Sie sind auf Seite 1von 94

VO Germanistische Sprachwissenschaft

Detaillierte Mitschrift für die Vorlesung „Germanistische Sprachwissenschaft“ aus dem


Sommersemester 2020/21 bei Manfred Michael Glauninger, Fabian Fleißner und Rita
Stiglbauer.

1
EINFÜHRUNG IN DIE SOZIOLONIGUISTIK
Sprachwissenschaft in gesellschaftlichem Kontext
• Soziolinguistik betrachtet Sprachgebrauch eingebettet in die Gesellschaft →
betrachtet Sprache als gesellschaftliches Phänomen

• Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann – Frage: Wie funktionieren soziale


Systeme? → Theorie beeinflusst von Entwicklungen des 20. Jhd.:
o bis zur Mitte des 20. Jhd. wurden Systeme mengentheoretisch definiert →
System ist eine best. Menge von Elementen, die irgendwie zusammenhängen
o Mitte 20. Jhd. neue Sicht – Ausgangspunkt Biologie: Maturana → System als
Prozess (dynamisch) definiert, der das, woraus er besteht, selbst erzeugt =
selbsterzeugender Prozess (griech. autopoiesis) → Systeme sind
autopoietische Prozesse
• Maturana nahm als Beispiel biologische (lebendige) Systeme → Energie
kommt von außen, Prozess kann nur in dem System ablaufen, es wird
darin alles selbst erzeugt, was benötigt wird (z.B. Zellteilung) =
selbsterzeugend!
• Luhmann: Kann man auch soziale Systeme autopoietisch definieren? = Neuer Blick
auf Gesellschaft – Was erzeugt das Soziale und was gibt es gleichzeitig nur in sozialen
Systemen? → KOMMUNIKATION
• Kommunikation: Zwei Einheiten tauschen etwas miteinander aus (Energie, Emotion,
Information… nicht nur bei den Menschen!) → durch Austauschen entsteht das
Soziale
• Sprache ist wichtig für Kommunikation, jedoch nicht allein dadurch kommuniziert
man (auch über Gefühle, Emotionen, Berührungen…)
• Rote Wechselwirkungspfeile in der Abbildung → hängt zusammen: Kommunikation
erzeugt soziale Systeme und es gibt nur in sozialen Systemen Kommunikation
• Sprachbasierte Kommunikation: Sprache als Medium der Kommunikation = enorme
Steigerung der Möglichkeit der Kommunikation → Zeit und Raum Überwindung,
Mitteilung abstrakter (übersinnlicher) Inhalte, Sprechen über Sprache (Metaebene,
also Kommunikation zum Inhalt der Kommunikation machen)
• Steigerung der sozialen Systeme → Gesellschaft / Kultur entsteht durch Sprache
(menschliche Systeme sind ohne Sprache unvorstellbar)
• Wechselwirkung Kommunikative Evolution und gesellschaftliche / kulturelle
Evolution → Sprachwandel: Sprache verändert sich mit der Gesellschaft

2
Es gibt keine Gesellschaft / „Kultur“ ohne (sprachliche) Kommunikation und keine
(sprachliche) Kommunikation ohne Gesellschaft / „Kultur“
➢ Wechselwirkung Gesellschaft – Sprache
➢ Es gibt nichts Soziales ohne Kommunikation – Jeder Mensch ist Produkt der
Kommunikation und braucht Kommunikation

WAS KANN SPRACHE ALS MEDIUM DER KOMMUNIKATION?

• Es gibt natürliche Sprachen, formale Sprachen (Mathematik, Programmiersprachen)


und Plansprachen
o Natürliche Sprachen sind irgendwann entstanden und wandern mit den
Menschen durch die Geschichte
o Plansprachen haben genauen Entstehungszeitpunkt (z.B. Esperantos), jedoch
auch natürliche Sprachen werden teilweise geplant (Grammatik)
o Unterschied formale Sprachen – natürliche / Plansprachen = Semantik:
Natürliche Sprachen sind semantisch unklar / vage (z.B. lügen, Humor, Ironie,
Variation von Sprache (Dialekt)); heterogen; sie verändern sich dauernd –
Formalsprachen hingegen sind semantisch logisch / exakt; homogen; fix
o Alle formalen Sprachen sind aus natürlichen Sprachen hervorgegangen (z.B.
Mathematik)

3
3 FUNKTIONEN NATÜRLICHER SPRACHEN

1) Kommunikation (mündlich, schriftlich)


o Sprachen sind Medien der Basiskommunikation in mündlicher und schriftlicher
Form – Medium der Mitteilung von Information…
2) Kognition (begriffliches Denken, Konzepte)
o Sprachen braucht es zum Denken (Denken = stummes Sprechen) – Wahrnehmung
der Wirklichkeit ist gefiltert durch Konzepte/Begriffe der natürlichen Sprachen →
Chaos an Sinnesreizen wird durch natürliche Sprachen geordnet, dies erleben wir
dann als Wirklichkeit → Es hängt also von der Sprache ab, in der man sozialisiert
wurde, wie man die Welt wahrnimmt (z.B. Inuit haben 25 Begriffe für das Wort
Schnee / manche indigene Völker haben kein Wort für best. Farben, die wir
kennen) → Natürliche Sprachen sind Werkzeuge der Wahrnehmung und bauen
die Welt auf, in der wir leben
o Abhängigkeit der Wahrnehmung von Einzelsprachen wurde lange tabuisiert
(Gefahr der Ideologisierung → Ideologien im NS: rassistische Interpretation: „nur
wenn man Deutsch spricht, nimmt man die Welt richtig wahr“)
3) Medialität hinsichtlich „sozialer Bedeutung“ → Indizierung von (stereotypem)
„Wissen“ über (den Gebrauch von) Sprache bzw. über Sprachträgergruppen
o Natürliche Sprachen sind Medien ihrer eigenen sozialen Bedeutung → Alles
Sprachliche, das im Laufe der Sozialisation erworben wird (jede Vorstellung von
Sprache, also Einzelsprachen aber auch Dialekte, Jugendsprache…), sind
verknüpft mit best. sozialen Bedeutungen → mit Vorstellungen
/“Wissensbeständen“ (kein objektives Wissen sondern Weltwissen - meist
Klischees, Stereotypen) = soziale Bedeutung von Sprache
o z.B. Jemand wurde in Österreich sozialisiert – Wenn jemand Speck (hartes k) sagt,
denkt dieser direkt an Tirol und an alles, was mit Tirol verknüpft ist (Berge,
Skifahren…) / oder z.B. Französisch verknüpft man mit Erotik, Eleganz, Arroganz…

4
o von der Werbung genutzt: Werbung für Bio meist im Dialekt (Verknüpfung: vom
Land, vom Bauern, natürlich, gesund) - Parfum hingegen meist mit franz. Akzent
(Verknüpfung: Erotik, Eleganz…)
o Soziale Bedeutung der Sprache ist ein Zeichenprozess (Sprache ist ein
indexikalisches Zeichen) – ist also konventionell (es hängt von der sozialen
Gruppe ab, was damit verknüpft wird)
z.B. Die soziale Bedeutung von Russisch ist in Österreich eine andere als in Italien
o Soziale Bedeutung setzt sich immer aus positiven (Prestige) und negativen
(Stigma) Seiten zusammen

• 3 Dimensionen fließen ineinander (Rote Pfeile)!!!


• Konstruktion / Interpretation von gesellschaftlicher Wirklichkeit: Man geht davon
aus, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Interaktion der Menschen erzeugt
und interpretiert wird
o Gesellschaftliche (soziale) Wirklichkeit ist also konstruiert, ist nicht einfach da
(z.B. Nationen sind soziale Konstrukte, welche ursprünglich (vor ein paar hundert
Jahren) die Idee einiger weniger Menschen war und erst im 19. Jhd. Wirklichkeit
wurde – heute sind sie eine Selbstverständlichkeit, in die wir hineingeboren
werden; oder auch die Ehe ist ein soziales Konstrukt)
o Soziale Wirklichkeit ist ein soziales Konstrukt!
= KONSTRUKTIVISTISCHE Orientierung (moderne Soziolinguistik)

2 WESENTLICHE CHARAKTERISTIKA NATÜRLICHER SPRACHEN

1) Heterogenität (Variation)
o Nicht in allen Sprachen gleich ausgeprägt
z.B. Deutsch = stark heterogen – Es gibt sehr viele dialektale Varietäten des
Deutschen
o Wie definiert man diese Variation? Variation = Tatsache, dass die Sprachen für
eine sprachliche Funktion (z.B. Bedeutung oder Aussprache) mehrere
Möglichkeiten (Varianten) zur Verfügung haben
5
z.B. Junger männlicher Mensch – mehrere Lexeme (Wörter) zur Verfügung: Junge,
Bub, Bursche…
z.B. Bub – mehrere Varianten in Bezug auf die Aussprache – standardsprachlich /
dialektal aussprechen: Bub, Bua, Bui…
→ Man hat auf allen Ebenen des Sprachsystems mehrere Möglichkeiten /
Varianten zur Verfügung
o Einzelsprache kann als Gesamtmenge verschiedener sprachlicher
Erscheinungsformen (Dialekte, Jugendsprache, Fachsprache, Standardsprache…)
gesehen werden = komplexe KOEXISTENZ verschiedener Erscheinungsformen
(Varietäten) innerhalb einer natürlichen Sprache
o INTERAKTION der verschiedenen Erscheinungsformen einer Einzelsprache – sind
nicht deutlich voneinander abgrenzbar

2) Dynamik (Sprachwandel)
o Alle natürlichen Sprachen verändern sich ununterbrochen, da natürliche Sprachen
und Gesellschaft untrennbar miteinander verbunden sind (Es gibt keine
Gesellschaft ohne sprachbasierte Kommunikation und umgekehrt)
→ So wie sich die Gesellschaft ununterbrochen verändert, verändert sich auch die
Sprache ununterbrochen und umgekehrt: Gesellschaftlicher Wandel – Sprachwandel
o Sprachwandel betrifft nicht alle Erscheinungsformen gleichermaßen
z.B. verändert sich in einer best. Phase ein Dialekt schneller und ein anderer langsamer;
oder Standardsprache in einer Region verändert sich langsam und Dialekte schnell
oder umgekehrt
o Nur tote Sprachen bleiben statisch

• Roter Wechselwirkungspfeil → z.B. versch. Varianten einer Sprache entstehen oft


dadurch, dass eine oder mehrere Varianten einen älteren Sprachzustand
repräsentieren und eine/mehrere andere Varianten einen neueren Sprachzustand →
Heterogenität ist ein Reflex auf den Wandel einer Sprache
z.B. immer weniger Menschen verwenden „Bui“ und darin zeigt sich auch der
Sprachwandel

6
WIE KOMMT ES ZUR VARIATION NATÜRLICHER SPRACHEN?

• In der Wahrnehmung versch. Varietäten der Sprachen spielen außersprachliche


Phänomene eine entscheidende Rolle
• In unserem Bewusstsein verknüpfen wir außersprachliche Faktoren mit sprachlichen
Faktoren (wir korrelieren sie) und daraus entstehen verschiedenen
Erscheinungsformen von Sprache in unserem Bewusstsein
Außersprachliche Korrelationen:

• Konzeption/Medium (gesprochen/geschrieben)
o ob Sprache mündlich oder schriftlich verwendet wird (Medium) ist
entscheidender Faktor, in welcher Erscheinungsform die Sprache im Bewusstsein
steht – gesprochene Sprache unterscheidet sich in vielen Merkmalen von
geschriebener
o Konzept, also das Bewusstsein, dass ich spreche oder schreibe spielt dabei eine
größere Rolle als das Medium (Luft – Papier)
Sprechen: Kommunikationspartner ist präsent – Sprache ist in Interaktion
eingebettet, wo Kommunikationspartner zum selben Zeitpunkt räumlich und
zeitlich präsent sind: Man kann nachfragen, wiederholen, sich ausbessern, Gestik
und Mimik verwenden…
Schreiben: Rezipient ist nicht anwesend, man muss also eine Vielzahl an
Informationen mitliefern, also mit sprachlichen Mitteln kontextualisieren
o Moderne Medien: Mischform (=geschriebene Mündlichkeit) → Konzeption ist
mündlich, Medium ist aber schriftlich
z.B. chatten: Es wird geschrieben, es fühlt sich aber an als ob man sprechen
würde und der Partner präsent wäre – Oft wird dabei auch im Dialekt
geschrieben
• Geografischer Raum / Mobilität
o Man verknüpft best. sprachliche Formen mit best. Regionen (=Dialekt in unserem
Bewusstsein)
• Soziale Gruppen, Rollen

7
o Man verknüpft best. sprachliche Phänomene mit best. sprachlichen Gruppen
(=Unterschicht, Oberschicht, Jugendliche, Gebildete…) oder mit Rollen, die man in
einer Gesellschaft einnimmt
• Alter, Geschlecht
o Alter oder Geschlecht der Menschen, die die Sprache verwenden, werden
korreliert mit sprachlichen Phänomenen
• Kommunikationssituation / -atmosphäre
o Erscheinungsform der Sprache ist bei formeller Kommunikation (meist
Standardsprache) anders als bei informeller (meist Dialekt)

SPRACHWIRKLICHKEITSMODELL – HEINRICH LÖFFLER (Germanistische Soziolinguistik)

• Schematisierung der Heterogenität der deutschen Sprache in Bezug auf die versch.
Varietäten
• Keine natürliche Sprache ist homogen, da es keine homogenen Gesellschaften gibt
• Deutsch ist besonders heterogen
• Löffler nennt Großteil der Varietäten „Lekte“ (Lekt = Varietät – DiaLEKT kennt jeder,
deshalb verwendet er auch für die anderen Varietäten den Begriff „Lekt“)
• Typen der Varietäten:
o Dialekte: geographisches Areal
o Soziolekte: soziale Gruppenbildung in der Gesellschaft
o Genderlekte: Geschlecht
o Situolekte / Stile / Textsorten: Situation
o Funktiolekte: sprachliche Funktion
o Mediolekte: Übertragungsmedium (Luft, Speichermedium)
8
o Idiolekte: Individueller Sprachgebrauch
… wird korreliert mit best. sprachlichen Phänomenen
• Wirrwarr einzelner Linien, überschneiden sich → verschiedene Varietäten können
nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden; Es kann nicht definiert werden, wie
viele „Lekte“ eine Einzelsprache haben muss, wie viele sprachliche Merkmale eine
Varietät haben muss, wie viele Menschen die Varietät verwenden müssen…
→ Lekte sind keine unabhängig von unserem Bewusstsein existierenden Objekte,
sondern sind ein soziales Konstrukt
→ Sprache und versch. Erscheinungsformen sind soziale Konstrukte, sie werden in
der Gesellschaft erzeugt!

• Es wird unterschieden zwischen gesprochen und geschrieben (Es geht ums Konzept,
s.o.)

FOKUSSIERTE PERSPEKTIVE (des Sprachwirklichkeitsmodells) 1


„We shall first consider five major types of variation [i. e. region, social group, field of
discourse, medium, attitude]. Any use of language necessarily involves variation within all
five types, although for purposes of analysis we may abstract individual varieties (a related
set of variation within one type).“
(QUIRK [u. a.] 1995: 16) – britischer Linguist

• Wir müssen zuerst an fünf wesentliche Faktoren/Typen der Variation denken:


Region, soziale Gruppenbildung, Diskursfeld (Thema), Medium (mündlich oder
schriftlich) und Einstellung gegenüber der Sprache
• Jeder Sprachgebrauch involviert notwendigerweise Variation innerhalb aller dieser
fünf Typen gleichzeitig!
• Aber: Zum Zweck der Analyse oder zum Zweck der Vereinfachung abstrahieren wir
einzelne Varietäten und diese sind dann ein zusammenhängendes Set von Variation
innerhalb eines dieser fünf Typen
→ Immer wenn Sprache konkret verwendet wird, sind alle diese fünf Faktoren gleichzeitig
präsent – In unserem Bewusstsein lenken wir unsere Aufmerksamkeit aber auf einen dieser
Faktoren und nehmen den Sprachgebrauch dann als eine bestimmte Varietät wahr

• Fokussiert wird auf Merkmale, die besonders auffällig sind (Saliente Merkmale)
z.B. Wir hören Speck (hartes k) – Dieses fängt unsere Aufmerksamkeit und wir
bemerken zuerst die geographische Region und verknüpfen das k sofort mit Tirol –
andere Faktoren sind in dem Moment nicht so wichtig (z.B. dass unser
Kommunikationspartner ein Jugendlicher ist)
→ Wahrnehmung einer best. Varietät resultiert aus einem Selektionsprozess in unserem
Bewusstsein

9
FOKUSSIERTE PERSPEKTIVE 2

• Bestimmte Varietäten sind sehr stark im kollektiven Bewusstsein verankert


• Bekannte/wichtigste Varietäten bei „Laien“ (blau) → In der Interaktion verwendet,
diese Konzepte sind also nicht falsch!
o Dialekte / Mundarten (=eingedeutschtes Wort des Begriffs Dialekt, hat sich aber
nicht durchgesetzt) und Hochdeutsch (=standardnahe Umgangssprache aus
linguistischer Sicht)
o Umgangssprache fehlt bei den „Laien“ → „Dialekt“ reicht von den Basisdialekten
bis in die Umgangssprache – Dialekt meint also meist dialektnahe
Umgangssprache
• In der Linguistik stark verankerte Varietäten (schwarz)
o Zwei Pole: Standardvarietät(en) und Basisdialekte (kleinräumige Dialekte, die die
Grundlage für die Variation der deutschen Sprache bilden)
o Standardvarietäten oben: höheres Prestige
o Dazwischen: Umgangssprachen → Je nach Kommunikationssituation sehr flexibel
– Mal näher an der Standardsprache (standardnahe Umgangssprache) oder näher
am Basisdialekt (dialektnahe Umgangssprachen)
→Wahrnehmung der Laien deckt sich nicht mit linguistischer Perspektive! – In der
modernen Soziolinguistik beschäftigt man sich mit Konzepten von Laien (= emische
Perspektive – aus der Sicht der Laien) = Schlüssel, um soziale Bedeutung von Sprache
aufzuzeigen

10
DYNAMIK / EVOLUTION: WAHRNEHMUNG UND BEWERTUNG (Emische Perspektive)

→Fluss einer natürlichen


Sprache durch die
Geschichte

• SprecherInnen sehen Sprachwandel meist negativ → Sprachverfall, die Sprache


stirbt…
• Für LinguistInnen ist Sprachwandel selbstverständlich
• Abbildung: Fluss einer natürlichen Sprache durch die Geschichte zusammen mit den
Sprachträgern (… → man weiß nicht, wann die Geschichte einer Sprache beginnt und
wann sie endet)
• Sehr langer Fluss: Deutsch beginnt im frühen Mittelalter
• Irgendwann im Lauf der permanenten Veränderung gibt es die erlebte Dimension
(=Zeit, in der ein Mensch lebt) – Also im Vergleich eine sehr kurze Zeitspanne
→Mensch erlebt Sprache nur in diesem kurzen Zeitfenster, wird da hineinsozialisiert
und nimmt Sprache als etwas Selbstverständliches/Fertiges/Gegebenes wahr →
Momentaufnahme der Sprache
Mensch glaubt, dass die Sprache immer schon so war!
→Man erlebt die Sprache historisch voraussetzungslos, statisch und homogen
• Wenn man älter wird, bemerkt man den Sprachwandel (Junge Menschen sprechen
anders) → Dies führt zu Ängsten und Abneigung (Kulturpessimismus – Früher war
alles besser, der Dialekt früher war der „echte“ (obwohl auch dieser Dialekt nur das
Produkt vieler Veränderungen ist!) …)

11
ZWEI PARADIGMEN DER SOZIOLINGUISTIK
Ältere Perspektive: KLASSISCH KORRELATIVE SOZIOLINGUISTIK

entstehen durch

• Korrelativ: Sprachliche Varietäten sind Korrelationen (Verknüpfungen) zwischen


sprachlichen und außersprachlichen Merkmalen
• Kookkurrenz: Gleichzeitiges im Bewusstsein stehen von sprachlichen und
außersprachlichen Merkmalen
• Aggregationen: Phänomene der außersprachlichen Wirklichkeit (Gruppenbildung,
geographischer Raum)… sind in sich vielfältig strukturiert = Zusammenballungen
(Aggregationen) von Faktoren

• Außersprachliche Aggregationen sind der Grund für die Heterogenität der


Sprache!
• = Unidirektionale Determination (aus einer Richtung gesehen)
z.B. weil jemand aus einer best. Region kommt, spricht er, wie er spricht
weil jemand ein best. Alter / Geschlecht hat, spricht er so…
• Stratifikatorische Modellierung der Gesellschaft: Gesellschaft wird soziologisch
nach Schichten eingeteilt (Ober – Mittel – Unterschicht) – In der modernen
Soziolinguistik nicht mehr oft verwendet, da unsere Gesellschaften viel
komplizierter modelliert sind und man Menschen nicht so leicht einteilen kann

12
Moderne Perspektive: INTERAKTIONALE SOZIOLINGUISTIK

• In der Interaktion wird die soziale Sphäre konstruiert und interpretiert


• Nicht nur Kontext wirkt auf sprachliche Variation, sondern diese wirkt auch auf
den Kontext = Bidirektionale Determination (aus zwei Richtungen –
Wechselwirkung)
z.B. formelle Situation (Kontext) determiniert den Sprachgebrauch aber
umgekehrt erzeugt standardnahes Sprechen auch eine formelle Atmosphäre
→Variation der Sprache ist ein Mittel, um Kontext zu erzeugen!
• Variation wird zu kommunikativer (pragmatischer) Ressource – Damit kann man
best. kommunikative Funktionen erfüllen
• Dynamische Gesellschaftsmodellierung: Modernere Ansätze (Milieu, Rollen…)

BEISPIEL: VORSTELLUNG VON WIENERISCH ALS SPRACHFORM

• Werbeindustrie setzt soziale Bedeutung von Sprache ein


Sprachliche Bricolage (versch. sprachliche Formen zusammengemischt) als Werbestrategie
Bild 1: „Host an Tschick?“ → soll Wienerisch signalisieren
… da mit Augenzwinkern kommuniziert werden soll (Wienerisch – Ironie) → Man soll
Zigarettenstummel in den Aschenbecher werfen und nicht auf die Straße
… da Dialekt geschrieben auffällt – Werbung soll auffallen

Man versteht die Werbung nur als Insider (als Wiener) → Ist speziell für die Wiener
Aschenbecher spricht wie ein Mensch, der jemanden um eine Zigarette bittet – Wie ein
Obdachloser (Humor)
Bild 2: „Wo samma daham?“, „Bau keinen Mist“ Wienerisch und Standarddeutsch =
Bricolage
Dialekt ist auffällig, mit Augenzwinkern, indirekte Aufforderung an die Wiener
„Wo samma daham“ = Was soll das? – Hausmeister spricht
13
Bild 3: Wahlwerbung – Nur ein Wort in Wienerisch „warad“
Abgebildet: damaliger Bürgermeister von Wien und Kandidat

Konjunktiv 2 drückt im Wienerischen Höflichkeit aus – Gehen sie bitte wählen (höflich
formulierter Befehl)

Bild 4: „Bedasü“ = Petersilie und „Da komm ich her“ → Österreichkarte und Fahne von Wien
Wiener Petersilie – Lebensmittel sehr gern mit Dialekt beworben (regional, gesund,
natürlich)
Bild 5: „Nimma Wurscht“ Dialekt, Standarddeutsch und Englisch „Veggie“ → Bricolage
Nicht mehr „Wurscht“ = egal und Wurst → Wortspiel
Bild 6: Inszenierung von Fachsprache

Erfundene Fachsprache → Vorstellung einer Fachsprache wird evoziert (Lift + H20 → Chemie
→ wissenschaftlich geprüft)

14
SEMIOTISCHE GRUNDLAGEN
• Niklas Luhmann: Kommunikation konstruiert soziale Systeme, nur in sozialen
Systemen ist Kommunikation möglich (Autopoiesis)
• Charles S. Peirce: Kommunikation basiert auf der Erzeugung und Verwendung von
Zeichen (=Voraussetzung)
Prozess, bei dem Zeichen konstruiert werden und als Zeichen fungieren, wird als
Semiose bezeichnet
• Nähe zwischen Semiosebegriff von Peirce und dem Kommunikationsbegriff von
Luhmann – Kommunikationsbegriff kann durch Semiosebegriff ersetzt werden
• Sprachliche Zeichen (verbale Zeichen) machen bei der Kommunikation nur einen Teil
des gesamten Zeichenspektrums aus, daneben gibt es auch paraverbale (hängen in
irgendeiner Weise noch mit Sprachproduktion zusammen – z.B. Stimme,
Lautstärke…) und nonverbale (von der Sprachproduktion entkoppelt – z.B. Mimik,
Gestik…) Zeichen – Diese sind manchmal wichtiger und entscheidender als verbale
Zeichen!
• Sprachliche Zeichen sind aber besonders leistungsfähig und sind Voraussetzung für
besonders leistungsfähige soziale Systeme
• Es gibt aber auch andere soziale Systeme in der Tierwelt oder Pflanzenwelt!

SCHLÜSSELKONZEPTE UND TERMINI

SEMIOTIK

• Zählt seit der Antike zum zentralen Gegenstandsbereich der abendländischen


Philosophie - Aristoteles: Begriff Semiotik bereits genannt, intensive Beschäftigung
mit Zeichen
• Aus Semiotischer Perspektive sind SpraWi und KommunikationsWi Teilbereiche der
Semiotik → Semiotik ist die übergeordnete Disziplin, Sprachwissenschaft ist
untergeordnet
• Was ist Semiotik? (siehe Website PP)
„Die Semiotik (auch: Semiologie) ist die Wissenschaft von den Zeichenprozessen in Kultur
und Natur. Zeichen, wie zum Beispiel Bilder, Wörter, Gesten und Gerüche, vermitteln
Informationen aller Art in Zeit und Raum. In Zeichenprozessen (Semiosen) werden Zeichen
15
konstituiert, produziert, in Umlauf gebracht und rezipiert. Ohne Semiose wären Kognition,
Kommunikation und kulturelle Bedeutungen nicht möglich. Wirft man einen Blick in die
Kulturgeschichte, so stellt man schnell fest, dass die Reflexion über Zeichen und
Zeichenprozesse so alt ist wie die abendländische Philosophie, und auch in anderen
Traditionen wurde schon früh über die symbolische Verfasstheit von Kultur nachgedacht. Die
semiotischen Fragestellungen sind also älter als alle wissenschaftlichen Einzeldisziplinen und
daher geeignet, deren Isolierung zu überwinden, Gemeinsamkeiten zu suchen und
Unterschiede vergleichend herauszuarbeiten.
Semiotikerinnen und Semiotiker fragen allgemein danach, was alles Zeichen sein kann, nach
den Ordnungen und Strukturen von Zeichensystemen, den verschiedenen Funktionen und
Gebrauchsweisen von Zeichen, nach ihrer Materialität, Medialität, Performativität und
Ästhetik sowie nach den Beziehungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen und
Medien.
Dabei beschäftigt sich die Semiotik aber keineswegs nur mit menschlicher Kommunikation
und Kultur, sondern etwa auch mit Wahrnehmungs-, Orientierungs- und
Interaktionsverhalten bei Tieren und Pflanzen sowie mit Signalprozessen im Inneren von
Organismen und Informationsverarbeitung in Maschinen. Als Grundlagen- und
Metawissenschaft geht die Semiotik der Frage nach der Zeichenhaftigkeit kultureller und
natürlicher Phänomene nach. Dadurch bietet sie unterschiedlichen Disziplinen und
Praxisfeldern ein interdisziplinäres Forum an und stellt auch theoretische Grundlagen für die
Analyse interkultureller Verständigung bereit“

WAS IST EIN ZEICHEN?


Definition von Charles Sanders Peirce (1839-1914):
“I define a sign as anything which is so determined by something else, called its object, and
so determines an effect upon a person, which effect I call its interpretant, that the later is
thereby mediately determined by the former.”
“Ich definiere ein Zeichen als etwas, das auf eine bestimmte Weise determiniert (betroffen)
ist von etwas anderem (von einem Objekt) und das gleichzeitig wieder eine Wirkung ausübt
im Bezug auf einen Effekt im Bewusstsein einer Person, diesen Effekt nenne ich Interpretant,
der dadurch indirekt vom Objekt betroffen ist“
Drei Komponenten: Zeichenträger – Objekt – Interpretant
sign [vehicle] object

interpretant

• Interpretant nicht verwechseln mit Person, die das Zeichen benützt → Es ist ein
Effekt im Bewusstsein

16
• Determinieren sich gegenseitig → Zeichen ist Vermittler zwischen dem Objekt und
dem Effekt im Bewusstsein des Zeichenbenützers
• Gibt grundlegende Definition der Struktur des Zeichens (Es geht ihm nicht nur um
sprachliche Zeichen) = Universelles Zeichenmodell → Alles sinnlich Wahrnehmbare
(hören, sehen, fühlen…) kann als Zeichenträger fungieren und alles in unserer
Wahrnehmungswelt kann als Objekt fungieren
• Rolle des Interpretanten ist entscheidend → stellt sicher, dass das sinnlich
Wahrnehmbare als Komponente eines Zeichenprozesses wirksam wird → Erst wenn
im Bewusstsein die Relation zwischen dem Objekt und dem Zeichenträger als
zeichenhaft identifiziert worden ist, wird das Zeichen wirksam – Geschieht in der
Realität im Sekundenbruchteil
ALLES kann als Zeichenträger fungieren! Wir sind von unzähligen Zeichen umgeben!

DREI BASISTYPEN VON ZEICHEN (PEIRCE)


(Armin Burkhardt, Angelika Linke,
Sigurd Wichter: Studienbuch Linguistik,
2004 S. 20/21)

➢ Rechts: Welches Kriterium charakterisiert die Zeichenhaftigkeit dieses Zeichens?


➢ INDEX: Folge-Relation (Ursache, Wirkung-Relation)
z.B. erhöhte Körpertemperatur als Zechen, dass man krank ist; Rauch als Zeichen für
Feuer
➢ IKON: Abbild-Relation – Ikone sind (abstrahierte) Abbilder
z.B. Piktogramme
• Alle Zeichen sind konventionell, erlernt man im Lauf der Sozialisation
➢ SYMBOL: Zeichenhaftigkeit ist rein konventionell
z.B. Wörter

17
DAS SPRACHLICHE ZEICHEN (SAUSSURE)
= Binäre Struktur des sprachlichen Zeichens
(Strukturalismus)
Signifié: Bezeichnetes – Zeicheninhalt –
Vorstellung (concept)
Signifiant: Bezeichnendes – Zeichenausdruck –
Lautbild (image acoustique)
➢ Arbitrarität (Willkürlichkeit oder
Zufälligkeit) / Konventionalität der Verbindung zwischen Bezeichnetem und
Bezeichnendem (ist nicht logisch)
• z.B. Peter Bichsel: Ein Tisch ist ein Tisch → Mann beginnt, Dinge anders zu benennen
(löst Verbindung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem) – zahlt Preis dafür: Es
kann ihn niemand mehr verstehen – Er hat die Konvention aufgelöst
• Klassifikation von Zeichen als verbal, paraverbal und nonverbal ist eine Klassifikation,
die aus einer rein linguistischen Perspektive heraus erfolgt (Studienbuch Linguistik S.
24)
• Zeichenbenützer ist in diesem Modell nicht berücksichtigt – „Das Zeichen ist sich
selbst genug“

ERWEITERTES STRUKTURMODELL MIT BERÜCKSICHTIGUNG VOM ZEICHENBENÜTZER


SEMIOTISCHES DREIECK

• Durch den Zeichenbenützer wird die Referenz auf das Objekt hergestellt
• Das Objekt ist nicht zu verwechseln mit dem Bezeichneten im Sinne dessen, was man
im Bewusstsein hat, wenn das Bezeichnende genannt wird → Das Bezeichnende
evoziert im Bewusstsein eine entsprechende Vorstellung und das kann man dann auf
ein ganz konkretes Objekt beziehen → Der Zeichenbenützer stellt Referenzen her
• Zeichen werden von den Zeichenbenützern erzeugt und verwendet!
• Zeichenbenützer ist nicht derselbe wie der Interpretant (Peirce)! → Interpretant ist
im Zeichen selbst inkludiert (Er ist der Effekt im Bewusstsein, der den Zeichenprozess
komplett macht) – Zeichenbenützer ist außerhalb und er ist dafür verantwortlich,
dass das Zeichen benützt wird, um damit Referenz zu einem Objekt in der Realität
(außerhalb der Sphäre des Zeichens) herzustellen

18
UNTERSCHEIDENDE MERKMALE VON ZEICHEN (Studienbuch Linguistik S. 26 und 27)
Virtualität (type): Jedes Zeichen ist virtuell im kollektiven Bewusstsein einer bestimmten
Gruppe verankert → Peirce nennt dies „type“
Aktualität (token): Wenn ein Zeichen tatsächlich verwendet wird, spricht man von „token“ =
Realisierung eines virtuellen Zeichens

z.B. Tisch: Existiert abstrakt im kollektiven Bewusstsein aller deutschsprechenden Menschen


Immer wenn das Wort Tisch ausgesprochen oder aufgeschrieben wird, wird ein „token“,
eine Aktualisierung des virtuellen Zeichens, realisiert
Situation, Kontext (linguistisch: System): Zeichen existieren nicht isoliert sondern treten
immer in Kombination mit anderen Zeichen auf (paraverbale oder nonverbale Zeichen)
Zeichen sind immer in eine best. Situation / in eine best. Kontext eingebettet (in ein System)
vgl. mit Saussures langue

MODERNE SOZIOLINGUISTIK

• Sprache als Zeichen = Index


• Alles Sprachliche, also Einzelsprachen, Dialekte, Fachsprache… sind indexikalische
Zeichen → Konzepte/Konstrukte von Sprache sind indexikalisch → Sie weisen
Semiotizität (Zeichenhaftigkeit) und Semantizität (Bedeutung) auf

Semiotizität:

19
• Wir verknüpfen alles als sprachlich Wahrnehmbare mit best. außersprachlichen
Sinneseindrücken → roter Wechselwirkungspfeil
• z.B. Wenn man in Österreich sozialisiert wird, weiß man, dass jemand, der Speck sagt,
tirolerisch redet → Laut „ck“ wird mit außersprachlichen Phänomenen verknüpft
• Konzepte von Einzelsprachen resultieren aus der Korrelation (Verknüpfung) von
sprachlichen mit außersprachlichen Phänomenen
• Kookkurrenz: Beide Dimensionen treten gleichzeitig ins Bewusstsein
• = Basis von Semiotizität von Sprache als Zeichen

Semantizität:

• Was bedeutet z.B. das Zeichen „tiroler Dialekt“?


• Es bedeutet potenziell alles, wofür die konzipierte Erscheinungsform einer Sprache
bzw. dementsprechend Wahrgenommenes/Klassifiziertes im Bewusstsein der
Sprecher steht
• z.B. alles, was man im Laufe der Sozialisation mit dem Tirolerischen verbindet, steht
potenziell als Bedeutung des Zeichens Tirolerisch im Bewusstsein (=Ansammlung von
Stereotypen/Klischees/Ideologemen/Attitüden)

• Moderne Soziolinguistik beschäftigt sich mit dieser sozialen Bedeutung von Sprache
(= Bedeutung von Sprache als Zeichen)

20
Handlungsbezogene Funktionalität: Die soziale Bedeutung von Sprache als Zeichen steuert
potenziell unser Handeln
z.B. Man spricht bestimmten Dialekt, der eine negative soziale Bedeutung hat (Stigma) – und
man merkt dies, dann versucht man, den Dialekt zu unterdrücken → beeinflusst das Handeln
Permanente Kontextualisierung: Auf Basis der sozialen Bedeutung von Sprache werden
Kontexte erzeugt
Frame (Rahmung) einer Situation wird erzeugt: Eine Komponente eines in unserem
Bewusstsein verankerten Zusammenhanges an versch. Stereotypen… wird aktiviert und das
bildet einen Kontext, der wesentlich für den tatsächlichen Sinn einer Äußerung ist → Kontext
bestimmt, wie man den Sinn einer Äußerung versteht
Werbung: soziale Bedeutung von Sprache wird gezielt eingesetzt, um bestimmte Kontexte zu
erzeugen und das Kaufverhalten zu beeinflussen (z.B. Bio Lebensmittel im Dialekt beworben
– Dialekt → echt, authentisch, vom Land…)
➢ Sprache ist als indexikalisches Zeichen auch konventionell!
➢ Indexikalisches Zeichen: löst Folge-Relation aus

21
LINGUISTISCHE LEITTHEORIEN DES 20. JAHRHUNDERTS
(wissenschaftsgeschichtliche / wissenschaftsphilosophische
Kontextualisierung)
Wissenschaftsgeschichte/Wissenschaftsphilosophie = Metapositionierung /
Wissenschaftsrichtung, die sich mit den Wissenschaften als Gegenstand beschäftigt

LINGUISTISCHE LEITTHEORIEN
1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: STRUKTURALISMUS (Ausgangspunkt: Ferdinande de
Saussure)
2. Hälfte des 20. Jahrhunderts: GENERATIVISMUS (Ausgangspunkt: Noam Chomsky)
→ Diese beiden Leittheorien wirken fort bis zum heutigen Tag

GENESE / „EVOLUTION“ DER SOZIOLINGUISTIK (DES DEUTSCHEN)

• Entwicklung der Soziolinguistik kann man nur verstehen, wenn man bedenkt, dass sie
eine Abgrenzung/Weiterentwicklung ist, die vor dem Hintergrund jener beiden
mächtigen Theorien steht
• Soziolinguistik (ab 1960er) soll also als Gegenbewegung/Abgrenzung dieser beiden
Theorien gesehen werden

• Diese beiden Theoriebildungen sind als Versuch zu verstehen, eine


allgemeine/grundlegende Sprachwissenschaft eine „Linguistik per se“ zu etablieren
• Vor diesem Hintergrund ist die Soziolinguistik eine Teildisziplin dieser allgemeinen
Sprachwissenschaft
• Man spricht von einer „Bindestrich-Linguistik“ – Es gibt auch noch weitere solche
Bindestrich-Linguistiken: Pragmalinguistik, Historienlinguistik, Textlinguistik,
Psycholinguistik… → fokussieren spezifisches Phänomen der allgemeinen SpraWi

22
SPRACHE ALS „SYSTEM“

• Mit dem Strukturalismus kam Vorstellung in die SpraWi → Sprache ist als System zu
untersuchen
• Problem: Vorstellung von System (= Systematizitätsvorstellung), die Saussure in
Bezug auf die Sprache in seiner Theorie vertritt, ist aus heutiger Sicht veraltet aber in
der Linguistik heute immer noch sehr wirkungsmächtig!
• Begriff Systemlinguistik bildete sich im Strukturalismus heraus und man ging davon
aus, dass dies einen Kernbereich des Gegenstands Sprache ausmachte
• Dieser Kernbereich umfasst:
o Linguistische Semiotik → Sprachzeichen und Semantik → Bedeutung
o Grammatik (Morphologie → Ebene des Wortes und Syntax → Ebene des
Satzes)

PHILOLOGISCHE LINGUISTIKEN

• Im Zusammenhang mit der Herausbildung einer allgemeinen Sprachwissenschaft


„per se“ hat sich entwickelt, dass man bei all den klassischen philologischen
Disziplinen auch eine Linguistik implementierte
• Die philologischen Disziplinen waren nicht linguistisch im heutigen Sinn – Philologien
befassten sich mit Texten/Literatur und mit Sprachwissenschaft, jedoch nicht im
heutigen strukturalistischen Sinn (war v.a. historisch ausgerichtet → historisch-
vergleichende Sprachwissenschaft)
• Sprachwissenschaftlicher Anteil im heutigen Sinn wurde erst implementiert seit es
den Strukturalismus gibt
23
• Philologische Linguistiken bildeten sich aus Sprachfamilien und best. Einzelsprachen
innerhalb dieser Sprachfamilien heraus
• In der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Disziplinen entstehen immer wieder
neue kleine Einzeldisziplinen – Innerhalb der Philologien entwickelten sich auch
bestimmte Philologien für Einzelsprachen: z.B. Germanistik war ursprünglich die
Philologie aller germanischen Sprachen (Englisch, Dänisch…) und beschäftigt sich
heute nur noch mit der deutschen Sprache
• Wir haben heute also eine Germanistische Linguistik und daraus wiederum entstand
eine Germanistische Soziolinguistik bzw. eine Soziolinguistik des Deutschen
• Dieses Herauskristallisieren von den Bindestrich-Linguistiken und von der
Implementierung linguistischer Bereiche in die traditionellen philologischen
Disziplinen hängt alles irgendwie zusammen mit den zwei großen
sprachwissenschaftlichen Theorien

• Erst seit dem Strukturalismus am Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es eine
Sprachwissenschaft als eigenständige Disziplin
• Ziel von Saussure: eine eigenständige sprachwissenschaftliche Disziplin - eine
allgemeine, grundlegende Sprachwissenschaft
• Im Laufe der Spezifizierung dieser allgemeinen Sprachwissenschaft bildeten sich die
Bindestrich-Linguistiken heraus und innerhalb der traditionellen Philologien
etablierten sich moderne linguistische Teilbereiche

• Allen diesen wissenschaftlichen (Teil)disziplinen liegen bestimmte KONZEPTE


zugrunde
• Konzepte sind Instrumente zur Konstruktion der Wirklichkeit (Konstruktivistischer
Ansatz: Wirklichkeit ist nicht einfach da, sondern sie ist ein soziales Konstrukt)
• Wesentliches Instrument zur Konstruierung der Wirklichkeit sind sprachliche Begriffe
und Konzepte
• Es gibt viele unterschiedliche Konzepte von Sprache innerhalb und außerhalb (als
Laien) der wissenschaftlichen Disziplinen
z.B. bei Saussures allgemeinen SpraWi ist ein ganz bestimmtes Konzept von Sprache
als Gegenstand dieser allgemeinen SpraWi dahinter
• Viele wissenschaftliche Disziplinen außerhalb der SpraWi beschäftigen sich mit der
Sprache als Gegenstand (Literaturwissenschaft, Rhetorik, Philosophie…) – Diese alle
vertreten ein ganz bestimmtes Konzept von Sprache
• Auch in der Linguistik werden in den verschiedenen Teildisziplinen ganz
unterschiedliche Konzepte von Sprache vertreten

• Vorstellung von einem Kernbereich der Sprachwissenschaft / von einer allgemeinen


Sprachwissenschaft muss vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten Konzeption
von Sprache gesehen werden
• Die Entstehung der Soziolinguistik muss als Kontrast dazu gesehen werden – In der
Soziolinguistik werden andere Konzepte von Sprache als Gegenstand vertreten als in
der allgemeinen SpraWi
24
• Konzepte einer allgemeinen SpraWi hängen geschichtlich zusammen mit der
Etablierung der SpraWi als eigenständige wissenschaftliche Disziplin am Beginn des
20. Jhd. (Strukturalismus)
• Sprache wurde lange (auch in anderen Disziplinen wie Philosophie oder Theologie…)
nicht im Rahmen einer spezifischen SpraWi untersucht
• Saussure wollte eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablieren – brauchte dazu
ein eigenes Konzept
• Bis zu Saussure untersuchte man Sprache hauptsächlich historisch – Geschichtlichkeit
aller Phänomene war im 19. Jhd. wichtig (Historismus) → historisch-vergleichend
• Strukturalismus: Abkehr von der historischen Beschäftigung mit Sprache

SAUSSURE’SCHER („GENFER“) STRUKTURALISMUS

• Strukturalismus ist kein homogenes Denkgebäude / keine einheitliche Theorie –


Wir betrachten die Anfänge des Strukturalismus, also den Genfer Strukturalismus –
Saussure lehrte dort
• Etablierung / Emanzipation der SpraWi als eigene Disziplin am Anfang des 20. Jhd.
• In der 2. Hälfte des 20. Jhd. abgelöst vom Generativismus, Strukturalismus wird aber
dennoch bis zum heutigen Tag vertreten und hat immer noch starke Position
Wechsel (Paradigmenwechsel) verlief nicht abrupt und entstand aus der
Vorgängertheorie (z.B. Saussure wurde auch mit der historischen SpraWi und den
Junggrammatikern groß, Chomsky wurde als Student strukturalistisch in die Linguistik
eingeführt und wandte sich dann mit seiner Theorie davon ab)

• Die von Saussure entwickelte Konzeption von Sprache wurde nach seinem Tod im
Werk „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft“ 1916 festgehalten
• Saussure differenzierte Sprache konzeptionell in drei unterschiedliche Richtungen:
o LANGAGE: Einem Menschen angeborene Fähigkeit, eine Sprache zu erwerben
o LANGUE: Sprache als semiotisches System
o PAROLE: Gebrauch der Sprache in der Kommunikation
25
• Saussure definiert die Langue (abstraktes semiotisches System) als den eigentlichen
Gegenstand der SpraWi
• Langue ist empirisch nicht zugänglich → lässt sich nicht messen
= mentalistischer Ansatz = platonistischer Ansatz → Platon vertrat die Meinung,
dass sich die Philosophen nicht mit dem beschäftigen soll, was man sinnlich
wahrnehmen kann sondern mit dem, was dahinter ist (mit den Ideen)
• Man soll sich als Linguistik nicht mit der Parole (dem Wahrnehmbaren) beschäftigen,
sondern mit dem abstrakten semiotischen System dahinter – Parole ist nur ein
Mittel, um die Langue zu untersuchen
= LINGUISTISCHER PLATONISMUS

• Saussure konzipiert die Langue als Gegenstand der SpraWi methodisch als etwas
Statisches → Abkehr von der historischen Beschäftigung mit Sprache
= SYNCHRONE SPRACHWISSENSCHAFT: Man untersucht die Langue zu einem best.
Zeitpunkt ohne zu berücksichtigen, was vorher passiert ist und was nachher passiert
ist - Synchron bedeutet nicht gegenwartsbezogen, sondern zu einem bestimmten
definierten Abschnitt im Laufe der Geschichte! – Man stellt also künstlich Statik her
• DIACHRON hingegen: Mehrere solcher synchroner Untersuchungen werden
hintereinander verglichen
• KEINE PANCHRONIE: Man bezieht synchron und diachron aufeinander → Wie kommt
es zu den untersch. synchronen Ergebnissen? - Faktoren und Bedingungen der
Dynamik werden untersucht
• Bei Saussure wird aber einfach festgestellt, dass es Veränderungen gibt ohne auf die
Faktoren der Dynamik zu achten = „Panchronie-Verbot“

• Saussure ist geprägt von wissenschaftlichem RATIONALISMUS → Vorstellung, dass


nur die „Ratio“, nur die Vernunft der wissenschaftlichen Argumentation zuträglich ist
– akzeptiert nur Vernunft-Argumentation
• LOGOZENTRISMUS → schärfer ideologiekritische Position in Bezug auf Vernunft-
Haltung: Vernunft-Argumentation der Wissenschaft kann man als Mittel zur Stärkung
von Machtpositionen einsetzten
= vernunftzentrierte, metaphysische, rationale Vorstellung von den Phänomenen der
Welt
• Langue basiert auf denotativen Bedeutungen (= rein begrifflich logisch abstrakte
Bedeutungsvorstellung) – nur diese ist für das System der Langue relevant
(konnotative Bedeutung – also die Gefühlsebene - wird ausgeblendet)

• Saussure begreift Sprache als soziales, gesellschaftliches Phänomen (Sprachzeichen


beruhen auf Konvention = gesellschaftliches Phänomen)
• Gesellschaftliche Dimension wird aber auf eine empirisch nicht zugängliche Ebene
projiziert (auf die Langue) – die Parole (empirisch zugänglich) ist nicht relevanter
Gegenstand
• Untersucht Sprache also nicht im soziolinguistischen Sinn – ihn interessiert die
Sprache nur als System von Sprachzeichen, welche konventionell sind
26
„ALLO“-PHÄNOMENOLOGIE DES STRUKTURALISMUS

• Konzentration von Saussure auf die denotative Bedeutung → Ausblendung der


sozialen Bedeutung von Sprache (Pragmatische Dimension) = LOGOZENTRISCHES
KONZEPT

Dies zeigt die Phänomenologie der Allophone und Allomorphe:

• In Wien bestimmte Aussprache von „l“ am Beginn von Wörtern = Meidlinger-L (Man
nimmt an, dass dies mit dem Kontakt von Tschechiern zusammenhängt)
• In der strukturalistischen Theorie ist das Meidlinger-L ein Allophon (= Lautvariante
eines Phonems = kleinste bedeutungsunterscheidende Merkmale)
• Laut Saussure unterscheiden Allophone nicht Bedeutungen – Aus soziolinguistischer
Sicht hingegen ist es in Bezug auf die soziale Bedeutung aber sehr wohl
bedeutungsunterscheidend! → Meidlinger-L assoziiert versch.
Vorstellungen/Stereotype und unterscheidet sich somit vom normalen L

• Allomorphe (= Varianten von Morphemen = kleinste bedeutungstragende Einheiten


der Sprache)
• Synthetische Deminuierung: Verkleinerung mithilfe von Morphemen ausdrücken
• Es gibt verschiedene Varianten dieses Verkleinerungsmorphems (Allomorphe) – Im
Strukturalismus sind diese Varianten alle bedeutungsgleich (= kleine Katze) aus
soziolinguistischer Sicht haben diese aber alle unterschiedliche soziale Bedeutungen
z.B. Kätzlein → Märchensprache – Katzerl → Nähesprache / regionale Verknüpfung –
Katzi → Kindersprache

• Unterschiedlicher Zugang von Strukturalismus und Soziolinguistik!!

27
PARADIGMENWECHSEL: CHOMSKY’SCHER GENERATIVISMUS

• Einiges verweist auf strukturalistische Wurzeln → Auch Chomsky trennt den


Gebrauch von Sprache von der Dahinterliegenden Konzeption
• Chomsky’sche Begriffe:
o Kompetenz = Sprachwissen, das nicht empirisch zugänglich ist = Gegenstand
seiner Linguistik
o Performanz = Sprachgebrauch, den man beobachten kann
• Platonistische Haltung/starker Mentalismus: Im Bewusstsein (mind) gibt es
Strukturen, die die Grundlage für das Verhalten bilden – Diese Strukturen kann man
nicht beobachten
• Unterscheidet:
o Innere Sprache (Internal-Language) – Darin liegt sein Interesse
(Sprachwissen)
o Äußere Sprache (External-Language)
• Chomsky modelliert die Kompetenz von Sprache als mental repräsentiertes Wissen,
das ein idealer Sprecher/Hörer in einer homogenen Sprachgemeinschaft über seine
Muttersprache hat → stark idealisierte / abstrakte Konzeption
• Dieses angeborene Sprachwissen ist der Gegenstand der Linguistik

• Rationalistische / logozentrische Position: Descartes (Rationalismus) = Vorbild für


Chomsky

• Wissenschaftshistorisch ist Chomsky in einem anderen Kontext als Saussure zu sehen


• 1950er: neu entstehende Wissenschaftsdisziplin der Informatik – wurde sehr schnell
zur Prestigewissenschaft – Chomsky orientierte sich daran – Konzepte und Modelle
aus der Informatik und der Automatentheorie (Modellrechner- Chomsky war auf
diesem Gebiet selbst tätig) wurden in die Linguistik integriert
• Generativismus weist auf Konzept hin, das die Grammatik als eine Art Mechanismus
sieht (Programm, mit dem man Sätze generieren kann)

28
• Bei Saussure hingegen spielten Konzepte der Chemie mit (studierte auch Chemie) –
Langue wird in versch. Ebenen (lautlich, lexikalisch, syntaktisch…) unterteilt und auf
diesen Ebenen gibt es ein kleinstes (atomares) Element, welche sich wieder
molekular zu größeren Einheiten zusammensetzen können
Dies alles erinnert an das Strukturmodell der Materie vor der Quantentheorie
(19.Jhd.)
➢ Prestigewissenschaften spielen große Rolle bei der Entwicklung von linguistischen
Theorien

→ PARALLELEN LINGUISTISCHER LEITTHEORIEN

• Langage ist bei Chomsky in die Kompetenz integriert

29
SOZIOLINGUISTIK 1
VORSTUFEN, HERAUSBILDUNG UND ENTWICKLUNG
Die Soziolinguistik ist erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, in Abgrenzung
zu einer grundlegenden allgemeinen SpraWi (Ab Beginn des 20. Jahrhunderts)

DIE GESELLSCHAFTLICHE DIMENSION DER DEUTSCHEN SPRACHE:


VORSOZIOLONGUISTISCHE AUSEINANDERSEZUNG

• Soziolinguistische Problem- und Fragestellungen wurden schon lange vor der


Entstehung einer dezidierten Soziolinguistik behandelt
• Beschäftigungen mit Sprache im soziolinguistischen Sinn gibt es schon viel früher:

15./16. Jhd.

• Historische Umbruchszeit des Buchdrucks und der Reformation im


3 Faktoren, die damals eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Sprache,
Kommunikation und Gesellschaft begünstigt haben:
o Herausbildung einer deutschen Schriftsprache und ein zunehmender Wirkungsgrad
dieser Schriftsprache (Buchdruck → gewaltige Erhöhung des
Kommunikationspotenzials)
o Änderungen im Bildungswesen
o Rangstreit mit dem Lateinischen (Monopol des Lateinischen als einzige
Bildungssprache beginnt zu wackeln – Luther wollte ein volksnahes Deutsch als
Zielsprache seiner Bibelübersetzung: Er kreierte jede Menge Redewendungen,
Wortneubildungen… Er übersetzte den Griechischen/Hebräischen Urtext „ad
fontes“)
17. Jhd.

• Anspruch an deutsche Schriftsprache und an ihre gesellschaftliche Funktionalität


erhöhte sich hinsichtlich ihres Potenzials als vollwertige Dichtersprache (Französisch
dominierte zu diesem Zeitpunkt)
• Sprachgesellschaften bemühten sich, das deutsche zu einer gleichwertigen
Dichtersprache zu formen: Man formulierte Poetiken und Normen
• Martin Opitz, Justus Georg Schottel: Abgrenzung der Dichtersprache zur
stigmatisierten Sprechweise des sog. Pöbels (=Dialekt) – elitärische Vorstellung einer
Dichtersprache
• Gottfried Wilhelm Leibniz: verbindet ästhetische Abgrenzung mit einer frühen
bildungsbürgerlicher Programmatik – These: Das beherrschen der deutschen
Schriftsprache ermöglicht den Aufstieg aus den Niederungen einer animalischen
Existenz hinauf in die lichten Höhen des geistig tätigen Menschen

30
• Vorstellung, dass es eine gehobene Sprachform gibt, die sich von der Sprache der
unteren Schichten abgrenzt – Man kann nur in dieser gehobenen Sprache einer
geistigen Tätigkeit nachgehen (Diese Vorstellung geht bis in die Antike zurück)
• Grammatiker Johann Bödiker: interessiert sich explizit für unterschiedliche
Ausprägungen der deutschen Sprache (auch Dialekte) → Bewusstsein für die
Variation und Varietäten der Sprache – Er nennt die sprachl. Erscheinungsformen
„Idiotismen“ (griech. idios = eigen) = individuelle, historische, situative und
textsortenspezifische Ausprägungen einer Sprache
• Idiotismensammlungen entstehen (Dialekte werden aufgezeichnet →
Dialektwörterbücher), da man befürchtete, dass der „echte“ Dialekt bald
verschwindet – Diese Idee geht also weit zurück!
18. Jhd.

• Erster Abschluss der Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache in der


Goethezeit (Klassik)
• J.G. Gottsched: „Der deutsche Literaturpapst“ → Maria Theresia hat im Rahmen ihrer
Bildungsreform im Habsburgerreich Gottsched mit der Reform der deutschen
Sprache in Österreich beauftragt
• J.C. Adelung: beobachtet Sprachgebrauch auch abseits der intellektuellen Eliten, das
speilt aber nur eine Nebenrolle
Verfasste Wörterbuch mit nicht nur literatursprachlich gehobenen Ausdrücken
Fokus = Literatursprache

19.Jhd.

• Blick auf die deutsche Sprache weitet sich → Romantische Idealisierung der
Volkssprache
• Jahrhundert des Nationalismus und der Romantik – romantische Vorstellung vom
Brauchtum des einfachen Volkes beginnt, das wird auch auf die Sprache übertragen
→ Die Volkssprache wird idealisiert
• Abkehr von der elitistischen Vorstellung beginnt
• Johann Gottfried Herder: richtet Blick auf versch. Erscheinungsformen von Sprache
• Wilhelm von Humboldt: vertritt universelle als auch nationale (nationalistische)
Aspekte von Sprache
War Sprachphilosoph: Auffassung, dass die Wahrnehmung der Welt davon abhängt,
in welcher Sprache man sozialisiert wurde

• Historistische und historizistische Ansätze:


• Historismus = prägende Geistesströmung – Vorstellung, dass man alle Phänomene
unter einer historischen Perspektive betrachten muss – Sprachgeschichte entsteht
(Nationalismus bedingt, dass man nationale Ideen in der Geschichte verankern muss,
um sie zu legitimieren – Dies betrifft auch die Sprache → Ursprache…)
• Historizismus = Zuspitzung Ende 19. Jhd. - Siegeszug moderner Naturwissenschaften
(Evolutionstheorie…) – Dies projiziert man auf die Geschichte → In der Geschichte
31
gibt es einen naturgesetzlichen Ablauf, man kann voraussagen, wie die Geschichte
weitergeht aufgrund von Naturgesetzten
z.B. marxistische Geschichtsphilosophie: Es kommt zum Klassenkampf und am Ende
siegt das Proletariat
o In der Sprachforschung: Junggrammatiker analysierten Sprachgeschichte/-
wandel naturgesetzlich (Lautgesetzte)
• Interesse am Sprachwandel ist soziolinguistisch

• Wissenschaftliches Interesse an den deutschen Dialekten setzt ein (aufgrund


romantischer und nationaler Ideologien)
• Jakob Grimm: historisch ausgerichtetes Interesse an Dialekten → Dialekte speichern
ältere Sprachzustände (Mittelhochdeutsch = Referenzsystem für Dialektforschung –
ist aber fragwürdig)
• Johann Andreas Schmeller: erstes wissenschaftliches Dialektwörterbuch
• Dialekt = Schatz des Volkes

• Ende 19.Jhd.: erstmals großangelegte empirische Erforschung deutscher Dialekte →


Nationalismus wird immer radikaler, Vorstellung vom Dialekt wird immer völkischer,
rassistischer und schließlich nationalsozialistisch (Blut und Boden Ideologie -
Deutsches Reich)
• Georg Wenker: Sprachatlas des Deutschen Reiches → schickte Fragebögen an alle
Schulen des Reiches und ließ best. Sätze in den jeweiligen Dialekt übersetzen (jedoch
nicht in Lautschrift und eine Person stellvertretend für alle Bürger des Dorfes) –
verarbeitete dies zu Dialektkarten
• Ziel = verschiedene Erscheinungsformen/Varianten der deutschen Sprache empirisch
untersuchen
• Philipp Wegener: wollte die „Sprachvarianzen“ in Stadt und Land bei
unterschiedlichen Bildungsschichten in Massenaufnahmen in Fragebögen erheben
(Es kam aber nicht dazu)
• Ferdinand Wrede: Nannte die Forschung, wie sie Wegener vorschlug,
„Soziallinguistik“
• Georg von der Gabelentz: Einer der bedeutendsten Vorläufer Ferdinande de
Saussures und des Strukturalismus
• Ende des 19. Jhd. gibt es konzeptionell und terminologisch bereits große
Anklänge an die Soziolinguistik

20. Jhd.

• Erste Hälfte: Parallel zum Aufstieg des Strukturalismus Saussures blieb die
traditionelle (vorsoziolinguistische) sprachgeographisch-soziologische Dialektologie
(Grimm, Wenker…) im deutschen Sprachraum aktiv
• Empirische Sozialforschung gibt es noch nicht, die die „richtige“ Soziolinguistik ab den
1960ern auszeichnet

32
• Produktion weiterer diverser Sprachatlanten
• Sprachinsel-Forschung ist besonders aktiv (= Gebiete außerhalb des
deutschsprachigen Raums, wo umgeben von einer anderen Sprache eine best.
Gruppe einen deutschen Dialekt spricht – viele in Südosteruopa)
• Nationalsozialistische Ideologie und Expansionspolitik: Wo Menschen Deutsch
sprechen, ist auch deutscher Kulturboden und das muss ins Reich geholt werden →
Blut und Boden Ideologie
• Sprachforscher dieser Zeit machten da sehr begeistert mit und arbeiteten mit dem
Regime zusammen (Umsiedlungsaktionen…) z.B. A. Bach, W. Kuhn, W. Mitzka
• NS-Regime förderte traditionelle Dialektforschung
• In den Sprachinseln gab es intensive kontaktsprachliche Situationen: Menschen
waren meist zweisprachig (Soziolinguistische Fragestellungen: Welche Sprache hat
mehr Prestige? Welche ist die Überdachungssprache/Standardsprache? Welche
Sprache wird offiziell verwendet? Welcher Religion gehören diese SprecherInnen an…
• Diese vorsoziolinguistische Dialektologie war völkisch fundiert –
Sprachträgergruppen werden rassisch definiert und der Siedlungsraum und die
Sprache sind völkische Komponenten → Verbindung zwischen Ethnie und Sprache
• z.B. Österreich – Bairische und alemannische Dialekte – geht zurück auf die
Germanenstämmen Bayern und Alemannen (Ist also in der Geschichte verankert) →
Deshalb stammen laut Ideologie diese Menschen auch ethnisch von diesen
Germanenstämmen ab (Ist Unsinn, da viele Österreicher von slawischsprachigen
Menschen abstammen)
Beispiel für die Verbindung der Dialektforschung mit dem Nazi-Regime

• Schrank – Schallplatten mit Aufnahmen der versch. Dialekte, Landkarte des


Deutschen Reiches mit vielen kleinen Lämpchen → Wenn man eine Schallplatte
abspielte, leuchtete das Lämpchen, aus der diese Aufnahme stammt
• = Lautdenkmal der reichsdeutschen Mundarten – siehe Link PP
• Dieser aufwändig gemachte Schrank war ein Geschenk für Adolf Hitler zum
Geburtstag
• Großteils wurden Propagandatexte aufgenommen (z.B. Wie gut die Zeit ist, seit Hitler
an der Macht ist…)
• Katastrophe des 2. WK trug dazu bei, dass die Sprachwissenschaft im deutschen
Raum die neuen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jhd. nicht mitmachte
(Strukturalismus) → Emigration / Vertreibung jüd. WissenschaftlerInnen, nicht
hinreichende Rezeption der Fachliteratur aus dem Ausland…
• In den 1960ern begann sich auch im deutschen Sprachraum eine dezidierte
Soziolinguistik herauszubilden, man knüpfte aber nicht an die vorsoziolinguistischen
Forschungen an, da man sich von ihr scharf abgrenzen wollte (ist ideologisch
indiskutabel)
• Bis in die 1070er war die Soziolinguistik an den Unis teilweise noch immer von diesen
völkischen Ideen beherrscht, viele nationalsozialistische Linguisten waren immer
noch tätig!

33
1952

• Der US-amerikanische Philosoph und Linguist H.C. Currie verwendet vermutlich


erstmals die Bezeichnung „Sociolingustics“ (= Sociology of Language) → Am Beginn
wird Sprachsoziologie mit Soziolinguistik gleichgesetzt, das ist im weiteren Verlauf
v.a. im deutschen Sprachraum aber nicht mehr synonym
• Diese 1. Phase der Soziolinguistik ist untrennbar verknüpft mit den Forschungen des
britischen Soziologen Basil Bernstein

AUSGANGSPUNKT DER SOZIOLINGUISTIK: SPRACHCODE-FORSCHUNG (1. Phase)

• Brite Basil Bernstein entwickelte Theorie der Sprachcodes in den 1960/70ern


• Unter einem Code ist der sozialschichtenspezifische Gebrauch eines sprachlichen
Zeichensystems gemeint
• Es geht um das schichtenspezifische Ausschöpfen der Möglichkeiten einen
sprachlichen Zeichensystems
• = mengentheoretische Vorstellung (Saussure – langue ist eine Gesamtmenge an
Möglichkeiten)
• Je nach sozialem Hintergrund (Schichten) wird nur eine bestimmte Teilmenge dieser
Möglichkeiten von den SprecherInnen herausgeschöpft
• Die Schichtung der Gesellschaft determiniert also eine Differenzierung im
Sprachgebrauch der SprecherInnen

2 Codes: (Löffler S. 157)


o Elaborierter Code: Sprachgebrauch der oberen Mittelschicht
Hat komplexe Satzstrukturen und vollständigere Sätze, es werden untersch.
Konjunktionen eingesetzt, viele Passivkonstruktionen, mehr zeitliche
räumliche Präpositionalkonstruktionen, mehr untersch. Adjektive und
Adverbien, komplexe verbale Erweiterungen, strukturierte Sprechpausen und
größerer Wortschatz
➢ Unterscheidet sich vom restringierten Code in der Explizitheit, dem
höheren Grad der Entsprechungen hinsichtlich der grammatischen Norm
und hinsichtlich der logischen/argumentativen Strukturiertheit
= ausgebauter Code (positiv)
o Restringierter Code: Sprachgebrauch der Unterschicht
= eingeschränkter Code (negativ)
• Aus dieser Klassifikation resultiert die Bezeichnung Defizithypothese, unter der
Bernsteins Überlegungen bekannt wurden → Der restringierte Code ist im Vergleich
zum elaborierten Code defizitär restringiert
• Enthalten ist die Vorstellung aus dem 17. Jhd., dass man nur in einer elaborierten
Sprache denken kann – Bernstein vertrat diese Wertungen jedoch nicht
• Die Soziolinguistik bekam durch diese Vorstellungen von Bernstein einen gewaltigen
Aufschwung, da die Idee von Bernstein in der politischen Situation der 1960er Jahre
auf sehr fruchtbaren Boden fiel

34
DEFIZIT-HYPOTHESE (BERNSTEIN) UND SPRACHBARRIERE (Löffler S. 156/58 und
Studienbuch Linguistik S.340/41)

• Bernstein verwendete den Begriff Sprachbarriere selbst nie


• Grundidee = Das Sprachverhalten ist soziokulturell determiniert (schichtenspezifisch)
→ Das Sprachverhalten hängt also davon ab, in welche Schicht man hineingeboren
wird – Das ist dann entweder elaborierter oder restringierter Code
• Das Sprachverhalten determiniert auch die kognitive Entwicklung, daraus folgt
Erfolg oder Misserfolg in der Schule und daraus folgt wieder Erfolg oder Misserfolg in
der Gesellschaft
• Man stellte fest, dass Unterschichtskinder schlechtere Noten in der Schule haben und
nicht studieren = Bildungskatastrophe – Sprachbarriere hinderte die Kinder am Erfolg
in der Schule, diese muss überwunden werden
• Idee, dass man dies beheben muss (=positiver Gedanke) → Die Unterschichtskinder
dazu bringen, den elaborierten Code zu erlernen – Man führte
sprachkompensatorischen Unterricht ein (Man setzte aber falsche Methoden ein, z.B.
Sprachdrill)
• Problematik/Fehler: Sprachgebrauch hat mit der kognitiven Entwicklung eines
Menschen nichts zu tun! – Man kann dies nicht prüfen/belegen
+ Elaborierter Code ist nah an der Bildungssprache und in der Schule bekommt man
gute Noten, wenn man diese beherrscht – LehrerInnen kommen meist auch aus der
Mittelschicht
+ Ideen Bernsteins basieren auf der britischen Gesellschaft, die Verhältnisse dort sind
nicht zu vergleichen mit denen im deutschen Sprachraum
• In den 1960ern hat man besonders in den USA und in Deutschland im Kontext der
politischen Umbrüche gesellschaftliche Relevanz von den Wissenschaften verlangt –
Die SpraWi sollte gesellschaftlich nützlich sein → Es bot sich also an, diese
Sprachbarriere zu beseitigen
Strukturalismus war gesellschaftlich irrelevant
• Förderungsprogramme misslangen, produzierten v.a. psychologische Probleme bei
den Kindern, weil sie stigmatisiert wurden
• Sehr viel Kritik kam auf (Bernsteins Annahmen wurden kritisiert und auch
bildungspolitische Kritik)
• Sprachbarriereforschung scheiterte

35
• Gegenwärtig gibt es wieder so eine Sprachbarriere-Idee in den Schulen (Kinder mit
Migrationshintergrund) – Die pädagogischen Programme sind heute aber nicht mehr
Drill-Programme, die Grundidee ist aber dieselbe
• Beherrschung der Bildungssprache wird oft mit Intelligenz verwechselt!

• Mit der Kritik und dem Scheitern der Sprachbarriereforschung geht die Soziolinguistik
in die zweite Entwicklungsphase: US-Amerikaner William Labov kritisierte die
Defizithypothese aufgrund mangelnder empirischer Basis
• Er wies darauf hin, dass die Defizithypothese Denkprodukte der Mittelschicht sind
und die Bildungssprache (elaborierte Sprache) als Norm gesehen wird =
Mittelschichtsattitüde
• Sprache hängt nicht mit Intelligenz zusammen!!

DIFFERENZ-HYPOTHESE (LABOV) (2. Phase)

• Die von Labov entwickelten Ansätze in der Ablehnung mit der Bernstein-Forschung
werden als Differenzhypothese bezeichnet
• Grundidee: Die untersch. Sprachcodes/Erscheinungsformen existieren, aber sie sind
nicht als besser oder schlechter zu klassifizieren, sondern einfach als Differenz →
Labov lehnt die Wertung ab
• Jede Sprachform ist eine regelhaft beschreibbare ebenbürtige Varietät
• Setzte sich v.a. mit dem „black english“ auseinander (urbanes non-standard Englisch
der schwarzen Bevölkerung in den USA) → dies ist aus seiner Sicht nicht ein
restringierter Sprachcode, man kann in ihr genauso gut denken wie in der
Bildungssprache
• Labovs Überlegungen bilden in der Folge der 1970er bis zum heutigen Tag die Basis
der Korrelativen Soziolinguistik → Diese ist bis in die 1990er tonangebend
(= Klassisch korrelative Linguistik)
• Methodisch steht dabei die quantitative Forschungsmethode im Zentrum (Es wird
mit statistischen Verfahren gearbeitet)
• Im Zuge des Siegeszuges der Korrelativen Soziolinguistik wurde die Soziolinguistik
zunehmend zu einer Varietätenlinguistik – Alle Erscheinungsformen von Sprache
sind gleichwertig = Kern – geht zurück auf Labovs Forschungen

36
• Diese moderne Soziolinguistik kam im deutschen Sprachraum in den 1970ern in die
Dialektforschung = Moderne soziolinguistische Dialektforschung (In Abgrenzung zur
traditionellen völkischen)
• Es kam Kritik auf – die Mängel der quantitativen Methodik wurden von qualitativ
arbeitenden ForscherInnen aufgezeigt

SYMBOLISCHER INTERAKTIONISMUS (G.H. MEAD) (3. Phase)

• Philosophische Richtung, die sich in den 1930ern in den USA herausbildete


• Es geht um die Interaktion in der Gesellschaft → Gesellschaftliche Wirklichkeit ist
nicht einfach da, sie wird in der Interaktion und Interpretation erzeugt
• Wesentliches Medium der Interaktion = Sprache – diese operiert mit Symbolen
=Symbolischer Interaktionismus
• Diese kritisiert die klassisch korrelative Soziolinguistik
• Grundkonzept = Die Bedeutung der sozialen Sphäre wird im Prozess der Interaktion
und der Kommunikation erzeugt, hervorgebracht und Realität wird
• Der Kontext ist nicht einfach da/statisch, sondern er wird kommunikativ erzeugt

KLASSISCH KORRELATIVE SOZIOLINGUISTIK

• Das Verhältnis zwischen außersprachlichem Kontext und Heterogenität/Variation


wird in eine Richtung interpretiert → unidirektionale Perspektive
• Außersprachlicher Kontext determiniert die Variation oder Heterogenität der Sprache
→ WEIL jemand aus einem best. Kontext kommt, spricht er so und so…
VS.
MODERNE INTERAKTIONALE SOZIOLINGUISTIK

• Wechselwirkung zwischen Kontext und Sprache → bidirektionale Perspektive


• Nicht nur der Kontext determiniert die Variation/Heterogenität sondern diese
erzeugt den Kontext mit

37
• Heterogenität/Variation wird zu einer kommunikativen (pragmatischen) Ressource
• Durch eine best. Varietät kann ein best. Kontext erzeugt werden – Dies kann man
einsetzen, um best. kommunikative Zwecke zu erreichen
• z.B. Dialektsprechen verbunden mit Nähe/Vertrautheit/informeller
Kommunikation – WEIL Dialekt gesprochen wird, entsteht diese Atmosphäre der
Vertrautheit… (aber zugleich auch umgekehrt! – Korrelative Soziolinguistik)

• Ausgangspunkt = Ethnolinguistik, linguistische Anthropologie (J. Gumperz) →


untersuchte Code Switching (= Wechsel zwischen versch. Einzelsprachen aber auch
den Wechsel zwischen Varietäten innerhalb einer Sprache)
• Beobachtete zwei Typen des Code Switching:
o Situativ: Die Situation (Kontext) führt zum Code Switching
o Metaphorisch: Code Switching einsetzen um eine best. kommunikative
Funktion zu erfüllen (eine best. Wirkung zu erfüllen, also um einen Kontext
aufzubauen) = ein Mittel zur Kontextualisierung
• Das Designen/das Konstruieren von Identität wird auf Basis von Sprachvariation
untersucht – z.B. bei Jugendlichen → Einsetzen von Sprachstilen (Styles) als Mittel
der Konstruktion von Identität (P. Eckert)

• Soziolinguistische Sprachwahrnehmungs- und Spracheinstellungsforschung:


• Gegenstand = Soziale Bedeutung von best. Sprachformen (besteht v.a. aus Attitüden,
Stereotypen und Ideologien)
• Welche sozialen Bedeutungen verbinden die SprecherInnen (ohne linguistische
Ausbildung) mit best. Erscheinungsformen von Sprache?

• Die Etablierung des Interaktionismus erfolgte teilweise parallel zu und teilweise im


Zusammenhang mit weiteren Forschungsbereichen aus der Soziolinguistik:
Historische Soziolinguistik, Genderlinguistik…
• Transformation der Soziolinguistik: Weg von einem soziologischen hin zu einer
kulturwissenschaftlichen Orientierung
• Parallelen zur Pragmalinguistik → Beide sind nicht mehr nur durch ihren
Gegenstandsbereich definiert, sondern theoretisch methodologisch → Man kann
jede linguistische Fragestellung pragma- oder soziolinguistisch untersuchen! (Löffler
S.19 – Soziolinguistik als eine Sehweise)

38
Zusammengefasst: „EVOLUTIONS“-STUFEN DER SOZIOLINGUISTIK
Sprachliche Heterogenität ist…

1) Defizit (Bernstein)
2) Differenz (Labov)
3) Ressource (moderne Soziolinguistik)

PROBLEMSTELLUNGEN INNERHALB DER GEWICHTUNG DER SOZIOLINGUISTIK


1) Primär soziologisch orientiert: Zusammenhang zwischen Gesellschaft und
Sprachgebrauch untersucht
2) Primär linguistisch orientiert: Variationslinguistik – Auseinandersetzung mit den
versch. Varietäten
3) Ethnomethodologisch orientiert: Idee, dass die soziale Wirklichkeit ein Konstrukt der
Interaktion ist

Es gibt MEHRERE „SOZIOLINGUISTIKEN“

39
SOZIOLINGUISTIK 2
QUANTITIATIVES UND QUALITATIVES PARADIGMA
WISSENSCHAFTLICHES PARADIGMA

• Diese erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen


Basisbegriffe lassen sich nicht eindeutig bzw.
widerspruchsfrei definieren → Die Verwendung dieser
Begriffe hängt von sich wandelbaren Konzepten und
ideologischen Positionen ab = Konstruktivistischer
Standpunkt
• Beachte Wechselwirkungspfeile
• Eine wissenschaftliche Theorie ist im Kern eine auf
gewisse Art und Weise strukturierte systematisierte
Menge von Aussagen hinsichtlich eines best.
Untersuchungsgegenstands
• Je nach Disziplin/Untersuchungsgegenstand handelt es
sich bei den Aussagen um beschreibende, erklärende
oder prognostizierende Aussagen
• Diese Aussagen setzen bereits ein Modell voraus → Es handelt sich um Aussagen in
Bezug auf einen modellierten Ausschnitt dessen, was untersucht wird
• Modelle sind wiss. Abstraktionen zum Zweck der Komplexitätsreduktion
• Interdependenz (Wechselwirkung) der Begriffe Theorie und Modell
• Theorie ist ein aktiver, integrativer, konstituierender Bestandteil des
Gegenstandes – Enger Zusammenhang zwischen Theorie und Modellierung
• Auch die Methoden sind in dieses Geflecht unmittelbar integriert:
Methode = Jenes Verfahren, das auf Basis der Theorie zur Erkenntnisgewinnung
eingesetzt wird
• Methodologie = Jene Theorie, die Aussagen darüber macht, welche Methoden auf
welche Weise im Erkenntnisprozess eingesetzt werden sollen (Theorie in Bezug auf
die Methoden)
• In Bezug auf einen solchen Gesamtzusammenhang gebraucht man oft den Begriff
PARADIGMA
• Thomas Kuhn / Ludwik Fleck beschäftigten sich mit den Paradigmen
• Fleck betont besonders die soziologische Dimension von Paradigmen
Siehe Artikel auf moodle

DAS QUANTITATIVE PARADIGMA

• William Labov: Kritik an Bernsteins Defizit-Hypothese ist der Beginn des


quantitativen Paradigmas
• Warf Bernstein mangelnde empirische Methodik vor → im quantitativen Paradigma
versucht man, neue empirische Methoden in die Soziolinguistik zu bringen

40
• Das quantitative Paradigma repräsentiert
den Anspruch, die Struktur und
Regelhaftigkeit der Heterogenität
(Variation) von Sprache mit mathematisch-
statistischen Verfahren messbar zu
machen und zu analysieren → numerische
Darstellung empirischer sprachl.
Sachverhalte
• Verfahren kommen va. aus der
empirischen Sozialforschung (Soziologie,
Sozialpsychologie)
• Zentrale Ideen: Sprache kann man nur dann verstehen und wissenschaftlich
beschreiben, wenn man ihre Variabilität erkennt und darüber hinaus die im
Zusammenhang mit sprachl. Variation relevanten grundlegenden strukturierten
regelhaften Prozesse
• Variation auf allen Ebenen ist demnach kein Zufall, sondern eine geordnete,
strukturierte Heterogenität, die man mit numerischen Methoden beschreiben
kann
Die Realisierung einer best. sprachl. Variante ist kein Zufall, sondern es liegt eine
Regelhaftigkeit zugrunde
• Das bedeutet aber nicht, dass diese Variation den Sprechern bewusst ist!
• Sprachl. Variation wird von mehreren innersprachlichen und außersprachlichen
(sozialen) Faktoren bestimmt
• Sprachl. Variation reflektiert kein gramm. Defizit, sondern eine schillernde
Komplexität gramm. Systematizität

• Sprachl. Variation reflektiert und konstituiert die Struktur- und Organisationsformen


der jeweiligen Sprachgemeinschaft – Man kann in der Variation die gesellsch.
Struktur der Sprechergemeinschaft entdecken
• Andererseits konstituiert diese Variation auch die soziale Wirklichkeit der
SprecherInnen → Wechselwirkung zwischen Kontext und Variation
• Konstruktion von sozialer Wirklichkeit auf Basis sprachl. Variation wird auch im
quantitativen Paradigma schon angedacht, steht dann aber im Zentrum des
qualitativen Paradigmas

• Synchrone Variation von Sprache ist oftmals ein Indiz für diachronen Sprachwandel
→ Variation und Wandel stehen in Wechselwirkung zueinander und gehören
zusammen = grundlegender Gedanke des quantitativen Paradigmas der
Soziolinguistik

41
PRINZIPIEN DER QUANTITATIVEN METHODIK

1) Prinzip der quantitativen Modellierung


• Im Rahmen einer entsprechenden Untersuchung muss zuerst exakt festgelegt
werden, welche Variante einer linguistischen Variable zusammen mit welchen
kontextuellen Merkmalen (welche Faktoren) beobachtet werden soll und in die
statistischen Berechnungen einfließen kann
• Kontextuelle Merkmale = sprachliche Umgebung (Inneres, Ende oder Beginn von
Wortformen usw.) der Variante als auch die außersprachlichen sozialen Phänomene
(soziale Schicht, Alter der SprecherInnen, best. Region…)
• Bei einem hinreichend großen Datenset lassen sich dann probabilistische Aussagen
(Voraussagen) treffen über die Kookkurrenz einer best. sprachl. Variante und
eines/mehrerer best. Merkmale der sprachlichen Umgebung / des Kontextes
• Zusammenhang zwischen sprachl. Variation und dem sprachl. oder außersprachl.
Kontext wird quantitativ ausgedrückt
• Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit (in Prozent), dass die Variante A unter den
Bedingungen B, C und D realisiert wird

2) Prinzip der multiplen Kausalität


• Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass lediglich ein kontextueller Faktor für die
Realisierung von einer best. Variante verantwortlich ist → Es sind immer mehrere
Faktoren verantwortlich → multipel

3) Zusätzliche Prinzipien des quantitativen Paradigmas


• Einzelne SprecherInnen können hinsichtlich der Realisierung einer best. sprachl.
Variante sehr untersch. individuelle Häufigkeiten (Frequenzen) aufweisen → Diese
Unterschiede reflektieren gruppenspez. Sprachverhalten
• Gleichzeitig können die Faktoren der sprachl. Umgebung der entsprechenden
Variante auf alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft (alle sozialen Gruppen) Einfluss
haben – Daraus lässt sich ein best. Muster ableiten → In diesem Muster erkennt
man, dass die untersch. sozialen Gruppen zusammen eine Sprachgemeinschaft
bilden
• Einerseits gibt es untersch. gruppenspez. Sprachverhalten aber dennoch besteht
eine tiefer liegende Gemeinsamkeit

42
Beispiel für die Untersuchung eines Variationsphänomens: Tilgung des auslautenden
Dentallautes -t bzw. -d im Englischen

• Es geht um die Sprechergemeinschaft der


Afroamerikaner in Detroit in den USA
• Einerseits werden außersprachliche Faktoren
berücksichtigt (Schichten – stratifikatorisches
Gesellschaftsmodell) aber auch innersprachliche
Faktoren (gramm. Faktoren)

Innersprachliche Faktoren:
• 1. Frage: Folgt auf diesen auslautenden
Dentallaut ein Vokal oder ein Konsonant?
• 2. Frage: Ist dieses t /d ein Teil des „past tense
morpheme“ oder nicht?
• “missed in” = Teil des past tense morpheme –
“mist in” = nicht past tense morpheme
→In beiden Fällen folgt ein Vokal (i)
• „missed by“ = past tense morpheme – “mist by”
= nicht past tense morpheme
→Es folgt ein Konsonant (b)

• Von der upper middle class tilgen bei „missed in“ 7% (unter den
Bedingungen, dass das auslautende d Teil des past tense morphems ist
und ein Vokal folgt) das t – Die Prozentwerte steigen immer weiter an, je
weiter man auf der Schichtenskala nach unten geht
• Lower working class tilgt das -t/d am häufigsten

Daraus folgt für Labov:


DEFINITION EINER SPRACHGEMEINSCHAFT

“The speech community is not defined by any marked agreement in the use of language
elements, so much as by participation in a set of shared norms: these norms may be observed
in overt types of evaluative behavior, and by the uniformity of abstract patterns of variation
which are invariant in respect to particular levels of usage.”
Eine Sprachgemeinschaft ist nicht definiert durch besonders auffällige, markierte
Sprachgebrauchsphänomene sondern dadurch, dass sie sich durch best.
Konventionen/Normen auszeichnet. Diese Normen kann man einerseits an auffälligen
Verhaltensweisen beobachten, auf der anderen Seite zeigen sich aber oft im Hintergrund
abstrakte Variationsmuster, die die Sprachgemeinschaft als zusammengehörig ausweist.
(siehe Tabelle oben)

43
• Demnach haben die Diskussionen des quantitativen Paradigmas und der gesamten
klassisch korrelativen Soziolinguistik immer eher das Sprachverhalten von Gruppen
betroffen hat als das von Individuen
• Das Individuum ist aber die einzig empirisch-beobachtbare Entität der Soziolinguistik
→ Sprechergruppen sind demnach nur ein statistisches Konstrukt
• Individuelle Unterschiede hängen meist mit gruppenspez. Unterschieden zusammen
(außersprachliches, soziales Sprachgebrauchsmuster spiegelt sich in diesen
individuellen Werten)

PROBLEME MULTIVARIATER (Korrelationen beruhen auf mehreren Faktoren)


QUANTITATIVER ANALYSEN
1) Definition des „Variationsraumes“ (Beziehung zwischen Variablen und Varianten)
• Was wird als Variante einer Variable definiert?
• Es gilt die Annahme, dass mehrere Varianten einer Variablen in Bezug auf die
denotativ referenzielle Bedeutung gleichwertig sind – Varianten sind
bedeutungsgleiche Werte
• Auf der lautlichen Ebene ist das noch relativ einfach: z.B. Variable „ei“ hat lautliche
Varianten „oa“, „aa“… → Es ist klar, dass die Varianten bedeutungsgleich sind
• Schwieriger wird es auf höheren linguistischen Systemebenen: z.B. Morphologie;
Lexik, Syntax
z.B. „Er ist am Kochen“ – „Er kocht gerade“… = Varianten für die Verlaufsform →
Frage, ob das tatsächlich synonyme Varianten sind, ob sie bedeutungsgleich sind
2) Definition der kontextuellen Faktoren (sprachlich und außersprachlich)
• Bei jedem Faktor sollte eine begründete Annahme bzw. Hypothese vorliegen (z.B.
Warum man gerade untersch. Schichten in die Untersuchung einfließen lässt)
3) Klärung der Testverfahren hinsichtlich der Signifikanz der Daten
4) Interpretation der Ergebnisse – rein statistische Daten sind nicht das Ergebnis
5) Programminhärente Einschränkungen

• Es gilt inzwischen als gesichert, dass sprachl. Variation eine


geordnete/strukturierte Heterogenität repräsentiert
• Das quantitative Paradigma hat die Different-Hypothese von Labov bestätigt
• Es hat sich auch die Annahme gefestigt, dass Sprachvariation einen Schlüssel
zum Verständnis von Sprachwandel darstellt (Das Nebeneinander der Variation
ist ein Reflex des Sprachwandels: Das Alte ist noch nicht ganz verschwunden und
das Neue ist schon da)
Trotz all dieser Erfolge hat sich im Laufe der Zeit Kritik am quantitativen Paradigma
breitgemacht: Es ist nicht erkennbar, welche soziale Bedeutung (Prestige, Stigma, Identität)
die sprachl. Variation für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft hat
→Perspektive der SprecherInnen selbst (emische Perspektive) kann mit statistischen
Untersuchungen nicht ermittelt werden

44
DAS QUALITATIVE PARADIGMA

• Qualitativ = Sammelbegriff für recht untersch. Ansätze in einer Reihe von kultur-
gesellschafts- und humanwiss. Disziplinen –
• Qualitativ = verstehend-rekonstruierend → von der Beobachtung der Gegenstände
angeleitete Verfahren
• Dabei zielt man auf die Typik der Gegenstände ab und nicht auf statistische
Repräsentativität (im Gegensatz zu quantitativer Forschung) → Bei qualitativer
Forschung werden oft nur ganz wenige Personen untersucht – Einzelfälle sind
interessant

• Hat Ursprünge im 19. Jhd. – operiert außerhalb der Naturwissenschaften


• Prägende Einflüsse sind:
o Soziologe Max Weber
o Soziologe G.H. Mead
o Symbolischer Interaktionismus – Annahme, dass gesellsch. Wirklichkeit in der
Interaktion erzeugt wird, dabei spielt Sprache große Rolle (Diese operiert mit
Symbolen → symbolisch)
o Ethnomethodologie (H. Garfinkel) – Ethnomethoden werden untersucht =
Verfahren, die die Menschen unbewusst einsetzten, wenn sie in der Aktion
die soziale Wirklichkeit erzeugen

• Mixed methods / Triangulation: Quantitative und qualitative Methoden werden


kombiniert (in der Soziolinguistik)

GRUNDANNAHMEN DES QUALITATIVEN PARADIGMAS


1) Gegenstandsadäquatheit (Angemessenheit) der Methodik
• Die wissenschaftlichen Methoden werden jeweils mit den Spezifika der zu
untersuchenden Gegenstände entwickelt
• Es gibt keine einheitliche Methode
2) Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen
• Soziale Realität ist von den Akteuren konstituiert und daher in deren Sicht und mit
deren Verfahren zu analysieren (emische Perspektive)
• →Kommunikative Verfahren
• Sich an die Regeln der alltagsweltlichen Kommunikation anpassen und diese
gleichzeitig beobachten und analysieren → Ethnomethodologie
• Akteure nehmen soziale Wirklichkeit als gegeben wahr und merken nicht, dass sie sie
erzeugen
3) Untersuchung “von innen”
• Alltagsmethoden bilden die Grundlage für die wissenschaftlichen Methoden
4) Inhaltsvalidität
• Untersuchungsverfahren muss das erfassen, was mit ihm erforscht werden soll

45
• In der sozialen Sphäre selbst werden Beobachtungen gemacht durch teilnehmende
Beobachtungen – nicht in einem Labor / durch Experimente losgelöst von der
sozialen Umgebung
5) Typenbildung
• Zielt auf Repräsentanz (auf das Typische) ab, das dann etwas Allgemeines
widerspiegelt – es geht nicht um deduktive statistische Verfahren
6) Humanistic approach
• Lehnt sozialtechnologischen Zugang ab – Menschen sollen einen Nutzen von der
Forschung haben

• Texte zu qualitativer und quantitativer Forschung - moodle

46
SPRACHWAHRNEHMUNGEN UND SPRACHEINSTELLUNGEN

EINSTELLUNGSFORSCHUNG

• Einstellungen sind keine rein soziolinguistische Beschäftigung


• Ursprung der Beschäftigung mit Einstellungen (attitudes) & Wahrnehmungen:
Psychologie & Soziologie
• Philosoph und Soziologe Herbert Spencer prägte den Begriff „attitudes“ (1862)
• Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff ab ~1900 gebräuchlich – Anfangs wurde
im dt.sprachigen Raum analog zum Begriff „attitudes“ häufig von Attitüden
gesprochen, da es im Deutschen keinen passenden Begriff gab
• Heute werden Attitüden und Einstellungen häufig als Synonyme gebraucht
• Mit dem Konzept von Einstellungen wird in sehr verschiedenen Forschungsbereichen
gearbeitet:
o In der Psychologie stehen Einstellungen für kurzfristige Denkeinstellungen
o Die Verwaltungspsychologie wertet Einstellungen als messbare Reaktion auf
bestimmte Elemente
o Auch die Wirtschafts-/Werbepsychologie arbeitet sehr stark mit dem Konzept
der Einstellungen (Wie kann man die Kaufeinstellungen von KonsumentInnen
steuern?)

EINSTELLUNGEN – Definition

• Die Definitionen sind sehr verschieden und meist an die versch. Forschungsfelder
angepasst
• Psychologie: kurzfristige Denkeinstellungen & messbare Reaktionen auf bestimmte
Elemente
• Definitionsversuche:
o Allport 1935; Eagly/Chaiken 1993:
“Attitude is a psychological tendency that is expressed by evaluating a
particular entity with some degree of favour or disfavour.”
➢ Eine psychische Tendenz, die sich durch die Bewertung eines bestimmten
Objekts mit einem gewissen Grad an Zuneigung oder Abneigung ausdrückt
o Sozialpsychologe Fritz Hermanns:
„eine gelernte Bereitschaft zu einer bestimmten Reaktion auf etwas“
➢ Bereitschaft: Tendenz/Disposition/Vorbereitung, sich auf etwas
einzustellen = innerlicher Prozess
➢ Etwas: Ereignis/Person/Verhalten/Sprache… - löst Reaktion aus
➢ Reaktion: Man reagiert auf dieses Etwas insofern, da man dazu bestimmte
Meinungen und Gefühle hat
➢ Gelernt: Die Bereitschaft, dass ich auf dieses Etwas reagiere, ist erlernt -
Durch Erziehung, Gesellschaft und Kultur

47
➢ Das heißt aber nicht, dass diese Bereitschaft, wie ich auf etwas reagiere,
nicht veränderbar ist – Kann verändert werden, indem ich älter werde,
einen anderen Freundeskreis habe… → Einstellungen sind dynamische
Prozesse

3-KOMPONENTEN-MODELL (Rosenberg/Hoveland 1960)

Reaktionsbereitschaft, wie ich auf best. Dinge reagiere, lässt sich auf verschiedenen Ebenen
nachweisen:
• in Überzeugungen, Ideologien und sonstigen verbalisierten Theorien der
EinstellungsträgerInnen
• in Gefühlsäußerungen
• in Handlungen: Auffassung, dass bestimmte Handlungen ausgeführt werden sollten

ABC der Einstellungen


A: affective (affektive, evaluative
Komponente) – emotionale
Einstellungen/Werte gegenüber dem
Einstellungsobjekt
z.B. „Ich mag deinen Dialekt, weil ich ihn
schön finde.“
B: behavioral
Affective Behavorial B: behavioral (konative Komponente) –
Attitudes
beobacht Handlungsdispositionen: beobachtbares
Verhalten gegenüber dem geäußerten
Einstellungsobjekt: potenzielle
Handlungsintention kommt zum
Ausdruck (Diese Person wird den
Cognitive eigenen Kindern eher Hochdeutsch als
Dialekt vermitteln)
z.B. „Es ist wichtig, dass Kinder
Hochdeutsch lernen“
C: cognitive
Überzeugungen, Theorien, Wissen, Meinungen, Argumente gegenüber dem
Einstellungsobjekt
z.B. „Dialekt wird in ländlichen Gebieten gesprochen“

• 3-Komponentenmodell verfolgt Konsistenztheorie: In diesem Konzept werden


zwar die Komponenten der Wahrnehmung, der Bewertung und der
Handlungstendenz definitorisch unterschieden, jedoch stehen diese
Komponenten in einem Zusammenhang und eine isolierte Betrachtung der
Komponenten ist nicht möglich

48
Probleme des Modells:

• einzelnen Komponenten theoretisch voneinander getrennt → Widersprüche in der


Praxis – Einstellungen sind sehr stark individuell und dynamisch: Das wird im 3-
Komponenten-Modell nicht sichtbar

• 3-Komponenten-Modell (Rosenberg/Hoveland) vs. 1-Komponenten-Modell


(Fishbein/Ajzen)
• 1-Komponenten-Modell besteht nur aus der affektiven Komponente
• Die beiden anderen Komponenten sind nicht Einstellungen per se (konativ und
kognitiv), sondern wirken auf Einstellungen ein

• Weiteres Problem: Situationsspezifik & Kontext, in dem die Einstellungen geäußert


werden, werden in diesen Modellen gar nicht berücksichtigt
• Kontext und situationsspezifische Aspekte wirken sich sehr stark auf
Einstellungsäußerungen aus:
o Ort (öffentlich, privat)
o Personenkonstellation (Wie gut kenne ich die GesprächspartnerInnen)
o Hierarchische Staffelung (symmetrisches oder asymmetrisches Verhältnis zu
den GesprächspartnerInnen)
o Herkunft der SprecherInnen (geographische Nähe oder Distanz der
SprecherInnen zu den sprachlichen Varietäten, die im Fokus des Gesprächs
stehen)

SPRACHEINSTELLUNGEN
Soziolinguistische Einstellungsforschung:
• 1950er Jahre: amerikanische Linguistik
• 1970er/80er Jahre: deutscher Sprachraum

• Sprache: Standartvarietäten, dialektale, soziale Varietäten…, Sprachverwendung und


SprecherInnen
• Häufig werden Spracheinstellungen ausschließlich auf die sprechende Person
bezogen → Person und Sprache kann man sehr schwer voneinander trennen

49
Forschungsgegenstand der Spracheinstellungsforschung:

• Einstellungen und Wahrnehmungen von SprecherInnen bzw. SprecherInnengruppen


gegenüber Einzelsprachen oder verschiedenen regionalen & sozialen Varietäten
o Diaphasische Varietäten: kommunikativer Kontext, in dem eine sprachliche Form
angewendet wird (z.B. Wie unterscheiden sich Einstellungen, wenn man von
einer geschriebenen oder gesprochenen Sprache spricht)
o Diastratische Varietäten: gesellschaftlicher Kontext – Soziolekte wie z.B.
Jugendsprache (z.B. Wie sind die Einstellungen zu Sprechweisen bestimmter
sozialer Gruppen: Alter, Geschlecht, Beruf…)
o Diatopische Varietäten: regionaler Kontext – Regiolekte (z.B. Wie nehmen
Personen, die im ländlichen Raum aufgewachsen sind, Varietäten aus Wien wahr)

SPRACHEINSTELLUNGEN UND SPRACHWAHRNEHMUNGEN

• Wie sind Sprachwahrnehmungen mit Spracheinstellungen in Verbindung zu setzen?


• Wahrnehmung / Perzeption: Begriff stammt aus Feld der Psychologie =
Integration/Verarbeitung von bestimmten externen Reizen (kognitive, sensorische,
akustische, visuelle…) durch eine Person (Person = Vermittler zwischen sich selbst
und der Umwelt)
o Wahrnehmung: eher sensorische Reize
o Perzeption: eher kognitive Reize
o Begriffe werden aber oft synonym gebraucht
• Durch Rückgriff auf bestehende Wissensstrukturen (Erfahrungen, Erziehung…)
werden externe Reize aufgenommen und interpretiert
• Sprachliche Einstellungen sind untrennbar mit sprachlicher Wahrnehmung
verbunden: Wahrnehmungen beschreiben Einstellungen und umgekehrt wirken
Einstellungen sich wieder rück auf bestimmte Wahrnehmungen (prägen
Wahrnehmungen)

• Salienz: Wahrnehmung sprachlicher Auffälligkeiten (in der Sprechweise einer Person


– z.B. eine Person verwendet andere Artikel als ich es tun würde und mir fällt das
auf)
• Pertinenz: Bestimmung der subjektiven Bedeutung der sprachlichen Äußerungen
(Bewertung - z.B. eine Person verwendet andere Artikel und ich empfinde das dann
sympathisch, als störend…)

SPRACHEINSTELLUNGEN – ZUSAMMENFASSUNG

• Einstellungen sind komplexe, hypothetische Konstrukte, auf soziale Objekte


gerichtet (Sprache, Sprachgebrauch, SprecherInnen)
• Sind Meinungen und Wertungen, die aus kognitiven, evaluativen und konativen
Elementen entstanden sind, implizieren Handlungsbereitschaft
50
• Sind dynamisch
• Sind abhängig zu Situation, Kontext und individuellem sprachlichen Wissen
• Einstellungsäußerungen sind nie objektiv bzw. wertfrei
„[…] wertende Dispositionen, die einzelne Menschen oder soziale Gruppen gegenüber
sprachlichen Erscheinungen haben. Spracheinstellungen sind besonders Haltungen
gegenüber Sprachen, Sprachvarietäten oder Sprachverhalten anderer Individuen oder
Gruppen, oft mit wertender Berücksichtigung der jeweils eigenen Sprache. Wie andere
Einstellungen gelten Spracheinstellungen als erlernt, relativ beständig, wenn auch
veränderbar.“ (Stickel)

• Sprachwahrnehmungen sind in der Praxis nicht vom Sprachgebrauch der


SprecherInnen trennbar
• Gegenüberstellung der eigenen Sprache und des sprachl. Verhalten anderer
Gruppen: Spracheinstellungen sind identitätsstiftend (zur eigenen Sprachgruppe)
bzw. trennend (kontrastierend zu anderen Sprachgruppen)

SPRACHEINSTELLUNGEN UND IDEOLOGIEN

• Immer dann, wenn eine größere Anzahl von Personen dieselbe Sprache spricht,
kommt Variation zustande
• In Folge dieser Variation können Menschen anhand ihrer Herkunft lokalisiert und
eingeteilt werden (Mir fallen durch meine Reaktionsbereitschaft – mein
Hintergrundwissen – saliente Merkmale auf und durch mein Wissen kann ich diese
Person in der sprachl. Landschaft lokalisieren)
• Es findet auch immer ein Vergleich statt (Mir fallen saliente Merkmale auf und ich
setzte sie zueinander in Bezug)
Abgrenzung unterschiedlicher Sprechlagen: Standardvarietäten vs. Non-
Standardvarietäten
• Konzeptionellen Trennung von Standardsprache & Dialekt (europäischer
Kontext)

= Europäisches Konzept!

51
Standardvarietät:
„Standard einer Sprache“: 3 Parameter (Hill 2008)
o Historizität: Wenn eine gesellsch. Gruppe eine best. Varietät sprach und diese über
ein sehr hohes soziales Ansehen verfügte, ist es wahrscheinlich, dass diese Varietät
als Standardvarietät ausgewählt wird
o Korrektheit: durch Kodifizierungen
o Prestige: durch Legitimierung und Institutionalisierung: hoher sozioökonomischer
Status
Gegenteil = Stigma

• Kodifizierungen (Erstellung von Grammatiken und Wörterbüchern)


• Status durch Legitimierung & Institutionalisierung (in Schulen, öffentlichen Ämtern…
verbreitet)
Anhand des Standardkonzepts: vertikale Abstufung & Bewertung von Varietäten
→ high varieties (Standardvarietäten) & low varieties (Dialekte oder Substandardvarietäten)
Diese Einteilung führt zu:
o Ideologien & stereotype Vorstellungen/Vorurteilen (Wenn z.B. Personen in
Bereichen, die primär den Standardvarietäten reserviert sind, Non-
Standardvarietäten verwenden, wird das meist als Dummheit, Faulheit interpretiert)

o Durch einen Sprachgebrauch wird direkt auf die Charaktereigenschaften der


SprecherInnen geschlossen
o Bei Dialekten: Aspekte der Gruppenzugehörigkeit, Identität & Solidarität spielen
große Rolle
o Spracheinstellungen in Bezug auf Prestige und Stigma divergieren je nach Kontext
& Situation

52
ERHEBUNGSMETHODEN DER SPRACHEINSTELLUNGSFORSCHUNG

EINSTELLUNGSUNTERSUCHUNGEN

• Sind sehr komplex


• Es ist nicht einfach, generalisierende Aussagen zu treffen

• 3 Ebenen (Portz): Sprache, sprachlicher Gebrauch und SprecherInnen


• Diese drei Einstellungsobjekte manifestieren sich im Bereich der untersch.
Auseinandersetzungen mit Spracheinstellungen:
o Fokus auf SprecherInnen: speaker evaluation
o Fokus auf Spracheinstellungen und Varietäten: speech style evaluation
o Fokus auf Einstellungen zum sprachl. Verhalten: speech behavior
• Aspekte der Ideologien und Identitäten: Sprache, SprecherIn und sprachl. Verhalten
sind nicht voneinander trennbar → oft wird von der Sprechweise einer Person auf
deren Charaktereigenschaften geschlossen – Frage: Beurteilen die Probanden die
Sprechweise oder die sprechende Person selbst?

“Attitudes are evaluative judgments stabilized in practice”


(Purschke 2018: 245)

• Einstellungen sind evaluative Beurteilungen, die sich erst im Gebrauch


manifestieren → evaluative Beurteilungen bilden sich erst in der sprachl. Praxis
(in einer jeweiligen Situation)
• Forschung geht davon aus, dass Einstellungen sich erst im kommunikativen
Aushandeln zwischen zwei Gesprächspartnern entwickeln können

• Problem: Einstellungen sind abstrakte theoretische Konzepte und eine unmittelbare


Messung ist nicht möglich
• Einstellungen werden nicht direkt geäußert, sondern immer in Rückgriff auf die
jeweilige Situation/Kontext
• Einstellungen können nicht direkt untersucht werden, sondern mittels der
auftretenden messbaren Indikatoren = verbale Äußerungen und bestimmte
Verhaltensweisen (z.B. bestimmtes Antwortverhalten)

53
SPRACHEINSTELLUNGSMESSUNG

Direkt: verbale Äußerungen werden als Einstellungsindikator gesehen


Problem: Konditionierungseffekt → Einstellungen sind bei der befragten Person nicht per se
vorhanden, sondern werden erst durch diese Befragungssituation hervorgerufen
Indirekt: dem Probanden ist das eigentliche Thema der Forschung nicht bekannt

Quantitativ:

• Messbare Daten können gewonnen werden (Skalen)


• Personen werden mit standardisierten Aussagen konfrontiert, in der Beantwortung
lässt sich der Grad der Ausprägung einer positiven oder negativen Einstellung
berechnen
• Vorschriften (Gütekriterien) müssen beachtet werden:
o Objektivität – Unterschiedliche ForscherInnen würden zu denselben
Ergebnissen kommen
o Reliabilität – Genauigkeit / Verlässlichkeit der Messung
o Validität – Wird das gemessen, was ich wirklich messen will?
• Erhebungsmethoden: Skalen, Interviews (standardisierte, strukturierte
Einzelbefragungen)

Qualitativ:

• Einzelfallanalysen
• Gütekriterien sind nicht allgemein gültig wie bei quantitativen Methoden, da es
verschiedene Herangehensweisen gibt
o Nachvollziehbarkeit

54
o Reflektierte Subjektivität – Forscher ist subjektiv, das muss in der
Theoriebildung reflektiert werden
o Kohärenz, Relevanz
o Regelgeleitetheit – Best. Regeln müssen trotz der Freiheiten befolgt werden
• Zuverlässigkeit der gewonnenen Daten wird oft kritisiert – Man muss sich sehr stark
auf die Intuition des Forschers verlassen muss
• Erhebungsmethoden: teilnehmende Beobachtung (z.B. einer
Kommunikationssituation), Tagebücher analysieren, Interviews (informell,
unstrukturiert)
• Geeigneter für Erhebung von Einstellungen: Weniger Störvariablen sind vorhanden,
die sich durch die Standardisierung ergeben
• Sind aber aufwändiger

• Beide Methoden werden oft kombiniert → Einstellungen müssen aus mehreren


Blickwinkeln betrachtet werden

ERHEBUNGSMETHODE INTERVIEW

• Sehr häufig verwendet → in einem direkten Gespräch lassen sich Einstellungen


besonders gut erheben (Mimik, Gestik, Zögern, Lachen… kann beobachtet werden)
• Direkt oder indirekt (befragte Person weiß nichts vom Ziel der Erhebung)
Standardisiertes Leitfadeninterview
• Von den Forschenden wird im Vorhinein ein exakter Leitfaden erstellt (Fragen genau
ausformuliert)
• Hoher Grad an Standardisierung
Narratives Interview (Lucius-Hoene & Deppermann 2004)
• Befragten wird grob ein Themengebiet vorgegeben und sie reagieren spontan
• Rückfragen sind spontan und nicht standardisiert
Biographisches Interview, Spracherleben (Busch 2017)
• Ziel: Lebenserfahrungen mit einbeziehen
• Im Bereich der individuellen Mehrsprachigkeit eingesetzt

Beobachtungsparadoxon
• Ziel des Interviews = Gewinnung einer wahren, unverfälschten Meinung
• Frage: äußert Person wirklich ihre wahre Meinung? – davon wird ausgegangen -
Problem

Paradoxon: “the aim of linguistic research in the community must be to find out how people
talk when they are not being systematically observed, yet we can only obtain this data by
systematic observation.” (Labov 1972: 209)

55
• Lösung: Interviewdaten mit anderen Daten (aus einem anderen Erhebungstyp, z.B.
schriftliche Fragebögen, Freundesgespräch) kombinieren

• Individuen konstruieren Spracheinstellungen unterschiedlich je nach Kontext &


Zugehörigkeitsgefühl – Vorurteile, stereotype Vorstellungen (Riehl 2000, Liebscher &
Dailey- O’Cain, 2009)
• Strategien zur Rechtfertigung, warum man stereotype Vorstellungen oder Vorurteile
hat: Verwendung der Strategien (Rechtfertigung) ist wahrscheinlicher, je höher die
Distanz bzw. je reflektierter das Gespräch ist

Diskursiver Umgang mit Stereotypen


• Beispiele, wie man Strategien der Abschwächung/Rechtfertigung von direkten
Einstellungsäußerungen erkennen kann

Probleme der Methode Interview:

• Wechselwirkung zwischen natürlichen Daten und der Qualität der Aufnahme (gute
Aufnahmetechnik mit z.B. großen Mikros ist störend für die Person, hemmt sie in
ihrem Ausdruck…)
• Dekontextualierung & Rekontextualisierung (Briggs 2005) (Dekontextualisierung:
Interviews müssen transkribiert werden und Rekontextualisierung: Interviews
werden anschließend analysiert)
• Ungleichgewicht in der Kommunikation (Interviewer will Informationen von der
befragten Person, diese kennt die Intention nicht – Interviewer = aktiv, Person =
reagierend)
• SprecherInnen äußern Einstellungen nur dann, wenn sie keinen Imageverlust
erfahren (Befragte verhalten sich so, wie sie glauben, dass es in einem Interview von
ihnen erwartet wird)

HÖRERURTEILTESTS

• indirekte Erhebung von Einstellungen & Wahrnehmungen


• zielen auf die sprachliche Wahrnehmung von linguistischen Laien ab
56
• InformantInnen werden Audiobeispiele vorgespielt & gebeten, diese zu bewerten
• Methode, die nach einer subjektiven Fremdeinschätzung bestimmter Sprachproben
fragt
• individuelle Konzeptualisierungen von Varietäten können erhoben werden, Wissens-
und Wertesysteme ermittelt werden

Herangehensweisen:
1) Matched Guise Technique (Lambert et al. 1960)
• eine Person spricht mehrere guises in unterschiedlichen Varietäten / Sprachen /
Akzenten (derselbe Text)
• auf einer Skala sollen diese Beispiele bewertet werden
• InformantInnen ist NICHT bewusst, dass es sich immer um dieselbe Person handelt
• 3 Dimensionen: Kompetenz, Integrität, soziale Attraktivität
• subjektive Reaktionen auf unterschiedliche Sprechweisen sollen herausgearbeitet
werden
• dadurch, dass nur eine Person die Texte einspricht, gibt es keine weitere
Einflussfaktoren (Sprechgeschwindigkeit, Betonung…) → Nur die Sprache / Varietät
selbst wird bewertet

• erstmals in Kanada eingesetzt (Bewertung Englisch – Französisch)

Nachteile MGT
• Künstlichkeit: kaum echte multidialektale Personen, Verfälschung der Resultate
(Imitation der Dialekte)
• Merkmale wie Kontext, Situation, Funktion, Domäne gehen verloren

2) Verbal Guise Technique


• verschiedene SprecherInnen für verschiedene Varietäten, Akzente etc. (derselbe
Text)
• Authentizität der Aufnahmen ist höher
Nachteile VGT
• zusätzliche Variablen spielen eine Rolle und können die Wertungen beeinflussen
(Stimme, Sprechgeschwindigkeit…)
• Bewusstsein von Salienz? – Den Befragten fallen am Text Dinge auf, die die
forschende Person gar nicht intendiert hat
• Ermüdung durch sich wiederholende Texte?

3) Open Guise Technique (Soukup 2013)


• Setting mit matched-guise-technique vergleichbar
• Unterschied: InformantInnen wissen, dass die sprechende Person immer die gleiche
ist

57
Vor- und Nachteile von Hörerurteilstests:
Vorteile:
• indirektere Erhebung von Einstellungen als z.B. durch direktes Nachfragen in
Interviews
• weniger sozial-erwünschte Antworten können erhoben werden → Person fühlt sich
weniger beobachtet
• Vergleichbarkeit – werden in vielen versch. Studien eingesetzt

Nachteile:
• Ermüdung & Übergenauigkeit – Probanden nehmen z.B. saliente Merkmale wahr, die
im Zuge der Studie gar nicht intendiert waren
• Authentizität der SprecherInnen (insb. matched guise)
• unterschiedliche Wahrnehmungen der Probanden

SKALEN

• Wichtig bei Hörerurteiltests


• Frage ich direkt oder indirekt nach den Einstellungen?
• viele verschiedene Skalen:
o Likert – am häufigsten verwendet
o Semantisches Differenzial
o Thurstone, Guttmann, Bogardus, Edwards-Kilpatrick (Casper 2002)

Likert - Skala (Rensis Likert 1932)


• Direkte Befragung
• Befragte Personen werden mit bestimmten Aussagen konfrontiert und müssen dann
ihren Grad der Zustimmung / Ablehnung abbilden → Selbsteinschätzung der
Personen
• Kontinuum zwischen starker und schwacher Zustimmung
• Gut funktionieren solche Skalen, wenn sich ein eindeutiger Grad an Zustimmung oder
Ablehnung ablesen lässt
• Probleme: mittlere Einstellungswerte nicht eindeutig interpretierbar
→mittelmäßig zutreffend oder irrelevant?
Deshalb wird in vielen Forschungen auf eine gerade Skalierung zurückgeführt (so gibt
es keinen Mittelpunkt)

58
Semantisches Differenzial (Osgood, Suci, Tannenbaum 1957)
• Indirekte Befragung
• bipolare Adjektivskalen mit gegensätzlichen Adjektivpaaren
• Antworten erfolgen sehr spontan
• drei Dimensionen, die sich besonders gut eignen, um sie im Zuge eines semantischen
Differenzials abzufragen (Zahn/Hopper 1985):
o „superiority“ z.B. korrekt - inkorrekt
o (social) „attractiveness“ z.B. freundlich – unfreundlich, nahbar -
unnahbar
o „dynamism“ z.B. energiegeladen – faul, enthusiastisch - zögernd
• Schwierigkeiten: Welche Adjektivpaare werden ausgewählt?
• Problem: Abstraktionsgrad und Bedeutung der Adjektive – Konnotation der Adjektive
kann individuell unterschiedlich sein

Vorteile von Skalen:


• Auch in anderen Erhebungsmethoden einsetzbar (Fragebögen…)
• Können auch im Rahmen eines Interviews zusätzlich eingesetzt werden, um einen
genaueren Aufschluss über best. Einstellungsäußerungen… herauszuarbeiten (und
das Beobachterparadoxon zu umgehen)
• Quantifizierbarkeit – Man kann die Skalenpunkte auswerten
• Intra- (Was hat die Person im Interview gesagt und was hat sie bei der Skala
ausgefüllt) und interindividueller (Was haben andere Personen angegeben)
Vergleich der Daten
• erhöhte Reflexion des Befragten, da sie sich auf einen bestimmten Punkt festlegen
muss

59
AUSWERTUNG DER EINSTELLUNGSBEZOGENEN DATEN

Quantitative Methoden
• Erhebung: standardisierte Befragungen nach vorgegebenen Kategorien →
Messbarkeit (z.B. Skalen)
• Auswertung: quantifizierend, statistische Verfahren

Qualitative Methoden
• Erhebung: teilnehmende Beobachtung, natürliche Handlungen, Interaktionen
• Auswertung: Daten können nicht quantifizierend ausgewertete werden – keine
einheitliche Vorangehensweise: z.B. Zuordnung der Beobachtungen zu Typen,
Verstehensbeschreibungen machen, qualitativ distinktive Typen von Handlungen
bestimmen, Interaktionsweisen, Werte, Normen, etc. analysieren…

AUSWERTUNG VON INTERVIEWS


• Aufzeichnung natürlicher Gespräche mit Aufnahmegeräten und anschließende
Transkription → exakte Verschriftlichung des Gesagten (auch Pausen, Betonungen,
Intonationen, Unterbrechungen…)

Transkriptionssysteme
o GAT (Selting et al. 1998; 2009) = Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem -
3 Stufen: Minimaltranskript, Basistranskript und Feintranskript
o HIAT (Ehlich & Rehbein 1976) = Halbinterpretative Arbeitstranskription –
transkribierende Person interpretiert schon

Konversationsanalyse & linguistische Gesprächsforschung


• Forschungsrichtung, die sich mit Gesprächsabfolgen beschäftigt und als
Arbeitsgrundlage Transkripte hat
• Untersuchungsgegenstand = Strukturen der alltäglichen und der institutionellen
Interaktion (z.B. Arztpatientenkommunikation oder Bewerbungsgespräche…)
• Geht davon aus, dass die Interaktion lokal von den GesprächsteilnehmerInnen lokal
von den GesprächsteilnehmerInnen ausgehandelt wird → keine Äußerung kann
isoliert betrachtet werden
• Sequentielle Gesprächsordnung muss analysiert werden → Gespräche sind in
turns geordnet (=Redezüge)
Durch Realisierung des first pair parts wird der second pair part bedingt und
relevant = conditional relevance
Sprecherwechsel = turn taking
Ziel der Konversationsanalyse:
• Aufzeigen des Herstellungsprozesses sozialer Ordnung anhand natürlicher Gespräche
und Interaktionen
• Aufdecken und Erklären von Regularitäten und Problemen (z.B. in der
Arztpatientenkommunikation – starkes Ungleichgewicht der turns)
60
DISKURSANALYSE

• Arbeitet mit Transkripten, Medientexten (Fernsehsendungen, Social Media…)


• kombiniert quantitative und qualitative Methoden
• Gegenstand diskursanalytischer Untersuchungen: Zusammenhang zwischen
sprachlichen Formen / Mustern und Machtverhältnissen in der Gesellschaft →
Wechselwirkung zwischen Sprache und Gesellschaft
• Unterschied zu reiner Textanalyse: diese untersucht NUR die sprachlichen Formen,
schließt aber nicht auf die Machtverhältnisse in der Gesellschaft

Es gibt untersch. Schulen / Herangehensweisen der Diskursanalyse:


• „Diskurs“ unterschiedlich definiert – Unklar, was dieser Diskurs alles umschließt,
untersch. Schwerpunktsetzungen der versch. Schulen
• Diskurs & Diskursanalysen in untersch. Disziplinen mit untersch. Bedeutungen:
Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaften, Linguistik
• inner- und interdisziplinäre Begriffsunterschiede
• Diskurs ist kein rein wissenschaftlicher Begriff, auch in der Alltagssprache verwendet
• Unsicherheit, was dieser Begriff konkret bedeutet und was er umfasst
• Auch in der Linguistik gibt es innerdisziplinäre Unterschiede

Geschichte des Diskursbegriffs: - untersch. Konnotationen


• lat. discursus (= Mitteilung) bzw. discurrere (=mitteilen, erörtern)
• Spätantike: diskursiv vs. intuitiv – Gegenbegriff, diskursiv war eher negativ konnotiert
→göttliche Intelligenz wurde als intuitiv bezeichnet – menschliches Denken =
diskursiv, also schlussfolgernd
„Der ‚diskurrierende‘ Verstand durchläuft, analysierend und folgernd logische
Figuren. Er bewegt sich also immer über Etappen, die einen jenseitigen Horizont
haben.“ (Kohlhaas 2000: 38)
• 13. Jahrhundert: discursus wird zu philosophischem Terminus → bewegt sich von
Ursprungsbedeutung „Erörterung“ hin zur Bedeutung des menschlichen bzw.
wissenschaftlichen Wissen
• 15. & 16. Jahrhundert (Italienische Renaissance): Diskurs vs. Traktat
Diskurs = ungesichertes Wissen, das in Texten verbreitet wird – um dieses Wissen in
Texten verbreiten zu können, muss man es reflexiv/argumentativ darstellen →
Wissen kann in einem Diskurs immer wieder neu interpretiert/abgewogen… werden
Traktat = logisch, deduktiv hergeleitetes Wissen, nicht argumentativ
• 16. & 17. Jahrhundert: Frankreich discours (Charakteristikum: argumentatives
Verfahren/Herangehensweise)
• 19. Jahrhundert: diskursive Darstellungen (sehr philosophisch) verlieren im Vergleich
zu den exakten Naturwissenschaften an Bedeutung
• 20. Jahrhundert: Begriffserweiterung: Verknüpfung einzelner Sprachereignisse mit
sprachlichen und sozialen Kontexten der Bedeutungszuweisung (AkteurInnen & ihre
Handlungen werden in den Blick genommen) – Sprache und Machtverhältnisse

61
• Diskurs heute: Diskurs als modisches Label
„Der Kontext entscheidet über die Begriffsbedeutung“ (Schalk 1997: 104)

Diskurs in anderen Disziplinen:

Diskurs in der Philosophie


Jürgen Habermas: „Theorie des kommunikativen Handelns“
• Problematisieren von Geltungsansprüche und wie diese eingelöst werden –
Kommunikation ist nicht reiner Informationsaustausch sondern das Einlösen von
Geltungsansprüchen (= z.B. dass ich beanspruche, dass meine getätigte Aussage der
Wahrheit entspricht – dies wird meist implizit mitgeteilt)
Ideale Gesprächssituation lässt zu, dass best. Problemstellungen diskutiert werden
• Richtigkeit von Handlungsnormen – wenn z.B. andere Meinungen auftreten, gibt es
untersch. Formen, damit umzugehen:
o „Wahrheit“
o „Wahrhaftigkeit“
o „Richtigkeit“
→Diskursethik: Gespräche folgen best. Handlungsnormen
→Ziel eines Dialoges: gemeinsames Finden der Wahrheit – Positionen müssen
ausgewogen sein
• = idealtypischer und herrschaftsfreier Diskurs
• Diskurse müssen rational sein – alle Geltungsansprüche müssen in der
Kommunikation ermöglicht werden, also authentisch sein – kein Ungleichgewicht
• Im Zentrum steht die Argumentation – muss schlüssig und ausgewogen sein -
WAHRHEIT

Diskurs in der Soziologie


Peter Berger & Thomas Luckmann: „Wissenssoziologie“
• Wurzel & wichtiger Zweig der Diskursanalyse
• Im Zentrum steht WISSEN
• Gesellschaft, Wissen, „Wirklichkeit“ → Wie kann eine Gesellschaft Wissen erreichen
und wie erlangt dieses Wissen dann den Status der Wirklichkeit
• Wechselwirkung zwischen Wissensordnung & sozialer Ordnung – gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit, Wirklichkeit wirkt auf gesellsch. Konstruktionen rück
• Wirklichkeit ist historisch gewachsen – Wirklichkeit ist KONSTRUIERT
• Die von Menschen konstruierte Ordnung etabliert und stabilisiert sich laufend in
der Gesellschaft
• Diskurs als kommunikative Praxis, diese konstituiert (erzeugt) die Wirklichkeit
• Die, die kommunizieren und so die Wirklichkeit konstruieren = AkteurInnen → diese
sind sehr relevant
• von Menschen konstruierte Ordnung: Wissen & Macht
• Diskurse bilden Wirklichkeit nicht nur ab sondern KONSTRUIEREN sie auch

62
Diskursbegriff von Focault: - sehr zentral
Michel Foucault (1926-1984)
• Professor für „Geschichte der Denksysteme“ (Collège de France, Paris)
• Antrittsvorlesung 1970: Diskurs und seine Machtwirkungen
• Diskurs als ein Geflecht von Aussagen zu einem Thema, die in einer Gesellschaft zu
einem bestimmten historischen Zeitpunkt nach Maßgabe bestimmter
Ordnungsstrukturen getätigt werden (vgl. Bendel-Larcher 2015)
• Geflecht von Aussagen: eine VIELZAHL von Aussagen, nicht individuell
• Gesellschaft als Rahmenpunkt für eine Wirklichkeitskonstruktion
• Ordnungsstrukturen einer Gesellschaft als Instanz (meist implizit, also verdeckt) –
Man kann also best. Aussagen tätigen, andere nicht, weil die Ordnungsstrukturen
dies nicht erlauben (z.B. ob man eine Regierung ungefiltert kritisieren könnte)
• Historische Komponente: Gesellschaften sprechen zu versch. Zeitpunkten anders
über best. Dinge

Wichtigste Schriften:
• „Die Ordnung der Dinge“ (1966) → über best. Aspekte wird auf eine best. Art und
Weise gesprochen (manche sind tabuisiert, über manche kann man nur implizit
sprechen…)
Hist. Komponente und gesellsch. Kontext hängt damit zusammen → Ordnung der
Dinge ist nicht starr sondern verändert sich
• „Archäologie des Wissens“ (1969) → Wie sich die Ordnung der Dinge im Laufe der
Zeit ändert
Diese Aussagen, Diskurse, Ordnung der Dinge kann gespeichert und abgelegt werden
= bei Foucault diskursives Archiv (= heute Korpus)
• Wissen und Macht (z.B. 1975, 1977) → Wer über ein best. Thema die Diskursmacht
hat, ist zentral: starke Wechselwirkung zwischen Wissen und Macht

DISKURS IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN LINGUISTIK

• Mitte 1970er Jahre: diskurstheoretischer Ansatz (Foucault) von sozial-&


geisteswissenschaftlichen Fächern aufgegriffen und breit rezipiert, er wurde
transdisziplinär eingesetzt
• Ende der 1970er Jahre: erstmalig Foucaults Diskurskonzept in der Germanistischen
Linguistik
• Ende der 1980er & 1990er Jahre: Intensivierung der Auseinandersetzung mit
Foucaults Werk
→ keine einheitliche Fachrichtung, diskurslinguistische „Disziplinenbildung“ – Je nach
Schwerpunktsetzung
• zeitgleich, zwei „Schulen“ in der germ. Linguistik:
63
o Kritische Diskursanalyse (KDA) – hat sich aus stark gesellschaftskritischer
Linguistik entwickelt, Vertreter lehnten sich stark an Foucault an
o Diskurssemantik – hat sich aus handlungstheoretischen Konzepten entwickelt
• 1990er: neuere geisteswiss. Strömungen, in denen Kommunikation und Sprache ins
Zentrum gerückt wurden → Linguistik ist wesentlich für diskursanalytische
Untersuchung
• Erweiterung des Sprachbegriffs: Sprache ist in gesellschaftliche, historische und
kulturelle Zusammenhänge eingebettet
Sprache bildet und schafft Wirklichkeit (davon geht diskursanalytische Ansicht aus)
→ Aussagen stehen so nicht isoliert sondern darin sind Überzeugungen, gesellsch.
Wissen, Machtstrukturen… enthalten
→Beschreibung von gesellschaftlichen Wissens- (oder auch Macht-)strukturen durch
die Analyse von Aussagen
• Diskursverwirrung: zwei Lager (Schulen) – starke Konkurrenz, jedes beanspruchte
ihre eigene Herangehensweise als die richtige:
„Diskurs und Wissen“ (Diskurssemantik) vs. „Diskurs und Macht“ (Kritische
Diskursanalyse)

1) KRITISCHE DISKURSFORSCHUNG

Innerhalb dieses Feldes gibt es untersch. Ansätze:


• Wiener Ansatz (Wodak)
• Duisburger Ansatz (Jäger)
• Oldenburger Ansatz (Gloy, Januschek, Ködel & Wenderoth)
• Soziokognitiver Ansatz (van Dijk)
• Soziosemiotischer Ansatz (van Leeuwen, Kress & Machines)
• Sozialtheoretisch orientierter Ansatz (Fairclough)

→gemeinsam ist ihnen allen die problembezogene Herangehensweise: Wahrnehmung


eines sozialen Problems

WIENER KRITISCHE DISKURSANALYSE

Geschichtliche Aspekte:
• ab 1970er/80er Jahre
o Analyse von Sprache in spezifischen gesellschaftlichen Zusammenhängen;
Zusammenhang von diskursiven Praktiken und gesellschaftlichen Strukturen
→ Untersuchung von Sprache im Bereich der gerichtlichen Kommunikation
(Ruth Wodak)
o Ausgangspunkt: Arbeiten von Bernstein (restringierter und elaborierter Kode)
→ Unschärfe der Codes wurde kritisiert, bezog in ihr Modell weitere
Variablen mit ein
o Ideologiekritik und Kritik an der Manipulation durch massenmediale
Berichterstattungen
64
o Entwicklung relevanter diskursanalytischer Untersuchungsmethoden und
Analysekategorien
o Triangulation und Methodenpluralismus – Multiperspektivität
• Etablierung der Kritischen Diskursanalyse in Wien (1993-1997)
o Ausweitung und Internationalisierung des gesellschaftskritischen Projekts
o erfolgreiche Verbreitung der Selbstbezeichnung als „Kritische Diskursanalyse“
o Wiener Ansatz wurde zu eigener Variante der kritischen Diskursanalyse
• Forschungsschwerpunkt „Diskurs, Politik, Identität“ (1997-2003)
o Forschungszentrum „Diskurs, Politik, Identität“ (DPI) in Wien:
Untersuchungen diverser Diskurse (Neutralität in Österreich, EU, Rassismus,
etc.)
• Wiener Kritische Diskursanalyse wird plurizentrisch – internationalisiert - (2004-
heute)

Kombination vieler Teildisziplinen der Sprachwissenschaft in der kritischen Diskursanalyse:


• Soziolinguistik – daher wurde die Wiener kritische Diskursanalyse auch einige Jahre
als „Diskurssoziolinguistik“ bezeichnet → ist stark soziolinguistisch ausgerichtet
• Linguistische Pragmatik: Sprechakttheorie (Austin & Searle), Funktionale Pragmatik
(Ehlich & Rehbein)
• Textlinguistik (Dressler 2004)
• Linguistische Gesprächsanalyse
• Argumentationstheorie (Kienpointner 1992, Busse & Teubert 1994, Jäger 1999,
Wengeler 2000;2006; 2013) – Form und Gebrauch von Argumenten,
Argumentationsmuster (Topoi) → sehr wichtig
• Rhetorik

• Argumentationsanalyse erfolgt nicht bloß deskriptiv, sondern auch kritisch – Topoi


werden auf ihre Plausibilität untersucht und argumentative Fehlschlüsse aufgedeckt
• Die WKDA geht davon aus, dass jede Form der Argumentation feld- und
themenabhängig ist
• Ausrichtung primär qualitativ (Form der Analysen)
• hermeneutische Ausrichtung: sprachphilosophischer & textphilosophischer
Hintergrund der WKDA
• anwendungsbezogene und problemorientierte Zugangsweise
• neutrale Analyse ist utopisch
→ „ ,Wissenschaftliche Wertfreiheit‘ und ‚Neutralität‘ hält er [der Wiener Ansatz der
KDA] für eine positivistische und deskriptivistische Fiktion […]“ (Reisigl 2011:477)
• wichtig: Gütekriterien → Nachvollziehbarkeit, analytische Sorgfalt, Präzision:
Forschungsprinzipien der Triangulation (Kombination versch. theoretischer und
methodischer Aspekte) & Teamforschung (Team von forschenden Personen) um die
Gütekriterien zu gewährleisten

65
Diskurs und Kritik:

Ausgangspunkt = soziales Problem

z.B. fehlende Einbindung der Erstsprachen von SchülerInnen im Regelunterricht

Diskurs wird als kontextgebundene Form sozialer Praxis gesehen


• gesellschaftliche Ideologien/Machtverhältnisse & deren Auswirkungen auf die
sprachlichen AkteurInnen stehen im Zentrum der Untersuchung → Wechselwirkung
von gesellschaftlichen Strukturen & Diskursen
• für Analysen werden Einzelfälle herangezogen – oft sind wenige Texte ausreichend,
um grundlegende Diskurselemente herauszuarbeiten
• sprachenpol. Machtstrukturen bzw. best. sprachl. Bewertungen werden in den
individuellen sprachl. Äußerungen der InterviewpartnerInnen sichtbar
• Charakteristika dieses Diskursbegriffes: Themenbezogenheit von Diskursen (z.B.
Diskurs über Mehrsprachigkeit…); Handlungs- und Praxisbezug von Diskursen (Diskurs
steht in überindividuellem sozialen Zusammenhang, sprachlich soziale Akteure sind
Handlungsträger), Situierung von Diskursen in sozialen Handlungsfeldern (z.B.
Gesetze, öffentliche pol. Meinungen, pol. Kontrollen…), Argumentativität von
Diskursen, Multiperspektivität von Diskursen

Kritik 3 Arten:
• textimmanente Kritik (zeigt Bruchstellen in Form von Widersprüchen im
Datenmaterial selbst auf, z.B. Widersprüche in Interviews) – kann durch eine
forschende Person alleine ausüben
• sozio-diagnostische Kritik (legt Effekte diskursiver Praktiken offen und zeigt
Verantwortlichkeiten auf – So werden sprachl. Strukturen und die diskursiven
Ereignisse in einen weiteren Rahmen von gesellsch. und pol. Verhältnissen und
Prozessen eingebettet)
• prospektive-praktische Kritik (sozialer gesellsch. Wandel wird angestrebt → aktive
Veränderungsvorschläge – Verbesserung von sozialen und kommunikativen
Verhältnissen wird angestrebt)

Forschungspraxis:
• es gibt keine standardisierte Herangehensweise, da sich die WKDA nicht als
Schule in strengem Sinn sieht

Forschungspraxis nach Reisigl 2011 (muss aber nicht immer so durchgeführt werden!)
1. Aktivierung des theoretischen Vorverständnisses zu einer bestimmten
Problemstellung
o Sich über das soziale Problem informieren/recherchieren und eine allgemeine
Fragestellung zur Thematik formulieren
2. Datenerhebung und Sammlung von Kontextinformationen
66
o Meist qualitative Erhebung in Form von Einzelfällen
o Z.B. Interviews, Gruppendiskussionen, Quellen- oder Archivrecherche betreiben…
o Kontextinfos sammeln (Zeitpunkt…)
3. Materialaufbereitung
o Datenmaterial sichten und evtl. verschriften (Interviews)
4. Einengung des Themas und Hypothesenformulierung auf der Grundlage der
Aufbereitung der Daten
5. Qualitative Pilotanalyse und Erarbeitung spezifischer Analysekategorien
o Vorbereitung für 6
o Wichtige Ebenen (Mikroanalyse, Makroanalyse, Kontextanalyse) werden
erarbeitet/festgelegt
Alle drei Ebenen müssen immer gemeinsam betrachtet werden! – Zusammenwirkung
6. Detaillierte qualitative Analysen, Interpretation der Ergebnisse
o Mikroanalyse: Oberflächen und Tiefenanalyse auf Einzeltextebene –
Einzeltexte werden nacheinander analysiert
▪ Nomination: = Benennung - Wie sprachl. Mittel/Formen/Varietäten
von AkteurInnen benannt werden, z.B. Wienerisch
▪ Prädikation: Welche Eigenschaften den Sprachformen zugeschrieben
werden, z.B. schöner/hässlicher Dialekt
▪ Argumentation (mittels welcher Argumente werden die im Diskurs
vorgebbrachten Thesen, die Nominationen und Prädikationen
beinhalten, begründet oder in Frage gestellt, z.B. Ich finde, das ist
richtiges Deutsch, weil…)
▪ Perspektivierung (zeigt die Positionierung, kann Involviertheit bzw.
Distanz zu den im Diskurs genannten Argumentationen ausdrücken)
▪ Abschwächung bzw. Verstärkung best. Argumente (dadurch kann die
genaue Perspektive, die der Sprecher einnimmt, herausgefiltert
werden)
▪ Handlungs- und Prozesscharakterisierung: Welche Handlungen
werden mit den sozialen AkteurInnen sprachl. Verbunden bzw. welche
Prozesse werden dargestellt, z.B. welche sprachl. Räume mit best.
Sprachformen in Verbindung gesetzt werden
o Makroanalyse: Struktur und Musteranalyse versch. Einzeltexte –
Zusammenschau/Vergleich der Einzeltexte
▪ Z.B. immer wieder gleiche auftretende (übergreifende)
Themen/sprachl. Handlungsmuster
▪ Bestimmung von Diskurskonturen sprachlicher Handlungsmuster
(Einteilung des Diskurses in Segmente) bzw. funktionaler
Textabschnitte
▪ Analyse von Mustern der Argumentation (Topoi), Explikation,
Deskription, Narration, Instruktion, Rhetorik, Wortfrequenzen,
Metaphern Analyse (z.B. Flüchtlingswelle)
→ Mikro- und Makroanalyse sind sehr stark miteinander verwoben!

67
o Kontextanalyse: verbindet Ergebnisse der Mikro- (Einzeltextebene) &
Makroanalyse (textübergreifende Ebene) mit dem sprachlichen, sozialen und
politischen Kontext
▪ Erst durch die Kontextanalyse erfolgt die Interpretation der
Ergebnisse, bei Mikro- und Makroanalyse werden die Ergebnisse nur
dargestellt
7. Formulierung der Kritik
o Siehe 3 Arten der Kritik
8. Gesellschaftliche Verwertung der Forschungsergebnisse
o Z.B. Empfehlungen publizieren, Schulungen anbieten, Ausstellungen machen,
soziales Problem aufzeigen

2) DISKURSLINGUISTIK

• Feld: Diskurs und Wissen


• ab den 1990er Jahren durch die Untersuchung von textübergreifenden
Fragestellungen
• 2 Impulse: historische Semantik (geht davon aus, dass die Bedeutung von Wörtern
kontextuell bestimmt ist – Diskurs ist durch die Gesellschaft, die ihn führt, geprägt
und Diskurs wirkt rück auf die gesellsch. Gruppen = Akteure) & Textlinguistik (Bezüge
zwischen versch. Texten)
• Diskurs als Gebrauchsformation: tragenden Akteure (Handelnde im Diskurs)
• Ziel = Aufzeigen der dem Text zugrunde liegender Denkschemata, Denkmuster,
Wissensbestände, Mentalitäten → wechselseitige Konstitution von Sprache &
Wissen
• Sprache & Wissen: gesellschaftlich, historisch und kulturell eingebettet kollektives
Wissen einer Zeit → Ansprüche auf den Besitz von Wahrheit
• Frage: Wann, in welchem Ausmaß, an welcher Stelle sprachl. AkteurInnen zu Wort
kommen, wann sie nicht zu Wort kommen + Umfeld muss berücksichtigt werden!
• Versucht mithilfe konkreter Texte zu rekonstruieren, was Mitglieder einer
Gesellschaft zu einem best. Zeitpunkt gedacht haben (Überzeugungen, Normen…) -→
kollektives Wissen einer Zeit – Wahrheitsansprüche
• Wie wird Wissen generiert, produziert, formuliert…
• Methoden der Text- und Gesprächslinguistik, Rhetorik, Stilistik, Lexikologie,
Semantik, Semiotik, Argumentationstheorie, Metapherntheorie, Korpuslinguistik

68
DIMEAN – Modell: Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse (Spitzmüller und Wanke)

3 Ebenen, die miteinander verknüpft werden

• Intratextuelle Ebene (Einzeltextebene –


Wortebene, Satzebene, Textebene)
• Transtextuelle Ebene (Diskursorientierte
Analyse)
→da Diskurse historisch sind, können sie nur
in Rückbezug auf den Kontext begutachtet
werden
→Kontext muss sehr genau beschrieben
werden!
→transkulturelle Ebene macht Diskursanalyse
erst zu Diskursanalyse
• Akteursebene (Ebene der im Diskurs
handelnden, wissenskonstituierenden
Personen – steht zwischen intra- und
transtextueller Ebene

• Aufzeigen zugrunde liegender Denkschemata, Denkmuster, Wissensbestände,


Mentalitäten → wechselseitige Konstitution von Sprache & Wissen

Einschub: FORSCHUNGSPRAXIS DER DISKURSLINGUISTIK

Folgendes muss vor der Analyse des Datenmaterials bedacht werden:


Diskursgegenstand
• induktiv (Ausgang = singuläre Aussage) vs. deduktiv (Ausgang = Diskurs selbst) –
meist deduktiv
• produktorientiert vs. handlungsorientiert (Diskurs kann Produkt einer Handlung sein
oder die Handlung selbst darstellen)
Methoden diskurslinguistischer Untersuchungen
• thematisch (best. Themen und Teildiskurse in einem Diskurs untersuchen) vs.
systematisch (best. Formen innerhalb eines Diskurses untersuchen)
• synchron (Diskurs zu best. Zeitpunkt) vs. diachron (im Laufe der Zeit)
• corpus-based (vorher Kriterien festgelegt, nach denen Texte ausgewählt werden) vs.
corpus-driven (Texte auswählen und dadurch erst auf Kategorien stoßen)
Verfahrenspraxis
• fokussiert (zu analysierende Phänomene bereits vor der Analyse festgelegt) vs.
heuristisch (offen auf Datenmaterial herangehen)
• individuell (alleine) vs. kollaborativ (mit Kollegen)
• einstufig (Material einmal analysieren) vs. mehrstufig (mehrmals analysieren)
69
DIMEAN: DISKURSLINGUISTISCHE MEHR-EBENEN-ANALYSE

1. Transtextuelle Ebene:
• Abstecken des Bereichs der diskursanalytischen Untersuchung
• diskursrelevante AkteurInnen werden aufgezeigt
• Setting und Kontext des Diskursfragmentes müssen genau beschrieben
werden!
• Analysekategorien: Intertextualität, Interdiskursivität, Frames, Topoi,
Historizität

2. Akteursebene:
• Diskurspositionen/Rollen der AkteurInnen (= handelnde/sprechende
Individuen, Netzwerke, Institutionen)
• Handlungsmuster sind zentral
• Medialität
• Interaktionsrollen
• Aspekte der Nomination, Prädikation…

3. Intratextuelle Ebene – Einzeltextebene, Gesamtheit diskurslinguistisch relevanter


Phänomene wird in Einzeltexten untersucht
Alle bedeutungsgenerierenden Ebenen der Sprache werden analysiert: Wort, Satz,
Text
• Textorientierte Analyse:
o Textuelle Makrostruktur (= thematische und inhaltliche Struktur und
Semantik)
o Textuelle Mesostruktur (Textthemen, Textfunktionen, Textsorten…)
o visuelle Textstruktur (z.B. Text-Bild-Beziehung, Typographien…)
• Propositionsorientierte Analyse: Textuelle Mikrostruktur
o Immer wiederkehrende sprachl. Muster werden analysiert →
Satzebene
o Analyse: Sprechakte, Implikaturen, Präsupposition
o Metaphernlexeme, Rhetorische Tropen und Figuren
o Syntaktische Muster (best. Satzformen, die immer wiederkehren…)
• Wortorientierte Analyse: Ein- und Mehrworteinheiten
o Nomina Propria (Eigennamen – Benennungen sind immer mit
Wertungen verbunden!)
o Nomina Appellativa
o Schlüsselwörter (Worteinheiten, die die Ideale einer Gruppe
ausdrücken = diskursbestimmende Denkgewohnheiten, haben
konnotative Bedeutung – sind deshalb immer umstritten)
o Schlagwörter (wirken auf öffentliche Meinungsbildung, sind nur so
lange relevant, wie sie diese Funktion innehaben)
o Okkasionalismen (= Wortneubildungen, die die Einstellungen der
AkteurInnen darstellen, Ironie markieren…)
70
DISKURSANALYSE: ZUSAMMENFASSUNG

Diskurslinguistik Wiener Kritische Diskursanalyse


„Diskurs und Wissen“ „Diskurs und Macht“
AkteurInnen Kritik (Veränderung hervorbringen)
Handlungscharakter (Konstruktion von Untersuchungen politisch (soziale
Wissensstrukturen und der Wirklichkeit) Missstände aufzeigen, aufklären)

o Kritik an der kritischen DKA: hat voreingenommene Sicht auf die Wirklichkeit –
soziales Problem wird festgestellt, bevor es überhaupt analysiert wird
+ Vermischung pol. Interessen mit wissensch. Analyse
o Kritik an der Diskurslinguistik: Dass sie nicht kritisiert und das Thema „Macht“
ausklammert

• Starke Lagerbildung ist nicht zielführend, da beide Schulen sehr brauchbare


methodische Herangehensweisen entwickelt → Kommunikation zwischen den
beiden wäre gut

71
SPRACHKONTAKT UND SPRACHWANDEL (DIACHRONIE)

MYTHOS BABEL: Turmbau zu Babel

• Im alten Testament: Menschen in Babylonien bauten Turm, um die Menschheit auf


eine höhere Stufe zu bringen → Gott gleichstellen
• Zur Strafe schuf Gott die Sprachenvielfalt, dies bedingt, dass die Menschen diesen
Turm (also ihr zivilisatorischer Vorhaben) nicht vollenden können – Menschen leben
sich auseinander, verstreuen sich, können nicht mehr kommunizieren
Ich will herabfahren und ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr den andern versteht. Und
Gott stieg herab und verwirrte ihre Sprache und zerstreute die Menschen von dort über die
ganze Erde, dass sie aufhören mussten, ihre Stadt zu bauen. (1. Mose 11, 7–8)
• Sprachenvielfalt als Strafe Gottes
• (Gemeinsame) Sprache als Grundpfeiler der Zivilisation

WAS WIR WISSEN…


• Seitdem es menschliche Sprache(n) gibt, ist Sprachkontakt allgegenwärtig
• Seitdem es menschliche Sprache(n) gibt, ist Mehrsprachigkeit allgegenwärtig
• Seitdem es menschliche Sprache(n) gibt, ist Sprachwandel allgegenwärtig

BESCHREIBENDE UND ERKLÄRENDE SPRACHWANDELTHEORIEN


• Die Frage nach dem „Was“ ist in der Germanistik sehr früh gestellt und beantwortet
worden (Jacob Grimm, Junggrammatiker…- 19.Jhd.) → Frage der Diachronie (z.B.
Was ist passiert zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Althochdeutschen?)
• Die Frage nach dem „Warum“ dagegen ist forschungsgeschichtlich jünger – Darüber
machte man sich lange keine Gedanken (z.B. Warum fand die 2. Lautverschiebung
statt?)
• → Sprachwandeltheorien sind meist darstellend aber nicht erklärend

STAMMBAUMMODELL (stark vereinfacht) – vgl. Schleicher 1853

72
• Taxonomie – ursprüngliche Form spaltet sich in mehrere auf, durch einzelne Prozesse
verwandeln sich die einzelnen Formen
• Wie sind die Sprachen miteinander verwandt? → Rekonstruktionsphilologie: Man
schaute sich alte Sprachen an, verglich sie und versuchte, noch ältere, nicht belegte
Vorstufen davon zu rekonstruieren
z.B. Urgermanisches ist nicht überliefert – Alles was wir darüber wissen, wissen wir
nur über die Rekonstruktion, wir haben nämlich diverse altgermanische Sprachen, die
später belegt sind (Althochdeutsch, Altniederländisch, Anglofriesisch) → Wenn man
diese vergleicht, kann man diverse Rückschlüsse auf eine Vorstufe (Germanisch)
ziehen
• Man kann herausfinden, dass die Sprachen in Europa sehr eng miteinander verwandt
sind und stammen von einer Ursprache ab (=Urindogermanisch) → diese Sprache
dürfte ca. vor 5-6.000 Jahren gesprochen worden sein, bevor sie sich aufsplittete
→Das ist eine Darstellung davon, WAS passiert, aber nicht WARUM es passiert – nur
Endprodukt ist hier sichtbar

Urindogermanisch in der Mitte

Germanische Sprachen (gehen auf


Urgermanisch zurück)

Das Schaf und das Pferd: Schleichers Fabel auf Urgermanisch


• Schleicher übersetzte Fabeln in Sprachen, die nicht belegt sind (z.B. ins
Urgermanische) – rekonstruierte diese Sprachen

awiz, sō wullǭ ne habdē, sahw ehwanz, ainanǭ kurjanǭ wagną teuhandų, ainanǭ-uh mikilǭ
kuriþǭ, ainanǭ-uh gumanų sneumundô berandų. Awiz nu ehwamaz sagdē: hertô sairīþi mek,
sehwandē ehwanz akandų gumanų. Ehwōz sagdēdun: gahauzī, awi! hertô sairīþi uns
sehwandumiz: gumô, fadiz, uz awīz wullō wurkīþi siz warmą wastijǭ. Awiz-uh wullǭ ne
habaiþi. Þat hauzidaz awiz akrą flauh.
Ein Schaf, das keine Wolle hatte, sah Pferde, eines einen schweren Wagen fahrend, eines
eine große Last, eines einen Menschen schnell tragend. Das Schaf sprach: Das Herz wird mir
eng, wenn ich sehe, dass der Mensch die Pferde antreibt. Die Pferde sprachen: Höre Schaf,
das Herz wird uns eng, weil wir gesehen haben: Der Mensch, der Herr, macht die Wolle der

73
Schafe zu einem warmen Kleid für sich und die Schafe haben keine Wolle mehr. Als es dies
gehört hatte, floh das Schaf auf das Feld

Blau: halbwegs erahnbar/ erkennbar, dass sie mit unserer heutigen Sprache verwandt sind
Gelb: im Deutschen ausgestorben aber noch in best. Namen / Kontexten erhalten (mkilo =
Großbauern – Name Michlbeuern / berandu = tragend – engl. to bare, dt. gebären / sairifi =
schmerzen – (un)versehrt)
Rot: nicht nachvollziehbar, nicht erklärbar – aber lat. ovis – awiz (=Schaf) und lat. equus –
ehwus (=Pferd)

→Wieso sagen wir „Pferd“?


• Lehnwort aus dem Lateinischen: paraveredus (→ ahd. pfarifrit … Pferd)
• paraveredus ist bereits im Lateinischen ein Lehnwort:
o para = griechisch für „neben“
o veredos = gallisch für „Pferd“
→Nebenpferd = Arbeitstier
• Sprachkontakt auf der Ebene der Lexik nehmen wir am ehesten wahr (vgl. Diskussion
um Lehnwörter aus dem Englischen) – etwa Ebene der Grammatik eher
vernachlässigt
• Sprachkontakt als Faktor des Sprachwandels ist dennoch lange Zeit unterschätzt
und vernachlässigt worden

TRADITIONELLE FAKTOREN DES SPRACHWANDELS (vgl. Polenz 1991)


• Sprachökonomie: Veränderungen entstehen, weil Sprecher aus Gründen der
Zeitersparnis und Bequemlichkeit eine reduzierte Sprache verwenden.
• Innovation: Veränderungen entstehen, weil das gewohnte Inventar der Sprache für
kreative und nonkonformistische Tätigkeiten nicht hinreichend geeignet ist und
entwicklungsbedürftig zu sein scheint.
• Variation: Die Sprachbenutzer sind flexibel in Bezug auf die Wahl sprachlicher Mittel,
je nach kommunikativen Bedingungen und Zwecken.
• Evolution: Sprachgebrauch und die Beeinflussung des Sprachgebrauchs durch
gesellschaftliche Kräfte bewirken Sprachwandel.

→Sprachkontakt? Ist dieser integrierbar in alle anderen Faktoren?


z.B. Ökonomie + Kontakt: Gastarbeiterdeutsch = reduzierte Sprachform, es geht um das
Effiziente Versprachlichen von Arbeitsaufträgen
→Ist Sprachkontakt ein Faktor von Sprachwandel, verstärkt er einzelne Faktoren oder ist
beides zutreffend?

Ein Blick in die Zukunft…


Als die Erde um 3586 n.Chr. wieder besiedelt wurde, war die terranische Sprache das
Interkosmo. Englisch sprachen nur noch wenige. Der Begriff Satron verschwand und seitdem
verwendet man nur noch den Namen Interkosmo. Lange Zeit blieb das wichtigste Idiom der
Milchstraße nun unverändert. Erst in unseren Tagen, also um 1196 NGZ herum, zeigt sich

74
eine erneute Veränderung. Der Kontakt mit den Völkern anderer Galaxien, insbesondere mit
den Kartanin, findet durch Terraner und Arkoniden seinen Niederschlag in der Alltagssprache.
Gerade die besondere Vorliebe der beiden Völker für alles, was mit Katzen zu tun hat,
begünstigt diese Entwicklung. Je intensiver sich in den nächsten Jahrzehnten der Kontakt zu
anderen, fremden Völkern entwickelt, desto mehr wird das Interkosmo von entsprechenden
neuen Wörtern und Worteinflüssen berührt werden. So ist es durchaus möglich, daß in 1000
Jahren das heutige Interkosmo von uns nur noch schwer oder gar nicht mehr verstanden
wird.
(Auszug aus dem Eintrag „Interkosmo“ eines Glossars in einem Perry Rhodan - Fanzine)
→Sprachwandel durch Sprachkontakt wird hervorgehoben, aber Fokus auf neue Wörter und
Worteinflüsse

Fremdwörter und Lehnwörter:


• Transfer im Bereich des Lexikons (stark salient!) → fällt sofort auf
• Gradueller Verlauf von Fremdwort (ist uns bewusst fremd) zu Lehnwort (unbewusst
fremd, z.B. Pferd)
• Zusammenspiel unterschiedlicher Parameter, was ein Lehnwort und was ein
Fremdwort ist (Betz 1949)
o Gebrauchsfrequenz (Jeans vs. obsolet)
o Kommentierung des Begriffs (Jeans ist ein englisches Wort → Fremdwort)
o Flexion (zwei Computer vs. *zwei Computers → Wort gut integriert)
o Intonation (Büró → klingt fremd)
o Gebrauchssituation (Fachsprache, Alltagssprache, Soziolekt …)
o Phonemkombinationen (Drink vs. Snob → klingt fremder)
→Das Deutsche gilt als „Mischsprache“ → hat sehr viele Fremd- und Lehnwörter in seinem
Wortschatz (im Gegensatz zu Isländisch – wehren sich gegen Fremdwörter)

EBENEN DES SPRACHKONTAKTS

• Je intensiver der Kontakt, desto


systematischer die Entlehnungen
• Es beginnt immer im Lexikon
• Keine linguistische Einheit ist
völlig „entlehnungssicher“
• Übergänge zwischen einzelnen
Intensitätsstufen fließend

75
SPRACHKONTAKT
• Psycholinguistische Begriffsbestimmung (Weinreich 1953)
o Zwei oder mehrere Sprachen stehen miteinander in Kontakt, wenn sie von ein
und demselben Individuum abwechselnd gebraucht werden
o Fokus auf Mehrsprachigkeit des Individuums (Erst- und Zweitsprache, …)
• Soziolinguistische Begriffsbestimmung (Nelde 1983)
o Sprachen stehen in Kontakt miteinander, wenn sie in derselben Gruppe
gebraucht werden, z.B. in Südtirol Deutsch und Italienisch
o Nicht Sprachen an sich treten miteinander in Kontakt, sondern (soziale)
Gruppen von SprecherInnen

→Fallbeispiel Lautersatz ich > isch


Wenn man „isch“ hört, verknüpft man best. soziale Kontexte/Gruppen damit (Menschen, die
nicht Deutsch als Muttersprache haben sondern eine Sprache, die kein „ch“ hat) – Diese
bedienen sich eines Lauersatzes „sch“ = psycholinguistische Grundlage
„isch“ = auch sozialer Marker – Es verbreitet sich auch bei Menschen, die das „ch“ eig.
sprechen können = soziologische Funktion

FOLGEN DES SPRACHKONTAKTS


• Sprachwandel durch Interferenz
= Übertragung muttersprachlicher Strukturen auf äquivalente Strukturen einer
Fremdsprache und umgekehrt (z.B. „sch“ auch „ch“ übertragen)
= Ausgangspunkt für Sprachkontakt
• Sprachmischung
o Pidginsprachen
o Kreolsprachen
• Sprachbund

Formen der Sprachmischung:


• Pidginisierung
o Pidgin bezeichnet eine reduzierte Sprachform, die als Lingua franca zur
Verständigung dient. Eine Pidgin-Sprache ist somit keine Muttersprache,
sondern wird von ihren Sprechern als Fremdsprache erlernt. (Z. B. Baskisch-
Isländisches Walfängerpidgin = Mischung aus Baskisch und Isländisch für
Walfänger → Arbeitssprache (vgl. mit Gastarbeitersprache) – ist aber
ausgestorben, da es eine Fachsprache ist und nie eine Muttersprache wurde)
• Kreolisierung
o Wird eine Pidginsprache in weiteren Kontexten angewendet, kann sie auch
ausgebaut werden und alle nötigen grammatikalischen und stilistischen
Kategorien entwickeln. Kreolsprachensind dann Erstsprachen einer
bestimmten Sprechergruppe. (Z. B. „Unserdeutsch“ in Papua-Neuguinea,
Englisch?)

76
Sprachbund: (Trubetzkoy 1930)
Sprachen, die eine große Ähnlichkeit in syntaktischer Hinsicht, eine Ähnlichkeit in den
Grundsätzen des morphologischen Baus aufweisen, und eine große Anzahl gemeinsamer
Kulturwörter bieten, manchmal auch äußere Ähnlichkeit im Bestande der Lautsysteme, –
dabei aber keine systematischen Lautentsprechungen, keine Übereinstimmungen in der
lautlichen Gestalt der morphologischen Elemente und keine gemeinsamen Elementarwörter
besitzen ...
→ Genetische Verwandtschaft (aus einer Ursprache) nicht notwendig, aber ein
Nachbarschaftsverhältnis!

Mitteleuropäischer Sprachbund / Donausprachbund


• Initialakzent im Westslawischen und Deutschen (generell im Germanischen)
• Entrundung von /ö/ und /ü/ im Tschechischen und Bairischen (Hütte → Hittn)
• Definiter Artikel im Tschechischen (slawische Sprachen haben eig. keinen Artikel →
übernommen aus dem Deutschen)
• Periphrastisches Futur (morgen werde ich zum Zahnarzt gehen) und
Präteritumschwund (alte Vergangenheitsformen gehen zurück) in ganz Mitteleuropa
• u. v. m.

→Der oberdeutsche Präteritumsschwund – versch. Sprachen sind daran beteiligt (auch


Französisch, Italienisch…)
Er tat vs. Er hat getan (stirbt aus)

77
LAUTWANDEL UND SPRACHKONTAKT AM BEISPIEL DER 2.
LAUTVERSCHIEBUNG

LEIPZIGER SCHULE (Junggrammatiker)

• wir sind bis heute geprägt von dieser Tradition


• definierten wesentliche Fragestellungen für die diachrone Sprachwissenschaft
• Neubegründung der (diachronen) Sprachwissenschaft im Zeichen der
Naturwissenschaft (ab 1870er bis ca. 1919) → Anlehnung an Evolutionstheorie
(Darwin) – Stammbaumodell
• Sprachliche Veränderungen sind naturgegeben und ausnahmslos:
o Aller Lautwandel, soweit er mechanisch vor sich geht, vollzieht sich nach
ausnahmslosen Gesetzen, d.h. die Richtung der Lautbewegung ist bei allen
Angehörigen einer Sprachgenossenschaft, außer dem Fall, daß
Dialektspaltung eintritt, stets dieselbe, und alle Wörter, in denen der der
Lautbewegung unterworfene Laut unter gleichen Verhältnissen erscheint,
werden ohne Ausnahme von der Veränderung ergriffen. (Osthoff / Brugmann
1878) (Lautgesetze = Naturgesetze = ausnahmslos)
• Wichtige Vertreter: Wilhelm Scherer, August Leskien, Hermann Paul, Wilhelm
Braune, Eduard Sievers …
Kritik an den Junggrammatikern: im 19. Jhd.
Wunderbar dünkt es mich, dass man die psychologischen Grundlagen des Lautwandels, den
gesellschaftlichen Charakter der Sprache, die fliessenden Grenzen ihrer räumlichen und
zeitlichen Verschiedenheiten so deutlich wahrnehmen und dabei die Ausnahmslosigkeit der
Lautgesetze so bestimmt behaupten kann. (Schuchardt 1885)

• = Streitfrage des 19.Jhd.


• Durch Aufkommen der empirischen Dialektologie wurde diese Streitfrage geklärt:
Lautwandel ist nicht ausnahmslos, Lautgesetzte vollziehen sich nicht ausnahmslos

Frage nach der Art der Ausbreitung von neuen Features:


WELLENTHEORIE
• Es gibt ein Epizentrum einer Neuerung, von diesem gibt es
eine allmähliche räumliche Verbreitung sprachlicher
Neuerungen → vglb. Mit Stein ins Wasser werfen
• Der Effekt der Ausbreitung wird dabei immer schwächer
• Es kommt zu ständigen „Wellenkollisionen“ →
Sprachwandelprozesse überlappen, verdrängen, beeinflussen sich
gegenseitig
(vgl. Schuchardt 1870 bzw. Schmidt 1872)

78
ENTFALTUNGSTHEORIE (veraltet)
• Publiziert von Otto Höfler (1956)
• Besagt: (Genetisch) verwandte Sprachen gehen aufgrund ihrer „Erbanlagen“ auch
ohne Kontakt ähnliche Entwicklungspfade
• In ihrer weichen Lesart esoterisch, in ihrer harten Lesart auch rassistisch
• Gilt als empirisch widerlegt

FALLBEISPIEL 2. LAUTVERSCHIEBUNG

• Systematische Veränderung („Verschiebung“) von Konsonanten im Hochdeutschen


• Grenzt das Hochdeutsche vom Niederdeutschen (und anderen germanischen
Sprachen, z.B. Englisch, Niederdeutsch) ab
• Hochdeutsch = Raum südlich der Benrather Linie
• Vollzog sich ca. vom 5. bis zum 8. Jahrhundert

Veränderungen durch die 2. LV


• Die stimmlosen germ. Plosive ph, th, kh werden entweder zu Frikativen f/ff, s/ss,
h/hh/ch (wenn sie nach/zwischen Vokalen stehen) oder zu Affrikaten pf, ts, kch, ch
(im Anlaut, bei Doppelkonsonanz, nach Liquid / Nasal); vgl. engl. apple, ten, make,
water, sleep und dt. Apfel, zehn, machen, Wasser, schlafen;
• Der dentale Frikativ þ wird zum stimmhaften Plosiv d. engl. three – ahd. drî (aus
germ. *þrīz)
• Der stimmhafte Plosiv d wird zum stimmlosen Plosiv t. engl. mid – ahd. mitti

Junggrammatiker: Lautgesetz =
Naturgesetz = ausnahmslos

• Die Dialekte nördlich der Benrather Linie


gehören zum Niederdeutschen, während
die Dialekte im Süden zum
Hochdeutschen gehören
• Das Hochdeutsche teilt sich wiederum in
mittel- und oberdeutsche Dialekte auf.
Das gemeinsame Merkmal der
hochdeutschen Dialekte ist die 2.
Lautverschiebung, diese ist aber auch im
Hochdeutschen Raum nicht überall

79
gleich vollzogen (z.B. hartes k in Tirol, in Wien aber nicht)
• Karte: Benrather Linie (maken-machen) und Appel-Apfel Linie (Lautwandel nicht
überall gleich vollzogen)

Traditionelle Darstellung der gestaffelten deutschen Lautverschiebungslandschaft

NORDEN

SÜDEN

Der Topos der Wellentheorie in der traditionellen Germanistik


• Annahme: 2. LV muss im Süden gestartet sein und sich wellentheoretisch im Norden
ausgebreitet haben, ist aber immer mehr abgeflacht sodass die 2. LV im Norden
keine Geltung mehr hat
• Süd-Nord-Verlauf der 2. (hochdeutschen) Lautverschiebung
(Wahlenberg 1871, Braune/Eggers 1886/1987, Frings 1915, Baesecke 1918 u. v. m.)
• Diese Annahme wird in den meisten Einführungen in die deutsche Sprachgeschichte
implizit, manchmal auch explizit (Schmidt 1993) übernommen
Ausnahme Peter Ernst:
Auf keinen Fall handelt es sich (…) um eine Wellenbewegung, die im Süden ihren
Ausgang nimmt und nach Norden „abflacht“ (Ernst 2012)

Gründe dafür:
• Der dt. Süden (Alpenraum) war im
Frühmittelalter die unterentwickelte
Peripherie – meist gehen von solchen
Regionen nicht derartige Prozesse aus
• Die ersten Anzeichen für eine 2. LV (auf
Runen) sind nicht im süddeutschen Raum zu
finden sondern weiter nördlich im Zentrum des
fränkischen Reichs

80
Alternative Theorie: DER DEUSCH-FRANZÖSISCHE KONTAKTBEREICH (Peter Schrijver)
• Westen des Fränkischen Reichs war französischsprachig → in Westmitteldeutschland
gibt es starken Kontaktbereich zwischen dem Deutschen (Fränkisch) und dem
Französischen
• Fränkisch als westgermanischer Dialekt + Altfranzösisch (entstanden aus dem späten
Vulgärlatein bzw. „Urgalloromanischen“)

Beispiel: Frappé
< Partizip von frz. frapper (schlagen, stoßen, klopfen …)
< entlehnt aus fränk. (germ.) hrappan (reißen, packen …)
Deutsches Kognat: raffen

Fränkische (germanische) Lehnwörter im Französischen


• fringuer (sich sauber schön anziehen / säubern) < fränk. *hreinjan (säubern), vgl. dt.
rein
• froncer (rümpfen, knittern …) < fränk. *hrunkja (falten, knittern …), vgl. dt. runzeln
• flanc (Flanke) < fränk. *hlanca, vgl. dt. (veraltet) Lanke und Gelenk
→h (fränkisch) wird zu f (französisch) → systematische Lautsubstitution von anlautendem
germ. /h/ mit /f/ im Französischen
→die altfranzösischen Sprecher hatten in ihrem Inventar kein /h/ im Anlaut und ersetzten
dies durch das h
→ Lässt sich das auch auf Behauchung übertragen? /ph/ → /pf/ (wie bei 2. LV)

Besonderheiten des Urgallogermanischen


• Die Affrikaten /pf/, /ts/ und /kx/ sind Teil des Phoneminventars

• Schrijver hat untersucht, wo diese Affrikaten im Gallogermanischen vorkommen (z.B.


im Anlaut funktioniert ein ts aber kein pf)
• Legte diese Systematik als Schablone auf ein urgermanisches System → diese
Restriktionen (dass man z.B. zehn sagen kann aber nicht Pfanne sondern Panne) gibt
es auch in den Dialekten, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Französischen
liegen (westmitteldeutsche Dialekte)
• Wirkt so, als ob ehemalige Sprecher des Gallogermanischen oder des Französischen
Germanisch gelernt hätten und die ihnen vertrauten Affrikaten anstatt der
Behauchung eingesetzt hätten aber nur in den Positionen, in denen sie es auch selber
kannten

81
→Phonotaktische Regularitäten von gallorom. *[ts, *kx, *pf] (→ /ss/, /xx/, /ff/;) und 2.
Lautverschiebung im Westmitteldeutschen
Die 2. LV als Folge von Sprachwechsel?
“The most plausible scenario that can be concocted from those ingredients is that speakers of
Late Latin who learned Germanic replaced its ‘foreign’ aspirated voiceless plosives [p h, th, kh]
with ‘native’ voiceless affricates [pfj, tsj, kxj] but only in those positions in the word in which
these affricates occurred in Late Latin. This Latinate type of Germanic survived to become
Rhineland Franconian”
→Altfranzösische (lateinische) Sprecher lernen Germanisch und ersetzten die behauchten
Plosive durch ihnen vertrautere Affrikaten
→Das Westmitteldeutsche bewahrt die alten phonotaktischen Restriktionen des
Gallogermanischen

Der Weg (erfolgreichen) Sprachwandels


Modell I: Das Fränkische (Superstrat = sprachl. Überschicht) überlagert das Galloromanische
(Substrat = sprachl. ursprüngliche Unterschicht) und verdrängt das Gallogermanische
• Problem: Das Althochdeutsche zeigt sonst sehr wenige Anzeichen für einen großen
Sprachwechsel (schon gar keine Pidginisierung), Morphologie und Syntax bleiben
intakt

Modell II: Sprecher mit galloromanischem Akzent sind Prestigeträger


• Der Akzent wird „schick“ und von der germanischen/fränkischen
Mehrheitsbevölkerung nachgeahmt
• Das Galloromanische wäre damit weniger Substrat als Adstrat

Substrat: Ursprungssprache eines Gebiets, die kontaktinduzierten Wandel auslöst


(„Unterschicht“)
Superstrat: Neue Sprache einer Einwanderungsgesellschaft, die sich über die
Ursprungssprache legt („Überschicht“)
Adstrat: Wechselseitige sprachliche Einflüsse durch Nachbarschaft (Abgrenzung zu Substrat
und Superstrat?)

Die 2. LV im Süden als Folge von Prestige?

“If the Franks continued to apply their policy of social mobility and ethnic engineering to
extending their power over the Alemannians and Bavarians down south, this might have
given the latter a strong incentive to ‘speak like a Frank’. That meant replacing one’s native
aspirated plosives with affricates. But the further away people lived from the Rhineland
model, the less accurate was the copying process. Apparently, the mountain men of the
Alpine south went the whole hog and replaced each and every [p h, th, kh] with [pf, ts, kx].”
→ Aufgrund der Entfernung zum Ursprungsgebiet der 2. LV wird im Süden „hyperkorrekt“
alles verschoben, um wie ein Franke zu klingen – deshalb ist die 2. LV im Süden viel stärker

82
Zusammengefasst: Der Weg (erfolgreichen) Sprachwandels
• Phase 1: Sprachkontakt (Franken (fränkischsprechende Germanen) kommen ins
Rheinland und treffen dort auf eine gallogermanisch/altfranzösisch sprechende
Bevölkerung)
• Phase 2: Mehrsprachigkeit (und Sprachwechsel?) Sprecher wechseln Sprache und
nehmen ihren Akzent mit
• Phase 3: Konsolidierung (der Features des ehemaligen Akzents – Fränkisch mit
gallogermanischem Akzent, diese Sprecher etablieren sich als Prestigesprecher)
• (Phase 4: Verbreitung von prestigeträchtigen Features)
→ Sprich wie ein Römer/Franke! (mit diesen neuen Affrikaten)

83
FALLBEISPIEL: PERFEKT IM DEUTSCHEN

SPRACHGESCHICHTSFORSCHUNG UND DIE PARADOXIE DES HAUFENS (SORITES-


PARADOXIE)

• Die Vorstellung „Sprachwandel im Fluss“ (kontinuierlicher Lautwandel, „semantic


bleaching“ im Rahmen von Grammatikalisierung u. a.) ist mit der beobachtbaren
Sprachrealität oft nicht vereinbar
• Fließende Übergänge sind letztlich eine endliche Anzahl von Einzelschritten
• 2. LV ist keine schrittweise Dentalisierung der Behauchung
→ [th] > […?] > [ts] – Es gibt keine Zwischenstufen zwischen t und ts, keinen
fließenden Übergang

Prämissen:
• Sprachwandel ist nicht nur beschreibbar, sondern auch erklärbar
• Sprachwandel erfolgt auf allen linguistischen Systemebenen (individuell) schrittweise
und abrupt, nicht fließend kontinuierlich
• Sprachwandel ist synchron nur durch die quantitativen Verhältnisse der einzelnen
Stufen beschreibbar (Empirie und Pragmatik)
• Sprachwandel ist nur insofern „natürlich“, als eine Sprechergemeinschaft aus
biologischen Entitäten besteht (ältere Sprecher sterben und neue, innovative
kommen dazu – nur das ist am Sprachwandel natürlich)

SPRACHKONTAKT UND SPRACHWANDEL AM BEISPIEL DER TEMPUSENTWICKLUNG


(PERFEKT)

• Konstituierung der „urgermanischen Vorbedingungen“


• Entwicklung des deutschen Tempussystems

Zutaten für ein deutsches Perfekt:


• Auxiliar (Hilfsverb) sein oder haben → hängt von der semantischen Beschaffenheit
der Verben ab: Verben, die Zustand beschreiben → haben; Verben, die
Zustandswechsel beschreiben → sein
• Partizip II: ge- X -(e)t/-en
→ Traditionelle Sichtweise: ge- markiert die Perfektivität des Perfekts

Der Feigenbaum und die Grammatikalisierung des Perfekts:


AHD um 800: Phigboum habeta sum giflanzotan in sinemo wingarten (T 102,2)
Feigenbaum hatte einer (als) gepflanzten in seinem Weingarten
Zwei Lesarten:
1) Jemand hatte einen gepflanzten Feigenbaum in seinem Weingarten
2) Jemand hatte einen Feigenbaum in seinem Weingarten gepflanzt
→Dieser Satz ist ideal, um die Grammatikalisierung des Perfekts darzustellen
84
Grammatikalisierung =
• Wichtiger Prozess des Sprachwandels
• Unidirektionalität: Lexikalische Einheiten werden zu grammatischen Einheiten
• Mit dem Abbau des lexikalischen Gehalts wird die grammatische Funktion aufgebaut
• z.B. frz. Il ne va pas 'Er geht keinen Schritt' (pas = Schritt) > 'Er geht nicht'. > ne
... pas mit allen Verben kombinierbar
• vgl. auch ahd. ni(o) wiht > nicht

1) Jemand hatte einen gepflanzten Feigenbaum in seinem Weingarten (haben =


besitzen – lexikalische Funktion)
2) Jemand hatte einen Feigenbaum in seinem Weingarten gepflanzt (hatte –
grammatische Funktion)
→ lexikalische und grammatische Funktion

Wenn man die Entstehung eines haben-Perfekts auf die Desemantisierung des Vollverbs
zurückführt, wäre die Frage: Wie schauen die Zwischenstufen aus?
→Ich habe einen gepflanzten Baum > …? > Ich habe einen Baum gepflanzt
→keine Lösung

Verbalflexion im URINDOGERMANISCHEN
• 3 Aspekte (Achtung: keine Tempora, wie wir sie heute kennen!)
• Präsens (imperfektiv)
• Aorist (perfektiv)
• Perfekt (resultativ)
• 5 Tempora/Modi
• Gegenwart (indikativisch)
• Vergangenheit (indikativisch)
• Konjunktiv (Zukunft bzw. Absicht)
• Optativ (Wunsch, Möglichkeit)
• Imperativ
• 2 Genera Verbi
• Aktiv
• Medium (im Gotischen noch belegt)
• → Numerus und Person bleiben weitestgehend sprachgeschichtlich stabil
(Ausnahme: Dual)!

Verbalflexion im URGERMANISCHEN
• Aspekt?
• Abbau der idg. Aspektmarkierung
• Aufbau einer neuen Aspektoppisition (perfektiv – imperfektiv) mittels Präfix
*-ga?
85
• 2 Tempora →Kontakt mit dem Ostseefinnischen?
• Präsens (unmarkiert) (diese Sprachen kennen auch nur ein
• Präteritum (aus ehem. Perfekt) Präsens und ein Präteritum)
• 3 Modi
• Indikativ
• Optativ
• Imperativ
• 2 Genera Verbi
• Aktiv
• Medium (im Gotischen noch belegt)

→Germanen teilten sich jahrelang einen Lebensraum mit den Finnen!

Neuerungen im ALTHOCHDEUTSCHEN
• Entwicklung periphrastischer (mehrere Teile) Tempora (Perfekt, Plusquamperfekt,
werden-Konstruktionen usw.)
• Integration von gi- (< germ. *ga) in die neuen Paradigmen (Partizip II)

Zur Rolle von *ga- (>ahd. gi > mhd. ge)


Ik gihorta dat seggen, dat sih urhettun ænon muotin, Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun
tuem. (Hildebrandlied, ca. 830)

• Im ahd. wurde das Präfix gi- nicht nur im Partizip verwendet, sondern es konnte vor
jedes Verb gestellt werden, um eine abgeschlossene Verbalhandlung zu markieren!
Gihorta = habe gehört
→ gi = perfektiver Aspektmarker? → abgeschlossene Verbalhandlung

gi-Verben im Althochdeutschen:
Sie iz allaz thar irkantun, so thie engila in gizaltun, thes lobotun sie iogilicho, druhtin
guallicho. O I, 13, 23
Sie fanden alles dort (vor), wie die Engel ihnen gesagt hatten, und eben darum lobpriesen
sie immerfort den Herrn. → abgeschlossene Verbalhandlung
nu wird thu stummer sar, unz thu iz gisehes alawar. O I, 4, 66
Nun wirst du (ein) stumm(er) sofort, bis du es in Erfüllung siehst (/sehen wirst).
→ Zukunftsbedeutung
86
PROBLEM: Die Rechnung geht nicht immer auf:
Druhtines gheist chideda mih endi adum dhes almahtighin chiquihhida mih. See endi mih
deda got so selp so dhih (Isidor, 245)
„der Geist des Herrn erschuf mich und der Atem des Allmächtigen belebte mich. Sieh, mich
erschuf Gott so gleich wie dich!“
Übersetzung aus dem Lateinischen: einmal chideda und einmal deda verwendet!
→ Die gleiche lateinische Verbalform wird einmal präfigiert, einmal unpräfigiert übersetzt

*ga- IN DER FORSCHUNG: sehr unterschiedliche Auffassungen


Meist: Imperfektiv und Perfektiv

Aspektuelle Diathese nach Metzger (2017):

Dann geht die Rechnung auf:


„der Geist des Herrn erschuf mich und der Atem des Allmächtigen belebte mich. Sieh, mich
erschuf Gott so gleich wie dich!“
→ chideda: Fokus auf Effekt bzw. betroffenen Aktanten
→ deda: Fokus auf Art und Weise der Verbalhandlung

daraus entsteht EIN NEUES PROBLEM


• Wie erklären wir den Zusammenhang von ge-Präfixen und Perfektformen, wenn die
Bedeutung des Präfixes nicht zwingend aspektuell/temporal ist?

87
PROBLEME DES TRADITIONELLEN GRAMMATIKALISIERUNGSPFADES DES PERFEKTS
→ Traditionelle Sichtweise: ge- markiert die Perfektivität des Perfekts, haben und sein haben
ihre Semantik abgebaut
ABER:
• Die doppeldeutige Struktur von haben + AO + Partizip ist in den altgermanischen
Sprachen kaum belegt, die eindeutig possessive Lesart überhaupt nicht
(Feigenbaumsatz ist der einzige, der beide Lesarten darstellt)
• Die primär perfektivierende Funktion von gi- konnte bislang nicht nachgewiesen
werden

• Perfektsystem des Deutschen und des Französischen sind sehr


ähnlich (passé composé) etwa im Gegensatz zum Deutschen und
Englischen – hängt von arealer Nachbarschaft ab!
• Haben und sein- Perfekt gleichzeitig gibt es nur dort, wo sich
im Frühmittelalter das Fränkische Reich ausbreitete

Entwicklung des Perfektsystems im Französischen: Lateinisch habeo


• Die frühesten Belege von lat. habeo (< idg. *gʰeh₁bʰ- ‘ergreifen’) zeigen
unterschiedliche Bedeutungen:
• habeo orationem ‘eine Rede halten’
• habeo sermonem ‘eine Unterhaltung führen’
• habeo honorem ‘Ehre erweisen’
• …
→ Abstrakte Grundbedeutung ist nicht „besitzen“ sondern:
„Markierung von Betroffenheitsbeziehungen“

Das lateinische haben-Perfekt:


• habeo + Akk. + Partizip Perfekt = Attained State type
• Beschreibung einer zweiphasigen komplexen Situation: Erreichen eines Ziels und
Bewahrung eines resultierten Zustandes

hominem servom suos domitos habere oportet oculos et manus


Mensch Sklave sein kontrolliert haben ist nötig Augen und Hände
Es braucht einen Sklaven, um seine Augen und Hände unter Kontrolle zu haben
(Plautus, Miles Gloriosus, 546)

• Markierung asymmetrischer Beziehungen zwischen zwei Entitäten (Agens und


Patiens, stark transitiv)

88
• Die Lateiner hatten mindestens 700 Jahre vor dem germanischen einen haben-
Perfekt!

Westgermanisch *habbjan
• Belege von ahd. haben (< germ. *habjaną < idg. *keh₂p- ‘ergreifen’, ‘erlangen’ …):
• er hapet ouh mit uuortun himilriches portun (PL, 4)
‘Verfügungsgewalt haben über…’
• scaf haben ‘Schafe hüten’
• in giluste haben ‘verlangen nach’
• undersceit haben ‘eine Unterscheidung machen’
• wig haben ‘Krieg führen’
• …
→Markierung asymmetrischer Beziehungen zwischen zwei Entitäten (Agens und Patiens,
meist stark transitiv) – keine eindeutig possessive Lesart!
→Verb „haben“ wurde auf sehr viele unterschiedliche Arten verwendet!

Das germanische haben-Perfekt


• Keine Belege im Gotischen (ca. 4. Jhd.), nur Passivkonstruktionen mit wisan:
• hauhis ist atta meins
Gelobt ist Vater mein → kein obligatorisches ga- (= ahd. gi-)am Partizip →
Präfigierung des Partizips im Germanischen noch nicht obligatorisch
• In den verschrifteten westgermanischen Sprachen (ab 750) ist die Konstruktion
wgerm. *habbjan + Akk. + PP bereits etabliert (inkl. gi-Präfigierung am Partizip)
→Lücke zwischen dem Jahr 300 und dem Jahr 700

DER WEG DES DEUTSCHEN AUS SPRACHKONTAKTLINGUISTISCHER SICHT


1. Schritt 1 (ca. 4./5. Jhd.):
Das Westgermanische (u. a.) entlehnt das bereits „fertige“ haben-Perfekt aus dem
Romanischen (Spätlateinischen)
→ sein + PP (Subjektbezug)
→ haben + Akk. + PP (Objektbezug) – wie im Romanischen

→gi- ursprünglich zur Patiensmarkierung (Objektsmarkierung) beim haben-Perfekt gedacht


und nicht für das sein-Perfekt, wie wir es heute kennen?

89
2. Schritt 2 (6./7. Jhd.):
System mit dem gi- wurde im ahd. aufgegeben → gi- entwickelte sich zum Partizipialmarker
→Hyperpräfigierung und Reanalyse des gi-Präfixes im Deutschen (Partizipialmarker) +
Übernahme des französischen Auxiliarsystems (areale Nachbarschaft)

→In Mitteleuropa einheitliches Perfektsystem (Deutsch, Niederländisch, Französisch,


norditalienische Dialekte)
Diese Räume bildeten im Frühmittelalter eine pol. Einheit! (siehe Karte oben)

90
FALLBEISPIEL: LEXIK / SEMANTIK (PUT-VERBEN IM DEUTSCHEN)
• Das Standarddeutsche gilt in der Literatur als „putless language“ → verfügt über kein
put-Verb

BEWEGUNGSVERBEN

• Subjektbewegung: gehen, laufen fahren…


• Objektbewegung: Veränderung des Besitzes – Ortsveränderung

PUT-VERBEN DES STANDARDDEUTSCHEN

• *Milch in den Teig stellen


• die Milch in den Schrank stellen
• das Buch ins Regal stellen
• das Buch in den Koffer legen
• den Hut auf den Kopf setzen
• den Lappen in das Loch stopfen
• einen Stock in die Erde stecken
• Wasser in die Wanne schütten
• Wasser auf die Blumen gießen
→im Deutschen Fülle an put-Verben um eine Objektbewegung auszudrücken
→die put-Verben sind im Standarddeutschen nicht einfach austauschbar (*Milch in den Teig
stellen → da meint man die Flüssigkeit vs. Milch in den Schrank stellen → da meint man die
Milchflasche – stellen kann man also keine Flüssigkeiten; Dinge die hoch und hart sind,
können gestellt werden, sonst gelegt…)
→Die Wahl des put-Verbs ist immer abhängig von der Beschaffenheit des Objekts,
Beschaffenheit des Ziels und der Art und Weise des Transports

→Das Standarddeutsche hat viele Spezifizierungen für put-Handlungen, aber es gibt kein
Basisverb
• In den Non-Standardvarietäten finden wir dagegen auch Basisverben:
91
o tun → Salz in die Suppe tun (bis zum Frühneuhochdeutschen etabliertes
put-Verb, danach stigmatisiert. Gilt als umgangssprachlich laut
Duden 2015)
o geben → Salz in die Suppe geben (regionalsprachlich laut Duden 2015)

GEBEN ALS PUT-VERB: EIN SPRACHKONTAKTPHÄNOMEN? (mit dem Slawischen)

„Noch entschiedener tragen folgende Ausdrucksweisen den slawischen Typus an sich, die
ebenfalls meistentheils auch im Wiener Deutschen, ja auch in gedruckten Büchern hier und
da zu finden sind. […] „Geben“ für setzen, legen, stellen, stecken u. s. w., z. B. „gieb es auf den
Tisch, in die Tasche“ = dej na stul, do kapsy.““ (Schleicher 1851)
→Im Wiener Deutschen verwendet man das Verb „geben“ als put-Verb, wie im Slawischen
„Geben für stellen, setzen, legen, thun (dáti), z. B. gib‘s auf den Tisch––in die Tasche war als
Tschechismus schon Schleicher aufgefallen; es ist allgemein österreichisch; In der »Neuen
Freien Presse« habe ich als Recept für Kanonverfertigung gelesen: man nimmt ein Loch und
gibt Kupfer darum.“ (Schuchardt 1884)
→allgemein österreichisch
„Wo der Deutsche „setzen“, „legen“ oder „stellen“ gebraucht, da sagt der Deutsche in
Oesterreich „geben“, indem er das čechische dáti übersetzt, z. B. statt: Stelle das auf den
Tisch –– gib das u. s. w.: dej to na stůl. Auf dem Gymnasium hatte der Professor des
Lateinischen große Mühe uns auseinanderzusetzen, daß man ein so falsch gebrauchtes
„geben“ nicht mit dare, sondern mit ponere übersetzen müsse, welches Wort ja viel
anschaulicher und genauer ist.“ (Teweles 1884: 104)

PUT IN DEN MODERNEN SLAWISCHEN SPRACHEN

92
→in Tschechisch, Slowakisch und Slowenisch ist „geben“ das häufigste Verb zur Übersetzung
des put-Verbs: Das sind genau die Sprachen, die Österreich am nächsten stehen!

STUDIE: „geben“ als natürliche put-Variante

Bewertungsaufgabe, Junge Informantengruppe: Ein Satz wurde vorgelegt und gefragt, was
die „natürliche“ put-Variante sei

→alle sagten: tun (auch im Bairischen)


→aber geben ist ein ostösterreichisches
Phänomen (v.a. im Raum Wien)

HISTORISCHE DIALEKTOLOGIE (Deutscher Sprachatlas von Georg Wenker)


• Erste Erhebungsrunde zwischen 1876 und 1887 (Deutsches Kaiserreich), zweite
Erhebungsrunde zwischen 1926 und 1933 (Schweiz, Österreich, deutschsprachige
Minderheiten in Osteuropa …)
• 40.000 Ortspunkte bzw. Gewährspersonen (meistens Lehrer)
• 40 standarddeutsche Sätze, die von den Lehrern in den ortüblichen Dialekt übertrug
• Fokus auf Phonetik/Phonologie (daheim, doham, dahoam…) – weniger Fokus auf
Lexik

Die „Wenkersätze“
1. Im Winter fliegen die trockenen Blätter in der Luft herum.
2. Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser.
3. Tu Kohlen in den Ofen, damit die Milch bald zu kochen anfängt.
4. Der gute alte Mann ist mit dem Pferd(e) auf dem Eis eingebrochen
und in das kalte Wasser gefallen.

40. Ich bin mit den Leuten da hinten über die Wiese ins Korn gefahren.

STUDIE: Stichprobe put-Verben (Wenkersatz 3)


• 2.316 Bögen im Hinblick auf den 3. Satz angesehen
• Rasterverfahren mit Quadranten zu je 18km Seitenlänge
• Der zentrumsnächste Ort wurde ausgewählt
→über 90% der Menschen verwendet „Tu“ (Kohlen in den Ofen)
Einige Varianten: Mach; Gib (v.a. in Tschechien) → auf Sprachkontakt zurückzuführen
93
„Tiefenbohrung“ Böhmen und Nordösterreich (Wenkersatz 3)
• 3.372 Bögen
• 100%ige Abdeckung mit vorhandenem Material
• V.a. „tun“, aber auch „gib“ dazwischen
• „Geben“ v.a. in nordwestlichem Tschechien (wo viele tschechischsprachige
Menschen leben)
→Korrelation zwischen Anteil tschechischsprachiger Ortsbewohner und geben-Belegen?

ZUSAMMENGEFASST: Geben als ostoberdeutsches put-Verb


• Historische und aktuelle Daten stützen die Vermutung, bei geben als put-Verb handle
es sich um ein Sprachkontaktphänomen (zwischen dem Deutschen und
Tschechischen)
• geben als put-Verb ist kein generell österreichisches Phänomen, sondern ein
ostoberdeutsches
• geben als put-Verb ist ein weiterer Hinweis auf die Existenz eines
„Donausprachbunds“ bzw. mitteleuropäischen Sprachbunds.
• Das Verdichtungszentrum bildet der tschechisch-deutsche Sprachkontaktraum (Raum
Wien)

ZUSAMMENFASSUNG
• Terminologisches (Formen des Sprachkontakts, Theorien des Sprachwandels …)
• Fallbeispiel I (2. Lautverschiebung) → Phonetik/Phonologie
• Fallbeispiel II (Entstehung des Perfekts) → Syntax/Semantik
• Fallbeispiel III (put-Verben im Deutschen) → Lexik/Semantik

94

Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)

Das könnte Ihnen auch gefallen