einer Revolte des Geistes gegen die Macht der Gewehre
und der Saturiertheit. Die Generation der in den 80er und 90er
Jahren des 19. Jahrhunderts Geborenen wehrt sich gegen die
Welt der Väter und der Großväter, auch gegen deren über-
kommene Kunst- und Literaturideale, mögen sie Realismus,
Naturalismus, ja sogar Impressionismus heißen. Umgesetzt
werden die neuen Vorstellungen, theoretisch und praktisch, in
einer ganzen Reihe neuer Zeitschriften, unter denen insbeson-
dere der von Herwarth Walden 1910 gegründete „Sturm“ und
die von Franz Pfemfert 1911 ins Leben gerufene „Aktion“
herausragen.
Kurz und bündig heißt es in einer Text- und Materialien-
sammlung für den Literaturunterricht zur expressionistischen
Generation:

46
A.a.O. S. 254.
200 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Die Literaten waren zumeist junge Intellektuelle bürgerlicher Her-


kunft, ihre Erfahrungswelt ist die der bürgerlichen Familie, der
Universität. Kaum einer kennt eine Fabrik von innen. Aber sie se-
hen mit wachen Augen, was geschieht, auch das Elend. Bevorzug-
te Sujets sind Bettler, Huren, Arme, Proleten. Diese Literaten wer-
den für einen bürgerlichen Beruf als Kaufmann, Beamter, Jurist,
Apotheker, Arzt, Professor ausgebildet, aber sie wollen sich nicht
eingliedern lassen in eine Ordnung, die ihnen fremd, verhaßt, zu-
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wider ist; sie versuchen, ihr trotz beruflicher Einfügung zu entflie-


hen, sich innerlich frei zu machen, neben der bürgerlichen Exi-
stenz ein ‚eigentliches‘ Leben zu führen. Sie, die die Entwicklung
des Deutschen Reiches und des wirtschaftlichen Aufstiegs nicht
selbst miterlebt hatten, noch nicht in die bürgerliche Ordnung ein-
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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gefügt waren, sahen in den Älteren diejenigen, die eine nicht ver-
nünftig und menschlich geordnete Welt repräsentieren. Die Sozial-
demokratie erschien ihnen nicht als Alternative, da sie ihnen
erstarrt und verbürgerlicht vorkam. Langeweile, Lebensekel korre-
spondieren mit politischem Aktivismus.47
Das ist eine zutreffende Beschreibung. Die Gemeinsamkeit
dieser neuen Generation, die sich auch in den Texten mehr
oder minder deutlich herauskristallisiert, läßt sich in folgen-
den Aspekten zusammenfassen: die Generations- und Gesell-
schaftsproblematik wird ebenso vorrangig behandelt wie die
Probleme des Fortschritts und der Technologie, des groß-
städtischen Lebens. Bilder der Häßlichkeit und Gewalt grun-
dieren die Texte, eine bisweilen divinatorische Weitsicht kon-
trastiert mit einem überwältigenden, heute nur noch schwer
erträglichen Pathos, das getragen ist von einer ekstatischen
Aufbruchsstimmung.
„Was Expressionisten sind, wußte 1920 ein jeder, 1910
aber, als der Expressionismus begann, wußte es eigentlich
noch niemand…“, schreibt Heinrich Eduard Jacob aus der
Erinnerung an die Jahre zwischen 1910 und 1920. Jene Jahre

47
Götte, Jürgen W. ( Hg.), Expressionismus, Texte zum Selbstver-
ständnis und zur Kritik, Frankfurt/M. 1976, S. 13.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 201

des Aufbruchs, in denen junge Künstler, wie es Armin T. Weg-


ner ausdrückt, „der Welt das Abbild ihrer Seele aufzudrücken“
versuchten. Und auf den dort aufgefundenen Wahnsinn rea-
gierten sie, so Wegner weiter, mit einem „qualvollen Schrei.“ 48
Kurt Hiller, Expressionist der ersten Stunde, unermüdlicher
Projektemacher und theoretischer Stichwortgeber, beschreibt
in einem Artikel über „Die Jüngst-Berliner“ von 1911 Aufgabe
und Ziel der jungen Generation: „Uns ist die Kunst mehr wert
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als die Erkenntnis, Macht mehr als Kunst. Der Verhaltenheit


ziehen wir die Prostitution vor, dem Quietismus die Ekstase. –
Wenn ich bedenke, daß auf unserer Gegenseite der Asket, der
Snob und der Gelehrte stehen, so scheint mir, wir kämpften
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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(in einer etwas schwärmerischen Art) gegen die Lüge.“ 49 Das ist
zwar wenig differenziert, hat aber den Vorteil der starken Wor-
te auf seiner Seite. Wie überhaupt die markige Formulierung
ohne Rand- und Tiefenschärfe zum Sprachgestus expressioni-
stischer Autoren gehört. Paul Hatvani in seinem „Versuch
über den Expressionismus“ spricht vom Überfluten des Ich
über die Welt. „So gibt es auch kein Außen mehr: der Expres-
sionist verwirklicht die Kunst auf eine bisher unerwartete Wei-
se.“ Die Kunst werde „elementar“, der Expressionismus sei
„die Revolution für das Elementare.“ 50 Und Kasimir Edschmid legt
im selben Jahr, in einer Rede mit dem Titel „Expressionismus
in der Dichtung“, das Programm der ganzen Bewegung dar:
„Es kommen die Künstler der neuen Bewegung. […] Ihnen
entfaltet das Gefühl sich maßlos. – Sie sahen nicht. – Sie schau-
ten. – Sie photographierten nicht. – Sie hatten Gesichte. –
Statt der Rakete schufen sie die dauernde Erregung.“ Dazu be-
48
Zit. nach Raabe, Paul (Hg.), Expressionismus, Aufzeichnungen
und Erinnerungen der Zeitgenossen, Olten und Freiburg i.Br.
1965, S. 15 u. 22.
49
Zit. nach Anz, Thomas und Stark, Michael ( Hg.), Expressionis-
mus, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-
1920, Stuttgart 1982, S. 36.
50
A.a.O. S. 39.
202 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

durfte es freilich, wie Edschmid folgert, eines neuen Weltbil-


des. Und dieses liegt im Inneren. Vision lautet die Zauberfor-
mel: schauen, erleben, gestalten. „Die Welt ist da. Es wäre
sinnlos, sie zu wiederholen. – Sie im letzten Zucken, im eigent-
lichsten Kern aufzusuchen und neu zu schaffen, das ist die
größte Aufgabe der Kunst.“ 51 Es gehe um die Begeisterung,
darum, „große Ekstasen aus seiner Seele aufschwingen [zu] las-
sen.“ 52 Das Zentrum des Expressionismus liegt hier vor uns:
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statt naturalistischem Kopieren der Realität wird der konstruk-


tive Charakter von Kunst eingeklagt; an die Stelle vermeintli-
cher Objektivität rückt das Bekenntnis zur subjektiv-parteili-
chen Aussage, pathetische Gefühle und Ekstasen statt dürrer
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Beschreibungen. Gefühl und Intuition, „Schrei und Bekennt-


nis“, wie der Titel einer berühmten Anthologie expressionisti-
scher Texte heißt.
In gewisser Weise muß man auch, worauf Kurt Pinthus,
ebenfalls ein unermüdlicher Fürsprecher der expressionistischen
Bewegung, bereits 1920 im Vorwort zur ersten expressionisti-
schen Anthologie, „Menschheitsdämmerung“, hingewiesen hat,
vom politischen Charakter dieser Dichtung sprechen, „denn
ihr Thema ist der Zustand der gleichzeitig lebenden Mensch-
heit, den sie beklagt, verflucht, verhöhnt, vernichtet, während
sie zugleich in furchtbarem Ausbruch die Möglichkeiten zu-
künftiger Änderung sucht. Aber – und nur so kann politische
Dichtung zugleich Kunst sein – die besten und leidenschaft-
lichsten dieser Dichter kämpften nicht gegen die äußeren Zu-
stände der Menschheit an, sondern gegen den Zustand des
entstellten, gepeinigten, irregeleiteten Menschen selbst.“ Sie sei
daher kein versifizierter Leitartikel, sondern engagiere sich für
die Menschheit im ganzen, – in politischer Terminologie – für
einen libertären utopischen Sozialismus.53

51
A.a.O. S. 46f.
52
A.a.O. S. 48.
53
A.a.O. S. 57f.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 203

Trotzdem ist der expressionistische Aufbruch und Auf-


schrei nur von kurzer Dauer. Im Grunde ist nach 1920 schon
wieder alles vorbei, nachdem die Bewegung zwischen 1918 und
1920 noch einmal einen kurzen, aber heftigen Politisierungs-
schub, vor allem in der Zeitschrift „Der Gegner“ (1919-1922),
erlebt hatte. In der ersten Republik und mit der Ausdiffe-
renzierung der linken Parteien verliert diese Bewegung rapide
an Bedeutung, weil ihre Visionen im Nirgendwo von „Ah-
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nung und Aufbruch“ liegen, wie eine andere von Karl Otten
später herausgegebene Anthologie expressionistischer Prosa-
texte heißt. Kurt Pinthus kann daher schon 1922 anläßlich
einer Neuausgabe der Menschheitsdämmerung resümierend
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feststellen, daß dieses Buch „ein abschließendes Werk gewor-


den“ ist: „ein Zeugnis von tiefstem Leid und tiefstem Glück
einer Generation, die fanatisch glaubte und glauben machen
wollte, daß aus den Trümmern durch den Willen aller sofort
das Paradies erblühen müsse.“ 54
Man kann im Rückblick dem Expressionismus etwas Illu-
sionäres zusprechen55, man kann – sicherlich zu Recht – auch
die Hypertrophierung des Subjekts kritisieren56, dennoch sollte
nicht vergessen werden, daß diese von der Revolte bestimmte
und einem Gesinnungspathos entzündete Literatur tatsächlich
neue Töne hervorgebracht hat.57 Am wenigsten sicherlich in
der Prosa, wiewohl auch hier, etwa bei Franz Jung, wenn wir
vom Sonderfall Kafkas einmal absehen, in Kurzromanen oder
in dem Prosabändchen „Das Trottelbuch“ beeindruckende
54
A.a.O. S. 111.
55
Vgl. Mittenzwei, Werner, Einleitung, in: Menschheitsdämmerung,
Ein Dokument des Expressionismus, (Hg.) Kurt Pinthus, Leipzig
1986, S. 5-29.
56
Vgl. Kaufmann, Hans, Krisen und Wandlungen der deutschen Li-
teratur von Wedekind bis Feuchtwanger, Berlin und Weimar 1966,
S. 169 u.ö.
57
Vgl. Hermand, Jost, Von Mainz nach Weimar 1793-1919, Stuttgart
1969, S. 302 u. 304.
204 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Texte zur Geschlechterproblematik und zum Beziehungsfuror


entstanden sind.
Bemerkenswerter ist das expressionistische Theater, das in
Stücken wie Hasenclevers „Der Sohn“ (1914; UA 1916) oder
Tollers „Masse Mensch“ (1920), worin ein an der Literatur
und Kunst geschulter Junge gegen den despotischen Vater und
die gesamte bürgerliche Ordnung aufbegehrt bzw. worin die
Enttäuschungen über die Novemberrevolution thematisiert
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werden, etwa das Verhältnis vom Pazifismus zum gewaltsam


geführten Klassenkampf. Diese Idee-Dichtungen leben vom
Wort und von der großen Geste, die eigentliche Handlung da-
gegen wird hinter das Auftreten der Figuren, ihre Rede, zu-
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rückgestellt. Vielleicht am radikalsten sind Franz Jungs (ge-


scheiterte) Versuche zu einem proletarischen Theater aus
expressionistischem Geist, bei dem der individuelle Held
zugunsten der kollektiven Masse, der proletarischen Klasse,
aufgegeben und ein skelettiertes Handlungsgerüst, zur Un-
kenntlichkeit verzerrt, hinter dem Agieren von Körpermassen
zurückbleibt.
Walter Sokels Bemerkung über den Expressionismus, daß
mit ihm die existentielle Form der Moderne beginne, trifft
schon auf die Dramatik zu, sehr viel stärker noch auf die ex-
pressionistische Lyrik, dieser Mischung aus (noch einmal)
„Schrei und Bekenntnis“. Im eigentlichen und wesentlichen ist
der Expressionismus eine lyrische Angelegenheit gewesen;
noch vielen Prosatexten merkt man ihre Herkunft aus der Ly-
rik an, das Pathos und eine hochgetriebene Metaphorik. Eine
Vielzahl von Gedichten Heyms und Trakls, Benns oder Else
Lasker-Schülers zählt dabei längst zum Kanon der deutschen
Dichtung des 20. Jahrhunderts, nicht zu vergessen Gedichte
von Becher, Goll, Däubler oder Ehrenstein. Gesammelt sind
diese Texte in Pinthus’ „Menschheitsdämmerung“ unter ver-
schiedenen Rubriken mit den sprechenden Titeln „Sturz und
Schrei“, „Erweckung des Herzens“, „Aufruf und Empörung“
und „Liebe den Menschen“. Darin eingespannt ist das Pro-
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 205

gramm der Jungen mit ihrer Empörung über die bürgerlich-sa-


turierte Welt ihrer Ahnen, ihrem Bekenntnis zur Erweckung
und Erziehung des Herzens, ihrem Engagement für die Unter-
privilegierten und ihren unklaren Menschheitsutopien. Eine vi-
sionäre Schau heraufziehender Katastrophen im Krieg, ambi-
valente Beschreibungen großtstädtischen Treibens, von Hektik
und Geschwindigkeit, ein gespanntes Verhältnis zur Technik
und ihren Errungenschaften, kommunistische Menschheitsbe-
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glückungen finden sich neben lyrischen Psychogrammen von


den Nacht- und Schattenseiten unbehauster, in Krankheit,
Drogenwahn und Alkoholexzessen sich verzehrender moder-
ner Existenzen. Ekel und Abscheu, eine eigentümliche Ästhe-
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tik und Poetik des Schreckens paart sich mit Revolutionsbegei-


sterung – alles in häßlich-schöner, unreiner Mischung.
Benns „Kleine Aster“, das die Sezierung eines „ersoffene[n]
Bierfahrer[s]“ zum Anlaß einer invertierten Naturdichtung
nimmt, oder sein berühmter Gang durch die Krebsbaracke
(„Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße/ und diese Reihe ist
zerfallene Brust./ Bett stinkt bei Bett.“) gesellt sich zu Bechers
Hymne auf Rosa Luxemburg: „Triumph dir durch die Welten
blase ich: Dir, Einzige!! Dir, Heilige!! O Weib!!!“ (vgl. Mensch-
heitsdämmerung 1986. S. 62, 106, 310) Heyms Kriegsvisionen
in „Der Krieg“ (1911), mit apokalyptischen Szenarien, bei de-
nen die ganze Zivilisation untergeht („Über sturmzerfetzter
Wolken Widerschein,/ In des toten Dunkels kalten Wüstenein,/
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,/ Pech und
Feuer träufet unten aus Gomorrh.“ [a.a.O. S. 88]), verbinden
sich mit Trakls Alpträumen, die er „In den Nachmittag geflü-
stert“ hat: „Stirne Gottes Farben träumt,/ Spürt des Wahn-
sinns sanfte Flügel./ Schatten drehen sich am Hügel/ Von
Verwesung schwarz umsäumt.“ (a.a.O. S. 76)
Es geht darum, aufzurütteln, wachzurütteln, zu verstören,
zu provozieren. Jost Hermand betont daher zu Recht die Ein-
flüsse der ‚schwarzen Visionen‘ von Baudelaire und Rimbaud
auf die jungen Expressionisten. „Die Welt, wie sie in diesen
206 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Gedichten entsteht, soll weder verehrens- noch hassenswert,


weder himmlisch noch teuflisch sein, sondern in ihrer ab-
soluten Widersinnigkeit wie eine Parodie ihrer selbst erschei-
nen.“ 58 Das Ziel der neuen expressionistischen Bewegung,
dieser Literaturrevolution, hat Hermann Wiegmann knapp und
zutreffend beschrieben als „Creatio einer neuen Wirklichkeit,
welche der vorhandenen verachtenswerten Realität konträr
läuft.“ 59 Zusammenfassend an anderer Stelle auch: „Gemein-
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sam ist aber den poetologischen Äußerungen die Abwehr des


Naturalismus, Impressionismus, des Ästhetizismus zugunsten
einer dem Humanen verpflichteten creatio einer wesentlichen
Wirklichkeit.“ 60
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Bündig hat auch Thomas Anz in einem Artikel den Be-


griff, die Errungenschaften und Ziele des Expressionismus
zusammengefaßt; Anz spricht von der expressionistischen
Bewegung als einer „sich betont jugendlich gebende[n] Para-
kultur innerhalb des gesamten literarischen Kräftefeldes der
damaligen Zeit“, in deren Mittelpunkt die Kritik des im Be-
griff des Bürgertums inkarnierten Alten und Schlechten ge-
standen hat, verbunden mit einem Bekenntnis zum Geistigen,
einer geistigen Erneuerung aus der Kunst und einer literari-
schen Moderne, die mit Anz in einer „Poetik der Parataxe“ kul-
miniert, in Simultangedichten und Stationendramen (= An-
einanderreihung disparater Handlungsepisoden) sowie einer
neuen Prosa, wie sie Döblin u.a. für den Roman gefordert ha-
ben: „Wenn ein Roman nicht wie ein Regenwurm in zehn
Stücke geschnitten werden kann und jeder Teil bewegt sich
selbst, dann taugt er nichts.“ In diesen Dekompositionen bzw.
Dekonstruktionen, die mit einer Verabschiedung traditioneller
ästhetisch-poetologischer Kategorien von der Autorpersön-

58
Hermand a.a.O. S. 317.
59
Wiegmann, Hermann, Geschichte der Poetik, Ein Abriß, Stuttgart
1977, S. 148.
60
A.a.O. S. 150.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 207

lichkeit bis zum Harmoniepostulat und Einheitsschema ein-


hergeht, erkennt Anz auch die spezifische ästhetische Moder-
nität des Expressionismus.61
Von hier aus fallen die Übergänge zu den anderen Ismen, zu
den ästhetischen Avantgarden der ersten beiden Jahrzehnte
unseres Jahrhunderts leichter. Denn in der Zielperspektive ei-
ner Destruktion des klassischen Werks mit den gleichsam nor-
mativ zugeordneten Sphären des autonomen Produzenten wie
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des verstehenden Rezipienten herrscht weitgehende Überein-


stimmung zwischen den italienischen Futuristen um Marinetti,
die in etwa zeitgleich mit dem deutschen Expressionismus
agieren, mit den Expressionisten, den Dadaisten und den Sur-
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realisten. Während der Futurismus Marinettis, grundgelegt in


einer ganzen Reihe von Manifesten und Dokumenten, darun-
ter das „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ von 1912,
einer grundsätzlichen und unkritischen Technikbegeisterung
fröhnt, in deren Zentrum die Geschwindigkeit, eine Begeiste-
rung für modernste Flugtechniken, das Automobil und auch
eine Apologie des Krieges stehen, muß die DADA-Bewegung
in gewisser Weise als kritische Replik auf den bzw. als Selbst-
kritik des Expressionismus verstanden werden, als Ridikülisie-
rung und grundsätzliche Widerlegung aller Kunstprogramme,
auch noch aller kritischen. Kunst soll vielmehr wieder, das ha-
ben die Untersuchungen nicht zuletzt Peter Bürgers nach-
drücklich gezeigt, in Lebenspraxis überführt, rückübersetzt
werden.62 Adorno hat in seiner posthum edierten „Ästheti-
schen Theorie“ immer wieder von der „Entkunstung“ gespro-
chen. Gemeint ist die Auflösung der Grenzlinien und Demar-
kationen. An die Stelle des Werks und seines Autors mag die
Aktion, das Spektakel, die Inszenierung treten. Anstelle von

61
Vgl. Anz, Thomas, Expressionismus, in: Moderne Literatur in
Grundbegriffen, (Hg.) Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač,
Tübingen 1994, S. 142-52.
62
Vgl. Bürger, Peter, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M. 1974.
208 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Sinnproduktion firmiert der irritierende Unsinn, die Provoka-


tion des Sinnlosen.
Hugo Ball hat unter dem Datum vom 12. Juni 1916 in sei-
nem Tagebuch notiert: „Was wir Dada nennen, ist ein Narren-
spiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt
sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Über-
bleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fül-
le.“ 63 Mehr noch als das expressionistische Epater le Bourgeois
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wird hier der Sinn in toto exekutiert, wird hier hemmungslos


übertrieben, parodiert und Glossolalie betrieben. In Zürich,
Berlin, Hannover und Köln, den Zentren von Dada, wird vor
allem „viel Lärm“ erzeugt, wie ein zeitgenössischer Beobachter
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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in einem Zeitungsartikel schreibt: „Auf einem ‚künstlerischen


Abend‘, den das Oberhaupt der neuen Schule veranstaltete, er-
fuhr man, daß der Dadaismus im Jahre 1916 geschaffen wurde
und daß sein Ziel im Literarischen und Künstlerischen die rei-
ne Abstraktion sei. Die Dadaisten folgen den Spuren der Ku-
bisten und Futuristen und wollen ‚l’ordre et la clarté‘ in der
Kunst.“ 64 Und in Tristan Tzaras „Manifest des Herrn Antipy-
rine“ kann man diesbezüglich folgendes lesen:
DADA ist unsere Intensität: es richtet die Bajonette ohne Konse-
quenz der Sumatrakopf des deutschen Babys; DADA ist das Le-
ben ohne Pantoffeln und Parallelen; das für und gegen die Einheit
ist unentschieden gegen die Zukunft; wir wissen aus Weisheit, daß
unsere Gehirne bequeme Kopfkissen werden, daß unsere Anti-
dogmatismen genauso ausschließend wie der Beamte ist und daß
wir nicht frei sind und Freiheit schreien; strenge Notwendigkeiten
ohne Disziplin und Moral und spucken auf die Menschheit.65

63
Zit. nach Riha, Karl, Dada (Dadaismus), in: Moderne Literatur in
Grundbegriffen a.a.O. [ Anm. 61] S. 64.
64
Zit. nach Riha, Karl ,.Da DADA da war, ist DADA da, Aufsätze
und Dokumente, München1980, S. 32.
65
A.a.O. S. 31.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 209

Wer hier nach tieferem Sinn sucht, ist, folgt man Dada, selber
schuld. Auch diese Bewegung war nur von kurzer Dauer. Spä-
testens ab Mitte der 20er Jahre sprach niemand mehr von den
dadaistischen Provokationen, verloren sich ihre Protagonisten
aus den Augen, orientierten sich um oder gaben die Kunst völ-
lig auf.
In gewisser Weise ist der Surrealismus die Fortsetzung des
Dadaismus; ja, der Surrealismus eines André Breton („Mani-
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feste du Surréalisme“, 1924) mit seinem Engagement für das


‚automatische Schreiben‘ („écriture automatique“) und die un-
gehinderte Produktion habe, wie ein kritischer Beobachter be-
merkt, sogar den Dadaismus gefressen:
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Und da der Surrealismus einen guten Magen hatte, sind die Eigen-
schaften des Verschlungenen mit in den gekräftigten Körper des
Überlebenden eingegangen. Gut so! Fest steht, daß Methode und
Disziplin des Surrealismus wesentlich Bretons Werk sind. Er
machte aus dem explosiven Dada im Surrealismus und auf ratio-
naler Grundlage eine irrationale Kunstbewegung, die zwar Dada
gänzlich übernahm, aber die Dada-Rebellion in einer strengen gei-
stigen Disziplin kanonisierte.66
Der Surrealismus blieb freilich mit wenigen Ausnahmen auf
Frankreich beschränkt, und er führte Ende der 20er Jahre zu
einer engen Bindung an die kommunistische Partei und deren
Politik (namentlich bei Aragon und Eluard), wenngleich auch
– insbesondere in der Person Bretons – immer an eine ästheti-
sche Revolution dabei mitgedacht war.

Ein kurzes Resümee und eine kleine Überlegung mögen hier


angezeigt sein. In Verlängerung der Adornoschen Definition
von Moderne, in Auseinandersetzung mit Baudelaire gewon-

66
Zit. nach Riha a.a.O. [ Anm. 63] S. 67.
210 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

nen, wonach die Moderne „Tradition als solche“ 67 negiert, hat


man sich heute angewöhnt, die verschiedenen historischen
Avantgardebewegungen zu definieren. All diesen Ismen aus
dem ersten Drittel des 20. Jahrhundert gemeinsam ist die Ten-
denz, gegen die herrschenden Formen und Gattungen, gegen
etablierte Normen des Kunstbetriebs zu opponieren – konkret
(und im Blick auf die literarischen Avantgarden): sie sind von
einem antimimetischen und antiillusionistischen Impuls getra-
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gen, möchten die bürgerliche Institution Kunst sprengen und


wehren sich vehement gegen den Werkbegriff.
Der Literaturwissenschaftler Georg Bollenbeck hat in einem
Lexikonartikel zu Recht auf drei Merkmale der historischen
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Avantgarden besonders hingewiesen: 1. entwerfen die Avant-


gardebewegungen gegenüber der traditionellen Kunst einen
neuen Funktionsbegriff von Kunst, wobei diese wieder enger
an das Leben herangeführt werden soll (= Überführung der
Kunst in Lebenspraxis); 2. verbindet sich diese Programmatik
mit stilistischen Anforderungen wie den Bezug auf Montage
und Allegorie, die die Kohärenz des organischen Werks spren-
gen und auch eine neue Rezeptionsweise fordern; 3. steht im
Hintergrund die weitergehende Perspektive einer Befreiung
der Gesellschaft durch die Kunst, eine „Kunstrevolte“, die die
Gesellschaft menschlicher machen soll.68 Die fatale Dialektik
dieser Bewegungen – darauf haben Adorno und Benjamin wie-
derholt hingewiesen und zielen Peter Bürgers Arbeiten – be-
steht jedoch darin, daß sie sich immer noch im Rahmen der
bürgerlichen Institution Kunst, des Kunstbetriebs, bewegen
und sozusagen prinzipiell nicht davor gefeit sind, von eben
diesem gefräßigen Markt, der sich schier alles einzuverleiben
versteht, verschlungen zu werden. (Was sich geradezu bilder-

67
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, (Hg.) Gretel Adorno
und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970, S. 38.
68
Bollenbeck, Georg, Avantgarde, in: Moderne Literatur in Grund-
begriffen a.a.O. [ Anm. 61] S. 41ff.
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden 211

buchartig an den vermeintlich zunächst sperrigen, die einver-


nehmliche Kommunikation behindernden Stilmerkmalen von
Montage und Collage zeigen läßt, die durch den Film und die
Reklameindustrie zu geläufigen Techniken nobilitiert worden
sind. Irritationen gehen jedenfalls von diesen ehedem avant-
gardistischen Stilmerkmalen keine mehr aus.)
Adorno, der seine ästhetische Theorie historisch und sy-
stematisch beim Scheitern der historischen Avantgardebewe-
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gungen startet, versucht, obschon er deren Überlegungen


hinsichtlich der Formproblematik mit bedenkt, doch an dem
emphatischen Begriff der Form wie der Autonomie festzu-
halten. Dabei ergeben sich wieder erstaunliche Gemeinsam-
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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keiten mit dem verbal heftig attackierten Georg Lukács und


dessen Realismuskonzept. Denn wie dieser hält auch Adorno
unverbrüchlich am Formcharakter der Kunst fest, spricht er
davon, daß Form „im Kunstwerk das soziale Verhältnis [ver-
tritt].“ Adorno sieht und beschreibt an vielen Stellen seiner
Ästhetik das Scheitern der Avantgarde, hält aber zugleich an
deren Impulsen fest, wobei sich dann eine merkwürdige Fi-
gur ergibt. Das moderne Werk müsse nämlich, so die Ador-
nosche Norm, an der Errungenschaft des von der bürgerli-
chen Kunstideologie gewonnenen Begriffs der Autonomie
festhalten, es müsse geformt sein und gleichzeitig den tradi-
tionellen Formbegriff wieder unterlaufen, also destruieren
bzw. demontieren. Damit würden auch übliche Erwartungs-
haltungen gegenüber der Kunst gesprengt. Moderne Kunst,
das je fortgeschrittenste Werk, müsse irritieren, Grenzen
sprengen, Erwartungen durchbrechen. Darin beweise sich
schließlich sein sozialkritisches Potential, seine Opposition
gegen die etablierte Gesellschaft, den Betrieb und die Kon-
ventionen: „Daß darüber Kunst nicht ihrerseits gesellschaftlich
gleichgültig, leeres Spiel und Dekoration des Betriebs werde,
hängt davon ab, in welchem Maß ihre Konstruktionen und
Montagen zugleich Demontagen sind, zerstörend die Elemente
der Realität in sich empfangen, die sie aus Freiheit zu einem
212 VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden

Anderen zusammenfügen.“ 69 Das Werk also als Demontage,


als Einspruch und Inversion, womit es von Seiten seiner Ge-
stalt einen Beleg fürs Adornosche Verfahren seiner Philoso-
phie, der „Negativen Dialektik“, abgibt.
Peter Bürger hat, anknüpfend an Adornos „Ästhetische
Theorie“, eine Unterscheidung zwischen der ‚Moderne‘ und
der ‚Avantgarde‘ getroffen. Während die Moderne in Gestalt
des Kunstwerks auf die Form setzt, als gestaltetes Werk Ein-
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spruch gegen die Zurichtungen und Verheerungen in der


zweckrational eingerichteten kapitalistischen Gesellschaft er-
hebt, dabei auch die Aura des Einmaligen behauptet und de-
mentiert, zielt die Avantgarde immer auf die Überschreitung
VIII. Vom Naturalismus zu den Avantgarden, 9783838529370, 2020

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der Sphären, auf die „Entkunstung“ (Adorno) der Kunst im


Blick auf mögliche revolutionäre Umgestaltungen der Gesell-
schaft, wovon wir freilich weiter denn je entfernt sind. Bürgers
abschließende Feststellung: „Eine Avantgarde (im engeren
Wortsinne) wird es nur dann geben, wenn die Konfliktpoten-
tiale innerhalb der westlichen Gesellschaften ein Bewußtsein
für die Unausweichlichkeit radikaler gesellschaftlicher Ver-
änderungen geschaffen haben werden. Dann und nur dann
dürften erneut Bewegungen entstehen, die sich nicht mit der
Hervorbringung von Kunstwerken zufriedengeben wollen. So-
lange dies nicht der Fall ist, solange wir uns abfinden mit dem
Gedanken, daß die Zukunft zwar düster, die Gegenwart aber
für die meisten immer noch recht angenehm ist, wird Avant-
garde uns als Phänomen der Vergangenheit erscheinen, und
wir werden uns damit begnügen müssen, daß Gestalten wie
Beuys sie wachhalten in unserem Bewußtsein.“ 70

69
Adorno a.a.O. S. 379.
70
Bürger, Peter, Ende der Avantgarde?, in: Neue Rundschau, H. 4,
1995, S. 27.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

Nachdem wir – wenigstens kursorisch, meist im Parforceritt


durch die Jahrhunderte – historische Positionen der Poetik
kennengelernt, dabei (hoffe ich jedenfalls) gesehen haben, daß
im Grunde nur einige wenige und immer dieselben Grundbe-
griffe und Konstellationen diskutiert worden sind, bleibt ab-
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schließend und im Blick auf unsere Zeit zu fragen, an welchen


Problembeständen Autoren heute arbeiten. Dieses Heute soll-
te man sich freilich in größtmöglicher Ausdehnung vorstellen.
Ich möchte es beginnen lassen im Anschluß an die gescheiter-
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ten historischen Avantgarden, also nach den vielfältigen Versu-


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

chen der Kunst und ihrer entsprechenden Programmatiken,


die Sphäre der Kunst zur Lebenspraxis hin zu überschreiten,
konkret: in den 20er Jahren. Was mit dem Philosophen Georg
Simmel bereits häufiger als Differenzierung im Nebeneinander
bezeichnet worden ist und eine Pluralität der Stile und Aus-
drucksformen spätestens seit der Jahrhundertwende meint, gilt
in erweitertem Maße noch für die Situation seit den 20er Jah-
ren. Und poetologisch heißt das dann: es existieren soviele An-
sätze und Überlegungen, wie es Autoren gibt, die Rechen-
schaft über ihr Schreiben ablegen und sich Gedanken über die
literarischen Ausdrucksmöglichkeiten machen.
Eine gute Übersicht über die tatsächliche Breite der poeto-
logischen Diskussionen im 20. Jahrhundert erhält der Leser
aus der von Beda Allemann herausgegebenen Anthologie „Ars
Poetica“, die poetologisch relevante Texte kanonisierter Auto-
ren von T. S. Eliot bis zu I. Bachmann und P. Celan umfaßt.
Diese „poetologischen Essays“ (Allemann 1966. S. IX) reagie-
ren allesamt – das zeigt ihre Quersumme – auf den Geltungs-
verlust der Kunst in der Moderne, auf den Verlust an gültigen
ästhetisch-poetologischen Normen nicht zuletzt, was dann mit
einer verschärften Selbstreflexion einhergeht, mit einem Nach-
denken über die eigene Produktion, deren Wert und mögliche
214 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

Wirkungen auf Rezipienten. Was es nicht mehr gibt, allerdings


mit den berüchtigten Ausnahmen des sozialistischen Realis-
mus unter dem Stalinismus und einer faschistischen Kunst-
und Literaturpolitik, sind jene im Grunde auf vormoderne
Konzepte einer heteronom bestimmten Kunst zurückgreifen-
den Entwürfe zur Ästhetik und Poetik, wofür eben Stalinismus
wie Faschismus in gleicher Weise die schlechtesten, aber prä-
gnantesten Beispiele abgeben – und wofür eigentlich alle in
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sozialen Bewegungen entstandenen Literatur- resp. Kunstpro-


gramme (Arbeiter-, Frauen-, Öko- und Schwulen/Lesben-Be-
wegung) einstehen.
Statt einer Bewegungskunst also, die sich erfüllt bzw. er-
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schöpft in und mit den außerkünstlerischen, gesellschaftlichen


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Zielen, für die sie wirbt, votieren moderne Poetiken in der Re-
gel ‚rein‘ für die Kunst (und oft genug in aller Deutlichkeit ge-
gen die Gesellschaft), die sie vom Leben abtrennen möchten.
Das muß nicht gleich schon postmodern oder gar dekonstruk-
tiv sein. Angezeigt darin ist aber auf jeden Fall – und dies selbst
noch und ausdrücklich bei Verfechtern einer politischen Äs-
thetik wie Brecht oder Sartre – die Reinhaltung der Sphäre
Kunst. Mit anderen Worten: Kunst ist Kunst, die Gesellschaft
bleibt die Gesellschaft. Das ist so banal wie basal. Kunst bzw.
Literatur sind Konstruktionen, Schöpfungen eines Autors mit
Eigenweltcharakter, mag es dabei auch noch so viele Bezugs-
punkte, Referenzen zur Außenwelt geben. Verwechseln darf
der Leser um den Preis der Lächerlichkeit die unterschiedli-
chen Ebenen nicht. Dort, wo, wie etwa im Faschismus oder
Stalinismus, auf ruinöse Weise auf die unmittelbar praktische
Relevanz der (sogenannten) Kunst fürs Leben der Gesellschaft
abgestellt wurde, führte das zu jenen Resultaten, die Heinz
Schlaffer so beschrieben hat: „Als praktische Lebenshilfe, als
symbolische Lebensdeutung, als politische Erziehung verstan-
den, sollen die Kunstwerke in den gewohnten Realitätszusam-
menhang, den sie verlassen haben, wieder zurückkehren. Wech-
selseitige Verdunkelung der beiden Sphären ist das Resultat
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 215

solcher aktualisierender Interpretationen: Die ästhetische Er-


fahrung wird durch Anwendung trivialisiert, die Erkenntnis
der Wirklichkeit durch Ideologie verstellt.“ 1
Für die Autoren der Moderne jedoch bleibt die Ansicht be-
stimmend, „unverloren“, hätte Adorno dazu gewiß bemerkt,
daß die Kunst etwas anderes ist, daß sie Spiel, Schein, Einbil-
dung oder Konstruktion ist, wiewohl sich das durchaus mit
Erkenntnis- und Wahrheitspostulaten verbinden lassen kann.
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Denn die Rezeption von Kunst kann unsere übliche Erkennt-


nis von Welt um jene Aspekte bereichern und ergänzen, die
von einer auf Zweckrationalität abgerichteten Erkenntnis in
den Wissenschaften wie auch im Alltag nicht thematisiert wer-
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den. Auch hier zieht die Adornosche „Ästhetische Theorie“


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

nur Konsequenzen aus Erfahrungen mit und in der Moderne,


resümiert sie die Quintessenz poetologischer Einsichten aus
der europäischen Moderne, wenn es etwa heißt: „Kunst kom-
plettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene und be-
einträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre
Eindeutigkeit.“ Weiterhin sei sie „Rationalität, welche diese kri-
tisiert, ohne ihr sich zu entziehen; kein Vorrationales oder Irra-
tionales, wie es angesichts der Verflechtung jeglicher menschli-
chen Tätigkeit in die gesellschaftliche Totalität vorweg zur
Unwahrheit verurteilt wäre.“ 2 – Dies mag als Leitmotiv gelten,
wenn ich im folgenden kurz und bündig einige repräsentative
Vertreter der modernen europäischen Literatur im Blick auf
ihr poetologisches Selbstverständnis vorführe – Positionen, die
dann noch entscheidend die literarische Nachkriegsentwick-
lung in beiden deutschen Staaten beeinflußt haben.

1
Schlaffer, Heinz, Poesie und Wissen, Die Entstehung des ästheti-
schen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frank-
furt/M. 1990, S. 155.
2
Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, (Hg.) Gretel Adorno
und Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1970, S. 87.
216 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

Michael Titzmann hat zwar Recht, wenn er seinen im übri-


gen instruktiven Lexikonartikel ‚Poetik‘ u.a. mit der Feststel-
lung beendet, daß im Grunde seit dem Realismus bereits die
Zeit der poetologischen Diskurse ebenso beendet ist wie die
der Ästhetiken und daß fortan Poetiken entweder als program-
matische Manifeste oder als autoreneigene und für den Autor
spezifische poetologische Selbstreflexion auftreten.3 Nur darf
daraus nicht geschlossen werden, daß die Beschäftigung mit
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solchen poetologischen Reflexionen auch schon anachronistisch


ist. Im Gegenteil. Denn wenn das Ganze schon in die Brüche
geht und es ohnehin „– außer dem des atomaren Schreckens –
keinen Weltplan [gibt], dem der Schriftsteller mit dem Ana-
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logon eines poetischen Kosmos antworten könnte“, dann in-


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

teressieren gerade die Steinbrüche und Trümmerfragmente, die


Inkonsistenz des Teils und Details, dann hilft die Rekonstruk-
tion von Theoriesplittern die Heillosigkeit insgesamt durch-
sichtiger zu machen. Im Anschluß an Dietrich Harths Artikel
„Poetik und Antipoetik“:
Die Sprache des Gedichts und der epische Bau des Romans kön-
nen, […], aus einem zufällig sich einstellenden, semantisch leeren
Rhythmus oder aus einem fragmentarischen Satz entwickelt wer-
den. Keine Vorschrift, nicht einmal eine regulative Idee bevor-
mundet hier die ‚Logik‘ der ästhetischen Produktion. Das Produ-
zieren wird nicht selten zum Destruieren des Alten und Falschen,
das den unaufhaltsamen Drang einer jeden Kunst nach vollständi-
ger Authentizität der Erfahrung behindert.4
Statt des Ganzen, das ja das ganz Falsche ist, statt einer umfas-
senden Totalität sollen im folgenden Fragmenthaufen gesichtet

3
Vgl. Titzmann, Michael, Poetik, in: Literatur Lexikon, ( Hg.) Wal-
ther Killy, München 1993, Bd. 14, S. 221.
4
Harth, Dietrich und vom Hofe, Gerhard, Unmaßgebliche Vorstel-
lung einiger literaturtheoretischer Grundbegriffe, in: Dietrich Harth
und Peter Gebhardt ( Hg.), Erkenntnis der Literatur, Stuttgart
1989, S. 31.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 217

werden, die Einblicke in verschiedene poetologische Werkstät-


ten bieten. Auch wenn gattungspoetologische Überlegungen
und Unterscheidungen in der Moderne nicht mehr zentral im
Vordergrund stehen, so gibt es doch entsprechend den Fähig-
keiten und Talenten der jeweiligen Autoren Vorlieben, die
dann poetologisch reflektiert werden. Virginia Woolf, James
Joyce, Alfred Döblin etwa schreiben über den Roman und die
Prosa, Brecht, Artaud oder Ionesco über die Möglichkeiten
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des Theaters, Benn oder Valéry über die Lyrik.


Die englische Schriftstellerin Virginia Woolf hat in einer
Vielzahl von Essays („The Common Reader“, 1925; „A Room
of One’s Own“, 1929) die Poetik der Moderne bedacht. Dabei
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kommt dem schmalen Text „Modern Fiction“ von 1919 (über-


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

arbeitet 1925) eine besondere Bedeutung zu, da er so etwas wie


das Manifest der literarischen Moderne darstellt. Vehement
wendet sich die Verfasserin gegen traditionelle realistische Ab-
bildverfahren, wie sie vom Zeitgenossen John Galsworthy ver-
breitet werden, und votiert für James Joyce, dessen Ulysses im
Erscheinen begriffen ist. Für Virginia Woolf ist die moderne
Welt durch Zufälligkeit und Fragmentarik geprägt, weshalb
sich geschlossene Welt- und Denkbilder, die Totalität, die der
Realismus bzw. Naturalismus – Woolf selbst spricht immer
vom Materialismus – suggeriert, von selbst verbieten. Um nä-
her an das Leben und die Wirklichkeit heranzukommen, sei es
nötig, sich ins Innere des Bewußtseins zu begeben, Bewußt-
seinsanalyse zu betreiben. Der moderne Roman solle – und
hier liege das Interessante – die „dunklen Bereiche[ ] der Psy-
chologie“ ausloten.5 Das Leben, so Woolf, sei „eine halb-
durchsichtige Hülle, die uns von Anfang unseres Bewußtseins
an bis zum Ende umgibt.“ Und es sei ferner die „Aufgabe des
Romanciers“, „diesen sich wandelnden, diesen unbekannten
und unfaßbaren Geist samt all seinen Verirrungen und Viel-
5
Woolf, Virginia, Der gewöhnliche Leser, Essays, Bd. 1, ( Hg.)
Klaus Reichert, Frankfurt/M. 1989, S. 184.
218 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

schichtigkeiten mit möglichst wenig Zutat an Äußerlichem und


Fremdem zu vermitteln.“ Im Klartext heißt das dann: „Wir
wollen die Atome aufzeichnen, und zwar in der Abfolge, wie
sie ins Bewußtsein fallen, wir wollen das Muster nachzeichnen,
so unverbunden und zusammenhanglos es auch erscheinen
mag, das jeder Ausblick und jedes Ereignis dem Bewußtsein
aufprägt.“ 6
Darin reagiert der Roman auf die Krise der modernen Welt,
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auf den oft und viel beschworenen Kontingenzschock, unter


dem das Individuum leidet, auf Relativismus, den Zerfall der
Werte und gültiger transzendentaler Orientierungsmarken. Der
Roman ist nur ein Spiegel dieses Tatbestandes, künstlerischer
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Ausdruck der Heimat- und Obdachlosigkeit. Kein Wunder ist


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

es daher auch, daß der favorisierte neue Roman von vielen


avancierten Prosaisten als – in den Worten des englischen Ro-
manciers E. M. Forster („Aspects of the Novel“, 1927) – „ein
unordentliches Buch“ bezeichnet wird.7 Ein anderer Autor, der
unablässig seit seinen ersten Schreibversuchen von seiner „Ab-
neigung gegen eine strikt mimetische Kunstauffassung, na-
mentlich in naturalistischer Spielart“ 8 keinen Hehl gemacht
hat, ist Alfred Döblin. 1917 bereits plädiert er für die Dekom-
position: „Wenn ein Roman nicht wie ein Regenwurm in zehn
Stücke geschnitten werden kann und jeder Teil bewegt sich
selbst, dann taugt er nichts.“ Die „Hegemonie des Autors“ sei
„zu brechen.“ 9 Döblin redet einem erneuerten Epos das Wort,
versteht seine Romane als Fortsetzungen antiker und mittelal-
terlicher Epen. Und an die Sprachskepsis bzw. Erkenntniskrise
6
A.a.O. S. 182f.
7
Forster, E. M., Ansichten des Romans, Frankfurt/M. 1962, S. 173.
8
Žmegač, Viktor, Der europäische Roman, Geschichte seiner Poe-
tik, Tübingen 1990, S. 339.
9
Döblin, Alfred, Bemerkungen zum Roman (1917 ), zit. nach: Anz,
Thomas, Expressionismus, in: Moderne Literatur in Grundbegrif-
fen, ( Hg.) Dieter Borchmeyer/Viktor Žmegač, Tübingen 1994,
S. 148f.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 219

der Jahrhundertwende erinnernd, heißt es noch in Döblins


spätem Akademievortrag von 1950 „Die Dichtung, ihre Natur
und ihre Rolle“: „Der Dichter möchte, was er in sich trägt, fühlt
und denkt, in die Sprache ‚überführen‘ – und ihm kommt vor,
dies wäre ein einfacher Vorgang. Aber die Sprache ist kein Spie-
gel, in den einer blicken kann, um sich zu erkennen. Man bilde
sich nicht ein, sagen zu können, was man meint. Vor der macht-
voll präsenten gewachsenen Realität der Sprache zerfließen die
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meisten Träume.“ (zit. nach Allemann a.a.O. S. 329) Schuld dar-


an ist der „Wahn vom Ich“ (a.a.O. S. 330), der uns glauben ma-
chen möchte, wir könnten uns sozusagen authentisch ausdrük-
ken und uns damit die Welt erschreiben. Tatsächlich aber bildet
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die Sprache ein eigentümliches System aus; sie „hat ihre eigenen
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Produktionskräfte“, schreibt Döblin, weshalb Dichtung auch


niemals bloß einfach „hervorgebracht [wird] von dem einzelnen,
einsamen Geist des Dichters.“ (a.a.O. S. 327)
Diese Vorstellung oder Idee, wenn man so will, von der
Sprache als eigenem, eigentümlichen System hat auch den
Franzosen Paul Valéry nachhaltig beschäftigt. Ganz entgegen-
gesetzt freilich zu Döblin fordert Valéry mehrfach in kritischen
Überlegungen, daß dem Poeten als regulative Idee die reine
oder absolute Poesie vorschweben soll. In ihr herrsche „die Il-
lusion einer Welt“, einer Welt, wie sie auch im „Traumzu-
stand“ erlebt werde. (zit. nach Allemann a.a.O. S. 142) Unter
der Sprache des Dichters versteht Valéry eine solche, die zwar
auf das Rohmaterial der Alltagssprache zurückgreife, um je-
doch „mit einem Material vulgärer Herkunft eine künstliche,
ideale Ordnung [zu schaffen].“ (a.a.O. S. 146) Das ist wieder
der alte romantische Topos vom Eigenweltcharakter des Kunst-
werks, jenes Jean Paulsche Zwischenreich zwischen Himmel
und Erde. In einem anderen Aufsatz unter dem Titel „Dicht-
kunst und abstraktes Denken“ von 1939 verknüpft Valéry da-
mit die weitergehende Vorstellung, daß im Unterschied zur
Zweck- und Gebrauchssprache des Alltags die Poesie ihre ei-
gene Wert- und Geltungssphäre besitze – mit der modernen
220 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

Einschränkung allerdings, wonach dieses Werthafte nur einen


bornierten Wirkungskreis erfülle, am Ende vielleicht gar nur
eine subjektive Wahrheit ausdrücke. Gleichwohl bestehe die
Aufgabe des Dichters darin, „den dichterischen Zustand“ „bei
anderen zu schaffen.“ „Man erkennt den Dichter – oder minde-
stens erkennt jeder den seinigen – an der einfachen Tatsache,
daß er den Leser in einen ‚Inspirierten‘ verwandelt.“ (a.a.O.
S. 209) Ziel der Überlegungen Valérys ist es zu zeigen, daß und
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wie die Sprache innerhalb der Sprache, wie die Gebrauchs- und
Kommunikationsformen in der Poesie aufgehoben und trans-
formiert werden können, mehr noch, wie aufgrund dessen die
Erfahrung eines „ICHs“ vermittelt werden kann, „das in wun-
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derbarer Weise dem Ich überlegen ist.“ (a.a.O. S. 228)


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Mindestens in diesem Punkt begegnet der späte Gottfried


Benn, den Dieter Wellershoff als „Phänotyp dieser Stunde“
bezeichnet hat, dem Franzosen Valéry. Denn in seinem Vor-
trag „Probleme der Lyrik“ von 1951, der schnell zum Schlüs-
seltext der Nachkriegspoetologie aufgestiegen ist und eine gan-
ze Reihe von Lyrikern (Höllerer, Lehmann, Krolow, vielleicht
sogar noch R. D. Brinkmann) maßgeblich beeinflußt hat, ent-
wirft Benn das Programm einer absoluten Lyrik, die – paradox
genug – einerseits artistisch und statisch ausschaut, anderer-
seits damit aber ein beredter Ausdruck ihrer Zeit sein soll. Ja,
Benn spricht davon, daß diese neue Lyrik, dieses Kunstpro-
dukt, das geradezu die Male seines Gemacht- bzw. Hergestellt-
seins offen ausstellt und daher anders als die geschliffene Ro-
manprosa geartet ist, „die Probleme der Zeit, der Kunst, der
inneren Grundlagen unserer Existenz“ enthüllt. (vgl. Benn:
GW 4. S. 1065) Zu den Warntafeln, die Benn entlang der Ge-
schichte der traditionellen Lyrik als dem – mit Hegel – Aus-
druck des Ichs und einer inneren Befindlichkeit aufstellt, er-
klärt er dann das sogenannte Andichten, den Gebrauch des
Wie sowie die Farbenskala und den seraphischen Ton. Tauch-
ten diese in der neuen Lyrik, in der Moderne, auf, solle man
sich hüten. Das Gedicht, das Benn statt dessen fordert und das
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 221

er theoretisch zu begründen versucht, ist das Ergebnis eines


existentiellen Ausdruckszwangs. Es ist zwar hergestellt, erar-
beitet in mühevollen Schritten, oft nach langer (Inkubations-)
Zeit, ist aber nicht am vorgängigen lyrischen Formenkanon
orientiert. Benn bemüht dabei ein Bild aus der griechischen
Mythologie: „ein Gedicht ist wie das Schiff der Phäaken, von
dem Homer erzählt, daß es ohne Steuermann geradeaus in den
Hafen fährt.“ (Benn a.a.O. S. 1071) Pointierter noch, das „Rät-
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selhafte“ des Gedichts benennend: „das Gedicht ist schon fer-


tig, ehe es begonnen hat, er [der Autor, W. J.] weiß nur seinen
Text noch nicht.“ (ebd.)
Benn beschreibt hierin ein undeutliches Zusammenspiel aus
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Irrationalität und Konstruktion, aus Inspiration und Arbeit. Er


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

möchte die Unverwechselbarkeit und damit Einmaligkeit des


Gedichts demonstrieren, gleichzeitig aber immer wieder auf
die Repräsentativität dieser modernen Lyrik für die Zeitläufte
abheben. Im letzten Drittel des Textes grundiert er dann seine
Thesen noch durch Anleihen bei Nietzsche und einer skep-
tisch bis nihilistisch gewendeten Lebensphilosophie, wenn er
die Masse, die sogenannte Mitte, dem lyrischen Ich entgegen-
stellt. Während die Masse sich quietistisch beruhigt, nimmt
sich das lyrische Ich der Probleme dieser Welt an. Und diese
kulminieren – vielleicht schlägt das die Brücke wieder zurück
zum jungen Benn und zur ganzen expressionistischen Genera-
tion – in der Zerrissenheit, einer Welt ohne Versöhnung, Har-
monie und Ausgleich und einer gespaltenen Persönlichkeit.
Daher, so Benn resümierend, „kommt das Gedicht, das viel-
leicht eine dieser zerrissenen Stunden sammelt –: das absolute
Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoff-
nung, das Gedicht an niemanden gerichtet, das Gedicht aus
Worten, […].“ (a.a.O. S. 1088)
Dieserart ist es tatsächlich Ausdruck, einzig angemessener
noch, seiner Zeit, ersetzt es die Philosophie und die Wissen-
schaften, jenes diskursive Denken, das Geschlossenheit sugge-
riert, wo nurmehr Bruchstücke vorliegen. In der Kommunika-
222 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

tion erkennt Benn nur eine ontologische Leere, das Gespräch


verkommt ihm zum „Sesselgemurmel“. In die Tiefe dringt da-
gegen einzig die moderne Lyrik vor ( „in der Tiefe ist ruhelos
das Andere, das uns machte, das wir aber nicht sehen“ [a.a.O.
S. 1093]), um dort auf das Kardinalproblem zu stoßen: die
Einsamkeit. Hier könnte schließlich dann auch noch oder
schon wieder die Aktualität Benns, seiner Lyrik wie auch der
späten theoretischen Äußerungen liegen, was Dieter Wellers-
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hoff prägnant zum Ausdruck gebracht hat: „Ich glaube, daß


die pessimistische, nihilistische Grundstimmung seines Werkes
heute weit verbreiteten Stimmungen vor allem in den jüngeren
Generationen entgegenkommt.“ 10 In jedem Fall muß Benns
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Marburger Vortrag, den Hans Bender später einmal als Ars


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Poetica für die jüngere Generation bezeichnet hat, als ebenso


in die Weite wie Tiefe wirkende Poetik von enormer Strahl-
kraft verstanden werden, was Peter Uwe Hohendahl in einem
Aufsatz anhand einer Reihe von poetologischen Reflexionen,
Essays, Aufsätzen und Vorträgen seit den 50er Jahren bis in
die Zeit der Neuen Subjektivität deutlich zu machen verstan-
den hat. Das liegt nicht zuletzt gewiß an der eigentümlichen
Eklektik der Bennschen Position, an einer Amalgamierung un-
terschiedlichster Standpunkte der europäischen Moderne unter
Einschluß bestimmter Traditionen (die romantische Inspira-
tionslehre etwa), was wie auch immer kryptische Anschlußstel-
len bei den Jüngeren – bei den kritischen (Enzensberger) eben-
so wie bei den Apologeten – zuläßt. Innerhalb des Prozesses
eines Übergangs von der Moderne zur Postmoderne jedenfalls,
so schließt Hohendahl seinen Aufsatz, „blieb Benns Theorie
als Ferment der Diskussion wirksam.“ 11

10
Wellershoff, Dieter, Gottfried Benn, Phänotyp dieser Stunde,
Köln 1986, S. 14.
11
Hohendahl, Peter Uwe, Gottfried Benns Poetik und die deutsche
Lyriktheorie nach 1945, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesell-
schaft, 24, 1980, S. 398.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 223

1900 hielt der damalige Student James Joyce am University


College von Dublin den Vortrag „Drama und Leben“. Darin
heißt es u.a.:
Sicher, das Leben ist heute oft nur ein trauriges Einerlei. Viele
denken wie der Franzose, daß sie zu spät in eine zu alte Welt ge-
boren wurden, wobei ihr hoffnungsloser und schlapper Un-Hero-
ismus stets unerbittlich auf ein letztes Nichts, eine ungeheure Ver-
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geblichkeit verweist, und bis dahin – auf das Tragen von Lasten.
Epische Blutrunst ist durch umsichtige Polizeiüberwachung un-
möglich gemacht, und die Ritterlichkeit ist von den Modeorakeln
der Boulevards umgebracht worden. Es rasseln keine Rüstungen
mehr, kein Nimbus ist um den Edelmut, kein Hüteschwenken,
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kein Bramarbasieren!12
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Die Zeit ist der Kunst insgesamt ungünstig, und am schlimm-


sten ist es dabei noch um die Dramatik bestellt. Wo alles
rechtsförmig geordnet und institutionell geregelt, Komplexität
zur Übersichtlichkeit ausdifferenzierter Funktionsträger zu-
rechtgestutzt worden ist, da bleibt kein Platz mehr für Heroen
und tragische Schicksale, für ein dramatisch auf die Spitze ge-
triebenes Leben. Wenige Jahre später hat der ebenfalls noch
jugendliche Georg Lukács in einer kompendiösen, von stupen-
der Belesenheit zeugenden Monographie über die „Entwick-
lungsgeschichte des modernen Dramas“ mit philosophischem
wie soziologischem Scharfsinn und feinem literarischen Ge-
spür die Unmöglichkeit einer explizit bürgerlichen Dramatik –
aus den bekannten geschichtsphilosophischen Gründen über
das Wesen der kapitalistischen Moderne – belegt. Und allem
Anschein nach zieht Gottfried Benn, auf den ich hier nun
letztmals zurückkomme, nur die radikale Konsequenz, wenn es
in seiner autobiographischen Schrift „Doppelleben“ (1950)
über den „Stil der Zukunft“ heißt, daß er „der Roboterstil sein
[wird], Montagekunst.“

12
Joyce, James, Kritische Schriften, Frankfurt/M. 1973, S. 26.
224 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie,


Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger.
Das Getue in den Romanen, als ob es an sich weiterginge und et-
was geschähe, mit dem altmodischen Begriff des Schicksals oder
dem neumodischen einer autochthonen gesellschaftlichen Bewe-
gung, ist Unfug, es geht nicht an sich weiter und es geschieht
nichts, der Mensch stockt und arbeitet – der Künstler ist es, der
weiter muß, sammelt, gruppiert – ländlich-großväterlich mit Hilfe
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von zeitlich-räumlichen Kategorien, aktuell-neurotisch durch ab-


solute transzendentale Schwerpunktbildungen, Fesselungen, Dreh-
punktskonstituierungen – nur so schafft er etwas jenseits von Re-
lationen und Ambivalenz. (Benn: GW 8. S. 2028 )
Wenn der Roman, die bürgerliche Gattung par excellence,
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schon ausgedient hat, mindestens in seiner traditionellen Form,


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

was mag da überhaupt noch für die Dramatik übrigbleiben? So


problematisch und insgesamt widersprüchlich Benns theoreti-
sche Einlassungen auch klingen, mindestens hat er den Finger
auf den wunden Punkt gelegt. Denn ist nicht die gesamte
moderne Romanprosa ein einziger angestrengt-anstrengender
Versuch, über die Zurichtungen des Subjekts, über Substanz-
und Geltungsverluste jedweder Art zu berichten? Prousts Be-
schwörungen der Vergangenheit, Joyces Kleinarbeiten kruder
Alltäglichkeiten, Musils ironische Digressionen über Eigen-
schaftslosigkeit und Seinesgleichen, selbst noch Heimito von
Doderers Opus maximum „Die Dämonen“, worin über alles
und jeden, von dickleibigen Damen bei ihrem nachmittägli-
chen Einfall in Wiener Kaffeehäuser bis zu ermüdenden Erb-
schaftsangelegenheiten berichtet und im Grunde nur ständig
über nichts Bestimmtes, aber dies mit der geradezu notori-
schen Reflexion des Erzählers über die Unmöglichkeit des Er-
zählens gehandelt wird. Unter dem Strich schaut immer wieder
dasselbe Resultat heraus: schlechte Zeiten fürs Erzählen.
Doch wie ist es ums Drama bestellt?
Zunächst einmal springt unmittelbar in die Augen, daß die
moderne Dramatik hochreflektiert ist, daß moderne Autoren
ein überaus differenziertes Verhältnis zur Bühne haben und ei-
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 225

nige, wie Brecht, Artaud, Ionesco oder Sartre, mit einer eige-
nen Theorie und Programmatik aufgetreten sind. Im Vor-
dergrund der Überlegungen, ausgelöst durch Diskussionen
im Umfeld von Brechts ästhetisch-theoretischen, Erwin Pis-
cators technisch-praktischen Theaterkonzepten, rangiert die
Frage nach den grundsätzlichen Möglichkeiten der Abbild-
barkeit von etwas Außerkünstlerischem. Brecht (als guter
Marxist) geht nicht nur von der Komplexität der modernen
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bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aus, sondern darüber


hinaus auch vom Faktum der Entfremdung bzw. Verdingli-
chung der Menschen, was ein illusionistisches Theater, ge-
schult an realistischen Präsentationsweisen, nur affirmieren
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würde. Brecht möchte aber aufklärerisch wirken, möchte sei-


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

ne Zuschauer zum eigenen Nachdenken – zum Mit- und


Weiterdenken – anregen, weshalb er strikt gegen jede Empa-
thie ist und für die größtmögliche Distanz zwischen Zuschau-
er und Bühnengeschehen eintritt. Ähnlichen Überlegungen
wird man bei Volker Braun und Heiner Müller wiederbegeg-
nen. Aber auch Konzepte, die nicht weit genug entfernt ge-
dacht werden müssen von den Intentionen Brechts, wie etwa
das des Theaters der Grausamkeit von Antonin Artaud oder
Eugène Ionescos absurdes Theater (samt seiner milderen Va-
rianten im deutschsprachigen Raum, von Dürrenmatt und
Frisch bis zu Hildesheimer), endlich Becketts Stücke, sie alle
laufen an diesem Punkt wieder zusammen, daß sie die Mittel
der traditionellen Illusionsbühne als untauglich für den Um-
gang mit der modernen Welt und Realität verwerfen, um statt
dessen entweder eine neue, radikale Körperlichkeit (Artaud)
oder eine absolute Künstlichkeit (Ionesco, Beckett) zu insze-
nieren. Man könnte für diese Bemühungen den Brechtschen
Terminus ‚Verfremdung‘ einsetzen, denn um nichts anderes
geht es dem Theater der Moderne wie – später dann auch –
der Postmoderne in seinen verschiedensten Spielarten: um ein
detailliertes dramatisches Porträt seiner Zeit, die freilich nur
modo negativo in den Blick genommen werden, die nur
226 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

durch Entlarvung, Überhöhung, Karikierung ansichtig ge-


macht werden kann.
Brechts Theorien finden sich in einer Reihe von mehr oder
minder kürzeren Essays und Notaten, so etwa in den Texten
„Über eine nichtaristotelische Dramatik“, „Das epische Thea-
ter“ oder im „Kleinen Organon für das Theater“, die sich im
Anschluß an Lessings aufklärerisches Theaterkonzept unter
Zurückweisung freilich des Mitleid-Gedankens für die Ver-
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mittlung rationalen Wissens engagieren. Brecht versteht daher


auch seine eigenen Dramen als „Lehrstücke“, die Erkenntnisse
verbreiten und die Zuschauer zu kompetent urteilenden Rezi-
pienten erziehen möchten. Distanz zur Handlung und zum
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Bühnengeschehen sind gefordert, alle Illusionstechniken, die


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auf eine Einebnung der beiden unterschiedlichen Sphären


Kunst und Realität hinauslaufen, zu verbannen. Brechts Thea-
terkonzept ist antihedonistisch, mindestens insofern als es das
Spiel als Amüsement und bloße Unterhaltung ablehnt. Im Un-
ter- und Hintergrund des Aufklärers steckt bekanntlich immer
der pädagogisch aufgesteifte Zeigefinger; die Demonstration
einer Lehre und die Produktion von Erkenntnissen bestimmen
das Gesamtkonzept. Und Brecht fügt noch hinzu, daß in der
Moderne die Wissenschaften unser Weltbild, im Marxismus
gar: die wissenschaftliche Weltanschauung, entscheidend prä-
gen. Künstlerische Bemühungen – auch und gerade auf der
Bühne –, die dahinter zurückfallen, sind antiquiert. Statt des
Gefühls, des Mitempfindens oder Mitleidens sollen im Zu-
schauerraum die Analyse, Rationalität und klares Urteilen re-
gieren. Die dazu notwendige „Spielweise“ beruht, so erklärt
Brecht, auf dem „Verfremdungseffekt“, worunter er eine sol-
che Abbildung versteht, „die den Gegenstand zwar erkennen,
ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt.“ (Brecht: Versu-
che 12-15. H. 12. S. 124) Brecht weist auf Vorbilder im anti-
ken, mittelalterlichen und sogar asiatischen Theater hin; doch
im Gegensatz zu dieser alten Verfremdung, die insgesamt die
dargestellte Realität als etwas Unabänderliches dem Zuschauer
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 227

vor Augen bringt, versteht sich die neue Technik als eine, die
das Vertraute, das allen Geläufige, fremd macht, um in dieser
Distanz zwischen dem banal Alltäglichen und dem Verfremde-
ten Erkenntnisprozesse, die wieder auf eine Intervention, auf
die praktische Veränderung der Verhältnisse und Zustände
hinauslaufen, zu provozieren. Brecht vergleicht seine Vorstel-
lungen mit dem Verfahren Galileo Galileis, der jenen fremden
Blick auf die bekannten Pendelausschläge eines Kronleuchters
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entwickelte, um dann zu den physikalischen Gesetzmäßigkei-


ten vorzustoßen. „Diesen Blick, so schwierig wie produktiv,
muß das Theater mit seinen Abbildungen des menschlichen
Zusammenlebens provozieren. Es muß sein Publikum wun-
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dern machen, und dies geschieht vermittels einer Technik der


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Verfremdungen des Vertrauten.“ (Brecht a.a.O. S. 125) Mit an-


deren Worten: die Bühne ist so etwas wie ein gesellschaftlicher
Proberaum, auf dem diverse Möglichkeiten ausprobiert wer-
den, ein Simulationsraum, der historische und menschliche Al-
ternativen und Utopien vorführt, der – in Blochschem Sinne –
Tendenzen und Latenzen zur Sache und ins Spiel bringt, die
freilich allererst der kritische Rezipient in seinem Aneignungs-
prozeß schaffen muß. Poetik also als Wirkungspoetik im strik-
testem Sinne, und zwar als solche, die die Funktion der Kunst
im Dienst an der und für die Gesellschaft bzw. für die histori-
sche Weiterentwicklung der Menschheit sieht. Kunst wird also
wieder heteronom bestimmt, Poetik geht oder fällt wieder weit
in ihre eigene Geschichte zurück Das letzte Wort gebührt bei
Brecht nicht der Kunst, sondern der Gesellschaft: es heißt Pra-
xis. „Es ist eine Lust unseres Zeitalters“, schreibt Brecht in der
46. Notiz des „Kleinen Organons für das Theater“, „das so
viele und mannigfache Veränderungen der Natur bewerkstel-
ligt, alles so zu begreifen, daß wir eingreifen können. Da ist
viel im Menschen, sagen wir, da kann viel aus ihm gemacht
werden. Wie er ist, muß er nicht bleiben; nicht nur, wie er ist,
darf er betrachtet werden, sondern auch, wie er sein könnte.
Wir müssen nicht von ihm, sondern auf ihn ausgehen. Das
228 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

heißt aber, daß ich mich nicht einfach an seine Stelle, sondern
ihm gegenüber sitzen muß, uns alle vertretend. Darum muß
das Theater, was es zeigt, verfremden.“ (a.a.O. S. 126, vgl. auch
S. 140) Also noch einmal: Kunst ist Antizipation, Vorschein,
Andeutung von Menschenmöglichem und Menschheitsper-
spektiven, die sich natürlich beim Marxisten Brecht mit der
kommunistischen Utopie einer befreiten Menschheit bzw. –
mit Marx – eines gestalteten Humanismus verbinden. Kunst
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stellt ein Erkenntnisangebot dar, das darauf wartet, von kriti-


schen Rezipienten – proletarischen Intellektuellen in letzter In-
stanz – nicht nur angeeignet, sondern zur Praxis überleitend
weiterverarbeitet zu werden. In diesem Sinne ist Kunst, genau-
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er: sind Drama und Theater eine parteiliche Angelegenheit, um


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

nicht gar zu sagen: Parteiliteratur, wie es Lenin einmal in einem


berühmt-berüchtigten Artikel gefordert hatte. Sie ist engagiert.
Der Begriff des Engagements verbindet dann auch die Posi-
tionen Brechts mit denen Jean-Paul Sartres, dessen politische
Optionen mindestens kurzfristig in ähnliche Richtungen ziel-
ten. Auch Sartre arbeitet wie Brecht (und seine Schüler) am an-
deren Ende ästhetisch-poetologischer Theoriebildung der Mo-
derne. Auch Sartre stellt dabei den Leser in den Vordergrund.
In seinem vielzitierten Essay „Qu’est-ce que la littérature?“
von 1947 geht es um die Beantwortung von drei grundlegen-
den Fragen: Was ist Schreiben? Warum schreibt der Autor?
Für wen schreibt er? – Ausgangspunkt – und das hat viel mit
dem Sartreschen Existenzialismus zu tun – ist wiederum der
Kontingenzschock als tiefe gesellschaftliche Erfahrung des
modernen Menschen. Literatur (ganz allgemein) und näherhin
dann vor allem die Prosa repräsentieren eine Möglichkeit, die-
sen Schock produktiv zu überwinden, denn der Autor produ-
ziert in seinem Text eine kohärente, geschlossene Eigenwelt,
die der Leser im Akt seiner Aneignung wiederum reproduziert.
Indem der Leser mit seiner eigenen Phantasie die fremde Welt
bevölkert, also kreativ wird, sozusagen mitgestaltet, verändert
er sich auch selbst – setzt er, jetzt in politischer Terminologie,
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 229

der Entfremdung etwas Positives entgegen. Auf seiten des


Schriftstellers spricht Sartre davon, daß dessen innerstes Mo-
tiv die Aneignung und Enthüllung der Welt und des Lebens
ist, die als Werke unbedingt mit dem Leser kommunizieren
wollen ( „Das Kunstwerk ist Wert, weil es Appell ist.“ [Sartre:
GW. SL 2. S. 43] ). Kunst, so Sartre weiter, gebe es „nur für
und durch andere“ (a.a.O. S. 39), weshalb er auch die Lektüre
als „gesteuertes Schaffen“ (a.a.O. S. 40) bezeichnen kann.
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Und als Endziel projektiert er die Vereinnahmung der Welt


durch die Kunst: „das ist das Endziel der Kunst: diese Welt
vereinnahmen, indem man sie so vorführt, wie sie ist, aber als
wenn sie ihre Quelle in der menschlichen Freiheit hätte.“
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(a.a.O. S. 49) Hier schimmert wieder der alte Aristoteles durch


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

mit seinen Forderungen, die Gesellschaftspraxis nach Maßga-


be ihrer impliziten Möglichkeiten in die mimetische Produk-
tion aufzunehmen. Bei Sartre ist die Überlegung marxistisch-
existenzialistisch gebrochen, insofern zugleich der einzelne
Rezipient als Adressat wie das utopische Fernziel der gemein-
samen Geschichte in den Blick genommen werden. Kunst als
– mit Nietzsche – Stimulans zum Leben, zur Lebenssteige-
rung, aber auch als Motivationsschub zum politisch-prakti-
schen Engagement.
Brechts Theater und Sartres Poetologie stellen zwei Mög-
lichkeiten dar, Kunst und gesellschaftliches Engagement zu-
sammenzudenken, und zwar unter Bedingungen der Moderne
und mit modernen ästhetischen Mitteln. Rückwärtsgewandt er-
scheinen demgegenüber jene stalinistischen Unternehmungen,
die im Konzept des sogenannten „Sozialistischen Realismus“
Kunst auf die Doktrin der Partei und kurzfristiger gesellschaft-
licher Ziele (die Fünfjahrespläne) verpflichten wollten, oder
auch – mit anderen Vorzeichen – die faschistische Ästhetik
mit ihren dümmlichen Ideologemen und Pseudotheorien im
Hintergrund. Hier kommt der Kunst bzw. der Literatur be-
stenfalls eine Steigbügelhalterfunktion zu; sie ist der Auferste-
hungsengel der Geschichte im schlechtesten Sinne, Propagan-
230 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

da und Parole: entweder vom Volk ohne Raum, von der


blonden Bestie und dem tausendjährigen Reich oder vom
Sieg der Produktivkräfte samt des Proletariats und einem
kommunistischen Mekka der Freiheit. Kunst als Waffe, sei’s
im Rassen- oder im Klassenkampf. Unsäglich bleibt das mei-
ste davon allemal, mögen die Autoren auf deutscher Seite
Grimm oder Johst und Vesper, auf sowjetischer Fadejew
oder Gladkow heißen – von den Fortschreibern solcher Posi-
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tionen in den Volksrepubliken nach Ende des II. Weltkriegs


gänzlich zu schweigen. Interessanter sind da Positionen wie
die von Heiner Müller oder Volker Braun, die unter realsozia-
listischen Bedingungen an das Brechtsche Erbe angeknüpft
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und es weiterentwickelt haben, aber auch von Peter Weiss’


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

dokumentarischem Theater in den 60er Jahren, das Fakten-


treue und Engagement im Sinne einer Orientierung am Sozia-
lismus miteinander verbunden hat.
Voraussetzung für das gelungene Engagement ist auf jeden
Fall die nötige Distanz zur Gesellschaft, ist eine Kritik an den
Verhältnissen – die reine Apologie wäre tödlich. Adorno hat
das in die bekannte Formulierung gekleidet: lieber keine Kunst
als sozialistischer Realismus. Gemeint damit ist, daß, wer sich
wie auch immer an die Verhältnisse und den Status quo der
Macht akkomodiert, den für die Kunst notwendigen kritischen
Stachel einbüßt. Heraus kommen Verklärung, Versöhnung
und Verhunzung. Kritische Kunst dagegen, die Distanz wahrt,
um aus dem nötigen Abstand heraus Engagement zu zeigen
und wiederum einzuklagen, entbindet immer ein utopisches
Potential, transzendiert je gegebene Verhältnisse in Richtung
aufs ‚ungelebt Mögliche‘ (Bloch). Von seiten des Künstlers hat
das Albert Camus einmal an einer Stelle seines Großessays
„L’Homme révolté“ von 1951 unter Hinweis auf eine Äuße-
rung van Goghs so skizziert: „Van Gogh schreibt: „Ich glaube
immer mehr, daß man den lieben Gott nicht nach dieser Welt
beurteilen darf. Sie ist eine Studie von ihm, die mißlungen ist.“
Jeder Künstler versucht, diese Studie neu zu machen und ihr
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 231

einen Stil zu geben, der ihr fehlt.“ 13 Man kann dies auch die
Anthropomorphisierungsfunktion der Kunst nennen, mit dem
ungarischen Philosophen Georg Lukács aus dessen großer Äs-
thetik: ihre defetischisierende Wirkung.
Beides, Anthropomorphisierung und Defetischisierung, kann
aber auch noch anders – radikal anders – zur Sprache gebracht
werden. Und zwar in Gestalt der Autonomieästhetik, einer
Form der Autonomie, die in völliger Negativität zur Wirklich-
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keit steht. Nach dem Motto, daß sich nur etwas sagen oder
ausdrücken läßt, indem man davon absieht – sei’s, daß man
schweigt (die hermetische Lyrik Celans), oder, daß man die
Dinge parodiert, verkehrt und ins Absurde treibt ( Beckett,
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Ionesco; Kafkas Prosa).


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

Die radikalste Variante moderner Poetik ist sicherlich dieje-


nige Kafkas, dessen Erzählungen und Romane jegliche Sinn-
konstruktion unterlaufen mit der Konsequenz, daß, weshalb
sie sich als Spielwiese für ständig neue Interpretationsversuche
bewähren, Sinn und Bedeutung überhaupt zur Disposition ste-
hen. Kafkas Lektüre läßt einen verzweifeln, weil man für all
seine Zweifel keinen Lösungsschlüssel angeboten bekommt,
vielmehr noch: weil die verschiedenen Schlüssel, die Kafka
selbst im Subtext seiner Geschichten mitformuliert, allesamt
passen und doch wieder nicht passen. Seine Geschichten und
Romane sind aberwitzig, grotesk, absurd – geradeso wie dann
später auch die Theaterstücke von Beckett oder Ionesco. Dar-
auf hat der Philosoph Günther Anders verschiedentlich hin-
gewiesen, wenn er auf Kafkas verrückte Welt und Becketts
Inversionstechnik zu sprechen kommt: „Das Gesicht der Kaf-
kaschen Welt scheint ver-rückt. Aber Kafka ver-rückt das
scheinbar normale Aussehen unserer ver-rückten Welt, um
ihre Verrücktheit sichtbar zu machen. Dieses verrückte Aus-
sehen behandelt er aber zugleich als etwas völlig Normales;

13
Camus, Albert, Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 207.
232 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

und beschreibt dadurch sogar eben die verrückte Tatsache, daß


die verrückte Welt als normal gilt.“ 14
Was Anders die „Entstellung als Methode“ 15 bei Kafka
nennt, findet in Becketts Inversionstechnik ihre bühnenmäßi-
ge Auferstehung, etwa in „En attendant Godot“, in dessen
sinnloser Parabel vom Menschen Anders „die Parabel vom
sinnlosen Menschen“ erkennt.16 Becketts Stücke – und allen
anderen voran eben sein „Warten auf Godot“ – liest Anders
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als paradigmatische Zeitstücke, die auf umgekehrte Weise


den Zustand unserer modernen Welt anzeigen. Der Realis-
mus wird paradoxiert und jeglicher Sinn ridikülisiert. An die
Stelle vernünftigen Tuns und zielgerichteten Arbeitens tritt
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das bloße Zeittotschlagen, wie Zeit überhaupt im Schlamm


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

purer Gegenwärtigkeit steckenbleibt. Die beiden Protagoni-


sten Wladimir und Estragon sind, so Anders’ Zusammenfas-
sung, zum „Sein ohne Zeit“ verurteilt, worin sie Muster (ohne
Wert) des modernen Alltagsmenschen abgeben – gestrandet
im Hier und Jetzt perennierender Gegenwart ohne Vergan-
genheit und damit Erinnerung und ohne Zukunft und damit
Hoffnung.
Ein anderer Vertreter des absurden Theaters ist Eugène
Ionesco, der sich auch theoretisch über seine Dramenproduk-
tion geäußert hat. Mit eindeutiger Stoßrichtung gegen Sartre
und Brecht plädiert Ionesco in seinem Essay „Ganz einfache
Gedanken über das Theater“ von 1958 für das Absurde, wor-
unter er bewußt hervorgekehrte Kunstgriffe – Ionescos Fas-
zination für die Mechanik des Puppentheaters – versteht,
die den Charakter des Mimetischen und der psychologischen
Illusion von Grund auf zerstören. Er fordert die parodisti-
sche Übertreibung, das Burleske, die übertriebene Komik.

14
Anders, Günther, Kafka pro und contra, München 1972, S. 9.
15
Vgl. Anders ebd.
16
Vgl. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde.,
München 1980, Bd. 1, S. 215.
IX. Poetiken – am Ende ohne Ende? 233

„Alles bis zum Paroxysmus treiben, dahin, wo sich die Quellen


des Tragischen öffnen.“ (zit. nach Allemann a.a.O. S. 427)
Zentrale Kategorie von Ionesco ist das Unerträgliche, was
dann zugleich die Tradition deutlich macht, in die er sich be-
wußt stellt.
Bereits in Antonin Artauds Aufsatzsammlung von 1938 „Le
Théatre et son Double“ ist im Anschluß an den Surrealismus
von einem Theater des Unerhörten und Ungehörigen die Re-
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de. Artaud selbst spricht vom Theater der Grausamkeit, wor-


unter er ein schwieriges Theater versteht, das für alle Beteilig-
ten, Schauspieler wie Zuschauer, mit erheblichen Belastungen
und Zumutungen verbunden ist, weil in rasanten, blutigen Bil-
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derfolgen keine dramatischen Handlungen abrollen, sondern


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

insgesamt die exzentrische Position des Menschen – also die


gesamte abendländische Metaphysik – in Frage steht. Artaud
wie nach ihm auch Ionesco, die Theaterpraxis des Living
Theatre oder des Théatre du Soleil wollen den Sinn exorzieren,
Gewißheiten und Traditionen der Kunst wie der Lebenspraxis
erschüttern und die Mimesis austreiben. Artaud, so faßt es ein
Lexikonartikel zusammen, „schwebt ein magisches, ein meta-
physisches Theater vor, das durch seine sinnlich wahrnehmba-
re Semiotik, durch ein neues, komplexeres „Alphabet“ der den
Zuschauer einbeziehenden Spielstätte auf ein Unsagbares ver-
weisen soll: „In dem Zustand, in dem wir uns gegenwärtig be-
finden, muß man die Metaphysik durch die Haut in den Geist
eintreiben.“ 17 Artaud möchte den modernen Menschen an ar-
chaische Muster und Bilder erinnern, die hart unter der Ober-
fläche unserer abendländischen Zivilisation liegen. Funktion
dieses Theaters der Grausamkeit ist es daher, wie Peter Bürger
schreibt, den Zuschauern zu ermöglichen, „die eigenen Ag-

17
Coenen-Mennemeier, Brigitta, Artikel „Le Théatre et son Double“,
in: Lexikon literaturtheoretischer Werke, ( Hg.) Rolf Günter Ren-
ner und Engelbert Habekost, Stuttgart 1995, S. 376.
234 IX. Poetiken – am Ende ohne Ende?

gressionen auszuagieren.“ Artaud, so Bürger weiter, trete „für


kollektive Exzesse der Triebentladung ein.“ 18
Engagement und Autonomie bzw. Desengagement – zwi-
schen diesen beiden Polen oszilliert die moderne Poetik hin
und her. Mit Erkenntnissen sind beide Positionen dennoch
verbunden, mit Erkenntnissen über den Zustand der moder-
nen, in der Regel (und bis auf weiteres wohl) bürgerlich-kapi-
talistischen Gesellschaft und der Befindlichkeit des Einzelsub-
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jekts zumal, die entweder demonstrativ zur Schau gestellt oder


vielmehr antithetisch konterkariert werden. Und der Pendel-
ausschlag erfolgt in allen bekannten Gattungen: die Lyrik kennt
ebenso das politische Gedicht, den Song und den Agitprop
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wie die verschwiegene, im Verstummen endende Hermetik; in


IX. Poetiken – am Ende ohne Ende, 9783838529370, 2020

der Prosa des 20. Jahrhunderts zeigt sich genauso der Zeit-
roman von realistisch-naturalistischem Zuschnitt mit Beken-
nerton wie auch ein Orte und Zeiten sprengender Ästhetizis-
mus; das Theater inszeniert ebenso die Bewußtseinsschulung
wie die Entfesselung der Sinnlichkeit, setzt auf den Aspekt der
moralisch-politischen Schulung wie auf den einer Körperlich-
keit und puren Präsenz.
‚Il faut être absolument moderne‘ – das zumindest. Und das
heißt dann, noch einmal: Kritik an bzw. Skepsis gegenüber tra-
ditionellen (Glaubens-)Gewißheiten wie denen von der Unver-
wechselbarkeit und Authentizität des Individuums, von der
Selbstverständlichkeit von Lebenswelten, von der transzenden-
talen Geborgenheit, vom Glück und vom Fortschritt, vom
Sieg der Vernunft und überhaupt von der Vernunft und Ver-
nünftigkeit in der Wirklichkeit.

18
Bürger, Peter, Prosa der Moderne, Frankfurt/M. 1988, S. 249 u.
251.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden

Die amerikanischen Autoren haben es leichter. Auf die Frage


‚warum schreiben?‘ antwortet Paul Auster beispielsweise mit
dem Erzählen von Geschichten. Statt angestrengter wie an-
strengender Reflexionen grundsätzlicher Art ein schlichtes Fa-
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bulieren; Alltagsbanalitäten ( bei Nicholson Baker), aber auch


völlig abgedrehte Phantasien (bei Bret Easton Ellis) geben sich
in der neueren amerikanischen Erzählliteratur ein munteres
Stelldichein. Es gibt noch etwas zu erzählen, und der Fundus
ist schier unerschöpflich. Alles, was man braucht, ist „etwas
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zum Schreiben in der Tasche.“ Denn „wenn man was zum


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

Schreiben in der Tasche hat“, weiß Auster zu berichten, „ste-


hen die Chancen nicht schlecht, daß man sich eines Tages ver-
sucht fühlen wird, es auch zu benutzen.“ 1
Der Blick kehrt zurück in die heimischen Gefilde unserer
deutschen Literatur. Finster schaut es hier aus, trostlos. Daß
man aus Eigenem Eigenes bauen müsse, weiß man bereits seit
frühromantischen Zeiten. Normen sind Muster ohne Wert.
Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, nach dorthin, wo
das Subjekt ganz bei sich ist – aber seit längerem schon nichts
mehr vernimmt. Die innere Stimme klingt brüchig, hohl und
repetiert allenfalls Krisengesänge. Von den ‚ausgebrannten Le-
bensprofis‘ (Nicolas Born) der ‚Neuen Subjektivität‘ ist nicht
einmal mehr der Schwanengesang auf die Zeit des hohen Mit-
tags der Bewegungen übriggeblieben. Allen sind die Geschich-
ten ausgegangen, und selbst noch die Leidens- und Krisenge-
schichten (Zorns „Mars“ etwa) sind mit dem Ende des Ichs zu
Grabe getragen worden. Denn das ich ist nicht, Individualität
ist zum Divisum (G. Anders) bzw. zur ‚multiplen Persönlich-
keit‘ oder zur Baukastenexistenz ‚geswitcht‘. Ganz zerrissen im
1
Auster, Paul, Warum schreiben?, in: Süddeutsche Zeitung,
12.6.1996, Beilage zu Nr. 133, S. I.
236 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

Hier und Jetzt. Wo Gefahr ist, wächst längst kein Rettendes


mehr, sondern verschärft sich nur die Krise. Der wirkliche
Verlierer der anhaltenden Modernisierung, wie immer man die-
se soziologisch, sozialpsychologisch oder kulturphilosophisch
beschreiben mag, ist das Subjekt. Aber ist dies nicht selbst von
Anfang an schon immer ein gigantisches Truggebilde, ein
Wahn, gewesen? Hier stehe ich, denkt, sagt, schreibt das Sub-
jekt und weiß nicht weiter. Ich muß mir das Leben und mein
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Leben erzählen – aber wie?


Vor einigen Jahren haben wir einen kurzen Sturm im Was-
serglas erlebt. Kernpunkt war die vermeintliche Langeweile der
bundesdeutschen Literatur im Vergleich etwa zur angloameri-
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kanischen oder lateinamerikanischen Szene. Für und wider den


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

mißverstandenen Realismus stritt man da: Realismus als die


„absolute Grundvoraussetzung der Literatur“ (Maxim Biller) 2
oder als leere Worthülse (Thomas Hettche) 3? Falsch. Die Pro-
bleme liegen woanders, nämlich tiefer, sind aber an der Ober-
fläche gut beobachtbar. Sichtbar ist die stationär gewordene
Krise der modernen Gesellschaft samt ihrer Verlierer. Die Pa-
thologie der Moderne läßt keine stabilen Identitäten mehr
aufkommen, zumal solche, die narrativ fixiert werden, son-
dern erzeugt fragmentarische Wesen, eben Baukastenexisten-
zen, die mehr oder minder eklektisch, immer aus zweiter
Hand ihre Überlebensmodelle zusammenbasteln. Nichts Neu-
es unter der Sonne und dem Regen der BRD. Ewig kreiselt
sich der Kreisler in seinen Kreisen. Die Abenteuer sind von
der Prosa der Verhältnisse zur Strecke gebracht worden. Li-
nearität und Zyklik heißen die Zeittakte und -maße innerhalb
unserer ordentlich geregelten Alltagswelt. Wenn es da nicht
ab und an jene kleinen Glücksmomente gäbe: Ekstasen des
2
Biller, Maxim, Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel, zit.
nach: Deutsche Literatur 1992, Jahresrückblick, (Hg.) Franz Josef
Görtz u.a., Stuttgart 1993, S. 288.
3
Vgl. Hettche, Thomas, Always ultra, zit. nach: Deutsche Literatur
1992, a.a.O. S. 298.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 237

Augenblicks, Momente der Unterbrechung, Aufhebungen der


Zeit in der Zeit.
Der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino spricht gar
vom „Biographieverzicht der Menschen in der Moderne“ und
davon, daß es „nicht mehr darum gehen“ kann, „irgendeine
abenteuerliche Biographie zu konstruieren.“ 4 Auch die Poesie
des Herzens ist erkaltet, und die Rivalitäten zwischen dem Eige-
nen und dem Fremden in jedweder Gestalt, schließlich die frü-
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here Dialektik zwischen den Spielpartnern Subjekt und Objekt


erzeugen keinen Spannungsbogen mehr, der die Konstruktion
eines (historischen) Romans trüge. Die Welt – mindestens in
unseren saturierten westeuropäischen Breitengraden – und ihre
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ideologisch formierten Anschauungen sind heute schlichteren


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

Mustern gewichen: Wahrnehmungen in postmodernem Sinne


und Rückgriffen auf die antike ‚aisthesis‘ oder Beobachtungen
von Beobachtungen.
Die Literatur reagiert auf diese Herausforderung verstört,
gereizt, auf keinen Fall gelassen. Die Resultate des Nachden-
kens über den eigenen Stand und Zustand des Schreibens wie
des gesamten Subsystems Literatur lassen sich an einer Viel-
zahl poetologischer Selbstreflexionen überprüfen. Wenn es
schon seit den frühromantischen Tagen der Schlegel, Tieck
und Novalis unumgänglich ist, aus Eigenem Eigenes zu bauen,
dann ist eine Konsequenz daraus – und auch das hat Friedrich
Schlegel bereits hellsichtig erkannt und als den geradezu zwang-
haften „Hang zum Nachdenken“ bezeichnet –, sein eigenes
poetologisches Credo abzulegen. In der historischen Weiter-
entwicklung ergibt das am Ende jene liebenswert anachronisti-
schen institutionellen Versuche wie Poetikdozenturen und
-professuren; aber auch Laudationes oder Festreden anläßlich

4
Genazino, Wilhelm, Die Botschaft des Unscheinbaren, Gespräch
mit Wilhelm Genazino, in: neue deutsche literatur, H. 3, 1995,
S. 101. Die Zusammenfassung seiner poetologischen Überzeugun-
gen liefert auch Genazinos Band: Die Belebung der toten Winkel,
Frankfurter Poetikvorlesungen, München-Wien 2006.
238 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

von Preisverleihungen (etwa die berühmten Büchner-Preis-


reden) sowie theoretische Ein- und Auslassungen in essayisti-
scher Manier müssen hier dazugezählt werden. Je mehr in die
Brüche geht, umso stärker verspürt man/frau diesen Zwang,
nachdenkend das eigene schriftstellerische Tun zu verstehen.
Ob das möglicherweise der „Ausdifferenzierung des Kunstsy-
stems“ (N. Luhmann) geschuldet ist, damit also dem Faktum,
daß an die Stelle verbindlicher Orientierungen, Normen und
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Werte (auch in Ästhetik und Poetik) das unbehauste Ich getre-


ten ist, das sich nun seinen poetologischen Unterstand – um
nicht von der früher so benannten ‚transzendentalen Heimat‘
zu sprechen – selbst entwerfen muß?
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Motti für Schriftsteller: „Denk viel. Lies viel. Schreib viel.


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

Äußere dich zu allem, aber schweigend.“ Oder so: „Erkläre nichts.


Stell es hin. Sag’s. Verschwinde.“ ( Elias Canetti) 5 Ganz im Sin-
ne Friedrich Schlegels: Behaupten sei schwerer als beweisen.
Aber was? Dasjenige, was die „Schürfarbeit“ des Schreibens,
„bei welcher sogar etwas gefunden werden kann, von dem nie-
mand wußte, daß es es gibt“ (Hans Joachim Schädlich) 6, her-
aufbefördert.
Betrachten wir in der Folge verschiedene dieser Fördertech-
niken.

Für viele Autoren ist sie die entscheidende Frage überhaupt:


Hat Literatur eine Wirkung oder nicht? Die Extreme berühren
sich. Elfriede Jelinek etwa, Radikalfeministin und gewesene So-
zialistin, bestreitet ihr jegliche Wirkung im Blick auf die Verän-
derung der Leser: „Ich habe den Anspruch aufgegeben, durch
literarisches Schreiben auf eine breite Masse verändernd ein-
5
Canetti, Elias, Das Geheimherz der Uhr, Aufzeichnungen 1973 bis
1985, Frankfurt/M. 1990, S. 88 u. 148.
6
Schädlich, Hans Joachim, Vom Erzählen erzählen, in: Ders., Über
Dreck, Politik und Literatur, Berlin 1992, S. 56.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 239

wirken zu wollen.“ Weiter: „Mit Literatur kann man nichts ver-


ändern.“ 7 Diametral entgegengesetzt klingt F. C. Delius’, wie
er selbst formuliert, „altmodische[s] Vertrauen auf eine wie im-
mer begrenzte, minimale Wirkung von Literatur und Argu-
ment.“ 8 Wolfgang Hilbig sekundiert, wenn er sein Schreiben
als Möglichkeit der Intervention und der Beeinflussung von
Lesern versteht, sich jedenfalls gegen den „schwindende[n] Ein-
fluß der Literatur“ stemmt. Hilbigs Vorschlag dazu: „die einzi-
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ge Rettung, die uns bleibt, heißt Verantwortung zu überneh-


men.“ 9 Und wofür? Für eine arg zerschundene, in den Medien
verzerrte Sprache – modo negativo: die Schriftsteller müssen
gegen den Sprachmüll, gegen ideologische Überformungen
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und Verblendungen antreten. Da hört man dann nicht zuletzt


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

immer wieder die Stimme des DDR-Autors heraus und ein


Anliegen, das so unterschiedliche Typen wie Hans Joachim
Schädlich oder Reinhard Jirgl durchaus mit Wolfgang Hilbig
zu vereinen weiß.
„Was ist erzählenswert? Und worauf laufen erzählenswerte
Geschichten hinaus?“ (Ludwig Harig) 10 Wo soll man ansetzen,
was ist mitteilungswürdig? Die Entscheidung darüber fällt
nicht nur das Alter, wiewohl es sicherlich mit der Wahl von
Präferenzen zusammenhängt, sondern hat mit den Traditionen
zu tun, in denen man sich verorten kann. Und diese können
durchaus querstehen zu den Generationen. So fühlen sich etwa
Dieter Wellershoff, Ludwig Harig und noch Hermann Lenz in
7
Jelinek, Elfriede, Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: neue deutsche
literatur, H. 3, 1991, S. 46f.
8
Delius, F. C., Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich im-
mer noch kein Zyniker bin, Berlin 1996, S. 9.
9
Hilbig, Wolfgang, Abriss der Kritik, Frankfurt/M. 1995, S. 83.
10
Harig, Ludwig, Die Hortensien der Frau von Roselius, Eine No-
velle, München 1992, S. 140. – Einen guten Überblick über Lud-
wig Harigs poetologische Überzeugungen bietet der achte Band
der Werkausgabe: Ludwig Harig, Wer schreibt, der bleibt, Essays
und Reden, (Hg.) Werner Jung, München-Wien 2004.
240 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

dem Punkt mit Angehörigen der mittleren und jüngeren Gene-


rationen wie Uwe Timm und F. C. Delius oder Burkhard Spin-
nen und Maxim Biller einig, daß Literatur sich – wie gebrochen
auch immer – auf eine außerliterarische Realität bezieht, daß
sie – wie verfremdet auch immer – mimetische Potentiale frei-
legt und im Leser – günstigenfalls – Anregungen zum Weiter-
denken, sollte man nicht gar sagen: zu Erkenntnissen stimu-
liert. Auf der anderen Seite, der noch weit unübersichtlicheren
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der Postmoderne (und anderer Ismen), erzielen Schriftsteller


von den genannten Hilbig, Schädlich und Jirgl über Genazino,
Brigitte Kronauer, Hermann Burger und Bodo Kirchhoff bis
– sagen wir einmal – Dagmar Leupold oder Dirk von Peters-
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dorff darüber Einigkeit, daß man Geschichten nicht mehr er-


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

zählen kann, die Teleologie in die Brüche gegangen ist und be-
stenfalls perspektivische Ausschnitte, also Sehweisen, geboten
werden können. Um es mit der Schlichtheit des Youngsters
von Petersdorff, aber zugleich mit der doch notwendigen Deut-
lichkeit auszudrücken: die Rollen- bzw. Textbücher der Groß-
väter und Väter haben ausgespielt. „Ich bin“, sagt v. Peters-
dorff, „keine Figur in einer großen Geschichte, in der ich eine
Rolle hätte, ein Textbuch, eine Fahne, ein Kostüm und Farbe
im Gesicht. Auch ich selbst bin keine Geschichte. Denn die
Psychologie ist tot, und der Existentialismus ist auch tot. Ge-
blieben sind: Atemtherapie, Urschrei, Rebirthing. Es liegt mir
fern, diese Situation nach dem Zusammenbruch großer Sinn-
konstruktionen zu heroisieren.“ Im Blick auf das literarische
Szenario heißt es dann weiter: „Die Geschichten sind zu Ende,
die Figuren gehen umher, unsicher, mit schlaksigen Sätzen,
steif, stolpern dann und wann. Und schauen verwundert um-
her. Ohne Textbuch, Fahne, Schminke im Gesicht.“ 11 Was ist
noch des Berichtens wert?

11
v. Petersdorff, Dirk, Bekenntnisse, in: Roman oder Leben, Post-
moderne in der deutschen Literatur, ( Hg.) Uwe Wittstock, Leipzig
1994, S. 308.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 241

Erinnerung an Geschichte, Geschichten aus der Erinnerung


– so könnte man vor bzw. über das Werk und die poetologi-
schen Reflexionen von Wellershoff, Harig oder Lenz setzen.
Ob sich das in kritischer Weiterschreibung der Positionen
der Gruppe 47, ob auf Verweise auf Traditionen des frühen
und mittleren 19. Jahrhunderts oder gar mit Anspielungen
auf Humorkonzepte verbindet, spielt zunächst keine Rolle.
Erzählt werden in allen Fällen Geschichten – Fallgeschichten,
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wie Wellershoffs Illustrationen zu einer Psychopathologie des


(bürgerlichen oder unbürgerlichen) Alltagslebens, oder Ge-
schichtsfälle, wie der des Schriftstellers Eugen Rapp in Lenz’
(auto-)biographischen Romanen oder diejenigen aus Harigs
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Romanen und Erzählungen.


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

Realistischer Literatur, wie Dieter Wellershoff sie versteht


und nicht müde wird, in einer Vielzahl poetologischer Selbstre-
flexionen von den frühen 60er bis in die aktuelle Gegenwart
hinein zu analysieren, komme eine ‚Sinnerschließungsfunktion‘
insofern zu, als wir uns der Welt versichern und uns in unser
Leben vertiefen, „indem wir Leben und Welt auf der Bühne
des Textes mit dem ganzen Spielraum ihrer Möglichkeiten,
Spannungen und Differenzen inszenieren.“ 12 Kernbegriffe für
Wellershoff sind ‚Simulationsraum‘ und ‚Probebühne‘; Prosa-
texte vermitteln uns Lebensmöglichkeiten, Alternativsetzun-
gen, die uns entweder Bekanntes fremd erscheinen und damit
neu sehen oder auch Neues und Unvorhergesehenes, andere
Spielmöglichkeiten im Alltag aufscheinen lassen. So oder so je-
denfalls bereichert Literatur dadurch den Leser (aber auch
den Schreibenden) um Erfahrungen, die anders zwar auch zu
gewinnen sind, die Literatur aber sozusagen in einem abge-
kürzten Verfahren und probehalber – eben stellvertretend für
das wirkliche Leben – anbietet. Diese existenzielle Dimension
drückt Wellershoff an einer Stelle seiner Poetik-Vorlesungen
12
Wellershoff, Dieter, Das Schimmern der Schlangenhaut, Frank-
furt/M. 1996, S. 7.
242 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

so aus: die literarischen Modellierungen bringen „die Faktizi-


tät unseres individuellen Lebens ins Schweben“, „indem [sie]
uns die Perspektiven [aufzwingen], im Leben der anderen
Menschen nicht aktualisierte Möglichkeiten unserer Selbst zu
sehen. Neben uns leben andere das, was wir – wären die prä-
genden Bedingungen unserer besonderen Existenz zufällig
etwas anders gemischt gewesen – auch hätten werden kön-
nen.“ 13 In der Zusammenfassung seiner Programmatik heißt
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es ganz am Ende seiner Vorlesungen, Literatur und Leben


existentiell miteinander verknüpfend: „das wahrhaft Phanta-
stische“ ist „das Leben selbst“, und es gibt, „außer individu-
ellen Fluchtimpulsen, keinen Grund“, „sich davon abzuwen-
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den und den Anblick seiner dschungelhaften Dichte, seiner


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

Widersprüche und Unberechenbarkeiten gegen den Schematis-


mus konstruierter Weltmodelle oder die Illusion künstlicher
Paradiese einzutauschen.“ 14
Auch Ludwig Harig setzt wie Wellershoff, von dem die arg
gerügte Formulierung stammt, beim sinnlich konkreten Erfah-
rungsausschnitt an. Doch wo Wellershoff diesen ins Typische
hochrechnet und vom Modellhaften redet, da verläßt sich Ha-
rig lieber auf die Ausschnitte seiner persönlichen Erinnerun-
gen, offeriert er seinen Lesern Ansichten und Einblicke aus
der Erinnerungswerkstatt – ganz auf der Traditionslinie von
Jean Paul und der „Vorschule der Ästhetik“, die an den Stel-
len, wo die Rede auf den Humor kommt, von einem gleicher-
maßen objektiven wie subjektiven Prinzip handelt, was bein-
haltet, daß sich der Autor als Humorist durchaus selbst mit ins
Spiel der Erzählung bringen muß. Doppelt raffiniert ist daher
Harigs Poetik, denn an die Stelle des theoretischen Diskurses
rückt die Erzählung – in diesem Fall eine Novelle –, die stän-
dig durchbrochen wird mit Reminiszenzen an die eigene Erin-
nerung wie mit eingeflochtenen Reflexionen über die Funktion
13
A.a.O. S. 110f.
14
A.a.O. S. 139f.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 243

des Schreibens und Erzählens, mögliche Wirkungen auf den


Leser u.a.m. Harig stellt seine immanente Poetik, die er neben
der Novelle „Die Hortensien der Frau von Roselius“ auch in
einer autobiographischen Romantrilogie sowie in einer Reihe
von anderen Erzählungen entwickelt hat, unter die Begriffe ei-
ner „Arbeit des Erinnerns“ und der „Arbeit des Schreibens“.15
Beide Arbeiten sind wechselseitig aufeinander bezogen, aber es
entsteht am Ende etwas völlig Neues dabei. Die Arbeit des Er-
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innerns nämlich fördert, wenn sie im Akt des Schreibens und


damit notwendigerweise auch der vorgängigen Recherchen
und anhaltenden und nachgängigen Reflexionen freigelegt wird
– Schreiben als Schürfarbeit –, zunächst Unerwartetes zu Tage.
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Die aufgeschriebene Erinnerung fixiert kein Gewesenes, hält


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

keine Fakten fest, sondern vielmehr Interpretationen, Ein-


schätzungen, Werthaltungen gegenüber vermeintlichen Reali-
täten. Schon deshalb, so Harig, empfehlen sich die Bezeich-
nungen literarischer Gattungen Roman, Novelle, Erzählung.
„Erinnerung ist lügnerisch, Ermittlung ist schal.“ 16 Phantasie
ist immer mit am Werk, Assoziationen schießen quer, Verbin-
dungen entstehen plötzlich: im Hinterhof der Sprache treiben
semantische Potentiale samt einer Konnotationenvielfalt ihr
Unwesen. Schreiben – aufschreiben – bedeutet erfinden, lügen,
beziehungsreich übertreiben; es heißt, eine Wirklichkeit zu er-
finden, – postmodern gewendet – zu konstruieren. Literatur,
die Erzählung, ist Konstruktion, wie jedermanns Lebensan-
sicht eine – nämlich seine – Konstruktion von Wirklichkeit ist.
Mit der Unterscheidung freilich, daß die literarische Konstruk-
tion im Gegensatz zum Alltagsbewußtsein dessen eingedenk
bleibt und sie ostentativ ausstellt, d.h. für Harig auch verfah-
rensmäßig, daß er, indem er erzählt, berichtet und sich zu-
gleich als Erzähler – und zwar als Humorist – einschaltet,
kommentierend agiert, sein Verfahren zeigt. Weil es die Wahr-
15
Harig a.a.O. [ Anm. 10 ] S. 9.
16
A.a.O. S. 64.
244 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

heit nicht gibt, muß man sie erfinden, denn nur die erfundene
Wahrheit, so Harigs Schillersches Schlußresümee, macht frei.
Was wäre schließlich ein Humorist wert, wenn er nicht so-
gleich schelmisch hinzufügte: „Ich sage die Wahrheit. Ich lüge
nicht.“ 17
Einerseits wirkt Hermann Lenz altväterlich und betulich,
wie ein Fossil aus der fernen Zeit der großen Erzählungen,
eine Stimme aus dem Land ‚es war einmal‘; andererseits aber
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– und das merkt wohl jeder aufmerksame Leser nach einer


kürzeren Eingewöhnungsphase – spricht da jemand mit durch-
aus gebrochener Persönlichkeit, also doch ein durch und durch
modernes Ich, das von außen scheinbar anhaltlos durch die
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Geschichte driftet und sich mit stoischen Tugenden bewehrt,


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

um ein Bollwerk gegen die zerfetzende Außenwelt zu schaffen.


Und mehr noch. Die Geschichten um Eugen Rapp, wie auch
die vieler anderer Lenzscher Figuren, Außenseiter, Eckenste-
her und ‚underdogs‘ in aller Regel, arbeiten sich an dem gro-
ßen Projekt einer literarischen Alltagsgeschichtsschreibung ab,
daran, wie verschiedene Zeitordnungen und Chronologien,
Muster also einer Kontextualisierung von Zeit, in der Ge-
schichte eines Subjekts zusammenkommen, mithin wie das Ich
sich verschriften kann. Ein Kernpunkt seiner Frankfurter Poe-
tikvorlesungen, die 1986 unter dem programmatischen Titel
„Leben und Schreiben“ erschienen sind, ist die Ansicht, „daß
Geschichte nichts anderes ist als das Geschichtete, das Abgela-
gerte, von dem uns die Erdgeschichte ein deutliches Bild vor
Augen stellt.“ 18 Und abgetragen werden die verschiedenen
Schichten im Prozeß des Schreibens; sie kristallisieren sich
dann wieder im Text aus – aber als kenntlich gemachte, als be-
schriebene. Allerdings, so Lenz’ ständig wiederholte Einschrän-
kung und Relativierung – ein Relativismus im Sinne Georg
Simmels, also nicht aus Opportunismus und intellektueller Be-
17
A.a.O. S. 157.
18
Lenz, Hermann, Leben und Schreiben, Frankfurt/M. 1986, S. 13.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 245

quemlichkeit, sondern geradezu aus besserem Wissen –, könne


man damit nicht die Wirklichkeit feststellen, kein objektives
Bild der Vergangenheit zeichnen, sondern bestenfalls Erinne-
rungsbilder beschreiben. Wie etwas aber wirklich gewesen ist,
weiß man nicht. So lautet schließlich auch Lenz’ tiefste Über-
zeugung – vielleicht die einzige überhaupt, zu der der Relati-
vist, Pessimist und Anhänger von Mark Aurels Selbstbetrach-
tungen in der Lage ist –, daß es keine Objektivität gibt. Nur
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Subjektivität – viele Blicke, eine Unzahl von Möglichkeiten,


Perspektiven und Ansichten. „Deshalb hat jeder recht. Die
Wirklichkeit ist uns zu beliebiger Ausdeutung überlassen, jeder
darf aus ihr machen, was er will, sie zurechtmodeln nach sei-
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nem Geschmack, denn – […] – Objektivität ist nur eine ande-


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

re Form der Subjektivität, halt ein bißchen gedämpfter und


weniger dramatisiert.“ 19
Lenz’ Schreibprojekt als Verlängerung und gleichsam Resul-
tat dieser Überlegungen läßt sich in dessen eigenen Worten so
skizzieren:
Autobiographie und Fiktion schmelzen beim Schreiben ineinan-
der, und deshalb meine ich, alles Geschriebene sei fiktiv, eine er-
fundene Geschichte. Das Leben, während es gelebt wird, hat für
jeden, der mit einem anderen Menschen aufwächst oder zusam-
menlebt, eine ganz und gar andere Gestalt. Schreibt einer etwas
auf, das von früher erzählt, so wird, auch wenn sich der Schreiber
darum bemüht, sein Erinnerungsbild so präzis wie möglich zu fi-
xieren, jeder, der ihn kennt oder für längere Zeit gekannt hat, sa-
gen: Das war doch alles da und dort ganz, ziemlich oder ein biß-
chen anders. Und also gibt es keine ‚objektive Wirklichkeit.‘ 20
Man versteht jetzt leichter, worin die Modernität von Her-
mann Lenz liegt und weshalb er – ausgehend von Peter Hand-
ke – eine gewisse Attraktivität für postmoderne Autoren ( wie
z.B. Hanns-Josef Ortheil) gewonnen hat. Legt man der Lenz-
19
A.a.O. S. 82.
20
A.a.O. S. 95.
246 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

schen Poetik z.B. die Bände über Eugen Rapps Lebensweg


samt Vorgeschichte zugrunde, so handelt es sich dabei um
‚Suchbewegungen‘ eines Ich, das sich in monomanischer Selbst-
befragung (= In-Frage-Stellung) bemüht, seinen Platz in der
Geschichte zu finden. Geschichten nutzt Lenz dazu, um die
verschiedenen Schichten freizulegen – nur auf einen Kern
stößt man dabei nie. Identität – und zwar eine stabile – exi-
stiert nicht, nie und nimmer. Beunruhigend das alles. Bloß an
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die Stelle der hier möglichen Verrücktheit, des Zerbrechens


oder des Pathologischen, auch der gestörten, multiplen Per-
sönlichkeit rückt Hermann Lenz alteuropäisches Gedankengut,
was wieder, wenn man denn will, beruhigen mag: stoische
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Ideale, antikes Maßhalten, Lektüren, Naturerlebnisse. Schluß-


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

endlich ist er auch in diesem Punkt modern – moderner jeden-


falls, scheint mir, als Peter Handke –, denn Lenz vermittelt kei-
ne Lehren. Hier kündet kein Weiser, Priester oder Seher eine
frohe Botschaft, sondern verschriftet ein Schriftsteller die vie-
len verschlungenen Umwege – Heideggers Holzwege – des Ich.
Ich bin mir nicht sicher, ob es nur Nuancen sind, die Her-
mann Lenz vom Schweizer Hermann Burger trennen, Unter-
schiede, die vielleicht den Generationenabstand – Lenz ist
Jahrgang 1913, Burger 1942 – markieren, oder aber ob ganze
Welten dazwischenliegen. Auch Burger spricht wie Lenz von
Konstruktion und Erfindung, redet wie Wellershoff davon,
daß die Literatur uns die Welt mit anderen Augen sehen läßt
und überhaupt auf den Leser bezogen ist: „Literatur will eine
Flaschenpost sein, die, wenn auch unter schwierigen Bedin-
gungen, ankommt. […] Ein Buch ist erst dann fertig, wenn es
auch gelesen wird.“ 21 Dann aber radikalisiert Burger die An-
sicht, daß Literatur Ausdruck der eigenen Subjektivität, Ver-
sprachlichung eigener Erlebnisse, Eindrücke und Haltungen
ist. Mehr noch: für den Schriftsteller Burger ist das Schreiben
21
Burger, Hermann, Die allmähliche Verfertigung der Idee beim
Schreiben, Frankfurt/M. 1986, S. 107, auch S. 104.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 247

„eine Existenzform“ – und zwar die einzig mögliche.22 Ihm er-


scheinen die erzählten Geschichten als „Alternativenergien“
seines Lebens. „Schreibend-Sein heißt offen sein für das Mög-
liche, das ganz andere, das in mein Leben treten kann.“ 23 Das
Schreiben ist sozusagen ein Resonanzraum, in dem das Leben
nachhallt, in dem „die Welt als Sprache“ 24 neu gesehen wird.
In bezug auf die ‚wirkliche Realität‘, was immer das sei, meint
Burger, daß diese „nur beliehen“ werde25, wobei die Zielper-
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spektive so umrissen wird: „Wir sagen, wenn wir in den hellen,


den wachen Zustand kommen: Mir sind die Augen aufgegan-
gen. Das sollte die Kunst zuwegebringen, daß uns in diesem
Sinn die Augen aufgehen.“ 26 Wie sich beim Schreiben für den
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Autoren die allmähliche Verfertigung der Idee herausbildet,


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

ebenso schält sich auch für den Leser eine andere Sichtweise
heraus: die Realität bekommt phantastische Züge, Altes und
Vertrautes erhält plötzlich etwas Unerwartetes.
Die Welt und meine Welt. Von den Verfremdungen im Gro-
ßen und Ganzen oder im Kleinen und Partikularen handeln
die Texte von Brigitte Kronauer und Wilhelm Genazino, von
Wolfgang Hilbig, Reinhard Jirgl oder Hans Joachim Schädlich.
Für Brigitte Kronauer, die ihren Romanen und Erzählungen
eine Reihe von Aufsätzen und essayistischen Reflexionen zur
Seite gestellt hat, ist Literatur Konstruktion. Sie verabschiedet
alles naiv Autobiographische zugunsten der strikt nach Maß-
gabe einer Idee durchgeführten Versuchsanordnung. Brigitte
Kronauer möchte einerseits die Ideologien der Wahrnehmung
zeigen und damit durchsichtig machen, den poetischen Nach-
weis darüber führen, daß wir – und d.h. jedermann – uns unse-
re Wirklichkeit entsprechend ideologischer Muster schaffen,

22
A.a.O. S. 99.
23
A.a.O. S. 100.
24
A.a.O. S. 15.
25
A.a.O. S. 103.
26
A.a.O. S. 104.
248 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

erklären und deuten, womit wir Ordnung ins Chaos der Wirk-
lichkeit bringen; andererseits inszenieren ihre Texte Welten hin-
ter der scheinbar ordentlichen wie geordneten Realität, offenba-
ren neue Perspektiven, wie sie sich für uns alle beispielsweise in
jenen kurzen Momenten vor dem Aufwachen, im Dämmern,
beim Tagträumen zeigen, um nicht gar von den ebenfalls von
Brigitte Kronauer beschriebenen epiphanischen Augenblicken
der Ekstase zu sprechen. Die Dinge und ihre Gegenstände wer-
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den aus ihren festen Konturen herausgenommen und haben


ihre verborgenen Rückseiten. Der Alltag ist nicht grau.27
Dasselbe läßt sich auch für Wilhelm Genazinos Bücher sa-
gen. Auch für ihn ist, eigenem Bekunden nach, das Unerhörte
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unscheinbar, liegt die wirkliche Faszination im Nahbereich und


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

im Nächsten – auf der Straße vor der Haustüre. Und daher fla-
nieren seine Helden durch die Straßen, Anlagen und Gärten,
benutzen mit Vorliebe öffentliche Verkehrsmittel, um auf ih-
ren Fahrten und Gängen in jedem Moment auf unerwartete
und irritierende Motive im Alltäglichen zu stoßen. Man müsse,
sagt Genazino einmal – und dasselbe trifft wohl auch auf seine
Figuren zu –, der Gewöhnlichkeit gegenüber Dankbarkeit ab-
statten. Denn in diesem Gewöhnlichen steckt der Vorwurf,
der Ansporn fürs Schreiben.
Auf radikal entgegengesetzte Art und Weise begreift dage-
gen Wolfgang Hilbig die Gewöhnlichkeit des Alltags. Alltagsle-
ben – und hier schließen sich dann Reinhard Jirgl oder Hans
Joachim Schädlich durchaus an – ist entfremdetes Leben, nicht
im klassisch marxistischen Sinne des Verdinglichungsparadig-
mas, sondern vielmehr im Sinne einer totalen Entmündigung
durch den Staat und seine Organe: konkret durch die Firma
Stasi. Sie hat dem Menschen die Sprache genommen – seinen
authentischen Ausdruck, dessen Verlust die Autoren auf sehr
verschiedene Art in allerdings immer verschlüsselter und hoch-
27
Vgl. dazu allgemein auch Jung, Werner, Schauderhaft Banales,
Über Literatur und Alltag, Opladen 1994.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 249

artifizieller Weise bilanzieren. Es geht Hilbig darum, die Ge-


schichte der DDR zu beschreiben als geschichtsloses ‚Nunc
stans‘ einer ebenso (mindestens geplanten) perfekten wie um-
fassenden Überwachung des Subjekts, als gigantischen Raum
einer simulierten Geschichte nach den Plänen der Firma Potem-
kin, genannt: Stasi. Dabei denkt Hilbig seit seinem „Ich“-Ro-
man auch an andere als nur DDR-Verhältnisse, ja begreift er
die DDR bzw. die ‚Länder des real existierenden Sozialismus‘
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vielleicht nur als unvollständige und lückenhafte Modelle. Die


‚condition postmoderne‘ in den ‚Ländern des real existieren-
den Kapitalismus‘ allerdings ist schon eine Stufe weiter fortge-
schritten in der Fabrikation des von Hilbig als Motiv für die
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Ethik seines Schreibens inkriminierten Sprach- und Wortmülls


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

aus den Ideologie-Fabriken. Dem Menschen seine Sprache,


seine Welt-Sicht, in letzter Instanz wohl seine Authentizität zu-
rückgeben – so in etwa ließe sich Hilbigs Schreibansatz auf
den Punkt bringen.
Wie gesagt, auf Jirgls und auch Schädlichs Bücher trifft das
teilweise ebenfalls zu, wenn dort die Deformationen der Sub-
jekte in entweder nüchterner Kanzlei- und Berichtssprache
(etwa bei Schädlich) oder in parodistischer Manier und expres-
sionistischen Wortkaskaden (bei Jirgl) zur Sprache gebracht
werden. Paradox genug ist freilich das Mißverhältnis von am-
bitionierten, an modern-postmodernen Errungenschaften ge-
schulten Schreibweisen und den manchmal eher biederen poe-
tologischen Selbstauskünften. „Es vergnügt mich“, schreibt
etwa Schädlich, „jemandem etwas zu erzählen.“ Dann aber
auch: Schreiben hänge mit dem Erkennen zusammen, und
zwar bedeute es, wie bereits zitiert, „Schürfarbeit, bei welcher
sogar etwas gefunden werden kann, von dem niemand wußte,
daß es es gibt.“ 28
Schürfarbeit innen und außen – in den Kavernen des Ichs,
des Subjekts oder einfach nur des Menschen sowie in den
28
Schädlich a.a.O. [ Anm. 6 ] S. 56.
250 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

Schichten (das Geschichtete [H. Lenz]) der Geschichte, der


Gesellschaft, der Beziehungen. Der unterschiedliche Schürfan-
satz ergibt vielleicht die Demarkationslinie zwischen postmo-
derner Literatur und anderen Schreibweisen. Während in Tex-
ten von sich selbst als postmodern bezeichnenden Autoren
wieder die Reise ins Innere des Körpers und der Sprache
– Hubert Winkels hat von ‚Einschnitten‘, Hanns-Josef Ortheil
vom ‚fetischistischen Götzendienst an der Sprache‘ gespro-
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chen29 – geht, bemühen sich die anderen um die Erkenntnis


der Breite. Stellvertretend dafür mögen abschließend Hinweise
auf die poetologischen Reflexionen von Bodo Kirchhoff einer-
seits, Uwe Timm und F. C. Delius andererseits genügen.
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Kirchhoff hat seinen Frankfurter Vorlesungen von 1995


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

den Titel „Legenden um den eigenen Körper“ gegeben – ein


Hinweis darauf, was die Texte erzählen: Legenden nämlich,
Fabeln, die unter Rückgriff aufs postmoderne Theoriedesign
(Leiris, Foucault, Lacan und auch Heidegger) die Zurichtungen
des eigenen Körpers, Entwicklung und Aufschub, Verdrän-
gung der Sexualität traktieren. Weit zurück reicht die Erinne-
rung. Die Erfahrung eines körperlichen Mangels bringt den Ju-
gendlichen zum Schreiben. Schreibend hilft er sich über die
Defizite des eigenen Lebens hinweg, ein Kompensationsge-
schäft also: „mit der geweckten Sexualität plötzlich allein, be-
gann das Kind wild zu schreiben und war damit auch schon
keins mehr. Es war nun ein fünfzehnjähriger Junge, befallen
von einer mörderischen Pubertät, maximaler Leidenschaft ver-
knüpft mit einem Minimum an Befriedigung, der die Aufmerk-
samkeit der Mädchen suchte.“ 30 Daran hat sich in der Folge
nichts Wesentliches geändert. Immer handeln die Geschichten

29
Vgl. allgemein Winkels, Hubert, Einschnitte, Zur Literatur der
80er Jahre, Köln 1988; außerdem Ortheil, Hanns-Josef, Schaupro-
zesse, Beiträge zur Kultur der 80er Jahre, München 1990, S. 212.
30
Kirchhoff, Bodo, Legenden um den eigenen Körper, Frank-
furt/M. 1995, S. 26f.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 251

Kirchhoffs von der Sexualität, der erlebten und erlittenen,


worin dann die „eigenen Abgründe“ 31 ausgeleuchtet werden.
Schreiben wiederum also als Selbsterkenntnis, als Versuch ei-
ner Selbstbeschreibung, keiner ‚Selberlebensbeschreibung‘ mehr
im Sinne Jean Pauls oder anderer Klassiker, sondern als Ver-
suchsanordnung eher psychoanalytischer Art. Vehement wehrt
sich Kirchhoff gegen die sogenannte ‚Neue Subjektivität‘, mit
der er nichts zu schaffen haben möchte, gegen „hemmungslo-
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se Autobiographien, mit der Funktion jener Vomatorien altrö-


mischer Villen, in die man sich erbrach, um anschließend bes-
ser weiterfressen zu können: ein Karneval der Ichform, wie
ihn das Publikum offenbar liebt.“ 32 Kirchhoffs Schreiben da-
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gegen versteht sich als analytisches, wobei durchaus – wir er-


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

kennen das Verbindende mit anderen Konzeptionen wieder –


Erkenntnisse freigelegt werden können. Denn er deutet sein
Schreiben alles in allem als ein Unternehmen, um „dem
Schmerz eine Welt [zu] geben.“ 33 Darin liegt schließlich der
Nutzen – der einzige im übrigen – von Literatur: die „Emp-
findlichkeit für den Schmerz anderer zu steigern.“ 34 Gelingt
das, dann haben wir etwas gelernt – nämlich am und vom An-
deren verstanden.
Im Wintersemester 1991/92 hat Uwe Timm in Paderborn
seine Poetik vorgetragen, in deren Mittelpunkt Überlegungen
zum Begriff des Alltags und der Alltäglichkeit rangieren, ver-
bunden mit der Frage, wie Alltägliches literarisch ‚absorbiert‘
werden kann.35 Literatur, so Timm, „liefert neue Wahrneh-
mungsmodelle“ 36, prägt „neue Bedeutung, die es in der Zer-

31
A.a.O. S. 62.
32
A.a.O. S. 113.
33
A.a.O. S. 143.
34
A.a.O. S. 164.
35
Vgl. Timm, Uwe, Erzählen und kein Ende, Köln 1993, S. 16ff.
36
A.a.O. S. 18.
252 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

streutheit des Alltags so nicht gibt.“ 37 Der Autor schafft Ord-


nung – und zwar „seine subjektive Ordnung.“ 38 Damit dann
arrangiert er das Chaos, das die Wirklichkeit ist, um und neu,
schlägt Orientierungsschneisen ins Dickicht der Realität. Zu-
sammenfassend heißt es dazu, daß der Autor den Alltag in Be-
deutung verwandelt, womit dieser dann aufgehoben und trans-
formiert wird. „Erzählt aber werden soll das Übliche unüblich,
das Gewöhnliche ungewöhnlich. Darin verschwindet das All-
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tägliche nicht, sondern es wird in seiner Bedeutung erst be-


wußtgemacht.“ 39 Das Erzählen, so Timm weiter, ist zwar nicht
lebensnotwendig, sondern viel eher ein schöner Überfluß, im-
merhin aber einer, der einen Zugewinn an neuen Möglichkei-
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ten vermittelt, der keine notwendigen Erkenntnisse bereitstellt,


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

aber den Leser doch möglicherweise über „Alternativen zum


Bestehenden“ 40 informiert. Literatur als Bewußtseinsbörse.
Ebenfalls in Paderborn, und zwar im Wintersemester 1994/
95, hat F. C. Delius seine Poetikvorlesungen unter dem Titel
„Die Verlockungen der Wörter oder Warum ich immer noch
kein Zyniker bin“ gehalten. Und ganz ähnlich wie Timm argu-
mentiert auch Delius im „altmodischen Vertrauen auf eine wie
immer begrenzte, minimale Wirkung von Literatur und Argu-
ment“ 41 gegen das modisch-postmoderne „Gerede vom Ende
der Wörter, der Bücher, der Literatur.“ 42 Wer Dichter ist und
Geschichten erzählt – mögen diese auch geschrumpft und auf
einen kleinen Kern („je weniger ‚Handlung‘, desto besser die
Literatur“ 43) reduziert sein –, glaubt an die Macht des Benen-
nens, vertraut darauf, daß in den aufgeschriebenen Geschich-

37
A.a.O. S. 19.
38
Ebd.
39
A.a.O. S. 119f.
40
A.a.O. S. 117.
41
Delius a.a.O. [ Anm. 8] S. 9.
42
A.a.O. S. 11.
43
A.a.O. S. 101.
X. Sich selbst im Schreiben erfinden 253

ten die Wirklichkeit ein weiteres, zweites Mal erfunden worden


ist. Kunst im Gegensatz zum Zynismus, der nicht mehr fragt,
weil er alle Antworten im voraus schon weiß, „verschärft oder
provoziert“ „Widersprüche“.44 Es handelt sich dabei, wie De-
lius unter Verweis auf J.-P. Sartre nicht müde wird zu formu-
lieren, „um das Erfassen der Welt.“ 45 Und zwar in politischer
Absicht, wobei Delius im Blick auf Alejo Carpentier einen wei-
ten Begriff von Politik hat. Ein politischer Autor sei danach
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derjenige, der keine Angst vor der Wirklichkeit habe.46 Delius


versteht sich als Aufklärer, der zugleich durch die Schule des
Humors eines Jean Paul gegangen ist – und wir erinnern daran,
daß Jean Paul bekanntlich sehr beharrlich auch an aufkläreri-
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schen Prämissen und Intuitionen festgehalten hat, die er frei-


X. Sich selbst im Schreiben erfinden, 9783838529370, 2020

lich durch romantische Phantasie und Fabulierlust angereichert


sehen wollte. Ganz auf dieser Linie hält F. C. Delius am auf-
klärerisch-romantischen Erbe fest, vertraut auf die Erkenntnis-
leistungen der Sprache und die entgrenzende, Möglichkeiten
anbietende Phantasie des Schriftstellers. Denn man erfindet
„sich selbst im Schreiben“ 47 und findet dabei etwas heraus,
von dem man als Schriftsteller der festen Überzeugung ist, daß
es auch anderen wieder etwas zu sagen hat.

Möglicherweise ist diese kurze und überaus knappe Erkennt-


nis, so banal wie basal sie auch klingt, der kleinste gemeinsame
Nenner, auf den sich die wie immer gewandeten und gewende-
ten Autoren in ihrem poetologischen Selbstverständnis einigen
können. Man glaubt etwas zu sagen zu haben, unbestimmt was
und auf welche Weise, ob in selbstreferentiellen Schleifen des

44
Vgl. a.a.O. S. 27.
45
Vgl. a.a.O. S. 35.
46
Vgl. a.a.O. S. 53.
47
A.a.O. S. 17.
254 X. Sich selbst im Schreiben erfinden

Literatursystems befangen oder auf mimetische Deutungspo-


tentiale vertrauend, ob Geschichte dementierend und Erzäh-
lungen dekonstruierend oder Geschichten allererst erzählend
und Sinn vermittelnd. Dem Leser, den es immer noch gibt,
bleibt es überlassen, wohin ihn seine Interessen treiben. In die
Gefilde der Beliebigkeit und beliebter Unterhaltung (Stichwor-
te: Sport, Spiel, Spannung) oder aber entgegengesetzt in die
der Deutung und Belehrung (Stichworte: Erkenntnis, Sinn,
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Verstehen)? Auch er muß aus Eigenem Eigenes bauen. Wie


könnte und sollte es auch anders möglich sein?!
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften

Zum Gemeinplatz ist inzwischen die Einschätzung geworden,


daß im Verlauf des 18. Jahrhunderts – im Übergang von der
Aufklärung zu den Bewegungen des letzten Jahrhundertdrit-
tels – die normative (Gattungs-)Poetik ihr angestammtes Recht
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verliert, um der Ästhetik Platz zu machen.1 An die Stelle poe-


tologischer Regularien und Muster, die im Grunde immer wie-
der auf antike Vorstellungen zur Dichtkunst ( Aristoteles,
Horaz) zurückgreifen, tritt das Geschmacksurteil. Dessen Sub-
jektivität ist nur die Kehrseite einer gewandelten Ansicht vom
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften, 9783838529370, 2020

Dichter als Genie, als ausgezeichnetem, ja unvergleichlichem


Individuum. Im Blick auf das Genieprodukt, dessen Regelhaf-
tigkeit nach Ansicht der Frühromantiker niemals an vorgege-
benen Gesetzmäßigkeiten, sondern nur aus sich selbst heraus
begründet werden kann, korrespondieren zwei kongeniale In-
dividuen miteinander: der Schöpfer und der Rezipient in Ge-
stalt des Kritikers. Die alte Normativität ist ebenso hinfällig
wie der traditionelle Geschmack. Künftige ästhetische Theori-
en bemühen sich dann in der Folge unablässig darum, Plausibi-
litätskriterien schöner resp. häßlicher Kunst und Poesie nachzu-
weisen, ohne dabei bestimmte Muster absolut zu setzen. Zwar
behält auch im 19. Jahrhundert noch, wenigstens bei wei-
ten Teilen der dazu bestallten und verbeamteten Akademiker,
die Antike das Vorrecht, „Norm und unerreichbares Muster“
(K. Marx) aller Kunst und Poesie zu sein, doch wird allerspäte-
stens nach Hegel und im Umkreis der sich in der Hegelschule
formierenden Einzelwissenschaften die Reflexion immer stär-
ker in Richtung Geschichte verwiesen. Historische Argumente
fallen bezüglich Bedeutung und Wert der Künste, womit sich

1
Vgl. dazu pauschal Lyotard, Jean-François, Anima minima, in: Die
Aktualität des Ästhetischen, (Hg.) Wolfgang Welsch, München
1993, S. 417-427.
256 XI. Die Poetik und die Wissenschaften

– zunächst noch schleichend, am Ende des 19. Jahrhunderts


dann auf voller Breite – der Gedanke des Relativismus, der
Gleichwertigkeit, ja letztlich auch der Unentscheidbarkeit an-
kündigt. Kunstwerke haben eine relative, eine bloß transitori-
sche Bedeutung – im schlimmsten Fall jedenfalls. Und davon
sind auch nicht die poetologischen Rahmungen ausgeschlos-
sen, die Fragen, was Gattungen konstituiert, in welchen hierar-
chischen Abhängigkeiten sie voneinander stehen, wie es hin-
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sichtlich der Funktion und Wirkung des poetischen Werks


ausschaut, was schließlich überhaupt Platz hat im System der
Künste wie in dem der Poesie (vor allem aber auch, was nicht).
Der zweite, wenn möglicherweise nicht so bedeutende Schlag
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften, 9783838529370, 2020

gegen die traditionelle Poetik erfolgt mit der Ausdifferenzie-


rung des Wissenschaftssystems, näherhin der Geisteswissen-
schaften und der Philologien ebenfalls im Verlauf des 19. Jahr-
hunderts. Im Blick auf die Germanistik läßt sich feststellen,
daß nach der Trennung der Sprach- von der Literaturwissen-
schaft sich auf dem (oft genug überaus ungenau definierten)
Feld der Literaturwissenschaft eine weitere Ausdifferenzierung
hinsichtlich des Kernbereichs ( Literaturgeschichte) und der
Hilfswissenschaften sozusagen (Rhetorik, Poetik, Ästhetik)
bzw. auch der methodologischen Fragen durchzusetzen be-
ginnt. Im Gefolge Hegels rückt die Behandlung der Literatur-
geschichte in den Mittelpunkt germanistischer Bemühungen,
die, oft genug zunächst von einer nationalliberalen Haltung ge-
tragen, Literatur als Seismographen für historische und politi-
sche Konstellationen begreifen. Ablesbar ist das etwa an der
ersten großen literarhistorischen Gesamtdarstellung der deut-
schen Literatur von Gervinus sowie an Prutz’ Arbeiten zum
Journalismus und zur politischen Poesie der Deutschen: Fra-
gen der Poetik und Ästhetik spielen darin kaum eine Rolle
mehr; das historische Kompendium (mit teleologischem Finale
in der Gegenwart und der historischen Forderung eines Natio-
nalstaates) suspendiert alle Überlegungen hinsichtlich ästheti-
scher Werte und poetologischer Normen. Auch wenn diese
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 257

Enthauptung des Ästhetischen schon bei Gervinus’ unmittel-


baren Nachfolgern und Kollegen partiell revidiert wird (etwa
bei Danzel oder Hettner), so bleibt doch eine gewisse Aver-
sion gegenüber der Ästhetik und Poetik zurück. Weiterhin do-
miniert die historische Argumentation, das Herausarbeiten und
die Fixierung von einem historischen Kanon großer Literatur,
sei’s im engeren nationalen Rahmen oder auf weiterem ge-
samteuropäischen Gebiet. Einen letzten Schritt dann zur Ex-
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stirpation von Poetik und Ästhetik vollzieht der Positivismus


am Ende des 19. Jahrhunderts, der unter dem Druck und den
Erfolgen naturwissenschaftlicher Modelle einem fragwürdigen
Ideal von Objektivität hinterherläuft, der für die Geisteswis-
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften, 9783838529370, 2020

senschaften und die Philologien allenfalls die ehrwürdigen Me-


thoden altphilologischer Editionstechniken gelten läßt und
sich aufs Sammeln, Archivieren und Sortieren verlegt. Keine
Frage, daß dabei auch herausragende Leistungen zustande ge-
kommen sind; für die Gebiete der Poetik und Ästhetik, ja auf
dem großen Feld der Methodenreflexionen sowie wissenschaft-
licher Begriffsbildung ist die Entwicklung zum Positivismus
eher abträglich gewesen. „Dieser positivistische Objektivis-
mus“, bemerkt Jost Hermand, „für den es nur vordergründige
Tatsachen gab, führte notwendig zu einem breiten Einbruch
ausgesprochen mechanischer, sich von jeder interpretatorischen
Absicht distanzierender Forschungsmethoden. Innerhalb die-
ser Form der Germanistik wurde bereits das bloße Zusam-
mentragen der Fakten als wissenschaftliche Leistung angese-
hen, während sie das Befragen der aufgehäuften Stoffmassen
meist auf einen späteren Zeitpunkt verschob.“ 2
Ein Grundbuch des literaturwissenschaftlichen Positivismus
ist Wilhelm Scherers postum erschienenes Werk mit dem ku-
riosen Titel „Poetik“ (1888) – kurios vor allem deshalb, weil
Scherer, dessen Programm auf die Formulierung eines „Sy-

2
Hermand, Jost, Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S. 62.
258 XI. Die Poetik und die Wissenschaften

stems der nationalen Ethik“ 3 herausläuft, eigentlich gar keinen


Begriff von Poetik entwickelt. Um die „neuen eigenen Wege“,
auf denen er „in das Wesen der Poesie eindringen“ möchte,
wie es im Vorwort heißt, ist es spärlich bestellt.4 Das beginnt
schon mit der Weigerung, Definitionen seiner Grundbegriffe
zu geben. Was er dann in der Folge entwickelt, sind Gedanken
über das Verhältnis von Dichter und Publikum, über den dich-
terischen Stoff sowie über die innere und äußere Form, also
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u.a. über die verschiedenen Dichtarten, Komposition, Sprache


und Metrik. Lapidar fällt die Bestimmung seines Gegenstands-
gebiets aus, worunter Scherer „das gesamte Gebiet der gebun-
denen Poesie“ begreift. „Was irgend ein Rhythmus und Reim,
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften, 9783838529370, 2020

in irgend welchen Formen der gebundnen Rede abgefaßt wur-


de, das muß uns als Poesie gelten und das bildet Material für
unsere Untersuchung.“ 5 Schlußendlich erfolgt dann doch noch
so etwas wie eine Definition des Begriffs Poetik: „Die Poetik
ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außer-
dem aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, wel-
che mit den Anwendungen der gebundenen in naher Ver-
wandtschaft stehen.“ 6 Danach gibt Scherer einige Hinweise auf
historische Positionen der Poetik, insbesondere zu Aristoteles
und Horaz, um die neueren ästhetischen Bemühungen in der
Philosophie als Irrwege abzukanzeln. Scherer möchte die wirk-
lichen poetischen Produkte beschreiben, wobei sich diese Be-
schreibung „auf Hergang, Ergebnisse, Wirkungen“ erstreckt.7
Er möchte die verschiedenen Dichtarten klassifizieren, was
„ein vergleichendes Verfahren“, also komparatistische Überle-

3
Scherer, Wilhelm, Poetik, ( Hg.) Gunter Reiß, Tübingen 1977,
S. XIV.
4
Vgl. a.a.O. S. 57.
5
A.a.O. S. 18.
6
A.a.O. S. 28.
7
A.a.O. S. 50.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 259

gungen, wie wir es heute nennen würden, voraussetzt.8 Im


Vordergrund rangieren immer Fragen der poetischen Produk-
tion und der dichterischen Wirkung, also Rezeptionsprozesse.
Scherer möchte rein deskriptiv verfahren und aus dem vorge-
fundenen empirischen Material mögliche Regeln ableiten. Aus-
gangspunkt aller Gedanken ist der gesunde Menschenverstand,
ein common sense bzw. die Gemeinverständlichkeit. Dies fixiert
er im Begriff des Nacherlebens: „der dichterische Proceß muß
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also überhaupt in solche Elemente aufgelöst werden, an wel-


che das Bewußtsein eines jeden von uns anknüpfen kann. Die
Quelle dichterischer Kraft können wir freilich nicht nachemp-
finden; im höchsten Sinne kann Goethe nur von Goethe ver-
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standen werden. Aber auch die höchsten Hervorbringungen


haben gemeinverständliche Elemente; und zu diesen müssen
wir vordringen. So tritt dann also die unmittelbare Erfahrung
als erklärendes Moment ein.“ 9 Auf die Gesamtentwicklung der
Poesie hin betrachtet ist – wie im Grunde auf allen anderen
Gebieten des Geistes auch – die „Geschichte Lehrerin“.10
Wenn aber die Geschichte zum Maßstab gesetzt wird, wenn
darüber hinaus der je erreichte Standard des common sense als
Leitprinzip der Poesie (aber nicht nur von ihr) gewählt wird,
dann ist schnell die Relativität zur Stelle. Auf den Punkt ge-
bracht: die vermeintliche Objektivität eines Prinzips, hier des-
jenigen der Geschichte, führt am Ende wieder zur Bestreitung
der Objektivität im Sinne einer transhistorischen, interkulturel-
len Wahrheit von Literatur.
Das ist dann auch das Resultat von Diltheys lebenslang
währenden Reflexionen zur Begründung der von ihm im
Unterschied zu den erklärenden, nomothetischen Naturwis-
senschaften vielmehr im Begriff des Verstehens zusammen-
gefaßten Geisteswissenschaften. Auch Dilthey hat eine Poetik

8
Vgl. ebd.
9
A.a.O. S. 51.
10
A.a.O. S. 52.
260 XI. Die Poetik und die Wissenschaften

geschrieben, und zwar die noch ein Jahr vor Scherer publizier-
te Abhandlung „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine
für eine Poetik“. Anders als Scherer knüpft Dilthey unmittel-
bar an die Ergebnisse der neueren Ästhetik an, also geradezu
beim Gedanken des subjektiven (Geschmacks-)Urteils im Sin-
ne Kants und damit bei der „Anarchie des Geschmacks.“ 11 Re-
ferenzpunkt der Diltheyschen Theorie, die – vom Ende her –
so etwas wie eine Theorie gegen die Theorie, eine Antitheorie
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formuliert, insofern sie den Gedanken der Wissenschaftlich-


keit der Geisteswissenschaften, damit auch der Literaturwis-
senschaften und hier der Poetik, preisgibt zugunsten eines
neu-alten, auf die Romantiker von Schlegel bis Schleiermacher
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XI. Die Poetik und die Wissenschaften, 9783838529370, 2020

zurückgehenden Begriffs der Kritik, ist das Erlebnis. Das Er-


lebnis ist eine psychische Tatsache, ein Ereignis, das in jeder-
manns Leben bereits in der Alltäglichkeit vorkommt. Eine ge-
steigerte Form des Erlebnisses liegt im Kunstwerk vor, das so
etwas wie gestalt- und formgewordenes Erleben für Dilthey re-
produziert. Und zwar versteht der Rezipierende etwas, also das
Erlebnis, dadurch, daß er es in sich nachbildet, daß er noch
einmal – und zwar aufgrund seines eigenen Erlebens – das Er-
lebnis des Schöpfers in sich wiederholt. Dilthey nennt diesen
Akt der Reproduktion Verstehen, womit er sich dann auch mit
einer ganzen Reihe von Arbeiten in die zeitgenössisch aktuelle
Hermeneutik-Debatte einmischt. Aber es bleibt in den Arbei-
ten Diltheys, in den Essays ebenso wie in den systematischen
Schriften oder in seinen Monographien, als letzter unauflösli-
cher Rest der Psychologismus bestehen, damit: die Schranke
des Subjektivismus, die für ihn (und seine zahlreichen Nach-
folger auf den verschiedensten Gebieten der Philosophie, der
Literaturwissenschaften und auch der Pädagogik) unaufhebbar
bleibt – und zwar mit der von Dilthey nur angedeuteten, von

11
Dilthey, Wilhelm, Die geistige Welt, Einleitung in die Philosophie
des Lebens, Gesammelte Schriften, VI. Band, Leipzig und Berlin
1924, S. 104.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 261

seinen Nachfolgern Simmel oder dem jungen Lukács in aller


Radikalität ausformulierten Konsequenz, daß die Geistes- resp.
Literatur- und Kunstwissenschaften keine Wissenschaften
sind, sondern bestenfalls Aussagensysteme von solchen Exper-
ten darstellen, die sich auf kongeniale Weise in Kunstwerke
einfühlen können und dann in einer zweiten Sprachebene – ir-
gendwo in der Mitte zwischen Wissenschaften, Kunst und All-
tagsrede – nachbilden.12 Historisch entsteht dabei quasi en pas-
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sant die moderne Form des Essays, wie sie von Simmel, Bloch
und Lukács, von Benjamin, Kracauer und Adorno, aber auch
von Ernst Jünger oder Rudolf Borchardt entwickelt und zur
Höchstform gesteigert worden ist.
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Um es schließlich auf die Spitze zu treiben: zu Beginn des


20. Jahrhunderts sind bei den Debatten um die Begründung ei-
nes neuen Typs von Wissenschaft, der Geisteswissenschaft,
Fallstricke und Aporien deutlich geworden, die die Diskussion
im Grunde bis heute anhaltend bestimmen. Die Philologien
und Textwissenschaften machen die schmerzliche Erfahrung,
daß sich kein poetologisches Prinzip als tragfähiges Funda-
ment einer Wissenschaft ausmachen läßt und daß jedes Ansin-
nen auf Objektivität mit dem untilgbaren Makel des Subjekti-
ven verbunden bleibt. Kants interesseloses Wohlgefallen, das
der ästhetische und wohl auch poetische Gegenstand evozie-
ren mag, artet sogleich, wenn es sich artikuliert oder gar zur
Wissenschaft systematisch aufbläht, zu einer durchaus interes-
segeleiteten Erklärung dieses Gefallens aus: es gibt keine dem
Gegenstand inhärenten, objektiven Poetizitätsmerkmale – je-
denfalls keine im Sinne der traditionellen Gattungspoetik.
So ließe sich auch die Quintessenz ziehen aus dem im Ge-
folge Diltheys und der Geisteswissenschaften auftretenden
Entwicklungen. Denn gleich ob am Strang des Psychologismus

12
Vgl. dazu Jung, Werner, Georg Lukács als Schüler Wilhelm Dil-
theys, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissen-
schaften, Bd. 5, 1988, S. 240-257.
262 XI. Die Poetik und die Wissenschaften

und Subjektivismus weitergearbeitet oder aber – dem geradezu


entgegengesetzt – über Objektivitätskriterien und Prinzipien
bis hin zu einem neuen Szientismus geforscht wird, in den Er-
gebnissen konvergieren letzten Endes die rivalisierenden Schu-
len, Richtungen und Poetiken wieder.
1946 erscheint in erster Auflage die Poetik des Schweizer
Literaturwissenschaftlers Emil Staiger, eines der einflußreich-
sten Bücher und Richtlinie zugleich für die sich nach dem
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Krieg neu formierenden Literaturwissenschaften. Im mehr


oder minder deutlichen Anschluß an bestimmte Überlegungen
der Phänomenologie und der Ontologie sowie existenzphilo-
sophischer Fragestellungen kommt Staiger zu dem Resultat,
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daß das wichtigste erklärungsbedürftige Phänomen am literari-


schen Kunstwerk sei, zu „begreifen, was uns ergreift.“ Zwangs-
läufig landet Staiger damit bei anthropologischen Überlegun-
gen, die ihn dahin führen, die verschiedenen Gattungen „als
überzeitlich präexistente Ideen im ‚Sein des Menschen‘“ 13 zu
interpretieren, nämlich das Lyrische als Form der Erinnerung,
das Epische als Vergegenwärtigung und das Dramatische als
Entwurf in die Zukunft zu deuten.14 Gattungsbegriffe, so Stai-
ger, enthüllen sich „als literaturwissenschaftliche Namen für
Möglichkeiten des menschlichen Daseins“, weshalb er auch die
Poetik als „Beitrag zum Problem der allgemeinen Anthropo-
logie“ anspricht.15 Grundbegriff und Zentrum aller Überle-
gungen bildet – hier tritt er das Diltheysche Erbe der Geistes-
wissenschaften an – das Gefühl. Es ist das Vorgängige, das
Unverwechselbare, worin sich die Subjektivität authentisch an-
kündigt, zugleich auch die notwendige Voraussetzung, damit

13
Verweyen, Theodor und Witting, Gunther, Artikel „Grundbegriffe
der Poetik“, in: Lexikon literaturtheoretischer Werke, (Hg.) Rolf
Günter Renner und Engelbert Habekost, Stuttgart 1995, S. 165.
14
Vgl. Staiger, Emil, Grundbegriffe der Poetik, Fünfte Auflage, Zü-
rich 1961, S. 217.
15
A.a.O. S. 220 u. 254.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 263

so etwas wie Verstehen überhaupt zustande kommt, und uno


actu ist es dunkler, ja irrationaler Grund. „Wenn ich mich
nicht damit begnügen will, zusammenzustellen, was über den
Text bereits gesagt worden ist, wenn ich glaube, ich habe etwas
Neues darüber auszusagen, so bleibt mir wirklich nichts ande-
res übrig, als von einem Gefühl auszugehen. Dieses Gefühl,
ein vages, mir selber noch dunkles Ahnen, kläre ich ab und
bringe es auf exakte Begriffe. […] Denn ohne das erste Gefühl
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vermag ich am Text überhaupt nichts wahrzunehmen, da weiß


ich nicht, was wesentlich, was lebendig und was konventionell
ist. Wer explizit verstehen will, muß immer schon dunkel ver-
standen haben.“ 16 Die Probleme, die in diesem Modell stek-
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ken, sind überdeutlich: die Irrationalität aller Verstehensakte,


die Indemonstrabilität dieser Leistungen, die Apostrophierung
eines sozusagen divinatorischen Vermögens, am Ende die
Kommunikation einsamer Genies auf dem Höhenkamm.
Von überaus ähnlichen wissenschaftsgeschichtlichen Voraus-
setzungen ausgehend, ist Roman Ingarden in seinen verschiede-
nen Arbeiten zur Ästhetik und Poetik zu anderen Resultaten ge-
langt – vordergründig zumindest. Ingardens Abhandlung „Das
literarische Kunstwerk“, 1931 erstmals veröffentlicht, unter-
sucht „die Grundstruktur und die Seinsweise des literarischen
Werkes“ und versteht sich als „Wesensanatomie“.17 Unter
scharfer Zurückweisung von jeglicher Künstlerpsychologie –
damit also Distanzierung von Diltheyschen Gedankengängen,
die dieser programmatisch in seinen Essays „Das Erlebnis und
die Dichtung“ vorgeführt hatte – definiert er das literarische
Werk als ein mehrschichtiges – ideales – Gebilde, das hinsicht-
lich dieser vier verschiedenen Ebenen oder Schichten ( Wort-
laute – Bedeutungseinheiten – schematisierte Ansichten – dar-

16
A.a.O. S. 243f.
17
Ingarden, Roman, Das literarische Kunstwerk, Dritte, durchgese-
hene Auflage, Tübingen 1965, S. XI u. 2.
264 XI. Die Poetik und die Wissenschaften

gestellte Gegenständlichkeiten18) untersucht werden müsse. Im


Verlauf seiner Arbeit stößt Ingarden dann auf zwei wesentliche
Punkte: zum einen auf den Status von Aussagen im Text, die
er – kantisch – als Quasi-Urteile begreift, womit er, wie er
glaubt, ein Literarizitätsmerkmal entdeckt hat; zum anderen
auf dasjenige, was er die Unbestimmtheitsstellen nennt, die im
Text klaffen und die erst der Leser mit seinen Deutungsmög-
lichkeiten ausfüllt. So landet also auch Ingarden wieder beim
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Problem der Subjektivität – diese bleibt unhintergehbar. Das


Maß an Beliebigkeit subjektiver Deutungen von fiktiven oder
wie auch immer imaginären Sätzen im literarischen Kunstwerk
weist auf das seit Dilthey gleichgebliebene Kernproblem zu-
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rück. Das Bemühen um Objektivität löst sich, mögen die Kon-


stanzer Literaturwissenschaftler Jauß und Iser nun Ingarden
richtig interpretiert oder aber absichtsvoll mißverstanden ha-
ben19, in die Variabilität von Einzelaussagen jeweiliger Leser
und Interpreten auf. An dieser Klippe scheitern letztlich auch
die Bemühungen von Jürgen H. Petersen, der sich um eine
Aktualisierung der Ingardenschen Positionen bemüht. Peter-
sen knüpft in dem Punkt unmittelbar an Ingarden an, daß er
die Fiktionalität in der Literatur als eigenen, der Alltagsrede
und dem Wissenschaftsdiskurs entgegengesetzten Redestatus
beschreibt und dabei auf anthropologische Sachverhalte hin-
weist. Die Wahrheit poetischer Sätze beruhe auf ihrer Unfalsi-
fizierbarkeit.20 „Es ist, wenn es ausgesagt wird.“ 21 Soweit, so gut.
Aber dann erfolgt der Rückschlag: „In der ästhetischen Rezep-
18
Vgl. a.a.O. S. 26.
19
Vgl. dazu ganz allgemein Jauß, Hans Robert, Literaturgeschichte
als Provokation der Literaturwissenschaft, Frankfurt/M 1970; Iser,
Wolfgang, Der Akt des Lesens, München 1976; ders., Das Fiktive
und das Imaginäre, Perspektiven literarischer Anthropologie,
Frankfurt/M. 1991.
20
Vgl. Petersen, Jürgen H., Fiktionalität und Ästhetik, Eine Philoso-
phie der Dichtung, Berlin 1996, S. 20.
21
A.a.O. S. 21.
XI. Die Poetik und die Wissenschaften 265

tion von Dichtung gelangt der Mensch in den Zustand, in dem


er sich seiner selbst bewußt wird, und zwar dadurch, daß er
sich angesichts der fiktionalen Wahrheit des Seins aus den Bin-
dungen an die begrenzte, zeitlich und räumlich fixierte, daher
vergängliche Welt der realen Dinge löst und damit im eigentli-
chen Sinn des Wortes zu sich selbst findet, d.h. zu einem Zu-
stand, in dem er nicht wie im Alltagsbewußtsein zerstreut ist in
die Vielfalt dessen, was außerhalb von ihm existiert und was er
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daher selbst nicht ist. Fiktionales Sein und fiktionale Wahrheit


sind nur in seinem Denken, sind unauflöslich mit ihm und sei-
nem Wesen verbunden. So befreit die Dichtung den Leser aus
seiner bis zur Selbstvergessenheit reichenden Verfallenheit an
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die äußere, die empirische Welt und führt ihn zu sich selbst zu-
rück und damit zu seiner Wahrheit.“ 22 Sie führt ihn eben zu
seiner, nämlich jedermanns Wahrheit – ein Wimmeln vor Will-
kür, hätte an dieser Stelle wieder Hegel eingewandt.
Die Poetik verschwindet nicht nur in der Ästhetik, sondern
wird von einem weiteren grundsätzlichen Problem – dem einer
allgemeinen Verstehenstheorie – eingeholt. (Darauf sei hier le-
diglich pauschal hingewiesen; Stoff genug liegt hier für weitere
Ausführungen, ganze Bücher – nicht zuletzt eigene Einführun-
gen – zum Problem vor, das man abkürzend im Begriff Her-
meneutik zusammenfassen kann.)
Eine dritte Richtung sei hier ebenfalls bloß erwähnt: der
Szientismus, der sich etwa in Gestalt strukturalistischer Schu-
len im Ausgang von linguistischen Richtungen (de Saussure
etwa) z.B. bei Roman Jakobson, bei den Prager Strukturalisten
oder bei semiotisch orientierten Theoretikern gemeldet und
schlußendlich in postmodernen und poststrukturalistischen
Erwägungen (von Roland Barthes über Paul de Man bis zu
Jaques Derrida) wieder selbst dekonstruiert – man könnte auch
sagen: überwunden – hat. Die verzweifelt gesuchte feste Ori-
entierung im Blick auf poetisch-poetologische Prinzipien und
22
A.a.O. S. 293.
266 XI. Die Poetik und die Wissenschaften

Strukturen macht sich Luft im unverbindlichen Spiel dekon-


struierender bzw. den geläufigen Sinn unterminierender Lesar-
ten – heraus kommt die Unverbindlichkeit, die ständige Neu-
erfindung von Spielzügen: Schöpfung und Selbstvernichtung
hieß es dazu schon einmal bei Friedrich Schlegel und Novalis.
Positivistisches Sortieren, romantisches Divinieren bis hin
zu postmodernen Versionen desselben Spiels, dazwischen tum-
meln sich noch die verschiedensten Richtungen hermeneuti-
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scher Deutungsspiralen – auf poetologische Prinzipien mit


auch nur annähernd mittlerer Reichweite läßt sich das literari-
sche Werk jedoch kaum mehr bringen!
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XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.
Literaturwissenschaft und/oder Kulturwissenschaften
Statt eines Nachwortes
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

All kinds of everything – hieß einmal ein englischer Popsong


der späten 60er, frühen 70er Jahre, zu deutsch – bzw. in der
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entsprechenden Schlagerversion –: Alles und noch viel mehr.


Dies, hat es den Anschein, ist die gegenwärtige Situation des
eigentümlichen Gegenstands der Literaturwissenschaften gleich
welcher Provenienz und Nationalphilologie auch immer. Da-
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bei sollte doch Grundvoraussetzung – sozusagen von allem


Anfang an – sein, daß jede Wissenschaft mit der Setzung oder
Konstruktion eines eigenen Gegenstands beginnt, der dann
gleichsam von allen Seiten und hinsichtlich verschiedenster
Relationen (etwa innerhalb der Trias von Autor – Text – Le-
ser) bedacht wird.
Doch ist, wenn man die breite Diskussion der letzten Jahre
– und insbesondere seit Beginn der 90er Jahre – ebenso in der
Wissenschaft/Disziplin wie im gelehrten Feuilleton verfolgt
hat, alles den Bach hinuntergegangen: das Werk – der Text –
der Autor und seine Leser. Name it. Statt dessen ein – hegel-
sches – „Wimmeln vor Willkür“. Vornehmer und zugleich zu-
rückhaltender ausgedrückt, wie es einer „Einführung in die
Neuere deutsche Literaturwissenschaft“ zusteht, heißt das: seit
den 90er Jahren sei eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete
Literaturwissenschaft (und Germanistik), zugleich mit starker
interdisziplinärer Ausrichtung, dabei, den „fachlichen Gegen-
standsbereich“ zu erweitern.1 Und diese Erweiterung springt

1
Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph ( Hg.), Einführung in die Neuere
deutsche Literaturwissenschaft, Stuttgart-Weimar 2003, S. 262;
ganz ähnlich argumentieren auch Petersen, Jürgen H./Wagner-
Egelhaaf, Martina ( Hg.), Einführung in die neuere deutsche Lite-
268 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.

dann sogleich schon bei den Titeln neuerer Arbeiten ins Auge
– insbesondere bei solchen, die dem Feld der Poetik zuge-
wandt sind, unter der nun – angestoßen durch den Historiker
Hayden White und den ‚New Historicism‘ – eine Poetik der
Kulturen verstanden wird: da ist etwa von einer „Kleine[n]
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

Poetik der Neuen Welt“ (bei Christian Kiening) oder auch ei-
ner „Poetik des Extremen“ (so Uwe Schultze) die Rede. Die
Liste ließe sich fortsetzen.
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Das mag nun, wie sogleich kritisch eingewendet werden


könnte, beileibe nicht neu sein, doch hat es immerhin schon
solch dramatische Ausmaße angenommen, daß sich etwa Karl
Heinz Bohrer – geschätzt wie verachtet wegen seiner Philippi-
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ca – zu einem Rundumschlag herausgefordert gesehen hat.


Unter dem Titel „Literatur ist nicht Kultur“ hält Bohrer seine
Dankrede anläßlich der Verleihung des „Großen Literaturprei-
ses der Bayerischen Akademie der Schönen Künste“, in der er
zur Rückbesinnung auf eine originäre Literatur-Wissenschaft
auffordert. Während die grassierende Kulturwissenschaft „Li-
teratur als Beispiel für soziokulturelle Fakten“ benutze, müsse
die Literaturwissenschaft, „die den Namen verdient“, „die ab-
solute und prinzipielle Differenz zwischen Geschichte/Realität
einerseits und Literatur andererseits“ festhalten. Die Autono-
mie, der Bohrer das Wort redet, fordert dann geradezu gebie-
terisch andere Umgangs- und Rezeptionsweisen als jene die
Kunst und Literatur mit externen, gesellschaftlich-geschichtli-
chen Faktoren verrechnenden (wie auch immer zu benennen-
den) Aneignungsformen. Wobei Bohrer seine Argumentation
politisch noch dahingehend zuspitzt, daß er der Kulturwissen-
schaft und ihren Vertretern vorhält, den freiwilligen Kotau vor
einer nachwachsenden, ästhetisch und auch anderweitig unge-
bildeten Generation zu machen: „Die Aktualität der Kulturwis-
senschaft ist also keineswegs einem fälligen Paradigmawechsel

raturwissenschaft, Ein Arbeitsbuch, 7., vollständig überarbeitete


Auflage, Berlin 2006, S. 221f.
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. 269

geschuldet, sondern einem politisch erzwungenen Wechsel


von viel banalerer Natur: der Rücksichtnahme oder, genauer,
dem vorauseilenden Gehorsam einer handzahmen Professo-
renschaft gegenüber der ideologischen Kulturbürokratie und
gegenüber dem nachbürgerlichen studentischen Milieu, denen
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

beiden die Komplexität der griechischen Tragödie, der Sprache


Heinrich von Kleists und der Reflexion Baudelaires nicht mehr
zuzumuten ist.“ (Bohrer 2005)
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Starker Tobak, der seine zusätzliche Schärfe und Würze aus


den vielfältigen Angriffen und De(kon)struktionen auf die
Textgestalt bezieht. Ob freilich die pure Voraussetzung – also
im Sinne Hegels: eine Setzung als Nicht-Setzung – von Litera-
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tur (etwa in Gestalt eines unhinterfragten Kanons) genügt, sei


dahingestellt. Und auch die Frage des von Bohrer zitierten
Mediävisten Walter Haug – „Warum […] darf eigentlich Lite-
raturwissenschaft nicht Literaturwissenschaft sein?“ – ist zwar
überaus berechtigt, allerdings solange nicht zureichend beant-
wortet, solange der Gegenstand unklar bleibt. Haugs inhaltli-
cher, aufs Anthropologische zielender Feststellung ist dagegen
kaum zu widersprechen: „Die Literatur verdankt ihre Existenz
der Tatsache, daß es unlösbare Probleme gibt. Sie findet ihren
eigentlichen Sinn darin, in Aporien hineinzuführen, sie bewußt
zu halten.“ ( Haug 1999. S. 87) Wie wahr, wie richtig und wie
weit zugleich auch wieder von Bohrers Ästhetizismus entfernt,
wenn Haug. u.a. vom „anthropologischen Grundproblem“
(a.a.O. S. 88) spricht, worin es im literarischen Text auch geht.
– Doch was ist der literarische Text denn nun eigentlich?

Wenn der Text als literarischer gelten soll, dann muß er ebenso
rand- wie tiefenscharf gefaßt werden – dann müssen nämlich
zunächst Text-, dann auch Literarizitäts- bzw. Poetizitätsmerk-
male bestimmt werden. Und hier bewähren sich schließlich
nicht nur linguistische und semiotische Theorien, sondern
gelangen wiederum altehrwürdige Traditionen von der Rhe-
torik über die Poetik bis zur Ästhetik zu ihrem Recht. In
270 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.

Kürze: die Textualität, d.h. die Fixiertheit (zumeist in schriftli-


cher, zunehmend auch – wieder! – in anderer medialer Form
samt politisch-rechtlicher Rahmenbedingungen [Stichwort: Ur-
heberrecht]) muß geklärt sein, um anschließend dann nach
dem ästhetisch-poetischen Mehrwert dieses ausgezeichneten
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

Textes zu fragen. Es liegt auf der Hand, jene Disziplinen und


ihr Methodenarsenal aufzurufen, die den Text als „Struktur“
und „Zeichen“, worin Martina Wagner-Egelhaaf die Gemein-
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samkeit solch verschiedener Ansätze wie Hermeneutik und


Werkimmanenz, Formalismus und Strukturalismus bis hin zu
poststrukturalistisch-dekonstruktivistischen Überlegungen ge-
sehen hat, beschreiben. Die also – m.a.W. – das Textinnere in
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den Blick nehmen (,wobei die starke Behauptung Derridas in


Verlängerung strukturalistischer Reflexionen, daß es gar kein
Textäußeres gebe, mit guten Gründen bestritten werden darf).
Der Text als Zeichen bzw. – weitergehend – Zeichengewe-
be oder „Netz“ (Roland Barthes), das – in der Regel – Kon-
ventionen unterworfen ist, Mitteilungs- und Aufforderungs-
charakter hat, also auf – im weitesten Sinne – Kommunikation
und Anschlußhandeln verweist, muß als literarischer auf seine
Spezifität hin, d.h. auf seine Differenz zum Gewöhnlichen,
Vertrauten, Alltäglichen in Augenschein genommen werden.
Hier stehen die bekannten Kandidaten – rhetorische Figuren,
poetologische, aber auch linguistische Begriffe – bereit, deren
Gesamtheit auf so etwas wie ‚Verfremdung‘ (mittels Metapher
und Metonymie) zielt. Die konkrete Form-Inhalt-Dialektik ei-
nes jeden Textes (Form ist immer nur Form eines bestimmten
Inhalts, so Georg Lukács) transzendiert zugrundeliegende (All-
tags-)Realität – was man durchaus auch terminologisch in der
Sprache geschichtsphilosophischer Ästhetiken als Utopie be-
zeichnen darf: etwas wird anders gesehen/bezeichnet/gedeu-
tet. Mag dies – in aller Bescheidenheit – bloß eine Irritationen
auslösende, am Tag hell brennende Lampe sein (wie Dieter
Wellershoff z.B. einmal gemutmaßt hat) oder mag es sich da-
bei um jene den Vorschein von ungelebtem Leben ausdrük-
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. 271

kenden großen Kunstwerke (Ernst Bloch) handeln, ‚plötzlich‘


geht einem da ein Licht auf, und ‚im Moment‘ wird die Stetig-
keit des Routinierten unterbrochen. ‚Ach, so ist das – so kann
man das auch sehen/ausdrücken!‘ Ein Plädoyer für das hegel-
sche ‚auch‘. Etwas – unbestimmt was – ist nicht etwas, sondern
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

vielmehr ein Feld zahlloser ( Bestimmungs-)Momente und (Be-


ziehungs-)Elemente.
Wir können auch mit dem Hermeneutiker Paul Ricoeur, der
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ganz allgemein als Text „jede[n] schriftlich fixierte[n] Diskurs“


(Ricoeur 1970. S. 181) bezeichnet hat, hinsichtlich des literari-
schen Textes davon sprechen, daß in ihm eine Welt entworfen
wird – an vornehmster Stelle im literarischen Werk folgender-
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maßen: „Ein Werk spiegelt nicht nur seine Zeit, sondern es er-
schließt eine neue Welt, die es in sich trägt.“ 2 Und dies, wie
Ricoeur in einer Vielzahl von Arbeiten gezeigt hat, vor allem
mit den Mitteln der Metaphorik – denn in der Metapher, so
Ricoeur in direktem Anschluß an die aristotelische Poetik,
‚feiert‘ die Sprache geradezu. Dies könnte als Mindestanfor-
derung für die Poetizität von Texten gelten. So kann man
auch, um im Bild zu bleiben, behaupten, daß die Wirkung des
literarischen Textes solange in der Zeit andauert, solange –
dies ließe sich mühelos anhand kanonischer Werke der Welt-
literatur zeigen – sie immer wieder neu und anders gelesen
werden können.
Der junge, von Kant inspirierte Georg Lukács hat in seiner
geplanten Habilitationsschrift den Begriff des ‚Schemas mögli-
cher Inhaltserfüllung‘ geprägt, um diesen Sachverhalt auszu-
drücken.3 Der Text müsse – nicht zuletzt aufgrund seines me-

2
Ricoeur, Paul, Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen,
in: Texte zur Theorie des Textes, ( Hg.) Kammer, Stephan/Lüde-
ke, Roger, Stuttgart 2005, S. 206; vgl. ganz allgemein auch von Ri-
coeur, Paul, Die lebendige Metapher, München 1986.
3
Vgl. dazu ganz allgemein: Lukács, Georg, Heidelberger Philoso-
phie der Kunst ( 1912-1914), in: Ders., Werke, Bd. 16, (Hg.) Ben-
272 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.

taphorischen Charakters, also der herausgehobenen feierlichen


Sprachstellung – als ‚besonderes Allgemeines‘ ( Schleiermacher)
gesehen werden, das Anlaß zu zeitüberdauernden bzw. -resi-
stenten Beschäftigungen gebe. Oder, um es mit einem Apho-
rismus Wilhelm Raabes auszudrücken: „Wahre Dichtungen
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

halten der Zeit den Spiegel nur insofern vor, daß sie die Zeit in
der Ewigkeit sich spiegeln lassen.“
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Der Text ist als literarischer Text und – weit mehr noch – als
literarisches Werk, das zwar ‚dauerhaft fixiert‘ (Wilhelm Dil-
they) vor unseren Augen steht, dennoch niemals statuarisch in
sich ruhend, sondern – der Zeitfaktor ist bereits angesprochen
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– auf seine verschiedenen Zeitrelationen hin zu befragen. Mag


er nun Ausdruck von der Zeit oder auch Protest gegen die Zeit
seiner Entstehung sein, bezogen ist er allemal darauf – denn
Zeit bildet den Hintergrund und Kontext, die Umwelt des
Textes. Er ist in sie hineingebildet, partizipiert an ihr – im
Wort wie in der Gesamtheit der in ihm akkumulierter Wis-
sensformen. Deshalb kann er auch nur in und aus seiner Zeit
heraus verstanden werden – oder eben auch nicht verstanden
werden, dann nämlich, wenn seine Konstitutionsbedingungen
völlig außer acht gelassen werden.
An dieser Stelle darf auf eine Begriffsfassung Niklas Luh-
manns hingewiesen werden, der vorgeschlagen hat, den (an-
sonsten von ihm selten gebrauchten) Begriff der Kultur als
‚soziales Gedächtnis‘ zu bezeichnen. Für Luhmann entsteht,
wenn man so will, Kultur freilich erst in der Moderne, d.h. in
einer Situation, „in der die Gesellschaft so komplex geworden
ist, daß sie mehr vergessen und mehr erinnern und dies reflek-
tieren muß und deshalb einen Sortiermechanismus benötigt,
der diesen Anforderungen gewachsen ist.“ ( Luhmann 1997. I.

seler, Frank, Darmstadt-Neuwied 1974; ders., Heidelberger Ästhe-


tik (1916-1918), in: Ders., Werke, Bd. 17, ( Hg.) Benseler, Frank,
Darmstadt-Neuwied 1974.
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. 273

S. 588) Doch was spricht dagegen, den Kulturbegriff nach hin-


ten in die Geschichte der Menschheit zu verlängern – vor al-
lem dann, wenn man mit dem deutschen Idealismus und sei-
nen materialistischen Widergängern die Formen der Kunst,
das gesamte Kunstsystem mit seiner Semantik, als Konkretisa-
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

tionen und Objektivationen von Kultur als dem Gedächtnis


der Menschheit begreift? Nichts! Und genau hier ist eben das
Einfallstor jenes numinosen Disziplinenbündels zu verorten,
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das mehr schlecht als recht mit Kulturwissenschaft(en) neuer-


dings bezeichnet wird und dessen Pendelausschläge von der li-
terarischen Anthropologie über Handlungs- und Wahrneh-
mungstheorien, Gender Studies und Gedächtnistheorien bis
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zur Intertextualität reichen.


Zu Recht kann sich die Kulturwissenschaft darauf berufen,
daß die Literatur – der literarische Text, das literarische Werk –
insofern „eine wesentliche kulturelle Funktion“ erfüllt, als sie
etwas leistet, „was andere Diskurse nicht leisten können“, daß
sie beispielsweise, worauf Michael Titzmann aufmerksam ge-
macht hat, in Texten des 19. Jahrhunderts „schon ein individu-
elles, personenspezifisches ‚Unbewußtes‘“ zeigen kann, „das
der Ort von ‚Verdrängungen‘ sein kann, lange bevor der psy-
chologische Diskurs ein solches Konzept entwickelt – und
dann natürlich, im Unterschied zur Literatur, expliziert und sy-
stematisiert.“ (Titzmann 1999. S. 59) M.a.W.: Literatur ist weit
mehr noch denn bloßer Ausdruck von Kultur, also: von kultu-
rellem Gedächtnis; sie ist vielmehr konstitutiver und formati-
ver Bestandteil jedweder Kultur, also durchaus so etwas wie
kulturelle Antizipation. „Die Rede über die Kultur“, so Georg
Bollenbeck in wünschenswerter Deutlichkeit, „(im Sinne des
Deutungsmusters) und die Rede über die Kunst lassen sich
nicht trennen.“ (Bollenbeck 1999. S. 20)
Doch heißt das nun auch notwendigerweise, daß Literatur-
wissenschaft als Kulturwissenschaft neu und umgeschrieben
werden muß, daß wir gar vor einem neuen Paradigma stehen?
– Gleich ein doppeltes Nein! Zum einen ist – historisch – dar-
274 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.

an zu erinnern, daß bereits im Umfeld des Neukantianismus an


der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und den Überlegun-
gen zur Unterscheidung verschiedener Wissenschaftstypen
(Naturwissenschaften als harte nomothetische Wissenschaften,
Geisteswissenschaften als verstehende und deutende, also: wei-
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

che Wissenschaften) bei Wilhelm Windelband, Heinrich Rik-


kert und Wilhelm Dilthey, aber auch bei Georg Simmel und
Georg Lukács, später dann bei Ernst Cassirer ganz ähnliche
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Reflexionen angestellt worden sind. Schon Rickert hat die Gei-


steswissenschaften seiner Zeit als „Kulturwissenschaften“ be-
zeichnet, die als „historische Wissenschaften“ die einmalige
Entwicklung und Besonderheit spezifischer Objekte in den
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Blick nehmen.4 Zum anderen – systematisch – ist zu bemän-


geln, daß – obgleich z.T. auf höherem methodischen Niveau –
noch keine Methodologie ausgearbeitet worden ist. Im Gegen-
teil: der glückliche Positivismus des jungen Foucault feiert
fröhliche Urständ. Es handelt sich um ‚bricolage‘ (was gar
nicht einmal abfällig gemeint ist), bestenfalls um einen „Werk-
zeugkasten“ 5, zu dessen Inventar vor allem – und darin scheint
wohl der besondere Reiz zu bestehen – die Interdisziplinari-
tät gehört.6 Nur: es „spricht nichts dafür, daß mit Kulturwis-
senschaft schon ein neues methodisches oder theoretisches
Paradigma gemeint sein könnte, noch gar eines, das die Inter-
nationalisierung der Literaturwissenschaft vorantreiben wür-
de.“ (Huber/Lauer 2000. S. 9)

4
Zit. nach: Fauser, Markus, Einführung in die Kulturwissenschaft,
Darmstadt 2004, S. 15.
5
David Morley, zit. nach: Lindner, Rolf, Die Stunde der Cultural
Studies, Wien 2000, S. 84.
6
Vgl. Lindner, Rolf a.a.O. S. 114; vgl. auch Jannidis, Fotis, Litera-
risches Wissen und Cultural Studies, in: Huber, Martin/Lauer,
Gerhard ( Hg.), Nach der Sozialgeschichte, Konzepte für eine Li-
teraturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kultur-
geschichte und Medientheorie, Tübingen 2000, S. 355.
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. 275

Ganz im Gegenteil. Es spricht vielmehr einiges dafür – und


viele Verfechter des Konzepts der Kulturwissenschaften (nicht
nur im deutschen Raum) formulieren dies auch explizit so –,
die Kulturwissenschaften oder ‚cultural studies‘ als Textwis-
senschaft zu begreifen, da eine eindeutige Textzentriertheit
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

festzustellen ist – mehr und weiter noch, wie es die Kulturse-


miotik auffaßt: „daß alle kulturellen Produkte als Texte be-
trachtet werden können.“ 7 Womit wir wieder bei unserem
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Ausgangspunkt: der Frage nach dem Text, angelangt wären.


Ohne jede Besserwisserei, die in einer solchen Einschätzung
liegen mag, daß es sich bloß um alten Wein in neuen Schläu-
chen handelt, aber die kritische Frage muß weiter gestellt blei-
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ben, worin denn die eigentümliche Besonderheit dessen, wo-


mit sich Kulturwissenschaften auf welche Weise auch immer
beschäftigen, besteht. Und wie der Gegenstand des nur vage
als Kultur Bezeichneten zu fassen bzw. zu beschreiben sein
kann. Vorschläge dazu liegen allerdings noch kaum vor.8
Gewiß sind die Einsprüche gegen allzu emphatische oder
gar auratisierende Konzepte in den traditionellen Literatur-
und Kunstwissenschaften angebracht. Und ebenso sicher müs-
sen diese Literatur- und Kunstwissenschaften ihre Gebiete im-
mer wieder neu vermessen, müssen Grenzen übertreten wer-
den. Doch geschieht dies nicht eben auch seit eh und je?! Wen
will da z.B. Peter Brenner eigentlich noch treffen mit der Aus-
sage: „Literatur hat ihre Eigenheiten; aber etwas Besonderes ist

7
G. Bentele, zit. nach: Lenk, Carsten, Kultur als Text, Überlegun-
gen zu einer Interpretationsfigur, in: Glaser, Renate/Luserke, Mat-
thias (Hg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft, Positio-
nen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 119.
8
Vgl. Ort, Claus-Michael, Was leistet der Kulturbegriff für die Lite-
raturwissenschaft? Anmerkungen zur Debatte, in: Germanistik als
Kulturwissenschaft. Mitteilungen des Deutschen Germanistenver-
bandes, H. 4, 1999, S. 536f.
276 XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text.

sie nicht.“ 9 Nein – das wird wohl niemand mehr so behaupten;


doch die „Eigenheiten“ bleiben eben weiterhin, und sie harren
der Erklärung. Angesiedelt sind sie im Spannungsfeld dessen,
was seit Schleiermacher und der (Früh-)Romantik das ‚indivi-
duelle Allgemeine‘ genannt wird und was der russische Litera-
XII. Der Text ist Literatur ist Kultur ist der Text. Literaturwissenschaft und oder Kulturwissenschaften statt eines Nachwortes, 9783838529370, 2020

turwissenschaftler Michail Bachtin in seinen Überlegungen


zum Textbegriff – durchaus im Rückgriff auf den deutschen
Idealismus und die Geistesgeschichte einerseits ebenso wie auf
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den linguistischen Strukturalismus andererseits – in der Dop-


pelstruktur des Textes als Ausdruck des Systems einer Sprache
und zugleich als individuelle, einzigartige und unwiederholbare
Äußerung gesehen hat.10
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Möglicherweise kann man sokratisch die Lösung des Pro-


blems darin sehen, daß – deutsche Methodenobsessionen ein-
mal beiseitegerückt – unter dem Strich die neu angestoßene
Diskussion für die jeweils blinden Flecken auf beiden Seiten
sensibilisiert, ja, daß sie vielleicht sogar zu fruchtbaren Ergän-
zungen führt, in dem Sinne, wie es Claus-Michael Ort einmal
ausgedrückt hat, daß sich – idealiter spectata – „die ‚kultur-
wissenschaftliche Erweiterung der Textwissenschaften‘ ( Bach-
mann-Medick) und eine text- und zeichenwissenschaftliche
Erweiterung der Kulturwissenschaft wechselseitig“ ergänzen
können.11 –
Aber was ist denn nun eigentlich ein Text? – Und was
macht seine Poetik aus?

9
Brenner, Peter J., Was ist Literatur?, in: Glaser, Renate/Luserke,
Matthias (Hg.), Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft, Posi-
tionen, Themen, Perspektiven, Opladen 1996, S. 37.
10
Bachtin, Michail, Das Problem des Textes, in: Texte zur Theorie des
Textes, ( Hg.) Kammer, Stephan/Lüdeke, Roger, Stuttgart 2005,
S. 175.
11
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