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Ludwig M.

Eichinger / Albrecht Plewnia


Melanie Steinle (Hrsg.)
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Sprache und Integration


Über Mehrsprachigkeit und Migration

Copyright (c) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG


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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE

57
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Studien zur Deutschen Sprache


FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE

Herausgegeben von
Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner

Band 57
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Ludwig M. Eichinger / Albrecht Plewnia


Melanie Steinle (Hrsg.)

Sprache und Integration


Über Mehrsprachigkeit und Migration
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Redaktion: Franz Josef Berens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
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Internet: http://www.narr.de
E-Mail: info@narr.de
Satz: Tröster, Mannheim
Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren
Printed in Germany
ISSN 0949-409X
ISBN 978-3-8233-6632-4

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Inhalt
Albrecht Plewnia
Migranten und ihre Sprachen........................................................................... 7

Patrick Stevenson
Migration und Mehrsprachigkeit in Europa: Diskurse über
Sprache und Integration................................................................................. 13

Rita Franceschini
Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas. Sprecher von historischen
und neuen Minderheitensprachen und ihr Beitrag
zur Multikompetenz....................................................................................... 29
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Anil Bhatti
Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität. Vergleichende
Überlegungen zwischen Indien und Europa.................................................. 55

Rosemarie Tracy
Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen............................................. 69

Tanja Anstatt
Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von
Jugendlichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland................... 101

İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann


Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft am Beispiel
der türkisch-deutschen Grundschulklassen in Hamburg.............................. 129

Inken Keim
Form und Funktion ethnolektaler Formen: türkischstämmige
Jugendliche im Gespräch............................................................................. 157

Bernd Meyer
Herkunftssprachen als kommunikative Ressource?..................................... 189

Albrecht Plewnia / Astrid Rothe


Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit. Wie Schüler über
ihre und andere Sprachen denken................................................................ 215

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Albrecht Plewnia
Migranten und ihre Sprachen
Europa ist mehrsprachig. In seiner Trivialität ist dieser Satz wahr für den Kon-
tinent Europa, und er ist ebenso wahr für die Europäische Union. Für die EU
wird dies besonders augenfällig durch ihre 23 Amtssprachen und das zugehö-
rige komplizierte Sprachenregime mit aufwendigen Dolmetsch- und Überset-
zungsdiensten. Diese europäische Mehrsprachigkeit beschreibt jedoch im Kern
die organisierte Koexistenz verschiedener Sprachen in geografisch weitgehend
distinkten Räumen; in diesem Sinne ist die Europäische Union gewissermaßen
eine große Schweiz, wo Sprecher verschiedener Sprachen zwar gemeinsam
unter einem organisatorischen Dach, aber letztlich, einem Territorialprinzip
folgend, nebeneinanderher leben, ohne dass sich dieses Nebeneinander ver-
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schiedener Sprachen in großem Umfange in einer individuellen Alltagsmehr-


sprachigkeit niederschlüge. In Bezug auf ihre großen Nationalsprachen ist die
Europäische Union, ist Europa weithin nicht eigentlich mehrsprachig, sondern
eher mehrfach einsprachig. Etwas anders ist dies zwar in denjenigen Gebieten,
wo auto­chthone Minderheiten- und Regionalsprachen existieren und wo daher
kollektive Mehrsprachigkeit eine lang etablierte Selbstverständlichkeit dar-
stellt; doch diese Form der Mehrsprachigkeit bleibt klar regional gebunden;
außerhalb dieser Gebiete ist Einsprachigkeit die Regel.
Allerdings werden die Sprachräume durchlässig. Sprachkontakte durch Mi­
gration hat es zwar immer schon gegeben, doch in den letzten Jahrzehnten
haben, im Zuge wachsender Mobilität und ausgelöst durch die verschiedenen
ökonomischen und soziodemografischen Veränderungen, die Migrationsbe-
wegungen in Europa erheblich zugenommen. Das hat dazu geführt, dass in-
zwischen vielerorts die Sprecherpopulationen weniger homogen sind als frü-
her und sich reale Mehrsprachigkeiten entwickeln. Migranten sind es, die eine
monolinguale Gesellschaft mehrsprachig machen.
Dieser Band handelt von Migranten und ihren Sprachen, er handelt von den
besonderen sprachlichen Realitäten, unter denen Migranten leben, und davon,
was dies für ihre Sprachen und ihre verschiedenen Identitäten bedeutet. Die
Frage, wie unter den Bedingungen sich ändernder demografischer Verhält-
nisse einerseits europäische Mehrsprachigkeit, andererseits Zuwanderung und
Integration – individuell und kollektiv – erfolgreich organisiert werden kön-
nen, ist eine der entscheidenden gesellschaftspolitischen Debatten, die ge-
genwärtig in der Bundesrepublik geführt werden. Für ihre Beantwortung

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8 Albrecht Plewnia

wiederum ist die Frage nach dem Verhältnis von Sprachen und Identitäten
zentral, weil die Sprache eines Menschen einen der stärksten identitätsstif-
tenden Faktoren überhaupt darstellt, und zwar sowohl im Selbstverständnis
als auch in der Fremdzuschreibung. Die Sprache ist der entscheidende Zu-
gang, weil Sprache immer einer der wichtigsten Identitätsträger ist. Will man
etwas wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten von Integration, dann
ist das Wissen um die primären sprachlichen Verortungen der Menschen da-
für die Basis. Von Interesse ist dabei nicht nur die Zielsprache der Mehrheits-
gesellschaft (in unserem Falle Deutsch), sondern auch und besonders die je-
weilige Erstsprache. Die spezifischen Kompetenzen, die Menschen mit Mi-
grationshintergrund besitzen, werden in Deutschland gegenwärtig noch nicht
systematisch genutzt, weder beispielsweise in Spracherwerbsprogrammen
zur Verbesserung der sprachlichen Integration noch in professionellen Zu-
sammenhängen zur Verbesserung etwa der Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
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Hier gibt es noch viel Potenzial, dessen gezielte Nutzung sowohl individuell
für die Betroffenen als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene große Vor-
teile verspricht.
Vor diesem Hintergrund versuchen die Beiträge dieses Bandes, die Situation
in Deutschland zu umgreifen und sie mit der Lage in anderen Ländern mit
prominenten Mehrsprachigkeitskonstellationen (von der Schweiz bis Indien)
zu kontrastieren, um auf diese Weise auszuloten, wie es gelingen kann, das
bislang weitgehend ungenutzte Potenzial, das in der Mehrsprachigkeitskom-
petenz von Migranten liegt, besser abzurufen und damit individuell und für
die Gesellschaft nutzbar zu machen.
Die mit den verschiedenen Mehrsprachigkeitskonstellationen verknüpften
Mehrdimensionalitäten ein wenig aufzuschlüsseln, nimmt sich Patrick Ste-
venson in seinem Beitrag zum Thema „Migration und Mehrsprachigkeit in
Europa: Diskurse über Sprache und Integration“ vor. Die Existenz von Mehr-
sprachigkeit – eigentlich: Mehrsprachigkeiten – als Folge von Migration ist
eine gesellschaftliche Tatsache. Dabei gibt es in einem mobilen Europa sehr
verschiedene Mehrsprachigkeitskonstellationen mit sehr unterschiedlichen
sozialen Wertzuschreibungen. Stevenson legt dar, wie sich diese Konstellatio-
nen mit politischen Konzepten – konventionellen (wie Staatsbürgerschaft)
und moderneren (wie Integration) – verschränken, und diskutiert, wie sich in
diesem Spannungsfeld eine kohärente europäische Sprachenpolitik entwi-
ckeln ließe; eine Fragestellung, in die sich auch das LINEE-Projekt zur Erfor-
schung von Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik und Migration einordnet.
In der europäischen Sprachenpolitik entsteht leicht der Eindruck, dass auto­
chthone Minderheitensprachen und neue Migrationsminderheiten als Gegen-

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Migranten und ihre Sprachen 9
sätze gedacht und geradezu gegeneinander ausgespielt werden (so werden
beispielsweise die Migrationsminderheiten von der Europäischen Charta der
Regional- oder Minderheitensprachen explizit nicht erfasst). Dass ein solches
Denken unklug ist, zeigt Rita Franceschini in ihrem Beitrag über „Die ‘mehr-
sprachigsten’ Bürger Europas. Sprecher von historischen und neuen Minder-
heitensprachen und ihr Beitrag zur Multikompetenz“. Sie diskutiert die Frage,
wie sich die Bedürfnisse nach dem Spracherhalt von Herkunftssprachen von
Migranten einerseits mit der Notwendigkeit der sprachlichen Integration an-
dererseits versöhnen lassen, und illustriert an Beispielen aus der Schweiz, dass
dabei auch die Haltungen der Mehrheitsgesellschaft eine entscheidende Rolle
spielen; helfen könnte hier mit dem Blick auf die autochthonen Minderheiten-
sprachen das Bewusstsein, dass sprachliche Pluralität in Europa durchaus kein
neues Phänomen darstellt.
Nach wie vor sind, stark geprägt durch die europäische Nationalstaatsideolo-
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gie seit dem 19. Jahrhundert, die meisten Staaten Europas mindestens im Be-
wusstsein der meisten ihrer Bürger einsprachig konzipiert. Sprachen jenseits
der eigenen Muttersprache werden als „Fremdsprachen“, nicht als „andere
Sprachen“ oder gar als „europäische (also zugehörige) Sprachen“ wahrgenom-
men. Diese Haltung konfligiert mit den durch Migrationsprozesse einerseits
und die europäische Integration andererseits entstehenden neuen Realitäten,
die die europäischen Nationalstaaten vor neue Herausforderungen stellen. In
welcher Weise die Koexistenz mehrerer Sprachen (und Kulturen) organisier-
bar ist, zeigt in einer Außenperspektive Anil Bhatti am Beispiel Indiens in
seinem Beitrag zu „Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität. Vergleichende
Überlegungen zwischen Indien und Europa“.
Nach diesen vorwiegend auf gesamtgesellschaftliche Konstellationen ausge-
richteten Überlegungen wechselt Rosemarie Tracy die Blickrichtung, indem
sie individuelle Mehrsprachigkeitsbedingungen in den Blick nimmt und hier
besonders die zweite Generation und die Prozesse des Spracherwerbs – des
doppelten Erstspracherwerbs bzw. des (früh-)kindlichen Zweitspracherwerbs
innerhalb des Bildungssystems – fokussiert. In ihrem Beitrag „Mehrsprachig-
keit: Realität, Irrtümer, Visionen“ räumt Tracy mit weitverbreiteten Vorurtei-
len und Mythen in Bezug auf Mehrsprachigkeit auf und zeigt, welche Be-
deutung bei der Sprachförderung dem Wissen um Spracherwerbsprozesse
zukommt.
Ebenfalls um die sprachliche Situation der Angehörigen der zweiten Migran-
tengeneration geht es im Beitrag von Tanja Anstatt. Die beiden gemessen an
der Zahl ihrer Sprecher bedeutendsten Minderheitensprachen in Deutschland

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10 Albrecht Plewnia

sind das Türkische und das Russische; Anstatt berichtet in ihrem Beitrag zum
Thema „Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von Jugend-
lichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland“ aus einer Pilotstudie
zu Spracheinstellungen und Sprachkompetenzen von Jugendlichen aus rus-
sischsprachigen Familien. Dabei zeigt sich, dass zwar das Russische als Iden-
titätsanker bei den Jugendlichen eine bedeutende ideelle Rolle spielt, dass
aber subjektive und tatsächliche Kompetenzen und Bewertungen in sehr un-
terschiedlicher Weise miteinander korrelieren.
Die andere große Migrantengruppe in Deutschland, nämlich die der Türken,
steht im Fokus des Beitrags von İnci Dirim, Marion Döll und Ursula Neu-
mann über „Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft am Beispiel
der türkisch-deutschen Grundschulklassen in Hamburg“; sie berichten aus dem
Modellversuch der türkisch-deutsch-bilingualen Grundschulen. Im Hamburger
Schulversuch „Bilinguale Grundschule“ wird versucht, durch Einrichtung bilin-
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gualer Klassen die jeweiligen herkunftssprachlichen Kompetenzen der Kinder


nutzbar zu machen; trotz verschiedener praktischer Schwierigkeiten wird das
Modell von den Beteiligten überwiegend als Erfolg wahrgenommen.
Dieselbe Gruppe, aber sozusagen eine halbe Generation weiter, ist Thema des
Beitrags von Inken Keim über „Form und Funktion ethnolektaler Formen:
türkischstämmige Jugendliche im Gespräch“. In jüngerer Zeit haben sich vie-
lerorts unter Jugendlichen der zweiten (und dritten) Migrantengeneration neue
ethnolektale Formen des Deutschen etabliert, die neben die regionalen Varie-
täten treten. Sie haben eine sehr starke soziale Funktion der Gruppenkonstitu-
ierung; Keim zeigt am Beispiel türkischstämmiger Jugendlicher aus Mann-
heim, wie solche sprachliche Formen und Muster zur Identifikation und zur
gruppenspezifischen Identitätsmarkierung genutzt werden.
Nach den Jugendlichen richtet sich der Blick auf die Erwachsenen; Bernd
Meyer fokussiert in seinem Beitrag mit dem Titel „Herkunftssprachen als kom-
munikative Ressource?“ die sozioökonomischen Aspekte von migrationsbe-
dingter Mehrsprachigkeit. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass zwar in
zahlreichen Unternehmen, Einrichtungen, Behörden, Krankenhäusern usw. für
die Kommunikation mit Personen mit geringen Deutschkenntnissen oftmals
Mitarbeiter mit Kenntnissen der jeweiligen Herkunftssprachen herangezogen
werden, dass diese aber die spezifischen kommunikativen Anforderungen in
professionellen Kontexten mangels entsprechender Ausbildung durchaus nicht
immer erfüllen. Eine bewusste und aktive Sprachenpolitik müsste darauf abzie-
len, das zusätzliche Potenzial der Mehrsprachigkeitskompetenz besser nutzbar
zu machen.

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Migranten und ihre Sprachen 11
Eine zentrale Schwierigkeit der Mehrsprachigkeitsdebatte liegt darin, dass
den verschiedenen beteiligten Sprachen teils sehr unterschiedliche sozialsym-
bolische Funktionen zukommen. Einstellungen von Sprechern in Deutschland
gegenüber anderen Sprachen und ihren Sprechern sind das Thema des letzten
Beitrags des Bandes; Albrecht Plewnia und Astrid Rothe berichten über
„Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit. Wie Schüler über ihre und ande-
re Sprachen denken“. Dabei wird, ausgehend von den Daten einer bundeswei-
ten Repräsentativumfrage zu Spracheinstellungsfragen einerseits und weite-
ren Erhebungen unter Schülern der 9. und 10. Klasse andererseits, deutlich,
dass bestimmte europäische Nachbarsprachen mit einem klar höheren Presti-
ge ausgestattet sind als bestimmte Migrantensprachen.
In den Jahren 2008 und 2009 veranstaltete das Goethe-Institut unter dem Titel
„Sprachen ohne Grenzen“ eine Projektreihe zum Thema Mehrsprachigkeit.
Im Rahmen der Abschlussveranstaltung dieser Projektreihe im September
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2009 in der Akademie der Künste in Berlin fand auch eine Fachkonferenz zum
Thema „Sprache und Integration“ statt. Eine der Sektionen dieser Fachkonfe-
renz wurde vom Institut für Deutsche Sprache gestaltet; sie trug den Titel
„Bedeutung und Integration von Herkunftssprachen“. Die im vorliegenden
Band versammelten Beiträge sind auf Basis der Vorträge, die in dieser Sektion
gehalten wurden, entstanden; außerdem enthält der Band einen thematisch
einschlägigen Beitrag von Albrecht Plewnia und Astrid Rothe, die aus einem
Forschungsprojekt berichten, das zum Zeitpunkt der Konferenz gerade erst an
seinem Anfang stand. Die Sektion wurde abgerundet durch eine Podiumsdis-
kussion zum Thema „Was kann Europa lernen? Indien, Referenzland im Um-
gang mit Mehrsprachigkeit“ mit Ludwig M. Eichinger (Institut für Deutsche
Sprache, Mannheim), Hans-Jürgen Krumm (Universität Wien), Gaspar Cano
Peral (Instituto Cervantes, Berlin) und Pramod Talgeri (Jawaharlal Nehru
University, Neu Delhi); die Podiumsdiskussion ist in diesem Band nicht
dokumentiert.
Die Herausgeber sind allen, die an der Entstehung dieses Bandes beteiligt
waren, zu Dank verpflichtet, in erster Linie natürlich den Referenten der Ber-
liner Tagung und Autoren der Beiträge, auch den Teilnehmern der die Sektion
abschließenden Podiumsdiskussion, und nicht zuletzt dem Goethe-Institut als
Veranstalter der Projektreihe „Sprachen ohne Grenzen“, in deren Rahmen die
Konferenz stattfand.

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Patrick Stevenson

Migration und Mehrsprachigkeit in Europa: Diskurse


über Sprache und Integration

Abstract: Kurz nach seinem Amtsantritt hat der Europäische Kommissar für Mehr-
sprachigkeit, Leonard Orban, in einer Rede im April 2007 erklärt, dass „die Mehrspra-
chigkeit von Anfang an ein Teil des genetischen Kodes der Europäischen Union war“;
diese Behauptung wird regelmäßig, wenn auch weniger bombastisch, in den Veröf-
fentlichungen und Strategien der Kommission wiederholt. Dieser Feststellung wird
im Kontext der Bestrebungen, ein europäisches Bürgerbewusstsein zu entwickeln und
gleichzeitig den Realitäten der ständig wachsenden Migrationszahlen gerecht zu wer-
den, besondere Bedeutung beigemessen.
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Doch in den öffentlichen Diskursen über Sprache und Integration bleibt noch unklar,
wie die Grundbegriffe Mehrsprachigkeit, Migration, (Staats-)Bürgerschaft und Integ-
ration zu verstehen sind. Außerdem werden ‘Migrant(inn)en’ in diesen Diskursen oft
als undifferenzierte soziale Gruppen behandelt. In diesem Beitrag sollen daher zwei
Ziele verfolgt werden. Erstens werden einige Probleme bei der Auslegung wichtiger
Begriffe diskutiert werden, und zweitens werden Ergebnisse einiger Forschungspro-
jekte, die sich im Rahmen des europäischen Netzwerkes LINEE mit der europäischen
Sprachpolitik und mit den Erfahrungen verschiedener Migrantengruppen befasst ha-
ben, kurz vorgestellt.

Shortly after taking up office as European Commissioner for Multilingualism, Leon-


ard Orban declared in a speech in April 2007 that „multilingualism was part of the
genetic code of the European Union from the beginning“. This assertion is constantly
reiterated, albeit in less dramatic terms, in the Commission's publications and strate-
gic documents. Particular importance is attached to this claim in the context of efforts
to develop a sense of European citizenship and at the same time to take account of the
realities of ever-growing migration figures.
However, in the public discourses on language and integration it remains unclear how
fundamental concepts such as multilingualism, migration, citizenship and integration
are to be understood. Furthermore, ‘migrants’ are often treated in these discourses as
homogeneous social groups. This chapter therefore has two aims. First, some prob-
lems in the interpretation of key concepts are discussed, and secondly, some results of
research projects conducted in the framework of the European network LINEE (Lan-
guages in a Network of European Excellence) dealing with European language policy
and the experiences of different migrant groups are briefly presented.

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14 Patrick Stevenson

1. Einleitung

Die verschiedenen Beiträge in diesem Band setzen sich mit dem Thema Spra-
che und Integration aus verschiedenen Forschungsperspektiven auseinander.
Ich möchte in einer eher generellen Diskussion auf jene Schlüsselkonzepte ein-
gehen, die sich als rote Fäden durch diese Untersuchungen ziehen und die be-
handelten Themen verknüpfen, und zwar: Mehrsprachigkeit, Migration, Staats-
bürgerschaft und Integration. Dabei geht es mir weniger um die Phänomene als
solche, als um die Diskurse, die sie begleiten. Im Folgenden werde ich also im
sprachpolitischen Kontext des heutigen Europas die Verbindungen zwischen
diesen Konzepten aufspüren. Da dieses Thema sehr komplex ist, kann ich im
Rahmen dieses Beitrags nicht mehr leisten, als einige Aspekte aufzuzeigen, die
aber in anderen Beiträgen aufgegriffen und weiter diskutiert werden. Dabei
werde ich mich im Wesentlichen auf die Ergebnisse zweier Studien berufen,
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die sich der Erforschung dieser Konzepte gewidmet haben. Diese Studien wur-
den im Rahmen der europäischen Netzwerke Testing Regimes: Language, Mi-
gration and Citizenship in Europe (siehe Extra/Spotti/Van Avermaet (Hg.)
2009b, Hogan-Brun/Mar-Molinero/Stevenson (Hg.) 2009) und LINEE (Lan-
guages in a Network of European Excellence) durchgeführt; ich möchte meinen
Kolleg(inn)en, deren Forschungsergebnisse ich hier vorstelle (siehe vor allem
Mar-Molinero et al. 2009, Studer/Kreiselmaier/Flubacher 2008, Studer/Krei­
selmaier/Veisbergs 2008), meine Anerkennung für ihre Arbeit ausdrücken.1

2. Orders of Multilingualism und eine Agenda für


sprachpolitische Forschung

Ich möchte meine Überlegungen mit verschiedenen Perspektiven oder Dis-


kursen beginnen, die sich zum Thema Mehrsprachigkeit im europäischen
Kontext finden lassen. Eine Liste solcher Perspektiven ist zwangsläufig will-
kürlich, umfasst jedoch sicherlich zum Beispiel:
–– die alltägliche, selbstverständliche Mehrsprachigkeit kurdischer Kinder
an einer Berliner Schule, aber ebenso die eines Tschechisch sprechenden,
vietnamesischen Marktverkäufers in Prag oder die einer Englisch spre-
chenden Spanierin, die für ein multinationales Unternehmen in London
arbeitet;
–– die gefeierte aber politisch eingeschränkte Mehrsprachigkeit, die zur Ide-
alvorstellung der EU-Staatsbürgerschaft gehört;
1
Cecylia Barłog, Mi-Cha Flubacher, Felicia Kreiselmaier, Clare Mar-Molinero, Darren
Paffey, Patrick Studer, Verena Tunger, Andrejs Veisbergs, Dick Vigers.

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 15
–– die „widerspenstige“, „subversive“ Mehrsprachigkeit, die in nordenglischen
Städten oder Pariser Banlieus „soziale Integration verhindert“ und „sozia-
les Chaos unterstützt“; sowie
–– die wiederauflebende Mehrsprachigkeit als Teil der ethnischen bzw. natio-
nalen Renaissance in Wales oder der Bretagne.

Diese Beispiele verdeutlichen unterschiedliche sprachliche Praktiken, die in


bestimmten sozialen Kontexten oder Interaktionen und auf verschiedenen Dis-
kursebenen ihre Bedeutung annehmen oder zugeschrieben bekommen. Ich
stelle mir dies als unterschiedliche Hierarchien von Mehrsprachigkeit (‘orders
of multilingualism’) vor, die in gegensätzlichen Sprachideologien verankert
sind und die aus mehrsprachigen Praktiken bestehen, die im Diskurs auf ver-
schiedenen Ebenen sozialen Handelns positioniert werden. Gleichzeitig erfor-
dert eine Analyse dessen, wie die Politik der Sprache im heutigen Europa funk-
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tioniert, die Einsicht, dass wir – und hier zitiere ich Jan Blommaert (2003,
S. 608) – „the various forms of interconnectedness between levels and scales
of sociolinguistic phenomena“ identifizieren und erklären müssen, um genau
zu verstehen „what language achieves in people's lives“.

Wie Susan Gal (2006, S. 14) betont, bleibt die Existenz separater Sprachen und
ihre hierarchisch geordneten Beziehungen zueinander eine der mächtigsten und
beständigsten Sprachideologien im europäischen Kontext. Das Ironische in die-
ser Hinsicht ist die immer noch privilegierte Stellung von ‘Nationalsprachen’,
die Myriaden von untereinander verknüpften Räumen verbinden (zum Beispiel
zuhause, auf der Straße, im Geschäft, bei der Arbeit, auf dem Spielplatz, im
Verein), von denen sich die wenigsten, zumindest in urbanen Gebieten, durch
den exklusiven Gebrauch einer einzigen Sprachvarietät auszeichnen.

Diese Ironie wird durch die oft widersprüchliche politische Rhetorik der euro-
päischen Institutionen noch verstärkt. Mehrsprachigkeit wird einerseits als
Wesenszug der europäischen Gesellschaften dargestellt – so erklärte der da-
malige Kommissar für Mehrsprachigkeit, Leonard Orban, in einer Rede am
27. April 2007, dass Mehrsprachigkeit „von Anfang an ein Teil des geneti-
schen Kodes der Europäischen Union war“. Andererseits gilt Mehrsprachig-
keit gleichzeitig als eine der erstrebenswertesten Schlüsseleigenschaften eines
europäischen Bürgers, die es dementsprechend noch in die Realität umzuset-
zen gilt. Reichliche Beweise hierfür finden sich in der Fülle an Programmen,
Aktivitäten und Strategien, die die Sprachenvielfalt und die soziale Mobilität
zwischen den Mitgliedsstaaten unterstützen sollen.

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16 Patrick Stevenson

Diese Ziele müssen sich jedoch mit dem immer noch vorherrschenden Kon-
zept des Monolingualismus auseinandersetzen, das als ‘natürliche Gegeben-
heit’ des Individuums und des Staates gesehen wird. Denn trotz diverser EU-
Strategien und aufgeklärter Initiativen einiger nationaler Institutionen, wie
des Goethe-Instituts, halten politische Diskurse über Sprache in den meisten
Mitgliedsstaaten aufrecht, was Ingrid Gogolin (1994) als den monolingualen
Habitus der multilingualen europäischen Gesellschaften bezeichnet hat.
All dies birgt Konflikte und Fragestellungen, mit denen sich die Forschung im
Bereich der Sprachpolitik auseinandersetzen muss. So besteht Sue Wright
(2004, S. 251) darauf, dass Forschung, die sich mit der sich entwickelnden
Sprachdynamik in Europa befasst, über die konventionelle Auswertung von
Richtlinien als Instrumente des Sprachkontaktmanagements hinausgehen
muss und insbesondere erforschen sollte:
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–– erstens die verschiedenen Ebenen, auf denen Sprachpolitik entworfen


wird;
–– zweitens die Beziehung zwischen der Artikulation von Sprachideologien
einerseits und der Formulierung und Implementierung von Sprachpolitik
andererseits; und
–– drittens den Gebrauch von Richtlinien und ihre Auswirkungen auf Migra-
tions- und Identifikationsmuster.
Dieser Liste würde ich einen vierten wichtigen Punkt hinzufügen: den der
wechselseitigen Beziehungen zwischen den Richtlinien einerseits und den
Praktiken und Erfahrungen der Individuen andererseits. Gerade diese Aspek-
te, neben vielen anderen, bilden die zentralen Themen des LINEE-Projekts, die
ich im Folgenden kurz erläutern werde.

3. LINEE: Forschung zur Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik


und Migration in Europa

Die meisten (konventionellen) Forschungsarbeiten über Sprachpolitik ten-


dieren dazu, den Fokus auf die kritische Analyse der Inhalte bestimmter
Richtlinien und Maßnahmen zu legen. So wichtig dieser bestehende Zugang
ist, zieht er weder die internen Prozesse der Institutionen in Betracht, die die
Richtlinien formulieren, noch die Auswirkungen eben dieser Richtlinien auf
ihre Zielgruppen und einzelne Individuen. Eine Konsequenz dieser Herange-
hensweise ist daher die Entpersonalisierung der Produktion wie der Rezep­
tion von Sprachpolitik.

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 17
Wir wollten daher unseren analytischen Blick vom Textprodukt hin zu den
Denkprozessen und Erfahrungen jener lenken, die an den unterschiedlichen
Stufen der Sprachplanung beteiligt sind – also der politischen Entscheidungs-
träger, Interessengruppen und Individuen. Der Sinn dieser Untersuchung war
es, ein Verständnis für die komplexen und häufig widersprüchlichen Perspek-
tiven zu entwickeln, die hinter vermeintlich einstimmigen oder einträchtigen
Richtlinien und Strategien stehen und die zudem auf verschiedenen Ebenen
innerhalb der EU formuliert und ratifiziert werden. Dementsprechend sollte
auch die Art und Weise berücksichtigt werden, wie sich Individuen in Rela­
tion zu der sozialen Ordnung positionieren, die eben durch diese Richtlinien
geformt wird. Die Menge an sprachpolitischen Strategien, die im Verlauf der
letzten zwanzig Jahre in der EU eingeführt wurden, wurde schon hinreichend
untersucht. Fragen von höchster Relevanz bleiben jedoch unbeantwortet.
Zum Beispiel: Welche Vorstellungen von Sprache unterliegen diesen Richtli-
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nien? Welche sozialen und moralischen Werte und Ansichten werden darin
artikuliert? Und welche Wirkungen hatten sie darauf, wie Menschen ihr Le-
ben leben?

3.1 Der Forschungskontext

Der Forschungskontext ist ein Europa, das zunehmend durch die Auswirkun-
gen sozialer Transformationsprozesse charakterisiert wird, die durch globali-
sierte wirtschaftliche Prozesse entstehen – in erster Linie durch die in großem
Umfang auftretende transnationale Bewegung von Menschen und Gütern.
Diese Prozesse haben widersprüchliche Konsequenzen: Auf der einen Seite
mindern sie die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen, auf der anderen Sei­-
te verursachen sie einen internen politischen Druck in den einzelnen europä-
ischen Staaten, diese Grenzen aufrecht zu erhalten und nationale Interessen zu
behaupten. Eines der Hauptinstrumente zum Erreichen dieses politischen Zie-
les, nämlich das neu gestaltete Konzept der Staatsbürgerschaft, wurde in den
letzten Jahren in den Vordergrund gerückt. Dies umfasst insbesondere ein
Konzept von ‘aktiver’ und ‘mitgestaltender’ Staatsbürgerschaft, wobei die nö-
tigen Qualifikationen für ein Dazugehören einhergehen mit der verbindlichen
Verpflichtung, zur Erhaltung und zur Reproduktion der ‘Gastgesellschaft’ bei-
zutragen. Gleichzeitig arbeitet die Politik auf EU-Ebene an den Grundlagen
für ein europäisches Staatsbürgerschaftsmodell, das die Mobilität der Europä-
er zwischen den Staaten unterstützen soll. In beiden Fällen dient die Sprache
den Gesetzesmachern als eine Kernkomponente in der Formulierung der Bür-
gerrechte, der Verantwortungen und der Möglichkeiten. Doch während einer-

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18 Patrick Stevenson

seits der ideale EU-Bürger entworfen wird, der als Polyglott in der Lage ist,
sein Repertoire an Sprachen je nach Nutzen und Bedarf anzuwenden und zu
erweitern, ist andererseits in vielen Mitgliedsstaaten nicht die plurilinguale
Kompetenz, sondern die Beherrschung der ‘Nationalsprache’ die Hauptvor-
aussetzung für die Staatsbürgerschaft.

3.2 Konzeptioneller Bezugsrahmen

Unser Forschungsvorhaben hat sich somit aus den drei Schlüsselkonzepten


Mehrsprachigkeit, Migration und Staatsbürgerschaft entwickelt, wobei diese
unwillkürlich im Zusammenhang mit den Begriffen Integration und sozialer
Zusammenhalt stehen.

Mehrsprachigkeit
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Ein fundamental wichtiger Aspekt, der kaum in der europäischen Sprachpoli-


tik angesprochen wird, ist die Unterscheidung zwischen einer idealisierten
Konzeption einer individuellen Mehrsprachigkeit und der hochkomplexen
Realität der Sprachrepertoires: Einerseits der Renaissancemensch, der flie-
ßend mehrere europäische ‘Nationalsprachen’ lesen und schreiben kann, und
andererseits das real existierende Individuum, dessen Sprachvermögen sich
zum Teil aus fragmentarischem Sprachwissen zusammensetzt, das er oder sie
aus einer Vielzahl an Sprachen und Sprachvarietäten gewonnen hat. Dieses
Sprachwissen wiederum wird in unterschiedlichen Kontexten auf unterschied-
liche Weisen angewendet.
Daher möchte ich jetzt die Aufmerksamkeit auf eben dieses widersprüchliche
Verständnis von Mehrsprachigkeit in der europäischen Sprachpolitik lenken.
Die anderen Beiträge in diesem Band werden Beispiele tatsächlichen Sprach-
gebrauchs, insbesondere von mehr oder weniger fest ansässigen Migranten,
vorstellen. Ich möchte im Speziellen auf die Reaktionen von ‘neuen’, transna-
tionalen Migranten auf ihr neues Umfeld eingehen, um kurz zu veranschauli-
chen, wie sich die ‘Dissonanz’ dieser Sichtweisen im Alltag manifestiert.2
Auf der europäischen Ebene drücken die schon genannten widersprüchlichen
Diskurse einen Interessenskonflikt aus, der Mehrsprachigkeit einerseits als
ökonomisches Kapital, andererseits als Menschenrechtsfrage behandelt. Kon-
sens herrscht nur in der zukunftsgerichteten Orientierung beider Ansätze. Ge-
nau hier liegt jedoch eine Spannung zwischen den Perspektiven der Entschei-
2
In unseren Forschungsprojekten haben wir hauptsächlich Interviews mit Rumänen in Groß-
britannien, der Schweiz und Spanien durchgeführt.

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 19
dungsträger und der ‘neuen’ Migranten: Während erstere den Schwerpunkt
auf die historische Kontinuität ‘nationaler’ Traditionen legen, ist für Migran-
ten natürlich das Hier und Jetzt von höchster Wichtigkeit. Diese Spannung
drückt sich in unterschiedlichen Einstellungen gegenüber bestimmten Spra-
chen aus. Auf der einen Seite wird von den meisten Migranten eine pragmati-
sche Einstellung bevorzugt, wobei Kosten und Nutzen verschiedener Sprach-
varietäten im Alltag genau abgewogen werden. Entscheidungsträger auf der
anderen Seite betonen Sprachideologien, die Nationalsprachen bzw. auto-
chthone regionale Minderheitensprachen fördern, wie zum Beispiel Katala-
nisch oder Walisisch, auf Kosten allochthoner Sprachen, wie zum Beispiel
Rumänisch oder Polnisch.

Migration und Staatsbürgerschaft


Diese beiden Konzepte können natürlich unabhängig voneinander untersucht
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werden, aber in dem Kontext, den ich bisher vorgestellt habe, wird deutlich,
dass sie durch den Diskurs der Zugehörigkeit auf das engste miteinander ver-
knüpft sind. Wer ‘zählt’ als Europäer? Wer ist (typisch) britisch, katalanisch
oder schweizerisch? Oder französisch, tschechisch oder rumänisch? Ist es
möglich, sich auf vielfältige Weisen zugehörig zu fühlen? Wer soll dies ent-
scheiden? Und auf welcher Basis? Auf der europäischen Ebene ist Migration
natürlich eine Konsequenz globaler Veränderungen, sie hat aber auch eine
entscheidende Wirkung auf das Gleichgewicht nationaler und supra-nationa-
ler Bezugsrahmen für soziales und politisches Handeln. Zunehmende Migra-
tion innerhalb der EU und in die EU liefert daher die Impulse, die dazu führen,
dass die Rechte und Pflichten des Einzelnen kritisch reflektiert werden. Aber
auch die Beziehungen zwischen den Individuen und den Institutionen müssen
im Hinblick auf die Idealvorstellungen von Inklusion und Integration unter-
sucht werden. Diese Themen werden alle in der Diskussion des Konzepts
Staatsbürgerschaft angesprochen.
Migration kann traditionelle Vorstellungen von ‘Heimat, Land und Nation’
stören, und die dadurch entstehenden sozialen Turbulenzen rufen häufig Ver-
teidigungsstrategien auf den Plan, die den Verlust der Vielfalt manchmal noch
beschleunigen. Eine dieser Strategien auf nationaler Ebene ist die in Stein
gemeißelte Vorstellung von Staatsbürgerschaft als ausschließlich monolingu-
ales Konstrukt. Die in einer solchen Definition enthaltenen Widersprüche
werden deutlich, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass Bürger anderer EU-
Mitgliedsstaaten keine Prüfung ihrer Sprachkenntnisse ablegen müssen. Zu-
gleich werden viele Bewerber um die Staatsbürgerschaft durch das zu errei-

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20 Patrick Stevenson

chende Niveau der Sprachkenntnis von vornherein abgeschreckt. Hier wird


deutlich, dass, während die Staaten eine Einbürgerung als selbstverständlich
erwünschtes und angestrebtes Ziel sehen, Migranten weitaus skeptischer sind
und eigene Wege zur sozialen Integration suchen, vor allem auf lokaler Ebene,
zum Beispiel durch den Aufbau von Netzwerken in der Nachbarschaft oder
am Arbeitsplatz.
Die Situation wird dadurch verkompliziert, dass weder Migration noch Staats-
bürgerschaft einheitliche Konzepte sind. Wir müssen zwischen einer Vielzahl
verschiedener Migrationswellen und Arten von Migration unterscheiden. Mi-
granten früherer Einwanderungswellen, größtenteils aus den mediterranen Län-
dern, haben sich in vielen Fällen in den Aufnahmeländern niedergelassen und
bilden heute einen festen Bevölkerungsanteil in fast allen europäischen Län-
dern, insbesondere in Westeuropa. Auf diese frühe Süd-Nord-Migration folgt
jedoch seit einigen Jahren eine neue Bewegung, nicht nur aus anderen Ländern,
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sondern auch aus anderen Motiven und nach anderem Muster. Diese ‘neue’
Migration ist charakterisiert durch zeitlich begrenzte, zyklische und transnatio-
nale Bewegungen. Geografisch versprengt, findet sie sich auch jenseits ge-
wachsener städtischer Räume und Arbeitsmärkte. Hier zitiere ich meine Kolle-
gen aus Testing Regimes, Guus Extra, Max Spotti und Piet Van Avermaet:
The effect of this blending of „old“ and „new“ migration produces a new form of
diversity in Europe, one for which the term „super-diversity“ has been coined
(Vertovec 2006, S. 1-2). This type of diversity is of a more complex kind in
which neither the origin of people, nor their presumed motives for migration, nor
their „careers“ as migrants (sedentary versus short-term and transitory), nor their
socio-cultural and linguistic features can be pre-supposed. The cosy (dis)comfort
of the old migration, where migrants, their trajectories and their lives were un-
derstood, or at least acknowledged, by majority group members, has disappeared
and is replaced by a form of complexity that is presenting itself unequivocally at
Europe's doors. (Extra/Spotti/Van Avermaet 2009a, S. 4)

Daneben werden herkömmliche Konzeptionen von Staatsbürgerschaft, die auf


formalen Qualifikationskriterien basieren und in einem Diskurs über Rechte
und Verpflichtungen eingebettet sind, von neuen Ideen herausgefordert – ei-
nerseits von institutioneller Seite, durch die ‘aktive, mitgestaltende’ Staatsbür-
gerschaft, die durch ein genau definiertes Allgemeinwissen sowie durch vom
Staat als angemessen festgelegte Sprachkenntnisse erlangt werden muss. Dem
gegenüber steht die Idee einer ‘kulturellen Staatsbürgerschaft’, die nach Ro-
saldo (1994) „enfranchisement, belonging, having voice and getting heard“ in
sich vereint. Es liegt auf der Hand, dass diese beiden unterschiedlichen Kon-
zepte reichlich Konfliktpotenzial liefern.

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 21
Integration und sozialer Zusammenhalt
Gegensätzliche Auffassungen von Staatsbürgerschaft wurzeln in unterschied-
lichen Vorstellungen von Integration und Zusammenhalt. Europäische Versu-
che, eine einheitliche Definition von „Integration“ zu finden, verkörpern den
stereotypen europäischen Diskurs des Konsenses, bleiben aber relativ ober-
flächlich formuliert und banal. In den verschiedenen Nationalstaaten jedoch
beginnen Institutionen langsam das Ausmaß und die Komplexität der Angele-
genheit zu erkennen. Hier ist zum Beispiel für Deutschland der Nationale In-
tegrationsplan (Bundesregierung 2007) zu nennen, oder für Großbritannien
the Commission on Integration and Cohesion. Der deutsche Plan (S. 7, 13)
erklärt Integration zu „eine[r] Schlüsselaufgabe unserer Zeit“ und proklamiert
„eine aktivierende und nachhaltige Integrationspolitik, die die Potenziale der
Zugewanderten erkennt und stärkt und nicht allein auf die Defizite fokus-
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siert.“ Die britische Regierung (Department for Communities and Local


Government 2008, S. 10) hat „community cohesion“ als ihr zentrales Konzept
übernommen, in deren Umsetzung Integration eine Schlüsselrolle spielt:
A new definition of Community Cohesion:
Community Cohesion is what must happen in all communities to enable differ-
ent groups of people to get on well together. A key contributor to community
cohesion is integration which is what must happen to enable new residents and
existing residents to adjust to one another.
Our vision of an integrated and cohesive community is based on three
foundations:
–– People from different backgrounds having similar life opportunities
–– People knowing their rights and responsibilities
–– People trusting one another and trusting local institutions to act fairly
And three key ways of living together:
–– A shared future vision and sense of belonging
–– A focus on what new and existing communities have in common, alongside
a recognition of the value of diversity
–– Strong and positive relationships between people from different back-
grounds.

Dennoch basieren sowohl der deutsche Integrationsplan als auch der britische
Plan for Community Cohesion auf der Annahme, dass diese Gemeinschaften
grundsätzlich stabile Bevölkerungsgruppen bilden, die aus ‘jenen, die sich
schon eingelebt haben’, und ‘jenen, die sich noch einleben müssen’, bestehen.
Diese Annahme vernachlässigt jedoch den Trend zur ‘neuen’ Migration, die

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22 Patrick Stevenson

sich eben nicht durch Stabilität auszeichnet, nicht durch den definitiven Wech-
sel von einem Ort zu einem anderen, sondern durch den nur vorübergehenden
Aufenthalt und die Pflege transnationaler Kontakte.
Dies stellt die Sprachpolitik vor einige Schwierigkeiten. Einerseits können
integrationspolitische Maßnahmen, die die Kenntnis der Landessprache ver-
langen, die Wünsche und Ziele der Migranten verfehlen, die nicht die Staats-
bürgerschaft oder auch nur einen längeren Aufenthalt in einem Land anstre-
ben. Andererseits führt zunehmende Vielfalt, wiewohl sie auch Anlass zur
Freude geben kann, häufig dazu, dass sich eingelebte und ‘neue’ Gruppen den
Raum und die begrenzten Mittel, die für kulturelle Unterstützung zur Verfü-
gung stehen, gegenseitig streitig machen. ‘Neue’ Migranten werden außerdem
als Herausforderung angesehen, wo es um die kulturelle Vielfalt in traditionell
bilingualen Gebieten geht, wenn sie verstärkt Angebote in der dominanten
Nationalsprache wahrnehmen, wie zum Beispiel Englisch in Wales oder Kas­
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tilisch in Katalonien, und sich nicht für regionale bzw. nationale Minderhei-
tensprachen entscheiden.

3.3 Einige Ergebnisse

Mehrsprachigkeit ist in der Tat ein relativ neues Konzept in der europäischen
Sprachpolitik, und es lässt sich nicht leicht mit der bereits bestehenden Vor-
stellung von sprachlicher Vielfalt vereinbaren. Obwohl es durch das neue
Portfolio in die Infrastruktur und den Wortschatz der Kommission aufgenom-
men wurde, ist das Konzept der Mehrsprachigkeit offensichtlich noch durch
die ungelösten Spannungen innerhalb der sprachpolitischen Diskurse auf
höchster Ebene besetzt. Diese Spannungen wiederum verursachen erhebliche
Schwierigkeiten in der Formulierung und Implementierung einheitlicher, ra-
tionaler EU-Richtlinien, was sich natürlich auch auf die nationale und regio-
nale Politik auswirkt.

Was ist Mehrsprachigkeit?


In der Analyse von Interviews mit Personen in mittleren und leitenden Posi-
tionen in den verschiedenen politischen Institutionen wurde schnell klar, dass
Mehrsprachigkeit von verschiedenen Personen unterschiedlich verstanden
wird. Gleichzeitig hatten jedoch auch die Befragten selbst mit zum Teil wider-
sprüchlichen Auffassungen zu kämpfen. Das führt dazu, dass, während das
Wort ‘Mehrsprachigkeit’ regelmäßig in Strategiedokumenten verwendet wird,
keineswegs geklärt ist, wer damit angesprochen wird: Ist dies ein Fall für In-
stitutionen? Oder für Individuen? Wenn eine Richtlinie sich auf institutionel-

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 23
len Sprachgebrauch bezieht, betrifft sie dann die interne Kommunika­tion?
Oder die externe Kommunikation zwischen Institutionen und Bürgern? Oder
beides? Der ehemalige Kommissar für Mehrsprachigkeit hat sich einer lang-
fristigen Strategie verpflichtet, die eine Kommunikation zwischen den Institu-
tionen und den Bürgern in „ihrer eigenen Sprache“ erlauben und unterstützen
soll. Aber dies bedingt nicht zwangsläufig, dass jeder einzelne Bürger mehr-
sprachig sein muss – wenn überhaupt, impliziert es genau das Gegenteil. So
gesehen widerspricht diese Strategie klar dem von der Kommission herausge-
gebenen Ziel, dass alle Europäer neben ihrer Muttersprache Sprachkenntnisse
in mindestens zwei weiteren Sprachen haben sollen. Dieser Plan ist in den
Kontext des weiteren Diskurses über die Mobilität und die Arbeitsmarktchan-
cen der Europäer eingebettet und wird somit als Schlüssel zur ökonomischen
Integration der EU stilisiert. Der propagierte „Sprachpool“, aus dem die Euro-
päer sich frei nach Wahl bedienen können und so ihr individuelles, multilingu-
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ales Repertoire zusammenstellen sollen, setzt sich jedoch ausschließlich aus


den standardisierten Nationalsprachen zusammen.

Alter Wein in neuen Schläuchen?


Die widersprüchlichen Auffassungen von Mehrsprachigkeit scheinen teilwei-
se daher zu rühren, dass es schwierig ist, dieses Konzept von der ‘Sprachen-
vielfalt’ zu unterscheiden. Dieser Begriff ist mittlerweile im konventionellen
EU-Diskurs etabliert, und es drängt sich die Frage auf, ob nicht Mehrsprachig-
keit vielmehr eine neu aufgelegte Version des herkömmlichen Begriffs ist, nur
im neuen Gewand. Während Sprachenvielfalt in der Vergangenheit noch
Grund zur Freude gab, quasi ein Gegenmittel für die vermeintliche kulturelle
Gleichmachung Europas darstellte, wird sie jetzt im Kontext der Migration in
die EU, die eine unvorhergesehene Fülle an Sprachen und Varietäten mit sich
bringt, in manchen Lagern als eine mögliche Quelle der Uneinigkeit gesehen.
Einerseits könnte eine positiver besetzte Mehrsprachigkeit eingesetzt werden,
um die Integrationsagenda zu stärken. Andererseits könnte es ebenso die Ge-
legenheit eröffnen, die Grenzen eines ‘akzeptablen’ Sprachgebrauchs auf eine
Art einzuschränken, die durch etablierte Diskurse über nationale Werte und
nationale Identitäten legitimiert ist.

Ökonomischer Vorteil oder Menschenrecht?


Das Modell der Sprachenvielfalt entstand aus einer Betonung der Gleichbe-
rechtigung aller Sprachen und dem Recht des Individuums auf Meinungsäu-
ßerung und somit auch der freien Wahl der Sprache, in der dies geschieht.
Uneingeschränkte und unregulierte Vielfalt wird jedoch von manchen als

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24 Patrick Stevenson

nachteilig für ökonomische Effizienz und somit für die Wettbewerbsfähigkeit


angesehen. Andererseits wäre jedoch eine Beschränkung auf eine einzige lin-
gua franca, am wahrscheinlichsten die englische Sprache, politisch nicht trag-
bar – und zudem für das Erzielen wirtschaftlicher Erfolge auf einem zuneh-
mend dynamischen und breit gefächerten globalen Markt nicht angemessen.
Eine fokussierte Politik der Mehrsprachigkeit, sowohl für die europäischen
Arbeiter, als auch für Firmen, die grenzübergreifend arbeiten, wird daher im
neuen, ökonomisch ausgerichteten Diskurs über Sprache befürwortet, der Fle-
xibilität und Empfänglichkeit für wechselnde Marktbedingungen betont.

Das Gesamtbild, das sich hieraus ergibt, ist, dass sich die Politik der Mehr-
sprachigkeit auf EU-Ebene in einem schwierigen Übergangsstadium befindet.
Aus dem Menschenrechtsdiskurs kommend, wurde sie zunehmend zu einem
ökonomischen Thema. Doch politische Entscheidungsträger wie auch Interes-
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sengruppen scheinen große Probleme zu haben, diese beiden widersprüchli-


chen Sichtweisen miteinander zu vereinen. Dieses Dilemma verschärft sich
weiterhin dadurch, dass Sprachfragen im Allgemeinen als ‘soft issues’ mit
geringem politischem Gewicht angesehen werden und dass die Verfügungsge-
walt der EU so gering ist, dass Strategiepapiere nicht zwangsläufig in Richtli-
nien münden.

Im Gegensatz zur Politik auf europäischer Ebene hat Sprachpolitik auf natio-
naler und regionaler Ebene zumindest in einigen Fällen ein ‘hard edge’ ge-
zeigt, wo sie genau die Räume absteckt, in denen sich Sprecher verschiede-
ner sprachlicher Varietäten bewegen müssen, die sich von den offiziellen
Staatssprachen unterscheiden. Während nationale und regionale Richtlinien
typischerweise als Instrumente zur Umsetzung dienen, werden sie implizit
durch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Prioritäten der dominanten
politischen Interessensgruppen motiviert (und eingeschränkt): sprachliche
Realpolitik also, eingebettet in die Diskurse über Integration und sozialen
Zusammenhalt.

Das strategische Planen in Fragen der Sprachpolitik im Verhältnis zu Staats-


bürgerschaft und einem Zugehörigkeitsgefühl funktioniert in Spanien, der
Schweiz und Großbritannien gleichzeitig im Einklang mit dem weiteren euro-
päischen Rahmen und entlang resolut autonomer Linien, die der Staat bzw.
sub-staatliche Behörden (Region/Kanton) bestimmen. Ich gebe dazu einige
Beispiele:
–– Während die spanische Verfassung neben ihrer Betonung des Kastilischen
verschiedenen autochthonen Sprachminderheiten Rechte verliehen hat,

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 25
legt die katalanische Regierung den Schwerpunkt auf die Förderung des
Katalanischen und nicht auf die Förderung einer Politik der Mehr-
sprachigkeit.
–– In den offiziellen und bestimmenden öffentlichen Diskursen stellt die eng-
lische Sprache in Großbritannien den Inbegriff der ‘Britishness’ dar. Somit
verwundert es nicht, dass das neue Einbürgerungsmodell auf der engli-
schen Sprache besteht – und nicht auf ‘Englisch plus 2’. Die Einsprachig-
keit hier wird auch durch indirekten Druck propagiert, z.B. durch immer
weniger Übersetzungsdienste, oder die Tatsache, dass es kaum Gelegen-
heiten gibt, andere Sprachen im öffentlichen Leben zu gebrauchen.
–– Selbst in der Schweiz, mit ihrer langen Tradition dezentralisierter Ent-
scheidungsprozesse, werden bestehende Formen des offiziellen Monolin-
gualismus in den meisten Kantonen durch neue Gesetze gestärkt, wie zum
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Beispiel das Integrationsgesetz in Basel.

Während also die spanischen und britischen Regierungen formell der EU-
Strategie zur Mehrsprachigkeit Genüge leisten und die Schweiz als beispiel-
haft für die Entwicklung interner und grenzüberschreitender multilingualer
Beziehungen gilt, gibt es in jedem Land auffällige Widersprüche zwischen der
Rhetorik des offiziellen Diskurses und der eigentlichen Sprachpolitik: zum
Beispiel, wenn Spanien durch die Erteilung einer „kompensatorischen Ausbil-
dung“ für multilinguale Kinder mit „unzureichenden Kenntnissen des Kastili-
schen“ bestimmte Arten von Mehrsprachigkeit als Defizit festschreibt.
In allen diesen Fällen deutet die Politik die Herausforderungen durch mehr-
sprachige Bevölkerungsgruppen nicht als mögliche soziale und kulturelle Be-
reicherung, sondern als Hindernis für Integration und sozialen Zusammenhalt.
Während staatliche und regionale Behörden jedoch Sprachstandstests als Zu-
gangsbegrenzungen nutzen und gleichzeitig als Anreiz zum Erlangen des be-
gehrenswerten Status eines Staatsbürgers präsentieren, äußerten Migranten
andere Ansichten über den Wert der Notwendigkeit, die spärlichen Ressour-
cen Zeit und Geld in das Lernen einer Sprache zu investieren, die vom ‘Gast-
land’ vorgeschrieben wird. Rumänische Migranten in Basel akzeptierten zwar,
dass es wichtig sei, Deutsch zu lernen, argumentierten aber auch, dass es nicht
ausreichend sei. Migranten, die wir in Southampton, Barcelona und Castelló
interviewten, waren in ihrem Urteil reservierter. Ihre Motivation, Englisch,
Kastilisch oder Katalanisch (bzw. Valenzianisch) zu lernen, war vor allem von
persönlichen Bedürfnissen und Umständen geprägt und nicht von den Erwar-
tungen und politischen Zielen der Staaten: Enge persönliche Kontakte in der

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26 Patrick Stevenson

Nachbarschaft schließen zu können und soziale Netzwerke zu entwickeln,


war auschlaggebender, als einen offiziellen Status in der Gesellschaft als sol-
che zu haben. Diese Diskrepanz zwischen Sprachpolitik und individuellen
Praktiken scheint besonders auf transnationale (temporäre oder zyklische) Mi-
gration zuzutreffen, die schon an sich dem vertieften Sprachenlernen nicht
sonderlich dienlich ist, und noch weniger, wenn es um Regionalsprachen wie
Katalanisch oder Valenzianisch geht.

4. Schlussfolgerungen

In Bezug auf ihr formales sowie Ausdrucks- und Kommunikationspotenzial


gibt es keine Grenzen für Sprachen, außer jenen, die ihnen auferlegt werden.
In den anderen Beiträgen in diesem Band werden die verschiedenen Facetten
dieses Potenzials im Kontext zeitgenössischer multilingualer Sprech- bzw.
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Sprachgemeinschaften erforscht. Ich wollte mit diesem Beitrag durch einige


Beobachtungen der Komplexitäten und Widersprüche in der Beziehung zwi-
schen Sprachpolitik und Sprachpraktiken im heutigen Europa ein paar Anre-
gungen geben. Die verschiedenen ‘Hierarchien der Mehrsprachigkeit’ oder
‘orders of multilingualism’, auf die ich zu Beginn des Beitrags verwiesen
habe, existieren nebeneinander in einer sozialen Umwelt, die sich in rasantem
Tempo verändert, und wo wetteifernde Diskurse über Migration und Mehr-
sprachigkeit, über Staatsbürgerschaft und Integration zeigen, dass die ver-
schiedenen sprachlichen Bedürfnisse und Hoffnungen der Europäer noch
nicht miteinander vereinbart werden konnten.

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Migration und Mehrsprachigkeit in Europa 27
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Rita Franceschini

Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas


Sprecher von historischen und neuen Minderheitensprachen und
ihr Beitrag zur Multikompetenz

Abstract: Die Europäische Union hat zur Mehrsprachigkeit einen Strategieplan erstellt,
der eine Perspektive befördert, um die sprachliche Diversität positiv zu werten. Vor
diesem Hintergrund lässt sich eine Tatsache nicht leugnen: Wenn die Mehrsprachigkeit
allgemein gefördert werden soll, dann bringen Sprecher(innen) von Sprachminderheiten
– historische, lang ansässige bis hin zu neuen Minderheiten – eine Sprachkompetenz in
die Union ein, die ihnen eine herausragende Stellung und Chance zuweist.
Die Herausforderung an die Gesellschaft ist dabei dreifach: die Bedürfnisse nach
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Spracherhalt der Herkunftssprachen mit der Notwendigkeit der sprachlichen Integra-


tion von Immigranten zu verbinden und für alle den Zweit-, Dritt- und Fremdspra-
chenerwerb zu fördern.
Von wissenschaftlicher Seite her ist dabei eine Definition von Mehrsprachigkeit zu
klären, die dem heutigen Wissenstand Rechnung trägt. Zusätzlich wird der Begriff der
Multikompetenz eingeführt. Damit wird versucht, das mehrsprachige Repertoire ei-
nes Individuums mit seinem sprachbiographischen Hintergrund zu fassen und mit
seinen Anpassungsfähigkeiten, die aus der Interaktion mit der Umwelt erwachsen, zu
verbinden.
Der Beitrag veranschaulicht an Beispielen aus dem Schweizer Kontext und anhand
eines europäischen Vergleichs die sprachliche Verwobenheit der drei Stränge – histo-
rische Minderheiten, Immigration und Fremdsprachenunterricht – in einer pluriellen
Gesellschaft. Ein Rückblick auf Studien zu Binnenmigration in der Schweiz, zu Inter-
aktionsanalysen und zu statistischen Daten zur sprachlichen Integration von Fremd-
sprachigen in der Schweiz bietet Anlass zu einem Ausblick auf die europäischen
Herausforderungen. Diese werden mit ersten Ergebnissen des laufenden EU-For-
schungsnetzwerkes LINEE, in dem mehrsprachige Schulkontexte quer durch Europa
vergleichend untersucht werden, untermauert.
The European Union has developed a strategy for multilingualism which offers a
perspective on the development of a positive view of linguistic diversity. Against this
background there is one fact which cannot be denied: if multilingualism is to be gener-
ally promoted, then speakers from linguistic minorities – from historical, long-term
residents to new minorities – provides the EU with a linguistic competence which
gives them an outstanding position and opportunity.
In this situation the challenge to society is threefold: to combine the need for the pre­
servation of the original languages with the need for the linguistic integration of im-
migrants and to promote second, third and foreign language acquisition for all.

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30 Rita Franceschini

There is a need for a clear, theoretically sound definition of multilingualism which


takes account of current knowledge in the relevant disciplines. The term multicompe-
tence is also introduced. This attempts to capture the multilingual repertoire of indi-
viduals against the background of their linguistic biographies and to combine this with
their adaptability, which is developed through interaction with their environment.
The article illustrates the linguistic intertwining of the three strands – historical mi-
norities, immigration and foreign language teaching – in a pluralistic society using
examples from Switzerland and from a comparison of European countries. A review
of studies on internal migration in Switzerland, on interaction analyses and on statisti-
cal data on the linguistic integration of speakers of other languages in Switzerland
gives rise to a view of the challenges which lie ahead for Europe. These data are sup-
ported by the first results of the current European Union research network LINEE,
which is undertaking comparative studies of multilingual school contexts in various
European countries.

1. Der veränderte gesellschaftliche Diskurs


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Fragen zur Integration stehen heute in einem ganz anderen gesellschaftlichen


Kontext als noch vor dreißig Jahren oder unmittelbar nach dem Zweiten Welt-
krieg. Nebst den veränderten politischen und sozialen Rahmenbedingungen
hat sich der gesellschaftliche Diskurs zur Integration stark verändert: Im Lau-
fe der Jahre hat er sich beispielsweise professionalisiert, er ist umfassender
geworden und bezieht sich differenziert auf bestimmte Gruppen. Gleichzeitig
hat sich in diesen Jahrzehnten auch der Diskurs um Fragen der Zwei- und
Mehrsprachigkeit verändert: Nachdem lange deren Schädlichkeit im Vorder-
grund gestanden hatte und für eine fast zwangsweise sprachliche Integration
und soziale Assimilation plädiert wurde, wird Mehrsprachigkeit heute hoch
gelobt. Es sind oftmals gar richtiggehende Sonntagsreden zu hören. Man kann
aber auch schon beobachten, dass im gesellschaftlichen Diskurs zumindest da
und dort das Pendel zurückzuschlagen beginnt.
Gleich geblieben ist in beiden Diskursen, dass vorwiegend auf einzelne Min-
derheitengruppen fokussiert wird und nicht auf das Zusammenspiel zwischen
Mehrheitsbevölkerung und neuen (und alten) Minderheiten, auch nicht auf die
Interaktion und die damit einhergehenden gegenseitigen Beeinflussungen
zwischen Mehrheit und Minderheit.
Der vorliegende Beitrag soll nicht einer Sonntagsrede gleichen. Vielmehr sol-
len – in einer Rückschau auf Forschungsergebnisse und in einer ergebnisoffe-
nen Herangehensweise – Resultate verglichen und davon abzuleitende Gedan-
ken zum Thema Integration von Herkunftssprachen angeführt werden.

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 31
2. Die Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit auf europäischer
Ebene und eine umfassende Definition

Es mag manchen entgangen sein, dass in Bezug auf Mehrsprachigkeit in den


letzten Jahren auf europäischer Ebene starke Impulse von Seiten des Euro-
parates und der Europäischen Union ausgegangen sind. So hat z.B. das Eu-
ropäische Parlament Ende 2005 erstmals ein Strategiepapier zur Mehrspra-
chigkeit verabschiedet1 und befürwortet, eine Expertengruppe zu deren
Konkretisierung einzusetzen.2 Diese Rahmenstrategie sieht vor, die Sprach-
kompetenzen sehr weit zu fassen. Es werden sowohl autochthone Minder-
heitensprecher als auch neue Formen der Mehrsprachigkeit, die vor allem
durch die Immigration der letzten Jahrzehnte nach Europa gebracht wurden,
in einer Gesamtschau betrachtet. Unter dem Begriff Mehrsprachigkeit wird
somit Zweisprachigkeit eingeschlossen, sei diese schulisch erworben oder
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sozial herausgebildet; ebenso wird aus der früheren Debatte die Funktiona-
lität in der Beherrschung von Sprachen übernommen – und nicht die totale,
unrealistische Perfektion in den Vordergrund gerückt.

Es ist jedoch mittlerweile schon aus rein wissenschaftlichen Gründen3 nötig,


über eine Definition von Mehrsprachigkeit nachzudenken, welche die weit
reichenden Repertoires von Sprachen einschließt, die heute ganze Gesell-
schaften prägen, ausgehend von individuellen mehrsprachigen Kompeten-
zen. Aufgrund der sich mehrenden Forschungsresultate haben wir mit zu
bedenken, in welcher Weise die kognitiven Fähigkeiten, die mit Mehrspra-
chigkeit einhergehen, und die Kontexte, in denen Mehrsprachigkeit sich po-
tenziell entwickeln kann, aufeinander wirken.

Die folgende Definition (siehe schon Franceschini 2009b) vollzieht defini-


tiv den Schritt zu einer umfassend verstandenen Mehrsprachigkeit. Sie sieht
vor, vier Ebenen der Erscheinungsweisen zu unterscheiden: Die Mehrspra-
1
Rahmenstrategie der EU zur Mehrsprachigkeit (siehe Kommission 2005), http://ec.europa.eu/
(Stand: 05/2011).
education/languages/ archive/doc/com596_de.pdf
2
Es handelte sich um eine elfköpfige Expertengruppe, welche die Rahmenstrategie für Mehr-
sprachigkeit (siehe Anm. 1) kritisch und kreativ beurteilen und „fresh ideas“ in die Diskus­
sion um Mehrsprachigkeit einbringen sollte. Die Autorin dieses Beitrags war Mitglied der
Gruppe und beauftragt, die Forschungsperspektiven im Bereich Mehrsprachigkeit darzule-
gen. Der Bericht der High Level Expert Group (siehe Commission 2007) ist herunterladbar
unter: http://ec.europa.eu/education/policies/lang/doc/multireport_en.pdf (Stand: 05/2011).
3
Die Gründe können hier nicht ausgeführt werden, doch siehe dazu Franceschini (2009a,
2009b).

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32 Rita Franceschini

chigkeit, wie sie sich (1) in einer Makro-Sicht auf eine Gesellschaft zeigen
kann; (2) die Handhabung von Mehrsprachigkeit in Institutionen; so, wie sie
sich (3) in Gruppenverhalten und in Diskursen zeigt; sowie (4) die Mehr-
sprachigkeit, die ein Individuum im Laufe seines Lebens herausbilden kann.

Definition von Mehrsprachigkeit:


Unter Mehrsprachigkeit wird die Fähigkeit von Gesellschaften, Institutionen,
Gruppen und Individuen verstanden, in Raum und Zeit einen regelmäßigen
Umgang mit mehr als einer Sprache in ihrem Alltag zu haben.
Sprache wird dabei neutral verstanden als Varietät, die in Selbstzuschreibung
von einer Gruppe als habitueller Kommunikationscode benutzt wird (somit
sind Regionalsprachen und Dialekte eingeschlossen, wie auch Gebärdenspra-
chen (sign languages)).
Man kann eine gesellschaftliche, institutionelle, diskursive und individuelle
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Mehrsprachigkeit unterscheiden. Mehrsprachigkeit beruht auf der grundlegen-


den menschlichen Fähigkeit, in mehreren Sprachen zu kommunizieren.
Mehrsprachigkeit bezeichnet ein in kulturelle Entwicklungen eingebettetes
Phänomen und ist somit durch hohe Kultursensitivität geprägt.

Heute geht es, wie bereits gesagt, nicht mehr so sehr darum, bei der Defini-
tion von Mehrsprachigkeit die perfekten Kenntnisse und das Wissen um
Regeln in den Vordergrund zu stellen. Sprachkompetenz – als Resultat ver-
standen – meint hier vielmehr, dass ein Sprecher einen flexiblen und situa­
tionsadäquaten Umgang in verschiedenen Varietäten zeigen kann, auch
wenn sich diese Flexibilität über mehrere Sprachen hinweg erstrecken kann.
In diesem Sinne kann man viele Sprachen beherrschen, aber trotzdem
sprachlich inkompetent sein. Sprache kompetent zu verwenden bedeutet,
sich in unterschiedlichen Kontexten adäquat zu verhalten, und zwar nicht
allein, was die Sprachformen betrifft, sondern auch, was die pragmatische
und die kulturelle Adäquatheit betrifft: Um multikompetent zu sein, reicht
es nicht, viele Sprachen nebeneinander zu beherrschen, sondern es braucht
dazu jene Fähigkeit, damit flexibel und situationsgerecht umzugehen. Ein
multikompetenter Sprecher verfügt über zusätzliche Fähigkeiten, die ihm
aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Sprachen und den damit ver-
bundenen Erfahrungen erwachsen.4
4
In Kapitel 5 werden einige dieser Eigenschaften diskutiert. – Der Begriff der Multikompe-
tenz, von Vivian Cook geprägt (siehe Cook 1992), wird hier aus seiner psycholinguistischen
Tradition herausgelöst und einer umfassenderen Definition zugeführt, die mit einer soziolin-
guistischen Sicht kompatibel ist.

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 33
Definition von Multikompetenz:
Multikompetenz bezeichnet die Verbindung zwischen der Präsenz von mehr
als zwei Sprachen in der Kompetenz eines Individuums zusammen mit der
Fähigkeit, diese Sprachen adressaten- und situationsadäquat zu verwenden
und dadurch kulturell flexibel mit ihnen umzugehen.

Multikompetenz bezieht sich somit auf ein komplexes, flexibles, integratives


und adaptierfähiges Verhalten, das in der Regel mehrsprachige Individuen zei-
gen können. Der Begriff Multikompetenz impliziert, dass, wenn zusätzliches
Sprachwissen und -können in einem individuellen Repertoire hinzukommt,
dieses in bereits vorhandenes Wissen integriert wird und somit Adaptierun-
gen stattfinden. Wesentlich zu dieser Definition hat die Arbeit im EU-Projekt
LINEE beigetragen,5 auf das später noch eingegangen wird (siehe Kap. 4).

Die Definition von Mehrsprachigkeit und die ersten Überlegungen zur Multi-
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kompetenz haben ihren Ursprung in Diskussionen, die noch früher aus mehre-
ren Forschungsprojekten heraus entsprungen sind. Eines der ersten war Ende
der 80er Jahre der Binnenmigration in der Schweiz gewidmet (Lüdi et al.
1994), ein weiteres der Interpretation der Sprachdaten aus der Schweizer
Volkszählung von 1990 (Lüdi et al. 1997), bei dem Mehrfachnennungen zum
Gebrauch von mehreren Sprachen in der Familie und auf der Arbeit / in der
Schule erstmals flächendeckend erhoben wurden. Mitte der 90er Jahre startete
dann ein Projekt, das der Übernahme von Minderheitensprachen bei Mehr-
heitssprechern in Basel gewidmet war (Franceschini 1998, 2002a, 2002b). All
diese Forschungserfahrungen haben die Definition von Mehrsprachigkeit und
Multikompetenz mitgeprägt. Nachfolgend sollen in einer Art Rückschau einige
Ergebnisse aus diesen Projekten dargestellt werden, die vor dem heutigen Hin-
tergrund einer erweiterten europäischen Perspektive eine – wie mir scheint –
weiter reichende Interpretation erfahren.6
5
Die Definition ist im Rahmen der Arbeiten im Forschungsnetzwerk LINEE, von dem noch
die Rede sein wird, erarbeitet worden. In einem internen Report, der von Ros Mitchell ver-
fasst worden ist, findet sich eine folgende Arbeitsdefinition: „Multicompetence [...] relates
to the complex, flexible, integrative and adaptable behaviour which multilingual individuals
display. A multicompetent person is therefore an individual with knowledge of an extended
and integrated linguistic repertoire who is able to use the appropriate linguistic variety for
the appropriate occasion.“ (Mitchell et al. 2008, S. 7).
6
Diese Studien hier mit einigem zeitlichen Abstand nochmals Revue passieren zu lassen, war
die Idee von Ludwig M. Eichinger und Albrecht Plewnia: Ihrer Überzeugungsarbeit ist es
geschuldet, dass ich mich dafür habe begeistern lassen. Beiden ergeht mein Dank. Die Ver-
antwortung für das Misslingen dieser Zusammenstellung kann gleichwohl nur mir allein
angelastet werden.

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34 Rita Franceschini

3. Drei Beispiele zum schweizerischen Kontext

In den 90er Jahren war unsere Forschungsgruppe7 mit der Fragestellung be-
schäftigt, wie es sprachlich mit der internen Migration in der Schweiz be-
stellt ist. Es war sehr ungewöhnlich, sich mit Binnenwanderern zu befassen,
nachdem einige Jahrzehnte lang fast ausschließlich über Ausländer in der
Schweiz geforscht worden war (unter den ersten Hoffmann-Nowotny 1973,
Hettlage-Varjas/Hettlage 1984). Wir wussten nicht viel über die Schweizer
(-innen), die zwischen den Sprachgrenzen der Schweiz umsiedeln. Wir
wollten wissen, wie es ihnen dabei sprachlich ergeht, wie die neue Umge-
bung sich auf ihr sprachliches Verhalten, auf ihre Vorstellungen, letztlich auf
ihre Identität auswirkt.

3.1. Einige Eckdaten zur schweizerischen Sprachenlandschaft


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Die Schweiz versteht sich als mehrsprachiges Land, mit einem verfassungs-
mäßig verankerten Status von vier Sprachen (siehe Abb. 1).

Abb. 1: Wohnbevölkerung nach Hauptsprache (in Prozent und absolut), 2000


7
Die Forschungsgruppe stand unter der Leitung von Georges Lüdi (Universität Basel) und
Bernard Py (Universität Neuchâtel) und bearbeitete das Thema „Migration interne, contacts
linguistiques et conversation“ (Nr. 4021-11006). Gefördert wurde das Projekt innerhalb des
Nationalen Forschungsprogrammes „Kulturelle Vielfalt und nationale Identität“. Mitarbei-
ter: Jean-François de Pietro, Rita Franceschini, Marinette Matthey, Cecilia Oesch-Serra,
Christine Quiroga.

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 35
Man verkennt oft, dass in der Schweiz zudem 9 Prozent der Wohnbevölkerung
weitere Sprachen als Hauptsprache angeben, was mit dem hohen Anteil an
ausländischen Personen (siehe unten Tab. 1) in Zusammenhang steht.

Wenn die Mehrsprachigkeit in der Schweiz dargestellt wird, kommt meist eine
Karte zum Einsatz, welche die vier traditionellen Sprachgebiete abbildet. Das
Bild kommt dadurch zustande, dass Gemeinden mit einem mehr als 50-pro-
zentigen Anteil an Sprechern einer der Landessprachen – Deutsch, Franzö-
sisch, Italienisch oder Rätoromanisch – dargestellt werden. Die Sprecher ha-
ben eine dieser Sprachen als Hautsprache8 angegeben.

Das Bild, das solche Karten vermitteln, ist sehr prägend. Es fußt und geht
zurück auf das schweizerische Territorialprinzip und bestimmt es dadurch
mit. Letztlich besteht das Territorialprinzip auf einer einsprachigen Sichtwei-
se, da es vermittelt, dass man in einem Sprachgebiet lebt, in dem klar eine
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Sprache vorherrschend ist – und dies ungeachtet der Kontakte, die sich im
Alltag ergeben können. Diese Karten bilden somit nicht einmal eine gesell-
schaftlich erlebbare Mehrsprachigkeit ab, sondern viel eher das kollektiv kon-
struierte Bekenntnis zu einer Sprache – zu einem Kern, der als einsprachig
konzipiert wird. Übergangsgebiete werden dabei jedoch dichotomisch ge-
schnitten, zweisprachige Sprecher zu einer eindeutigen Wahl gezwungen.

Die hier für die Abbildung gewählte Karte (siehe Abb. 2) ist deshalb unge-
wöhnlich, da sie einen Kompromiss darstellt: Sie zeigt diese Dichtezonen auf
und unterscheidet zwischen dichten und weniger dichten Gebieten, in denen
Sprecherinnen und Sprecher sich zu einer Sprache bekannt haben. Damit lässt
die Karte sehr wohl zu, jene Gebiete zu bestimmen, in denen Sprecher der vier
Landessprachen verdichtet wohnen.

8
Diese Frage lautete – wie in vorangehenden Jahren – „Welches ist die Sprache, in der sie
denken und die Sie am besten beherrschen? (Nur eine Sprache angeben.)“. Eine Neuheit bei
der Volkszählung 1990, die den Sprachgebrauch in zwei Makrokontexten erkundete, waren
Mehrfachantworten: in der Familie und an der Arbeit, bzw. in der Schule. Diese Frage lau-
tete: „Welche Sprache(n) sprechen Sie regelmäßig? (Hier kann mehr als eine Antwort gege-
ben werden.)“. Die hier abgebildete Karte (Abb. 2) bezieht sich lediglich auf die erste Frage.
Die Volkszählungen finden alle zehn Jahre statt.

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36 Rita Franceschini
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Abb. 2: Wohnbevölkerung nach Hauptsprache, 2000: Landessprache

Für unsere Belange ist im Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit in der


Schweiz von Interesse, dass in der Schule die jeweils andere Landessprache
als Zweitsprache gelehrt wird; eigentlich findet der Unterricht überwiegend
im Modus eines klassischen Fremdsprachenunterrichts statt. So wird z.B.
Französisch in der deutschsprachigen Schweiz meist von Deutschsprachigen,
die dafür eigens ausgebildet werden, unterrichtet; in der Französischsprachi-
gen Schweiz verhält es sich entsprechend umgekehrt. Dort sind es in der Re-
gel Französischsprachige, die Deutsch unterrichten.

Hinzu kommt – in einem ungleichen Gefälle – eine diglossische Barriere: In


der französischsprachigen Schweiz wird la langue de Goethe gelehrt. Siedelt
ein Französischsprachiger mit schulischen Kenntnissen in die Deutschschweiz
über, hat er den Sprachkontakt mit Schwyzertütsch zu bewältigen. Die Schwei-
zerdeutschen Dialekte, die untereinander mehrheitlich gut verständlich sind,
haben die Funktion einer unmarkierten Umgangssprache, durch alle Schich-
ten hindurch. Aus der französischsprachigen Schweiz kommend, kann man
demnach Schwierigkeiten haben, diese Wertung und diesen Gebrauch nach-

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 37
zuvollziehen; ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, diese Varietäten un-
mittelbar zu verstehen, wenn man in der Schule Standarddeutsch gelernt hat.9
Die Schweiz ist nicht nur geprägt von ihren vier historisch verwurzelten offi-
ziellen Landessprachen, sondern auch von Sprachen, die durch die Immigra­
tion der letzten Jahrzehnte in die Schweiz gebracht wurden. Eine erste grobe
Annäherung an diese Vielfalt kann mit Bezug auf die ausländische Wohnbe-
völkerung erahnt werden. Bei einer Wohnbevölkerung von rund 7,7 Millionen
weist die Schweiz 2008 einen Anteil von 21,7 Prozent ausländischer Staats-
bürger auf (Quelle: Bundesamt für Statistik). Fremdsprachige sind zudem un-
terschiedlich auf die Landesteile verteilt: In der französischsprachigen Schweiz
lebt z.B. die Mehrheit der portugiesischen Staatsbürger, die Personen mit tür-
kischer Staatsangehörigkeit sind stark in Basel und in der Ostschweiz vertre-
ten, etc. Unabhängig von der Nationalität werden folgende Nicht-Landesspra-
chen in der Schweiz als Hauptsprachen angegeben:
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Serbisch und Kroatisch 103 300


Albanisch 94 900
Portugiesisch 89 900
Spanisch 76 700
Englisch 73 400
Türkisch 44 500
Tamil 21 800
Arabisch 14 300
Niederländisch 11 800
Russisch 8 600
Chinesisch 8 300
Thai 7 600
Kurdisch 7 500
Mazedonisch 6 400

Tab. 1: Die häufigsten Nicht-Landessprachen in der Schweiz in absoluten Zahlen (gerundet)


(Quelle: Bundesamt für Statistik, Eidgenössische Volkszählung 2000)10

9
In der französischsprachigen Schweiz sind nur noch Überreste von dialektalen Varietäten zu
finden (die sog. patois), während in der italienischsprachigen Schweiz der Dialekt sehr wohl
mehr als nur residual vorhanden ist, doch ist er nicht mit denselben sozial neutralen Konno-
tationen versehen wie der Dialektgebrauch in der Deutschschweiz.
10
Die Angaben sind dem pdf-Dokument „Bevölkerungsstruktur, Hauptsprache und Religion“,
des Bundesamtes für Statistik entnommen (siehe Bundesamt für Statistik BFS 2003).

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38 Rita Franceschini

3.2 Binnenwanderer in der Schweiz: Fremde im eigenen Land

Die Binnenwanderer, die wir Ende der 80er Jahre des letzen Jahrhunderts un-
tersucht haben, waren Schweizer Einzelpersonen oder Familien, die von ei-
nem Sprachgebiet in ein anderes umgesiedelt waren. Wir haben sie in den
ersten Monaten ihres Umzuges interviewt und sie dann regelmäßig besucht.
Es wurden auch Tests durchgeführt, wir haben Aufnahmen gemacht und ma-
chen lassen, und baten die erwachsenen Informanten, ihre sprachlichen Netz-
werke aufzuzeichnen. Die Erwachsenen waren beruflich qualifizierte bis hoch
qualifizierte Personen.11
Die Interviews erweisen sich auch heute noch als interessante Quelle, um Vor-
stellungen und Veränderungen in den persönlichen Einschätzungen zu verfol-
gen, wie sie in den ersten Jahren einer Migration auftreten. Der Interviewleit-
faden war nicht stark vorstrukturiert, so dass die Interviewten viel Raum
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nutzen konnten, um eigene Überlegungen auszuführen. Diese Interviews sind


heute noch hilfreich, um die Umbrüche und Wertzuschreibungen, allgemein
die Effekte einer Migration, nachzuzeichnen: Es ist evident, dass unsere Bin-
nenwanderer gegenüber Immigranten aus dem Ausland klar einen anderen
juridischen Status haben. Umso interessanter ist es, dass sie mit ähnlichen
Problematiken befasst waren wie die bisher analysierten Immigranten. Die
Übereinstimmungen – und nur um diese soll es hier gehen – betreffen in erster
Linie folgende Vorstellungen und Ängste:
1) Vorstellungen zur Wandlung der Identität: Fragen dazu waren allgegen-
wärtig, sei es in Bezug auf sich selbst, sei es in Bezug auf die eigenen
Kinder, die nun in einer anderen Umgebung aufwachsen.
2) Ängste bezüglich der Kontinuität des Kontaktes mit dem Herkunftsgebiet
und der Herkunftsfamilie: Themen wie die Loslösung vom Herkunftsge-
biet, die Vorkehrungen zum Erhalt des Kontaktes, die Bewahrung der Loy­
alitäten etc. – in einigen Fällen gar die Mythisierung des Herkunftsgebietes
– wurden von allen Informanten angesprochen.
3) Fragen, die die sprachliche Erziehung der Kinder betrafen, waren eben-
falls allgegenwärtig: Die Fragen kreisten oft um die Sprachwahl in der
Familie. Vornehmlich ging es darum, wie stark die Umgebungssprache in
die Familie hineinwirken darf. Damit verbunden war die Angst vor Verlust
der Herkunftssprache und die Folgen davon, wie die Gefahr der Entfrem-
dung von der Herkunftsfamilie, vor allem von den Großeltern.
11
Fast 80 Personen wurden auf diese Weise intensiv longitudinal untersucht. Zusätzliche Fra-
gebogenuntersuchungen betrafen ein Mehrfaches an Informanten. Zu weiteren Details vgl.
die Gesamtpublikation zum Projekt Lüdi et al. (1994).

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 39
Auf der anderen Seite – sozusagen als ‘Gegenaltar’ – war das praktische
sprachliche Verhalten, das wir in Aufnahmen bannen konnten, ebenso interes-
sant: Wir konnten sehr bald im Verhalten der Binnenwanderer erste Integratio-
nen von Elementen aus der Umgebungssprache finden sowie eine schwanken-
de Haltung gegenüber Einschüben aus der Umgebungssprache in der eigenen
Rede oder – was häufiger beobachtet wurde – in derjenigen der Kinder. Es gab
aber auch Rückweisungen und Ängste, nicht mehr ‘rein’ zu sprechen. Kurz:
Normunsicherheiten wurden nicht nur bewusst thematisiert, sondern konnten
auch in den Aufnahmen und Tests nachgewiesen werden. Alle Binnenwande-
rer waren mit der Problematik des Erwerbs der neuen Sprache befasst: Sie
mussten mehrsprachig werden, und die Kinder wurden es sehr schnell.
Es ist auffällig, wie bei diesen Binnenwanderern ähnliche Problematiken an-
gesprochen und Phänomene bemerkbar sind, wie man sie aus der vorausge-
henden Migrationsforschung kannte. Diese hatte sich, wie kurz schon ausge-
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führt, fast ausschließlich auf ausländische Migranten, und ebenso fast


ausschließlich auf jene Migration konzentriert, die die hiesigen Gesellschaf-
ten in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts unterschichtet hatte.
Der Weg in die neue sprachliche Umgebung und die damit verbundene Aus­
einandersetzung mit einer Vielzahl von Neuerungen brachte auch für unsere
Binnenmigranten – wenn man so will, in einer privilegierten Migrationssitua-
tion – eine Umgestaltung, manchmal gar eine Umkrempelung der Denkwei-
sen, des Alltags, ja der Familienbeziehungen mit sich. Auch bei ihnen betraf
die Migration im Kern die Neustrukturierung auf sozialer, emotionaler und
sprachlicher Ebene. Der Prozess, der durch die Migration ausgelöst wurde,
betraf nicht nur das einfache Anwenden oder Dazulernen oder Vertiefen einer
bereits in einer Schule erlernten Sprache. Es war mehr: Man wurde kompetent
im Verstehen des Anderen, nicht allein in der Beherrschung seiner Sprache;
man wurde kompetent durch die Praxis der alltäglichen Kontaktmöglichkei-
ten und mit allem, was an Feinheiten dazugehört. Das Kontextwissen wurde
angereichert, das pragmatische Wissen dazu. Das, was eigentlich zu einer
Kommunikationskultur gehört, kam zum Schulwissen dazu.
Migration als Erfahrung, die alles neu strukturiert, bei der man sich in Frage
gestellt sieht, war auch bei diesen Binnenwanderern sehr offensichtlich, und
dies trotz Rechtssicherheit bei Verbleiben im eigenen Land. Gerade durch das
Festhalten dieser Variable – Schweizer Bürger im eigenen Land und dem da-
mit verbundenem Status – werden die Parallelen zu Immigranten aus dem
Ausland so eklatant. Und damit gibt es mehr als nur einzelne Anhaltspunkte,
dass man Aspekte dieser Migrationserfahrung als geteilte Erfahrung extrapo-

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40 Rita Franceschini

lieren kann, die tief menschliches Erleben berührt und sich im sprachlichen
Verhalten niederschlägt: Der Schrecken, die Kinder nicht mehr zu verstehen,
wenn sie untereinander die Umgebungssprache fließend zu sprechen begin-
nen; der Riss, der durch die Familie geht, und der Keil, der durch falsch ver-
standene schulische Intervention in die Familien getrieben wird.
Wir hatten in dieser Studie, wie bereits erwähnt, auch die persönlichen Bezie-
hungsnetzwerke erhoben, um dabei vor allem die Kontakte im neuen Sprach-
gebiet in den ersten Jahren der Umsiedlung zu erheben. Es hat sich auch hier
bestätigt, was vor uns schon beispielsweise die Gruppe des Heidelberger For-
schungsprojektes in den 60er und 70er Jahren12 nachgewiesen hatte. Dieses
Projekt befasste sich mit dem spontanen Deutscherwerb von Immigranten in
Deutschland. Ein Resultat des Heidelberger Forschungsprojekts war, dass die
engen freundschaftlichen Kontakte die entscheidende Variable darstellten, die
den besseren oder schlechteren Erwerb von Deutsch erklären konnte: Es war
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nicht allein die Länge des Aufenthalts beispielsweise des portugiesischen Ar-
beiters in Mannheim, nicht allein das Alter bei der Einreise, nicht die eventu-
ellen Vorkenntnisse der deutschen Sprache, die die nach Jahren erreichte
Sprachkompetenz dieser Erwachsenen erklärte. Es war die Intensität des Kon-
taktes mit deutschen Freunden im Alltag.
Dieselbe Schlussfolgerung mussten auch wir aus der Studie zur Binnenmigra­
tion ziehen: Je mehr unsere Informanten in ihren Netzwerken Deutschsprachige
nachwiesen, umso besser waren nicht nur die Sprachkompetenzen in der Umge-
bungssprache, sondern generell auch die Einstellungen zur neuen Umgebung.
Letzteres Resultat mag man mit Ernüchterung aufnehmen. Es verweist darauf,
dass Spracherwerb und Integration Hand in Hand gehen und in einem dichten
sozialen und emotionalen Umfeld am ehesten gelingen. Sprachkurse allein rei-
chen nicht aus – was man schon lange weiß. Dies hat zur Folge, dass ‘die Ein-
heimischen’ eine wichtige Rolle, ja die entscheidende Rolle bei der sprachlichen
und sozialen Integration zu spielen scheinen. Spracherwerb gelingt durch Kon-
takt, emotional positiven Kontakt. Das Resultat mag auch ernüchternd wirken,
weil zur erfolgreichen sprachlichen und sozialen Integration viel mehr noch als
die Spracherwerbsforschung die Wohnbaupolitik gefragt zu sein scheint. Es ist
eminent wichtig, eine Umgebung zu schaffen, in der leicht Kontakte zustande
12
Siehe HPD (1975), d.h. das Heidelberger Forschungsprojekt Pidgin-Deutsch, das sich mit
der Sprache ausländischer Arbeiter befasst hatte. Federführend wirkten dabei Wolfgang
Klein, Norbert Dittmar und Wolfgang Wildgen mit. Das Projekt eröffnete breite Debatten
und steht heute in seiner Wirkung als Pionierleistung im Bereich der Spracherwerbsfor-
schung da, die sich mit nicht-gelenktem Spracherwerb von Erwachsenen befasst.

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 41
kommen; Viertel und Wohnungen so zu bauen und zu vermieten, dass es dem
Spracherwerb nützt, so dass Sprecher in Alltagsnetzwerken und Freundschaften
untereinander Verbindungen positiver Natur knüpfen können.

3.3 Die Rolle der Interaktion mit der Umgebung

Die sprachwissenschaftlichen Migrationsstudien haben seither ganz allge-


mein einen Paradigmenwechsel vollzogen, der auch in den benachbarten So-
zialwissenschaften beobachtet werden kann; genauer gesagt rühren sie von
dort her. Ich meine damit die Bewegung weg von der Fokussierung auf das
einzelne Individuum und seine Unzulänglichkeiten hin zur Interaktion. Das
sich entwickelnde Paradigma besagt, dass sich das Individuum in der Interak-
tion formt und seine Umgebung mitdefiniert. In der Interaktion erwirbt die
Person das Wissen um den Umgang mit der neuen Sprache, mit neuen Verhal-
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tensweisen, nimmt Gewohnheiten an, gibt eigenes weiter. Die Integration


wird geformt durch die Erfahrungen in Interaktionen, und Interaktionen sind
kulturell spezifisch, bis ins Detail. Wenn die Interaktionen kulturspezifisch
sind, dann müsste die Integration in unterschiedlichen Kulturen unterschied-
lich verlaufen. Türkischsprachige würden sich beispielsweise in einer Kul­-
tur X anders, vielleicht besser, integrieren als in der Kultur Y, auch wenn sie
– es sei dies hier übertrieben didaktisch dargestellt – im Jahr Z gleichaltrig aus
demselben Dorf emigriert sind. Auf die Interaktionen im neuen Gebiet käme
es an – demnach auch auf die einheimische Kultur, auf die die Immigranten
treffen. Der Mikrokosmos Schweiz lässt es zu, Immigrantengruppen in den
drei größeren Sprachgebieten (das rätoromanische Sprachgebiet hier einmal
ausgeschlossen) miteinander zu vergleichen.
In einer Folgestudie, die der Auswertung der Sprachdaten der Schweizer
Volkszählung 1990 gewidmet war (Lüdi et al. 1997), sind wir unter anderem
auch der sprachlichen Integration fremdsprachiger Personen nachgegangen
(Franceschini 1997).13 Aus dieser Untersuchung will ich ein Resultat hervor-
heben, das man durchaus kontrovers diskutieren kann.
Wir hatten die Möglichkeit, die Daten der Sprachen, die in der Familie Ver-
wendung finden, statistisch zu nutzen und diese in Vergleich mit der Umge-
bungssprache zu setzen (siehe Anm. 8).
13
Dieser Forschungsgruppe gehörten an: Francesca Antonini, Sandro Bianconi, Rita
Frances­chini, Jean-Jacques Furrer, Christina Quiroga-Blaser, Adrian Wymann; die Koor-
dination oblag der Schreibenden, das Gesamtprojekt leiteten Georges Lüdi (Universität
Basel) und Iwar Werlen (Universität Bern). Vgl. die Gesamtpublikation zum Projekt: Lüdi
et al. (1997).

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42 Rita Franceschini

Statistisch umgesetzt kann der Grad der sprachlichen Integration anhand jenes
Ausmaßes gemessen werden, in dem die Umgebungssprache in der Familien-
kommunikation einer fremdsprachigen Familie Verwendung findet. Dies soll
hier als ein möglicher Grad der sprachlichen Integration gelten. Wir konnten
statistisch nachweisen, dass dieselben Sprachgruppen in den drei Sprachgebie-
ten unterschiedlich auf die sie umgebende Mehrheitssprache reagieren. In ei-
nem Gebiet war es leichter, dass die Umgebungssprache in die Familie Einzug
hielt, im anderen Gebiet nicht. Man stelle sich nochmals bildlich vor: Zwei Fa-
milien aus demselben türkischen oder kurdischen Dorf wandern aus. Eine Fami-
lie siedelt sich in Zürich an – also in der Deutschschweiz –, die andere in Lau-
sanne – also in der französischsprachigen Schweiz. Die Familie wird in einem
Sprachgebiet die Umgebungssprache in einem größeren Ausmaß aufnehmen als
im anderen Landesteil. Diese Tendenz war übereinstimmend für alle größeren
Sprachgruppen, über zwei Jahrzehnte hinweg. Die Resultate der Volkszählung
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2000 haben sich in einem Zehnjahresabstand wiederbestätigt.

Abb. 3: Aufnahme der Ortssprache ins Repertoire der Familie von ausländischen Sprecher-
(inne)n der sechs wichtigsten Nichtlandessprachen nach Sprachgebieten und Spra-
chen, 2000 (exklusive Personen ohne Angaben)

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 43
Im deutschen Sprachgebiet wird in fremdsprachigen Familien am wenigsten
Deutsch aufgenommen. Dies geschieht im selben Ausmaß weder in der fran-
zösischsprachigen Schweiz noch in der italienischsprachigen Schweiz. Um es
nochmals deutlich zu machen: Es hängt hier nicht von den Herkunftssprachen
ab. Diese sind recht unterschiedlich, wie man aus Abbildung 3 ersehen kann.
Die Variable, die verändert wird, ist die Sprache der Umgebung. Von ihr – und
den damit einhergehenden kulturellen Wertungen – hängt die Aufnahme der
Umgebungssprache in das Repertoire der Familie ab.

Man kann dieses Resultat unterschiedlich interpretieren und werten, je nach


Perspektive:

1) Man kann sagen, dass der Assimilationsdruck in den romanischsprachigen


Gebieten (d.h. in der italienisch- und französischsprachigen Schweiz) grö-
ßer ausfällt: Der Anpassungsdruck ist höher, die Umgebungssprache dringt
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in einem höheren Ausmaß in die Familienkommunikation ein und kann in


der Folge die Herkunftssprache verdrängen. Der Spracherhalt der Her-
kunftssprache kann gefährdet sein.

2) Aus leicht anders gelagerter Perspektive kann man sagen, dass die Integra-
tionskraft in den romanischsprachigen Gebieten höher ist, da die ausländi-
schen Mitbürger die Sprache der Umgebung – d.h. Französisch und Italie-
nisch – in höherem Ausmaß in ihrer Familienpraxis integrieren als in der
Deutschschweiz.

3) Aus einer gänzlich anderen Perspektive kann man hingegen sagen, dass
sich in der Deutschschweiz die Herkunftssprachen in den Familien besser
erhalten können, da die Umgebungssprache nicht leicht in die Familien-
praxis Aufnahme findet.

4) Man kann auch sagen, dass es in der Deutschschweiz als Immigrant


schwieriger ist, sich sprachlich zu integrieren, da mit der deutschen Spra-
che eine größere Barriere zu überwinden ist, bis sie in die Familienpraxis
aufgenommen wird, als in den anderen Sprachgebieten.

Auf jeden Fall ist offensichtlich, dass sich die sprachlichen Umgebungen mit
deren Kommunikationskultur auf die Integration von Fremdsprachigen selek-
tiv auswirken – und dies bei allen Fremdsprachigen, ungeachtet der Nähe oder
Ferne der typologischen Sprachstruktur. Selektiv ist dabei die vorherrschende
Umgebungssprache im jeweiligen Sprachgebiet.

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44 Rita Franceschini

Bezogen auf die Schweiz zumindest kann man sagen, dass es bei der sprach-
lichen Integration – gemessen an der Integration der Umgebungssprache im
Sprachhabitus fremdsprachiger Familien – nicht allein auf die Immigranten
ankommt, sondern auch auf die Interaktion im jeweiligen Gebiet.
Dass dieser Kontakt mit vielen Anderssprachigen nicht spurlos an den altein-
gesessenen Schweizern vorbeigegangen ist, war Ziel einer anderen Untersu-
chung (Frances­chini 1998): Aus Aufnahmen mit deutschsprachigen Händlern
in einem durchschnittlich sprachlich gemischten Viertel in Basel (Gundeldin-
gen), konnte nachgewiesen werden, in welcher Weise sie diese Minderheiten-
sprachen in ihr passives und aktives Repertoire aufgenommen hatten (ohne
diese Sprachen in der Schule gelernt zu haben). Händler konnten Sprachen
von Minderheiten in alltagspraktischen Zusammenhängen verwenden, in un-
terschiedlichen Mischformen (siehe Franceschini 1999a, 2001, 2002a, 2002b).
Wenn genügend Interaktionen stattfinden, kann die Sprache der Minderheiten
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sozusagen auf die Mehrheit überspringen. Dieses Phänomen habe ich „Sprach­
adoption“ genannt (Franceschini 1999b); andere, die ähnliche Phänomene un-
ter Jugendlichen untersucht haben, „crossing“ (Rampton 1995). Es geht dabei
um dasselbe Phänomen, nämlich darum, dass Mehrheitssprecher sich Teile
von Minderheitensprachen aneignen. Damit de-ethnisieren sich Minderhei-
tensprachen ein Stück weit. Das Phänomen ist nur unter der Annahme einer
intensiven Interaktion zwischen Sprachgruppen erklärbar.

3.4 Fazit über die drei Schweizer Beispiele hinaus

Am Beispiel der Schweiz lassen sich gut Szenarien aufzeigen, die uns, wie
mir scheint, in Zukunft beschäftigen werden. Auch die Schweiz sieht sich mit
der Problematik der Integration von Neuzuzüglern konfrontiert. Mit einem An-
teil von über 21 Prozent ausländischer Mitbürger hat die Schweiz einen der
europaweit höchsten Anteile an ausländischen Staatsbürgern.14 Steigend ist
der Anteil der Bürger aus außereuropäischen Ländern. Die Schweiz ist ein seit
alters her mehrsprachiges Land – wie eigentlich mit wenigen Ausnahmen
alle Länder, wenn man genauer hinsieht. Doch die Schweiz versteht sich auch
als solches, nämlich als viersprachiges Land. Dies macht einen feinen, doch
umso wichtigeren Mentalitätsunterschied aus: Die Schweiz versucht die Tra-
14
Auf das Total der ausländischen Wohnbevölkerung sind 17,5 Prozent italienische, 14,1 Pro-
zent deutsche und 11,8 Prozent portugiesische Staatsbürger, gefolgt von Personen aus Ser­
bien und Montenegro (11,1 Prozent), 4,3 Prozent haben die türkische Staatsbürgerschaft
(Bundesamt für Statistik: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.
html (Stand: 05/2011)).

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 45
dition des Zusammenlebens von vier Sprachen – nach einem Territorialprin-
zip – zu pflegen. Diese Einstellungsebene ist bei Fragen rund um die Wert-
schätzung von Sprachen von hoher Bedeutung. Eine positive Einstellung
bildet eine tragfähige Ausgangsbasis, um die zukünftigen Herausforderungen
zu meistern. Sie können in die folgenden sieben Teilaspekte gegliedert
werden:

1) Die sprachliche Vielfalt nimmt als Folge weltweiter Globalisierung zu.


Mobil sind nicht nur Gruppen, die unterschichten, sondern auch qualifi-
zierte bis hoch qualifizierte.
2) Migranten stehen weit mehr unter Druck als Einheimische, sich über
Mehrsprachigkeit Zutritt zum Arbeitsmarkt zu verschaffen; darin stehen
sie autochthonen Minderheiten in nichts nach, denn:
3) Seit jeher waren sprachliche Minderheiten in einem Staatengebilde stärker
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darauf angewiesen, mehrsprachig zu sein, und sei es nur deshalb, um mit der
weiteren Umgebung zu kommunizieren und wirtschaftlich zu bestehen.
4) Diese beiden Gruppierungen – alteingesessene, autochthone und neue
Migrantengruppen – bringen erhöhte Mehrsprachigkeit in eine Gesell-
schaft ein. Minderheitengruppen werden damit Vorreiter einer gewünsch-
ten Entwicklung.
5) In den Schulklassen erhöht sich der Anteil an Kindern, die lebensgeschicht-
lich potenziell seit frühester Kindheit an mit mehr Sprachen Umgang ha-
ben. Diese Erfahrungen können für den Spracherwerb genutzt werden, da
erwiesen ist, dass vorgängige Erfahrungen sich für den Erwerb weiterer
Sprachen als stützend erweisen.
6) Durch vermehrten und vorgezogenen Fremdsprachenunterricht kommen
nun auch Kinder aus eher einsprachig gestalteten Familien zum Erwerb
einer, meist von zwei schulischen Fremdsprachen.
7) Kontakte zwischen den Kindern mit mehr oder weniger lebensgeschichtli-
cher Mehrsprachigkeit lassen für alle potenziell mehr Erfahrungen zu un-
terschiedlichen Sprachen zu, was auch positiv für den Unterricht genutzt
werden kann.
Diese Herausforderungen betreffen unterschiedliche gesellschaftliche Sphä-
ren und Konstellationen von Mehrsprachigkeit. Sie legen es nahe, nicht nur im
Fremdsprachenunterricht, sondern auch im alltäglichen Umgang die Gelegen-
heiten zum Kontakt und zum Erwerb von Sprachen zu nutzen.

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46 Rita Franceschini

Der schulische Kontext ist mit Sicherheit ein privilegierter Ort sekundärer
Sozialisation, weshalb diesem im Zusammenhang mit der Förderung von
Mehrsprachigkeit in seiner herausragenden Rolle immer besondere Beobach-
tung zuteil wird. Doch innerhalb des schulischen Rahmens können nicht alle
Probleme gelöst werden, noch können alle Herausforderungen angegangen
werden. Denn in jedem schulischen Kontext spiegelt sich ein Stück weit die
lokale Gesellschaft wider, welche sich durch die Schule reproduziert, gerade
in ihren gesellschaftlichen Werten und Haltungen. Interventionen sollten dazu
dienen, dass beide Systeme – Schule und Gesellschaft – Impulse aufnehmen
und sich gegenseitig stimulierend weiter entwickeln. Der Frage, wie solche
Impulse aussehen könnten, geht ein europäisches Forschungsprojekt nach. Es
ortet gerade in schulisch mehrsprachigen Kontexten eine Handhabung von
Mehrsprachigkeit, in denen Kinder und Erwachsene nolens volens Lösungs-
ansätze entwickeln, die den neuen Herausforderungen gerecht zu werden ver-
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suchen. Sie werden dabei oft alleine gelassen und erfinden Vorgehensweisen,
die Richtlinien, aber auch lokal auftretende Problemlagen in Einklang zu brin-
gen versuchen. Noch zu wenig wird das Potenzial gesehen, das in einer sol-
chen Komplexität steckt.

4. Mehrsprachigkeit in der Schule: Die Untersuchungen im


EU-Netzwerk LINEE

Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Schule (wie die Gesellschaft selbst, für
die sie steht) in einem umfassenden Veränderungsprozess befindet, der weit
über die Handhabung von rein sprachlicher Diversität hinausgeht. Sprachlich
heterogene Gruppen lassen sich nicht wegdiskutieren, denn sie sind konstitu-
tiv für eine neue Realität, die – nebenbei gesagt – so neu auch wieder nicht ist.
Wenn man heute z.B. in einem urbanen Kontext vor einem Klassenverband
steht, dann findet man durchmischte Gruppen, die eine biografisch entstan-
dene Mehrsprachigkeit in den Schulalltag einbringen und solche, die neu, bei-
spielsweise im Fremdsprachenunterricht, mit anderen Sprachen konfrontiert
werden. Man kann z.B. mit neu angekommenen Kindern mit Migrationshin-
tergrund, mit Bildungsinländern (d.h. in der Aufnahmegesellschaft geborenen
und sozialisierten Kindern) und mit Kindern aus Familien ohne aktuellen Mi-
grationshintergrund konfrontiert sein. Ein stark sprachlich durchmischtes Bild
ergibt sich auch, seit altersher, in Sprachgrenzgebieten.
Dem Vergleich von Schulsystemen in Europa in Bezug auf die Handhabung
von sprachlicher Diversität widmet sich eines der vier Themen im EU-Exzel-

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 47
lenznetzwerk LINEE.15 In Großbritannien, Österreich, Ungarn, Tschechien
und Italien wurden Untersuchungen speziell in Gebieten durchgeführt, in de-
nen Sprachminderheiten und Migrantenkinder das Schulleben stark prägen.
Einzelne Situationen in Southampton (mit einer starken polnischen Kompo-
nente) und Wien, die Situation ungarischer Minderheiten in Mitteleuropa und
diejenige ladinischer Minderheiten in Norditalien wurden beobachtet und ver-
glichen. Zudem wurden der Erwerb der englischen und deutschen Sprache
(als Zweit- und Fremdsprache) sowie die Einstellungen der verschiedenen
Akteure in Bezug auf Mehrsprachigkeit analysiert.16 Es ist hier nicht möglich,
auf die Fülle von Resultaten einzugehen, die gerade durch das heuristische
Instrument des Vergleichs in einmaliger Deutlichkeit hervortreten. Es seien
lediglich zwei Punkte herausgegriffen.

Alle Schulrealitäten sind von einem hohen Grad an Heterogenität gekenn-


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zeichnet, und alle Akteure befassen sich damit, in den meisten Fällen explizit.
Lehrpersonen sehen sich mit unterschiedlichsten Sprachkompetenzen kon-
frontiert, hinzu kommt nun – meist schon auf der Primarschulebene – der
Früherwerb einer weiteren Sprache. Die traditionelle Lehrerausbildung hat sie
darauf nicht vorbereitet. Die Lehrer bemerkten dabei – und dies entgegen ei-
niger tradierter Meinungen –, dass gerade Kinder mit mehrsprachigen Erfah-
rungen bei einer neu zu erwerbenden Sprache sich nicht selten als besonders
geschickte Lerner entpuppen. Diese Bobachtung ging in den meisten Fällen
gegen die Erwartungen der Lehrpersonen selbst, die allgemein noch stark in
der Ideologie eines muttersprachlich-einsprachigen Unterrichts leben, mit al-
lem, was an Annahmen damit einhergeht. Wir konnten zudem beobachten,
wie Kinder untereinander sich gegenseitig helfen – als peer learning bekannt
15
Das Netzwerk LINEE (Languages in a Network of European Excellence) wird innerhalb des
VI. Rahmenprogramms der EU gefördert (2006-2010, Nr.: CIT4-2006-28388). Die Projekt-
homepage ist erreichbar unter: http://www.linee.info. Vgl. auch den Beitrag von Patrick Ste-
venson in diesem Band.
16
Es wurde eine multimethodologische Herangehensweise, mit Triangulation, angewendet.
Zur Datenbasis trugen bei: Feldbeobachtungen, Analyse von Dokumenten, Audio- und Video-
aufnahmen, qualitative Einzelinterviews, Focus-Gruppen, Fragebogenuntersuchungen,
Matched-Guise-Tests. Die Herangehensweise kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Man
vergleiche zur Orientierung die Web-Seite des Netzwerks (http://www.linee.info). In diesem
Forschungskonsortium der Area C: Multilingualism and Education haben mitgearbeitet: Ros
Mitchell, Jennifer Jenkins, Anna Fenyvesi, Silvia Dal Negro, Paul Videsott, Gessica De An-
gelis, Don Peckham, Elena Ioannidou, Alessia Cogo, Karolina Kolocsai, Tamah Sherman,
Dagmar Sieglova, Gerda Videsott, Enrica Cortinovis, Christina Reissner, Amanda Hilmars-
son-Dunn, Veronica Irsara, Marie-Luise Volgger, Zsuzsanna Dégi, Zsuzsanna Kiss, István
Rabec. Ich bin allen für die anregenden Diskussionen und Impulse zu Dank verpflichtet.

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48 Rita Franceschini

– und den Spracherwerb so autonom weitertreiben. Nur selten wurde dies im


Schulumfeld bemerkt, noch wohlwollend gefördert. Im Projekt waren wir
stark mit den verschiedenen Facetten der Einstellungen zu Sprachfragen be-
fasst. Die differenziert und über Triangulation mehrer Datensätze angegange-
ne Problematik erweist sich – global gesehen – als wichtige treibende Kraft,
die bis hin zu alltagspraktischen Handlungen den Umgang mit sprachlicher
Diversität lenkt. Wir können z.B. nachweisen, wie stark sich Einstellungen
zur eigenen Sprachfähigkeit auf die Schulpraxis auswirken: Allein die Tatsa-
che, dass Lehrer dem eigenen Erwerb von Sprachen positiv gegenüberstehen,
wirkt sich auf die Beurteilung zu mehrsprachigen Kindern aus, vor allem zu
denjenigen mit Migrationshintergrund.
Allgemein kann man bemerken, dass die praktische Handhabung von sprach-
licher Diversität ein Schulsystem zu einem gezielten Umgang mit Differenz
anregt: Es muss bewusst darauf Antworten finden. Dabei sind nicht selten
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eigene Annahmen vieler Akteure – vorab in leitender Funktion – in Frage ge-


stellt: Im Umgang mit Mehrsprachigkeit muss vermehrt das Verständnis gesi-
chert und es müssen eigene Stereotypien überwunden werden. Das Lernpo-
tenzial in solchen Situationen wäre für den Einzelnen und für das gesamte
System groß. Es ist jedoch noch viel Arbeit zu tun, um Lehrpersonen nicht nur
für den Umgang mit der Sprachenvielfalt und deren Potenzial zu sensibilisie-
ren, sondern auch das tiefere Verständnis zu vermitteln, was Migration (sei es
Binnenmigration oder Migration aus dem Ausland) an Umbrüchen in der Fa-
milie und im Kind mit sich führt. Eine nützliche Erfahrung wäre hierfür, wenn
Lehrpersonen selbst neue Sprachen erlernen würden, um sich annähernd in
die Lage zu versetzen, die Migranten zu meistern haben.
Was aus den Untersuchungen auch deutlich wurde, ist, dass man Migranten-
kinder, Bildungsinländer, Kinder von Sprachminderheiten etc. – trotz ihrer
sprachbiographisch unterschiedlichen Erfahrungen – beim Spracherwerb
nicht säuberlich voneinander trennen kann. Allein die Frage, welche Kinder in
der Klasse dabei sind, eine Zweitsprache zu lernen oder eine dritte oder vierte
Sprache, kann keine Lehrperson mit Sicherheit beantworten. Die Kriterien für
eine Gruppentrennung oder einen stark differenzierten Unterricht sind zwei-
felhaft und nicht aufrecht zu erhalten, vor allem dann nicht, wenn noch neue
Fremdsprachen im Unterricht hinzukommen. Die Expertise im Umgang mit
mehreren Sprachen, die gerade mehrsprachige Kinder aufweisen, könnte hin-
gegen vermehrt zur Sensibilisierung und zur Stützung des Unterrichts genutzt
werden. Gerade als Mitglieder von Randgruppen angesehene Kinder könnten
damit eine Wertschätzung erfahren: Sowohl Kinder aus sprachlichen Minder-
heiten als auch solche mit Migrationshintergrund.

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 49
Was die beiden Gruppen – autochthone Minderheiten und neue Zugewanderte
– vereint, ist, dass sie im heutigen Europa eine Population darstellen, die den
höchsten Grad an gelebter Mehrsprachigkeit aufweist: Aus einer europäischen
Warte heraus realisieren sie eigentlich schon seit langem das Ziel, dass ein
Europa dreisprachiger Bürger und Bürgerinnen entstehen soll. Gruppen, die
bisher eher als Randgruppen dargestellt wurden, kommen somit in den Fokus
einer gewünschten Entwicklung: Das Zentrum verschiebt sich hin zu den
Rändern.

5. Die Vorteile der Mehrsprachigkeit und das verpasste Potenzial

Die Schule kann die unterschiedlichen Sprachkompetenzen und kulturellen


Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen nicht verbiegen oder homogeni-
sieren: Kinder werden weiterhin Diversität in die Schulen bringen. Und dies
kann ein Vorteil sein: Es mehren sich die Beobachtungen, wonach eine erhöh-
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te Diversität in den Schulen per se gute Lernformen bietet; es kommt auf de-
ren Handhabung an und die Wertschätzung, die damit einhergeht.
Man kann sich aber auch in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen, dass
es seit einigen Jahrzehnten konsistente Resultate gibt, die nachweisen, dass
mehrsprachig aufwachsende/geschulte Kinder in vielen Fähigkeiten – auch in
nicht-sprachlichen – besser abschneiden als einsprachig aufwachsende/ge-
schulte. Schon die sehr frühen Arbeiten um Wallace Lambert (siehe z.B. Peal/
Lambert 1962), nach dessen Studien die folgende Auflistung erstellt ist, hatten
dies nachgewiesen. In letzter Zeit mehren sich die Erkenntnisse dazu (siehe
zum Überblick Bialystock (2001) und die Arbeiten ihrer Arbeitsgruppe).

Reconstruction of a Perceptual Situation


Verbal and Non-Verbal Intelligence
Verbal Originality
Verbal Divergence
Semantic Relations
Creative Thinking
Non-Verbal Perception Task
Verbal Transformation
Symbol Substitution
Metalinguistic Types of Performance

Tab. 2: Erste Studien zu sprachlich-kognitiven Vorteilen der Mehrsprachigkeit in den


Siebziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts

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50 Rita Franceschini

Es wäre der Fairness geschuldet, wenn alle Kinder von diesen nachgewiese-
nen Vorteilen der Mehrsprachigkeit profitieren könnten. Dies ist aber ganz
offensichtlich in den meisten Schulsystemen nicht der Fall: Die Teilhabe bil-
dungsferner Immigrantenschichten ist nicht sehr ausgeprägt, obwohl gerade
diese Gruppen potentiell eine lebensgeschichtliche Mehrsprachigkeit einzu-
bringen hätten. Ihre Mehrsprachigkeit scheint weniger wert zu sein. Der Hin-
weis, Immigrantensprachen seien in wirtschaftlicher Hinsicht nicht besonders
marktfähig, mag heute zutreffen, aber greift entschieden zu kurz: Langfristig
gedacht, könnten gerade Gegenden, aus denen heute Immigranten stammen,
zu neuen Märkten werden. Und für die Erschließung dieser Märkte wären gut
ausgebildete, multikompetente Sprecher von Nutzen. Die Investition bei-
spielsweise in Bildungsinländer lohnt sich auch aus dieser Sicht.
Im Übrigen sind zurzeit Regionen mit Sprachminderheiten gerade durch ihre
Fähigkeiten, als kulturelle Brücke zu fungieren, nicht selten am Aufschwung
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des „Europa der Regionen“ privilegiert beteiligt.


Doch heute haben wir uns noch zu vergegenwärtigen, dass eine soziale Kluft
in der vollen Teilhabe an den Vorteilen der Mehrsprachigkeit besteht, vor al-
lem, wenn es sich um eine Mehrsprachigkeit handelt, die mit einem Migra­
tionshintergrund und mit Bildungsferne in Bezug auf das vorherrschende
Schulsystem auftritt. Im Schulsystem wird der Unterschied in eine förderliche
und weniger förderliche Mehrsprachigkeit generiert. Die Teilung entsteht ent-
lang der sozialen Schichtung, die Bildungsferne als überschattende stärkere
Variable hervortreten lässt. Wie oben kurz angeführt, wird auch hier deutlich,
in welcher Weise diese Unterschiede nicht vom Schulsystem allein getätigt
werden, sondern sich in ihm eine gesellschaftliche Haltung widerspiegelt. In
diesem Zusammenhang Lösungen zu finden, erfordert deshalb Kräfte, die
über den Reformwillen des Schulsystems hinausgehen. Es handelt sich um
eine eminent gesellschaftliche Aufgabe. In Sonntagsreden, in denen manch-
mal die Tendenz besteht, allein die kognitiven Vorteile der Mehrsprachigkeit
zu preisen, bleibt denn auch zu oft der sozial diskriminierende Zusammen-
hang unerwähnt.

6. Schlussworte

Die bessere Wahrnehmung und das Wissen um die Vorteile der Mehrsprachig-
keit könnten nun eine Wende bewirken, seitdem die EU stark auf diese Karte
setzt. Das Thema hat ohne Zweifel eine Aufwertung erfahren, und man darf
gespannt sein, wie die anfangs erwähnte Rahmenstrategie nun umgesetzt

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Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas 51
wird. Es sei nochmals daran erinnert, dass durch die Rahmenstrategie – unge-
achtet ihrer Herkunft – mehrsprachige Sprecher insgesamt hoch gewertet wer-
den: historische Minderheiten, die traditionell zu Mehrsprachigkeit neigen,
und neuere Migrationen, die in dieser Rahmenstrategie mitbedacht werden. In
einer zangenförmigen Bewegung scheinen sich Ansätze nun von oben aus
europäischer Ebene heraus mit jungen Reformbemühungen von unten – aus-
gehend von Schulen und von Eltern – zu treffen. Letztere verlangen immer
mehr Mehrsprachigkeit in den Schulen, und es ist nicht immer zutreffend,
dass nur Englisch verlangt wird.

Man mag der Steuerungsfähigkeit von EU-Instanzen skeptisch gegenüber ste-


hen, ebenso skeptisch sollte man rein technokratische Lösungen beurteilen;
z.B. dann, wenn lediglich mehr Stunden für noch mehr Fremdsprachenunter-
richt verlangt werden. Denn Mehrsprachigkeit zu unterstützen oder herbeizu-
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führen, ist nicht einfach ein Sprechen über ein Schulfach. Es ist viel mehr: Das
Thema spricht Loyalitäten an, es spricht Lebensgeschichten an. Über Mehr-
sprachigkeit zu sprechen, ist in vielen Fällen ein Sprechen über Familienkom-
munikation und über Identitäten und kulturelle Zugehörigkeit. Über Sprache
zu sprechen, ist weit mehr noch ein Sprechen über Macht; es ist Sprechen über
Teilhabe, Rechte und Pflichten in einer Gemeinschaft und in einer wirtschaft-
lichen Umgebung.

Der Diskurs zur europäischen Mehrsprachigkeit macht eines sehr deutlich:


Wenngleich in verdeckter Weise, waren Gesellschaften schon immer sprach-
lich pluriell angelegt, nur dass wir uns heute auch im Bewusstsein dieser Tat-
sache eher stellen. So besehen, nähert sich der Diskurs einer Annahme der
Gesellschaft als pluriell verstandenes Gebilde an, in dem Diversität akzeptiert,
ja wertgeschätzt wird, wenngleich der Umgang mit Diversität noch nicht
überall leicht fällt, ja gar Spannungen hervorrufen kann. Die Annäherung an
ein solches Bewusstsein der Diversität würde wohl weiter dazu führen, dass
diejenigen Bürger noch positiver wahrgenommen würden, die Mehrsprachig-
keit heute am ehesten verkörpern: weil ihre Ahnen – in Europa oder anderswo
– schon andere Sprachen als die Mehrheit gesprochen haben und weil es mög-
lich war, diese Sprachen zu tradieren.

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52 Rita Franceschini

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Anil Bhatti

Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität


Vergleichende Überlegungen zwischen Indien und Europa1

Abstract: Der Entwicklungsprozess Europas bedeutet unter anderem auch, dass rela-
tiv homogene, monosprachige Nationen sich zu einem komplexen mehrsprachigen
Staatenverbund entwickeln. Migrationsschübe und die damit verbundenen Probleme
von Inklusion, Exklusion und Integration sind Merkmale dieses Vorgangs. Mehrspra-
chigkeit und kulturelle Diversität sind dadurch hochaktuelle Themen in der euro-
päischen Kulturdiskussion geworden. Dieser Vortrag behandelt einige Aspekte des
zukünftigen mehrsprachigen, plurikulturellen Europas mit dem mehrsprachigen, pluri-
kulturellen Indien in vergleichender Absicht.
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The process of European development means, among other things, that relatively ho-
mogeneous, monolingual nations are developing into a complex multilingual union.
Waves of migration and the associated problems of inclusion, exclusion and integra-
tion are features of this process. Multilingualism and cultural diversity have therefore
become highly topical issues in the European debate on culture. This article addresses
some aspects of the future multilingual and multicultural Europe in comparison with
multilingual and multicultural India.

Kulturwissenschaftliche Überlegungen beschäftigen sich jetzt in zunehmenden


Maße mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Ich gehe in diesem
Beitrag von einer interessanten Komplementarität zwischen Indien und Europa
in diesem Zusammenhang aus, die sich so umschreiben lässt: Der Transforma-
tionsprozess in Europa bedeutet, dass relativ einsprachige, monokulturelle
Staaten, Nationalstaaten, sich zu einem multikulturellen, plurikulturellen,
mehrsprachigen Gebilde namens Europa entwickeln.2 Das nenne ich einen Pro-
zess, der von der Homogenisierung in Richtung der Heterogenisierung des
Kontinents führt. Auf der anderen Seite, und das ist bemerkenswert, sind histo-
risch gewachsene, heterogene Staaten, große subkontinentale Staaten wie Indi-
en ständig von der Gefahr bedroht, durch Homogenisierungsprozesse ausein-
anderzufallen, ihre Heterogenität zu verlieren. Das sind Prozesse, die durch
verschiedene Formen von Fundamentalismen unterstützt werden, die dann so
etwas wie eine komplementäre Auffassung von der Einheit zwischen Sprache,
1
Dieser Aufsatz geht auf einen von mir gehaltenen Vortrag zurück. Ich habe deshalb den
Charakter der Mündlichkeit beibehalten.
2
In diesem Beitrag greife ich zurück auf ältere Beiträge von mir: Bhatti (2008) und (2009).

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56 Anil Bhatti

Territorium, Kultur und Ethnie darstellen. Etwas, was in Europa im Grunde


genommen das Standardmodell für die nationalstaatliche Gründung war, also
von Herder beeinflusst, wird in Europa in den letzten Jahren zu überwinden
versucht. Diese Komplementarität von Homogenisierung zu Heterogenisie-
rung und Heterogenisierung zu Homogenisierung, die sich ständig im Prozess
befinden, eine Art von Reterritorialisierung und Territorialisierung – das wäre
die andere Umschreibung dieses Prozesses – ist etwas, was in Europa und
Indien vonstatten geht. Das betrifft dann Religion, sprachliche Vielfalt, Staat,
Strukturen – in allen diesen Bereichen ist dieser Prozess vorhanden. Und das
ist der Ausgangspunkt meiner Überlegungen in diesem Bereich.

Es ist kein Zufall, dass die angesprochene Gefährdung bereits am Anfang des
20. Jahrhunderts im Rahmen der indischen Befreiungsbewegung bemerkt wur-
de. Denn die indische Befreiungsbewegung wurde mit dem seltsamen histori-
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schen Problem konfrontiert, dass der englische Kolonialismus, wie alle Kolo-
nialismen überhaupt, vor die Aufgabe gestellt wurde, aus einem Land der
Vielfalt nun eine regierbare Einheit zu machen. Und das, was an indischer Viel-
falt, indischen Kulturen, indischen Religionen und Sprachen vorhanden war,
wurde aus der Epistemologie des Kolonialismus heraus als Chaos empfunden,
und Chaos muss gezähmt werden, Chaos muss klassifiziert werden, Chaos
muss durch eine Art von Taxonomie in den Griff gebracht werden, damit es
dirigierbar wird.3 Dadurch entstand nun eine Figur des Denkens, die bis heute
noch wirksam ist. Das Normale ist die lineare Entwicklung, alles andere ist
abnormal, ist eine Abweichung und bestenfalls exotisch – das Exotische kann
man auch lieben, insofern kann man das paternalistisch betrachten. Das Nor-
male wäre eine Sprache, eine administrative Sprache, möglicherweise auch
eine poetische Sprache, eine Kodifizierung des Landes, eine saubere Trennung
zwischen volkstümlichen Entwicklungen und dem, was zur hohen Kultur ge-
hört. Auch die Religion wäre davon betroffen, man hätte am liebsten einen
Text, einen Code, eine Deutungsinstanz, eine Möglichkeit, das alles in den
Griff zu bekommen. Das wäre das Normale. Alles andere wäre dann eine Ab-
weichung. Die indische Befreiungsbewegung sah sich vor das Problem ge-
stellt, das, was an indischer Vielfalt vorhanden war, als etwas Positives darzu-
stellen, als Ressource, als Vorteil. Die Tatsache, dass man viele Sprachen im
Lande, also eine große Diversität hatte, war kein Nachteil, sondern eher ein
Vorteil. Aber das war ein gewaltiger Aufwand an Epistemologie, an Kampf,
denn diese Auffassung ist nicht ohne weiteres durchzusetzen. Die Vorstellung,
dass man eine Sprache haben muss, ist bis in die Modernisierungstheorie ge-
3
Vgl. Cohn (1985), Bayly (1996), Bhatti (1997), Rahman (1997).

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Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 57
drungen, wo man dann behauptet hat, die Sprachenvielfalt sei im Grun-
de genommen ein Hindernis für ein Land, das sich modernisieren möchte.4
Mit anderen Worten: Es ist die Aufwertung der Einsprachigkeit, die auch
in der soziologisch fundierten Modernisierungstheorie vorhanden war.

Das bedeutet, dass die Diversität Indiens aus der Defensive heraus ständig
als positives Faktum dargestellt werden musste. Und dies war eine ganz gro-
ße Defensive gegenüber der dominanten Ideologie, dass Diversität etwas
wie ein Fluch sei. Das Modell, welches dahinter steckt, ist der Turmbau zu
Babel. Der ständige Rekurs auf diesen Mythos ist etwas, was in Indien
zu großen Nachteilen geführt hat. Denn in der Auseinandersetzung mit der
indischen Diversität, der indischen sprachlichen Vielfalt, waren dann selbst
die Sprachwissenschaftler in Indien, die diese Sprachenvielfalt immer wie-
der positiv darstellen wollten, stets konfrontiert mit der Notwendigkeit, sich
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gegen die dominante europäische und amerikanische Privilegierung der Mo-


noglossie durchzusetzen. Der Sprachwissenschaftler Pattanayak bemerkte
treffend:
The dominant monolingual orientation is cultivated in the developed world
and consequently two languages are considered a nuisance, three languages
uneconomic and many languages absurd. In multilingual countries many lan-
guages are facts of life; any restriction in the choice of language use is a nui-
sance, and one language is not only uneconomic, it is absurd. (Pattanayak
1984, zitiert nach Srivastava 2007, S. 40).

Das betraf nicht nur die Vorstellung von der zu beschreibenden Sprachenviel-
falt, sondern auch gewisse Ideologien, die damit zusammenhingen. Das Wich-
tigste war natürlich die Frage der Muttersprache. Dass die Muttersprache,
dass eine Sprache allgemein einen Wert hat, war für die indische Tradition
völlig unverständlich. Es gibt ein sehr schönes Urteil des Hohen Gerichts zu
Madras in Indien, worin steht:
Mother tongue is a concept that we all appear to understand very well and take
for granted. Mother tongue is a very important concept or construct within the
Constitution of India. Several important provisions within the Indian Constitu-
4
So schreibt z.B. Jonathan Pool: „[...] but a country that is linguistically highly hetero­
genenous is always underdeveloped, and a country that is developed always has considera-
ble language uniformity – if not uniformity of language origin, then widespread knowledge
of a common language. Language uniformity is a necessay but not sufficient condition of
economic development and economic development is a sufficient but not necessary condi-
tion of language uniformity.“ (Pool 1972, zit. n. Srivasatava 2007, S. 38f.).

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58 Anil Bhatti

tion revolved around this concept or construct. Discussions regarding the me-
dium of instruction and other official languages depend on the interpretation
of this concept. More often than not, mother tongue becomes a political idea
rather than a linguistic concept. Mother tongues are elevated to some human,
superhuman and divine status, and are worshipped literally. Mother tongue
becomes a rallying point for groups of people to unite and express their soli-
darity more as a political entity. (Zitiert nach Maalikarjun 2004)5

Dieses Urteil geht weiter und es heißt darin:


Mother tongue of a child should only be understood for the purpose of cases as
the language the child is most familiar with. Mother tongue need not to be the
mother's tongue or father's tongue. (Zitiert nach Maalikarjun 2004)6

Mit diesem schönen Paradoxon hat das Hohe Indische Gericht dann das Pro-
blem gewissermaßen aus der Welt geschafft. Aber dahinter steht schon eine
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gewisse Haltung innerhalb der indischen Gesellschaft, dass der hohe Wert,
den man in Europa der Muttersprache beimisst, im Grunde genommen keine
ontologische Grundbefindlichkeit oder eine Grundbedingung für die Authen-
tizität des Menschen ist. Schriftsteller haben immer wieder darauf hingewie-
sen, dass Indien stets eine polyglotte Landschaft war. Ich zitiere die Schrift-
stellerin Deshpande, die auf die Forderung, dass authentische Literatur nur in
der ‘Muttersprache’ geschrieben werden kann, mit den Worten reagiert:
It is this charge, that genuine and good literature can only emerge from our own
languages, which I take seriously [...] But when I begin to consider this propo-
sition, I have to pause even before I begin to contend with it, since, for many of
us, the question ‘What is my mother tongue?’ does not have a simple answer. Is
my mother tongue my father's language? (It most often means this. The logic of
calling it a ‘mother tongue’ defeats me.) Or, if my mother has a different lan-
guage, is it that? Is it the language spoken in my home, the one which I have
been educated in, or the one I read, write and think in? [...] In any case, most of
us Indians learn to live with more than one language, moving swiftly from one
to another according to the need. The note of astonishment with which it is said
that the poet Bendre wrote in Kannada, even though his mother tongue was
Marathi, seems to me unwarranted. Why is it surprising? The language of cre-
ativity need not necessarily be the mother tongue, though it may very often be
that; the two are not synonymous. (Deshpande 2003, S. 66)
Das ist eine ganz andere Haltung als diejenige, die noch in den sechziger,
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weit verbreitet war und besagte:
5
www.languageinindia.com/april2004/kathmandupaper1.html (Stand: 04/2011).
6
www.languageinindia.com/april2004/kathmandupaper1.html (Stand: 04/2011).

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Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 59
Wer sich von der Muttersprache wegbewegt, bewegt sich in Richtung einer
Gefahr für seine eigene persönliche Identität, für die Absicherung seiner Iden-
tität. Man sollte die Identität in einer Sprache festigen, bevor man hinausgeht
zu anderen Sprachen. Man verbietet nicht, dass man andere Sprachen lernt.
Aber man sollte eine Sprache erst dann lernen, wenn man auf der festen Basis
der eigenen Sprache steht. Der Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber vertrat
damals die Meinung, dass
der Mensch im Grunde einsprachig angelegt ist [...] daß die geistige Anver-
wandlung der Welt die Geschlossenheit einer Muttersprache erfordert (so wie
man auch nicht erwartet, daß jemand in zwei Religionen lebt) und daß mit dem
Zusammentreffen der für erfüllte Zweisprachigkeit nötigen Vorbedingungen
nie in dichter Häufigkeit zu rechnen ist. (Weisgerber 1966, S. 85).

Sowohl der Vergleich mit Religion als auch das Beiwort „erfüllt“ und die bei
Weisgerber vorkommenden Ausdrücke wie „Sprachvermengung“ sind be-
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zeichnend. Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit sollen Sonderfälle sein,


und sie werden aus einer puristischen Sichtweise betrachtet, die dem Synkre-
tismus entgegengesetzt ist. Weisgerber betont die Gefahren der Zweispra-
chigkeit und referiert warnend aus einer Schweizer Untersuchung, worin die
Sorge herrscht, dass „aus dem Nebeneinander der Sprachen ein Durcheinan-
der“ wird.7
Diese Meinung, die von bedeutenden Linguisten vorgetragen wurde, hat dann
bis in unsere Gegenwart einen großen Einfluss ausgeübt. Aber was macht
man, wenn ein sehr berühmter indischer Schriftsteller darauf hinweist – und
ich zitiere den Dichter Ananthamurthy, der sagt:
I do not use the term ‘mother tongue’ as it is understood by Europeans. For
instance some of the best Kannada writers speak Tamil or Marathi at home. [...]
many writers in India do not speak the same language in which they maybe
writing. (Ananthamurthy 2007, S. 241)

Ananthamurthy hat ein schönes Bild dafür entwickelt, welches von dem Vor-
hof, dem Hinterhof und dem oberen Stockwerk der Sprache spricht.8 Der
Vorhof wäre der Marktplatz, aus soziologischer Sicht die Öffentlichkeit, der
Hinterhof wäre die private Sphäre, und das obere Stockwerk wäre der Bereich
der intellektuellen Kommunikation. Wenn man drei Sprachen hat, hat man mit
7
Weisgerber (1966, S. 85). Es gab auch andere Stimmen in Deutschland, die damals noch
nicht genügend berücksichtigt wurden: Vgl. auch das Zeugnis des Romanisten Wilhelm
Theodor Elwert Das zweisprachige Individuum. Ein Selbstzeugnis aus dem Jahr 1973, sowie
Elias Canettis (1977) bekannte Schilderung seiner mehrsprachigen Jugend in Rustchuk.
8
Ananthamurthy (2007, S. 249ff.). Siehe auch Ananthamurthy (2009).

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60 Anil Bhatti

dem Bild eines Hauses – eines Vorhofes, eines Hinterhofes und eines oberen
Stockwerks – eine mehrsprachige Einheit, die funktioniert. Genauso, wie man
in einem solchen Haus wohnen könnte, könnte man in einer gesellschaftlichen
Situation metaphorisch auch so existieren. Das würde bedeuten, dass man die-
sen Vorhof, den Hinterhof und das obere Stockwerk nicht auseinander divi-
diert. Der Ort, wo sich das Haus befindet, würde zusammenbrechen, würde
nicht funktionsfähig sein. Und das ist eine ganz andere Art und Weise, mit
dem Problem, welche Sprache man spricht, umzugehen. Und das Bild des
Hauses ist ganz anders als das metaphysisch aufgeladene Bild eines Hauses
des Seins im Sinne Heideggers.9
Einer der bedeutendsten Hindi-Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, Ga-
janan Madhav Muktibodh, schrieb auf Hindi, sein Bruder Sharatchandra
Muktibodh schrieb auf Marathi, die Familie war eine Hindi-Marathi-schrei-
bende Familie, und die Wahl der dichterischen Sprache war eine Wahl, die
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damit zusammenhängt, dass man mit der Sprache, also mit einer Materie, um-
geht. Man kann damit zimmern. Im Deutschen begegnet man dieser Haltung
in manchen Sprachreflexionen aus dem Exil. Peter Weiss, der sich im Exil der
deutschen Sprache wieder annäherte, musste sie wie Material betrachten.
„Jetzt mache ich mir die Sprache selbst“ schreibt er (Weiss 1982, S. 250). Die
durch das erzwungene Exil eingetretene Entfernung von der deutschen Spra-
che war auch mit einer Entfernung von sich selbst verbunden. „Gleichzeitig
mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, musste diese
Sprache neu errichtet werden.“ Dieses Neuerrichten ist ganz anders als eine
Rückkehr in den Schoß der Muttersprache zu verstehen.
Dieses Gefühl, dass Sprache Material ist, wäre im indischen Kontext völlig
normal, es ist also nicht mit einer Grenzerfahrung verbunden. Sowohl Ga-
janan Madhav Muktibodh als auch sein Bruder haben ihre Briefe auf Eng-
lisch veröffentlicht, ebenso ihre administrative Korrespondenz auf Englisch
geführt. So haben sie diese aus dem Ausland schwer zu begreifende, aber völ-
lig normale Fähigkeit, in mehreren Sprachen zusammenzuarbeiten.10 Es hilft
überhaupt nicht, wenn man diese Form des Umgangs mit mehreren Sprachen
mit linguistischen Begriffen wie Code-Switching zu umschreiben versucht.
Denn das ist eine mechanistische, behavioristische Metapher, die nicht hilf-
reich ist, um Mehrsprachigkeit zu charakterisieren. Es ist nicht so, als ob irgend-
wo ein ‘Switch’ wäre, den man ein- und ausschaltet. Viel besser ist ein sehr
schöner Ausdruck, den ich bei Goethe gefunden habe. Im „West-östlichen
9
Vgl.: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ In: Heidegger (1949, S. 5).
10
Siehe auch Trivedi (2008).

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Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 61
Divan“ verwendet Goethe das Bild des Schwebens, um eine eindeutige Fest-
legung auf die Pole ‘Orient’ und ‘Okzident’ zu vermeiden. Analog dazu geht
es in Situationen der Mehrsprachigkeit um einen Schwebezustand, einen glei-
tenden Zustand, in einer Situation, in der mehrere Sprachen gleichzeitig als
Repertoire vorhanden sind, in welchem man mit den Sprachen je nach Bedarf,
je nach Situation umgehen kann. Und natürlich muss man in diesem Reper-
toire nicht perfekt sein, so wie man in allen Repertoires unterschiedliche
Kompetenzgrade entwickeln kann. Und wenn man schon ein Bild braucht,
dann sollte man Mehrsprachigkeit vielleicht mit Begriffen aus der Musik ver-
gleichen. Genauso wie ein Musiker über verschiedene Repertoires verfügt,
mit denen er arbeiten, die er vorführen kann, je nach Bedarf, je nach Publi-
kum, je nachdem, was notwendig ist; so ist auch die Mehrsprachigkeit eine
musikalisch zu erfassende Situation mit gleitenden Übergängen, mit der Fä-
higkeit, aus der Kompetenz das für die Situation herauszuholen, was gerade in
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diesem Augenblick vielleicht notwendig wäre.


Diese Haltung in Indien kontrastiert mit der dominanten Haltung in den eu-
ropäischen Ländern, aber mit gewissen Ausnahmen. Es gibt Traditionen der
Mehrsprachigkeit in Europa, die gewissermaßen ausgeblendet worden sind.
Wie kam es, dass die Erinnerung an das Mittelalter, die Renaissance und die
Fähigkeit der Schriftsteller, sich intellektuell in mehreren Sprachen zu bewe-
gen, verloren ging? Warum ist die Habsburger Erfahrung mit Mehrsprachig-
keit und Plurikulturaellität folgenlos geblieben? Hugo Loetscher11 hat über
solche Fragen schöne Sätze formuliert. Die deutsche Sprache als polyzentri-
sche Sprache ist zwar die, in der er schreibt, aber er schreibt deutsch inner-
halb einer mehrsprachigen Atmosphäre. Und diese ist die Basis, aus der her-
aus er zwar in einer Sprache schreibt, aber sich stets dessen bewusst ist, dass
es diese Mehrsprachigkeit um ihn herum gibt. Ähnlich haben sich auch öster-
reichische Schriftsteller geäußert. Heimito von Doderer12 hat von der poly-
glotten Bereitschaft Wiens gesprochen und er meinte eben diesen Mischzu-
stand. Hugo von Hofmannsthal hat von der deutschen Sprache in Wien als
der „gemengtesten Sprache“ (1979, S. 363) gesprochen, und das als Vorteil
gesehen. Grenzen waren durchlässig, man hat zwischen Sprachen keine
Grenzen aufgebaut, man hat den fließenden Charakter, das Gleitende und
Gleichzeitige der Sprache immer wieder gesehen. Das geht aber im Zuge der
Durchsetzung der nationalstaatlichen Ideologie in ihrer Herder'schen Varian-
te verloren; es sei denn, man setzt sich bewusst damit auseinander und ver-
sucht, herauszufinden, was man heute daraus lernen kann.
11
Vgl. u.a. Loetscher (2000).
12
Vgl. u.a. Doderer (1971).

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62 Anil Bhatti

Es gibt eine bedeutende Rede von Josef von Hammer-Purgstall vom 19. Mai
1852, eine Pfingstrede bei einer feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akade-
mie der Wissenschaften in Wien. Hammer-Purgstall, als Präsident der Aka-
demie, hat vom Pfingstfest als dem eigentlichen Fest der Polyglossie, der
Vielsprachigkeit, gesprochen. Er spricht von der europäischen Zeit nach Na-
poleon als Zeit der Vielsprachigkeit in Europa.
Diese Vielsprachigkeit entfaltet sich erst durch den größeren und näheren Ver-
kehr der Völker in Krieg und Frieden, in Handel und Wandel, durch die gegen-
seitige Einwirkung ihrer Literaturen. (Hammer-Purgstall 1852, S. 91)13

Man erinnert sich sicherlich an Goethes Formulierung von Weltliteratur, die


sich aus dem Handel, aus dem Verkehr, aus den Münzen, die sich hin und her
bewegen, entwickelt. Hammer-Purgstall schreibt weiter:
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Die gerechte Eifersucht jedes Volkes auf die Erhaltung und Entwicklung seiner
Muttersprache geht mit der immer mehr sich ausbreitenden Vielsprachigkeit
ihre Wege und sie beirren sich auf denselben nicht im Geringsten. Die Wach-
samkeit der Völker auf scharfe Abmarkung ihres eigenen Sprachgebietes steht
der Vielsprachigkeit so wenig entgegen, dass sie diese vielmehr befördert, in-
dem die Ausbildung der Sprachen mehrerer Völker der ausschließlichen Ober-
herrschaft einer Weltsprache schnurstracks entgegensteht. Die Herrschaft einer
allgemeinen Weltsprache ist nur eine Übergangsperiode in der Weltgeschichte,
welche durch den immer engeren Verkehr der Völker, durch den dampfbeflü-
gelten Austausch ihrer Waren und Ideen, die Verbreitung der Vielsprachigkeit
befördert. (ebd.)

Das ist eine wunderbare Rede, ein Lob der Vielsprachigkeit. Hammer-
Purgstall hat dazu eine Definition des idealen Österreichers (im
Habsburg'schen Sinne) gegeben: „Je mehr Du Sprachen des österreichischen
Kaisertums verstehst, desto mehr wirst Du ein ganzer Österreicher.“ (ebd.,
S. 95). Worum es mir hier geht, ist: Es gab mehrere Stimmen dieser Art in
der Habsburger Monarchie, in der Schweiz – noch bis in unsere Gegenwart
hinein in Zentraleuropa.14 Dass diese Stimmen nicht zum Tragen gekommen
sind, hängt natürlich mit der Entwicklung des nationalstaatlichen Gedan-
kens in Europa, mit der Machtpolitik innerhalb Europas zusammen, sowie
mit der Verbreitung und der Ausweitung des europäischen Weltherrschafts-
13
In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf Schmeller (1988). Ich danke Ludwig
M. Eichinger und Hans-Jürgen Krumm für diesen Hinweis. Aus Platzgründen muss ich auf
eine Darstellung der Nähe, aber auch auf den Unterschied zu Hammer-Purgstall leider
verzichten.
14
Vgl. Csáky (2010), Feichtinger/Prutsch/Csáky (2003).

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Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 63
anspruchs durch den Kolonialismus, der eine bestimmte Form der Auseinan-
dersetzung mit den Sprachen der Gesellschaft auf Gegenden übertrug, die
von Natur aus historisch gesehen mehrsprachig waren. Und dieser Konflikt
zwischen der Mehrsprachigkeit, die ich „historisch gewachsen“ nenne, und
der von außen aufoktroyierten Linearität, der Eindimensionalität, ist der
Motor des Konfliktes gewesen, mit dem man immer noch zu kämpfen hat.

Wenn wir sagen, dass Indien ein mehrsprachiges Land ist, dann fußt das auf
soliden wissenschaftlichen Grundlagen. Die Anthropological Survey of India
hat ergeben, dass mehr als 65% der indischen Bevölkerung und mehr als 75%
der indischen Communities mindestens zweisprachig und die Mehrzahl dar-
aus dreisprachig sind. Mehrsprachigkeit ist also keine isolierte Erscheinung.
Aber was ist das für eine Mehrsprachigkeit? Ananthamurthy hat boshaft ge-
sagt, die Mehrsprachigkeit in Indien liege bei den Ungebildeten und nicht bei
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den Gebildeten. Die Gebildeten wollen ihre Kinder nur in einer Sprache erzie-
hen und möglichst schnell in die USA schicken. Die ungebildete, arbeitende
Bevölkerung sei mit der Mehrsprachigkeit gewissermaßen aufgewachsen,
weil diese Mehrsprachigkeit mit ihren Arbeitsbedingungen zusammenhänge.
Mehrsprachigkeit sei eine praxisorientierte Begabung. Damit spielen sowohl
Ananthamurty als auch die Anthropological Survey of India, hochwissen-
schaftlich formuliert, darauf an, dass Indien durch die Binnenmigration, durch
die großen Bewegungen innerhalb Indiens, durch die Struktur des Landes,
durch diese vielen Religionen, ihre verschiedenen Wallfahrtsorte, durch die
Pilgermöglichkeiten, durch die administrative Durchdringung des Landes und
vor allem durch die Eisenbahn aus allen arbeitenden Menschen mehrsprachi-
ge Menschen macht. Und diese Mehrsprachigkeit kann nicht definiert werden
als die perfekte Beherrschung von Sprachen, sondern als die hinreichende Be-
herrschung von Sprachen, die je nachdem, was man mit diesen Sprachen an-
fangen kann, dann weiter perfektioniert wird. Das bedeutet: Wenn ein aus ei-
ner Marathi-schreibenden Familie stammender Dichter wie Muktibodh
entscheidet, lieber auf Hindi zu schreiben, kann er das machen, ohne dass sich
jemand darüber wundert. Diese Kommunikation und Binnenmigration gibt
der indischen Mehrsprachigkeit eine Form der Durchmischung, eine Durch-
mischungsqualität, die – soweit mein Eindruck von der europäischen Situa­
tion – in Europa noch erreicht werden müsste. Die Politik, die sich in Europa
entwickelt, müsste dann in diese Richtung gehen. Und das ist auch der Unter-
schied zwischen der Drei-, Vier- und vielleicht Fünfsprachigkeit in der
Schweiz und der Mehrsprachigkeit in Indien: Es gibt nicht diese Durchmi-

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64 Anil Bhatti

schungsqualität. Es gibt mehrere Sprachen, die offizielle Sprachen des Landes


sind, aber sie haben nicht diese Gleichzeitigkeit der Verwendung, die man aus
der indischen Erfahrung kennt.
Englisch ist keine Fremdsprache in Indien, sondern eine durch die historische
Verwaltungs-und Bildungspraxis des Kolonialismus eingebürgerte ebenbürti-
ge indische Sprache; das ist vielleicht die Sprache, die wir in Universitäten
und in der Verwaltung am häufigsten verwenden, auch in unserem inneren
transregionalen Kommunikationszusammenhang sowie in unserer wissen-
schaftlichen Arbeit. Gleichzeitig aber signalisiert der Gebrauch des Engli-
schen gewisse Bildungs- und Gesellschaftsprivilegien, die in ständigen Span-
nungsverhältnissen zur Gesamtgesellschaft stehen. Ferner wirkt Englisch als
dominantes Fenster zur Welt wie ein Filter, der den internationalen Kommuni­
kationszusammenhang und den internationalen Informationsaustausch nach
anglo-amerikanischen Prioritäten bzw. Interpretationsmustern einseitig steu-
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ert und eine internationale Ausrichtung verhindert.


Aber die indische Haltung zum Englischen ist etwas anders als jene, die sich
jetzt in Europa durchsetzt. Was man jetzt in Europa beobachtet, ist, dass sich der
reduktive Bilingualismus durchsetzt, d.h. Deutsch plus Englisch, oder eine
andere Sprache plus Englisch, was dazu führt, dass die anderen Sprachen
nicht zum Tragen kommen. Es wäre viel interessanter, wenn man eine große
Palette der europäischen Sprachen zur Verfügung hätte. Unter diesen wäre
natürlich auch das Englische notwendig, was sich – sozusagen – durch Osmo-
se durchsetzt, so dass man für das Erlernen des Englischen nicht allzu viel
machen muss; es ist einfach vorhanden. So ist es auch in Indien: Englisch setzt
sich einfach durch die Faktizität seiner Umweltspräsenz durch. Für das Ler-
nen anderer Sprachen muss man etwas tun. Und das ist das, was durch die
verschiedenen Language-Policy-Diskussionen in Indien dazu geführt hat,
dass man sich damit stärker auseinandersetzt, wie man eine Dreisprachenfor-
mel durchsetzt. Diese Formel ist nicht optimal gelungen; in Indien kritisiert
man, dass sie aus verschiedenen Gründen umgangen wird. Aber dass man eine
Art von Kombination aus Regionalsprache, Verkehrssprache und einer dritten
Sprache und möglicherweise einer vierten Kommunikationssprache fördern
sollte, ist die Haltung. Hierzu muss man sagen: Wenn man das konsequent
macht, ist es einsichtig, dass sich in Indien selbst die verschiedenen Sprachen
– es gibt 22 offizielle Sprachen, aber 352 ist die Zahl, die uns die Linguisten
nennen – untereinander nicht als Fremdsprachen verstehen. Es sind einfach
nur andere indische Sprachen, und ich halte das für eine kognitive, eine sehr
wichtige Entscheidung; kein Hindi-Sprechender würde Tamil als Fremdspra-
che begreifen. Für ihn wäre Tamil eine indische Sprache, die er vielleicht nicht

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Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität 65
versteht, doch eine andere indische Sprache, aber eben keine Fremdsprache,
und das wäre im öffentlichen Diskurs völlig in Ordnung. Von der ersten
Fremdsprache spricht man, wenn man anfängt, Deutsch zu lernen, oder Spa-
nisch oder Chinesisch oder Russisch. Das wäre für viele Inder dann ihre vierte
oder fünfte Sprache. Und das ist meines Erachtens ein Zeichen der Mehrspra-
chigkeit in einem Kontinent oder in einem Subkontinent oder auch in Europa:
Wenn das Verhältnis der Sprachen untereinander durch eine wohlwollende
Balance zwischen Interesse und Desinteresse gekennzeichnet ist, wodurch die
Selbstverständlichkeit ihrer Präsenz vorhanden ist, abrufbar, benutzbar, aber
nicht unbedingt als etwas, was ein Störfaktor wäre.

All das hängt mit einer bestimmten Haltung zur Kultur zusammen, die nicht
von den Wurzeln der Kulturen ausgeht, wo man nach Authentizität sucht, oder
wo man das erfüllte Sein des Menschen durch ein Ringen nach Authentizität
und Wurzeln definiert, sondern dass man Kulturen als verschiedene palimpsest­
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artige Gewächse betrachtet, als Mosaike, die sich entwickeln. Geschichts-


schichten sind somit gleichzeitig vorhanden und sie sind gleichberechtigt.
Und dieses Bild vom Palimpsest ist ein altes Bild. Schon Victor Hugo (1982)
sprach im neunzehnten Jahrhundert davon, dass Europa als Palimpsest zu be-
trachten sei. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru (1997) hat die-
ses Bild während der Freiheitsbewegung im frühen zwanzigsten Jahrhundert
bemüht, um die vielschichtige Diversität Indiens zu charakterisieren. Der in-
dische Historiker und Polymath Damodar Dharmanand Kosambi (2002, S. 7)
hat einen ähnlichen Gedanken ausgedrückt, als er Indien ein „country of long
survivals“ nannte. Diese Gedanken stehen Ernst Blochs Auffassung von der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Gesellschaftsformationen sehr nahe.
Das Bild von einem Palimpsest ist eines, das sich gegen die fundamentalisti-
sche Richtung, dass es nur eine authentische, genuine Kultur in einem mehr-
sprachigen, multikulturellen Land gebe, wendet. Und wenn man von diesen
Gedanken der Authentizität und Reinheit ausgeht, dann müsste man sagen, die
eigentliche Kultur wäre eine Tabula rasa, denn alles, was man darauf schreibt,
wäre unrein, nur das leere Blatt kann rein sein. Deswegen hat der Dichter Ra-
bindranath Tagore ein sehr schönes Bild geprägt: „I would rather insist on the
inexhaustible variety of the human race, which does not grow straight up, like
a palmyra tree, on a single stem, but like a banian tree spreads itself in ever-
new trunks and branches.“ Tagore (1996, S. 399). 1918 geschrieben, ist das
eine schöne Vorwegnahme des heute in der Kulturtheorie bekannten Bildes
des Rhizoms bei Deleuze/Guattari (1988, S. 15). Rhizomatische Strukturen
sind nicht wurzelorientierte Strukturen. Das heißt, für sie ist die Frage nach
der Authentizität zweitrangig. Es kommt auf das Beziehungsgeflecht an.

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66 Anil Bhatti

Wenn man nun zu dem Gedanken zurückkehrt, mit dem ich begonnen habe,
Homogenität – Heterogenität, und Mehrsprachigkeit als etwas, was in der He-
terogenität, der kulturellen Vielfalt situiert ist, dann müsste man dieses Bild
des Rhizomatischen, Palimpsestartigen dehnen, als eine Umschreibung der
Grundcharakteristik aller großen territorialen Gebilde, die davon gekenn-
zeichnet sind und nur davon leben, dass es diese Diversität gibt, sei es als
Sprachenvielfalt, sei es als religiöse Vielfalt, sei es als kulturelle Vielfalt. Und
das ist keine neue Einsicht, das hat der Gedanke an die Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen von Ernst Bloch auch ausgedrückt. Es gibt ein anderes Bild,
das bei Ludwig Wittgenstein zu finden ist, welches das, was ich sage, schön
umschreibt. Wir können, schreibt er, einen Begriff von „Etwas“ ausdehnen
wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des
Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft,
sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.
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Wenn aber Einer sagen wollte: ‘Also ist allen diesen Gebilden etwas gemein-
sam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten’ – so würde ich
antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es
läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen
dieser Fasern. (Wittgenstein 1975, S. 57 (Nr. 66) sowie S. 77 (Nr. 76))

Es ist in diesem Übergreifen, dass das, was wir Vielfalt nennen, vielleicht so
erfasst werden kann. Plurikulturelle, mehrsprachige, heterogene Gesellschaf-
ten wären in dem Sinne komplizierte Netze von Ähnlichkeiten, die ineinander
übergreifen und sich kreuzen. Das wäre die Perspektive, auf deren Grundlage
man eventuell den fundamentalistischen Richtungen, die diese Vielfalt zerstö-
ren wollen, die etwas Singuläres, Lineares, vorsetzen wollen, etwas Anderes
gegenübersetzt, das die Vielfalt als kulturellen Gewinn begreift. Und dazu
gehört die sprachliche Vielfalt.

Literatur
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(Hg.): Composite culture in a multicultural society. New Delhi, S. 239-251.
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social communication in India, 1780-1870. Cambridge.

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Rosemarie Tracy

Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen


Abstract: Es gibt einen frappierenden Widerspruch zwischen dem Ausmaß von Zwei-
und Mehrsprachigkeit in unserer Gesellschaft und im Individuum einerseits und an-
dererseits einem Mangel an Bewusstsein dahingehend, was benötigt wird, um sie her-
vorzubringen und zu fördern. Dieser Beitrag setzt sich mit einigen populären Mythen
auseinander, die einem Verständnis von Zwei-/Mehrsprachigkeit als einem normalen
Zustand des Menschen im Wege stehen. Die Koexistenz und Koaktivierung von mehr
als einem sprachlichen Kenntnissystem innerhalb eines Kopfes ermöglicht es Spre-
cher(inne)n sogar, Sprachmischungen sehr systematisch in den Dienst diskursiver und
pragmatischer Funktionen zu stellen. Nach einer Illustration der damit verbundenen
Kreativität anhand von Sprachkontaktdaten, die im Rahmen eines Projekts mit er-
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wachsenen deutschen Auswander(inne)n in den USA erhoben wurden, wird gezeigt,


wie früh bilinguale Kinder fähig sind, mit der Herausforderung durch koexistierende
Inputsprachen umzugehen. Schließlich wird erörtert, wie dieses Potenzial im schuli-
schen Kontext genutzt werden kann, um den Zweitspracherwerb und die Mehrspra-
chigkeit bei Kindern zu unterstützen.

There is a curious contradiction between, on the one hand, the extent of bilingualism
and multilingualism within our societies and within the individual, and, on the other
hand, the lack of awareness of what it takes to foster it. This contribution discusses
some popular myths which hamper our understanding of bilingualism/multilingual-
ism as a normal state of the human mind. The coexistence and coactivation of more
than one linguistic system within a single head even provides individual speakers with
the unique opportunity for systematically employing language mixing for discourse-
functional and pragmatic purposes. After an illustration of this resourcefulness with
data from a project investigating language contact in adult German immigrants in the
U.S., it will be shown how early young bilingual children are able to cope with the
challenge of coexisting input languages. Finally, suggestions as to how this potential
could be exploited in the field of education in order to empower and support second
language acquisition and multilingualism in childhood will be proposed.

1. Einleitung

„Europa ist – wie jeder der Mitgliedsstaaten – mehrsprachig. Erhalt und För-
derung dieser Mehrsprachigkeit ist erklärter politischer Wille“ (Decke-Cor-
nill/Küster 2010, S. 143). Diesen auf den ersten Blick klaren Aussagen in ei-
nem fremdsprachendidaktischen Handbuch lassen ihre Verfasser sogleich die
berechtigte Frage folgen „Was aber ist darunter zu verstehen?“ (ebd.). Denkt
man beispielsweise bei der zu erhaltenden und zu fördernden Mehrsprachig-

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70 Rosemarie Tracy

keit an die Vielfalt der Erstsprachen, die man auf Europas Schulhöfen vorfin-
det? Meint man die Sprachen, die als Teil des Bildungskanons innerhalb die-
ser Schulen unterrichtet werden? Und von wessen politischem Willen ist die
Rede? Gemäß europäischer Mehrsprachigkeitspolitik sollen die Bürger und
Bürgerinnen Europas künftig drei Sprachen beherrschen, neben ihren jeweili-
gen Erstsprachen zwei andere Sprachen, beispielsweise das Englische als lin-
gua franca und eine weitere, vielleicht benachbarte europäische Sprache (vgl.
Europäische Kommission (Hg.) 2008, sowie zahlreiche EU-Publikationen der
letzten Jahre). Während Eurobarometer-Umfragen zeigen, dass die Bürger(in-
nen) Europas selbst sehr unterschiedliche Meinungen dazu haben, ob der Er-
werb einer dritten Sprache sinnvoll oder allein aus zeitlichen Gründen mach-
bar ist (vgl. Bär 2004, S. 50ff.), belegt ein kurzes Hineinhören in die Schulhöfe
europäischer Großstädte, dass die Realität das europäische Desiderat längst
übertrifft und dass die Menge der in Europa koexistierenden Sprachen weit
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über den Pool der Landessprachen und die prominentesten Dialekte seiner
Mitgliedsstaaten hinausreicht. Manche Kinder werden bereits von Geburt an
im Elternhaus in mehreren Sprachen angesprochen, von denen möglicherwei-
se keine der Umgebungs- oder Landessprache entspricht. Letztere würde dann
als dritte (oder weitere) Sprache erlernt, idealerweise möglichst früh, z.B. mit
dem Zeitpunkt des Eintritts in eine vorschulische Bildungseinrichtung. Im
Grundschulalter kämen bildungssprachliche mündliche und schriftsprachli-
che Register der Landessprache hinzu sowie eine Fremdsprache, in Deutsch-
land beispielsweise Englisch oder Französisch. In weiterführenden Schulen
eröffnen sich neue Optionen, und zwar nicht nur aus dem Kreis der so genann-
ten „lebenden“ Sprachen. Viele Menschen in Europa erfüllen also die Wunsch-
vorstellung einer individuellen Mehrsprachigkeit schon im Kindes- oder
Jugendalter. Aber während man auf europäischer Ebene linguistische Diversi-
tät als individuellen und gesellschaftlichen Vorteil zelebriert und sich da-
durch einen Wettbewerbsvorteil auf internationalen Märkten erhofft (vgl. Dar-
quennes 2011), scheint sich auf lokaler Ebene kaum jemand wirklich über die
real existierende linguistische Artenvielfalt zu freuen. Vielmehr ringen die Bil-
dungssysteme vieler europäischer Staaten mehr oder weniger hilflos mit den
durch die Heterogenität sozialer und sprachlicher Herkunft bedingten Heraus-
forderungen. Denn die mehrsprachige Biografie von Schülern und Schülerin-
nen schließt oftmals gerade diejenigen Sprachen nicht oder nicht in ausrei-
chendem Maße ein, die sie für eine erfolgreiche Bildungskarriere benötigen.
Dies bedeutet auch, dass die Mehrheit der jungen Menschen mit Migrations-
hintergrund den Schritt in weiterführende Schulen nicht schaffen und ein be-
achtlicher Teil von ihnen keinen Schulabschluss vorweisen kann. Die meisten
Erstsprachen, die in deutschen Schulhöfen zu hören sind, haben jedenfalls

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 71
innerhalb der Schulen keinerlei Marktwert, und nicht selten werden die Kom-
petenzen von Kindern und Jugendlichen in ihren Herkunftssprachen in Frage
gestellt.1 Lehrkräfte sind ihrerseits überfordert, weil ihren Schüler(inne)n bil-
dungs- und fachsprachliche Repertoires in der Landessprache fehlen und von
„normalem“ Unterricht, an den man sich aus der eigenen Schulzeit noch zu
erinnern vermeint, keine Rede sein kann.
Sowohl der grundlegende „monolinguale Habitus“ der Schule (Gogolin 1994)
als auch die vermeintlichen sprachlichen Defizite von Kindern und Jugendli-
chen in der Bildungssprache oder in allen ihren Sprachen machen es schwer,
Mehrsprachigkeit als individuelle oder gar gesellschaftliche Ressource zu sehen
(vgl. Esser 2006). Hier zeichnet sich eine Entwicklung ab, wie sie Hakuta vor
fast 30 Jahren für die USA wie folgt charakterisierte: „In the United States, bi-
lingualism is a term with meanings beyond the use of more than one language.
[...] the bilingual child in the American classroom commonly evokes the image
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of a child who speaks English poorly, has difficulty in school, and is in need of
remediation.“ (1986, S. 10). Mehrsprachigkeit wäre somit ein individuelles Risi-
ko und bestenfalls ein temporäres gesellschaftliches Übel, „characteristic of the
less developed nations“, „something ‘to get over’“ (Myers-Scotton 2006, S. 10).
Die internationalen Vergleichsstudien und die Bildungsberichte des letzten
Jahrzehnts lassen keinen Zweifel daran, dass Kinder und Jugendliche aus Zu-
wandererfamilien und aus bildungsfernen Schichten gerade in Deutschland
erheblich benachteiligt sind (vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) 2001,
OECD (Hg.) 2010, Expertenrat „Herkunft und Bildungserfolg“ 2011, Bade/
Bommes/Münz (Hg.) 2004, Gomolla/Radtke 2002). Dieser Zustand schadet
nicht nur der Volkswirtschaft (vgl. Wößmann/Piopiunik 2009), die aufgrund
eines akuten Mangels an qualifizierten Arbeitskräften bereits jetzt auf weitere
Neuzuwanderung angewiesen ist (vgl. das Jahresgutachten 2011 des Sachver-
ständigenrats deutscher Stiftungen). Für eine angebliche Wissens- und Infor-
mationsgesellschaft liegt darin ein fundamentaler Widerspruch von Anspruch
und Wirklichkeit.
Der internationale Bildungsvergleich belegt, dass Versuche, einzelne Zuwan-
derergruppen, allen voran türkische Migrant(inn)en, für das schlechte Ab-
schneiden des deutschen Schulsystems verantwortlich zu machen, daran
1
Vgl. dazu die Debatte um die so genannte „Halbsprachigkeit“ (Skutnabb-Kangas 1984, vor
allem die Kritik in Romaine 1995 und Siebert-Ott 2001). Von vermeintlichen Defiziten
mehrsprachiger Kinder in allen ihren Sprachen wird seit Jahren regelmäßig in der Tages-
presse berichtet, vgl. exemplarisch den Beitrag „Schulen im Ausnahmezustand“, Welt am
Sonntag vom 19.6.2011.

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72 Rosemarie Tracy

scheitern, dass sich herkunftsbedingte Disparitäten auch bei Kindern ohne


Migrationshintergrund manifestieren. Außerdem gelingt es anderen Ländern
besser, Menschen mit gleichem ethnischen Hintergrund und vergleichbarer
Migrations- oder Bildungsbiografie in ihre Bildungssysteme und in den Ar-
beitsmarkt zu integrieren.
Wie im Untertitel angedeutet, setzt sich mein Beitrag mit einigen Mythen und
Irrtümern auseinander, die einem Verständnis von Zwei-/Mehrsprachigkeit als
einem normalen Zustand des Menschen und damit auch der Umsetzung der
positiven Visionen von gesellschaftlicher und individueller Mehrsprachigkeit
im Wege stehen. Dieser Diskussion ist vor allem Kapitel 2 gewidmet, in dem
ich auch kurz auf Sprache im Allgemeinen und auf Sprachwandel als natürli-
che Folge von Sprachkontakt eingehe. Kapitel 3 beschäftigt sich detaillierter
mit den Konsequenzen des Sprachkontakts im Kopf Erwachsener und illus­
triert den natürlichen Wettbewerb, aber auch die Komplementarität, die mit der
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Verfügbarkeit koexistierender sprachlicher Ressourcen einhergehen. Kapitel 4


verdeutlicht anhand des doppelten Erstspracherwerbs, wie sich das Potenzial
mehrsprachiger Kompetenzen in der frühen Kindheit manifestiert. In Kapitel 5
finden sich abschließend einige Ideen dahingehend, wie man den Visionen von
individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in unserem Bildungssys-
tem eine realistischere Chance einräumen könnte.

2. Fiktionen und ideelle Stolpersteine der Mehrsprachigkeitsdebatte

2.1 Verzichtbares Dogma: Primat der Einsprachigkeit

Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist dem Menschen angeboren. Sie ist un-
abhängig von der Modalität (Gebärdensprache, Lautsprache), von der In-
telligenz, von der Erziehungspraxis und von der Anzahl der beteiligten
Sprachen. Aus demografischer Perspektive betrachtet ist Mehrsprachigkeit
schon längst der Normalfall (vgl. Baker/Jones 1998, Myers-Scotton 2006,
Romaine 1995), vor allem dann, wenn man – was aus sprachwissenschaftli-
cher Sicht angemessen wäre – Dialekte und sonstige systematisch differen-
zierbare Varietäten einschließt, die im Kopf des Individuums und in seiner
Gesellschaft koexistieren. Wenn ich dennoch im Folgenden vereinfachend
von monolingualen und bilingualen/mehrsprachigen2 Kompetenzen spre-
che, so sollte dabei die Unmöglichkeit einer scharfen Grenzziehung im Auge
behalten werden.
2
Da eine nähere Unterscheidung zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit im Folgenden nicht
wichtig ist, werde ich beide Termini synonym verwenden.

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 73
Der Warnung, die der Sprachwissenschaftler Weisgerber vor einem halben
Jahrhundert bezüglich der kindlichen Mehrsprachigkeit artikulierte, würde
sich die Sprachwissenschaft heute nicht mehr anschließen. Dies gilt vor allem
für seine Hinweise auf „[...] Aufwand von Zeit und Kraft auf Kosten anderer
Arbeit, Schwächung des Sprachgefühls durch gegenseitige Beeinflussung der
beiden Sprachen, Unsicherheit des Ausdrucks, Sprachmengerei, Armut des
lebendigen Wortschatzes, Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den
Einsprachigen“ (Weisgerber 1966, S. 77). Eine „Schwächung des Sprachge-
fühls“ und eine „gegenseitige Beeinflussung der Sprachen“, insbesondere bei
der Sprachverwendung, also online, wäre aus Sicht der aktuellen Forschung
eine normale und erwartbare Konsequenz des Sprachkontakts (vgl. Clyne
2003, Tracy/Lattey 2010), insbesondere im Fall sprachübergreifender struk-
tureller und lexikalischer Ähnlichkeiten. Dabei muss sich eine gegenseitige
Beeinflussung während des Spracherwerbs nicht einmal in Form negativen
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Transfers äußern. Strukturelle und phonologische Ähnlichkeiten können sich


auch in positivem Transfer niederschlagen und zu Beschleunigungen, d.h. zu
Bootstrapping-Effekten, führen (vgl. Gawlitzek-Maiwald/Tracy 1996, Mül-
ler et al. 2007).
Schließlich wäre wohl auch im Interesse der gemeinsamen Zukunft Europas
und seiner zunehmend multi-ethnischen Einzelstaaten die von Weisgerber her­-
aufbeschworene „Lockerung der geistigen Gemeinschaft mit den Einsprachi-
gen“ ein eher erstrebenswertes Ziel, weil sie der Entwicklung einer europäi-
schen Identität förderlich sein sollte. Im Übrigen wirkt der „Armut des
lebendigen Wortschatzes“ (siehe oben) – wie wir aus der Sprachgeschichte
wissen – kaum etwas effektiver entgegen als ein Sprachkontakt, durch den
lexikalische Lücken des nativen Wortschatzes gefüllt werden und das Reper-
toire von Synonymen erweitert wird.
Die Forschung zum doppelten Erstspracherwerb belegt jedenfalls – mehr dazu
in Kapitel 4 unten –, dass sich nicht erst eine Sprache bis zu einem gewissen
Niveau entwickeln muss, bevor eine zweite „additiv“, also ohne Schaden für
beide, hinzutreten kann (vgl. die „Schwellentheorie“ von Cummins 1991).
Kinder werden weder durch den simultanen Erwerb zweier Erstsprachen noch
durch den frühen Zweitspracherwerb überfordert (Genesee/Nicoladis 2007,
Kroffke/Rothweiler 2006, Rothweiler 2007, Thoma/Tracy 2006, Tracy 2008,
Tracy/Thoma 2009). Erfolgreiche, aktive Mehrsprachigkeit bedarf zwar keines
monolingualen Sprungbretts, wohl aber eines möglichst kontinuierlichen und
regelmäßigen Sprachangebots in den beteiligten Sprachen. Kinder werden
ihre jeweiligen Zielsprachen nur dann differenziert erwerben, wenn das

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74 Rosemarie Tracy

sprachliche Angebot, das ihnen ihre Umgebung unterbreitet, ebenfalls differen-


ziert, komplex und reichhaltig ist. Da Mehrsprachigkeit auch immer Sprach-
kontakt im indivi­duellen Kopf bedeutet, sind gelegentliche Interferenzen bei
der Sprachproduktion oder beim Sprachverstehen unvermeidbar (vgl. Kap. 3
und 4). Ebenso normal und erwartbar sind beim Rückgang der Verwendungs-
gelegenheit allmähliche Veränderungen der Erstsprache unter dem Einfluss
weiterer Sprachen (vgl. auch Kap. 2.4; Backus 1996, Polinsky/Kagan 2007).

2.2 Ein Mythos: perfekte Ein- oder Mehrsprachigkeit

Die Forschung präferiert vorsichtige Formulierungen, wenn es darum geht,


Mehrsprachigkeit oder Bilingualismus zu definieren, vgl. Grosjean (2008,
S. 10), „Bilingualism is the regular use of two or more languages (or dialects)“,
und Myers-Scotton (2006, S. 65), „A bilingual is a person who can carry on at
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least casual conversations on everyday topics in a second language.“ Hier wird


bewusst auf das Kriterium eines muttersprachlichen Niveaus oder eine Ein-
grenzung auf ganz bestimmte Erwerbsszenarien, z.B. auf den doppelten Erst-
spracherwerb, verzichtet. In der Öffentlichkeit findet sich hingegen immer
noch eine Erwartung, wie sie einst der Linguist Bloomfield (1933, S. 56) for-
mulierte, der von Bilingualen „native-like control of two languages“ erwartete,
wenngleich er dieses Desiderat umgehend relativierte, „[...] of course, one can-
not define a degree of perfection at which a good foreign speaker becomes a
bilingual: the distinction is relative“.
Jedweder Spracherwerb verlangt von Lerner(inne)n die Rekonstruktion und
Internalisierung unterschiedlichster Teilsysteme, u.a. auf den Ebenen von Pho-
nologie, Syntax, Morphologie, Semantik und Pragmatik. Dabei erweist sich
der Erstspracherwerb als „robust“, d.h. Kinder gelangen normalerweise ans
Ziel (vgl. aber Kap. 2.4), während der Erwerb weiterer Sprachen auf unter-
schiedlichen Ebenen stagnieren kann. Viele Faktoren spielen hierbei eine Rol-
le: die grundlegende Verfügbarkeit des Inputs ebenso wie mögliche Altersef-
fekte, d.h. eine mit der Zeit abnehmende Sensibilität für bestimmte Merkmale
einer nach der frühen Kindheit erworbenen Sprache (vgl. Birdsong (Hg.) 1999,
Sorace 2003, Clahsen/Felser 2006), ebenso wie die individuelle Motivation
und ein bislang wenig geklärtes Sprachtalent (vgl. Dogil/Reiterer (Hg.) 2009).
Während es eher unwahrscheinlich ist (wenngleich bei gutem Gehör und viel
Übung nicht unmöglich!), dass wir in spät erworbenen Sprachen jemals wie
Muttersprachler „klingen“, können wir in anderen grammatischen Bereichen
(z.B. Wortschatz oder grammatischen Intuitionen) durchaus ein Niveau errei-

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 75
chen, das dem eines Muttersprachlers vergleichbar ist (vgl. Hopp 2007). Man-
che ältere Zweitsprachenlernende können Muttersprachler(innen) bezüglich
des Umfangs des Wortschatzes und der stilistischen Ressourcen übertreffen.
Auch die Erwartung, dass sich mehrsprachige Menschen etwa in allen ihren
Sprachen gleichermaßen wortgewandt, differenziert und flüssig über beliebi-
ge Themen unterhalten können, ist unrealistisch. Ob ihnen dies auch nur annä-
herungsweise gelingt, hängt u.a. davon ab, ob sie Gelegenheit hatten, in den
ihnen verfügbaren Sprachen mit den gleichen Themen/Kontexten in Berüh-
rung zu kommen. Da es eher unwahrscheinlich ist, dass die Verwendungsge-
legenheiten für zwei oder mehr Sprachen im Alltag eines Menschen völlig
symmetrisch verteilt sind, ist ein gewisses Ungleichgewicht zu erwarten.
Wer am Arbeitsplatz ausschließlich in Sprache A über juristische Fragen, Mu-
sik oder Feinmechanik spricht, wird wahrscheinlich in Sprache B mühsam
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nach entsprechendem Vokabular und sonstigen Formulierungsmöglichkeiten


suchen müssen und sich ggf. – je nachdem, welche Verstehensleistung man
einem Gegenüber zumutet, – mit Entlehnungen aus Sprache A helfen. Mehr-
sprachigkeit ermöglicht also zugleich Arbeitsteilung: Nicht jede Sprache ist
für alles zuständig, auch wenn alle von Bilingualen regelmäßig gesprochenen
Sprachen prinzipiell verfügbar und koaktiviert sind (vgl. Grosjean 1982, 2008;
Green 2000; Kap. 3). Nicht selten empfinden Mehrsprachige selbst eine ihrer
Sprachen als stärker oder dominant, eine Einschätzung, die sich im Laufe ei-
nes Lebens immer wieder ändern kann (vgl. Grosjean 1982, Myers-Scotton
2006, Romaine 1995). Asymmetrien sind auch schon dadurch vorprogram-
miert, dass manche Konzepte in der einen oder anderen Sprache schlicht nicht
lexikalisiert werden oder dass bestimmte Themen (trotz verfügbarem Wort-
schatz) tabuisiert werden; man denke an das Sprechen über Emotionen, Sexu-
alität, Körperteile/-funktionen, Krankheit oder Tod.
In Studien, in denen monolinguale und bilinguale Personen verglichen
werden, zeigen sich relevante Unterschiede vor allem in zwei Bereichen: im
Umfang des jeweils einzelsprachlichen Lexikons und im Hinblick auf das
Ausüben exekutiver Kontrolle. Aufgrund der bereits angesprochenen Arbeits-
teiligkeit bzw. asymmetrischer Erfahrung verfügen bilinguale Kinder und Er-
wachsene nicht unbedingt über den gleichen Wortschatz wie Monolinguale
(vgl. Bialystok 2009a, b). Außerdem benötigen sie bei manchen Aufgaben,
z.B. wenn sie in Bildbenennungsexperimenten nur eine ihrer Sprachen ver-
wenden sollen, längere Reaktionszeiten als monolinguale Testpersonen. Auf
der anderen Seite haben Mehrsprachige in Experimenten, in denen es darauf
ankommt, metasprachliche Aufgaben zu bewältigen (z.B. sich auf formale

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Merkmale von Sätzen zu konzentrieren) und irrelevante Information zu unter-


drücken, deutliche Vorteile (Bialystok 2009a, b). Der Umgang mit konkurrie-
renden Optionen und die Notwendigkeit, die gerade nicht benötigte Sprache
zu inhibieren, erweisen sich offensichtlich als positive Herausforderungen für
das Gehirn und scheinen sowohl das normale kognitive Altern als auch De-
menzerscheinungen hinauszuzögern (vgl. Bialystok et al. 2004). Positive Ef-
fekte zeigen sich bei jungen bilingualen Kindern auch beim Lösen von Theory
of Mind-Aufgaben, bei denen es darauf ankommt, sich in die Vorstellungen
anderer hineinzuversetzen (vgl. Goetz 2003). Schließlich erweisen sich sogar
doppelte Erstsprachlerner(innen) mit einer spezifischen Sprachentwicklungs-
störung (SSES) im Vergleich mit monolingualen sprachentwicklungsgestörten
Kontrollgruppen als weiter entwickelt (vgl. Paradis et al. 2003, Genesee/Para-
dis/Crago 2004).
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2.3 Überholt: Fiktionen über das 1:1-Verhältnis von


Sprache und Identität

Sprache ist instrumentell für die Konstruktion unseres Selbstbilds und für die
Art und Weise, wie wir andere sozial kategorisieren (vgl. Le Page/Tabouret-
Keller 1985, Antaki/Widdicombe (Hg.) 1998, Hinnenkamp/Meng (Hg.) 2005,
Auer (Hg.) 2007). Durch unsere Art und Weise zu sprechen drücken wir Wert-
schätzung, Solidarität oder Distanz aus und verorten uns relativ zu anderen,
d.h. „language [...] may be the most visible symbol of a group“ (Myers-Scotton
2006, S. 114). Eindrucksvoll zeigt sich dies in so genannten Matched Guise-
Experimenten, in denen Versuchsteilnehmer(innen) Personen, von denen ih-
nen Tonaufnahmen vorgespielt werden, bezüglich bestimmter Merkmale be-
urteilen sollen (z.B. als sympathisch, intelligent, fleißig, vertrauenswürdig
etc.; vgl. Lambert 1960, Romaine 1995, Gardner-Chloros 2009; für informelle
pädagogische Übungen Tracy 2010). Die Aufnahmen bestehen aus Texten, die
entweder in Sprache A oder Sprache B vorgetragen werden. Was die Versuchs-
teilnehmer(innen) nicht wissen: Unter den Vortragenden sind Mehrsprachige,
die sie mithin zweimal hören und entsprechend zweimal einschätzen, einmal
nach Hören von Sprache A, einmal nach Sprache B. Anhand dieser Einschät-
zungsaufgabe lassen sich Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachge-
meinschaften sehr einfach elizitieren.
Die in der Vergangenheit auch von sprachwissenschaftlicher Seite vorge-
brachte Besorgnis um eine durch Mehrsprachigkeit begünstigte oder verur-
sachte Identitätsverwirrung und fehlende politische Loyalität (vgl. nochmals
Weisgerber 1966), die der Nationalsprachenideologie des 18. und 19. Jahr-

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 77
hunderts geschuldet ist (vgl. Bär 2004, Eichinger/Plewnia (Hg.) 2008, Gardt
2000), hat zwar heute in der Fachwissenschaft keinen Rückhalt mehr, ist aber
in der öffentlichen Diskussion in Deutschland noch sehr virulent und spielt
auch in anderen Ländern immer noch eine wichtige Rolle, z.B. bei der English
Only-Bewegung in den USA (vgl. Hayakawa 1992, Judd 1992).
Identität ist weder etwas ein für alle Male Fixiertes, noch spricht etwas gegen
eine Verbundenheit mit mehreren Gruppen, unabhängig davon, ob es sich bei
Letzteren um Sprecher und Sprecherinnen unterschiedlicher Sprachen oder
um kurzlebige Interessensgemeinschaften handelt, z.B. um Subkulturen oder
Jugendgruppen, die sich durch bestimmte sprachliche Stile auszeichnen (vgl.
Keim i.d.Bd., Androutsopoulos 2001, Rampton 2005). Mittlerweile beanspru-
chen viele junge Menschen mit Migrationshintergrund für sich bewusst und
zunehmend selbstbewusst eine hybride Identität, die in der Sprachproduktion
auch in der Verwendung von Mischäußerungen ihren Niederschlag finden
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kann (vgl. Hinnenkamp/Meng (Hg.) 2005, Keim 2007, Keim i.d.Bd.). Das
damit einhergehende Selbstbewusstsein zeigt sich beispielsweise in dem fol-
genden Zitat einer jungen türkischstämmigen Frau (aus Keim/Tracy 2007,
S. 131), die sich hier zu ihrer Sprache, der „Mischsprache“ bekennt, deren
Beherrschung sie auch von einem künftigen Lebenspartner erwartet. Der
Asterisk in der Verschriftung steht für eine kurze Pause.
(1) isch könnte nie einen Mann lieben wenn er meine Sprache nischt kann * die
Mischsprache * einen Türken nich und auch keinen Deutschen * isch könnte
nie zu einem sagen *ich liebe dich* das klingt so hart * aber seni seviyorum
klingt schön

Wie Keim (i.d.Bd., 2007) zeigt, können Mischvarietäten, Dialekt und stan-
dardnahe Formen durchaus nebeneinander existieren und sich funktional
ergänzen. In Kapitel 3 werde ich anhand des deutsch-englischen Sprachkon-
takts bei erwachsenen Migrantinnen verdeutlichen, wie individuelle Mehr-
sprachigkeit dem Einzelnen erlaubt, mehreren Stimmen und Stimmungen
gleichzeitig Ausdruck zu verleihen. Während die Sprachwissenschaft der
letzten Jahrzehnte die Kompetenz hervorgehoben hat, die der Sprachmi-
schung bilingualer Sprecher zugrundeliegt (vgl. Auer (Hg.) 1998, Bullock/
Toribio (Hg.) 2009, Clyne 2003, Gardner-Chloros 2009, Keim i.d.Bd., Muys-
ken 2000, Myers-Scotton 2006, Tracy/Lattey 2010), weist die Reaktion von
Nichtexpert(inn)en auf ein interessantes Paradox hin: Auch wer Mehrspra-
chigkeit prinzipiell befürwortet, mag im Grunde immer noch erwarten, dass
sich bilinguale Menschen möglichst monolingual verhalten, also so, als ob sie

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78 Rosemarie Tracy

eigentlich doch nicht bilingual wären bzw. als ob sie mehrere, völlig iso-
liert voneinander existierende Monolinguale in sich vereinten (vgl. die Kritik
in Grosjean 2008, Kap. 2).

2.4 Eigentlich selbst nur eine Fiktion: Sprache

Sprachen sind fiktive Objekte, keine realen, die irgendwo en bloc in unserem
Gehirn ein Eigenleben führen. Sie existieren nur gedacht – im Sinne der abs-
trakten Objekte von Poppers „Dritter Welt“ (1979) – und lassen sich nicht
unverändert aus der Hand einer Vorgängergeneration übernehmen und gleich
einem Erbstück unversehrt an die eigenen Kinder weitergeben. Realität hin-
gegen sind individuelle Kenntnissysteme, die das ausmachen, was man ge-
meinhin als Kompetenz bezeichnet. Chomsky (1986, S. 25) spricht hier von
internalisierter Sprache, I-Sprache. Dazu gehören das mentale Lexikon sowie
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Regeln und Konstruktionsmuster für die Bildung und Interpretation von


Wörtern und Sätzen. Das Gros dieser Kompetenzen ist beobachtungsfern,
d.h. von der Aussprache abgesehen lassen sich Grade der Beherrschung oder
der Annäherung an eine zielsprachliche Grammatik nicht durch einfaches
Hinschauen bzw. Zuhören feststellen.
Sprachliche Wissenssysteme verändern sich nicht nur an der Schnittstelle zwi-
schen Generationen, weil etwa eine nachfolgende Generation bestimmte Struk-
turen anders interpretiert, analysiert und rekonstruiert (vgl. Lightfoot 1999,
Yang 2009), sie wandeln sich auch durch den Kontakt mit anderen Sprachen.
Dies zeigt sich eindrücklich an den Veränderungen der von Zuwanderern ge-
sprochenen Herkunftssprachen, den so genannten Heritage-Sprachen (vgl.
Polinsky/Kagan 2007, Backus 1996). Durch den intensiven Kontakt mit Majo-
ritäts- und anderen Minoritätssprachen sowie den Rückgang von Verwendungs-
gelegenheiten kommt es im Laufe der Jahre außerdem zu nicht-pathologischen
Attritionserscheinungen, unter anderem zu einem verlangsamten Zugriff auf
das Lexikon der Erstsprache und einem allmählichen Abbau von Teilsystemen
(vgl. Schmid 2002, Köpke et al. 2004, Tsimpli et al. (Hg.) 2004, Münch 2006,
Stolberg/Tracy 2008, Stolberg/Münch 2010). Diese natürliche Folge von Mig-
ration und Sprachkontakt hat möglicherweise erhebliche Konsequenzen für das
Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung der Betroffenen, und zwar ins-
besondere dann, wenn sie selbst mehr oder weniger explizit die Vorstellung ei-
nes engen Zusammenhangs von Erstsprache und Identität verinnerlicht haben.
Verständlicherweise empfinden es Familien mit Migrationsbiografie oft als
selbstverschuldetes Versagen, wenn sie im Grunde nicht länger die Sprache(n)

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 79
ihres Herkunftslandes sprechen, und sie fragen sich, ob sie überhaupt noch in
der Lage sind, ihren Kindern ein Modell der Herkunftssprache anzubieten.3
Bei Besuchen im Herkunftsland kommt es aber nicht nur zu Problemen, weil
sich die sprachlichen Systeme der Ausgewanderten und ihrer Kinder verän-
dert haben. Sprachliche Differenzen ergeben sich auch, weil die Sprachen der
Herkunftsländer ebenfalls nicht im Stillstand verharren.4 Hier ist gute Infor-
mationspolitik gefragt und zwingend notwendig: Sowohl Familien mit Mi­
grationshintergrund als auch Repräsentant(inn)en der Majoritätsgesellschaft,
und darunter insbesondere Vertreter(innen) von Bildungssystemen, sollte be-
wusst sein, dass der individuelle Sprachwandel kein Makel ist und nicht
bedeutet, dass Betroffene „halbsprachig“ sind, nur weil sich Ausgangsspra-
che und Heritage-Varietät aufgrund der räumlichen Trennung unabhängig
voneinander weiterentwickelt haben. Genau genommen sind wir aufgrund
des beständigen Sprachwandels und der zunehmenden Mobilität des Einzel-
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nen in modernen Gesellschaften alle mehr oder weniger Sprecher(innen) von


Heritage-Sprachen.

2.5 Fiktionen im Kontext der Sprachförderung

Bei der Diskussion um die sprachlichen Defizite von Kindern mit Migrations-
hintergrund ist seit Jahren immer wieder davon die Rede, dass man „die Eltern
ins Boot holen“ muss. Wenn damit gemeint ist, dass Familien im Rahmen ihrer
Möglichkeiten dazu beitragen sollten, den Bildungsweg ihrer Kinder unterstüt-
zend zu begleiten, so kann man dem nur beipflichten. Ist damit hingegen ge-
meint, dass Eltern, die das Deutsche nur bruchstückhaft beherrschen, mit ihren
Kindern Deutsch sprechen sollten, so wäre dies eine Verkennung dessen, was
Kinder für den zügigen Erwerb des Deutschen und insbesondere als Vorausset-
zung für den Ausbau bildungssprachlicher Kompetenzen benötigen: nämlich
kompetente Vorbilder für ihre jeweiligen Zielsprachen.
Dabei steht außer Frage, dass Erwachsene durch eigenes Deutschlernen Kin-
dern ein gutes Beispiel für Lernbereitschaft schlechthin bieten und außerdem
die Alltagsrelevanz des Deutschen als Umgebungssprache unterstreichen.
3
Diese Sorge wurde mir gegenüber anlässlich von Vorträgen und Weiterbildungsveranstal-
tungen der letzten Jahre häufig geäußert, und zwar sowohl von Eltern selbst als auch seitens
von Erzieher(inne)n, Grundschullehrer(inne)n, Kinderärzt(inn)en und Logopäd(inn)en, die
ihrerseits von Gesprächen mit Eltern berichteten.
4
Man bedenke, was dies für den „muttersprachlichen“ Unterricht bedeutet. Welche Variante
der Herkunftssprache wäre in diesem Fall die geeignete Zielsprache? Man kann sich un-
schwer ausmalen, dass der so genannte muttersprachliche Unterricht für viele Kinder eher
einem Fremdsprachenunterricht gleich käme.

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80 Rosemarie Tracy

Beides sollte sich positiv auf die Lernmotivation ihrer Kinder auswirken.
Dennoch: Sofern Eltern nicht schon zur Zeit der Geburt ihrer Kinder über gute
Deutschkenntnisse verfügen, können sie sich diese mit Sicherheit nicht schnell
genug und vor allem nicht hinreichend variationsreich und differenziert aneig-
nen, um ihre Kinder auf bildungssprachliche Leistungsanforderungen vorzu-
bereiten (vgl. auch Tracy 2008). Eltern können andererseits natürlich dafür
Sorge tragen, dass ihre Kinder möglichst früh und regelmäßig eine Kinderta-
gesstätte besuchen. Des Weiteren können Eltern ihren Kindern bei der Aneig-
nung von Weltwissen helfen und generell ihre Neugier und ihre Lust am Ler-
nen erhalten. Eben dies sollten Zuwandererfamilien in den Sprachen tun, die
sie selbst sicher beherrschen und in denen sie ihren Kindern den für den Erst-
spracherwerb benötigten komplexen, authentischen Input anbieten können.
Was den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache und insbesondere bildungs-
sprachliche Varietäten angeht, ist in erster Linie das Bildungssystem gefor-
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dert, Kindern das benötigte sprachliche Angebot zu unterbreiten, das sie für
einen möglichst zügigen Erwerb eines umfangreichen Lexikons und der ziel-
sprachlichen Grammatik benötigen. Eine Beschränkung auf Satzfragmente
(„Alle mal herhören!“, „Schuhe anziehen vorm Rausgehen!“ etc.), die für den
Kita-Alltag und die Kommunikation mit großen Kindergruppen typisch sind,
bietet Kindern keine ausreichende Informationsbasis. Auch eine so genannte
„ganzheitliche“ Förderung in den Kitas, so gut sie gemeint ist, ist keine Ga-
rantie, dass Kindern hinreichend komplexer verbaler Input zur Verfügung
steht. Für viele Erwerbsaufgaben und sprachliche Details ergeben sich näm-
lich die relevanten Erfahrungskontexte nicht „von alleine“ oder gar zufällig.
Bekannte Erwerbshürden sollten daher von entsprechend geschultem Perso-
nal gezielt - und dies steht keineswegs im Gegensatz zu „ spielerisch“ - ange-
gangen werden (vgl. Tracy/Lemke (Hg.) 2009).
Erzieher(innen) müssen nicht nur in der Lage sein, durch intensive sprachli-
che Interaktion Kindern den für den Spracherwerb benötigten Input zu liefern.
Laut aktueller Bildungs- und Orientierungspläne gehört in ihre Verantwortung
auch die „Wahrnehmung, Beobachtung und regelmäßige Dokumentation des
Entwicklungsstandes bzw. der Entwicklungsfortschritte jedes Kindes“ (Minis-
terium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2007, S. 47). Diese
Anforderungen sind nicht trivial und setzen theoretische Grundlagen voraus,
ohne die man nicht einmal wüsste, worauf man beim Beobachten seine Auf-
merksamkeit richten sollte (vgl. Schulz/Tracy/Wenzel 2008; Tracy 2008, 2009;
Schulz/Tracy 2011; Hopp/Thoma/Tracy 2010). Berechtigt ist auch die Frage,
ob angesichts der in der Praxis vorherrschenden Bedingungen überhaupt eine

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 81
individuelle Einschätzung von Förderbedarf und Entwicklungsfortschritten
sowie eine individuelle Förderung realisierbar sind. Wie kann man angesichts
von personellen, zeitlichen und oft räumlichen Einschränkungen kommu-
nikative Situationen erzeugen, in denen erwachsene und kindliche Ge-
sprächspartner(innen) tatsächlich ins Gespräch kommen, also ein Thema
über mehr als eine knappe Abfolge von Frage und Antwort hinaus verfolgen?
Wohlmeinende Förderbemühungen scheitern oft bereits an der Unmöglich-
keit, einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herzustellen und über meh-
rere Redebeiträge (so genannte Turns) hinweg zu erhalten. Dies bedeutet,
dass für eine individuelle Ansprache und für authentische, alltagsrelevante
Dialoge mit Kindern fachlich gut qualifizierte und kommunikativ kompeten-
te Fachkräfte sowie angemessene Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen
müssen, wenn Förderung nicht nur Vision (oder Fiktion) bleiben soll.
In der Hoffnung, bis zum Schulbeginn wichtige Lücken schließen zu können,
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haben viele Initiativen auf die Förderung von Kindern im letzten Vorschuljahr
gesetzt. Erste Wirksamkeitsstudien zeigen allerdings deutlich, dass diese Rech-
nung nicht aufgeht (vgl. beispielsweise die Homepage der Baden-Württem-
berg Stiftung www.bwstiftung.de). Ungeachtet der methodischen Probleme, die
zu einer Kritik an der Evaluation selbst führten (vgl. Tracy i.Vorb.), sprechen
die Ergebnisse in vieler Hinsicht eine deutliche Sprache: Die Fördermaßnah-
men beginnen zu spät, sind aufgrund von Fehlzeiten nicht verlässlich, der
insgesamt für die Förderung zur Verfügung stehende Zeitraum ist zu kurz, und
die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte erweist sich trotz offenkundi-
ger Bemühungen als verbesserungsbedürftig (vgl. Hofmann et al. 2008, Gas-
teiger-Klicpera/Knapp/Kucharz 2010).
Ein besonders fataler Irrtum besteht in der Annahme, dass man Kinder mit
Deutsch als Zweitsprache innerhalb eines knapp bemessenen Förderzeitraums
gleich in vielen sprachlichen Bereichen, u.a. solchen, die sich durch ein hohes
Maß an Idiosynkrasie auszeichnen (u.a. Wortschatz, Wortbildung), auf ein
muttersprachliches Niveau bringen könnte. Kein Lehrer/keine Lehrerin schu-
lischer Fremdsprachen käme auf die Idee, die Leistungen von Schüler(inne)n
nach einem Unterrichtsjahr an denen gleichaltriger Kinder oder Jugendlicher
in England oder Frankreich zu messen. Fairerweise würden sich Lehrkräfte
bei der Bewertung von Entwicklungsfortschritten in der Fremdsprache an
dem orientieren, was im Unterricht oder in Lehrbüchern behandelt wurde. In
der öffentlichen Diskussion um die Sprachförderung wurden Erwartungen ge-
weckt, die angesichts der Bedingungen „im Feld“ und der Einschränkung der
Förderdauer unrealistisch waren. Nicht zuletzt muss bedacht werden, dass die

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82 Rosemarie Tracy

für die Messung von Effekten eingesetzten Verfahren für monolinguale Popu-
lationen entwickelt und normiert wurden und sich von daher für den Einsatz
beim Zweitspracherwerb nur sehr bedingt eignen (vgl. Schulz/Tracy/Wenzel
2008, Schulz/Kersten/Kleissendorf 2009).

3. Mehrsprachige Realität: Konkurrenz und Kooperation,


Kooperation dank Konkurrenz

Mehrsprachigkeit ist – wie bereits betont wurde – nicht mit völlig ausgewo-
genen, in beiden/allen Sprachen gleichermaßen differenzierten lexikalischen
und stilistischen Repertoires gleichzusetzen. Allerdings kann man im Fall
regelmäßig verwendeter Sprachen von beträchtlichem Koaktivierungspoten-
zial und wechselseitigem Priming ausgehen (vgl. Clyne 2003, Green 2000,
Grosjean 2008). Lexeme und Satzbaupläne beider/aller Sprachen sind prinzi-
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piell „einsatzbereit“ und können auch mehr oder weniger intensiv und be-
merkenswert flüssig gemischt werden. Mittlerweile belegen unzählige Studi-
en, dass Mischäußerungen weder in formaler noch in funktionaler Hinsicht
chaotisch sind (vgl. Auer (Hg.) 1998, Bullock/Toribio (Hg.) 2009, Gardner-
Chloros 2009, Muysken 2000, Hinnenkamp/Meng (Hg.) 2005, Myers-Scotton
2006). Ziel des folgenden Abschnitts ist es, diese Systematik anhand ausge-
wählter deutsch-englischer Fallbeispiele zu illustrieren. Die Daten stammen
aus einem Forschungsprojekt5 mit Amerikaner(inne)n deutscher Herkunft in
den USA, die mehrere Jahre lang regelmäßig unter variierenden Bedingungen
aufgenommen wurden. Im Zentrum der Studie standen funktionale und for-
male Eigenschaften von mündlichen und schriftlichen Kontaktphänomenen
sowie die Identifikation individueller Sprecherprofile (vgl. Lattey/Tracy
2001, Münch 2006, Stolberg/Tracy 2008, Stolberg/Münch 2010, Tracy/Lat-
tey 2010).

Bei den beiden Projektteilnehmerinnen, die im Folgenden zitiert werden, han-


delt es sich um Schwestern – 80 und 84 Jahre alt –, die im Alter von 14 bzw.
19 Jahren mit ihren Eltern von München nach New York auswanderten. Beide
sind seit vielen Jahren verwitwet und leben mittlerweile in unterschiedlichen
Städten Floridas. Sie pflegen Freundschaften mit ihren amerikanischen Nach-
bar(inne)n und verfügen auch über deutschstämmige Freundeskreise, mit de-
nen sie sich regelmäßig treffen. Mit ihren Kindern und Enkeln sprechen sie
5
Es handelt sich um das von Elsa Lattey (Tübingen) und mir geleitete DFG-Projekt „Code-
switching, Crossover & Co.“, einem Teilprojekt der Mannheimer Forschergruppe „Sprach-
variation und kommunikative Praxis“; vgl. auch Tracy (2006).

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 83
ausschließlich Englisch. Sie halten telefonisch Kontakt zu Verwandten in
Bayern, waren aber seit gut 20 Jahren nicht mehr in Deutschland. In Situatio-
nen, in denen wir sie beim Gespräch mit monolingualen Deutsch oder Eng-
lisch sprechenden Freunden und Familienmitgliedern aufnehmen konnten
(u.a. am Telefon), verschwanden Mischungen weitestgehend. Dies unter-
streicht, wie gut sie ihren eigenen Output kontrollieren können.

Besonders typisch für den deutsch-englischen Sprachkontakt sind Mischäuße-


rungen, in denen Kognate oder mindestens phonologisch ähnliche Lexeme
beider Sprachen nicht nur koaktiviert sind, sondern auch overt rivalisieren,
vgl. (2) - (4), produziert von der 84-jährigen TG.6

(2) So life was verywe wir sagn „bunt“, ne? Leipziger Allerlei, that′s what it was

(3) [...] dann denk ich oft, we-when people complain, was wir alles ham
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(4) I was hoffing äh hoffing äh hoping

In (2) konkurrieren ein formal ähnliches englisches und ein deutsches pronomi-
nales Subjekt (we/wir), in (3) verwandte Komplementierer (wenn/when). In (4)
wurde ein deutscher Verbstamm in einen englischen Satz integriert - aus Sicht
der Sprecherin offensichtlich ein Versprecher und nicht einfach nur eine Entleh-
nung, da die Verbform von ihr im dritten Anlauf repariert wird. Andere Misch-
formen zeigen eher das kooperative Potenzial mehrsprachiger Ressourcen. In
(5) - (6) sieht man, dass der Sprachwechsel mit bestimmten Diskursfunktionen
und spezifischen Zügen des Argumentationsgangs einhergeht. Bei beiden kor-
reliert der Wechsel vom Deutschen ins Englische mit einer Abfolge von Rah-
menstruktur, gebildet durch Matrixsätze mit Verben des Sagens/Denkens, und
direkter oder indirekter Redewiedergabe. In (5) berichtet die 80-jährige KL,
TGs jüngere Schwester, empört von einer Unterhaltung mit ihrem Sohn, der den
Wunsch geäußert hatte, sie möge nicht mehr selbst Auto fahren. In diesem Fall
kann man übrigens sicher sein, dass das ursprüngliche Gespräch auf Englisch
stattgefunden hat, weil keiner der beiden Söhne KLs Deutsch spricht.

(5) Aber ich hab gesagt, I go according to the way I feel, and if I feel well enough
that I think I can do it, I will do it. Ich fahr doch schon äh seit neunzehnhun-
dertzweiundfünfzig …

6
Soweit Zuordnungen möglich sind, werden englische Anteile kursiv wiedergegeben, der
Rest recte. Ein Trennstrich „“ symbolisiert einen Abbruch. Sowohl deutsche als auch eng-
lische Verzögerungssignale werden undifferenziert durch äh/ähm transkribiert. Satzzeichen
dienen lediglich der Leseerleichterung.

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84 Rosemarie Tracy

In (6) schildert TG eine mehr als sechs Jahrzehnte zurückliegende, auf Deutsch
geführte Unterhaltung mit der ebenfalls deutschstämmigen Frau ihres ersten Ar-
beitgebers in den USA, dem sie kurz zuvor ihre Kündigung eingereicht hatte.
(6) ... dann hat sei Frau zu mir gesagt, why are you leaving us now? Da sog i, be-
cause I would like to laugh once in a while, und dann hats' g'sagt, well I'm here
too an′ ich leb noch, hots' g'moant. Na hab ich g'sagt, well, gee ...

TG wechselt hier nicht nur zwischen Englisch und Deutsch. Innerhalb der
deutschen Passagen koexistieren außerdem Formen des Standarddeutschen
(z.B. ich, hat, gesagt) und des Bairischen (i, hot, sog, g′sagt, na etc.). Im
Grunde sind also mindestens drei Systeme in hohem Maße aktiviert und an
der Re-Inszenierung des Dialogs beteiligt.
(7) - (10), ebenfalls von TG produziert, illustrieren weitere diskurspragmati-
sche Funktionen, die in der Forschung gut belegt sind (vgl. Auer (Hg.) 1998,
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Gardner-Chloros 2009, Romaine 1995, Myers-Scotton 2006). In (7) handelt


es sich um eine Richtigstellung, wobei die deutsche Ellipse auch zwei eine
englische Behauptung korrigiert. In (8) erfolgt eine Sachverhaltspräzisierung;
in (9) - (10) werden Versprecher repariert, d.h. Vater wird durch Mann, Kaffee-
wagen durch Teewagen ersetzt; I mean liefert einen expliziten metalinguisti-
schen Hinweis auf einen vorangegangen lexikalischen Fehlgriff. In (9) gibt
uns die deutsche Frage wie hat′n des glei wieder ghoassn? und die Präzisie-
rung des Suchbereichs (dieses Hotel ) explizite Hinweise darauf, dass TG nach
dem richtigen Namen eines ganz bestimmten Hotels sucht.
(7) I think we stayed two nights, and when we went to Amy, we stayed one night.
No, auch zwei.
(8) [...] when they came for dinner, they used to speak French, but anyhow, to Tan-
te Ida and Doctor M., net zu mir, and äh it was, well, an adventure ...
(9) Ihr Vater äh, I mean, ihr Mann und ihr Bruder, they were waiters in ähm the
arlton, no ah, wie hat'n des glei wieder ghoassn, on Seventy-first, dieses Ho-
tel, well, anyhow, ...
(10) Und ich hab'n Kaffeetisch, I mean, a a an Teewagen.

In (11) - (12) geht der Sprachwechsel mit der Ergänzung von Hintergrundin-
formation und Interpretationshilfen einher. In (11) wechselt TG allerdings
nicht zum Zitieren ins Englische; vielmehr kann man (amüsiert) feststellen,
dass sie ihrem aus Hamburg stammenden Arzt auf Bairisch realisierte Äuße-
rungen in den Mund legt.
(11) Und dann hot mei Doktor, der war von Hamburg, Doktor L., he was nice and
I liked him very much. Der hot zu mir g'sogt, ‘Toni, du hast a deutsche Figur.’

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 85
Na sog i, ‘Ja, und wie is die?’ No hot er g'sogt, ‘Wenn der Kaiser zu Pferd war,
hot er groß ausg'schaugt, und wenn er runterkomme is vom Pferd, dann war
nix mehr von eam da.’ Because he had short legs, like me, you know? A long
torso and very short legs.

(12) [...] and ähm es war so schön da, und nebn dene hot die Elsa Maxwell g'wohnt,
she was a gossip woman, you know

Dass bilinguale Sprecher(innen) zwischen Versprechern wie in (4) und nicht


als reparaturbedürftig wahrgenommenem Mischen unterscheiden, zeigt sich
auch deutlich an der Episode in (13). TG schildert hier, wie sie und ihre Freun-
de in ihrer Münchner Kindheit die Eisstückchen, die von den Pferdewagen der
Eishändler inmitten des Pferdedrecks auf die Straße fielen, aufsammelten und
lutschten.
(13) [...] die Pferde ham auf'n Boden g'macht, gell, und ab und zu hams' aa a paar
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Stickel Eis fallen lassen, und wir Kinder ham das aufklaabt und ham's g'lutscht
weil des gut war im Sommer, und na hat mei Großmutter g'sagt äh, geh rauf
und nimm a Schaufe un en Besen und tu mer de Rossboin raufbringe, die
brauch ich für meine Fuchsien am Balkon. Na hob i. Daneben san die Eissti-
ckeln g'legen wo mir g'spieg'lutscht ham. Today you would say, „Oh, this is
so unsanitary.“

Im vorletzten Satz wird das irrtümlich begonnene gespielt zu gelutscht korri-


giert, während der darauf folgende Wechsel ins Englische, der mit einer Kon-
trastierung von früheren und gegenwärtigen Hygienevorstellungen korreliert
(Today you would say ...), von ihr offensichtlich in keiner Weise als störend
empfunden wird.

Über den inter-sentenzialen Sprachwechsel hinaus, den die meisten der bishe-
rigen Beispiele exemplifizieren, finden sich auch komplexere intra-sentenzia-
le Mischungen. In (14) sehen wir eine im Grunde englische Struktur, die zum
Teil mit deutschem Wortschatz realisiert wurde. In (15) haben wir es mit dem
komplementären Fall zu tun: Hier entspricht die Gesamtstruktur einem deut-
schen Verbzweit-Hauptsatz.7
(14) [...] und scheinbar die Mutter wasn′t a good housekeeper because die war des
von dahoam net g'wöhnt, dass man'n Boden putzen muss

(15) [...] and then the next morning hob i mer denkt [...]

7
In der Theorie Muyskens (2000) handelt es sich hier um Fälle einer verzögerten Lexikalisie-
rung („delayed lexicalization“). In der traditionellen Sprachkontaktforschung spricht man
von Lehnübersetzung oder Calquing (vgl. auch Backus/Dorlijn 2009).

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86 Rosemarie Tracy

Dieses intra-sentenziale Mischen tritt in Sätzen auf, in denen das Deutsche


und das Englische keine parallelen Satzmuster aufweisen, d.h. es verletzt die
grammatischen Regeln mindestens einer der beiden Sprachen. Eben dies
macht diese Strukturen für die Sprachwissenschaft natürlich besonders inter-
essant: Sprecher(innen) „suspendieren“ gewissermaßen problemlos, d.h. ohne
Abbrüche oder Hesitationsphänomene, grammatische Wohlgeformtheitsbe-
dingungen.
Darüber hinaus zeichnen sich bei beiden Sprecherinnen bereits Tendenzen in
Richtung eines individuellen Sprachwandels ab. So verwendet TG unter dem
Einfluss des englischen when recht häufig das deutsch klingende wenn auch
dann, wenn im Standarddeutschen als bzw. bairisch wie verlangt würde, vgl.
(16) - (17).
(16) And I went to school in Switzerland because they invited me äh years ago, you
know. Wenn ich zwölf Jahr alt war, bin ich wieder nach Deutschland zurück in
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die Schul.
(17) I remember wenn der Hit- der Hindenburg gestorben is.

In (17), wie schon zuvor in (13), wird ein Substitutionsversprecher (Hitler


statt Hindenburg) nach nur einer Silbe gestoppt und repariert, während die aus
zielsprachlicher Sicht abweichende Verwendung von wenn nicht korrigiert
wird. Letzteres belegt, dass die Konvergenz von wenn/when von TG bereits
als normal empfunden wird.
Besonders bemerkenswert ist die Reibungslosigkeit, mit der sich der Über-
gang von einer Sprache in die andere in den meisten Fällen vollzieht. Insge-
samt lassen sich in den gemischten Äußerungen sämtlicher Sprecher(innen),
in deren Daten wir gefüllte (z.B. durch äh) und ungefüllte Pausen quantifiziert
haben, deutlich weniger Reparaturen und Verzögerungen nachweisen als in
den monolingualen Passagen der gleichen Personen. Dies stützt die Annahme,
dass der Sprachwechsel geradezu dazu beiträgt, den Redefluss aufrecht zu
erhalten (vgl. Ehinger 2003, Tracy/Lattey 2010). Verzögerungssignale und
Reformulierungen finden sich eher dann, wenn sich Sprecher(innen) auf die
Verwendung einer ihrer Sprachen beschränken und die jeweils andere unter-
drücken müssen. In Situationen, in denen koaktivierte Formen und Satzbau-
pläne ungehindert miteinander rivalisieren dürfen, also in der Gegenwart an-
derer mehrsprachiger Menschen, entfaltet sich hingegen das kooperative
Potenzial dieser Koaktivierung. Daher enthält die Überschrift dieses Kapitels,
„Kooperation durch Konkurrenz“, keinen Widerspruch. In einem weiteren
Schritt wäre nun zu fragen, ob es Evidenz für eine vergleichbar kompetente
Performanz in der Kindheit gibt.

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 87
4. Mehrsprachig von Anfang an8

Der doppelte Erstspracherwerb, bei dem Kinder von Geburt an von ihren Be-
zugspersonen in mehr als einer Sprache angesprochen werden,9 eröffnet uns
eine besonders privilegierte Gelegenheit, um zu erforschen, wie früh und wie
systematisch bilinguale Kinder Sprachen trennen und ihre Sprachwahl kon­
trollieren können. Entgegen früheren Annahmen (z.B. Volterra/Taeschner 1978)
belegen qualitative und quantitative Untersuchungen, dass Kinder im Laufe
der ersten beiden Lebensjahre in der Lage sind, Sprachen auf verschiedenen
Ebenen des Systems (Phonologie, Morphosyntax, Semantik) zu unterscheiden
und im Alter von zwei bis drei Jahren sprachlich differenziert auf unterschied-
liche Gesprächspartner reagieren (vgl. Cenoz/Genesee 2001; de Houwer
1990; Döpke (Hg.) 2000; Genesee/Nicoladis/Paradis 1995; Genesee/Nicola-
dis 2007; Hulk/Cornips 2006; Lanza 1997; Lleó (Hg.) 2006; Meisel 1989,
2004, 2007; Müller et al. 2007; Müller/Cantone 2009; Bosch/Sebastián-Gallés
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr

2001; Quay 1995). Kinder, die Deutsch und Englisch als simultane Erstspra-
chen erwerben, zeigen uns bereits anhand der Platzierung nicht-finiter Verben
in ihren Zwei- und Mehrwortäußerungen im Alter von 18 bis 24 Monaten,
dass sie den formalen Kontrast zwischen deutschen und englischen Verbal-
phrasen kennen (vgl. Gawlitzek-Maiwald/Tracy 1996; Tracy/Gawlitzek-Mai-
wald 2000, 2005). In ihren englischen Äußerungen geht der verbale Kopf rela-
tiv konsistent seinem Komplement voraus, im Deutschen folgt er ihm, wie in
den folgenden Äußerungen eines bilingualen Kindes, Hannah, die am glei-
chen Tag in Gesprächen mit unterschiedlichen Gesprächspartnern aufgenom-
men wurden (vgl. auch Tracy 2007, 2008).10
(18) Hannah (2;2)
(a) H. steckt ein Messer in eine Tasse, will Mutter darauf aufmerksam
machen.
Mami, put də knife in cup Vokativ, Verb+Objekt
(b) H. nimmt ein Buch auf.
ich das lesen Subjekt+Objekt+Verb
8
Diese Daten wurden in dem Projekt „Erwerb der komplexen Syntax“ erhoben, einem Pro-
jekt des DFG-Schwerpunktprogramms „Spracherwerb“. Das Projekt verglich den Erwerb
von Nebensätzen bei monolingualen deutschsprachigen und bei bilingualen deutsch- und
englischsprachigen Kindern.
9
Z.B. nach dem Partnerprinzip, wobei die Kinder von Vater und Mutter oder sonstigen Be-
zugspersonen in unterschiedlichen Sprachen angesprochen werden. Vgl. den Überblick über
familiäre Sprachpolitik in Romaine (1995), Tracy/Gawlitzek-Maiwald (2000), Tracy (2008).
10
Die Zahlen in Klammern geben das Alter der Kinder in Jahren und Monaten an, i.e. (2;2)
entspricht einem Alter von 2 Jahren und 2 Monaten.

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88 Rosemarie Tracy

In der Episode in (19) produziert Hannah eine Reihe von Äußerungen, in de-
ren Verlauf sie eine ihr selbst suspekt erscheinende Struktur schrittweise
modifiziert.
(19) Hannah (2;2) versucht vergeblich, eine Puppe in einem Spielzeugbuggy fest-
zuschnallen. Schließlich wendet sie sich mit einer expliziten Aufforderung an
ihre Mutter, die sich in dieser ganzen Sequenz im Hintergrund hält.
(a) die dolly einstræppen
(b) die dolly eintræp
(c) das einstra:p in ... die puppe
(d) die einstra:p in ... die dolly
(e) die Mama helf mir tæp it in
(f) Mama tæp it in ... die dolly

(19a) folgt der kanonischen Struktur einer deutschen Verbalphrase, vergleich-


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bar (18b) oben. In (19b) eliminiert Hannah zunächst das deutsche Infinitivsuf-
fix -en. In (c) und (d) tritt mit der Partikel in eine semantische Entsprechung
des deutschen Präfixes ein- in Erscheinung. In (c) und (d) wird mit dem Nach-
trag die puppe/die dolly die Referenz des deutschen präverbalen pronomina-
len Objekts (das/die) verdeutlicht, aber erst in (e) und (f) wird das direkte
Objekt (it) in der für ein englisches Komplement typischen Position nach dem
Verb realisiert, dafür verschwindet das deutsche direkte Objekt. In (f) ist die
Sprecherin bei einer englischen Struktur angekommen (abgesehen von die im
Nachtrag). Die Abfolge von Reparaturbemühungen verdeutlicht, dass Hannah
– natürlich implizit – ‘weiß’, wie sich deutsche und englische Verbalphrasen
syntaktisch und morphologisch unterscheiden und wie sich ein beliebiges
Verb und seine Argumente morphologisch und syntaktisch an die beiden ziel-
sprachlichen Systeme anpassen lassen. Hannahs einzige echte Unsicherheit
besteht bezüglich der lexikalischen Verortung von strap. Interessant ist auch,
dass sie diese Reparaturen selbst initiiert, d.h. dass diese nicht erst durch Re-
aktionen der Mutter hervorgerufen werden. Ihr eigenes metasprachliches
Kontrollsystem signalisiert ihr offensichtlich, dass hier etwas „nicht stimmt“,
und sie macht sich daran, dieses Problem zu lösen.
Die Sprachentrennung auf der Ebene der grammatischen Repräsentation wird
weiterhin dadurch belegt, dass sich die beteiligten Systeme nicht immer im
Gleichschritt entwickeln, d.h. es kann zu mehr oder weniger ausgeprägten
asynchronen Entwicklungen kommen (vgl. Bernardini/Schlyter 2004, Gaw­
litzek-Maiwald/Tracy 1996, Genesee/Nicoladis/Paradis 1995, Müller et al.
2007, Hulk/Cornips 2006). So ist es beispielsweise durchaus möglich, dass

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 89
Kinder im Deutschen bereits finite Hauptsätze produzieren (z.B. ich geh mal
rein da), während in ihren englischen Äußerungen noch keine Belege für
Hilfsverben, Modalverben und Finitheit zu finden sind (vgl. mama picking
flowers inə forest). Asynchronien liefern der Forschung wertvolle Hinweise
dahingehend, was aus Lernersicht in einer der beteiligten Sprachen trotz prin-
zipiell verfügbaren Inputs leichter oder schwerer erschließbar sein könnte
(vgl. bereits Slobin 1973, Tracy/Gawlitzek-Maiwald 2005). Diese Asynchro-
nie zeigt sich auf höchst interessante Weise in Hannahs Mischäußerungen, in
denen mehrere Monate lang nur deutsche Hilfs-und Modalverben in Struktur-
schichten oberhalb bzw. links der VP auftreten, vgl. (20).

(20a) 2;4 Kannst du move a bit?


(b) 2;6 Soll ich hit it?
(c) 2;7 Sie haben gone away.
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Aus theoretischer Sicht sind Mischäußerungen auch deshalb besonders inter-


essant und rätselhaft, weil Kindern diese Strukturen kaum im Input begegnet
sein dürften, vgl. (21). Sie liefern uns auch deutliche Evidenz für lexem-unab-
hängige Strukturformate.

(21a) Mutter: Esther always goes barefoot, doesn′t she?


Hannah 2;7 Aber ich sag, Esther du cutst dein toe.
(b) Svenja hat mich gechased, and then I chased her.

Hier zeigt sich, wie schon in (19), wenngleich nun in einem fortgeschrittene-
ren Entwicklungsstadium, die anscheinend mühelose Anpassung von Lexe-
men an die morphosyntaktischen Anforderungen der einen oder anderen
Sprache.
Dieses spielerische Anpassen von Elementen einer Sprache an die andere lässt
sich auch anhand von (22) illustrieren. Die Episode stammt aus einer Aufnah-
me mit den Geschwistern Laura und Adam, die von Geburt an mit Deutsch
und Englisch als doppelten Erstsprachen aufwachsen (vgl. auch Gawlitzek-
Maiwald 1997).
(22) Adam (5;5) und eine erwachsene Gesprächspartnerin unterhalten sich auf Eng-
lisch, als seine Schwester Laura (3;2) ins Zimmer kommt.
L. hüpft durch's Zimmer und singt. Telefon, Rotzkanon, Telefon, Rotzkanon ...
Erwachsene fragt Adam What′s that in English?
A. We don′t say [roudzkənəun] in English

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90 Rosemarie Tracy

Anstatt zu versuchen, die Äußerung Lauras ins Englische zu übersetzen, passt


Adam das deutsche Wort „Rotzkanon“ lediglich der englischen Phonologie an.
Allein diese wenigen Beispiele lassen erkennen, wie souverän Kinder mit ihren
sprachlichen Ressourcen umgehen und wie sie dabei – dies belegen vielfältige
Selbstreparaturen – geradezu Sinn für Perfektionismus entwickeln. Letzteres
zeigt sich auch in expliziten metasprachlichen Kommentaren über die Sprach-
wahl anderer, vgl. (23) von Hannah (vgl. weitere Beispiele in Tracy 2008).
(23) Mutter: In the Kita they call it ‘Frühstück’, don't they?
H. (2;9) Und du heißt das ‘breakfast’.

Im gleichen Alter findet man auch die strategische Nutzung beider Sprachen
im Sinne des Code-Switching, wie wir es bei den Erwachsenen in Kapitel 3
sehen konnten, vgl. (24).
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(24) Hannah beim Rollenspiel mit zwei Puppen, die sie mehrfach vergeblich in ein
zu kleines Spielzeugauto zu quetschen versucht:
I'm trying again, oh geht's nicht, now try again, oh geht auch nicht ….

Kinder sind nicht nur sehr effiziente und systematische Lerner; sie können
auch früh mit der Koexistenz von Sprachen und dem damit einhergehenden
Wettbewerb und Kooperationspotenzial umgehen, und zwar sowohl zur tem-
porären Entlastung der „schwächeren“ oder langsameren Sprache, als auch,
um das mit der Mehrsprachigkeit einhergehende mehrstimmige Potenzial
auszuschöpfen.

Wir wissen mittlerweile auch, dass sich Kinder mit unterschiedlichen Erst-
sprachen, die im Alter von drei bis vier Jahren zum ersten Mal mit dem Eintritt
in eine Kindertagesstätte intensiv mit der deutschen Sprache in Kontakt kom-
men, im Laufe von ein bis zwei Jahren - manche Kinder noch schneller - die
Grundstrukturen der deutschen Grammatik erschließen können. Sie durchlau-
fen für die Verbstellung und die Subjekt-Verb-Kongruenz im Wesentlichen die
Phasen, die wir auch vom Erwerb des Deutschen als Erstsprache kennen (vgl.
Rothweiler 2006, 2007; Schulz/Tracy/Wenzel 2008; Schulz/Tracy 2011; Tho-
ma/Tracy 2006; Tracy 2007, 2008; Tracy/Thoma 2009). Je nachdem, wie
Erst- und Zweitsprache kontrastieren, können sich in Teilbereichen die für den
doppelten Erstspracherwerb angenommenen Bootstrapping-Effekte (vgl. Gaw-
litzek-Maiwald/Tracy 1996, Müller et al. 2007) einstellen (vgl. Bryant 2010,
Haberzettl 2005).
Generell kann man festhalten, dass der kindliche Spracherwerb unter günsti-
gen Erwerbsbedingungen ein Selbstläufer ist. Dies bedeutet aber nicht, dass

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 91
Kinder alle Sprachen, denen sie in der Kindheit ausgesetzt sind, ihr Leben
lang beibehalten oder bis zum Erreichen einer muttersprachlichen Kompetenz
ausbauen. Wie bereits in Kapitel 2 und 3 angesprochen wurde: Auch früh und
einmal gut beherrschte Sprachen können unter der Konkurrenz alternativer
Systeme und bei Mangel an Verwendungsmöglichkeiten deaktiviert werden
und anscheinend sogar völlig in Vergessenheit geraten (vgl. die Adoptionsstu-
dien von Pallier 2004).

5. Abschließende Vision: Sprachliche Bildung für die


Wissensgesellschaft

Sprachliche und kommunikative Kompetenzen sind wichtige Pfeiler einer mo-


dernen Wissensgesellschaft. Daher kann der Mangel an explizitem Wissen
über das Erwerbsziel (die Grammatik des Deutschen) sowie über die Fähigkei-
ten ein- und mehrsprachiger Kinder und Erwachsener nur überraschen. Mehr
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als zehn Jahre nach den ersten vergleichenden Bildungsstudien muss man sich
immer noch fragen, wie gut unsere vorschulischen und schulischen Einrichtun-
gen auf die Kompetenzen und Ressourcen vorbereitet sind, die Kinder im Prin-
zip mit sich bringen. Wie also könnte man Schulen in einen symbolischen
Markt verwandeln, auf dem die über den traditionellen Kanon der Schulfremd-
sprachen hinausgehenden sprachlichen Ressourcen Anerkennung finden und
sich ausbauen lassen?11 Bei den im Folgenden kurz angesprochenen Optionen
gehe ich nicht auf bereits existierende Unterrichtsformen ein, in denen aner-
kannten Schulfremdsprachen mehr Raum gegeben wird, wie z.B. in bilingua-
len Schulmodellen, im bilingualen Sachfachunterricht und beim frühen Fremd-
sprachenunterricht in der Grundschule (vgl. Pienemann/Keßler/Roos 2005,
Decke-Cornill/Küster 2010). Vielmehr beschränke ich mich auf den potenziel-
len Vorteil eines Grundlagenfaches „Sprache und Kommunikation“ und auf die
Notwendigkeit, die Bewertung schulischer Leistungen stärker zu differenzie-
ren, um zu verhindern, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache bereits in der
Grundschule an sprachlichen Details scheitern, die letztlich für den Bildungs-
weg irrelevant sind (vgl. auch Tracy 2010). Man bedenke in diesem Zusam-
menhang auch, dass keine deutsche Hochschule fachlich renommierte
Wissenschaftler(innen) aus Japan, Australien oder Indien nicht auf Lehrstühle
11
Vgl. auch die Überlegungen von Hopf (2005, S. 248), dem zufolge „die vorhandenen Kom-
petenzen in den Herkunftssprachen als Fremdsprachenleistungen in die Zeugnisse einge-
hen“ könnten. Wie dies angesichts der Vielfalt von Erstsprachen praktisch und objektivier-
bar umgesetzt werden könnte, ist unklar. Möglich wäre jedoch im Rahmen eines Faches
„Sprache“ die Bewertung der analytischen, metasprachlichen Auseinandersetzung mit
sprachlichen Eigenschaften.

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92 Rosemarie Tracy

berufen würde, weil sie das deutsche Genus oder den Kasus nicht beherrschten
oder mit der Architektur deutscher Sätze oder der deutschen Silbenstruktur
Schwierigkeiten hätten. Etwas von dieser Toleranz gegenüber Sprachlerner(in-
ne)n, die in der internationalen Wissenschaftsszene, der Wirtschaft und bei
Kulturkontakten selbstverständlich ist, sollte schließlich auch in voruniversitä-
ren Bildungseinrichtungen praktiziert werden können.
Ein naheliegender, nicht nur symbolischer Schritt in Richtung Umsetzung der
europäischen Vision von Mehrsprachigkeit bestünde darin, die Vielfalt ko-
existierender Sprachen vor Ort zu nutzen, um möglichst früh, d.h. bereits in
der ersten Grundschulklasse, an die metasprachlichen Kompetenzen von Kin-
dern zu appellieren, indem man mit ihnen über Sprache im Allgemeinen und
die ihnen implizit längst vertrauten Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen
Sprachen diskutiert, aber auch über ihre kommunikativen Erfahrungen (Wel-
che Art der Formulierung empfindet man als Lob, als Ermutigung, was als
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Kränkung? Wie sprechen wir in Abhängigkeit von Kontexten, Personen, An-


liegen?) und über das eigene Sprachenlernen redet. Während es rein praktisch
nicht möglich ist, viele Heritage-Sprachen als Unterrichtssprachen oder Fä-
cher zu etablieren, kann man sie wenigstens als Teil der verfügbaren individu-
ellen Kompetenzen einbeziehen,12 z.B. im Rahmen eines Faches „Sprache und
Kommunikation“, an dem sowohl der Deutschunterricht als auch der Fremd-
sprachenunterricht anknüpfen könnte. Diese Vision ist auch im Sinne der Ter-
tiärsprachforschung, die einen offensiven Umgang mit sprachübergreifenden
Ähnlichkeiten empfiehlt (vgl. Hufnagel 2004).
Reflexions- und Handlungsbedarf besteht auch im Umgang mit der Kommen-
tierung und Bewertung von Lernerleistungen. Eine nicht zu unterschätzende
Herausforderung für Pädagog(inn)en liegt darin, nicht nur Mängel und Ab-
weichungen von der jeweiligen Zielsprache in den Blick zu nehmen, sondern
die bereits erfolgten Lernfortschritte zu erkennen und daran anzuknüpfen. An-
hand von Äußerungen wie (25), produziert von einem Jungen mit Türkisch als
Erstsprache, sollten daher nicht nur die offenkundigen Schwierigkeiten mit
dem Genus (der Mutter, die Junge, den Zahnbürste) erkannt werden. Es sollte
auch gesehen werden, dass sich der Lerner zentrale Merkmale des deutschen
Satzbaus (V2-Stellung des Verbs im Hauptsatz, Verbend-Position im Neben-
satz, korrekte Finitheitsmarkierung des Verbs) angeeignet hat, einschließlich
der Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ, die hier gerade wegen des
abweichenden Genus von Zahnbürste deutlich erkennbar ist.

12
Vgl. auch das Projekt SprachChecker des Sokrates-Programms der EU (www.taaltrotters.eu,
Stand: 07/2011).

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Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen 93
(25) Erkan, 11 Jahre, L1= Türkisch:
Der Mutter hat gesehen, dass die Junge den Zahnbürste versteckt hat.

Lehrkräfte müssten noch besser als bisher darin geschult werden, einzuschät-
zen, welche Merkmale oder Abweichungen in bestimmten Entwicklungsstadi-
en relevanter sind als andere. Man wird beispielsweise keine Übungen zur
Unterscheidung von Dativ- und Akkusativformen machen, wenn einem Ler-
ner die Artikel, die neben den Pronomina wichtigsten Trägerelemente für Ka-
sus- und Genusformen des Deutschen, noch gänzlich fehlen.
Im Zuge dieser bewussten Auseinandersetzung mit Sprache(n), inklusive ihrer
Erstsprachen, kann man Schüler(inne)n auch das metalinguistische Rüstzeug
vermitteln, das sie benötigen, um über Sprachen zu sprechen. Man ließe damit
auch einen bewussten und analytischen Umgang mit Sprache wieder in die
Schulen hinein, aus denen ein vorrangig kommunikativ ausgerichteter Unter-
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richt ihn vor Jahren verbannt hatte. Dabei steht eine stärker analytische Aus-
richtung des Umgangs mit Sprache völlig im Einklang mit dem, was Kinder
spontan von sich aus und gewissermaßen von klein auf im Umgang mit Spra-
che zu leisten imstande sind. Es gibt aber noch einen weiteren, nicht-trivialen
Grund, um nicht nur der real existierenden Sprachenvielfalt innerhalb der
Schule ein legitimes Forum zu gewähren, sondern dem Thema Sprache schlecht-
hin: Schließlich sind alle Sprachen ungeachtet oberflächlicher struktureller
Differenzen und ungeachtet unterschiedlicher kommunikativer Praktiken letzt-
lich doch nur Ausprägungen der gleichen menschlichen Sprachfähigkeit.

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Tanja Anstatt

Russisch in der zweiten Generation


Zur Sprachsituation von Jugendlichen aus russischsprachigen
Familien in Deutschland
Abstract: Das Russische ist in Deutschland derzeit eine vitale Sprache; sie wird – bei
einigen Verwendungsmöglichkeiten außerhalb der Kernfamilie – in allererster Linie
innerhalb von Familien verwendet, die aus russischsprachigen Ländern stammen. In
Bezug auf die sprachliche und auch soziokulturelle Integration kann die Immigrations-
generation als der entscheidende Faktor betrachtet werden: In der zweiten Generation
findet ein Integrationsschub in die aufnehmende Gesellschaft statt, der sich auch in der
sprachlichen Situation widerspiegelt. Dieser Prozess wird im zweiten Teil dieses
Beitrags auf der Grundlage einer empirischen (Pilot-)Studie untersucht, an der 17 in
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Deutschland lebende 15- bis 18-jährige Jugendliche aus russischsprachigen Familien


teilnahmen. Die Studie ergab, dass das Russische für die untersuchten Jugendlichen
ausnahmslos eine wichtige ideelle Rolle spielt und die Sprache der Loyalität darstellt.
Für die bis zum Alter von 10 Jahren immigrierten Jugendlichen ist jedoch Deutsch die
eindeutig stärkere Sprache, während die Russischkenntnisse demgegenüber deutlich
schwächer sind. Dies spiegelt sowohl die Selbsteinschätzung der Jugendlichen als auch
die Auswertung einer Sprachprobe wider. Für das Russische in Deutschland lässt sich
auf dieser Grundlage die Hypothese aufstellen, dass in Zukunft von der ersten zur
zweiten Generation mit einem deutlichen Rückgang dieser Sprache zu rechnen ist.
Russian is currently a vibrant language in Germany. It is used first and foremost within
families from Russian-speaking countries, with some possible uses outside the nuclear
family. With regard to linguistic and socio-cultural integration, the immigrant genera-
tion can be considered the decisive factor. In the second generation a strong move to-
wards integration into the host society takes place, which is also reflected in the lin-
guistic situation. This process is examined in the second part of the article on the basis
of an empirical (pilot) study involving seventeen 15-18-year-olds from Russian-speak-
ing families living in Germany. The study revealed that Russian invariably plays an
important role at the level of principle for the young people surveyed and is the lan-
guage of loyalty. For those who immigrated up to the age of 10 years, however, Ger-
man is clearly the stronger language, while the command of Russian has noticeably
deteriorated. This is reflected in both the self-assessment of the young people and the
evaluation of a speech sample. On this basis, we can hypothesise that in the future a
considerable decline in the position of Russian in Germany is to be expected from the
first to the second generation of speakers.

Einleitung
Während slavische Sprachen in Deutschland bis in die achtziger Jahre des
zwanzigsten Jahrhunderts noch ein marginales Phänomen waren, hat sich
dieses Bild durch die Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten ge-

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102 Tanja Anstatt

wandelt. Unter den slavischen Sprachen ist das Russische besonders stark
vertreten, das – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – zu der nach
Deutsch am häufigsten gesprochenen Sprache in Deutschland wurde. In der
Diskus­sion um die Mehrsprachigkeit in Deutschland muss diese Sprecher-
gruppe, deren Sprachsituation und Sprachverhalten sich z.B. von denjenigen
der Türkischsprecher deutlich unterscheidet, also schon aus quantitativen
Gründen unbedingt einbezogen werden. Dies möchte ich im Folgenden tun,
wobei ich zunächst einen knappen Überblick über die Situation des Russi-
schen in Deutschland gebe (Kap. 1). Dann möchte ich mich als Schwerpunkt
mit der Frage der nachwachsenden so genannten zweiten Generation befas-
sen und anhand einer kleineren empirischen Erhebung die bislang noch
kaum untersuchte Sprachsituation von Jugendlichen betrachten (Kap. 2).
Dabei soll es zunächst darum gehen, welche Einstellungen die befragten
Jugendlichen der zweiten Generation zum Russischen haben, wann sie ihre
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Sprachen verwenden und wie sie ihre Sprachkompetenz im Russischen und


Deutschen selbst beurteilen. Anschließend werte ich Sprachproben der be-
fragten Jugendlichen im Hinblick auf den Wortschatz im Deutschen und
Russischen aus.

1. Situation des Russischen in Deutschland

1.1 Sprecher und Vitalität

Bei den russischsprachigen Menschen haben wir es mit verschiedenen Spre-


chergruppen zu tun, die sich in Bezug auf ihre Spracheinstellungen recht hete-
rogen verhalten. Die zahlenmäßig mit großem Abstand stärkste Gruppe bilden
die Russlanddeutschen (auch Aussiedler bzw. Spätaussiedler genannt). Dazu
kommen deren mit eingewanderte Angehörige ohne einen russlanddeutschen
Hintergrund. Eine weitere größere Gruppe sind die jüdischen Immi­granten
(Brehmer 2007 geht von rund 0,2 Mio. aus). Und schließlich sind noch weitere
russischsprachige Zuwanderer mit unterschiedlichsten Motiven der Einreise
nach Deutschland zu nennen (hier kommt Brehmer 2007 auf ca. 0,35 Mio.).
Nach den neuesten verfügbaren Zahlen leben in Deutschland 1,97 Mio. Perso-
nen mit der früheren Staatsangehörigkeit der Russischen Föderation, der Ukrai-
ne und Kasachstan1 sowie 2,53 Mio. weitere Personen,2 die aus dem Gebiet der
1
Als Erstsprache kann in aller Regel Russisch gelten, Ukrainisch spielt bei den Migranten
eine geringere, Kasachisch fast keine Rolle (vgl. auch Brehmer 2007).
2
Dies sind Personen „ohne Angaben“ zur früheren Staatsangehörigkeit, gemeint sind v.a.
(Spät-)Aussiedler, vgl. Statistisches Bundesamt (Hg.) (2010, S. 7).

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Russisch in der zweiten Generation 103
ehemaligen Sowjetunion stammen (Statistisches Bundesamt (Hg.) 2010, S. 69).
Nach diesen Zahlen können wir von insgesamt mindestens3 4,5 Mio. Sprechern
des Russischen in Deutschland ausgehen.
Die hohe Sprecherzahl führt zu einer derzeit relativ stabilen Situation des Rus-
sischen in Deutschland. Achterberg (2005) kommt in seiner soziolinguistischen
Studie zur Sprachsituation der slavischen Sprachen in Deutschland, die auf ei-
nem umfangreichen Fragebogen basiert, zu dem Ergebnis, dass Russisch hier-
zulande als Sprache mit einem sehr hohen Vitalitätsgrad gelten kann. Esser
(2006) nennt einige Parameter, die statistisch als relevante Faktoren für den
Erhalt von Migrationssprachen gelten; alle diese Parameter sind für das Russi-
sche positiv besetzt: Da die Immigration in der Regel im Familienverband, oft
sogar in Großfamilien, erfolgt, kann ein großer Teil der Familienkommunikati-
on auf Russisch geführt werden. Durch Nachbarschaften, Freundeskreise usw.
gibt es darüber hinaus gut ausgebaute russischsprachige soziale Netze. Die be-
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trächtliche Zahl russischsprachiger Geschäfte und anderer infrastruktureller


Gegebenheiten (Organisationen von und für Aussiedler, Bibliotheken mit rus-
sischen Büchern, die z.B. von jüdischen Gemeinden geführt werden usw.) so-
wie der Zugang zu russischsprachigen Medien (etwa Tageszeitungen, Fernse-
hen über Satelliten) führen zu einer Verwendbarkeit des Russischen für viele
Migranten auch außerhalb des engsten Familienkreises. Viele Russischspre-
cher haben eine starke Bindung an das Herkunftsland, häufig werden Kontakte
mit den nicht-emigrierten Familienmitgliedern gepflegt – auch dies ist ein rele-
vanter Faktor für den Spracherhalt. Als letzter Parameter sei der so genannte
Q-Value erwähnt, d.h. die weltweite Sprecherzahl einer Sprache, die als Maß
für den kommunikativen Wert einer Sprache gilt; dieser Wert ist für das Russi-
sche mit rund 163 Mio. erstsprachlichen Sprechern sowie rund 70 Mio. Spre-
chern des Russischen als Zweit- oder Fremdsprache (vgl. Karaulov (Hg.) 1997)
sehr gut besetzt. Alle diese Parameter weisen darauf hin, dass sich das Russi-
sche in Deutschland in einer stabilen Situation befindet und in naher Zukunft
nicht mit einem substanziellen Schwund dieser Sprache zu rechnen ist.

1.2 Förderung
Für die zweite Generation der Einwanderer (zu diesem Begriff siehe unten
Kap. 1.5) stellt sich die Lage dennoch komplexer dar: Die Umgebungssprache
Deutsch spielt eine zentrale Rolle, und der Familienkreis ist für den umfassen-
den Erwerb der Herkunftssprache in der Regel nicht ausreichend. Was das Rus-
3
Über die genannten hinaus gibt es weitere, vom Statistischen Bundesamt nicht eigens
aufgeführte Herkunftsländer mit niedrigeren Emigrationszahlen, etwa Weißrussland, Mol-
dawien u.a.

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104 Tanja Anstatt

sische betrifft, entstehen vor diesem Hintergrund Einrichtungen, die den Er-
werb der Sprache der Kinder unterstützen sollen. Es gibt bereits eine ganze
Reihe von bilingualen russisch-deutschen Kindergärten; die meisten befinden
sich in Berlin, einzelne daneben auch in Frankfurt a.M., München und anderen
Städten. Je nach Ansatz arbeiten dort bilinguale oder aber jeweils russische und
deutsche Erzieherinnen. In Berlin entstehen die ersten bilingualen Klassen in
Schulen, meist an Grundschulen. Das verbreitetste Instrument sind die so ge-
nannten Samstagsschulen, die inzwischen in recht großer Zahl existieren (allei-
ne in Bochum gibt es drei); sie werden von Vereinen getragen, ihr Besuch ist
kostenpflichtig. Hierbei handelt es sich um Schulen, deren Ziel in erster Linie
Sprachvermittlung ist, an denen aber auch russische Geschichte, Literatur usw.
unterrichtet werden. Diese Institutionen vertreten in der Regel einen dezidiert
bilingualen bzw. bikulturellen Ansatz; sie intendieren also keine Parallelkultur,
sondern eine Integration mit Stützung der Herkunftssprache.4
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Russisch wird daneben traditionell an einigen Schulen auch als Fremdsprache


(meist als dritte) angeboten (in Nordrhein-Westfalen an 14% der Gymnasien,
siehe Makarenko (2007); dazu kommen 17 Waldorfschulen), allerdings hat die
Nachfrage hier stark abgenommen. Für Kinder mit Russisch als Herkunftsspra-
che ist dieser Unterricht kaum geeignet, da er nicht auf ihre Bedürfnisse ausge-
richtet ist. In jüngerer Zeit wird schließlich von staatlichen Schulen vermehrt so
genannter „muttersprachlicher Unterricht“ angeboten, der allerdings noch mit
vielen Problemen (heterogene Gruppen, Mangel an geeignetem Lehrmaterial)
zu kämpfen hat. Hier wird derzeit an Lösungsansätzen gearbeitet (ebd.).
Insgesamt lässt sich festhalten, dass viele Kinder und Jugendliche der zweiten
Generation der Russischsprecher theoretisch Zugang zu Samstagsschulen ha-
ben, aber natürlich nur ein Teil diese auch nutzt. Unterstützung beim Erwerb
des Russischen darüber hinaus ist – abhängig vom Wohnort – nur für wenige
Nachkommen russischsprachiger Eltern zugänglich; die Förderung findet bis-
her überwiegend durch nicht-staatliche Einrichtungen statt.

1.3 Sprachliche Integration und Mehrsprachigkeit


Der Titel der Konferenz, anlässlich derer dieser Beitrag entstand, lautete
„Sprache und Integration“. Ich möchte daher an dieser Stelle einen Blick dar-
auf werfen, wie Integration mit Blick auf Sprache näher gefasst werden kann,
und zu diesem Zweck ein in der Migrationslinguistik verbreitetes Schema an-
führen (vgl. Abb. 1).
4
Eine umfangreiche Liste solcher Organisationen stellt die Zeitschrift „Partner“ auf ihrer
Homepage zur Verfügung, siehe http://katalog.partner-inform.de/partner_schulen.php?catid=1 (Stand:
04/2011).

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Russisch in der zweiten Generation 105

Integration in die Aufnahmegesellschaft


Ja Nein
Integration multiple Inklusion/ Segmentation/
Ja
in die kompetente Bilingualität monolinguale Segmentation
ethische
Assimilation/ Marginalität/
Gruppe Nein
monolinguale Assimilation begrenzte Bilingualität

Abb. 1: Schematische Darstellung sprachlicher Integrationstypen (nach Esser 2006)5

Dieses Schema verdeutlicht, dass Integration zweidimensional aufgefasst


werden kann, nämlich erstens bezüglich der Integration in die Aufnahmege-
sellschaft, zweitens im Hinblick auf die Integration (bzw. Zugehörigkeit) in
die ethnische Gruppe. Es lässt sich nicht nur auf soziokulturelle Aspekte der
Integration anwenden, sondern auch auf die Sprache. Aus der Sicht der auf-
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nehmenden Gesellschaft wird unter dem Stichwort der sprachlichen Integra­


tion oft nur das Beherrschen der Landessprache diskutiert.

In der Wissenschaft wird der Nutzen der Mehrsprachigkeit und die prinzipiel-
le Fähigkeit von Kindern zum mehrsprachigen Spracherwerb kaum noch be-
zweifelt (siehe z.B. Bialystok 2009, Tracy 2007).6 Ziel der Integration wäre
dann der Typ der kompetenten Bilingualität: Das Individuum beherrscht so-
wohl die Sprache der Aufnahmegesellschaft als auch die Herkunftssprache. In
diesem Zusammenhang ist allerdings eine wichtige Anmerkung zu machen:
In der Mehrsprachigkeitsdiskussion wird vielfach darauf hingewiesen, dass
ein mehrsprachiges Individuum nicht identisch ist mit mehreren einsprachi-
gen Individuen (Tracy 2009, speziell zum Wortschatz siehe Taylor 2002). Bei
mehrsprachigen Sprechern können die einzelnen Sprachen vielmehr unter-
schiedlich ausgeprägt sein – dies hängt stark von den Verwendungsbereichen
ab. Typischerweise ist etwa in der Landessprache der mit Ausbildung und Be-
ruf verbundene Wortschatz umfangreicher, in der Herkunftssprache hingegen
der Wortschatz im Bereich häusliches Leben, Emotionen usw. Wenn hier von
kompetenter Bilingualität gesprochen wird, so ist damit gemeint, dass in den
Situationen, in denen sie benötigt werden, eine angemessene Kommunikation
in den beiden Sprachen möglich ist.
5
Natürlich ist dies eine schematische Abstraktion, die Übergänge zwischen den Bereichen
vernachlässigt.
6
Auch in den Medien wird in jüngster Zeit der Nutzen der Mehrsprachigkeit gerade im kind-
lichen Alter propagiert, wobei allerdings vor allem an Prestigesprachen wie das Englische
gedacht wird. Vorteile der Mehrsprachigkeit, etwa ein kognitiver Nutzen (Bialystok 2009),
sind allerdings unabhängig davon, welche Sprachen das Individuum erlernt.

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106 Tanja Anstatt

1.4 Soziokulturelle Integration

In der Einleitung wurde angesprochen, dass sich die Lage der Russischspre-
cher von der Lage der türkischstämmigen Migranten deutlich unterscheidet.
Dies zeigt die Analyse des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
(„Zur Lage der Integration in Deutschland“, 2009): Sie weist nach, dass die
Aussiedler als die Migrantengruppe gelten können, die von allen erfassten am
besten integriert ist, wobei Integration hier in Parametern wie Bildungserfolg,
Erwerbslosenquote, Eheschließung mit Einheimischen u.Ä. gemessen wird
(siehe Berlin-Institut (Hg.) 2009, S. 28ff.). Zu den Aussiedlern (oben habe ich
bereits darauf hingewiesen, dass hierzu zwar nicht nur, aber überwiegend
Russischsprecher gehören) konstatiert diese Studie:
Die Aussiedler sind eine sehr integrationsfreudige Herkunftsgruppe. Die in
Deutschland Geborenen schneiden bei vielen Indikatoren deutlich besser ab
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als die Zugewanderten und weisen sogar bessere Werte auf als die Einheimi-
schen. Bemerkenswert ist der Rückgang bei der Jugenderwerbslosigkeit, die
sich von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat. (ebd., S. 35).

Die Quote der Akademiker liegt in der zweiten Generation mit gut 20% eben-
falls höher als bei den Einheimischen, die Quote der bikulturellen Eheschlie-
ßungen liegt in der zweiten Generation bei knapp 70% (ebd., S. 34f.). Ganz
anders sieht es hingegen bei der zweiten Generation der türkischstämmigen
Migranten aus (ebd., S. 36f.).

1.5 Der Faktor Generation

Es wurde bisher mehrfach angesprochen, dass der Faktor Generation eine au-
ßerordentlich große Rolle in der Integration spielt, was u.a. die oben angeführ-
ten Ergebnisse des Berlin-Instituts sehr deutlich zeigen. Als zweite Generation
werden Personen bezeichnet, die nicht selbstständig zugewandert sind, son-
dern bereits im neuen Land geboren wurden oder als Kinder mit ihrer Familie
kamen; in der vorliegenden Untersuchung spreche ich von zweiter Genera­
tion, wenn die Zuwanderung bis zum einschließlich 12. Lebensjahr erfolgte
(analog siehe Krefeld 2004). In Bezug auf die Entwicklung der Herkunfts-
sprache sagt das sog. Generationenmodell, das auf der Basis verschiedener
empirischer Studien gewonnen wurde, Folgendes voraus: Die erste Migran-
tengeneration ist monolingual oder zumindest dominant in ihrer Herkunfts-
sprache; die zweite Generation ist in unterschiedli­chen Formen bilin­gual, sie

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Russisch in der zweiten Generation 107
behält die Herkunftssprache nur noch für famili­äre Zwecke bei; die dritte Ge­
neration geht schließlich zur Monolingualität in der Umgebungssprache über
oder ist domi­nant in dieser (vgl. Hamers/Blanc 2003, S. 176).

Ein entscheidender Faktor für die sprachliche Entwicklung ist, dass die Ange-
hörigen der zweiten Generation ihre Kindheit ganz oder teilweise im neuen
Land verbracht und entsprechend im Herkunftsland die Schule gar nicht oder
nur kurze Zeit besucht haben. Der Erwerb der Herkunftssprache ist bei ihnen
sehr stark an den privaten Kreis, vor allem das Elternhaus, gebunden. Dies hat
gravierende Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung: In der Schule
wird nicht nur die schriftliche Seite der Sprache – von der Alphabetisierung
bis zur Routine im Umgang mit anspruchsvollen Texten – erlernt, sondern es
werden auch komplexe Ausdrucksmittel erworben und trainiert, etwa die Ver-
wendung komplexerer Syntax, spezieller Lexik usw., und es wird eine Sprach-
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form erlernt, die Gogolin (2009) als „Bildungssprache“ bezeichnet. Dieser


Teil des Spracherwerbs entfällt für die Herkunftssprache meist, wenn sie kei-
ne institutionelle Unterstützung erhält, da er alleine durch die Eltern bzw. Fa-
milie kaum gewährleistet werden kann, so dass der Erwerb der ganzen Breite
sprachlicher Mittel stark erschwert ist. Darüber hinaus übt die Umgebungs-
sprache allgemein einen starken Druck aus – sie ist die Sprache der Kommu-
nikation mit gleichaltrigen Freunden, die Sprache der meisten Medien, der
zukünftigen Berufstätigkeit usw. In verschiedenen Studien (z.B. zu spanisch-
sprachigen Immigranten in den USA, vgl. Hakuta/D'Andrea 1992) wurde ent-
sprechend beobachtet, dass die zweite Generation in der Regel dazu neigt, zur
jeweiligen Landessprache als dominanter Sprache überzugehen, die Her-
kunftssprache hat im Vergleich dazu einen nachgeordneten Status.7

Ein weiteres Problem ist, dass die Herkunftssprache nicht nur oft unvollstän-
dig erworben wird, sondern auch wieder schwinden kann. Studien der jünge-
ren Zeit zeigen, dass unter dem Druck einer starken Zweitsprache die bereits
erworbene Erstsprache in großem Umfang wieder abgebaut werden kann
(„Attrition“), wenn der Kontakt mit der dominierenden Zweitsprache vor der
Pubertät einsetzt. Besonders drastische Folgen konnten Pallier et al. (2003,
siehe auch Pallier 2007) nachweisen: Unter extremen Umständen kann eine
Erstsprache bei Wechsel der sprachlichen Umgebung im Kindesalter sogar
vollständig schwinden.8
7
Eine Längsschnittstudie zu einigen russlanddeutschen Familien, in der dieses Phänomen für
die nachwachsenden Kinder ebenfalls deutlich beobachtet wurde, führte Meng (2001) durch.
8
Einen Überblick über diese Prozesse und über die Rolle des Alters bietet Bylund (2009).

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108 Tanja Anstatt

2. Pilotstudie zu russisch-deutschen Jugendlichen der zweiten


Generation

Im Folgenden präsentiere ich Ergebnisse einer 2008 durchgeführten Pilotstu-


die zur Sprachsituation russisch-deutscher Jugendlicher, an der insgesamt 17
junge Migranten zwischen 15 und 18 Jahren teilnahmen.9 Es handelt sich bei

Alter bei
Infor- Ge- Einreise- Herkunfts-
Daten- Schule
mant Nr. schlecht alter land
erhebung
01 f 0 15 Kasachstan 9. Kl. Hauptschule
02 m 1 16 Ukraine 10. Kl. Gymnasium
03 f 4 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule
04 f 4 17 Kasachstan 10. Kl. Gymnasium
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05 f 5 18 Usbekistan Realschule abgeschlos-


sen (sucht Ausbildungs-
platz)
06 m 7 15 Kasachstan 9. Kl. Realschule
07 f 7 15 Kasachstan 9. Kl. Realschule
08 f 7 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule
09 m 7 15 Kasachstan 9. Kl. Realschule
10 f 8 16 Ukraine 9. Kl. Realschule
11 f 8 17 Kasachstan 10. Kl. Realschule
12 f 8 16 k.A. 8. Kl. Hauptschule
13 m 10 17 Kasachstan Realschule abgeschlos-
sen (sucht Ausbildungs-
platz)
14 m 11 15 Kasachstan 8. Kl. Hauptschule
15 m 11 16 Russland 9. Kl. Gymnasium
16 f 12 16 Russland 11. Kl. Gymnasium
17 m 12 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule
∑ f 10
Ø 7,1 Ø 16
m 7

Tab. 1: Biografische Daten der befragten Jugendlichen10


9
Für ihre Mitarbeit bei der Datengewinnung danke ich Hanna Robilka (Datenerhebung, Tran-
skription der Sprachproben) und Vera Malachow (Datenerhebung).
10
Auf die genauere Angabe des Alters bei Einreise und bei Aufnahme in Monaten musste
verzichtet werden, da ein Teil der Befragten nur Jahresangaben nannte.
Die Schultypen sind in keiner Weise repräsentativ verteilt, da die Jugendlichen nicht durch

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Russisch in der zweiten Generation 109
ihnen um Russischsprecher der zweiten Generation: Sie sind in einem Alter
von 0 bis 12 Jahren eingereist (in Deutschland geboren wurde keiner von
ihnen). Da die Menge der Befragten klein ist, sind die Schlussfolgerungen als
weiter zu überprüfende Hypothesen zu verstehen, werfen jedoch ein Schlag-
licht auf die Situation der russisch-deutschen Jugendlichen. Es ist auffällig,
dass sich die Befragten in manchen Angaben sehr stark ähneln, was nahelegt,
dass es hier um breite Tendenzen geht.

Eine Übersicht über biografische Daten der befragten Jugendlichen gibt Ta-
belle 1. Die meisten Informanten stammen aus Kasachstan, einige andere aus
der Ukraine und Russland. Der größte Teil gibt an, Spätaussiedler zu sein, zwei
nennen jüdische Herkunft, zu sechs Jugendlichen liegen diesbezüglich keine
Angaben vor. Die Jugendlichen leben in verschiedenen Städten des Ruhrge-
biets und besuchen die 8. bis 10. Klasse unterschiedlicher Schulformen, zwei
haben die Schule bereits abgeschlossen. Für alle befragten Jugendlichen gilt,
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dass Russisch die Familiensprache ist, sie wird mit den Eltern und meist noch
weiteren Familienmitgliedern verwendet. Alle 17 Jugendlichen geben an, ne-
ben den Eltern regelmäßigen Kontakt mit weiteren Verwandten aus demselben
Herkunftsland (meist Großeltern, auch Tanten und Onkel) zu haben. Bis auf
einen Befragten stehen auch alle in regelmäßiger Verbindung mit Verwandten
bzw. guten Freunden im Herkunftsland. Deutsch wurde laut eigenen Angaben
zum Teil im Kindergarten, vorwiegend aber in der Schule erworben.

In der Pilotstudie wurden zwei verschiedene Datentypen erhoben.11 Zum ei-


nen wurden anhand eines umfangreichen Fragebogens Informationen zur
Sprachbiografie, zur Sprachverwendung, zu den Einstellungen gegenüber den
Sprachen Russisch und Deutsch und zur Einschätzung der eigenen Sprach-
kompetenzen abgefragt.12 Dabei handelte es sich überwiegend um geschlosse-
ne Fragen, bei denen die Jugendlichen aus vorgegebenen Antworten eine aus-
wählen konnten.13 Zum anderen wurde eine Sprachprobe zum Russischen und

eine Zufallsstichprobe gewonnen, sondern überwiegend direkt an den Schulen aufgesucht


wurden, die Realschule ist daher überrepräsentiert.
Die Jugendliche 01 kam als drei Monate altes Baby nach Deutschland.
11
Als weiterer Datentyp wurde eine Grammatikalitätsurteilsaufgabe durchgeführt; da diese
jedoch nur von 13 der 17 Probanden absolviert wurde, werden die Ergebnisse hier nicht
berücksichtigt.
12
Die Fragen sind in vielen inhaltlichen Aspekten und zum Teil auch in den Formulierungen
an dem von Achterberg (2005) verwendeten umfangreichen Fragebogen orientiert.
13
In der Regel war Raum für weitere Kommentare gegeben, der jedoch nur selten genutzt
wurde.

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110 Tanja Anstatt

zum Deutschen erhoben, bei der die Jugendlichen eine Bildergeschichte in


beiden Sprachen nacherzählten. Aus diesen Daten sollen im Folgenden einige
Ergebnisse präsentiert werden.

2.1 Einstellungen zum Russischen

Ich möchte mich zunächst den Einstellungen zuwenden, die die Jugendlichen
gegenüber dem Russischen zum Ausdruck bringen und diese anhand der Ant-
worten auf die folgenden Fragen illustrieren (in eckigen Klammern jeweils
die im Fragebogen anzukreuzenden Antwortmöglichkeiten):

1) Welche Sprache würden Sie als Ihre Muttersprache bezeichnen? (Mehrere


Angaben möglich) [Russisch/Deutsch/Sonstige (bitte nennen Sie die Spra-
che/Sprachen)]
2) Gut Russisch sprechen zu können ist mir ... [sehr wichtig/etwas wichtig/gar
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nicht wichtig]
3) Gut Russisch zu verstehen ist mir ... [sehr wichtig/etwas wichtig/gar nicht
wichtig]
4) Möchten Sie, dass Ihre Kinder auch einmal Russisch lernen? [auf jeden
Fall/vielleicht/nein]
5) Sind Sie stolz darauf, Russisch zu können? [ja/nein/weiß nicht]
6) Ist es Ihnen unangenehm, in der Öffentlichkeit Russisch zu reden? [ja/nein/
weiß nicht]

Mit der Frage „Welche Sprache würden Sie als Ihre Muttersprache bezeich-
nen?“ sollte ermittelt werden, welcher Sprache die Loyalität gilt, welcher
Sprache die Jugendlichen sich subjektiv zugehörig fühlen.14 Alle Jugendli-
chen gaben Russisch an, vier von ihnen zusätzlich als zweite Muttersprache
Deutsch, keiner kreuzte nur Deutsch an. Mehr als der Hälfte der Befragten ist
es „sehr wichtig“, Russisch gut zu beherrschen, die übrigen bezeichnen es als
„etwas wichtig“, niemand als „gar nicht wichtig“. Interessant ist, dass zumin-
dest die passive Kenntnis, nämlich das gute Verstehen, von fast allen (94%)
als „sehr wichtig“ betrachtet wird. Ebenfalls möchten fast alle Jugendlichen
(94%) das Russische an ihre Kinder weitergeben, und ausnahmslos alle sind
stolz darauf, Russisch zu können. 88% der Befragten ist es nicht unangenehm,
in der Öffentlichkeit Russisch zu reden.
14
„Muttersprache“ ist ein Begriff, der unterschiedlich gedeutet werden kann, die Interpretation
muss daher vorsichtig bleiben. Er wurde hier verwendet, da er alltagssprachlich für diejeni-
ge Sprache verwendet wird, der ein Sprecher sich emotional eng verbunden fühlt.

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Russisch in der zweiten Generation 111
Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Antworten auf diese Fragen.

Inf. G. EA 1. Mutter- 2. Gut 3. Gut 4. Kinder 5. Stolz 6. Russ.


sprache Russisch Russisch Russisch auf öffentl.
sprechen verstehen lernen Russ. unangen.
01 f 0 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
02 m 1 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
03 f 4 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja ja
04 f 4 russ., dt. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
05 f 5 russ., dt. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
06 m 7 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
07 f 7 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
08 f 7 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
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09 m 7 russ. sehr wichtig sehr wichtig vielleicht ja nein


10 f 8 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
11 f 8 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
12 f 8 russ., dt. etw. wichtig etw. wichtig auf jeden Fall ja nein
13 m 10 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
14 m 11 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
15 m 11 russ. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
16 f 12 russ. etw. wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja nein
17 m 12 russ., dt. sehr wichtig sehr wichtig auf jeden Fall ja ja
Summe abs. russ. 13 sehr w. 10 sehr w. 16 auf jeden F. 16 ja 17 ja 15
russ.+dt. 4 etwas w. 7 etwas w. 1 vielleicht 1 nein 0 nein 2
dt. 0 gar nicht w. 0 gar nicht w. 0 nein 0 weiß n. 0 weiß n. 0
Summe in % russ. 76 sehr w. 59 sehr w. 94 auf jeden F. 94 ja 100 ja 88
russ.+dt. 4 etwas w. 41 etwas w. 6 vielleicht 6 nein 0 nein 12
dt. 0 gar nicht w. 0 gar nicht w. 0 nein 0 weiß n. 0 weiß n. 0

Tab. 2: Einstellungen zum Russischen

So lässt sich hier ein deutliches Bild erkennen: Quer durch die verschiedenen
Bildungsschichten und unabhängig davon, ob die Jugendlichen eine bewusste
Erinnerung an ihr Herkunftsland haben oder schon als sehr kleine Kinder nach
Deutschland kamen, ist das Russische für sie die Sprache, der ihre Loyalität
gilt, die wichtig für ihre Identität ist, zu der sie stehen, und die sie in ihrer
Familie auch in der nächsten Generation erhalten möchten.

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2.2 Sprachverwendung

Wenden wir uns nun einigen Antworten auf Fragen nach der Sprachverwen-
dung zu. Gefragt wurde im Fragebogen detailliert nach der Verwendung des
Russischen und Deutschen mit verschiedenen Personen und in verschiedenen
Situationen sowie nach verschiedenen Medien. Daraus werden in Tabelle 3
die Antworten auf folgende Fragen wiedergeben:

1) Bei welchen Gelegenheiten sprechen Sie Russisch? Angaben für Wert „Zu
Hause“:15 [immer/oft/gelegentlich/selten/nie]

2) Mit meinen Freunden und Freundinnen aus russischsprachigen Familien16


spreche ich
a) Russisch: [immer/oft/gelegentlich/selten/nie]
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b) Deutsch: [immer/oft/gelegentlich/selten/nie]

3) Bücher lese ich


a) auf Russisch: [täglich/mehrmals in der Woche/mehrmals im Monat/
selten/nie]
b) auf Deutsch: [täglich/mehrmals in der Woche/mehrmals im Monat/
selten/nie]

4) Filme/Fernsehen sehe ich


a) auf Russisch: [täglich / mehrmals in der Woche/mehrmals im Monat/
selten/nie]
b) auf Deutsch: [täglich/mehrmals in der Woche/mehrmals im Monat/
selten/nie]

Die Werte wurden in der Übersicht (Tab. 3) folgendermaßen zusammen-


gefasst:

–– immer/oft bzw. täglich/mehrmals in der Woche: 2


–– gelegentlich bzw. mehrmals im Monat: 1
–– selten/nie: 0

15
Diese Fragen waren im Fragebogen tabellarisch zusammengestellt.
16
Dieser Frage wurde eine Frage danach vorausgeschickt, ob der/die Befragte Freunde aus
russischsprachigen Familien hat, was ausnahmslos alle bejahten.

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Inf. G. EA 1) 2a) 2b) 3a) 3b) 4a) 4b)


Rus- sprechen sprechen Bücher Bücher Filme/ Filme/
sisch zu mit russ. mit russ. lesen: lesen: TV: TV:
Hause Freunden: Freunden: Russisch Deutsch Russisch Deutsch
Russisch Deutsch
01 f 0 2 1 2 0 1 2 2
02 m 1 2 2 2 1 2 0 2
03 f 4 2 1 1 0 2 1 2
04 f 4 1 1 2 0 1 0 2
05 f 5 1 1 2 0 2 0 2
06 m 7 2 2 2 0 0 1 1
07 f 7 0 0 2 0 0 2 2
08 f 7 2 1 2 0 1 0 2
09 m 7 2 1 1 0 0 0 2
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10 f 8 2 2 1 0 2 0 2
11 f 8 2 1 2 0 1 2 2
12 f 8 2 1 1 0 0 1 2
13 m 10 2 1 2 0 1 2 2
14 m 11 2 2 2 0 1 0 2
15 m 11 2 2 0 0 1 0 2
16 f 12 2 2 1 0 1 0 2
17 m 12 2 2 0 0 0 2 2
Summe abs. 2 14 2 7 2 10 2 0 2 4 2 5 2 16
1 2 1 9 1 5 1 1 1 8 1 3 1 1
0 1 0 1 0 2 0 16 0 5 0 9 0 0
Summe in % 2 82 2 41 2 59 2 0 2 24 2 29 2 94
1 12 1 53 1 29 1 6 1 47 1 18 1 6
0 6 0 6 0 12 0 94 0 29 0 53 0 0
Ø 1,8 1,4 1,5 0,1 0,9 0,8 1,9

Tab. 3: Verwendung des Russischen und des Deutschen

Die Antworten der Jugendlichen auf diese Fragen zeichnen folgendes Bild:
Russisch ist zu Hause fast durchgehend die dominante Sprache. Mit Freunden
aus russischsprachigen Familien hingegen wird im Durchschnitt in etwa
gleich oft Deutsch und Russisch gesprochen. Dies ist überraschend, wenn
man sich die hohe Loyalität dem Russischen gegenüber vor Augen hält und
unterstreicht die dominante Rolle der Umgebungssprache. Unterteilen wir die
Jugendlichen nach Einreisealter in zwei Gruppen, so wird das Bild noch kla-
rer. Die Jugendlichen 01-13 mit einem Einreisealter bis 10 Jahre sprechen mit
ihren Freunden aus russischsprachigen Familien vorwiegend Deutsch: Der

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114 Tanja Anstatt

Durchschnitt für die Verwendung des Russischen liegt für die Informanten
01-13 (Einreisealter 0-10 Jahre) bei 1,2, für die Verwendung des Deutschen
bei 1,7. Die vier Jugendlichen mit einem Einreisealter von 11-12 Jahren spre-
chen hingegen mit diesen Freunden meist Russisch, ihr Durchschnittswert für
Russisch liegt bei 2,0, für Deutsch bei 0,8.
Russische Bücher werden praktisch gar nicht konsumiert; wenn Bücher gele-
sen werden, dann auf Deutsch. Allerdings zählen sich viele der befragten Ju-
gendlichen offenbar grundsätzlich nicht zu den Viellesern: Fünf von ihnen le-
sen auch auf Deutsch selten oder nie Bücher, weitere acht nur gelegentlich. In
Bezug auf den Konsum russischer Filme und Fernsehprogramme ist das Bild
sehr heterogen und dürfte u.a. davon bestimmt sein, ob zu Hause Zugang zu
russischen Fernsehprogrammen besteht. Demgegenüber geben alle Jugendli-
chen an, Filme bzw. Fernsehen „immer“ oder „oft“ auf Deutsch zu sehen. Das
Deutsche ist also auch zu Hause schon aufgrund der Medien ständig präsent.
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2.3 Selbsteinschätzung der Sprachfähigkeiten


Als dritten Themenblock der Fragebogendaten möchte ich einige Antworten
dazu darstellen, wie die Jugendlichen ihre Sprachfähigkeiten einschätzen. Na-
türlich dürfen diese Selbsteinschätzungen auf keinen Fall ohne weiteres mit
den tatsächlichen Kompetenzen gleichgesetzt werden; es ist damit zu rechnen,
dass Faktoren der Spracheinstellung eine Rolle spielen. Andererseits wurde in
einigen Studien bestätigt, dass die Selbsteinschätzung sehr gut mit Ergebnis-
sen formaler Sprachtests übereinstimmt (siehe Köpke/Schmid 2004, S. 25)
und insofern ein recht objektives Bild abgibt.
Der Fragebogen enthielt zunächst eine Tabelle, zu der die Aufforderung laute-
te: „Bitte bewerten Sie Ihre eigenen Sprachkenntnisse mit Punkten von 0 bis
5 (0 = keine, 5 = sehr gute Kenntnisse) und tragen Sie diese Punkte in die
Tabelle ein.“ In der auszufüllenden Tabelle wurden vier Teilkompetenzen ge-
trennt abgefragt; wie sie aussah, zeigt Abbildung 2, hier mit den Angaben ei-
ner Jugendlichen, die sehr typisch sind.

Abb. 2: Fragebogenausschnitt zur Selbsteinschätzung der Sprachfähigkeiten mit Angaben


der Jugendlichen 03

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Russisch in der zweiten Generation 115
In der folgenden Auswertung beschränke ich mich auf die Angaben zu den
Bereichen „Sprechen“ und „Lesen“ und stelle diese jeweils für das Russische
und das Deutsche dar. Die von den einzelnen Jugendlichen angegebenen Ei-
genbewertungen sowie die Durchschnittswerte sind in Tabelle 4 angeführt.

Hier fällt zunächst auf, dass die Jugendlichen sich im Gesamtdurchschnitt im


Russischen sowohl im Bereich „Sprechen“ als auch im Bereich „Lesen“ deut-
lich schlechter einschätzen als in den entsprechenden deutschen Teilkom-
petenzen.

Inf. G. EA Russisch Russisch Deutsch Deutsch


Sprechen Lesen Sprechen Lesen
01 f 0 3 2 5 5
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02 m 1 5 4 5 5
03 f 4 4 2 5 5
04 f 4 3 3 5 5
05 f 5 2 3 5 5
06 m 7 4 3 5 5
07 f 7 2 1 5 5
08 f 7 3 2 5 5
09 m 7 5 0 5 4
10 f 8 5 3 4,5 5
11 f 8 2 2 4 4
12 f 8 3 1 4 4
13 m 10 4 2 5 5
14 m 11 5 3 4 4
15 m 11 5 5 4 5
16 f 12 5 5 4 5
17 m 12 5 5 3 4
Ø gesamt 3,8 2,7 4,6 4,7

Ø Inf. 01-13 3,5 2,2 4,8 4,8


Ø Inf. 14-17 5 4,5 3,8 4,5

Tab. 4: Selbsteinschätzung der Sprachkompetenzen (0 = keine, 5 = sehr gute Kenntnisse)

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116 Tanja Anstatt

Auch in diesem Fragenblock lassen sich die Jugendlichen in zwei Gruppen


unterteilen, die mit dem Einreisealter korreliert sind – in diejenigen, die als
jüngere Kinder nach Deutschland eingereist sind, gegenüber denen, die be-
reits etwas älter waren. Eine scharfe und allgemeingültige Grenze zu ziehen
ist auf dieser Datenbasis natürlich nicht möglich; sie kann provisorisch zwi-
schen dem Einreisealter von 10 Jahren gegenüber demjenigen von 11 Jahren
angesetzt werden, da sich hier eine Wende in der Selbsteinschätzung andeu-
tet: Die Jugendlichen mit einem Einreisealter zwischen 0 und 10 Jahren be-
werten ihre Deutschkompetenzen durchgehend höher als ihre Russischkom-
petenzen. Bei den vier Jugendlichen mit Einreisealter 11-12 Jahre ist das Bild
umgekehrt.

Zur Erklärung dieser Wende sind in erster Linie drei Faktoren zu nennen:

1) Je niedriger das Einreisealter, desto leichter ist der Erwerb des Deutschen
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als zweiter Sprache, desto leichter kann aber auch die Erstsprache Russisch
verdrängt werden.17
2) Je älter das Kind bei der Emigration, desto länger hat es im Herkunftsland
Schulunterricht in der Erstsprache erhalten, entsprechend sind die Schreib-
und Lesekompetenz stabiler und der Erwerb komplexerer sprachlicher
Mittel weiter fortgeschritten. In jüngster Zeit wurde auch gezeigt, dass die
Alphabetisierung selbst einen stabilisierenden Effekt auf die Kompetenz in
der Herkunftssprache ausübt (Zaretsky/Bar Shalom 2010).
3) Das Einreisealter ist korreliert mit der Aufenthaltsdauer, d.h. für die be-
fragten Jugendlichen mit dem höchsten Einreisealter liegt die Immigration
am kürzesten zurück, entsprechend ist auch die Dauer der zweisprachigen
Situation weniger lang.

Was die Angaben zu den genannten Teilkompetenzen betrifft, so fällt weiter-


hin auf, dass die Jugendlichen im Russischen ihre mündlichen Fähigkeiten
deutlich höher bewerten als ihre Lesefähigkeit; wie oben diskutiert liegt die
Ursache darin, dass der schriftliche Bereich der Sprache oft nur ansatzweise
erworben bzw. nicht viel trainiert wird, wenn die Migration im frühen Schul-
alter oder sogar vor Beginn desselben erfolgt.
Im Deutschen geben die meisten Jugendlichen sich hingegen in beiden Teil-
kompetenzen die höchste Punktzahl. Umgekehrt verhält es sich bei den Ju-
gendlichen Nr. 14-17 (Einreisealter 11-12 Jahre): Fast alle bewerten beide
17
Siehe hierzu die in Kapitel 1.5 angesprochene Forschung zur Attrition im Kindesalter.

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Russisch in der zweiten Generation 117
Teilkompetenzen für das Russische mit Höchstpunktzahl. Im Deutschen be-
werten sie interessanterweise ihre Lesekompetenz meist höher als diejenige
im Sprechen.18

2.4 Sprachdaten

Im letzten Kapitel möchte ich mich nun den Sprachproben zuwenden, die im
Rahmen der Pilotstudie erhoben wurden. Dabei sollen einerseits die russi-
schen und die deutschen Erzählungen der Jugendlichen unter einigen quanti-
tativen Perspektiven miteinander verglichen werden, andererseits möchte ich
diese dann wiederum mit Erzählungen von bilingualen und monolingualen
Vorschulkindern und monolingualen Erwachsenen vergleichen. Bei der Erhe-
bung der Sprachdaten wurden die Informanten gebeten, eine Bildergeschich-
te, die sog. „Frog story“ von Mercer Mayer, nachzuerzählen. Dies ist eine aus
24 Bildern bestehende Geschichte ohne Worte; sie handelt von einem Jungen
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und seinem Hund, die auf der Suche nach ihrem entlaufenen Frosch in Feld
und Wald einige Abenteuer erleben. Diese Bildergeschichte wurde in der
Spracherwerbsforschung bereits sehr oft verwendet (vgl. Bamberg 1987,
Berman/Slobin 1994) und wird in jüngster Zeit auch für die Erhebung von
Sprachdaten Bilingualer eingesetzt (siehe Anstatt 2008, 2010; Polinsky 2008).19
Für die hier untersuchte Gruppe erscheint sie auch insofern als geeignet, als es
sich um einen Texttyp handelt, mit dem die Jugendlichen im Russischen noch
am ehesten vertraut sind, denn wir können annehmen, dass sie in ihrer Kind-
heit mit den Eltern Bilderbücher auf Russisch angesehen haben. Polinsky
(2008) diskutiert eine Reihe von Möglichkeiten, wie die Nacherzählungen
dieser Bildergeschichte im Hinblick auf sprachliche Fähigkeiten analysiert
werden können. In Anstatt (2010) habe ich mich mit lexikalischen Strategien
bei mono- und bilingualen Jugendlichen und Kindern beim Nacherzählen die-
ser Geschichten auf Russisch und auf Deutsch befasst; in Anstatt (2008) habe
ich die Verwendung von Verbalaspekt und Tempus bei bilingualen Kindern
ebenfalls anhand von Nacherzählungen dieser Geschichte untersucht. An die-
ser Stelle möchte ich ein Schlaglicht auf den Umfang der Erzählungen in den
beiden Sprachen werfen und beispielhaft den Wortschatz der Jugendlichen
beleuchten.
18
Eine Erklärung hierfür könnte der „Akzent“ im Mündlichen sein, also russische Einflüsse im
phonetischen/phonologischen Bereich. Darüber hinaus spielt wohl eine Rolle, dass das Le-
sen in der Schule unablässig praktiziert wird.
19
Ihre weite Verwendung hat den Vorteil, dass umfangreiche Daten zu verschiedenen Pro-
bandengruppen vorliegen, die zu Vergleichszwecken herangezogen werden können, reiches
Material findet sich z.B. im Internet-Projekt CHILDES.

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118 Tanja Anstatt

2.4.1 Umfang der Erzählungen: Verwendete Wortformen und


versprachlichte Situationen
Tabelle 5 stellt dar, wie viele einzelne Wortformen (Tokens) die Jugendlichen
in ihren jeweiligen Nacherzählungen auf Russisch (1a) und auf Deutsch (1b)
verwendeten.20 Hier zeigt sich, dass in den deutschen Erzählungen erheblich
mehr gesprochen wurde: Die Zahl der Wortformen liegt im Gesamtdurch-
schnitt im Russischen um rund ein Drittel niedriger als im Deutschen. Unter-
gliedern wir die Jugendlichen wiederum nach Einreisealter in zwei Gruppen,
so ist der Unterschied für die bis zum Alter von 10 Jahren Eingereisten noch
etwas größer, während er bei den vier Jugendlichen mit dem Einreisealter 11-
12 Jahre deutlich kleiner ist – aber auch bei den letzteren liegt die Zahl mit
Ausnahme des Jugendlichen Nr. 17 im Deutschen höher als im Russischen.
Als zweite Methode wurden versprachlichte relevante Situationen ermittelt
(Tabelle 5, 2a und 2b): Um die wiedergegebenen Sachverhalte für jeden In-
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formanten jeweils in beiden Sprachen quantitativ vergleichen zu können,


habe ich ein Set von insgesamt 46 Kernpropositionen definiert, die für den
Gang der Geschichte wesentlich sind und gezählt, wie viele von ihnen je-
weils versprachlicht wurde. Dies möchte ich mit einem Beispiel illustrieren.
Für die beiden in Abbildung 3 dargestellten Bilder habe ich angenommen,
dass als relevante Situationen das Hineinfallen des Jungen in einen Teich
oder ein Gewässer sowie das Aufsetzen bzw. Lauschen in Abbildung 3 zu
benennen sind.21

Die Informantin Nr. 08 versprachlicht in ihrer deutschen Erzählung beide Si-


tuationen (Beispiel 1a), in ihrer russischen dagegen nur die erste (Beispiel 1b),
die zweite lässt sie unerwähnt.

(1a) Und (er) ist in eine Pfütze gefallen.


Äh ja dann hat der Junge wahrscheinlich etwas gehört und hat ge-
nau hingehört woher das Geräusch kam. (Inf. 08, deutsche
Erzählung)

(1b) ė nu upal v vodu. ‘äh na (er) ist ins Wasser gefallen.’ (Inf. 08, russi-
sche Erzählung)
20
Hierbei wurden alle vorkommenden Wortformen gezählt, so ergeben lese, lese, las insge-
samt drei Wortformen. Ich verwende hier Wortformen als Maß, da sich diese eher für einen
Vergleich zwischen den beiden Sprachen eignen.
21
Die Beschränkung auf die Kernsituationen erfolgte, um die theoretisch offene Menge an
Kommentaren (ein Hirsch guckt hinunter, es sind Pflanzen zu sehen, das Wasser ist flach
usw.) auf ein vergleichbares und handhabbares Maß zu reduzieren.

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Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr Russisch in der zweiten Generation 119

Abb. 3: Bild 12a und 12b der „Frog story“

Die Auszählung ergab, dass die Jugendlichen mit Einreisealter bis 10 Jahre
auf Russisch im Durchschnitt deutlich weniger Kernpropositionen versprach-
lichen als auf Deutsch; dabei war die Zahl bei einigen ausgeglichen, bei ande-
ren waren die Unterschiede beträchtlich (z.B. bei den Informanten Nr. 03, 07,
09). Die vier Jugendlichen mit höherem Einreisealter benannten auf Russisch
etwas mehr Situationen, Informant Nr. 17 sogar bedeutend mehr.

Inf. G. EA 1a) Anzahl der 1b) Anzahl der 2a) Kern­propo­ 2b) Kernpropo­
Wortformen Wortformen sitionen sitionen
russisch deutsch russisch deutsch
01 f 0 209 332 22 24
02 m 1 507 570 36 35
03 f 4 212 457 26 36
04 f 4 292 405 24 23
05 f 5 344 431 33 32
06 m 7 326 439 26 29
07 f 7 121 413 17 37
08 f 7 282 472 33 38
09 m 7 304 497 22 34
10 f 8 328 530 41 37

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120 Tanja Anstatt

Inf. G. EA 1a) Anzahl der 1b) Anzahl der 2a) Kern­propo­ 2b) Kernpropo­
Wortformen Wortformen sitionen sitionen
russisch deutsch russisch deutsch
11 f 8 215 353 30 40
12 f 8 180 243 29 28
13 m 10 145 211 15 21
14 m 11 181 236 30 28
15 m 11 164 215 17 19
16 f 12 223 310 34 33
17 m 12 329 275 38 23
Ø alle 257 376 28 30
Ø 01-13 267 412 27 32
Ø 14-17 224 259 30 26
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Tab. 5: Umfang der Erzählungen der bilingualen Jugendlichen im Russischen und Deutschen

2.4.2 Wortschatzphänomene

Werfen wir nun einen genaueren Blick auf das sprachliche Verhalten der Ju-
gendlichen, wobei ich mich auf Wortschatzphänomene beschränken möchte.22
Für die Jugendlichen 01 bis 13 mit einem Einreisealter bis 10 Jahre (deren
Erzählungen im Hinblick auf den Wortschatz in Anstatt (2010) im Detail ana-
lysiert wurden) ist zu erkennen, dass die russische Erzählung ihnen beträcht-
lich mehr Mühe bereitet als die deutsche. Deutliches Anzeichen dafür ist, dass
erheblich mehr Hesitationsphänomene (v.a. gefüllte und ungefüllte Pausen)
auftreten, die zum Teil sehr lang sind. Hesitationen gelten als der zentrale In-
dikator für Sprachplanungsprozesse: Sie weisen darauf hin, dass eine beson-
dere kognitive Belastung vorliegt und zusätzliche Verarbeitungszeit benötigt
wird (Fehringer/Fry 2007). Auffällig ist weiterhin, dass die Jugendlichen in
den russischen Erzählungen deutlich mehr Ersatzstrategien, etwa Umschrei-
bungen, aufweisen als in den deutschen.
Diese Phänomene treten auch bei den Jugendlichen auf, die allgemein über
ein recht sicheres Russisch verfügen. Als Beispiel möchte ich den Informan-
ten Nr. 02 anführen, einen Schüler der zehnten Klasse des Gymnasiums, der
im Alter von einem Jahr nach Deutschland kam. Er schätzt sich selbst als
22
Der Wortschatz gilt im Zusammenhang mit der Attrition von Herkunftssprachen als der an-
fälligste Bereich, siehe dazu z.B. Ammerlaan (1996), ein Überblick findet sich bei Schmid/
Köpke (2004).

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Russisch in der zweiten Generation 121
kompetenten Sprecher beider Sprachen ein und bestätigt dies auch in den
Sprachproben: Er führt beide Erzählungen souverän und detailreich durch und
versprachlicht in beiden Sprachen dieselbe Zahl von Kernpropositionen. Auf-
fällig ist jedoch, dass er für seine russische Erzählung mehr Verarbeitungszeit
benötigt: Hesitationspausen – Pausen von über 0,8 Sekunden Länge;23 sie
werden vom Hörer als deutliche Stockung wahrgenommen – treten in seiner
russischen Erzählung 23-mal auf, in seiner deutschen lediglich sechsmal.
Wortfindungsprobleme sind nur im Russischen festzustellen, er löst sie durch
Umschreibungen. Beides illustrieren die Beispiele (2a) und (2b).
(2a) und der Junge wurde vom Baum geschubst von einer Eule, die sich
im Baum versteckt hatte, im hohlen Baum. (Inf. 02, deutsche Erzäh-
lung, Beschreibung von Bild 8 der Froschgeschichte)
(2b) potom v sledujuščej scene ėm s dereva vyletaet ė # ė # ė ## [10 sec.]
nu zver’ kotoryj možet letat’ (lacht). ‘dann in der nächsten Szene
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ähm fliegt aus dem Baum äh # äh # äh ## [10 sec.] na ein Tier das
fliegen kann’ (lacht). (Inf. 02, russische Erzählung, Beschreibung
von Bild 8 der Froschgeschichte)24

Deutlich stärker treten die genannten Phänomene bei anderen Informanten


auf, die zum Teil große lexikalische Unsicherheiten aufweisen. Diese Unsi-
cherheiten führen zu Vermeidungsstrategien, d.h. einzelne, zum Teil auch sehr
relevante Sachverhalte werden nicht versprachlicht (vgl. oben Beispiel 1b)
und reichen bis zu Abbrüchen von Äußerungen. Hierzu möchte ich als Bei-
spiel zwei Ausschnitte aus der deutschen und der russischen Erzählung der
16-jährigen Jugendlichen Nr. 03 anführen, die mit vier Jahren nach Deutsch-
land gekommen ist. Sie führt die deutsche Erzählung souverän durch und hat
keine erkennbaren Wortschatzprobleme. Auch auf Russisch führt sie die Er-
zählung durch, stockt aber häufig und ist unsicher. Sie lässt viele Situationen
unerwähnt, die sie in ihrer deutschen Erzählung versprachlicht hat. Bei Wort-
not greift sie mehrfach auf das Deutsche zurück; in einem Fall bricht sie nach
einer langen Hesitation die Erzählung ab (Beispiele 3a und 3b).
(3a) aus diesem Baum kommt eine Eule raus und der Junge fällt vom
Baum. (Inf. 03, deutsche Erzählung, Beschreibung von Bild 8 der
Froschgeschichte)
(3b) [Pause von 8 sec.] Kann ich nix zu sagen. (Inf. 03, russische Erzäh-
lung, Beschreibung von Bild 8 der Froschgeschichte)
23
Zur Diskussion der Länge der Hesitation und weiterer Literatur siehe Anstatt (2010).
24
Das Doppelkreuz (#) symbolisiert eine ungefüllte Hesitationspause, ein zweifaches Doppel-
kreuz (##) stellt eine besonders lange Hesitationspause dar.

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122 Tanja Anstatt

Wie oben erwähnt treten in den russischen Erzählungen der Jugendlichen er-
heblich mehr Ersatzstrategien zur Füllung von lexikalischen Lücken auf als in
den deutschen. Dabei werden nicht nur Umschreibungen wie in Beispiel (2b)
verwendet, sondern häufiger auch Wörter aus dem Deutschen. Grundsätzlich
ist festzustellen, dass der Rückgriff auf die jeweils andere Sprache ausschließ-
lich im Russischen vorkommt: Hier verwenden die Jugendlichen regelmäßig
deutsche Wörter, siehe Beispiel (4). In ihren deutschen Erzählungen treten
hingegen überhaupt keine russischen Wörter auf. Die Verwendung deutscher
Wörter wird stets von metasprachlichen Kommentaren begleitet wie „mir fällt
das russische Wort nicht ein“ o.Ä., siehe Beispiel (4), das zeigt, dass diese
Lösungsstrategie unter hohem kommunikativem Druck erfolgt.

(4) on iščet svoj ėtot ė # ė frosch ė # ja ne znaju kak frosch teper’ na


russkom
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‘er sucht seinen diesen äh # äh Frosch äh # ich weiß nicht, wie


Frosch jetzt auf Russisch heißt’ (Jugendl. Nr. 09)

Insgesamt bleibt das Deutsche auch während der russischen Erzählung offen-
bar „angeschaltet“, also aktiviert, während umgekehrt das Russische während
der deutschen Erzählung deaktiviert scheint. Dies kann mit dem Modell der
bilingualen Modi von Grosjean (2001) erklärt werden: Bilinguale verfügen
über einen monolingualen Modus, in dem ihre zweite Sprache weitgehend
deaktiviert ist, so dass es kaum oder gar nicht zu lexikalischen Übernahmen
aus dieser kommt. Dieser Modus tritt im Gespräch mit einsprachigen Spre-
chern auf. Im bilingualen Modus, der im Gespräch mit bilingualen Sprechern
derselben beiden Sprachen auftritt, ist auch die gerade nicht verwendete Spra-
che aktiviert, und es kann leicht auf sie zugegriffen werden. Die Russischspre-
cher der zweiten Generation sind nun, was das Russische angeht, kaum je im
monolingualen Modus, da sie ja fast nur mit ihrerseits zweisprachigen Rus-
sischsprechern interagieren. Das Deutsche bleibt also immer aktiviert, und es
ist ein Leichtes, auf ein Wort aus dem Deutschen zurückzugreifen, wenn eine
aktuelle Wortnot auftritt, zumal dieses ja vom Gesprächspartner verstanden
wird. Ein Problem wird dies dann, wenn der monolinguale Modus für die
Herkunftssprache gar nicht zur Verfügung steht, der Gesprächspartner aber
kein Deutsch spricht. Im Deutschen sind die Jugendlichen hingegen regelmä-
ßig im monolingualen Modus, da sie sehr oft mit Sprechern kommunizieren,
die kein Russisch sprechen.

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Russisch in der zweiten Generation 123
2.4.3 Vergleich der Jugendlichen mit Vorschulkindern und Erwachsenen

Zum Abschluss möchte ich einen quantitativen Vergleich der Erzählungen der
Jugendlichen mit Erzählungen derselben Geschichte durch einige andere
Sprechergruppen vorstellen. Ich beziehe mich im Folgenden nur auf die 13
Jugendlichen, deren Einreise bis zum Alter von 10 Jahren erfolgte.
Die Abbildungen 4 und 5 stellen die durchschnittliche Zahl der pro Erzählung
verwendeten Wortformtypen25 für insgesamt vier Sprechergruppen dar:26
1) 11 bilinguale Vorschulkinder zwischen 4 und 6 Jahren (Durchschnittsalter
5,5 Jahre), Geburt in Deutschland oder Einreisealter zwischen 0 und 2
Jahren;
2) 13 bilinguale Jugendliche (Einreisealter 0-10 Jahre);
3) 10 russisch monolinguale Vorschulkinder zwischen 4 und 6 Jahren (Durch-
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schnittsalter 5,1 Jahre);


4) 10 russisch monolinguale Erwachsene;
5) 10 deutsch monolinguale Vorschulkinder im Alter von 5 Jahren;
6) 10 deutsch monolinguale Erwachsene.
Betrachten wir nun zunächst die von unseren Jugendlichen im Deutschen ver-
wendeten Wortformtypen im Vergleich zu den entsprechenden Zahlen im
Deutschen von mono- und bilingualen Vorschulkindern und monolingualen
Erwachsenen (Abb. 4). Es zeigt sich, dass die bilingualen Jugendlichen
(2. Säule) hier deutlich über den Kindergartenkindern (sowohl den bilingua-
len, Säule 1, als auch den monolingualen, Säule 3) liegen und leicht unter den
monolingualen Erwachsenen. Der durchschnittliche Wort- und Formenreich-
tum in ihren Erzählungen ist also beträchtlich größer als bei den 4- bis 6-jäh-
rigen Kindern. Wenden wir uns nun den analogen Werten der russischen Er-
zählungen (Abb. 5) zu. Hier liegen die Durchschnittswerte der Jugendlichen
25
Dabei werden die unterschiedlichen verwendeten Wörter bzw. Wortformen gezählt; die
Wortformen lese, lese, las zählen beispielsweise als zwei Wortformtypen, aß, lief, läuft, lief
sind drei Wortformtypen usw. Für die hier vorgestellte Übersicht gebe ich Wortformtypen
deswegen an, da so die Menge an verwendeten unterschiedlichen Lemmas und grammati-
schen Formen zwischen den verschiedenen Gruppen verglichen werden kann.
26
Die Daten zu den bilingualen Kindern sowie zu einigen Informanten aus den anderen Grup-
pen wurden im Rahmen des DFG-geförderten Projektes „Aspekterwerb bei bilingualen Kin-
dern“ im SFB 441 an der Universität Tübingen erhoben, die Daten zu den russisch- und
deutschsprachigen Erwachsenen sind teilweise sowie zu den deutsch monolingualen Kin-
dern ganz dem Internetprojekt CHILDES entnommen.

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124 Tanja Anstatt

mit Einreisealter bis 10 Jahre auf derselben Höhe wie diejenigen der mono-
und bilingualen Kindergartenkinder und erheblich niedriger als die der mo-
nolingualen Erwachsenen.27 Diese beiden Zahlen weisen darauf hin, dass sich
das Deutsche der Jugendlichen altersgemäß weiterentwickelt, während ihr
Russisch im Durchschnitt betrachtet stagniert.
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Abb. 4: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen Abb. 5: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen
Abb. 4: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortform- Abb 5: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortform-
in den deutschen Erzählungen in den russischen Erzählungen
typen in den deutschen Erzählungen typen in den russischen Erzählungen

3. Fazit

Das Russische ist in Deutschland derzeit eine vitale Sprache; sie wird – bei
einigen Verwendungsmöglichkeiten außerhalb der Kernfamilie – in allererster
Linie innerhalb von Familien verwendet, die aus russischsprachigen Ländern
stammen. Der größte Anteil der Russischsprecher sind Russlanddeutsche (so
genannte (Spät-)Aussiedler); diesen wurde in jüngster Zeit ein stark integrati-
ves Verhalten bescheinigt. Eine weitere relevante Gruppe sind aus der ehema-
ligen Sowjetunion stammende jüdische Russischsprecher.
In Bezug auf die sprachliche und auch soziokulturelle Integration kann die
Immigrationsgeneration als der entscheidende Faktor betrachtet werden: In
der zweiten Generation findet ein Integrationsschub in die aufnehmende Ge-
sellschaft statt, der sich auch in der sprachlichen Situation widerspiegelt. Die-
ser Prozess wurde im zweiten Teil dieses Beitrags auf der Grundlage einer
empirischen Studie untersucht, an der 17 in Deutschland lebende 15- bis
18-jährige Jugendliche aus russischsprachigen Familien teilnahmen. Die Stu-
die ergab, dass das Russische für die Jugendlichen ausnahmslos eine wichtige
ideelle Rolle spielt: Sie stehen loyal zu dieser Sprache, die sie als Mutterspra-
che ansehen, und möchten sie an die nächste Generation weitergeben. Was die
27
Natürlich gibt es hier zwischen den einzelnen Jugendlichen individuelle Unterschiede,
ebenso bei den Kindern (siehe dazu Anstatt 2009).

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Russisch in der zweiten Generation 125
Verwendung der Sprachen angeht, so ist Russisch klar die Sprache der Fami-
lie. Die Jugendlichen mit einem Einreisealter von 0-10 Jahren sprechen mit
Freunden aus russischsprachigen Familien hingegen im Durchschnitt mehr
Deutsch und nur gelegentlich Russisch. Bücher werden von allen Befragten
praktisch ausschließlich auf Deutsch gelesen, der Konsum von Filmen und
Fernsehen auf Russisch divergiert stark.
In Bezug auf die Kompetenzen im Russischen und Deutschen wird auf der
Basis sowohl der Selbsteinschätzung als auch der Sprachproben Folgendes
deutlich: Für die Jugendlichen, die bis zum Alter von 10 Jahren immigrierten,
ist das Deutsche die eindeutig stärkere Sprache. Hier betrachten die Jugendli-
chen ihre Kompetenzen weit überwiegend als vollständig; die Sprachproben,
die in Bezug auf Wortschatzumfang und Flüssigkeit ausgewertet wurden, un-
terstützen dieses Bild. Die Kompetenz im Russischen wird hingegen in der
Selbsteinschätzung als deutlich schwächer beurteilt, insbesondere für das Le-
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sen ordnen sich die Jugendlichen niedrigere Kompetenz zu, aber auch das
Sprechen liegt in der Bewertung deutlich niedriger als im Deutschen. Dies
wird ebenfalls durch die Sprachproben unterstützt, in denen einige Jugendli-
che große Schwierigkeiten hatten, ihre Verbalisierungsabsichten auf Russisch
umzusetzen. Andere meisterten die Aufgabe ohne größere Probleme, aber es
wurde dennoch deutlich, dass die Verwendung des Russischen beträchtlich
höheren Verarbeitungsaufwand bedeutet und der Wortschatz schwerer abruf-
bar bzw. eingeschränkter ist als im Deutschen. Anders ist das Bild bei den
Jugendlichen mit höherem Einreisealter: Sie beurteilen ihr Russisch als die
stärkere Sprache und hatten weniger Wortschatzprobleme in der russischen
Sprachprobe. Diese Beobachtungen basieren auf einer Pilotstudie mit einer
kleinen Gruppe von Jugendlichen; aufgrund ihrer großen Einheitlichkeit lässt
sich jedoch annehmen, dass es sich um allgemeinere Tendenzen handelt, zu-
mal sie im Einklang mit den Ergebnissen größerer Studien zu benachbarten
Fragestellungen stehen.
Für die Zukunft des Russischen in Deutschland zeigt sich auf dieser Grundla-
ge, dass von der ersten zur zweiten Generation (v.a. bei den Personen, die bis
zum Alter von 10 Jahren immigrierten) ein beträchtlicher Rückgang der Rus-
sischkompetenz und ein gleichzeitiger ebensolcher Anstieg der Deutschkom-
petenz zu verzeichnen ist. Trotz der hohen Loyalität zum Russischen ist somit
auf die Dauer mit einem Schub in Richtung monolinguale Assimilation zu
rechnen, der durch die vom Berlin-Institut (Hg.) (2009) ermittelten soziokul-
turellen Assimilationstendenzen (v.a. dem sehr hohen Anteil an Eheschließun-
gen mit Einheimischen) verstärkt werden dürfte.

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126 Tanja Anstatt

Wenn es ein politisches Ziel ist, die Mehrsprachigkeit in der Bevölkerung


Deutschlands zu stärken, dann wäre das mehrsprachige Potenzial, das die Mit-
glieder russischsprachiger Familien in Deutschland mitbringen, zu nutzen.
Dafür ist aber eine institutionelle Unterstützung unumgänglich.

4. Literatur
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İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann
Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft
am Beispiel der türkisch-deutschen Grundschulklassen
in Hamburg

Abstract: Üblicherweise werden Migrantensprachen in Deutschland nur im Rahmen


des herkunftssprachlichen Unterrichts gefördert. Bilinguale Modelle beziehen sich
meist auf das Deutsche und so genannte Weltsprachen wie Englisch, die für die Schüle-
rinnen und Schüler zumeist Fremdsprachen sind. Evaluationen von bilingualen Model-
len in den USA, in denen neben der Amtssprache in einer Migrantensprache unterrichtet
wird, zeigen, dass und wie diese Art der bilingualen Erziehung zu sprachlichen bzw.
schulischen Lernerfolgen führt. Auf Grund diverser bildungspolitischer und soziokultu-
reller Differenzen lassen sich die Modelle allerdings nicht eins zu eins auf den bundes-
deutschen Kontext übertragen. Der Beitrag thematisiert den Fall des Hamburger Schul-
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versuchs Bilinguale Grundschule. Zunächst wird der Schulversuch unter Nutzung von
Analysen der wissenschaftlichen Begleitung vor allem am Beispiel der türkisch-deutsch
bilingualen Klassen vorgestellt. Anschließend wird gezeigt, welche Herausforderungen
die bilinguale schulische Erziehung in Deutsch und einer Migrantensprache enthält und
welche didaktisch-methodischen Strategien erfolgversprechend sind. Die Analysen der
wissenschaftlichen Begleitung stützen sich vor allem auf die Datenerhebungen in den
türkisch-deutsch-bilingualen Klassen des Schulversuchs, die sich über einen Zeitraum
von vier Jahren erstreckten. Erhoben wurden Daten zur mündlichen und schriftlichen
Sprachentwicklung, zu familialen Rahmenbedingungen und Schulleistungen sowie den
didaktisch-methodischen Aspekten des Unterrichts.
In Germany, migrant languages are usually promoted only in the context of home
language instruction for migrants. Bilingual models usually refer to German and
so-called world languages such as English, which are mostly the foreign languages
learned by pupils at school. Evaluations of bilingual models in the USA, in which in-
struction is given in a migrant language as well as in the official language, show that
and how this kind of the bilingual education leads to successful learning in language
and in school in general. However, because of various political, educational and socio-
cultural differences the models cannot be transferred one to one to the German con-
text. The article discusses the Bilingual Primary School experiment in Hamburg. First
this experiment is described with particular reference to the Turkish-German bilingual
classes, drawing on the analyses of the accompanying evaluation study. This is fol-
lowed by a discussion of the challenges confronting a bilingual school education in
German and a migrant language and of promising strategies and teaching methods.
The analyses of the accompanying evaluation study are based mainly on data col-
lected in the Turkish-German bilingual classes of the experiment, covering a period of
four years. Data were collected on the development of spoken and written language,
on the family backgrounds and performance at school and on aspects of the teaching
methods used.

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130 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

1. Der Hamburger Schulversuch Bilinguale Grundschule

Im Zuge der Diskussionen über mögliche Wege der besseren schulischen In-
tegration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird
auch über bilinguale Beschulungsmodelle debattiert. Die Positionen hierzu
sind konträr, die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern (z.B. Cum-
mins 2008) und Gegnern bilingualer Modelle (z.B. Esser 2006) sind leiden-
schaftlich. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nicht, eben diese Diskussion
nachzuzeichnen und zu bewerten. Im Mittelpunkt stehen stattdessen Erkennt-
nisse zur Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten in zwei bilingualen Klassen,
in denen Kinder, die die Minderheitensprache Türkisch sprechen, gemeinsam
mit Sprechern der Mehrheitssprache Deutsch unterrichtet werden. Untersu-
chungen aus den USA und Kanada hatten Two-Way-Immersion-Modelle für
die gemeinsame Beschulung als besonders geeignet herausgestellt – die Über-
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tragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschsprachigen Raum war jedoch un-
klar (vgl. Reich/Roth 2002).

Im Schuljahr 2000/2001 startete der Hamburger Schulversuch Bilinguale


Grundschule, mit dessen Einrichtung von behördlicher Seite vor allem die
Nutzung von Migrantensprachen als gesamtgesellschaftliche Bildungsres-
source und die Leistung eines besonderen Beitrags zur Verbesserung der Bil-
dungssituation von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund verfolgt
wurden. Die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sollten die
Möglichkeit erhalten, ihre nichtdeutschen Herkunftssprachen im Rahmen ih-
rer Schulbildung zu nutzen und auszubauen; die Kinder ohne Migrationshin-
tergrund sollten die Möglichkeit erhalten, von der sie umgebenden Mehrspra-
chigkeit zu profitieren. Mit Unterstützung der jeweiligen Konsulate wurden
an bestehenden Grundschulen insgesamt sechs bilinguale Schulzweige mit
den Sprachenpaaren Italienisch-Deutsch, Portugiesisch-Deutsch, Spanisch-
Deutsch und Türkisch-Deutsch eingerichtet. Die jeweils erste Klasse wurde
vom ersten bis zum vierten Schuljahr wissenschaftlich begleitet. Den beglei-
teten Modellklassen folgten an den beteiligten Schulen in jedem neuen Schul-
jahr weitere bilinguale Klassen.

Für die Modellklassen gilt kein festes Einzugsgebiet; es können Kinder aus
dem gesamten Hamburger Stadtgebiet angemeldet werden. Wie die parallel
dazu geführten regulären Klassen sind sie nach dem Prinzip der ‘Verlässlichen
Halbtagsgrundschule’ organisiert. Die Kinder gehen von 8 bis 13 Uhr zur
Schule und erhalten Unterricht nach denselben Richtlinien und Bildungsplä-
nen wie Kinder in Regelklassen. Für den Unterricht in Italienisch, Portugie-

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 131
sisch, Spanisch oder Türkisch (bezeichnet als „Partnersprachen“) gilt derselbe
Plan wie für den Herkunftssprachlichen Unterricht.1 Die bilingualen Klassen
sollen etwa zur Hälfte von Kindern mit Kenntnissen in der Partnersprache
besucht werden. Die Lehrerinnen und Lehrer der Partnersprachen sind Beam-
te ihrer jeweiligen Herkunftsstaaten und erteilen pro Klasse zwölf Stunden
Unterricht. Zwei weitere Stunden erhalten sie und die deutschen Klassenleh-
rerinnen für Koordinationsbedarf.
Da es sich um einen Schulversuch handelt, besitzen die Schulen und Lehrkräf-
te relativ viel Freiraum in der Gestaltung des Unterrichts. Es steht ihnen u.a.
frei, ob sie die Klassen für den Sprachunterricht in Lerngruppen aufteilen oder
ob die Lehrkräfte der beiden Sprachen im Team unterrichten. Festgelegt ist
lediglich, dass der Schriftspracherwerb bereits im ersten Schuljahr in beiden
Sprachen erfolgen soll, und dass der Sachunterricht von einem zunächst ein-
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr

sprachigen Unterricht im Deutschen, in dem nur zentrale Begriffe auch in der


Partnersprache vermittelt werden sollen, allmählich zu einem einsprachigen
Unterricht in der Partnersprache wird. Die übrigen Fächer wie z.B. Mathema-
tik werden auf Deutsch unterrichtet.2 Auf den Zeugnissen wird der Lernerfolg
in den Partnersprachen (in Form einer Gesamtnote) zusätzlich zu den übrigen
Fächern und Deutsch (Sprechen und Gespräch, Lesen, Texte schreiben, Rich-
tig schreiben, Sprache untersuchen) ausgewiesen.3

Die Herangehensweisen der Türkischlehrkräfte an die bilinguale Unterrichts-


situation waren unterschiedlich. Alle Türkischlehrkräfte verfügten über
Deutschkenntnisse und agierten im Unterricht nicht einsprachig türkisch, son-
dern in verschiedenen Formen und Gewichtungen zweisprachig. Der Deutsch-
anteil in ihrem Unterricht variierte; er wurde von den Lehrkräften auf ca. 30
Prozent geschätzt. Im täglichen Miteinander verwendeten die Kinder entspre-
chend der gesellschaftlichen und der schulischen Bedeutung der Sprachen sel-
tener die Partnersprachen als das Deutsche. Die beiden Sprachen sind somit
nicht gleichgestellt, das Deutsche dominiert in den Klassen merklich.
1
Für den Rahmenplan herkunftssprachlicher Unterricht vgl. http://lbs.hh.schule.de/bildungsplaene/
Grundschule/HU_Grd.pdf(Stand: 05/2011)
2
Tatsächlich ist in keiner der Klassen ein einsprachig partnersprachlicher Unterricht ver-
wirklicht worden, sondern es wurde in der Regel im Team zweisprachig unterrichtet, viel-
fach in Form von „Stationen- oder Werkstattlernen“ mit Arbeitsblättern und Aufgaben in
zwei Sprachen.
3
Diese Beurteilung beruht auf einer Analyse der Zeugnisse, die in den bilingualen Modell-
klassen vergeben wurden (vgl. hierzu im Einzelnen den Bericht von Gogolin/Neumann/
Roth 2003, S. 16-20).

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132 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung war sehr daran interes-
siert, den Schulerfolg der Kinder in sprachlicher und sachlicher Hinsicht zu
sichern. Daher übertrug sie dem Institut für International und Interkulturell
Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg den Auftrag,
die Sprachentwicklung der Kinder in beiden Sprachen zu beobachten. Die Pla-
nung und Realisierung der wissenschaftlichen Begleitung der bilingualen Be-
gleitung oblagen Ingrid Gogolin, Ursula Neumann und Hans-Joachim Roth.
Die Begleitung umfasste unter anderem eine Eingangserhebung im ersten
Schuljahr, in der der Sprachstand der Kinder in beiden Sprachen und ihre fa-
miliäre Situation erfasst wurden. Für die Sprachstandsfeststellung wurde ein
Vorläufer des Hamburger Verfahrens zur Sprachstandsanalyse 5-Jähriger (HA-
VAS 5, Reich/Roth 2004, 2007) verwendet. Angaben zum familiären Hinter-
grund wurden durch standardisierte mündliche Interviews auf Deutsch oder in
der Partnersprache erhoben. Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten
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der Kinder wurde im Laufe der Grundschulzeit jährlich im Hinblick auf die
mündliche Textproduktion, das Schreiben und die Lesekompetenz durch den
Einsatz verschiedener altersgemäßer Verfahren (z.T. von der wissenschaftli-
chen Begleitung entwickelt, z.T. mit bereits erprobten Verfahren wie dem
IGLU-Leseverständnis-Test etc.) beobachtet. Die Zufriedenheit der Eltern mit
dem Schulversuch wurde am Ende des vierten Schuljahres durch einen mehr-
sprachigen Fragebogen erhoben. Die Lehrerinnen und Lehrer im Schulver-
such wurden modellbegleitend in Form von narrativen Einzelinterviews zu
didaktisch-methodischen Regelungen und Erfahrungen befragt. Ergänzend
wurden in jedem Schuljahr Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt, die wei-
teren Aufschluss darüber gaben, wie bilingualer Unterricht in den verschiede-
nen Klassen realisiert wurde. Daneben wurden im Rahmen der wissenschaft-
lichen Begleitung jährlich Workshops durchgeführt, in denen den Lehrerinnen
und Lehrern zum einen Zwischenergebnisse der Evaluation zurückgemeldet
und zum anderen Fachvorträge zu modellrelevanten Themen präsentiert wur-
den. Die Workshops dienten den Lehrkräften darüber hinaus als Forum, um
sich mit Kollegen zu unterrichtlichen Belangen auszutauschen.
Im Jahr 2007 wurden die zentralen Ergebnisse der Abschlussuntersuchungen
in den italienisch-, portugiesisch- und spanisch-deutschen Klassen vorgelegt
(vgl. Roth/Neumann/Gogolin 2007), über die Ergebnisse der türkisch-deut-
schen Klassen wurde im Sommer 2009 berichtet (Dirim/Döll/Neumann/Roth
2009). Der vorliegende Beitrag fasst die zentralen Ergebnisse der wissen-
schaftlichen Begleitung zusammen und gibt damit einen Einblick in die
sprachliche Entwicklung der Kinder der beiden Klassen.

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 133
2. Türkisch-deutsche Modellklassen

Während des vierjährigen Begleitungszeitraums besuchten insgesamt 28


Schülerinnen und 25 Schüler die beiden türkisch-deutsch bilingualen Klassen.
In beiden Klassen kam es zu Fluktuationen, Kinder verließen die Klassen oder
kamen neu dazu. In den Begleituntersuchungen wurden für die Beschreibung
der Stichprobe und die Untersuchung der Sprachentwicklung ausschließlich
die Daten von Kindern (48 an der Zahl) herangezogen, die mindestens zwei
Jahre am Unterricht in den Modellklassen teilnahmen. Die Kinder sind über-
wiegend in Deutschland geboren (94,6 Prozent; siehe Dirim/Döll/Neumann/
Roth 2009, S. 9); etwa zwei Drittel der Kinder haben einen Migrationshinter-
grund, d.h. sie haben mindestens einen im Ausland geborenen Eltern- oder
Großelternteil.
Zu Beginn des ersten Schuljahres bzw. beim Eintritt in die bilingualen Modell-
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klassen wurden durch standardisierte Interviews mit einem Elternteil Daten zu


sozialen und sprachlichen Dispositionen der Familien erhoben. Die Angaben
zu beruflicher Tätigkeit sowie zum Bildungshintergrund der Eltern wurden in-
ternational vergleichbar skaliert. Dominierend waren mittlere und höhere Bil-
dungsabschlüsse; der ISCED-Mittelwert (ISCED = International Standard Clas-
sification of Education, skaliert nach der in PISA 2000 verwendeten
Klassifikation) der Familien lag bei 4,56 (vgl. Tab. 1; Dirim/Döll/Neumann/
Roth 2009). Der sozioökonomische Hintergrund der Familien beider Schulklas-
sen lag mit einem ISEI-Mittelwert (ISEI = International Socio-Economic Index
of Occupational Status) von 42,95 etwas unter dem 2004 für Viertklässler ermit-
telten Bundesdurchschnitt von 45,4 (vgl. Schwippert/Bos/Lankes 2004, S. 173).
Differenziert man bei der Betrachtung der Werte nach sprachlichem Hinter-
grund der Kinder,4 fällt auf, dass sich die Sprachgruppen im Hinblick auf ISEI
und ISCED nur wenig voneinander unterscheiden (Dirim/Döll/Neumann/Roth
2009). Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder weisen zwar ten-
denziell günstigere Werte auf, eine Signifikanz lässt sich für die Differenzen
jedoch nicht nachweisen.
4
Im Laufe der wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs hatte sich bewährt, im Hin-
blick auf die sprachlichen Fähigkeiten bzw. Eingangbedingungen der Kinder bei Schuleintritt
zwischen einsprachig deutschen, einsprachig partnersprachigen, bilingual deutsch-partner-
sprachigen und bilingualen Kindern ohne Kenntnisse der Partnersprache zu unterscheiden.
Die Auswertung der Sprachdaten der türkisch-deutschen Klassen hat jedoch gezeigt, dass eine
Differenzierung in die zwei Gruppen ‘Kinder ohne Türkischkenntnisse bei Einschulung’ (ein-
sprachig deutsche und bilinguale Kinder ohne Türkischkenntnisse) und ‘Kinder mit Türkisch-
kenntnissen bei Einschulung’ (deutsch-türkische sowie einsprachig türkische Kinder) für die
beiden türkisch-deutschen Klassen angemessener ist (Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009).

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134 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

ohne Türkisch- mit Türkisch-


Sprachgruppe gesamt
kenntnisse kenntnissen
ISCED' MW 4,71 4,45 4,56
N 14 22 36
SD 1,20 1,30 1,25
ISEI'' MW 47,57 40,25 42,95
N 14 24 38
SD 17,02 15,88 16,47

Tab.1: Mittelwerte Bildungshintergrund und sozioökonomischer Status der Eltern (nach


Sprachgruppen); Mann-Whitney-U-Test: ') p = 0,597, '') p = 0,3613.

3. Sprachliche Entwicklung im Deutschen und Türkischen


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Zur Nachzeichnung der sprachlichen Entwicklung im Deutschen und Türki-


schen wurden in jedem Schuljahr Erhebungen zum Stand der Aneignung der
gesprochenen und geschriebenen Sprache durchgeführt (vgl. Roth/Neumann/
Gogolin 2007, S. 4ff.). Auf Grund großer Forschungs- und Entwicklungslü-
cken in diesem Bereich war die wissenschaftliche Begleitung gefordert, Pio-
nierarbeit zu leisten und die meisten Instrumente im Rahmen der gegebenen
Möglichkeiten selbst zu entwerfen. Dabei konnten Erkenntnisse für die zu-
künftige Entwicklung von sprachstandsdiagnostischen Verfahren zu Erfas-
sung von Bilingualität gewonnen werden. Im vorliegenden Artikel kann nicht
auf alle mit diesen Instrumenten erhobenen Daten eingegangen werden; im
Zentrum der Darstellung stehen stattdessen Erhebungen (und deren Ergeb-
nisse) des ersten und vierten Schuljahres, also zu Beginn und Ende der
Grundschulzeit. Berücksichtigt werden dabei sowohl mündliche als auch
schriftliche Daten.
Zu Beginn und am Ende des ersten Schuljahres wurden zwei Bildimpulse, die
Bildergeschichte „Katze und Vogel“, in der ein kleiner Vogel eine Katze narrt
(später für das HAVAS 5 verwendet, vgl. Reich/Roth 2004), und das „Küchen-
bild“, das etliche Akteure bei der Verrichtung verschiedener Arbeiten im häus-
lichen Alltag in einer Küche darstellt, eingesetzt, um den Kindern in beiden
Sprachen Äußerungen zu elizitieren, die aufgenommen, transkribiert und mit-
tels profilanalytischer Raster (vgl. Reich 2001) ausgewertet wurden.5 In bei-
5
Das Analyseraster für die Bildergeschichte „Katze und Vogel“ wurde später in überarbeite-
ter Form für die Auswertung von HAVAS 5-Sprechproben eingesetzt (Reich/Roth 2004,
2007). Eine Prüfung des Verfahrens wurde im Jahr 2002 durch das Landesinstitut für Leh-
rerbildung und Schulentwicklung durchgeführt (vgl. Reich/Roth 2007).

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 135
den Sprachen werden dabei die allgemeine Sprachhandlungsfähigkeit sowie
morphologisch-syntaktische und semantische Fähigkeiten anhand von Indika-
toren erfasst.
Am Ende der Grundschulzeit wurden mündliche Daten durch zwei weitere
Bildimpulse, „Topfszene“ und „Ultraschall“, erhoben. Beim ersten Impuls
handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem im ersten Schuljahr verwendeten
„Küchenbild“, der die starke Schaumbildung beim Aufkochen einer Flüssig-
keit und das damit verbundene Überlaufen eines Topfes fokussiert; der zweite
Impuls zeigt eine Frau bei einer ärztlichen Untersuchung mit einem Ultra-
schallgerät. Beide Impulse sind geeignet, Äußerungen zu gesellschaftlich-so-
zialen sowie am Ende der Primarstufe zunehmend wichtiger werdenden natur-
wissenschaftlich-technischen Themen zu elizitieren (Roth/Neumann/Gogolin
2007, Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009).
Im Bereich der schriftsprachlichen Fähigkeiten wurden im ersten Schuljahr
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im Abstand von jeweils drei Monaten dreimal Tests zur Erfassung des Standes
der Alphabetisierung in beiden Sprachen, die Sofa- und para-Tests (Dehn
1988, Reich 2001), durchgeführt. Die Kinder werden aufgefordert, im Deut-
schen die Wörter Sofa, Mund, Limonade, Reiter und Kinderwagen und im
Türkischen die Wörter para (Geld), kitap (Buch), eldiven (Handschuh), san-
dalye (Stuhl) und kalem (Stift) zu schreiben. Die Gegenstände sind auf einem
Arbeitsblatt abgebildet, es kann direkt neben die Abbildungen geschrieben
werden.6 Zur Erfassung der Lesefähigkeiten der Kinder wurden am Ende des
vierten Schuljahres Lesetests mit den aus der IGLU-Studie bekannten Instru-
menten durchgeführt (Bos et al. (Hg.) 2003).

3.1 Allgemeine sprachliche Handlungsfähigkeit


Die allgemeine Sprachhandlungsfähigkeit wird im Deutschen wie im Türki-
schen durch die so genannte Aufgabenbewältigung (vgl. Reich/Roth 2004,
2007) festgestellt. Für jede einzelne in den beiden Bildimpulsen „Katze und
Vogel“ und „Küchenbild“ dargestellte Szene wird eingeschätzt, inwieweit die
Kinder die Handlungen der verschiedenen Akteure versprachlichen. Die
Übereinstimmung der Äußerungen mit zielsprachlichen Normen spielt dabei
keine Rolle. Im Fokus steht die Frage, was die Kinder mit ihren bereits erwor-
benen sprachlichen Fähigkeiten zu kommunizieren vermögen. Die Aufgaben-
bewältigung ist unabhängig von den Spezifika einzelner Sprachen und kann
daher für einen direkten Vergleich der sprachlichen Fähigkeiten in den ver-
schiedenen Sprachen eines mehrsprachigen Kindes herangezogen werden.
6
Beide Tests sind unter http://www.li-hamburg.de/projekte/projekte.liq.daten/projekte.liq.daten.elli/
projekte.liq.daten.elli.mat/projekte.liq.daten.elli.mat.2/index.html verfügbar (Stand: 05/2011).

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136 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Die Ergebnisse der ersten Erhebung zeigen für das Deutsche deutliche und
hoch signifikante Differenzen bei den von den beiden Sprachgruppen erziel-
ten Mittelwerten (vgl. Tab. 2). Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten
Kinder erreichen erwartungsgemäß deutlich höhere Werte im Deutschen als
die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder. Die ohne Türkischkennt-
nisse eingeschulten Kinder konnten sich zu Beginn des ersten Schuljahres
erwartungsgemäß noch nicht auf Türkisch äußern.

Deutsch Türkisch
Sprachgruppe 1. Halbjahr 2. Halbjahr 1. Halbjahr 2. Halbjahr
ohne Türkisch- MW 2,62 2,96 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16 16 16
SD 0,50 0,67 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 1,67 2,38 2,23 2,23
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kenntnissen N 21 21 21 21
SD 0,75 0,96 0,75 0,78
gesamt MW 2,08 2,63 1,26 1,27
N 37 37 37 37
SD 0,80 0,88 1,25 1,26

Tab. 2: Mittelwerte, Aufgabenbewältigung Sprechproben, 1. Schuljahr7

Am Ende des ersten Schuljahres ist im Deutschen für beide Gruppen ein Zu-
wachs der Mittelwerte zu verzeichnen, die Unterschiede zwischen den Grup-
pen verfehlen knapp die Signifikanzgrenze (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,059).
Besonders deutlich ausgeprägt ist der Zuwachs bei den mit Türkischkenntnis-
sen eingeschulten Kindern. Die Gruppe der ohne Türkischkenntnisse einge-
schulten Kinder weist weiterhin einen deutlichen Vorsprung vor den mit Tür-
kischkenntnissen eingeschulten Kindern auf.
Die Ergebnisse im Türkischen lassen am Ende des ersten Schuljahres gegen-
über den Werten der Eingangserhebung wider Erwarten keinen Zuwachs er-
kennen. Die mündliche Darstellungsfähigkeit der Kinder, die bei Einschulung
bereits über Türkischkenntnisse verfügten, gleicht sich im Deutschen zum
Ende des ersten Schuljahres an die Darstellungsfähigkeit im Türkischen an.
Der Spracherwerb der Kinder, die mit Türkischkenntnissen eingeschult wur-
den, konzentriert sich im ersten Schuljahr offenbar auch im bilingualen Mo-
dell vorwiegend auf das Deutsche. Die ohne Türkischkenntnisse eingeschul-
7
In den Berechnungen, die die Entwicklungen während des ersten Schuljahres betreffen, wer-
den ausschließlich Daten von Kindern berücksichtigt, von denen im ersten und zweiten
Halbjahr des ersten Schuljahres beide Sprechproben erhoben werden konnten (N=37).

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 137
ten Kinder mochten auch am Ende des ersten Schuljahres nicht versuchen, auf
Türkisch zu den Bildimpulsen zu sprechen. Allerdings konnten die Kinder
auf die Bitte der Interviewerin hin einige wenige im Unterricht gelernte türki-
sche Begriffe, wie baba (dt. Papa) und anne (dt. Mama), nennen.
Die im vierten Schuljahr erhobenen Sprechproben wurden in Bezug auf die
sprachliche Handlungsfähigkeit anhand anderer, altersangemessenerer Kriteri-
en analysiert. Ein direkter Vergleich der Ergebnisse mit denen des ersten Schul-
jahres ist vor diesem Hintergrund nicht möglich. Es haben sich jedoch zwei
bedeutsame Phänomene gezeigt: Einerseits wurde festgestellt, dass die ohne
Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder auch am Ende der Grundschulzeit
kaum Türkisch sprechen mochten. Wenn sie sich auf Türkisch äußerten, handel-
te es sich überwiegend um die Benennung von in den Impulsbildern dargestell-
ten Gegenständen und Personen (z.B. çocuklar, dt. Kinder).
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Ein weiterer zentraler Befund ist, dass die Häufigkeit der Sprachhandlung
Deuten/Vermuten sowohl im Deutschen als auch im Türkischen signifikant
mit klassischen Sprachstandsindikatoren (verbaler Wortschatz, syntaktische
Komplexität etc.) korreliert; sie steht also mit einer fortgeschrittenen allge-
meinen Sprachkompetenz in Zusammenhang (Dirim/Döll/Neumann/Roth
2009, S. 47f.).8

3.2 Morphologisch-syntaktische Fähigkeiten im Deutschen

Die Beschreibung der Entwicklung morphosyntaktischer Fähigkeiten im Deut-


schen kann durch die Erfassung verbmorphologischer Phänomene und Satzmu-
ster realisiert werden (vgl. Döll/Roth/Siemon 2009, Kemp/Bredel/Reich 2008).
Für das Türkische eignen sich Suffixe als Indikator (vgl. Reich/Roth 2007).
Tabelle 3 zeigt die Menge der in den deutschen Sprachproben verwendeten
verschiedenen Formen und Stellungen des Verbs im Satz (Types). Die ohne
Türkischkenntnisse eingeschulten Schülerinnen und Schüler verwenden so-
wohl im ersten als auch im zweiten Schulhalbjahr mehr unterschiedliche
Verbformen und -stellungen als die der anderen Sprachgruppe zugehörigen
Kinder; signifikant sind die Differenzen jedoch nicht. Beide Sprachgruppen
verzeichnen eine Zunahme der Vielfalt verwendeter Formen und Stellungen
des Verbs von der Eingangserhebung zur Erhebung am Ende des ersten Schul-
jahres, aber auch hier konnte keine Signifikanz nachgewiesen werden.
8
Korrelationen von Deuten/Vermuten für das Deutsche: Tokens der Verben (r = 0,379, p = 0,016)
und Satzgefüge (r =0,316, p = 0,047); Korrelationen von Deuten/Vermuten für das Türki-
sche: Types Suffixe an Verben (r = 0,417, p = 0,043) und Menge komplexer Sätze (r = 0,484,
p = 0,017).

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138 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Sprachgruppe 1. Halbjahr 2. Halbjahr


ohne Türkisch- MW 7,69 7,88
kenntnisse N 16 16
SD 1,014 0,957
mit Türkisch- MW 6,67 7,10
kenntnissen N 21 21
SD 0,75 0,96
gesamt MW 7,11 7,43
N 37 37
SD 1,87 1,46

Tab. 3: Mittelwerte, Formen und Stellungen des Verbs (Types), 1. Schuljahr (Deutsch)
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Die Vielfalt der verwendeten Formen und Stellungen des Verbs wurde auch
in den mündlichen Sprechproben des vierten Schuljahres, die jetzt allerdings
mit den Impulsen „Topfszene“ und „Ultraschall“ erhoben wurden, analysiert.
Vom Ende des ersten zum Ende des vierten Schuljahres ist erneut eine Zu-
nahme der verwendeten Formen und Stellungen des Verbs zu beobachten
(vgl. Tab. 4); die Veränderungen vom ersten Halbjahr des ersten Schuljahres
zum vierten Schuljahr verfehlen die Signifikanzgrenze nur knapp (Wilcoxon-
Test: p = 0,063). Trotz der geringen Größe der untersuchten Gruppe kann von
einem systematischen Zusammenhang ausgegangen werden. Die Kinder
brachten zur Bewältigung der gestellten sprachlichen Aufgaben am Ende des
vierten Schuljahres ein weiter entfaltetes morphologisch-syntaktisches Sys-
tem in Anwendung als bei ihrer Einschulung. Es fällt jedoch auf, dass die von
mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kindern erzielten Werte auch im
vierten Schuljahr hinter den Ergebnissen der Kinder, die ohne Türkischkennt-
nisse eingeschult wurden, zurückbleiben. Eine Signifikanz des Unterschieds
zwischen den Gruppen lässt sich (wie im ersten Schuljahr) jedoch nicht
nachweisen.

Neben der Vielfalt der verwendeten Verbformen und -stellungen änderten


sich vom ersten zum vierten Schuljahr auch die Typen verwendeter morpho-
syntaktischer Konstruktionen (vgl. Tab. 5). Im Gegensatz zum ersten Schul-
jahr kommen in den Äußerungen der Kinder am Ende der Grundschulzeit
keine unflektierten Verbformen mehr vor. Verbformen im Präsens, Kopula-
konstruktionen, Verben in Nebensatzendstellung werden am Ende des vier-

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 139
ten Schuljahres von allen Kindern verwendet; auch invertierte Hauptsätze,
Perfekt und Verben mit getrennt stehendem Präfix sind in den Äußerungen
fast aller Kinder zu finden. Komplexere (und zugleich schulsprachlichere)
Formen wie Passiv und Konjunktiv, die Kemp/Bredel/Reich (2008) zu den
ontogenetisch späten Entwicklungen zählen, werden auch im vierten Schul-
jahr nur von wenigen Kindern verwendet.

1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr


ohne Türkisch- MW 7,80 7,93 8,33
kenntnisse N 15 15 15
SD 0,94 0,96 1,11
mit Türkisch- MW 7,27 7,47 7,80
kenntnissen
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N 15 15 15
SD 1,58 0,99 1,01
gesamt MW 7,53 7,70 8,07
N 30 30 30
SD 1,31 0,99 1,08

Tab. 4: Mittelwerte, Formen und Stellungen des Verbs (Types), 1. bis 4. Schuljahr (Deutsch)9

Als Indikator für die Entwicklung syntaktischer Fähigkeiten im Deutschen


wurde auch erfasst, welche Konnektoren und wie viele Satzgefüge die Kinder
in den Sprechproben verwendeten (vgl. Döll/Roth/Siemon 2009, Kemp/Bre-
del/Reich 2008). Im ersten Schuljahr produzierten ohne Türkischkenntnisse
eingeschulte Kinder zu beiden Erhebungszeitpunkten im Mittel mehr Kon-
nektoren als ihre mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschülerinnen und
Mitschüler, signifikant sind die Differenzen jedoch nicht (vgl. Tab. 6). Für
beide Gruppen lässt sich vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schul-
jahres eine enorme und zugleich hoch signifikante Zunahme der Zahl verwen-
deter Konnektoren verzeichnen (Wilcoxon-Test: p = 0,000). Die im zweiten
Halbjahr erhobenen Äußerungen der Kinder zeichnen sich also insgesamt
durch eine weitaus größere Kohärenz aus. Da im vierten Schuljahr auf die
Erfassung einfacher Konnektoren wie und, dann sowie und dann verzichtet
wurde, fallen die absoluten Werte hier geringer aus als im ersten Schuljahr.
9
In die Berechnungen, die die Entwicklungen vom ersten bis vierten Schuljahr betreffen, sind
ausschließlich Daten von Kindern eingeflossen, von denen vom ersten bis vierten Schuljahr
alle Sprechproben erhoben werden konnten (N=30).

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140 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Ein direkter Vergleich mit den Ergebnissen des ersten Schuljahres ist daher
nicht möglich, wenngleich die im ersten und vierten Schuljahr verwendeten
Impulse in gleichem Umfang geeignet sind, unterschiedliche Konnektoren zu
elizitieren. Die Daten können jedoch zum Vergleich der beiden Sprachgrup-
pen herangezogen werden. Dabei wird deutlich, dass die mit Türkischkennt-
nissen eingeschulten Kinder im Vergleich zu ihren Mitschülern und Mitschü-
lerinnen mehr Konnektoren verwenden.10

ohne Türkisch- mit Türkisch-


kenntnisse kenntnissen
N = 15 N = 15
Schuljahr 1.(1) 1.(2) 4. 1.(1) 1.(2) 4.
Vollverb in unflektierter Form 0 0 0 1 1 0
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Präsens 15 15 15 15 15 15
Kopulakonstruktionen 15 15 15 14 15 15
Modalverbkonstruktionen 13 15 10 14 15 13
Verb mit getrenntem Präfix 15 15 14 15 14 13
Inversion 15 13 15 14 10 14
Endstellung im Nebensatz 15 15 15 10 14 15
Perfekt 12 15 14 12 14 12
Präteritum 6 7 10 8 11 13
Passiv 3 2 7 3 1 2
Konjunktiv II 2 0 5 0 0 3
Verbalperiphrase 6 7 5 4 3 2

Tab. 5: Morphologisch-syntaktische Phänomene, 1. bis 4. Schuljahr Deutsch; dargestellt


ist die Zahl der Kinder, die die jeweilige Konstruktion in ihren Äußerungen
verwendeten

Analog zu den Ergebnissen der Konnektorenverwendung nimmt auch die


Menge der verwendeten Satzgefüge vom ersten zum zweiten Halbjahr des
ersten Schuljahres stark zu (vgl. Tab. 7; Wilcoxon-Test: p = 0,000). Das bedeu-
tet, dass nicht nur die Menge der Verknüpfungen im Text zunimmt, sondern
auch die Qualität der Verknüpfungen steigt. Im ersten Schuljahr verwenden
die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder zu beiden Erhebungszeit-
10
Eine Signifikanz der berichteten Differenzen lag zu keinem Zeitpunkt vor. Da die Werte
angesichts der kleinen Stichprobe jedoch Tendenzen erkennen lassen, werden sie in diesem
Beitrag aufgeführt.

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 141
punkten im ersten Schuljahr weniger Satzgefüge als die Kinder, die ohne Tür-
kischkenntnisse eingeschult wurden. Im vierten Schuljahr liegen dann beide
Gruppen nahezu gleichauf.

Konnektoren 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr


ohne Türkisch- MW 9,10 14,90 6,77
kenntnisse N 15 15 15
SD 4,98 7,47 5,58
mit Türkisch- MW 7,53 13,66 7,53
kenntnissen N 15 15 15
SD 5,08 7,01 4,76
gesamt MW 8,32 14,28 7,15
N 30 30 30
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SD 5,01 7,15 5,11

Tab. 6: Mittelwerte, verwendete Konnektoren je Impuls im Deutschen, 1. bis 4. Schuljahr

Satzgefüge 1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr


ohne Türkisch- MW 5,22 8,11 4,60
kenntnisse N 15 15 15
SD 2,54 3,89 2,62
mit Türkisch- MW 4,15 7,43 4,40
kenntnissen N 15 15 15
SD 2,74 3,43 2,55
gesamt MW 4,68 7,77 4,50
N 30 30 30
SD 2,65 3,62 2,54

Tab. 7: Mittelwerte, verwendete Satzgefüge je Impuls im Deutschen, 1. bis 4. Schuljahr

3.3 Morphologisch-syntaktische Fähigkeiten im Türkischen

Das Türkische unterscheidet sich als agglutinierende Sprache strukturell er-


heblich von den indoeuropäischen Sprachen. Alle grammatischen Formen
(Numerus, Genus, Kasus, Tempus usw.) werden durch das Anhängen von Suf-
fixen an Wortwurzeln realisiert. Für die Einschätzung morphologischer Fähig-
keiten im Türkischen ist daher die Verwendung von Suffixen in den Sprech-

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142 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

proben analysiert worden (vgl. Sırım/Reich 2008). Mit dem im Modellversuch


verwendeten Auswertungsraster werden zwölf Suffixtypen bzw. Suffixkombi-
nationen erfasst (vgl. Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009, S. 32).
In Tabelle 8 sind die Mittelwerte der in den Sprechproben verwendeten unter-
schiedlichen Suffixtypen abgebildet. Deutlich wird, dass vom ersten zum
zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres keine Veränderungen zu beobachten
sind, zum vierten Schuljahr die Zahl der verwendeten Suffixtypen vor allem
für die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder stark ansteigt, wobei
der Zuwachs nicht nur deutlich, sondern auch signifikant ist (für die Gesamt-
gruppe: Wilcoxon-Test p = 0,030; für die mit Türkischkenntnissen eingeschul-
ten Kinder: Wilcoxon-Test p = 0,098). Die Kinder verwenden also am Ende
der Grundschulzeit ein breiteres Repertoire an Suffixen zur Realisierung der
gestellten Sprechaufgaben, was darauf schließen lässt, dass sich das morpho-
logische System des Türkischen im Laufe der Grundschulzeit weiter entfaltet
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und ausdifferenziert hat.

1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr


ohne Türkisch- MW 0,00 0,00 0,40
kenntnisse N 15 15 15
SD 0,00 0,00 1,06
mit Türkisch- MW 3,87 3,73 5,33
kenntnissen N 15 15 15
SD 1,64 1,39 2,32
gesamt MW 1,93 1,87 2,87
N 30 30 30
SD 2,27 2,13 3,07

Tab. 8: Mittelwerte, Types der verwendeten Suffixe, 1. bis 4. Schuljahr (Türkisch)11

Die von den ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kindern erzielten Werte


liegen weit hinter denen der mit Türkischkenntnissen eingeschulten Schüle-
rinnen und Schüler zurück, was angesichts der auch im vierten Schuljahr an-
haltenden Zurückhaltung dieser Kinder beim Türkischsprechen nicht verwun-
dert. Trotz großer Bemühungen durch die Interviewerinnen, die Kinder zum
Sprechen zu motivieren, haben nur wenige der Kinder türkische Äußerungen
getroffen.
11
In die Berechnungen sind ausschließlich Daten von Kindern eingeflossen, von denen vom
ersten bis vierten Schuljahr alle Sprechproben erhoben werden konnten (N=30).

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 143
Für die Beobachtung der Entwicklung syntaktischer Fähigkeiten im Türki-
schen wurden verschiedene Formen von Aussageverbindungen (z.B. einfache
Verbindungswörter wie ve, de und da und komplexere wie das relativsatzäqui-
valente Suffix -dik) erfasst (vgl. Sırım/Reich 2008). Es zeigt sich, dass kom-
plexere Aussageverbindungsformen nur selten vorkommen und stattdessen
sowohl im ersten als auch im zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres einfa-
chere Formen dominieren (vgl. Tab. 9).

1. Halbjahr
Aussageverbindungen
gesamt einfache komplexe
ohne Türkisch- MW 0,00 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16 16
SD 0,00 0,00 0,00
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr

mit Türkisch- MW 7,60 4,93 2,69


kenntnissen N 21 21 21
SD 5,87 4,32 2,48
gesamt MW 4,31 2,80 1,53
N 37 37 37
SD 5,81 4,06 2,29

2. Halbjahr
Aussageverbindungen
gesamt einfache komplexe
ohne Türkisch- MW 0,00 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16 16
SD 0,00 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 9,86 6,48 3,24
kenntnissen N 21 21 21
SD 6,52 4,08 2,95
gesamt MW 5,59 3,68 1,84
N 37 37 37
SD 6,94 4,45 2,73

Tab. 9: Mittelwerte, verwendete Aussageverbindungen je Impuls im Türkischen,


1. Schuljahr

Auch für das Türkische zeigt sich vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten
Schuljahres ein Anstieg der Menge der verwendeten Verbindungen, d.h. auch
im Türkischen sind die Äußerungen am Ende des ersten Schuljahres kohärenter

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144 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

als zu Beginn. Aber auch die Vielfalt der von den Kindern verwendeten Verbin-
dungen hat vom ersten zum zweiten Halbjahr zugenommen (vgl. Tab. 10). Die
Werte und Anstiege beziehen sich jedoch nur auf Kinder, die bereits mit Tür-
kischkenntnissen eingeschult wurden. Die ohne Türkischkenntnisse einge-
schulten Schülerinnen und Schüler verwendeten keine Aussageverbindungen.
Die Verwendung von Aussageverbindungen wurde auch in den Sprechproben
des vierten Schuljahres analysiert. Dabei wurde deutlich, dass die ohne Tür-
kischkenntnisse eingeschulten Schülerinnen und Schüler am Ende der Grund-
schulzeit keinerlei Aussageverbindungen im Türkischen produzieren (siehe
Tab. 10).

Types
1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr
Aussageverbindungen
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ohne Türkisch- MW 0,00 0,00 0,00


kenntnisse N 15 15 16
SD 0,00 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 3,33 3,87 4,20
kenntnissen N 15 15 15
SD 1,45 1,46 3,65
gesamt MW 1,67 1,93 2,50
N 30 3 30
SD 1,97 2,21 3,29
Tab. 10: Mittelwerte, Types verwendeter Aussageverbindungen im Türkischen,
1. bis 4. Schuljahr

3.4 Semantische Fähigkeiten

Für die Beobachtung und Einschätzung der Entwicklung semantischer


Fähigkeiten hat sich sowohl für das Deutsche als auch für das Türkische
die Menge der verwendeten verschiedenen Verben (Types) als Indikator eta-
bliert (Komor/Reich 2008, Sırım/Reich 2008). Die im Laufe des ersten
Schuljahres erhobenen Daten zeigen, dass die ohne Türkischkenntnisse ein-
geschulten Kinder in beiden Erhebungen im Deutschen mehr verschiedene
Verben verwenden, d.h. sich differenzierter äußern, als die mit Türkisch-
kenntnissen eingeschulten Kinder (vgl. Tab. 11). Die Differenz zwischen
den beiden Sprachgruppen ist zu Beginn des ersten Schuljahres signifikant
(Mann-Whitney-U-Test: p = 0,034) und verfehlt am Ende des ersten Schul-
jahres die Signifikanzgrenze nur knapp (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,069).

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 145

1. Halbjahr 2. Halbjahr
Types Types
ohne Türkisch- MW 13,34 15,78
kenntnisse N 16 16
SD 3,10 3,32
mit Türkisch- MW 11,09 13,74
kenntnissen N 21 21
SD 5,27 5,28
gesamt MW 12,07 14,62
N 37 37
SD 4,55 4,60

Tab. 11: Mittelwerte, Menge der durchschnittlich verwendeten Verben (Types)


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pro Sprechimpuls, 1. Schuljahr, Deutsch

Für das Türkische hat sich gezeigt, dass die Menge der verwendeten verschie-
denen Verben vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres leicht
abnimmt (vgl. Tab. 12). Signifikant ist diese Veränderung nicht, man kann
daher eher von einer Stagnation der semantischen Entwicklung während des
ersten Schuljahres sprechen. Diese Beobachtung stärkt die eingangs formu-
lierte Vermutung, dass die Sprachaneignung der mit Türkischkenntnissen ein-
geschulten Kinder im ersten Schuljahr vorwiegend auf das Deutsche konzen-
triert ist.

1. Halbjahr 2. Halbjahr
Types Types
ohne Türkisch- MW 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16
SD 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 12,61 11,62
kenntnissen N 21 25
SD 4,48 3,30
gesamt MW 7,16 7,09
N 37 41
SD 7,16 6,28
Tab. 12: Mittelwerte, Menge der durchschnittlich verwendeten Verben (Types)
pro Sprechimpuls, 1. Schuljahr, Türkisch

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146 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

3.5 Bildungssprachliche Fähigkeiten

Ein erklärtes Ziel des Modellversuchs war es, die Kinder in beiden Sprachen
an die (jeweilige) Bildungssprache heranzuführen. Wenngleich der Begriff
‘Bildungssprache’ aktuell im Zusammenhang mit der Förderung von Kindern
mit Migrationshintergrund zu Recht häufig gebraucht wird, ist noch nicht ein-
deutig geklärt, welche Phänomene Bildungssprache charakterisieren (Gogolin
2010). In Roth/Neumann/Gogolin (2007) wird für das Deutsche ein Modell
vorgeschlagen, das Passivkonstruktionen, Konjunktiv, weitere unpersönliche
Ausdrücke, Nominalisierungen, Komposita, Attribute und Konstruktionen
mit lassen umfasst. Die Sprachproben der Kinder wurden im vierten Schuljahr
daher zusätzlich auf diese Phänomene hin analysiert. Durch eine Hauptkom-
ponentenanalyse konnten drei sprachliche Modi identifiziert werden: um-
gangssprachlicher, akademischer und elaborierter Modus (ebd., S. 59).12 Für
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die Einschätzung der bildungssprachlichen Fähigkeiten der Kinder der tür-


kisch-deutsch-bilingualen Klassen wurden diese Modi für die Analyse der im
vierten Schuljahr erhobenen Sprechproben aufgegriffen. Signifikante Unter-
schiede zwischen den beiden Sprachgruppen ergeben sich nur für den die Phä-
nomene Konjunktiv und Passiv umfassenden elaborierten Modus, der von den
ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kindern deutlich häufiger verwendet
wird als von den Kindern, die bei der Einschulung bereits über Kenntnisse im
Türkischen verfügten (vgl. Abb. 1; Mann-Whitney-U-Test: p = 0,008). Diese
Beobachtung steht im Einklang mit Hans H. Reichs allgemeiner Feststellung,
dass zwei- oder mehrsprachigen Kindern der Übergang von der deutschen
Alltagskommunikation zur schulischen Bildungssprache besondere Probleme
bereitet (Reich 2008, S. 165). Der Modellversuch zeigt, dass die mit und ohne
Deutschkenntnisse eingeschulten Kinder in der vor- und nebenschulischen
informellen Bildung Kapazitäten in unterschiedlichen Sprachen entwickeln,
wodurch die Kinder, die dominant nichtdeutsch aufwachsen und in die deut-
sche Schule eingeschult werden, einen Wettbewerbsnachteil mitbringen – es
sei denn, in der Schule wird auch mit ihren nichtdeutschen Herkunftsspra-
chen gearbeitet.

12
Kurzcharakterisierung der drei Modi: umgangssprachlicher Modus: häufige Verwendung
sprechsprachlicher Floskeln und umgangssprachlicher Wendungen, weiterhin Verwen-
dung von Satzgefügen; akademischer Modus: Substantivierung, Gebrauch von Komposi-
ta, begleitet von einem hochfrequenten Einsatz von Verben, unpersönlichen Ausdrücken
und Konnektoren; elaborierter Modus: Konjunktiv und Passiv (Roth/Neumann/Gogolin
2007, S. 59)

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Abb. 1: Verwendung des elaborierten Modus im Deutschen, 4. Schuljahr13

Für die Beschreibung bildungssprachlicher Fähigkeiten im Türkischen wur-


den Genitivverbindungen, komplexe Sätze und die Verwendung der Suffixe
-ir und -dir erfasst. Ein Vergleich der Fähigkeiten der Kinder ist über die Men-
ge der verwendeten bildungssprachlichen Elemente möglich, die in starkem
und hoch signifikantem Zusammenhang mit der Menge der Types verwende-
ter Suffixe (vgl. Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009, S. 54) steht, was ihre Eig-
nung als Sprachstandsindikator untermauert. Die Verwendung bildungs-
sprachlicher Elemente durch ohne Türkischkenntnisse eingeschulte Kinder ist
minimal: Nur eines der Kinder verwendet ein solches Element, eine Genitiv-
verbindung (vgl. Abb. 2).

13
Bei den Abbildungen 1 bis 3 handelt es sich um Boxplots, die Median, Quartile, Extremwer-
te und Ausreißer zeigen.

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148 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann
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Abb. 2: Verwendung bildungssprachlicher Elemente im Türkischen, 4. Schuljahr

3.6 Schriftsprachliche/literale Fähigkeiten

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind in Deutschland etliche Projekte zur


bilingualen Alphabetisierung im Deutschen und Türkischen durchgeführt wor-
den; es liegen viele Erfahrungen, aber kein Konsens über die geeignetste Vorge-
hensweise vor.14 Diskutiert werden nach wie vor hauptsächlich die Fragen, ob
parallel oder zeitlich versetzt alphabetisiert werden soll und in welcher Folge
Buchstaben eingeführt werden sollten, um produktive Transfers zu begünstigen
und Interferenzen vorzubeugen. Aufgrund der Verwendung des lateinischen Al-
phabets zur Verschriftlichung beider Sprachen und der Vielzahl von Ähnlichkei-
ten in der Phonem-Graphem-Repräsentanz birgt die türkisch-deutsch bilinguale
Alphabetisierung erhebliches Potenzial für positive Transfers. Transferbedingte
Abweichungen von orthografischen Normen der beiden Sprachen sind jedoch
nicht auszuschließen – wenn nicht sogar zu erwarten.
In den Hamburger türkisch-deutsch bilingualen Klassen wurden im Hinblick
auf die Alphabetisierung unterschiedliche Wege eingeschlagen. Eine der Schu-
14
Als Veröffentlichung zum Thema, wenn auch meist nicht auf türkisch-deutsche Ansätze be-
zogen, sei auf den Sammelband von Budach et al. (Hg.) (2008) verwiesen.

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 149
len alphabetisierte im Türkischen zunächst nach der „türkischen Methode“.
Es handelt sich dabei um einen analytischen Ansatz, bei dem vom Satz zum
Wort, vom Wort zur Silbe und dann zum Buchstaben übergegangen wird. Für
die Alphabetisierung im Deutschen wurde mit der Fibel „Leseschule“ (Franz/
Laufer/Regelein 2008) gearbeitet, die die Einführung einzelner Buchstaben
vorsieht. Die Entscheidung, im Deutschen und Türkischen mit unterschied-
lichen Methoden zu alphabetisieren, stellte sich nach wenigen Wochen als
ungünstig heraus, so dass die Lehrkräfte dazu übergingen, in beiden Spra-
chen mit Anlauttabellen zu arbeiten. Sukzessive wurden den Kindern dabei
Buchstaben vorgestellt, während gleichzeitg schon ganze Worte geschrieben
und gelesen wurden. Die zeitgleiche Einführung von in den beiden Sprachen
unterschiedlichen Graphemen, die jedoch lautlich ähnlich besetzt sind (z.B.
der deutsche Buchstabe <w> und der türkische Buchstabe <v>) wurde dabei
vermieden. In der zweiten türkisch-deutschen Modellklasse wurde mit Sil-
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benbögen gearbeitet; türkische Grapheme wurden jeweils mit verschiedenen


Wörtern eingeführt, um zugleich die Wortschatzentwicklung der ohne Tür-
kischkenntnisse eingeschulten Kinder zu unterstützen.
Zur Erfassung schriftbasierter Fähigkeiten wurden mit den Kindern zu Be-
ginn, in der Mitte und am Ende des ersten Schuljahrs der Sofa-Test (Dehn
1988, Reich 2001) und sein Pendant für das Türkische, der para-Test (vgl.
Reich 2001, S. 19), durchgeführt, um die Entwicklung in der Alphabetisierung
in beiden Sprachen abbilden zu können. Ausgewertet wurden die Tests nach
der von Reich vorgeschlagenen Methode, bei der die Schreibung der einzel-
nen Silben einer Reihe von vorgegebenen Wörtern (z.B. Limonade) mit Hilfe
einer verbalisierten zehnstufigen Skala beurteilt wird.
Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder erzielten im Deutschen im
Mittel in allen drei Erhebungen etwas höhere Werte als ihre mit Türkisch-
kenntnissen eingeschulten Mitschüler und Mitschülerinnen (vgl. Tab. 13).
Beide Sprachgruppen steigerten ihre Leistungen von Erhebung zu Erhebung
(Wilcoxon-Test jeweils: p = 0,000), d.h. die Kinder beider Sprachgruppen
machten im Hinblick auf die Alphabetisierung im Deutschen deutliche Fort-
schritte. Auffällig ist, dass die absoluten Unterschiede der Ergebnisse der bei-
den Sprachgruppen im Verlauf des ersten Schuljahres abnehmen, ab dem
zweiten Erhebungszeitpunkt jedoch schwach signifikant sind bzw. die Signi-
fikanzgrenze äußerst knapp verfehlen – ein Hinweis darauf, dass die mit Tür-
kischkenntnissen eingeschulten Kinder weniger leicht Zugang zur Orthogra-
phie des Deutschen fanden als ihre mit Türkischkenntnissen eingeschulten
Mitschülerinnen und Mitschüler (Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009, S. 53f.).

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150 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Sofa-Test 1 Sofa-Test 2 Sofa-Test 3


ohne Türkisch- MW 7,24 9,23 9,59
kenntnisse N 16 16 16
SD 1,65 0,66 0,43
mit Türkisch- MW 6,50 8,71 9,28
kenntnissen N 25 25 25
SD 1,83 0,78 0,65
gesamt MW 6,79 8,91 9,40
N 41 41 41
SD 1,78 0,77 0,59

para-Test 1 para-Test 2 para-Test 3


ohne Türkisch- 6,94 9,08 9,59
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MW
kenntnisse N 16 16 16
SD 1,45 1,04 0,63
mit Türkisch- MW 6,90 9,00 9,71
kenntnissen N 25 25 25
SD 2,40 0,94 0,47
gesamt MW 6,92 9,03 9,58
N 41 41 41
SD 2,06 0,97 0,55

Tab. 13: Punktwerte in Sofa- und para-Tests (nach Sprachgruppen)

Die Ergebnisse des para-Tests zeigen, dass die Kinder beider Sprachgruppen
in der Entwicklung der Alphabetisierung des Türkischen zunächst (während
der ersten und zweiten Erhebung) etwa gleichauf liegen (vgl. Tab. 13). Wie für
das Deutsche nehmen die Leistungen von Erhebung zu Erhebung deutlich zu
(Wilcoxon-Test jeweils: p = 0,000). Erst am Ende des ersten Schuljahres zeigt
sich ein Vorsprung der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder vor ih-
ren mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschülerinnen und Mitschülern.
Die Differenzen zwischen den Sprachgruppen sind jedoch zu keinem Zeit-
punkt signifikant (Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009, S. 53f.). Die Prüfung der
Zusammenhänge der Testergebnisse in beiden Sprachen zeigt, dass die Ergeb-
nisse in beiden Sprachen zu jedem Zeitpunkt hoch signifikant korrelieren, die
Stärke des Zusammenhangs im Laufe der Zeit jedoch abnimmt. Die Schreib-
fähigkeit der Kinder entwickelt sich also von einer allgemeinen hin zu einer
sprachspezifischen (ebd.).

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 151
Am Ende des vierten Schuljahres wurden Lesefähigkeiten der Kinder mit den
aus der IGLU-Studie bekannten Instrumenten getestet (Bos et al. 2003). Ver-
wendet wurden die beiden Testhefte „Der Hase kündigt das Erdbeben an“ und
„Die Nächte der jungen Papageientaucher“, ausgewertet wurde nach IGLU-
Vorgaben. Unter Einbezug von Datensätzen von insgesamt 242 Kindern ande-
rer bilingualer Klassen aus Hamburg und von anderen Standorten wurden die
Werte raschskaliert (Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009).
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Abb. 3: IGLU-Lesetestergebnisse türkisch-deutsche Klassen, Deutsch und Türkisch

Deutsch Türkisch
ohne Türkisch- MW 106,3725 82,8888
kenntnisse N 16 16
SD 12,27377 6,58656
mit Türkisch- MW 102,2867 95,2788
kenntnissen N 24 24
SD 11,71447 15,02093
gesamt MW 103,921 90,3227
N 40 40
SD 11,95741 13,69438

Tab. 14: IGLU-Lesetestergebnisse türkisch-deutsche Klassen, Deutsch und Türkisch

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152 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Die Ergebnisse (vgl. Abb. 3 und Tab. 14) zeigen, dass sich die Lesefähigkeiten
der beiden Sprachgruppen im Deutschen nicht signifikant unterscheiden,
wenngleich die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder im Mittel et-
was niedrigere Ergebnisse erzielen – dieses Resultat lässt sich in allen Ham-
burger Modellklassen wiederfinden (vgl. Roth/Neumann/Gogolin 2007) und
steht erfreulicherweise in Kontrast zu den Ergebnissen bislang vorliegender
Untersuchungen und der IGLU-Studie, in der Kinder mit Migrationshinter-
grund durchweg geringere Leistungen erzielten als ihre deutschstämmigen
Mitschülerinnen und Mitschüler.15

Die Entwicklung der Lesekompetenz im Deutschen ist in den bilingualen


Modellklassen vom sprachlichen Hintergrund der Familien entkoppelt. Glei-
ches gilt für den Sozialstatus und das Bildungsniveau der Familien (Dirim/
Döll/Neumann/Roth 2009). Die in den begleiteten bilingualen Modellklassen
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(und hier sind nicht nur die türkisch-deutschen Klassen gemeint) erzielten
Mittelwerte im Deutschen liegen allesamt zwischen 102 und 114 Punkten
und damit im Bereich des nationalen Mittelwerts (ebd., S. 60ff.). Eine Be-
nachteiligung der Schülerinnen und Schüler der bilingualen Klassen gegen-
über Kindern, die eine Regelklasse besuchen, ist im Bereich des Erwerbs von
Lesekompetenz im Deutschen demnach nicht zu erkennen (ebd.).

Im Hinblick auf die Lesefähigkeiten im Türkischen sind die Gruppendifferen-


zen deutlicher und signifikant (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,013). Die mit
Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder erzielen hier erwartungsgemäß
bessere Ergebnisse als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die erst mit Ein-
tritt in die Grundschule mit der Aneignung des Türkischen begonnen haben;
die während vier Grundschuljahren erworbene Lesekompetenz ist dennoch –
auch, aber nicht ausschließlich, angesichts der kargen Resultate im Bereich
der mündliche Darstellungsfähigkeit – beachtlich. Es bildet sich hier ein Vor-
sprung der rezeptiven und literalen vor den produktiven mündlichen Fähigkei-
ten ab, der möglicherweise auf den im Rahmen von Unterrichtsbeobachtun-
gen festgestellten stark an fremdsprachendidaktischen Konzepten orientierten
Unterrichtsstil der Türkischlehrkräfte (Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009, S. 13)
zurückgeführt werden kann. Klassischer Fremdsprachenunterricht in der Tür-
kei ist durch eine hohe Konzentration auf die Entwicklung schriftsprachlicher
Fähigkeiten gekennzeichnet. Das Sprechen der anzueignenden Sprache steht
dort meist deutlich im Hintergrund.
15
Ein direkter Vergleich der Untersuchungsergebnisse ist aufgrund der unterschiedlichen An-
lage und Datenstruktur jedoch nicht möglich.

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Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft 153
In den bilingualen Klassen scheint es gelungen zu sein, die heterogenen Dis-
positionen der Schülerinnen und Schüler weitgehend auszugleichen: Auch für
die Testergebnisse im Türkischen wurden keine Zusammenhänge mit dem So-
zialstatus und dem Bildungsniveau der Familien gefunden.

4. Resümee

Die Ergebnisse der Hamburger Modellklassen rechtfertigen in jeder Weise


deren Einrichtung, denn sie zeigen auf der einen Seite, dass bilinguale Kinder
mit Migrationshintergrund unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und dem
ökonomischen Status ihrer Familien dort sehr gut Deutsch lernen können. Sie
können offensichtlich mit demselben Zeitaufwand, der ihnen auch in einer
nichtbilingualen Lernsituation zugestanden würde, in zwei Sprachen lesen
und schreiben lernen. Die Ergebnisse zeigen, dass es lohnenswert wäre, um-
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fassende Konzepte für einen die Migrantensprachen einbeziehenden bilingua-


len Unterricht auszuarbeiten. Ziel sollte eine Didaktik der Zweisprachigkeit
sein, die sich weniger an Fremdsprachenkonzepten orientiert, als es in den
türkisch-deutschen Klassen der Fall war. Eine solche Didaktik hätte nicht nur
Elemente einer Didaktik des Türkischen, Italienischen, Spanischen etc. als
Zweitsprache in einer deutschsprachigen Umgebung zu berücksichtigen, son-
dern auch zeitliche und unterrichtsorganisatorische Aspekte.16

Die Erwartungen an bilinguale Modelle dürfen aber auch nicht zu hoch sein.
Auch nach vier Jahren Schulzeit sind die sprachlichen Ausgangsbedingungen
noch spürbar: Einige der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder er-
werben nur Grundkenntnisse der Partnersprache; den mit Türkischkenntnis-
sen eingeschulten Kindern wiederum bereiten elaborierte Formen des Deut-
schen tendenziell noch mehr Probleme als ihren ohne Türkischkenntnisse
eingeschulten Klassenkameraden. Dies ist auch als empirische Evidenz dafür
zu bewerten, dass Kinder in der schulischen Bildung ihre mitgebrachten Spra-
chen (sei diese Sprache Deutsch oder eine andere Sprache) am besten weiter-
entwickeln. Damit wäre eines der Argumente für die bilinguale Bildung für
Kinder aus Migranten- bzw. Minderheitenfamilien gestärkt: diese Kinder soll-
ten unbedingt die Möglichkeit erhalten, virtuose Kompetenzen in der Mehr-
heitssprache zu entwickeln, aber sie sollten in diesem Prozess und mit ihren
nichtdeutschen Herkunftssprachen im Sinne einer für den Wissensaufbau zen-
tralen Ressource arbeiten können, was heißt, dass auch diese Sprachen syste-
matisch zu Bildungssprachen ausgebaut werden.
16
Vgl. zu den Schlussfolgerungen für die Didaktik in sprachlich heterogenen Klassen allge-
mein auch Neumann (2009).

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154 İnci Dirim / Marion Döll / Ursula Neumann

Ob die hier begleiteten ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder die in


den Modellklassen erworbenen Basisfähigkeiten in der Partnersprache weiter
werden ausbauen können, hängt – abgesehen von dafür günstigen Lebensum-
ständen wie z.B. intensiver Kontakt zu türkischsprachigen Personen – im
schulischen Bereich davon ab, ob in der Sekundarstufe didaktisch passend
gestaltete Lernangebote im Türkischen bereitgestellt werden. Auch die Grup-
pe der mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder hat den Erwerb des bil-
dungssprachlichen Türkisch nicht abgeschlossen. Um den eingeschlagenen
positiven Weg fortsetzen und das Türkische wie das Deutsche weiter entfalten
zu können, bedürfen auch diese Kinder didaktisch angemessener weiterfüh-
render Angebote in der Sekundarstufe.17
Die Einrichtung der türkisch-deutschen Klassen in Hamburg löst immer wieder
Erstaunen aus: Ob tatsächlich deutsche Eltern bereit seien, dort ihre Kinder
einzuschulen; welcher Schicht die türkischen Kinder angehörten; was die Tür-
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kischkenntnisse den Kindern für Vorteile brächten, ob die deutschen Kinder


erfolgreich Türkisch lernten etc.; Italienisch- und Spanischklassen hingegen
sind vollkommen akzeptiert. Neben den in diesen Fragen zum Ausdruck kom-
menden Zweifeln an der Sinnhaftigkeit bilingualer Klassen mit Sprachenpaa-
ren, die ein geringes soziales Prestige besitzen, wird aber auch Nachahmungs-
wille und Interesse an ähnlichen Modellen geäußert. Für bilingual aufwachsende
Kinder mit Migrationshintergrund bedeutet die Möglichkeit der bilingualen Er-
ziehung die Nutzung beider Sprachen im Lernprozess und den Ausbau beider
Sprachen auf dem Weg zu einer Bildungszweisprachigkeit.

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17
Zur weiteren Entwicklung in der Sekundarstufe siehe Neumann (2011), Duarte (2011).

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und spanisch-deutschen Modellklassen. Universität Hamburg & Universität Köln.
Internet: www2.erzwiss.uni-hamburg.de/institute/interkultur/Bericht_2007.pdf (Stand:
05/2011).
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Schwippert, Knut/Bos, Wilfried/Lankes, Eva-Maria (2004): Heterogenität und Chan-


cengleichheit am Ende der vierten Jahrgangsstufe in den Ländern der Bundesrepu-
blik und im internationalen Vergleich. In: Bos, Wilfried/Lankes, Eva-Maria/Pren-
zel, Manfred/Schwippert, Knut/Valtin, Renate/Walther, Gerd (Hg.): IGLU: Einige
Länder der Bundesrepublik Deutschland im nationalen und internationalen Ver-
gleich. Münster, S. 165-190.
Sırım, Emran/Reich, Hans H. (2008): Referenzrahmen Türkisch. In: Ehlich/Bredel/
Reich (Hg.), S. 113-119.

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Inken Keim

Form und Funktion ethnolektaler Formen:


türkischstämmige Jugendliche im Gespräch
Abstract: In den letzten Jahren entwickelten sich in vielen europäischen Großstädten
unter Jugendlichen der 2. und 3. Migrantengeneration ethnolektale Formen des Deut-
schen. Sie sind charakteristisch für multilinguale Kontexte, in denen Sprecher unter-
schiedlicher Herkunftssprachen die regionale Umgangssprache des Landes, in dem
sie leben, als lingua franca benutzen. Die neuen Formen haben große Überschnei-
dungsbereiche mit den regionalen Varietäten, unterscheiden sich aber prosodisch-
phonetisch, lexikalisch und morphosyntaktisch. Meist werden sie nur in bestimmten
Kontexten verwendet, und die Sprecher wechseln virtuos zwischen regionalen Varie-
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täten, Herkunftsvarietäten, sprachlichen Mischungen und ethnolektalen Formen.


Auf der Basis von drei ethnografischen Fallstudien in Mannheim wird gezeigt, wie
die von den Migrantenjugendlichen entwickelten ethnolektalen Formen aussehen und
zu welchen Zwecken die Jugendlichen sie verwenden. Die Jugendlichen haben ein
weites Sprachrepertoire, verfügen über ethnolektale sowie standardnahe Formen und
nutzen die Differenz zwischen beiden als kommunikative Ressource.

In recent years, ethnolectal forms of German have developed in many large cities
among young people of the 2nd and 3rd generations of migrants. They are character-
istic of multilingual contexts, in which speakers of different linguistic backgrounds
use the regional vernacular of the country in which they live as a lingua franca. The
new forms have large areas of overlap with the regional varieties, but they show pro-
sodic-phonetic, lexical and morphosyntactic differences. Mostly they are used only in
certain contexts, and the speakers switch with great ease between regional varieties,
varieties of their mother tongue, mixed languages and ethnolectal forms.
On the basis of three ethnographic case studies in Mannheim it is shown what the
ethnolectal forms developed by the young migrants look like and the purposes for
which the young people use them. The young people have a wide linguistic repertoire,
have a command of ethnolectal and standard forms and make use of the difference
between the two as a communicative resource.

1. Gegenstand und Ziel

In den letzten 20 bis 30 Jahren entwickelten sich in vielen europäischen Groß-


städten, in denen im Zuge der Arbeitsmigration komplexe multilinguale Le-
benswelten entstanden waren, neue Sprach- und Kommunikationsformen unter
Jugendlichen der 2. und 3. Migrantengeneration: einerseits Praktiken des

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158 Inken Keim

Code-Switching und Code-Mixing und andererseits ethnolektale Ausprägungen


von Standardvarietäten. Während Praktiken des Code-Switching und Code-
Mixing in Gesprächen zwischen bilingualen Sprechern, die über dieselben
Sprachen verfügen, zu beobachten sind, sind ethnolektale Formen charakteris-
tisch für multilinguale Kontexte, in denen Sprecher unterschiedlicher Her-
kunftssprachen (die über die Sprache(n) der anderen nicht oder nicht ausrei-
chend verfügen) die regionale Umgangssprache des Landes, in dem sie leben,
als lingua franca benutzen, wie z.B. in Schulklassen, Jugendzentren und Ju-
gendgruppen. Die neuen Formen haben große Überschneidungsbereiche mit
den regionalen Varietäten, unterscheiden sich aber prosodisch-phonetisch, lexi-
kalisch und morphosyntaktisch. Meist werden sie nur in bestimmten Kontexten
verwendet, und die Sprecher wechseln virtuos zwischen regionalen Varietäten,
Herkunftsvarietäten, sprachlichen Mischungen und ethnolektalen Formen.
Nach einem kurzen Forschungsüberblick (Kap. 2) und einer Charakterisie-
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rung von Ethnolekten, die sich in den letzten Jahren in urbanen Kontexten
herausgebildet haben (Kap. 3 und 4), werde ich auf der Basis ethnografischer
Studien, die ich in Mannheim durchgeführt habe, zeigen, wie die dort entwi-
ckelten ethnolektalen Formen aussehen und zu welchen Zwecken sie von den
jugendlichen Sprecher(inne)n verwendet werden (Kap. 5 und 6).

2. Forschungsüberblick

In der noch jungen Forschung zu Struktur und Funktion ethnolektaler Formen


besteht weitgehende Übereinstimmung in Bezug auf folgende Aspekte: Sie
sind charakteristisch für Jugendliche und junge Erwachsene in multiethni-
schen städtischen Lebenswelten und werden – neben anderen Varietäten – als
eigenständige Sprechweisen verwendet; sie sind sehr variabel und zeigen Phä-
nomene, die nicht aus den jeweiligen Herkunftssprachen erklärt werden kön-
nen; sie sind keine Lernervarietäten, auch wenn einige Merkmale, z.B. Simp-
lifizierungen und Übergeneralisierungen, Ähnlichkeit mit Lernervarietäten
haben; sie werden auch von einheimischen Jugendlichen verwendet, und sie
werden mit bestimmten multiethnischen Milieus und Jugendgruppen assozi-
iert. Charakteristisch für die gegenwärtige Forschung in Europa ist die Dis-
kussion, ob es sich bei (Multi-)Ethnolekten um neu entstehende, diskrete Va-
rietäten von Standardsprachen handelt oder um (soziale) Stile, die Sprecher
zur Bewältigung interaktiver und sozialer Aufgaben einsetzen. Der jeweils
gewählte Ansatz hat Implikationen für den Zugang zum Forschungsgegen-
stand; es lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden: a) varietätenlingu-
istische und b) interaktional (sozio-)stilistische Studien.

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 159
Zu a) Varietätenlinguistische Studien

Diese Studien versuchen eine formale Beschreibung der neuen (Jugend-)


Sprachformen im Vergleich zu den jeweiligen Standardsprachen. Kotsinas
(1988, 1998) hat als erste die in Rinkeby, einem multiethnischen Stadtteil
Stockholms, entstandene Varietät beschrieben. Im Anschluss an ihre Arbei-
ten wurde diskutiert, welchen Status die neuen Sprachformen haben und ob
sie als Dialekt, Interlanguage oder Jugendstil gefasst werden könnten (vgl.
z.B. Fraurud 2004). Kotsinas' Beobachtungen, dass ethnische Varietäten
nicht Ausdruck eines mangelnden Schwedischerwerbs sind, sondern als ei-
genständige (Jugend-)Varietäten betrachtet werden können, da die Sprecher
zwischen ethnolektalen und regionalen Varietäten wechseln, wurde in nach-
folgenden Untersuchungen in Schweden und den Niederlanden,1 ebenso
wie in Dänemark und England bestätigt: Hinskens/Muysken (2007) untersu-
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chen in Amsterdam und Nijmegen die Prozesse, die bei der Entstehung von
Ethnolekten eine Rolle spielen;2 Quist (2005 und 2008) beschreibt ethnische
Varietäten in multiethnischen Einwanderergebieten in Kopenhagen; und in
London und Birmingham untersucht eine Projektgruppe (Kerswill i.Vorb.)
die Verbreitung ethnolektaler Merkmale über ethnische Grenzen hinaus.3 In
Deutschland begann die Forschung mit der kleinen Studie von Füglein
(2000) zum ethnolektalen Deutsch türkischer Jugendlicher der 2./3. Gene-
ration in München, Böblingen und Nürnberg. Die darauf folgenden Arbeiten
von Auer (2003) und Dirim/Auer (2004) kommen zu dem Ergebnis,4 dass
es sich bei den bisher beobachteten ethnolektalen Formen um eine poten-
ziell neue „Varietät des Deutschen“ handelt (ebd., S. 207). Wiese (2006)
und Freywald et al. (i.Vorb.) finden im Deutsch von Berliner Migran-
ten­jugendlichen ähnliche Charakteristika wie die Vorgängerstudien. Auf
1
In den Niederlanden beschreiben Appel/Schoonen (2005) die sog. Straattaal (‘Straßenspra-
che’); zur Beschreibung des Sprachgebrauchs von Jugendlichen in multilingualen Kontex-
ten in Schweden vgl. z.B. Bodén (2004).
2
Hinskens/Muysken (2007) untersuchen in dem quantitativ-soziolinguistischen Projekt „The
roots of ethnolects. An experimental comparative study“ den Bezug ethnolektaler Merkmale
zu den Herkunftsvarietäten der Sprecher, den Regionalvarietäten der Aufnahmegesellschaft
und zu lernersprachlichen Prozessen.
3
Die bisher publizierten Ergebnisse zeigen, dass ethnolektale Merkmale sich über multi­
ethnische Jugendnetzwerke ausbreiten und zur Entstehung von Multi-Ethnolekten führen.
4
Die Autoren vergleichen die Ergebnisse von Füglein, die Daten, die Tertilt (1996) zu den
„Turkish Power Boys“ erhoben hat, mit eigenen Daten aus ihrer Hamburger Untersuchung.
Ihre Erkenntnis basiert auf einem Vergleich dieser verschiedenen Datensätze und der hohen
Übereinstimmung bestimmter Phänomene.

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160 Inken Keim

der Basis von Informantenbefragungen zeigen auch sie, dass ethnolektale


Formen als eigenständige Form des Deutschen betrachtet werden können.5
Zu b) Soziostilistische und interaktionale Studien
Frühe Studien in England zu ethnolektalen Formen in multiethnischen Kon-
texten zeigen,6 dass Sprecher Formen, die zu einer bestimmten ethnischen
Gruppe gehören, in einem Akt des ‘crossing’ zum Ausdruck von Zugehörig-
keit zu dieser Gruppe oder zur Abgrenzung davon einsetzen. Auch neuere in-
teraktional (sozio-)linguistisch und ethnografisch ausgerichtete Studien in
Dänemark7 und Deutschland8 fokussieren vor allem die funktionale Verwen-
dung ethnolektaler Merkmale. Quist (2008) beschreibt die stilistischen Prakti-
ken jugendlicher Sprecher in Kopenhagen und kommt zu dem Ergebnis, dass
– unabhängig von der ethnischen Herkunft – multiethnolektale Merkmale zu-
sammen mit anderen Stilmerkmalen (wie Kleidung, Geschmack, Lernorien-
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tierung, Freizeitverhalten) der sozialen Positionierung der Sprecher in Rela­


tion zu anderen Gruppen dienen. Kern/Selting (2006), Selting (i.Vorb.) und
Kern (i.Vorb.) machen deutlich, dass prosodische, phonetische und syntakti-
sche Strukturen, die im Deutschen vorhanden sind, im ‘Türkendeutsch’ eine
strukturelle und funktionale Veränderung erfahren und als stilistische Res-
source zur Erledigung diskursiver Aufgaben dienen. Ausgehend von der Be-
schreibung des sprachlichen Repertoires der Sprecher(innen) zeigen Keim
(2004b, 2007) und Keim/Knöbl (2007), dass ethnolektale Formen nur einen
Teilbereich des Sprachrepertoires ausmachen und dass sie zu diskursiv-rheto-
rischen Zwecken ebenso wie zum Ausdruck sozialer Identität eingesetzt wer-
den. Madsen (i.Vorb.), der einen ähnlichen Ansatz wählt, führt vor, wie die
von ihm untersuchten jugendlichen Sprecher vom Standarddänischen abwei-
chende Elemente zur interaktionalen Aushandlung einer „rough masculine
identity“ verwenden.9
5
Vgl. die Studie zu Wahrnehmung und Bewertung von ‘Kiezdeutsch’ durch Informanten aus
einem multiethnischen und monoethnisch-deutschen Stadtgebiet: Merkmale des ‘Kiez-
deutsch’ werden von beiden Informantengruppen eindeutig vom regionalen Standard oder
von zufällig grammatisch falschen Äußerungen unterschieden und Sprechern des multieth-
nischen Stadtgebiets zugeordnet, vgl. Freywald et al. (i.Vorb.).
6
Vgl. Hewitt (1986), Sebba (1993) und Rampton (1995).
7
Vgl. Quist (2008) und Madsen (i.Vorb.).
8
Vgl. Keim (2004a, b; 2007; 2008a), Keim/Knöbl (2007), Kern/Selting (2006) und Kern
(i.Vorb.).
9
Madsen (i.Vorb.) untersucht eine multiethnische Gruppe von Taekwondo-Kämpfern in Ko-
penhagen. In detaillierten Interaktionsanalysen zeigt der Autor, dass mit der Verwendung
ethnolektaler Merkmale nicht Ethnizität fokussiert wird, sondern der soziale Status in Bezug
auf sportliche und schulische Leistungen verhandelt wird.

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 161
3. Bezeichnungen und Definitionen

Für die neuen Sprachformen gibt es Bezeichnungen sowohl aus der Sprecher-
perspektive als auch aus der Perspektive von Außenstehenden. Das bedeutet,
dass es ein weit verbreitetes gesellschaftliches Wissen über die neuen Sprach-
formen gibt und dass sie mit bestimmten Sprechergruppen assoziiert werden. In
Stockholm heißen die neuen Varietäten Rinkebysvenska (‘Rinkeby-Schwe-
disch’) oder invandrerska (‘Immigrantisch’), in Malmö und Göteburg ke-
bebspråk (‘Kebab-Sprache’) oder spaggesvenska (‘Spaghetti-Schwedisch’, vgl.
Kotsinas 1998). Madsen (i.Vorb.) nennt als Sprecherbezeichnungen perger-stil
(‘Nigger-Stil’) oder perger-sprog (‘Pergersprache’), und Quist (2005) führt die
aus der Außenperspektive abwertenden Bezeichnungen perkerdansk (‘Perker-
dänisch’) und indvandrerdansk (‘Einwandererdänisch’) an. In den Niederlan-
den gibt es Sprecherbezeichnungen wie Straattaal (‘Straßensprache’, vgl. Nor-
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tier 2000) und in Norwegen Byvankerspråk (‘Straßensprache’, zitiert aus Quist


2005, S. 145). In Berlin bezeichnen Informanten ethnolektale Formen als
„Kiezsprache“.10 In Mannheim sprechen deutsche Jugendliche, die in multieth-
nischen Stadtgebieten leben, von „unser(em) Ghettoslang“ und drücken aus,
dass er zu ‘ihnen’ gehört. Bezeichnungen aus der Außenperspektive sind
„Stadtteilsprache“ oder „Ghettodeutsch“ (Keim 2008a).

Linguistische Bezeichnungen unterscheiden sich je nach Untersuchungsge-


genstand und Untersuchungsperspektive. Füglein (2000) verwendet die Be-
zeichnung „Kanak Sprak“ zur Beschreibung des ethnolektalen Deutsch von
türkischstämmigen Jugendlichen, das aus ihrer Perspektive sozial negativ
markiert ist;11 Androutsopoulos (2001a, b) spricht vom „Ethnolekt des Deut-
schen“, der sich in den ‘Ghettos’ deutscher Großstädte unter männlichen tür-
kischstämmigen Jugendlichen entwickelt hat; Auer (2003) bezeichnet das
Deutsch türkischstämmiger Jugendlicher als „Türkenslang“, Kern/Selting
(2006) sprechen von „Türkendeutsch“ und Keim/Knöbl (2007), die ebenfalls
türkischstämmige Jugendliche untersuchen, von „Ethnolekt“. Andere Auto-
ren, die hervorheben, dass die neu entstehenden Formen nicht an bestimmte
10
Wiese (2006) übernimmt diesen Ausdruck eines türkischstämmigen Informanten, der kein
Sprecher des Ethnolekts ist, sondern ihn aus der Außenperspektive benennt und beschreibt.
11
Die Bezeichnung „Kanak Sprak“ führt der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoğlu
mit seinem 1995 erschienenen gleichnamigen Werk ein. Mit dieser Bezeichnung fasst der
Autor die Ausdrucksweise türkischstämmiger Migranten der zweiten Generation zusam-
men, die geprägt ist durch eine kolloquiale Sprechsprache, Drastik, Bilderreichtum und
Neuschöpfungen, auch in Verbindung mit türkischen Formeln.

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162 Inken Keim

ethnische Gruppen gebunden sind und auch von einheimischen Jugendlichen


verwendet werden, sprechen von „multiethnolect“,12 „multicultural varieties“13
oder „late modern urban youth style“.14
Ausgehend von Androutsopoulos (2001b) entwirft Auer (2003) eine Typolo-
gie ethnolektaler Formen: Die in den deutschen Großstadt-‘Ghettos’ entstan-
dene und vor allem von männlichen türkischstämmigen Jugendlichen verwen-
dete Form nennt er „primären Ethnolekt“. Diese ist der Bezugspunkt für den
„sekundären Ethnolekt“, eine mediale Verarbeitung und Stilisierung, die in
Filmen, Comedies, Comics und Zeitungsartikeln einer bestimmten Gruppe
von männlichen Migrantenjugendlichen zugeschrieben wird.15 Wird der „se-
kundäre“ Ethnolekt von deutschen Jugendlichen in Versatzstücken zitiert und
weiterentwickelt, spricht Auer von „tertiärem Ethnolekt“. Wenn nicht-türki-
sche und deutsche Jugendliche, die in multiethnischen Stadtgebieten leben,
Formen des primären Ethnolekts als ihre normale Ausdrucksweise überneh-
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men, versteht Auer das nicht als Transgression einer ethnischen Grenze, son-
dern als De-Ethnisierung des Ethnolekts; für diese Jugendlichen sind ethno-
lektale Formen zur „eigenen Stimme“ geworden.

4. Merkmale von Ethnolekten


Die bisher untersuchten (Multi-)Ethnolekte sind entstanden aus dem Kontakt
zwischen unterschiedlichen Einwanderersprachen, wie Türkisch, Arabisch,
Russisch, Italienisch, Chinesisch u.a. mit den National- und Regionalvarietä-
ten der Einwanderländer. Ein interessantes Ergebnis der bisherigen Forschung
ist, dass sie eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen. Das kann zum einen
damit zusammenhängen, dass die bisher untersuchten Ethnolekte in Einwan-
dererländern mit germanischen Sprachen entstanden sind (Schwedisch, Nie-
derländisch, Dänisch, Englisch und Deutsch), dass also ähnliche ethnolektale
Strukturen aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten der dominanten Spra-
chen entstanden sind. Zum anderen können auch universelle Prinzipien des
12
Der Terminus „multiethnolect“ geht auf Clyne (2000, S. 87) zurück, der die neue Sprach-
form so bezeichnet, „because several minority groups use it collectively to express their
minority status and/or as a reaction to that status to upgrade it“. Quist (2005) übernimmt
diesen Terminus.
13
Kerswill (i.Vorb.), den die Verbreitung der neuen Sprachformen über ethnische Grenzen
hinweg interessiert, spricht von „multicultural varieties“.
14
Madsen (i.Vorb.) wählt die Bezeichnung „late modern urban youth style“, um keinen direk-
ten Bezug zwischen Stil und Ethnizität zu suggerieren und auf die Altersgruppe der Sprecher
und ihre städtischen Lebenswelten zu verweisen.
15
Die mediale Verwendung des primären Ethnolekts ist ein „crossing“ im Sinne Ramptons
(1995).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 163
Spracherwerbs wie Simplifizierungen, Generalisierungen oder Reduktionen
eine Rolle bei der Ausprägung ähnlicher ethnolektaler Merkmale spielen, z.B.
bei der Vereinfachung morphologischer Strukturen.16 In den bisher genannten
Untersuchungen werden eine Reihe ethnolektaler Merkmale genannt, über de-
ren Herkunft noch relativ wenig bekannt ist:

a) Prosodie:
In allen Studien werden prosodische Eigenschaften hervorgehoben; Kotsinas
(1998) beschreibt sie eher impressionistisch als „choppy“ oder „uneven“;
Dirim/Auer (2004) sprechen von silbenzählendem Rhythmus und der Nicht-
Reduktion von Nebensilben; Quist (2005) beschreibt ein „staccato“-artiges
Sprechen und eine unübliche Akzentstruktur; Keim/Knöbl (2007) beobachten
einen Silben zählenden kurz getakteten Rhythmus und Akzentzuweisungen,
die für die Informationsstruktur deutscher Äußerungen nicht passen. Die bis-
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her umfassendste Untersuchung (Kern i.Vorb.) legt dar, dass die rhythmische
Struktur mit kurzen Einheiten von fast gleicher zeitlicher Länge die phoneti-
sche und die syntaktische Struktur beeinflusst: Es werden akzentisochrone
und isometrische Einheiten produziert, und Linksversetzungen, Ausklamme-
rungen ebenso wie Reduktionen von Phrasen (z.B. durch Tilgung von Präpo-
sition und Artikel) kommen häufig vor. In den Studien, in denen türkische
Sprecher(innen) beteiligt sind, können Einflüsse aus dem Türkischen identifi-
ziert werden; es kommen aber auch Merkmale vor, die nicht aus dem Türki-
schen erklärt werden können (ebd.).

b) Phonologie/Phonetik:
Vor allem folgende Merkmale spielen eine Rolle:
–– Koronalisierung von [ç] zu [ς], z.B. /ich/→/isch/;17
–– Reduktion von [ts] zu [s] oder [z] am Wortanfang;18
–– Nicht-Vokalisierung von auslautendem /r/ und die apikale Realisierung in
Anlautclustern;19
16
Zur Klärung der Frage, ob ethnolektale Merkmale auf universellen Prinzipien beruhen oder
einzelsprachenabhängig sind, sind weitere Forschungen notwendig. Vor allem müssten Eth-
nolekte, die ohne Beteiligung germanischer Sprachen entstanden sind, einbezogen werden.
Mit der Frage der Wurzeln ethnolektaler Merkmale beschäftigt sich derzeit die Studie von
Hinskens und Muysken, vgl. Hinskens/Muysken (i.Vorb.).
17
Vgl. Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007), Selting (i.Vorb.), Wiese (2006).
18
Vgl. Kotsinas (1998), Androutsopoulos (2001b), Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007),
Wiese (2006).
19
Vgl. Kotsinas (1998), Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007).

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164 Inken Keim

–– Verstimmhaftung und Längung des stimmlosen Frikativs [s]→[z] oder


[z:], die Längung der Frikative /sch/ und /f/, z.B. in isch: weiß und die sehr
deutliche Verstimmhaftung von /b/ und /d/; 20
–– Reduktion der Differenz zwischen kurzen und langen Vokalen.21

c) Lexik:22
Lexikalische Entlehnungen kommen vor allem aus den Sprachen großer Min-
derheitengruppen, in Deutschland aus dem Türkischen, in den Niederlanden
aus dem Arabischen. Lexikalische Entlehnungen aus dem Türkischen werden
z.B. als Adressierungen, Diskurspartikel oder Interjektionen verwendet, z.B.
kız (‘Mädchen’), lan (‘Mann’), moruk (‘Alter’). Einleitungsformeln wie hadi
(‘los, auf geht's’), çüş (‘stopp, hör auf du Idiot’) oder Intensivierer wallah
(‘wirklich’) gebrauchen auch Sprecher, die kein Türkisch sprechen; es gibt
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Bedeutungsveränderungen bzw. -erweiterungen, und es werden neue Slang-


wörter und Beschimpfungsformeln aus dem Türkischen inkorporiert, z.B.
inek (‘Kuh’), siktir lan (‘verpiss dich, verfick dich’).

d) Morphologische und syntaktische Merkmale:


In den deutschen, dänischen und niederländischen Studien werden die folgen-
den Merkmale angeführt:23 Bevorzugung nur eines bzw. eines falschen Genus,
fehlende Kongruenz in komplexen Nominalphrasen, fehlende Inversion, No-
men ohne Artikel und Präposition bzw. mit anderer Präposition, in einigen
Fällen Veränderung des Valenzrahmens, Ausfall anaphorischer und suppleti-
ver Elemente und die sehr häufige Verwendung von Diskursmarkern (weiß=du,
verstehs=du, hey alder, hey lan). Das legt die Annahme nahe, dass es sich um
generelle Simplifizierungsprozesse handelt, die in den Sprachen Schwedisch,
Dänisch und Deutsch zu ähnlichen Ergebnissen führen. Eine interessante Per-
spektive eröffnen Wiese (2006) und Freywald et al. (i.Vorb.), die die genann-
ten Merkmale als den Beginn sprachlicher Innovationen sehen: Sie zeigen
(ähnlich wie Kern/Selting 2006 für den phonetisch-prosodischen Bereich),
dass im „Kiezdeutsch“ syntaktische Strukturen, die es mit eingeschränkter
Funktion auch im Standarddeutschen gibt, ausgeweitet und generalisiert wer-
20
Vgl. Hinskens (i.Vorb.), Keim (2008a), Keim/Knöbl (2007).
21
Vgl. Kotsinas (1998), Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007), Kern (i.Vorb.).
22
Alle Studien aus Deutschland nennen diese oder ähnliche Merkmale.
23
Vgl. die Studien in Kopenhagen (Madsen i.Vorb., Quist 2005), in Utrecht und Amsterdam
(Hinskens 2007, i.Vorb.; Nortier 2001), in Hamburg (Dirim/Auer 2004), in Berlin (Selting
i.Vorb., Wiese 2006) und Mannheim (Keim 2007, 2008a).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 165
den; und sie stellen fest, dass grammatische Reduktionen nicht unverbundene
Phänomene sind, sondern dass aus einem komplexen Zusammenspiel von mor-
phosyntaktischer Reduktion, grammatisch-lexikalischer und prosodischer Neu-
erung neue systematische Muster zur Informationsstrukturierung entstehen.24

5. Eine multiethnische und multilinguale Lebenswelt in


Mannheim25

Mannheim, eine mittlere Großstadt im Südwesten Deutschlands, hat fast


327 000 Einwohner, davon über 64 000 mit nicht-deutschem Pass aus 169
Nationen (Stichtag: 31.12.2008); die größte Gruppe bilden türkische Staatsan-
gehörige.26 Wesentlich höher ist die Zahl der Einwohner mit Migrationshinter-
grund (ca. 30%); aus der Türkei stammen ca. 13% der Mannheimer Bevöl-
kerung. Das von mir untersuchte Stadtgebiet ist multiethnisch und multilingual:
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60-65% der Bewohner haben einen Migrationshintergrund; neben Deutsch


gibt es Türkisch, Arabisch, Italienisch, Russisch, Kroatisch, Griechisch, Viet-
namesisch u.a. In den Grundschulen liegt der Anteil von Migrantenkindern
zwischen 70 und 90%, in der Hauptschule beträgt er fast 90%. Aus der Per­
spektive der Bewohner ebenso wie aus der Außenperspektive wird das Stadt-
gebiet als Migranten-„Ghetto“ bezeichnet.27

In Schulklassen, Jugendgruppen und Jugendzentren, in denen Kinder aus vie-


len Nationen regelmäßig zusammen lernen, spielen und arbeiten, haben sich
ethnolektale Formen des Deutschen als lingua franca herausgebildet, die von
den Sprecher(inne)n, einheimischen und zugewanderten, als „unser Ghet-
24
So kommen z.B. auch im Deutschen „bare nouns“ in Verbindung mit semantisch reduzierten
Verben vor (z.B. er macht Karriere, er macht Rehabilitation), ebenso Präpositionalphrasen
ohne Präposition und Artikel (z.B. ich steig Bismarckplatz aus). Durch die Lockerung gram-
matischer Regeln entstehen neue Informationsstrukturen: Wenn z.B. die XV…-Stellung im
Deutschen bei präverbalen Adverbialphrasen in SVO umgewandelt wird (z.B. jetz isch geh
hauptschule) und das linke Element eine prosodisch selbstständige Einheit bildet (vgl. Kern/
Selting 2006), wird es zur Fokussierung benutzt.
25
Zur ethnografischen Beschreibung des Stadtgebiets, vgl. Keim (2008a), Teil I.
26
Vgl. die Informationsvorlage der Stadt Mannheim vom 18.3.2009 (http://www.mannheim.
de/2009_I-Vorlage144_2009_statistik_MHG-1.pdf); die exakten Zahlen sind: 326 899 Einwohner,
64 667 mit nicht-deutschem Pass; davon sind 19 222 Personen türkische Staatsangehörige.
27
Vgl. dazu Keim (2008a), Teil I. Das Migrantenwohngebiet wird aus der Innen- und Außen-
perspektive als „Ghetto“ bezeichnet, z.B. der Jungbusch (= Name des Wohngebiets) * der is
schrecklich ne↑ * des=n ghetto * jeder nennt des ghetto hier jeder * die türken auch und die
deutschen sowieso * weil da würd kein deutscher leben der normal is * wenn er geld ver-
dient (ebd. S. 39).

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166 Inken Keim

toslang“ bezeichnet wird.28 Das ist eine vereinfachte Form der regionalen
durch den rheinfränkischen Dialekt geprägten Umgangssprache, die eine Rei-
he der oben (Kap. 4) aufgeführten Merkmale aufweist. Dabei kommen einige
relativ durchgängig, andere nur vereinzelt vor. Relativ durchgängig, d.h. in
vielen möglichen Positionen, kommen folgende Merkmale vor:

–– Wegfall von Präposition und Artikel in Lokal- und Richtungsangaben: Bei-


spiele dafür sind sie is schule, isch muss toilette, wir gehn schwimmbad;
–– Generalisierung des Verbs ‘machen’: z.B. isch mach disch krankenhaus
(‘ich schlag dich krankenhausreif’), isch mach wasserfarben (‘ich male
mit Wasserfarben’), wir machen puppe (‘wir spielen mit der Puppe’);
–– Verwendung von Formeln wie isch schwör zur Bestätigung und isch hass
des zur negativen Bewertung;
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–– Verwendung türkischer Formen zur Anrede oder als Diskursmarker (lan,


moruk, ‘Mann’, ‘Alter’) bzw. zur Beschimpfung (siktir lan, ‘verpiss dich,
Mann’);29
–– eine spezielle Art der Informationsvermittlung, die einen hohen Grad an
geteiltem Wissen voraussetzt und nur einen geringen Teil dessen explizit
macht, was für den Gesprächspartner zum Verständnis notwendig ist (vgl.
Kallmeyer/Keim 2003);
–– ein Komplex prosodisch-phonetischer Merkmale.30

Gelegentlich, d.h. nur an wenigen möglichen Positionen, kommen vor:


–– Ausfall des Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen: z.B. gib mir
kippe, isch war schlechteste, bevor=sch von klassenzimmer rausgeh;
28
Vgl. dazu die BA-Arbeit von Oberle (2006). Die Bezeichnung ‘Ghettoslang’ stammt von
einem deutschsprachigen Schüler, der auf die Frage, warum er so seltsam Deutsch spreche,
antwortete: des is eben unser Ghettoslang. Die Bezeichnung ‘Kanakensprache’ habe ich
bisher nur unter türkischstämmigen Jugendlichen gehört, die damit jedoch nicht auf ethno-
lektale Formen, sondern auf deutsch-türkische Mischungen verweisen. Sie verbinden mit
dieser Bezeichnung eine positive Selbstcharakterisierung, da das Sprechen von ‘Kanaken-
sprache’ Bilingualität und eine hohe Kompetenz in Deutsch und in Türkisch voraussetzt;
vgl. Keim/Knöbl (2007).
29
Siktir ist eine verkürzte Version der Formel siktitir git (‘lass dich ficken und hau ab’). Die
Bedeutung von siktir kann je nach Verwendungskontext mit ‘verpiss dich’ oder ‘verfick
dich’ wiedergegeben werden.
30
Vgl. Keim/Knöbl (2007); ähnliche Merkmale beschreiben auch Auer (2003) und Kern/Sel-
ting (2006).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 167
–– Ausfall von Pronomina und suppletiven Elementen: z.B. wann has=du
(sie) fotografiert;
–– andere Genera: z.B. rischtiges tee, meine fuß;
–– andere Verbrektion: z.B. wenn=sch mit ihm heirate; er geht mir fremd;
–– andere Wortstellung: z.B. hauptsache lieb isch ihn.

Mit Beginn des Schullebens erfahren Migrantenkinder die Differenz zwischen


Umgangsdeutsch und Ethnolekt und beginnen situativ zwischen beiden zu un-
terscheiden: Die Lehrenden sprechen und erwarten Umgangs- bzw. Standard-
deutsch, in der Kinder- und Jugendgruppe dagegen sind ethnolektale Formen
üblich. Kerstin Mehler zeigt in ihrer Studie, dass ein sechsjähriger, türkischstäm-
miger Junge auf die Rüge einer Lehrerin du bist vielleicht ein angeber mit der
stolzen Selbstbezeichnung abba coole angeba * isch bin gangsta reagiert.31 Die
Äußerung ist durch Ausfall des Artikels in angeba und gangsta charakterisiert
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und durch abweichendes Genus (fem. statt mask.) in coole angeba. Mit dieser
Selbstcharakterisierung setzt sich der Junge in Kontrast zur Fremdcharakterisie-
rung der Lehrerin und verwendet dazu die in der Kindergruppe übliche Formu-
lierungsweise. Als derselbe Junge der Lehrerin erklärt, warum sein Freund trau-
rig ist, formuliert er das folgendermaßen: er hat geweint * weil sein=mama nich
gekommen is↓.32 In dieser Situation und bei diesem Anlass spricht er standardnä-
her, d.h. es gibt im untersuchten Material des Jungen Belege dafür, dass er zwi-
schen beiden Sprachformen situativ zu unterscheiden beginnt.
Die Kinder erleben, dass die Lehrenden ethnolektale Formen korrigieren, und
sie können unterschiedlich darauf reagieren. Im folgenden Beispiel (vgl. Meh-
ler 2009) übernimmt eine Erstklässlerin die Korrektur der Lehrerin. Als das
31
Die Beispiele stammen aus der Masterarbeit von Kerstin Mehler (2006, Universität Mann-
heim), veröffentlicht 2009: „Zur grammatischen und kommunikativen Kompetenz von Kin-
dern mit Migrationshintergrund“. Die Autorin diskutiert auf der Basis ihres Materials
(Sprachaufnahmen aus dem Unterricht mit vier Erstklässlern) auch die Frage, inwieweit ein
vom Standardgebrauch abweichendes Merkmal als lernersprachlich oder ethnolektal klassi-
fiziert werden kann. In einer Reihe von Fällen ist eine Unterscheidung nicht möglich; doch
es scheint eine Tendenz zu geben, dass die kindlichen Sprecher bei der Selbstcharakterisie-
rung als „stark, cool, grausam“ verstärkt formelhafte und ethnolektale Formen gebrauchen.
Das ist auch im angeführten Beispiel der Fall, als der Junge sich als coole angeba und
gangsta bezeichnet. Die Präferenz für ethnolektale Formen bei solchen Selbstcharakterisie-
rungen erklärt die Autorin durch den Einfluss älterer Jungen aus dem Umfeld oder durch den
Einfluss medialer Figuren aus Film und Comedy.
32
Eine systematische Unterscheidung zwischen Umgangsdeutsch und ethnolektalen Formen
nach situativen, personellen oder thematischen Aspekten kommt bei den Schulanfängern
allerdings (noch) nicht vor.

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168 Inken Keim

Mädchen sich mit der Äußerung isch muss toilette an sie wendet, reagiert die
Lehrerin mit einer grammatisch korrekten Antwort: wir sind doch fertig * du
kannst auf die toilette. Daraufhin fragt das Kind die gleichaltrige Freundin
kommst du mit mir auf die toilette↑ und übernimmt dabei die grammatisch
korrekte Äußerung der Lehrerin. Die Differenz zwischen Ethnolekt und Um-
gangsdeutsch kann aber auch zu einem Spiel mit dem Lehrer genutzt werden.
Keim (2004a) beschreibt einen Fall, in dem sich ein Erstklässler mit isch muss
toilette an den Lehrer wendet. Als der ihn rügt und eine korrekte Formulierung
einfordert, grinst der Junge und reformuliert sein Anliegen: darf ich bitte auf
die toilette gehen. Der Junge kennt die korrekte Form und es macht ihm offen-
sichtlich Spaß, vom Lehrer zur Korrektur aufgefordert zu werden.
Im Laufe der Schulzeit lernen Migrantenkinder und -jugendliche die Diffe-
renz zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen als kommunikative
Ressource zu nutzen, beide Formen kontextspezifisch zu gebrauchen und sie
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zu diskursiven und sozial symbolisierenden Zwecken einzusetzen. Wenn man


Schüler(innen) höherer Klassen in unterschiedlichen Situationen beobachtet,
erkennt man, dass sie systematisch zwischen Situationen unterscheiden, in
denen standardnahes Deutsch erforderlich ist, und Situationen, in denen eth-
nolektale Formen die Normalform darstellen. Ein 15-jähriger kroatischer
Schüler, der seinen Klassenfreund mit komm wir gehen Pause auffordert, mit
ihm auf den Schulhof zu gehen, wendet sich kurze Zeit später an die Klassen-
lehrerin mit der Bitte: darf isch ma bitte auf die Toilette Frau Brand. Ein tür-
kischstämmiger Schüler fragt seinen Freund Can, wann gehst du Kino? Als er
mit seinem Klassenlehrer spricht, verwendet er grammatisch korrekte For-
men: isch hab die auf=m Hof gesehn Herr Wolf, die is nisch in der Klasse.
Im Folgenden werde ich auf der Basis von drei Fallstudien zeigen, dass Mig-
rantenjugendliche, die ethnolektale Formen verwenden, auch über gramma-
tisch korrektes Umgangs- bzw. Standarddeutsch verfügen, dass sie systema-
tisch zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen variieren und in
spezifischen Situationen ethnolektale Formen in diskursiv-rhetorischen und
sozial-symbolisierenden Funktionen einsetzen.

6. Variation zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen


6.1 Fallstudie: Murat33

Der 17-jährige Murat ist in dem oben (Kap. 5) charakterisierten Migranten-


wohngebiet in Mannheim geboren und zur Grund- und Hauptschule gegan-
gen. Bereits mit Beginn der Hauptschule ist für ihn das Leben nach der Schule
33
Für eine ausführliche Beschreibung dieser Fallstudie vgl. Keim/Knöbl (2007).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 169
viel wichtiger als das in der Schule. Mit seinen türkischstämmigen Freunden
streunt er durch das Stadtgebiet, macht Kampfspiele und hängt auf den Spiel-
plätzen herum. Die Jungen schwänzen die Schule, bleiben sitzen und machen
einen schlechten Hauptschulabschluss. Zur Zeit des Gesprächs ist Murat ar-
beitslos. Er ist eloquent und hat ein weites sprachliches Repertoire, das stan-
dardnahes Deutsch, dialektale Formen, deutschtürkische Mischungen und eth-
nolektale Formen umfasst. Das Gespräch, aus dem die folgenden Beispiele
stammen, findet auf dem zentralen Spielplatz des Migrantenwohngebiets statt.
Während des Gesprächs, in dem Murat seine Karriere zum „schlechten Schüler“
darstellt, kommen drei seiner Freunde dazu, und in dieser Gesprächsphase er-
zählt Murat von einer Schlägerei, zu der ihn ein Rivale aufgefordert hatte. Kurze
Zeit bevor der Kampf stattfand, hatte Murat einen Unfall; sein Fuß ist in Gips,
er kann nur mit Krücken laufen, nimmt aber dennoch die Herausforderung an.
In dieser Kampferzählung, die gleichzeitig an die Interviewerin und an die
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Freunde adressiert ist, treten ethnolektale neben standardsprachlichen Formen


auf. Eine detaillierte Analyse (Keim/Knöbl 2007) zeigt, dass ethnolektale For-
men nur in der Kampfschilderung vorkommen, bei Hintergrundinformationen
etc. jedoch nicht. Im folgenden Gesprächsausschnitt sind die Struktur­teile, die
zur Kampfschilderung gehören, fett gedruckt:

Beispiel 1: „Kampferzählung“ (vereinfachte Transkription):34


MU: un dann halt bin isch rau“s↑ * hab noch krü“ckn- *
MU: un dana“ch* hat=a gemeint di“ng↓ * →hal=der wollt
MU: u“nbedingt> n=kampf mit mir↓← un=isch
MU: konnt net sagn isch hab/ isch kann jetz net
MU: weil mein fuß gebrochn is odda so * bin
MU: isch trotzdem hingegangn obwohl meine fuß noch
MU: zusammngenäht war * da hab=sch halt zur sischerheit
MU: einn schlagstock mitgenommn↑ * falls es
MU: wirklisch schiefgehn sollte odda so↑
MU: der is halt auf misch drauf↑ hab=sch
MU: schlagstock rausgezogn * hab=sch ihm vom
MU: hals so gepackt=nach hintn↑ * hab=sch
MU: den gepa“ckt↑ (…) wollt wegrennn * dann
MU: hat=a mir fuß gestellt↓

In diesem Erzählausschnitt gibt es unterschiedliche Formulierungsmuster, die


für die folgenden Strukturteile verwendet werden:
34
Zu den Transkriptionskonventionen vgl. Kapitel 8.

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170 Inken Keim

–– Verdichtete Vordergrundschilderungen:35 mit Detaillierungen und klein-


schrittiger Darstellung des Kampfgeschehens (fett gedruckt), mit kurzen
syntaktischen Einheiten, asyndetisch gereiht, mit Verbspitzenstellung und
ethnolektalen grammatischen Merkmalen wie Ausfall des Artikels in den
NP (schlagstock und fuß), falschem Verbrahmen (ihm gepackt) und fal-
scher Präposition (vom hals): hab=sch schlagstock rausgezogn * hab=sch
ihm vom hals so gepackt nach hintn (...) hab=sch den gepackt (...) wollt
wegrenn * dann hat=a mir fuß gestellt
–– Hintergrunddarstellungen: Dazu gehören die Erläuterung von Motiven, die
Begründung von Handlungen oder der Nachtrag situativer Voraussetzun-
gen; sie sind charakterisiert durch komplexe Satzstrukturen (Kausal-, Tem-
poral- und Konzessivsätze) und haben keine grammatischen Auffälligkei-
ten: hal=der wollt unbedingt en kampf mit mir * un isch konnt net sagn
isch kann jetzt net weil mein fuß gebrochen is odda so und da hab=sch zur
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sicherheit einn schlagstock mitgenommn * falls es wirklich schiefgehn


sollte odda so
–– eine Art Übergangssequenz zwischen Hintergrund und Vordergrund (fett
und unterstrichen): bin isch trotzdem hingegangn obwohl meine fuß noch
zusammngenäht war. Sie ist charakterisiert durch Merkmale aus beiden
Formulierungsmustern: Verberststellung (bin isch) und falsches Genus
(fem. statt mask. in meine fuß) gehören eher zum Muster für Vordergrund-
darstellung, das komplexe Satzgefüge (Subjunktion obwohl) eher zum
Muster für Hintergrunddarstellung.

Der Kontrast zwischen den Formulierungsmustern für Vordergrund und Hin-


tergrund wird besonders deutlich in den NPs, die in der Hintergrundschilderung
mit Artikel (mein fuß und einn schlagstock), in der Vordergrundschilde-
rung jedoch ohne Artikel ( fuß und schlagstock) realisiert sind.
Der Vergleich mit einer Erzählsituation, in der nur die Interviewerin anwesend
ist, zeigt, dass dort keine ethnolektalen Merkmale vorkommen, auch nicht in
Vordergrundschilderungen mit hoher Verdichtung. Im folgenden Beispiel erzählt
Murat über einen Konflikt mit seinen Lehrern: Nachdem er mehrere Tage die
Schule geschwänzt hat, wird er zum Gespräch beim Rektor gebeten. Im Zimmer
sind sein Klassenlehrer, der Rektor und der Konrektor, und – so empfindet es
Murat – alle drei wollen ihn als faulen und feigen Schüler fertigmachen:
35
Reihungen von Hauptsätzen mit Erststellung des Finitums bezeichnet Günthner (2006,
S. 99ff.) als „uneigentliche Verbspitzenstellung“ und als „dichte Konstruktionen“. Sie er-
scheinen vor allem in mündlichen, narrativen Produktionen, und zwar in den Erzählteilen,
die einen hohen Grad an Detaillierung und Vergegenwärtigung erfordern.

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 171
Beispiel 2: „Auseinandersetzung mit den Lehrern“ (vereinfachte Transkription):
MU: dann hat mein lehrer gesagt * →eigentlisch will=isch
MU: ja jedem he“lfn bei der prüfung * abba bei so einem
MU: schleschtn schüler wie dir wi“ll=isch ja gar nisch
MU: helfn es lohnt sisch gar nischt >und so<← * <halt
MU: i“mmer so- * un=dann hat ei“ner was gesagt und alle
MU: drei ham misch ausgelacht↓ * dann bin=isch au“sgerastet
MU: hab=isch gemeint * isch hab keine lust mehr misch
MU: mit eusch zu unterha“ltn und bin gega“ngn↓ (…)

Als Murat das Rektorenzimmer verlässt, hört er, noch bevor er die Tür ge-
schlossen hat, dass die drei Lehrer sich über ihn lustig machen:
MU: ham misch ausgelacht- * ja“ dann bin=isch rei“n- *
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MU: hab zu meinem lehrer gesagt wenn noch ei“ner von eusch/
MU: →also ri“schdisch au“sgerastet isch konnt net mehr isch
MU: hätt fast geweint← * isch bin rei“n- hab gemeint wenn
MU: ei“ner von eusch noch ei“nmal über misch lacht- * dann
MU: seid ihr tot- * isch mach eusch kaputt >hab=isch gemeint<↓
MU: * halt * aus wu“t- (…)un=isch hab meine sachen gepackt
MU: an dem tag und bin weg von der schule↓ * einfach so rau“s↓

In dieser dramatischen Konfliktschilderung mit szenischen Darstellungen


kommen viele Strukturmerkmale für Verdichtung vor: kurze syntaktische Ein-
heiten, asyndetische Verknüpfung, Verberststellung (hab=isch gemeint, hab
zu meinem lehrer gesagt), elliptische Formulierungen (halt aus wut; einfach
so raus), aber keine ethnolektalen Merkmale. Murat schildert das Konflikter-
eignis spannend und emotionsgeladen. Der Vergleich der beiden Konflikt-
schilderungen – die vorherige Kampferzählung, die an die Freunde und die
Interviewerin adressiert ist, und die Erzählung über die Auseinandersetzung in
der Schule, die nur an die Interviewerin adressiert ist – legt die Vermutung
nahe, dass die Verwendung ethnolektaler Formen in der Kampferzählung mit
der Spezifik der Erzählsituation zusammenhängt: Murat muss auf das unter-
schiedliche Hintergrundwissen der Adressaten Rücksicht nehmen; die Inter-
viewerin hat kein Hintergrundwissen über das Ereignis, die Freunde dagegen
wissen Bescheid. Außerdem muss er unterschiedliche Beziehungsstrukturen
herstellen und diese sprachlich anzeigen. Ethnolektale Merkmale erscheinen
nur in der Vordergrundschilderung des Kampfes, d.h., diese Teile sind in be-
sonderem Maße auch an die Freunde (mit-)adressiert. Komplexe, standard-
sprachliche Formen dagegen erscheinen in den Hintergrunderläuterungen, die

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172 Inken Keim

an die Interviewerin gerichtet sind, die z.T. auch von ihr evoziert werden und
auf die sie reagiert.36 Diese ausgebauten Formen werden also verwendet, um
der Interviewerin gegenüber eine freundliche, aber sozial eher distanzierte Be-
ziehung anzuzeigen.

6.2 Fallstudie: Mädchen der 8. Hauptschulklasse37

Die folgende Studie wurde in einer 8. Hauptschulklasse durchgeführt. Das in


Auszügen präsentierte Gespräch fand im Klassenraum in einer der Haupt-
schulen des Mannheimer Stadtgebiets statt. Es sind nur Mädchen anwesend,
alle sind türkischstämmig. Sie erzählen im Beisein ihrer Deutschlehrerin und
der Interviewerin über Ereignisse, die sie auf einer Klassenfahrt nach Berlin
erlebten. Zu Gesprächsbeginn stellt die Interviewerin Fragen an die Mädchen,
die sie bereitwillig und ausführlich beantworten. Diese ersten Gesprächs­
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sequenzen sind standardnah formuliert und enthalten auf der grammatischen


und lexikalischen Ebene keine ethnolektalen Merkmale.38 Das zeigen die fol-
genden Beispiele, in denen eines der Mädchen, Canan (CA), einige Fotos der
Berlinfahrt kommentiert und von ihren Freundinnen unterstützt wird:

Beispiel 3: „Berlinfahrt“ (vereinfachte Transkription):


CA (zeigt auf die entsprechenden Fotos)
CA: also da warn wir noch auf dem we“g * un=da ham wir ein paar
CA: fotos gemacht- * da frau Kranz * die kuckt auf dem zettel da *
CA: da bin isch↑ * da war isch am schlafen- (...) und=a warn wir
CA: noch-/ wo war des↑(...) * ah ja da warn wir in Berlin↑ eh
CA: Alexanderplatz↑ * da auch ** da warn wir im bu“s (...) un=da
CA: eine frau Käfer * Anna Käfer

Auf die Nachfrage der Interviewerin, wer diese Anna ist, antwortet Canan:
CA: da ham wir eine frau kennen gelernt * von DDR oder↑

Die Vergewisserungsfrage von DDR oder↑ richtet Canan an ihre Freundin


Alara (AA), die die Frage sofort beantwortet:
AA: sie hat in de=DDR-zeit gelebt

36
Vgl. die Analyse in Keim/Knöbl (2007, S. 179ff.).
37
Für eine ausführliche Beschreibung dieser Fallstudie vgl. Keim (2007).
38
Auf der prosodisch-phonetischen Ebene jedoch gibt es ganz ähnliche Merkmale wie bei dem
vorher beschriebenen Murat; vgl. dazu Keim/Knöbl (2007).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 173
Daraufhin ergänzt eine dritte Sprecherin, Dilara (DI):
DI: und die hat dann auch in de“m hotel gewohnt wo wir auch
DI: gewohnt haben↑ * und wir ham sie hal=dort kennen gelernt↑­ *
DI: sie war auch allei“ne↑> gell↑ * ja * un wir ham zusammen
DI: ausflüge gemacht↑­

Und die erste Sprecherin detailliert die Situation des Kennenlernens:


CA: sie hat gefragt wo das schloss Charlottenburg is glaub=sch *
CA: un=da ham wir gemeint da gehen wir au“ch hin * so ham wir
CA: uns kennen gelernt

In dieser ersten, gemeinsam hergestellten Gesprächsphase treten keine ethno-


lektalen Merkmale auf, auch nicht in Nominal- oder Präpositionalphrasen.
Die Vergewisserungsfrage (von DDR oder↑), die eine Präpositionalphrase
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ohne Artikel enthält, wird von der Freundin unaufwändig im folgenden Bei-
trag repariert: sie hat in de=DDR-zeit gelebt.

Doch im weiteren Verlauf des Gesprächs, als sich eine Interaktionsdynamik


unter den Mädchen entwickelt und sie sich wechselseitig ergänzen und präzisie-
ren, Details expandieren, um das Rederecht oder um die ‘richtige’ Version einer
Ereignisdarstellung kämpfen, treten ethnolektale Formen auf: z.B. Ausfall des
Artikels in Nominal- und Präpositionalphrasen, falsches Genus und falscher
Kasus. In diesen Interaktionsphasen, die in Anwesenheit der Interviewerin statt-
finden, in denen diese aber nicht aktiv beteiligt ist, setzt sich eine Kommunika-
tionsweise durch, in der auch jugendsprachliche und ethnolektale Elemente
auftreten. Ein Vergleich dieser Interaktionsphasen mit den Sequenzen zu Be-
ginn des Gesprächs (vgl. oben) zeigt, dass die Mädchen zwischen Situationen
bzw. Gesprächskonstellationen unterscheiden, in denen sie standardnahe For-
men verwenden, und solchen, in denen sie auch Ingroup-Kommunikationswei-
sen gebrauchen. Sie nutzen also die Differenz zwischen beiden Sprachformen
zur Herstellung unterschiedlicher Gesprächskonstellationen und unterschiedli-
cher Beziehungsstrukturen: Wenn nur die fremde Erwachsene adressiert ist,
werden durchgehend standardnahe Formen eingesetzt; in den Beiträgen, die nur
oder auch an die Gruppenmitglieder gerichtet sind, kommen ethnolektale For-
men vor, die im Kontrast zu den (ausschließlich) standardnahen Formen der
Fremden gegenüber eine vertraute Ingroup-Beziehung signalisieren.
In den Gesprächsphasen, die vordergründig auf die Ingroup bezogen sind, die
Interviewerin jedoch anwesend und in unterschiedlicher Weise (mit-)adres-
siert ist, treten ethnolektale Formen nicht durchgehend auf, d.h. nicht in jeder

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174 Inken Keim

möglichen Position, sondern es gibt eine reiche Variation zwischen ethnolek-


talen und standardnahen Formen. Der Wechsel zwischen beiden ist vor allem
diskursiv-rhetorisch motiviert; es lassen sich einige relativ stabile diskursiv-
rhetorische Muster rekonstruieren. Im Folgenden werde ich zwei davon vor-
stellen.39

a) Kontrast zwischen Ethnolekt vs. Standard bei Widerspruch

Der Kontrast zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen wird ge-


nutzt, um in der Ingroup-Kommunikation inhaltliche Gegenpositionen zwi-
schen zwei Parteien hervorzuheben. Im folgenden Beispiel geht es um die
‘richtige’ Version bei der Lokalisierung eines Fotos.

Beispiel 4: „Der zweite Tag“


Canan deutet auf ein Foto und stellt die Alternativfrage:
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01 CA: und <da“> des war erste=tag * gell↑ |oda=zweite|


02 FI: nei“n des|war nischt|

03 FI: erste=tag nei“n * du hattest da


04 AA: doch des war der erste tag

05 FI: blaue |(....)|


06 CA: |ah ja-| des war zweiter tag oder so *

Canan ist sich nicht sicher, ob das Foto, das sie gerade beschreiben will, am
ersten oder am zweiten Tag der Berlinfahrt aufgenommen wurde und richtet
die Vergewisserungsfrage des war erste=tag * gell↑ * oda= zweite (Z. 01) an
die anderen Mädchen. Die Freundin Fidan (FI) ist sicher, dass es nicht der
erste Tag war (nei“n des war nischt erste=tag, Z. 02/03), doch Alara (AA)
widerspricht und behauptet: doch des war der erste tag (Z. 04). Darauf liefert
Fidan ein Zusatzargument für ihre Version (ein bestimmtes Kleidungsstück,
das CA auf diesem Foto trägt), das Canan überzeugt, dass das Foto doch am
zweiten Tag aufgenommen wurde (Z. 06). Interessant an diesem Ausschnitt
ist, dass Canan in der Vergewisserungsfrage (Z. 01) die Temporalangabe eth-
nolektal (ohne Artikel) realisiert des war erste= tag * gell↑ * oder zweite und
ihre Freundin Fidan, die ihr bei der Entscheidung hilft, die ethnolektale Form
übernimmt nei“n des war nischt erste=tag (Z. 02/03). Alara dagegen, die die
Gegenversion zu Fidans Version liefert, verwendet Standardformen wie doch
des war der erste tag (Z. 04). Die endgültige Version, die Canan formuliert,
nachdem sie von Fidan überzeugt wurde, ist dann wieder ethnolektal realisiert
39
Für weitere Variationsmuster vgl. Keim (2007).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 175
ah ja- des war zweite=tag oder so (Z. 06). D.h. Canan passt sich auf der For-
mulierungsebene nicht den standardsprachlichen Formen ihrer Kontrahentin
an, sondern stellt – unterstützt durch Fidan – die endgültige Version her: Dabei
behält sie – im Kontrast zum Standard der Kontrahentin – die ethnolektalen
Formen bei. Diese Interaktion zur Klärung der „richtigen“ Version findet aus-
schließlich zwischen den Mädchen statt; die Interviewerin spielt keine Rolle,
auch nicht als Rezipientin.

b) Ethnolektale Formen zur Spannungserzeugung


Dieses Muster wird deutlich in der Ausgestaltung des erzählerischen Höhe-
punkts bei der Schilderung eines wichtigen Erlebnisses auf der Berlinfahrt.
Die Erzählung ist an die Interviewerin gerichtet, die anderen Mädchen arbeiten
bei der Herstellung mit. Nach einer Discofeier, bei der die Mädchen voll süße
Jungen kennengelernt hatten, und in deren Verlauf auch Alkohol getrunken
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wurde, trafen sie nachts in ihrem Jugendhotel, in dem auch die Jungen wohn-
ten, auf einen splitternackten und total betrunkenen Jungen. Dieses Ereignis
wird von Dilara (DI) erzählt, die sich zu dem Zeitpunkt, als die anderen auf den
nackten Jungen trafen, bereits in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Als sie im
Flur Krach hörte, ging sie hinaus und entdeckte dort den nackten Jungen:

Beispiel 5: „Der naggische Junge“


01 DI: un=dann↑ isch bin kurz in die dusche oder so↑ oder isch

02 DI: hab mein gesischt gewaschen↑ isch hab mein jogging anzug

03 DI: angezogn |ah|un=dann/ * un=dann drau“ßen↑


04 AA: <ja:> wir gingn |ja|

05 DI: ←war voll krach→ |un=dann-| isch hab gesagt↑


06 AA: LACHT HELL |(...) |

07 DI: isch wollte schlafen un=dann↑ isch hab gesagt hey sind

08 DI: die schon wieder da →ds=war=so=halbe=stunde=später un=sch

09 DI: so des kann sei/← isch kuck↑ oh ma“mmy↑


10 AA: KREISCHT
11 K& LACHEN

12 IN: was war da↑


13 DI: ←da war eine na“ggische ju“nge→
14 AA: KREISCHT
15 K& HELLES LACHEN

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176 Inken Keim

17 IN: wo kam der her↑


18 DI: un= der war halt besoffn↑

Der Höhepunkt der Erzählung wird durch eine kleinschrittige Handlungs-


schilderung mit kurzen, Spannung erzeugenden Äußerungen (Z. 01/05) und
dem eingeschobenen Selbstgespräch (Z. 05/09) wirkungsvoll vorbereitet. In
diesem Erzählsegment kommen keine ethnoktalen Merkmale vor, PP und NP
sind grammatisch korrekt realisiert. Der Höhepunkt selbst ist durch hinauszö-
gernde, Spannung steigernde Mittel gestaltet: Er besteht aus der knappen Ein-
leitungsäußerung isch kuck↑ (Z. 09), die kreischendes Lachen der Mädchen
hervorruft, der stark wertenden Interjektion oh mammy, auf die die Interview-
erin mit gespannter Nachfrage reagiert (was war da↑, Z. 12) und der langsam
und bedeutungsvoll gesprochenen Feststellung ←da war eine na“ggische
ju“nge→ mit starker Akzentuierung auf na“ggische und ju“nge. Die NP ist
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durch das falsche Genus ethnolektal markiert. Die Erzählerin ist durch die Art
der Höhepunktdarstellung ausgesprochen erfolgreich; die Mädchen, die das
Ereignis ja bestens kennen, fiebern am Höhepunkt mit (vgl. AAs Versuche zur
Beteiligung) und belohnen die Darstellung durch helles und kreischendes
Lachen.

In diesem Beispiel kommt nur eine ethnolektale Form vor, und zwar bei der
Ausgestaltung des Höhepunktes. Dieselbe Sprecherin verwendet in ihrer Ant-
wort auf die Nachfrage der Interviewerin wo kam der her↑ (Z. 17) das korrek-
te Genus: un=der war halt besoffn↑ (Z. 19). Das zeigt, dass die ethnolektale
Form zusammen mit den übrigen diskursiven und prosodischen Verfahren zu
den Mitteln und Verfahren gehört, die in narrativen Darstellungen zur Erzeu-
gung von Spannung eingesetzt werden. Unter diesem Aspekt ist das hier ge-
zeigte Verfahren ähnlich dem in der vorherigen Fallstudie beschriebenen Ver-
fahren: ethnolektale Formen in Sequenzen, die in besonderer Weise auch an
die Peergroup adressiert sind.

6.3 Fallstudie: 12-jährige Sprachförderschüler40

Die letzte Studie zeigt, dass die Fähigkeit, zwischen Ethnolekt und Stan-
dardformen situativ zu unterscheiden, auch im Zusammenhang mit dem Er-
werb schriftsprachlicher Kompetenzen entwickelt wird. Das im Folgenden
analysierte Gesprächsmaterial stammt wieder von Hauptschüler(inne)n aus
dem untersuchten Migrantenwohngebiet. Es handelt sich um eine Sprach-
40
Vgl. zu dieser Fallstudie Keim (2009a und 2009b).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 177
fördergruppe der 6. Klasse mit vier Migrantenkindern. Sie sind 12 Jahre alt
und werden von einer Studentin wöchentlich vier Stunden am Nachmittag in
den Räumen der Schule in Deutsch gefördert.41
Die Studentin, die mit den Kindern arbeitet, war mit drei der Kinder in dem
von ihnen gewählten Kinofilm „Happy Feet“. Im anschließenden Förderun-
terricht sollten die Kinder dem vierten Kind, das den Film noch nicht gesehen
hatte, und der Interviewerin Episoden aus dem Film erzählen, zuerst mündlich
und dann schriftlich. Die schriftlichen Versionen wurden am Computer ver-
fasst und sollten in eine von den Kindern zusammengestellte Geschichten-
sammlung aufgenommen werden.
Gegenstand des Films ist die Lebensgeschichte eines kleinen Pinguins, der
anders als seine Stammesgenossen ist. Er kann nicht singen wie sie, aber wun-
derbar tanzen, deswegen wird er „Happy Feet“ genannt. Wegen seines „An-
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ders-Seins“ wird er aus der Pinguinkolonie ausgeschlossen, geht in die Welt,


besteht viele Gefahren und wird schließlich wieder in die Kolonie aufgenom-
men, nachdem er sich für die anderen als nützlich erwiesen hat.
Im folgenden Beispiel bittet die Studentin (BO) den Jungen Fatih (FA), dem
Mädchen Gülay und der Interviewerin (IN) von dem Film zu erzählen. Damit
schafft sie für die Kinder eine natürliche Erzählsituation. Fatih folgt der Auf-
forderung und erlebt gleich zu Beginn, dass er seine Erzählung in Konkurrenz
zu seiner Freundin Betül (BE) gestalten muss.

Beispiel 6: „Pinguin Happy Feet“


01 BO: Fatih * erzählst=e Gülay ma um was es ging↑
02 BE: +ich weiß=s

03 FA: +<des ging um pinguin happy feet↑> * happy feet bedeutet/

04 FA: bedeutet glücklische füße und eh * also- ehm die


05 IN: mhm

41
Der Sprachförderunterricht findet im Rahmen des Sprachförderprogramms der Mercator-
Stiftung statt, die bundesweit an 35 Standorten vertreten ist. Das Programm sieht vor, dass
Studierende Migrantenkinder der Sekundarstufe I in kleinen Gruppen mindestens vier Stun-
den wöchentlich in Deutsch mündlich und schriftlich fördern. Das Mercatorprojekt ist auch
an der Universität Mannheim vertreten und wird von Rosemary Tracy und mir geleitet.
Vorrangiges Ziel der Förderung ist es, die Textrezeptions- und -produktionsfähigkeiten
(mündlich und schriftlich) der Kinder zu verbessern. Dazu greifen die Studierenden die
Kinder interessierende Themen auf, bieten ihnen dazu Sachinformationen und Text-, Spiel-
Audio- oder Filmmaterial an und unterstützen die Kinder bei der Produktion mündlicher und
schriftlicher Versionen. Zur Projektbeschreibung siehe Tracy/Keim (2009).

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178 Inken Keim

06 FA: mutter von happy feet↑ war voll geil/eh voll gute sängerin↑

07 FA: sehr gute↑ * un die hat einen/ →wie/wie soll=sch des sagn←↑­
08 K LACHEND #

09 BE: einen freund


10 FA: die hat einfach mit mann rumgemacht also↑ *

11 FA: un dann ham die ei gekriegt↑ * un dann hat der mann des ei

12 FA: unter dem ding versteckt↑


13 IN: wo↑ wo hat=a=s versteckt↑
14 BE: >popo<

15 FA: un dann eines tages hat eh der mann so eh nachricht

16 FA: gegebn glaub=sch * und der hat den ei runter fallen


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17 FA: lassen →net allein * aus versehn runtergefallen↑ * und dann

18 FA: * nächste tag is die mutter gekommn wo is unsere kind­


↑*

19 FA: kind war da↑ und wer macht unsere kind diese füße so↑ *

20 FA: eh einfach der hat glücklische füße↑ * und dann­


↑ eh sind

21 FA: die singen gegangen * der junge macht so <giiaah> * der kann
22 K KRÄCHZT

23 FA: |nischt rischtisch singn↑ der kann nisch rischtisch singen|


24 BE: |<darf=sch was dazu sagn↑> SCHNIPPT MIT DEN FINGERN |

In dieser ersten Erzählepisode sind folgende Strukturteile realisiert, die für das
Genre ‘Erzählung’ konstitutiv sind:

–– Einführung der Akteure: Die zentrale Figur des kleinen Pinguin des ging
um pinguin happy feet (Z. 03), Erläuterung seines ungewöhnlichen Na-
mens (Z. 03/04) und Einführung seiner Eltern (Z. 04/10); dabei wird ein
wesentliches Merkmal der Mutter fokussiert (gute Sängerin) und dadurch
ein entsprechendes Merkmal für das Kind projiziert;
–– Darstellung eines Ereignisses aus der Vorgeschichte, das zur Deformation
und dem Anderssein führt (Z. 15/20): Der Vater lässt das Ei aus Versehen
fallen; als das Kind schlüpft, hat es verkrüppelte Füße;
–– Darstellung eines Ereignisses, das die Unfähigkeit zu singen offenbart
(Z. 20/23).

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 179
Beide Ereignisse liefern die Gründe für den Ausschluss aus der Kolonie; das
erste wird in einer minimalen Szene präsentiert (zwei Zitate der Mutter), das
zweite beginnt mit einer szenischen Darstellung, die von Betül unterbrochen
wird. Die Realisierung dieser erzählkonstitutiven Strukturteile zeigt, dass Fa-
tih bereits beträchtliches Genre-Wissen erworben hat und einem komplexen
Erzählkonzept folgt: Die wichtigen Akteure werden eingeführt und charakte-
risiert, die Charakteristika sind in Bezug auf die weitere Entwicklung der
Handlung relevant, und es werden die Ereignisse dargestellt, die den weiteren
Handlungsverlauf motivieren. Diese Ereignisse werden hoch gestuft und an-
satzweise szenisch detailliert.

Die sprachliche Realisierung dieser Erzählepisode enthält


–– grammatisch unauffällige, umgangssprachliche Formen, d.h. Fatih hat we-
sentliche grammatische Strukturen des Deutschen erworben: des ging um
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happy feet * happy feet bedeutet glückliche füße (...) und dann hat der
mann des ei unter dem ding versteckt (...) und dann sind die singn gegan-
gen (...) der kann nischt richtisch singn.
–– jugendsprachliche Formen: die Äußerung voll geil/ eh voll gute sängerin,
in der das Adjektiv voll als Intensivierer (im Sinne von sehr) und das qua-
lifizierende Adjektiv geil auftritt.42 Als jugendsprachlich kann auch der
derbe Ausdruck rummachen charakterisiert werden. Interessant ist die
Selbstkorrektur in der Äußerung war voll geil/ eh voll gute sängerin * sehr
gute; Fatih korrigiert den jugendsprachlichen Bewertungsausdruck geil zu
dem sozialstilistisch neutralen gut und den jugendsprachlichen Intensivie-
rer voll zu sehr. Die Korrekturen zeigen seine zunehmende stilistische
Bewusstheit.
–– eine Reihe ethnolektaler Formen:43 Ausfall von Artikel in NP und PP (5),
z.B. und dann ham die (ein) ei gekriegt oder die hat einfach mit (einem)
mann rumgemacht; Ausfall von Artikel und Präposition (2), z.B. und dann
(am) nächste(n) tag is die mutter gekommen; anderes Genus (1) und ande-
rer Kasus (1) unsere kind (fem.) statt unser kind (neutr.) und wer macht
unsere kind diese füße so statt unserem kind (Dat.); analytische Wortbil-
dung diese füße so statt solche füße;
42
Solche Konstruktionen sind in der Jugendsprachforschung beschrieben, wie z.B. voll dumme
tussi, oder des is voll geil u.Ä. Auch andere Migrantenjugendliche verwenden Konstruktio-
nen mit dem jugendsprachlichen Intensivierer voll. In Keim (2008b, S. 227) z.B. wird eine
Deutsch-Türkin zitiert: des war voll schlimm für mich, des war irgendwie voll die qual (ebd.).
43
Die fehlenden Elemente sind in Klammern und fett markiert; die Zahlen in den Klammern
bezeichnen die Häufigkeit des Vorkommens.

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180 Inken Keim

Diese ethnolektalen Formen werden weder von den anderen Kindern noch
von den deutschsprachigen Erwachsenen korrigiert. Auch Betül, die im Er-
zählverlauf immer wieder die Erzählerrolle übernimmt und expandierte narra-
tive Sequenzen produziert, gebraucht ethnolektale Formen, wie das folgende
Beispiel zeigt:

Beispiel 7: „Im Zoo“


01 IN: wo war der pinguin noch↑
02 BE: in so zoo“ * er war in zoo↓

03 BE: Mexico↑ glaub isch * ja“ * un danach


04 IN: in welchem land↑

05 BE: ham die/ danach kam ein mädchen↑ ein kleines mädchen

06 BE: die hat so geklopft an ding/ des war doch schei“be- *


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07 IN: der war hinter ner gla“sscheibe↑


08 BE: ja“ damit die menschen

09 BE: es sehn konntn un man konnt ja in wasser reinschwimmen


10 IN: mhm

Auch hier fehlen in einigen Präpositional- und Nominalphrasen der Artikel: in


so zoo, in zoo, an ding, in wasser reinschwimmen, des war doch scheibe.
Nach den mündlichen Erzählungen setzen sich die Kinder an ihre Computer
und versuchen die erzählten Episoden zu schreiben. Im Prozess des Schrei-
bens ändert sich bei den Kindern die Formulierungsweise. Das zeigt das
nächste Beispiel: Betül sitzt am Computer, überlegt und beginnt folgenderma-
ßen zu schreiben:

Beispiel 8: „Unter den Arsch“ (vereinfachte Transkription)


02 BE: und jetz↑ * da wurden sie ein pärchen und sie bekamen ein kind

05 BE: LACHT nein * sie bekamen ein * sie bekamen ein ei“

07 IN: ein ei↓ richtich↓ * was is dann weiter passiert↑ *

08 IN: was macht mer mit nem ei↑ <der mann>↑


09 FA: >unter den arsch<

11 FA: der mann hat den ei * un|ter den- |po gelegt|


12 BE: |unter den po |gelegt

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 181
Betül beginnt mit einer schriftsprachlich formulierten Äußerung: da wurden
sie ein pärchen und sie bekamen ein kind (Z. 02/03). Die Äußerung hat keine
gesprochensprachlichen Merkmale (z.B. Reduktionen, Elisionen, Kontraktio-
nen, Verzögerungspartikel, Abbruch und Neustart u.Ä.), Tempusgebrauch und
Wortstellung sind charakteristisch für Schriftsprache. Dann lacht sie, reformu-
liert ihre Version sie bekamen ein (Z. 05/06), bricht ab und korrigiert zu sie
bekamen ein ei“. IN bestätigt die Korrektur (ein ei↓ richtich↓, Z. 07) und stellt
die nächste den Erzählprozess vorantreibende Frage: was is dann weiter pas-
siert↑ (Z. 07/08). Da keine Reaktion erfolgt, schränkt sie den Fragefokus ein:
was macht mer mit nem ei ↑ (Z. 08). Jetzt antwortet Fatih und verwendet für
den Vorgang des Brütens den derben Ausdruck: >unter den arsch< (Z. 09). IN
fragt nach dem Agens der elliptischen Formulierung (<der mann>↑), und Fa-
tih reformuliert zu der mann hat den ei * unter den- (Z. 11), zögert dann aber
vor der Nennung des Nomens in der Präpositionalphrase. D.h. er wählt das
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Wort arsch ab und sucht nach einem alternativen Ausdruck für den Körperteil,
unter den der Pinguin-Vater das Ei legt. Noch bevor er fortfahren kann, nennt
Betül (überlappend mit seiner Formulierung) als Alternative für den derben
Ausdruck arsch den umgangssprachlichen unter den po gelegt (Z. 12);44 Fatih
übernimmt diese Alternative (Z. 10). Betül zeigt hier ihre Fähigkeit zum situ-
ationsadäquaten Gebrauch von stilistischen Alternativen; in dieser Sequenz
bewegt sie sich bereits nahe an schriftsprachlichen Formen. Das wird beson-
ders deutlich im Vergleich zu den Formulierungen von IN, die Merkmale des
Mündlichen enthalten (Elision, Kontraktionen). Kurze Zeit später sitzt Fatih
am Computer und schreibt ohne Hilfe von Betül oder der Interviewerin den
folgenden schriftsprachlichen Satz, den er laut vorliest:

Beispiel 9: „Der Anführer“


01 FA: LIEST LAUT er hat bei den möwen ein band entdeckt

02 IN: un was war mit dem band↑ * warum war des wichtig↑
03 FA: das

04 FA: band bedeutete dass er dass er der anführer war


05 IN: ja gut

06 FA: SCHREIBT

Auf INs Frage was war mit dem band ↑ warum war des wichtig↑ (Z. 02) ant-
wortet Fatih: das band bedeutete dass er der anführer war (Z. 03/04). In die-
44
Der Ausdruck Po ist umgangssprachlich gebräuchlich und für Kinder üblich.

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182 Inken Keim

ser Sequenz produziert Fatih im Prozess des Schreibens schriftsprachliche


Formen mit korrekten grammatischen Strukturen, einer komplexen Syntax
und ohne gesprochensprachliche oder ethnolektale Merkmale.

7. Fazit und Ausblick

Die Fallstudien zeigen, dass die jugendlichen Sprecher(innen) ein weites


Sprachrepertoire haben bzw. – wie in der letzten Studie – dabei sind, es aufzu-
bauen. Sie verfügen über ethnolektale und standardnahe Formen und nutzen
die Differenz zwischen beiden als kommunikative Ressource. Interessant ist,
dass die vorgestellten Jugendlichen, die unterschiedlichen sozialen und Al-
tersgruppen angehören, beide Sprachformen zu ähnlichen Zwecken verwen-
den: Gegenüber Außenstehenden, zu denen sie eine freundliche, sozial-distan-
zierte Beziehung herstellen, verwenden sie standardnahes Deutsch, ebenso in
Situationen, in denen schriftsprachliche Fertigkeiten erforderlich sind. In
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Kommunikationssituationen mit Zweifachadressierungen, einerseits an Mit-


glieder der Peergroup, andererseits an außenstehende Erwachsene, dient die
Variation zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen sozial-symboli-
sierenden und diskursiv-rhetorischen Zwecken: zur Differenzierung zwischen
Ingroup-und Outgroup-Beziehungen, zum Ausdruck von Zugehörigkeit zur
„Ghetto“-Jugendszene (oder auch zur Abgrenzung davon, vgl. Keim 2008a,
Kap. 4.3) und zur Fokussierung, Aufmerksamkeitssteuerung, Kontrastherstel-
lung und Spannungserzeugung. Der virtuose Umgang mit beiden Sprachfor-
men setzt Kompetenz in beiden voraus und vor allem ein Wissen über den
adäquaten Gebrauch in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen Zwe-
cken. Beides haben die etwas älteren Migrantenjugendlichen in hohem Maße
erreicht; die jüngeren sind dabei, ein solches Wissen aufzubauen.
Aus diesen Befunden ergeben sich eine Reihe weiterführender Fragen: Aus
linguistischer Perspektive interessieren vor allem die Wurzeln, die Entstehung
und Verbreitung ethnolektaler Merkmale. Unter bildungspolitischer Perspekti-
ve ist die Frage zu klären, ob alle Jugendlichen aus dem Migrantenwohngebiet
über ein ähnlich weites kommunikatives Repertoire und über ähnliche Ge-
brauchsweisen verfügen oder ob es Kinder und Jugendliche gibt, die in allen
Kontexten ethnolektale Formen präferieren bzw. für die ethnolektale Formen
die einzig möglichen Ausdrucksformen im Deutschen sind. Was sind die Be-
dingungen (sozial, motivational u.a.) für den Aufbau eines weiten oder eines
eingeschränkten Repertoires? Und wie sehen ethnolektale Formen bei Spre-
cher(inne)n anderer Herkunftssprachen, z.B. Russisch oder Arabisch, aus und
wie werden sie von diesen Sprechern eingesetzt? Um solche Fragen klären zu
können, ist es notwendig, mehr über die ökonomischen, sozialen und kulturel-

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Form und Funktion ethnolektaler Formen 183
len Bedingungen zu erfahren, die für die Ausbildung und Stabilisierung von
Ethnolekten notwendige Voraussetzungen sind. Aus einer globaleren soziolin-
guistischen Perspektive ist von Interesse, ob sich ethnolektale Formen zu So-
ziolekten weiterentwickeln und wer die Träger einer solchen Entwicklung sein
könnten. Außerdem ist es notwendig, mehr über die Bewertung von und den
Umgang mit ethnolektalen Formen in den Gruppen der Mehrheitsgesellschaft
zu erfahren, die in Medien, Mode und Werbung Einfluss haben und in Jugend-
magazinen, in Fernseh-Jugendsendungen, in Comedys und Spielfilmen, in
Literatur und Musik „neue Trends setzen“.45 Über solche „Trendsetter“ sind
möglicherweise auch Einflüsse auf die Standardsprache möglich.

8. Transkriptionskonventionen
Die Sprecherbeiträge sind in Partiturschreibweise angeordnet. Dabei werden
folgende Konventionen verwendet:
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ja |aber | simultane Äußerungen stehen übereinander; Anfang und


|nein nie|mals Ende werden auf den jeweiligen Textzeilen markiert
+ unmittelbarer Anschluss /Anklebung bei Sprecherwechsel
* kurze Pause (bis max. ½ Sekunde)
** etwas längere Pause (bis max. 1 Sekunde)
*3,5* längere Pause mit Zeitangabe in Sekunden
= Verschleifung (Elision) eines oder mehrerer Laute
zwischen Wörtern (z.B. sa=mer für sagen wir)
/ Wortabbruch
(... ...) unverständliche Sequenz (drei Punkte = Silbe)
(war) vermuteter Wortlaut
↑ steigende Intonation (z.B. kommst du mit↑)
↓ fallende Intonation (z.B. jetzt stimmt es↓)
- schwebende Intonation (z.B. ich sehe hier-)
” auffällige Betonung (z.B. aber ge”rn)
: auffällige Dehnung (z.B. ich war so: fertig)
←immer ich→ langsamer (relativ zum Kontext)
→immerhin← schneller (relativ zum Kontext)
>vielleicht< leiser (relativ zum Kontext)
<manchmal> lauter (relativ zum Kontext)
LACHT Wiedergabe nichtmorphemisierter Äußerung auf der
Sprecherzeile in Großbuchstaben
IRONISCH Kommentar zur Äußerung (auf der Kommentarzeile)
QUIETSCHEN nicht-kommunikatives (akustisches) Ereignis in der
Gesprächssituation (auf der globalen Kommentarzeile)
45
Vgl. Androutsopoulos (2007).

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184 Inken Keim

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Bernd Meyer

Herkunftssprachen als kommunikative Ressource?

Abstract: Ausgangspunkt für diesen Beitrag sind soziodemografische Daten, die da-
rauf hindeuten, dass in Deutschland relevante Teile der Wohnbevölkerung anlassbe-
zogen in anderen Sprachen als dem Deutschen kommunizieren müssen oder wollen.
Aus dieser veränderten Sprachenlandschaft ergeben sich neue Anforderungen an öf-
fentliche Einrichtungen, Behörden und Unternehmen, aber auch neue Möglichkeiten
der Nutzung dieser sprachlichen Ressourcen. So spielen Mitarbeiter mit guten Kennt-
nissen der Herkunftssprachen in vielen Unternehmen und Einrichtungen eine wichti-
ge Rolle bei der Kommunikation mit Personen mit geringen Deutschkenntnissen. Der
Einsatz dieser Personen ist teilweise jedoch auch problematisch, da sie in den Her-
kunftssprachen den Anforderungen des Sprachgebrauchs in beruflichen Kontexten
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nicht immer gewachsen sind. Daher werden ein reflektierter Umgang mit den Spra-
chenpotenzialen und eine aktive Gestaltung mehrsprachiger Kommunikationspraxen
in öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen gefordert.

The starting point for this article is provided by socio-demographic data which point
to the fact that significant sections of the German population have to or want to use
languages other than German for communication according to the situation. This
changed language landscape makes new demands on public institutions, authorities
and companies, but also creates new opportunities to make use of these linguistic re-
sources. Thus in many companies and institutions employees with good knowledge of
migrant languages play an important role in communication with people who have a
limited knowledge of German. However, the use of these people also has its problems,
since they are not always equal to the task of using the migrant languages adequately
in professional contexts. For this reason the article proposes reflection on the handling
of the language potential and an active organisation of multilingual communication
practices in public institutions and companies.

1. Deutschland dem Deutschen?

Fundierte sprachpolitische Debatten finden in Deutschland selten statt. Sie


werden zum einen durch die Kulturhoheit der Länder behindert, durch die
kultur- und bildungspolitische Themen von nationaler Bedeutung den landes-
politischen Interessen untergeordnet werden (Ehlich/Krumm 2004). Zum an-
deren aber steht einer informierten Debatte über den Status des Deutschen in
Deutschland auch ein bestimmtes Verständnis der deutschen ‘Muttersprache’
im Wege, die als konstitutives Merkmal von Volksgemeinschaft, Nation und
Staat aufgefasst wird. Diese Auffassung lässt sich auf eine im neunzehnten
Jahrhundert verstärkt einsetzende emotionale und politische Aufladung der

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190 Bernd Meyer

Sprachenfrage zurückführen (Ahlzweig 1994). Als Nachhall kommt es heute


dazu, dass sich sprachpolitische Diskussionen meist nur um den angeblichen
Niedergang des Deutschen drehen bzw. seine Bedrohung durch andere Spra-
chen oder neue Schreibnormen. Lauscht man der vox online in den Leserkom-
mentaren deutscher Tageszeitungen – aktuell (Januar 2010) etwa anlässlich
einer überparteilichen Initiative, das Englische in Ausnahmefällen als optio-
nale Gerichtssprache zuzulassen –, so ist ein deutschtümelnder Unterton kaum
zu überhören: Sprachliche Vielfalt erscheint, egal in welcher Form, vor allem
als Bedrohung der deutschen Identität.
Vor diesem Hintergrund überrascht weder die im Winter 2008 auf dem Bundes-
parteitag der CDU zur offiziellen Parteilinie erhobene Forderung nach einem
Bekenntnis zur deutschen Sprache im Grundgesetz noch die daran anschlie-
ßende Kontroverse um den Umgang mit sprachlicher Vielfalt in Deutschland.
Immerhin gab es eine Debatte: Immigrantenverbände hatten eine ausgrenzende
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Absicht der Grundgesetzinitiative ausgemacht und sahen sich durch beschwich-


tigend gemeinte Äußerungen aus der Bundesregierung in ihrem Verdacht be-
stätigt. So warb die Integrationsbeauftragte Maria Böhmer für die CDU-Initia-
tive, indem sie die deutsche Sprache zum „Band, das uns verbindet“ erklärte.
Worin aber besteht die Verbindung, wenn jemand kein oder wenig Deutsch
spricht? Ist die Beherrschung des Deutschen das neue Schibboleth, der Aus-
weis von Zugehörigkeit? Ist Integration eine Bringschuld von Einwanderern,
die sich insbesondere im Erwerb des Deutschen manifestiert? Ein Kommenta-
tor in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ verstieg sich in diesem Zusam-
menhang zu der kühnen Behauptung, Deutsch sei nun mal „die Umgangsspra-
che in Deutschland“; darauf zu bestehen sei kein Assimilierungsdruck (Georg
Paul Hefty, FAZ v. 9.12.2008).
Bei solchen realitätsfernen Äußerungen liegt die Vermutung nahe, dass das,
was geleugnet wird (die Ausübung von Assimilierungsdruck), in Wahrheit der
geheime Wunsch des Autors ist. Die Idee, auf der Verwendung einer bestimm-
ten Umgangssprache zu bestehen, also andere Menschen auf eine Sprache des
Alltags, des Nah- und Familienbereichs, festzulegen, ist eine Allmachtsphan-
tasie und als solche nicht soziolinguistisch, sondern allenfalls psychologisch
interessant.
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man Aussagen wie die aus der FAZ
mit dem Umstand entschuldigen, dass über die Vitalität von Herkunftsspra-
chen innerhalb der Wohnbevölkerung Deutschlands tatsächlich wenig bekannt
ist. Während die Dialekte des Deutschen und zumindest manche der aner-
kannten (d.h. als indigen geltenden) Minderheitensprachen (Dänisch, Frie-

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 191
sisch, Niederdeutsch, Romanes, Sorbisch) sich regional eines gewissen wis-
senschaftlichen und gesellschaftlichen Interesses erfreuen, ist über die
Verbreitung und den Gebrauch anderer Sprachen in Deutschland wenig zu
erfahren. Wie Extra/Gorter (2005) feststellen, ist diese Differenzierung zwi-
schen den regionalen Minderheitensprachen und den Herkunftssprachen von
Migranten kein spezifisch deutsches Problem, sondern typisch europäisch.
Schon die EU-Charta der Regional- oder Minderheitensprachen von 1992
schließt Herkunftssprachen von Migranten explizit aus ihrem Wirkungsbe-
reich aus. Es ist daher nur konsequent, dass bestimmte regionale Minderhei-
tensprachen ganz selbstverständlich als zum eigenen kulturellen Erbe gehörig
wahrgenommen werden und die entsprechende institutionelle Förderung er-
halten, ‘fremde’ Sprachen wie Türkisch oder Russisch hingegen als nicht-in-
digen gelten, obwohl Millionen von Einwohnern Deutschlands (und Hundert-
tausende von deutschen Staatsbürgern) diese Sprachen neben dem Deutschen
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als Umgangs- und Familiensprachen täglich verwenden.


Die selektive Wahrnehmung und Förderung der regionalen Minderheitenspra-
chen ist dabei nicht einfach mit einem höheren Schutzbedürfnis aufgrund der
geringeren Sprecherzahl und dem möglichen Aussterben dieser Sprachen zu
begründen. Auch für die Herkunftssprachen von Migranten ist keineswegs
klar, in welchem Umfang sie in Zukunft noch in Deutschland zu finden sein
werden. Schon heute zeichnet sich ab, dass Varietäten des Russischen und des
Türkischen in Deutschland gesprochen werden, die sich von dem in den Her-
kunftsländern gesprochenen Standard merklich unterscheiden. Offenbar un-
terscheiden sich Gruppen auch in ihren Bemühungen um die Tradierung ihrer
Herkunftssprachen (Extra/Yagmur 2009). Auch wenn eine seriöse Prognose
über die weitere Entwicklung dieser Sprachen an dieser Stelle nicht abgege-
ben werden kann, ist doch festzuhalten, dass deutsche Landesregierungen
durchaus Anstrengungen unternehmen, um einem Dahinscheiden der indige-
nen Sprachen entgegenzuwirken. Es käme vermutlich jedoch politischem
Selbstmord gleich, dies auch in Bezug auf andere Sprachen, beispielsweise
das Russische, zu erwägen. Lieber wird das Schwinden der Herkunftsspra-
chen in den verschiedenen Einwanderergruppen als Begleitschaden einer
staatlich gewollten und forcierten Ausbreitung des Deutschen billigend in
Kauf genommen.
Im Folgenden möchte ich einige Argumente gegen diese Unterschätzung der
Herkunftssprachen und für die Entfaltung und Gestaltung mehrsprachiger
Kommunikationspraktiken in Deutschland vorbringen. Auf der Basis von so-
ziodemografischen Daten, Befragungen von Mitarbeitern in sozialen Einrich-

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192 Bernd Meyer

tungen, Firmen und Behörden sowie anhand von diskursanalytischen Unter-


suchungen zur Kommunikation in Krankenhäusern kann gezeigt werden, dass
migrantische Zwei- und Mehrsprachigkeit (d.h. die kompetente Beherrschung
der deutschen Sprache und einer oder mehrerer Herkunftssprachen) wichtige
Ressourcen für die alltägliche Sprachpraxis in öffentlichen Einrichtungen und
für den wirtschaftlichen Austausch mit den Herkunftsregionen sind. Der Arti-
kel basiert auf einer Studie für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(Meyer 2009), in der untersucht wurde, in welchen Bereichen die Beherr-
schung von Herkunftssprachen einen beruflichen Vorteil bietet. Dem Beitrag
liegt die Auffassung zugrunde, dass zur Förderung von Mehrsprachigkeit im
Sinne eines „desirable cooperative goal“ (Clyne 2004, S. 19) auch die konkre-
ten Rahmenbedingungen und Kommunikationspraktiken untersucht und beur-
teilt werden müssen, die dem Gebrauch von Herkunftssprachen im öffentli-
chen Raum, in Institutionen und an Arbeitsplätzen zugrunde liegen.
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2. Gibt es einen Bedarf an Kommunikation in den


Herkunftssprachen?

Der Bedarf an herkunftssprachlicher Kommunikation über den Familien- und


Nahbereich hinaus ergibt sich z.B. aus den in den verschiedenen Migranten-
gruppen vorhandenen Kenntnissen und Fertigkeiten in der deutschen Sprache.
Personen, die nur über geringe Deutschkenntnisse verfügen, sind gezwungen,
im Kontakt mit deutschsprachigen Institutionen, öffentlichen Einrichtungen,
aber auch Firmen und Anbietern von Dienstleistungen auf andere Sprachen
zurückzugreifen. Dies geschieht oftmals dadurch, dass Angehörige oder Be-
kannte als Dolmetscher tätig werden, oder aber dadurch, dass man auf eine
Brückensprache, wie etwa Englisch, ausweicht. Kommunikation in anderen
Sprachen ergibt sich also nicht gesinnungsethisch aus dem Liebäugeln mit
einer offenen und ethnisch vielfältigen Gesellschaft, sondern aus der Macht
der demografischen Fakten sowie aus rechtlichen Normen, zu denen sich die
BRD zumindest im Prinzip bekennt. Ein weiterer Gesichtspunkt sind die wirt-
schaftlichen Beziehungen Deutschlands zu den Herkunftsregionen.

2.1 Soziodemografie der sprachlichen Integration

Geht man von den wenigen verfügbaren soziodemografischen Daten aus, wie
sie im sozioökonomischen Panel des Berliner DIW erhoben werden, so steht
in jeder Einwanderergruppe eine große, sprachlich gut integrierte Gruppe ei-
ner kleineren, nicht gut integrierten Gruppe gegenüber (Haug 2008). Das Ver-

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 193
hältnis bewegt sich dabei jeweils zwischen 1:4 oder 1:5, wobei passive vor
aktiver und mündliche vor schriftlicher Sprachbeherrschung rangieren. Jünge-
re Befragte schätzen sich als kompetenter ein als ältere, Männer und Frauen
driften in manchen Gruppen auseinander. So sind etwa, wenn man nach den
Selbstauskünften der Befragten geht, die Deutschkenntnisse türkischstämmi-
ger Frauen deutlich schlechter als die der gleichaltrigen Männer.
Die Methode der Sprachstandsbestimmung per Selbstauskunft ist sicherlich
unbefriedigend, nimmt man aber die so gewonnen Daten als wenn auch
unscharfe, jedoch gültige Zustandsbeschreibung der Sprachenlandschaft in
Deutschland, so zeigt sich, dass jeweils ortsbezogen relevante Gruppen von
Einwanderern ernsthafte Schwierigkeiten haben, anspruchsvollere Kommu-
nikationssituationen auf Deutsch zu meistern. Die Folgen können anhand
eines Rechenbeispiels zur Situation in Hamburg verdeutlicht werden. Das
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Beispiel, so sei vorausgeschickt, kann sicherlich keinen Anspruch auf unein-


geschränkte soziodemografische Stichhaltigkeit erheben, da die amtlichen
Statistiken in der Regel keine Aussagen zur sozialräumlichen Verteilung von
Migranten auf bestimmte Städte oder Stadtteile erlauben (Schönwälder/Söhn
2007). Dessen ungeachtet mag so eine realistische Vorstellung von der sozio-
linguistischen Lage in städtischen Räumen vermittelt werden.
Von den 82 000 in Hamburg lebenden Personen mit türkischem Migrationshin-
tergrund sind laut Mikrozensus 2006 38 000 Frauen. Aus dieser Gruppe be-
schreiben laut Erhebungswelle 2005 des sozioökonomischen Panels ca. 44%
ihre Deutschkenntnisse als eingeschränkt bis schlecht – insgesamt handelt es
sich somit um gut 16 700 Personen, die nicht in vollem Umfang mit deutsch-
sprachigen Einrichtungen und Institutionen kommunizieren können. 7 488 die-
ser Frauen in Hamburg sind laut Mikrozensus 20 bis 45 Jahre alt und damit
potenziell Mütter von Kindern, die Kindertagesstätten besuchen, zur Schule
gehen, oder sich in einer Berufsausbildung befinden. Geht man weiter davon
aus, dass oftmals Frauen einen großen Teil der Kommunikation mit Bildungs-
und Betreuungseinrichtungen der Kinder bewältigen, so erscheint die Frage
berechtigt, wie diese Kommunikation vonstatten geht. Die betroffenen Frauen
haben vermutlich Schwierigkeiten, Gesprächsanlässe wahrzunehmen, die sich
auf die Ausbildung ihrer Kinder beziehen: Elternabende, Gespräche in der
KiTa, Angebote zur Berufsorientierung, Lehrersprechstunden usw. Da Ange-
bote in den Herkunftssprachen aus naheliegenden Gründen kaum existieren,
sind die Betroffenen auf die Hilfe von zweisprachigen Personen und das
sprachliche Entgegenkommen der jeweiligen Institution angewiesen.

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194 Bernd Meyer

Aus dieser Gemengelage nähren sich Anekdoten wie die des bosnischen
Mädchens, das elterliche Bedenken bezüglich einer Klassenfahrt selbst zer-
streuen konnte, indem es als Dolmetscherin im Gespräch mit dem Klassen-
lehrer dessen Erläuterungen in bestimmten Details abwandelte und so – ge-
stützt auf die „Stimme des Lehrers“ – die eigenen Eltern beruhigte. Solche
wahren Geschichten erscheinen zunächst amüsant, die zugrunde liegende
Praxis ist jedoch eigentlich unerhört: Die Schulbehörde in einem durch Mi­
gration und Mehrsprachigkeit geprägten Stadtstaat wie Hamburg bietet den
Schulen keine konkrete Hilfestellung bei der Lösung eines alltäglichen Kom-
munikationsproblems. Stattdessen behelfen sich Lehrer und Schulleitungen,
indem sie die Lösung dieses Problems an die Familien weiterreichen, manch-
mal auch ältere Schüler als Schuldolmetscher rekrutieren oder – im besten
Fall – auf eigene Initiative hin gezielt Kollegen mit herkunftssprachlichen
Kenntnissen einstellen. Die Qualität der Dolmetschleistungen, die auf der
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Basis solcher Ad-hoc-Verfahren zu Stande kommen, ist vermutlich dement-


sprechend breit gefächert. Ethische Dimensionen, etwa bezogen auf die Ver-
traulichkeit und Verlässlichkeit der Kommunikation, können so nicht berück-
sichtigt werden.
Die Häufigkeit von Situationen, in denen Bildungseinrichtungen mit Eltern
oder Klienten in anderen Sprachen als dem Deutschen kommunizieren, lässt
sich auf der Basis der Studie von Meyer (2009, S. 36f.) einschätzen. Dort wur-
de mit Hilfe eines Fragebogens der Gebrauch von Herkunftssprachen in Kin-
dertagesstätten untersucht. In der Erhebung wird nach den verwendeten Spra-
chen, den Personen, mit denen diese Sprachen gesprochen werden, der
Häufigkeit und dem Einsatz von Angestellten der Einrichtung als Dolmet-
scher gefragt. Der Fragebogen wurde an 173 Kindertagesstätten der Vereini-
gung Hamburger Kindertagesstätten in Hamburg und 148 Kindertagesstätten
der Arbeiterwohlfahrt in Hamburg, Brandenburg und Bayern versandt. Diese
Bundesländer wurden ausgewählt, um Einrichtungen aus verschiedenen
demografischen Kontexten in die Umfrage einzubeziehen. Der Fragebogen
richtete sich an die Leitungen der Einrichtungen, die zur Situation in der Kin-
dertagesstätte Auskunft geben sollten. Der Rücklauf aus den AWO-Kinderta-
gesstätten betrug 61% (n=91), von den 178 Kindertagesstätten der „Vereini-
gung“ füllten 96 den Fragebogen aus (55%). Insgesamt haben also 187 von
321 angeschriebenen Kindertagesstätten geantwortet, woraus sich insgesamt
ein Rücklauf von 58% ergibt. 44% der angeschriebenen Einrichtungen
(n=142) gaben an, dass in ihnen der Gebrauch anderer Sprachen vorkommt,
16% (n=52) der 321 Einrichtungen geben eine „tägliche“ oder „wöchentliche“

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 195
Verwendung anderer Sprachen an. In 18% (n=58) des Gesamtsamples wer-
den Mitarbeiter „häufig“ oder „immer mal wieder“ als Dolmetscher einge-
setzt. Kommunikation in den Herkunftssprachen gehört also beileibe nicht in
allen Kindertagesstätten zum Alltag; vielmehr sind es bestimmte Einrichtun-
gen, die in besonderer Weise durch Mehrsprachigkeit geprägt sind. In diesen
Einrichtungen kommt den Sprachpotenzialen der Mitarbeiter eine besondere
Bedeutung zu.

2.2 Rechtliche Aspekte

Die soziodemografischen Fakten zeigen, dass allein aufgrund geringer


Deutschkenntnisse in bestimmten Gruppen ein Bedarf an Kommunikation in
den Herkunftssprachen entsteht. Ein Bedarf entsteht jedoch auch aufgrund
rechtlicher und ethischer Erwägungen (Meyer 2009, 2010). Solche Aspekte
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von Mehrsprachigkeit sind in der Bundesrepublik bisher wenig diskutiert


worden. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass lange Zeit die überwiegen-
de Mehrheit der Deutschen inklusive der politisch Verantwortlichen der
Auffassung war, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die Debatte um
rechtliche Aspekte von sprachlicher Vielfalt ist daher vergleichsweise unter-
entwickelt. Ein Blick in die Rechtssprechung der EU oder Großbritanniens,
aber auch eine Beschäftigung mit den rechtlichen Anforderungen an die ärzt-
liche Aufklärungspflicht macht jedoch deutlich, dass in bestimmten Zusam-
menhängen die Pflicht besteht, Kommunikation in anderen Sprachen zu
ermöglichen.
Die Europäische Union hat im Jahre 2000 mit der Antirassismusrichtlinie
2000/43/EG alle Mitgliedsländer verpflichtet, bis zum Jahre 2003 Standards
gegen Ungleichbehandlungen aufgrund von „Rasse“ oder ethnischer Herkunft
zu schaffen. Ziel der Richtlinie ist es, die Entwicklung demokratischer und
toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unter-
schied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen.
In der Bundesrepublik wurde die Richtlinie im Jahre 2006 mit dem „Allge-
meinen Gleichbehandlungsgesetz“ (AGG) umgesetzt. Dieses enthält keinen
direkten Bezug zu Mehrsprachigkeit oder dem Problem geringer Deutsch-
kenntnisse. Ein solcher Bezug lässt sich allerdings über das in Deutschland
noch kaum diskutierte Konzept der ‘reasonable accommodation’ herstellen.
Hiernach kann es eine Diskriminierung darstellen, wenn Organisationen auf
die besonderen Bedürfnisse bestimmter Gruppen nicht eingehen, obwohl dies
möglich wäre. Dieser Ansatz liegt der Antidiskriminierungsgesetzgebung im

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196 Bernd Meyer

anglo-amerikanischen Raum zugrunde, etwa dem britischen „Race Relations


(Amendment) Act 2000“, mit dem öffentliche Stellen gesetzlich verpflichtet
werden, im Sinne eines ‘Mainstreaming’ alle Verfahren und Prozesse kontinu-
ierlich auf ihre Auswirkungen auf verschiedene ethnische Gruppen hin zu un-
tersuchen. Nach außen gerichtetes Verwaltungshandeln unterliegt damit nicht
nur einem Diskriminierungsverbot, sondern ist auch darauf zu überprüfen, ob
mit ihm Gleichstellung gefördert wird. Sofern Institutionen Mehrsprachigkeit
nicht berücksichtigen und hierdurch keine angemessenen Dienste für Perso-
nen mit geringen Kenntnissen der Landessprache gewährleisten können, lässt
sich dies – jedenfalls sofern die Ressourcen eine Berücksichtigung erlauben
würden – durchaus als eine institutionelle Diskriminierung werten. Übertra-
gen auf Deutschland würde dies bedeuten, dass in Städten wie Hamburg oder
Berlin Behörden und Sozialversicherungsträger zumindest die Sprachen grö-
ßerer Migrantengruppen berücksichtigen müssten, um diesen eine gleichbe-
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr

rechtigte Teilhabe zu ermöglichen, da sie in besonderer Weise verpflichtet


sind, den Zugang zu ihren Leistungen für alle Bevölkerungsgruppen zu er-
möglichen.
Dem Ansatz der ‘reasonable accommodation’ wie auch der Antirassismus-
richtlinie 2000/43/EG liegt also der Gedanke zugrunde, die Bedürfnisse aller
wesentlichen Gruppen zu berücksichtigen. Dieser Gedanke gleicher Teilhabe
ist im deutschen AGG sowie in der Diskussion um den Diskriminierungs-
schutz kaum aufgegriffen worden. Die europarechtliche Vorgabe bindet aller-
dings zumindest die Behörden der Bundesrepublik, so dass diese es als ihre
Pflicht ansehen könnten, Barrieren nach Möglichkeit abzubauen.
Der Abbau von Barrieren wird jedoch auf deutscher Seite nicht nur durch
mangelnden politischen Willen, sondern auch durch bestehende Rechtsvor-
schriften behindert, insbesondere durch den § 23 des Verwaltungsverfahrens-
gesetzes. Dieser schreibt für alle Verwaltungsakte verbindlich die Verwen-
dung des Deutschen vor. Entsprechende Vorgaben existieren auch für den
juristischen Bereich. Die bisherige behördliche Auslegung dieses Paragrafen
bürdet den Bürgern die Überwindung der Sprachbarriere auf; sie müssen für
Dolmetscher und Übersetzer ggf. selbst zahlen. So kommt es dazu, dass ein
Paar, das in Hamburg auf Englisch heiraten möchte, auf eigene Kosten einen
Dolmetscher mitbringen muss, während derselbe Akt auf Niederdeutsch (Aus-
nahmeregelung für lokale indigene Sprachen) durch entsprechend kompetente
Standesbeamte selbst durchgeführt wird – ein Provinzialismus, den sich das
Tor zur Welt offenbar leisten kann. Interviews mit mehrsprachigen Behör-
denangestellten zeigen zudem, dass die Verpflichtung auf die Amtssprache

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 197
Deutsch auch in der mündlichen Kommunikation mit Klienten unterstellt
wird. Die Mitarbeiter gehen davon aus, dass andere Sprachen neben dem
Deutschen eigentlich nicht verwendet werden dürfen (Meyer 2009, S. 44).
Warum aber sollte gesetzlich festgelegt sein, in welcher Sprache eine telefoni-
sche Terminabsprache zwischen einem Sachbearbeiter und einem Klienten
stattzufinden hat? Die Wahl der Sprache sollte sich allein daran orientieren,
das Verwaltungshandeln effektiv zu gestalten. Eine strikte Festlegung auf das
Deutsche auch in der mündlichen Behördenkommunikation steht dem entge-
gen. Würden Angestellte der Vorschrift folgen, so müssten sie selbst für eine
Terminabsprache in einer anderen Sprache einen Dolmetscher bestellen und
vom Kunden bezahlen lassen.

Ein weiterer Bereich, in dem herkunftssprachliche Kommunikation nicht


einfach als individuelles, folkloristisches Bedürfnis von Einwanderern abge-
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tan werden kann, sind alle Gespräche, die in Verbindung mit der ärztlichen
Aufklärungspflicht stehen (Meyer 2004). Die Aufklärung des Patienten ist
eine Berufspflicht des Arztes. Eine Behandlung darf nur dann erfolgen, wenn
nach der erforderlichen Aufklärung durch den Arzt der Patient in die Be-
handlung einwilligt. Diese Aufklärung muss durch den Arzt selbst erfolgen.
Im Zweifel ist der Arzt verpflichtet nachzuweisen, dass er seiner Aufklä-
rungspflicht nachgekommen ist. Hierzu hat der Arzt zu dokumentieren, dass
er den Patienten persönlich aufgeklärt hat. Die Aufklärung des Patienten
durch nichtärztliches Personal ist unzulässig. Ein Arzt muss sich im Ge-
spräch mit einem Patienten darüber vergewissern, dass dieser die Informati-
onen verstanden hat (Amtsgericht Leipzig v. 30.5.2003, in: Medizinrecht
2003, S. 582). Hierzu gehört es auch, sich zu vergewissern, dass der Patient
die deutsche Sprache beherrscht, sofern die Aufklärung in dieser vorgenom-
men wird (OLG Oldenburg v. 12.6.96, in: Versicherungsrecht 1996, S. 978;
OLG Nürnberg v. 28.6.1995, in: Medizinrecht 1996, S. 213). Besteht Unsi-
cherheit darüber, ob der Patient das Deutsche beherrscht, muss der Arzt eine
„sprachkundige Person“ hinzuziehen (OLG Karlsruhe v. 2.8.1985, in: Versi-
cherungsrecht 1997, S. 241). Über die Frage, ob und inwieweit die zum
Übersetzen herangezogene Person beide Sprachen beherrschen muss, und
inwieweit sich der Arzt über diesen Sachverhalt zu vergewissern hat, scheint
keine Rechtsprechung vorzuliegen. Verschiedene Urteile, die jeweils Fragen
der Haftung des Arztes wegen unterlassener bzw. mangelhafter Aufklärung
betrafen, befassen sich jedoch mit Sprachproblemen des Arztes im Aufklä-
rungsgespräch. Das Amtsgericht Leipzig (Urteil vom 30.5.2003, 17 C 344/03)
entschied, ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch sei nicht möglich, wenn

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198 Bernd Meyer

der aufklärende Arzt erhebliche Schwierigkeiten hat, sich in der deutschen


Sprache auszudrücken. Diese Schwierigkeiten erkannte das Gericht darin,
dass der Arzt als Zeuge vor Gericht „erkennbar immer wieder nach dem
passenden Begriff dafür suchte, was er ausdrücken wollte“. Demnach wären
Grundkenntnisse der Sprache, in der ein Aufklärungsgespräch geführt wird,
nicht ausreichend. Die am Aufklärungsgespräch beteiligten Personen müs-
sen sich vielmehr fließend ausdrücken können. Für Personen, die in einem
Aufklärungsgespräch als Dolmetscher tätig werden, müsste also ebenfalls
gelten, dass sie sich in beiden Sprachen fließend ausdrücken können.
Bislang geht die Rechtsprechung in der Bundesrepublik jedoch noch davon
aus, ein Arzt genüge seiner Aufklärungspflicht, wenn er zu einem Aufklä-
rungsgespräch sprachkundige Laien als Dolmetscher hinzuzieht, etwa Pflege-
personal oder Reinigungskräfte. Damit werden unterschiedliche Maßstäbe an
die zweisprachigen Kompetenzen von Ärzten und Behelfsdolmetschern ange-
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr

legt. Während von Ärzten mit anderer Muttersprache eine hohe Kompetenz
im Deutschen erwartet wird, reicht für Behelfsdolmetscher irgendeine Art von
Zweisprachigkeit aus. Diese Rechtsprechung unterstellt relativ optimistisch,
dass die Beteiligung solcher Ad-hoc-Dolmetscher die Verständigung zwi-
schen Arzt und Patient in jedem Fall verbessert und nicht zusätzlich behindert.
Immerhin verpflichtet sie aber ganz eindeutig Ärzte in bestimmten Fällen
dazu, eine Kommunikation in anderen Sprachen als dem Deutschen zu ermög-
lichen, wenn Patienten des Deutschen nicht ausreichend mächtig sind.

2.3 Wirtschaftliche Beziehungen zu den Herkunftsregionen

Der wirtschaftliche Nutzen herkunftssprachlicher Kenntnisse wird nicht erst


seit den Arbeiten von Esser (2006a, b, c) kontrovers diskutiert. Unbestritten ist
dabei, dass Sprachenkenntnisse in bestimmten Kontexten zu einer „commodi-
ty“ werden können (Budach/Roy/Heller 2003). Zu klären ist jedoch, worin der
Nutzen im konkreten Fall liegt und welche Schwierigkeiten durch die Nut-
zung entstehen können. Darüber hinaus muss auch die Metaphorisierung öko-
nomischer Konzepte in sprachbezogenen Analysen, wie sie für die Arbeiten
von Bourdieu kennzeichnend ist („kulturelles Kapital“), hinterfragt werden
(Grin 1996, S. 30; Ricento 2005). Grin (1996, S. 36) etwa betont, dass ökono-
mische Theorien bestimmte sprachbezogene Phänomene kaum erfassen kön-
nen, wie z.B. die Einstellungen („attitudes“) von Sprechern zu den von ihnen
gesprochenen Sprachen.
Esser sieht den Wert von herkunftssprachlichen Kompetenzen nur in bestimm-
ten Segmenten des Arbeitsmarktes, etwa bei Übersetzern, oder der – zahlen-

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 199
mäßig geringen – Gruppe der transnationalen Unternehmer mit ökonomischen
Beziehungen zum jeweiligen ethnischen Kontext und zur jeweiligen Aufnah-
megesellschaft (Esser 2006c, S. 533).
Für die generelle berufliche Platzierung von Migranten hingegen sind Essers
Arbeiten zufolge Kenntnisse einer Herkunftssprache irrelevant, entscheidend
sind vielmehr Kenntnisse der jeweiligen Landessprachen bzw. des Deutschen
(Esser 2006a, S. 92ff.). Lediglich wenn eine Herkunftssprache also „einen
besonderen regionalen oder globalen Wert hat, der die Produktivität eines be-
reits höheren Humankapitals dann noch einmal steigert“ (ebd., S. 93), könne
Bilingualität einen positiven Effekt auf die entscheidenden Integra­tions-
indikatoren – Bildung und Arbeitsmarkt – haben. Esser (2006b, S. 550) inter-
pretiert seine Ergebnisse konsequent dahingehend, dass Integration nicht über
die kollektive Anerkennung ethnischer Gruppen, sondern über den individuel-
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len Zugang zu „relevanten Funktionssystemen“ (Bildung, Arbeitsmarkt) ver-


laufe. Hierfür seien „ethnische Ressourcen, darunter die muttersprachlichen
Kompetenzen“ (ebd., S. 551) nahezu wertlos. Dagegen wurde eingewendet
(Meyer 2009, S. 23), dass die sprachlich gut integrierten Einwanderer mit ih-
rem mehrsprachigen Potenzial eine wichtige Brückenfunktion erfüllen, die
jedoch informell genutzt wird und daher in ihrem Wert schwer zu erkennen ist
– ein Mitarbeiter, der informelle Dolmetschleistungen erbringt, bekommt da-
für nicht mehr Lohn und wird auch nicht vor allem wegen dieses Kommuni-
kationspotenzials eingestellt. Der ‘Wert’ des mehrsprachigen Potenzials er-
scheint daher insgesamt gering, ist aber für bestimmte Kontexte von großer
Bedeutung.

Auch seitens der EU wird Mehrsprachigkeit in ihrer Funktion für den sozialen
Zusammenhalt und die Kommunikation der Bürger mit den europäischen Ins-
titutionen sowie als wichtiger Faktor für die Erhöhung der Wettbewerbsfähig-
keit der europäischen Wirtschaft gesehen. Im Rahmen der ELAN-Studie
(2006, „Effects on the European Economy of Shortages of Foreign Language
Skills in Enterprise“) ließ die Generaldirektion für Bildung und Kultur Effekte
mangelnder Fremdsprachenkenntnisse auf die europäische Wirtschaft unter-
suchen. Die Studie kann als der erste systematische Versuch gelten, den öko-
nomischen Nutzen von Sprachkenntnissen für europäische Unternehmen zu
quantifizieren. In ihr wurden 2 000 exportorientierte kleine und mittlere Unter-
nehmen (KMU) aus 29 europäischen Ländern (inkl. EU-Aufnahmekandidaten)
in Bezug auf die Relevanz von Fremdsprachenkenntnissen, entgangenen Auf-
trägen aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und die Prognosen für den zu-

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200 Bernd Meyer

künftigen Sprachbedarf aufgrund der eigenen Exportpläne befragt. Zusätzlich


wurden auch 30 multinationale Unternehmen sowie für jedes Land jeweils
eine Informantengruppe interviewt.

Die Studie legt nahe, dass die Investitionen der KMU in Sprachen bzw. sprach-
bezogene Strategien, ihre Exportorientierung und ihre Produktivität zusam-
menhängen. Zudem wurde festgestellt, dass 11% der befragten Unternehmen
schon die Erfahrung gemacht hatten, dass ihnen ein Auftrag aufgrund man-
gelnder Sprachenkenntnisse entgangen war. Das Volumen der Aufträge ran-
gierte dabei zwischen 1 Mio. € und 13,5 Mio. €. Im Durchschnitt ergab sich
über einen Zeitraum von drei Jahren für jedes der Unternehmen ein Verlust
von 325 000 €. Dies bezieht jedoch lediglich die Fälle ein, in denen die Unter-
nehmen selbst die Sprachenproblematik als Ursache für den Misserfolg ansa-
hen. Die Studie zeigt weiter, dass vielen KMU die Sprachenproblematik be-
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wusst ist. Dies manifestiert sich vor allem darin, dass in 15 von 29 Ländern
mindestens die Hälfte der Befragten in irgendeiner Weise Maßnahmen ergrif-
fen haben, um die Kommunikation mit Kunden und Zulieferern im Ausland
zu verbessern oder effektiver zu gestalten. Zu den häufig genannten Maßnah-
men gehören die Einstellung von Muttersprachlern, die Anpassung von Web-
seiten, der Einsatz von Dolmetschern und Übersetzern sowie Sprachkurse für
die Mitarbeiter.

Wie erwartet spielt Englisch eine große Rolle für alle Unternehmen. Vor al-
lem große, multinationale Unternehmen versuchen, Englisch als Firmenspra-
che einzuführen. Zudem geben 19% der KMU, die aufgrund von Sprachpro-
blemen Aufträge verloren hatten, an, dass mangelnde Englisch-Kenntnisse in
Wort und Schrift die Ursache dafür gewesen seien (ELAN 2006, S. 18). Ne-
ben Englisch werden jedoch auch eine ganze Reihe anderer Sprachen als
Grund genannt: Deutsch, Französisch, Italienisch, Russisch und Chinesisch.
Zudem gaben 38% der Befragten in der Studie auch mangelnde Kompetenz
in „other language situations“ als Grund an, wobei unklar bleibt, ob in dieser
Kategorie andere Kommunikationssituationen oder aber andere Sprachen als
die genannten zusammengefasst wurden (möglicherweise beides). Somit
könnte auch noch eine Reihe anderer Sprachen für exportorientierte KMU
eine Rolle spielen.

Die Bedeutung des Englischen für die globale wirtschaftliche Kommunika­


tion wird durch die ELAN-Studie relativiert. Gerade die KMU versuchen, sich
sehr gezielt auf die kommunikativen Bedürfnisse und Kompetenzen von Part-

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 201
nern und Kunden einzustellen. Dies erfordert Strategien, die auf einzelne
Märkte bzw. Länder oder auch bestimmte Kunden oder Partnerfirmen zuge-
schnitten sind. Dabei sind Sprachen wie Deutsch, Russisch oder Polnisch in
osteuropäischen Ländern beispielsweise gefragter als Englisch. Die Autoren
stellen deshalb – halb bedauernd – fest: „It is surprising that English is not
more widely spread“ (ELAN 2006, S. 19). Weiter heißt es:
Much depends on the multilingual receptivity of the country concerned, as
well as geographical and cultural proximity: Russian is used in Bulgaria; Span-
ish is used to export to Portugal; French is used in Spain and Italy. (ebd.)
Der vielfältige Bedarf an Sprachen führt durchschnittlich bei 40% der befrag-
ten KMUs dazu, Mitarbeiter mit besonderen Sprachkenntnissen einzustellen;
bei deutschen Unternehmen lag der Anteil sogar bei 59%. Der Anteil der deut-
schen Firmen, die solche Mitarbeiter unbefristet (also nicht nur projektbezo-
gen) einstellten, lag bei 44%. Wiederum wurden von den Unternehmen, die
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diese Strategie verfolgen, neben den wichtigen europäischen Sprachen (Eng-


lisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Russisch) auch in einem hohen Maße
andere Sprachen angegeben (im Verhältnis 60 : 40), die jedoch in der Publika-
tion nicht weiter aufgeschlüsselt werden. Mehr als ein Drittel der Firmen ha-
ben somit gezielt Mitarbeiter mit Kenntnissen in den kleineren europäischen
oder aber außereuropäischen Sprachen rekrutiert. Auch für die Zukunft planen
die KMUs vor allem mit den großen europäischen Sprachen; bei etwa 25%
sollen jedoch auch Sprachen wie Arabisch, Chinesisch oder Portugiesisch im
Mittelpunkt stehen. Ausgehend von dem differenzierten und vielfältigen Bild
des Sprachgebrauchs in KMUs empfiehlt die Studie schließlich, im Betrieb
vorhandene Sprachenkenntnisse besser zu erfassen und zu nutzen, insbeson-
dere auch die von Einwanderern.
Für die Beschreibung des Potenzials der Herkunftssprachen Türkisch und
Russisch bezüglich internationaler Geschäftsbeziehungen wurde in der Unter-
suchung von Meyer (2009, S. 46) ein Online-Fragebogen entwickelt, der mit
individuellen E-Mails an in Deutschland ansässige Firmen und Multiplikato-
ren beworben wurde. In den Monaten Juli und August 2008 füllten 65 Firmen
den Fragebogen korrekt aus; mehrfaches Ausfüllen sowie inkohärente Einträ-
ge kamen 25-mal vor und wurden aufgrund des Inhalts oder über einen Ver-
gleich der IP-Adressen der Absender identifiziert und aussortiert. Die teilneh-
menden Firmen wurden gebeten, ihre Branche zu charakterisieren, sie sollten
ungefähre Angaben zur Zahl ihrer Mitarbeiter und ihrer Bilanzsumme machen
(gemäß KMU-Definition der EU) und angeben, ob sie in die Türkei und/oder
die Russische Föderation Geschäftsbeziehungen unterhalten.

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202 Bernd Meyer

Branche Anzahl
Industrietechnik 2
Gastgewerbe 1
Dienstleistung 6
Unternehmens-/Personalberatung 6
Spedition und Handel 6
Rechtsanwalt 3
Ingenieurwesen 4
Bildungssektor 6
Beratung 1
Soziales 1
Handwerksberufe 2
Energiewesen 2
Medizin 4
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Bauwesen 4
Textilprüfung 1
Politik 1
Musikproduktion 1
Automobilbranche 1
Informationstechnologie 3
Umweltschutz 1
Wirtschaft 3
Finanzbranche 4
Möbel 1
Biometrie 1
Industrietechnik 2
Gesamt: 65

Tab. 1: Übersicht über die Teilnehmer der Firmenbefragung

Tabelle 1 zeigt das Spektrum der teilnehmenden Firmen: Sowohl Handwerks-


firmen oder Speditionen, als auch Rechtsanwälte, Möbelhändler und Unter-
nehmensberatungen sowie Automobilhersteller sind vertreten. Auch hinsicht-
lich der Größe der Betriebe und ihres Umsatzes decken die 65 Firmen ein
breites Spektrum ab. Wider Erwarten haben auch eine Reihe (ca. ein Drittel)
großer Betriebe mit mehr als 250 Angestellten und einem jährlichen Umsatz-
volumen von über 43 Mio. € an der Umfrage teilgenommen. Die relativ kleine
Teilnehmerzahl und die breite Streuung bei den Branchen und Firmengrößen
mögen die Aussagekraft der Erhebung schwächen. Die Tatsache, dass ein
breites Spektrum an Branchen, Sektoren und Firmentypen teilgenommen hat,

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 203
weist aber auch darauf hin, dass Essers Überlegungen zur marginalen Bedeu-
tung von Herkunftssprachen (nur für bestimmte Berufe, Beschränkung auf
„transnationale Unternehmer“) so nicht zutreffend sind. Die Unternehmen,
die an der Befragung teilgenommen haben, waren keine transnationalen Ni-
schenbetriebe, sondern zum überwiegenden Teil deutsche oder internationale
Unternehmen unterschiedlicher Größe und Ausrichtung, die Geschäftsbezie-
hungen – unter anderem – in die Herkunftsregionen unterhalten. Ihren Bedarf
an Kommunikation in den Herkunftssprachen, also den Sprachen ihrer Kun-
den und Partner, deckten fast alle Firmen zumindest teilweise durch eigene
mehrsprachige Mitarbeiter (Tab. 2). Gut ein Viertel der Firmen gaben zudem
an, dass die Partnerfirma auf Deutsch oder Englisch kommuniziert. Nur gut
9% der Firmen nahmen zusätzlich externe Sprachmittler zu Hilfe.

Externe Dolmetscher und Übersetzer 9,23%


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Eigene Mitarbeiter 96,92%


Partnerfirma auf Deutsch oder Englisch 27,69%
Andere 6,15%

Tab. 2: Wer kommuniziert wie? (Online-Umfrage Wirtschaft, n=65)

85% der Firmen gaben an, dass die eingesetzten Mitarbeiter Muttersprachler
der verwendeten Sprachen sind. Sprachkurse und universitäre Ausbildungen
wurden von 38% der Firmen als weitere Erwerbswege genannt. Auch bei
dieser Frage waren Mehrfachnennungen zulässig, sodass eindeutige Zuord-
nungen nicht ohne weiteres möglich sind. Festzuhalten ist, dass Herkunfts-
sprachen in den Firmen sowohl von Muttersprachlern als auch von Zweit-
sprachlern verwendet werden, der Anteil der Muttersprachler jedoch deutlich
überwiegt. Wie schon in der ELAN-Studie herausgearbeitet wurde, setzen
also die befragten Unternehmen Sprachkurse, Verpflichtung externer Sprach-
mittler und den Einsatz zweisprachiger Angestellter im Verbund ein, in dieser
Erhebung jedoch mit einer deutlichen Bevorzugung der muttersprachlichen
Mitarbeiter. Auch im Zusammenhang der wirtschaftlichen Beziehungen zu
den Herkunftsregionen kann also die eingangs gestellte Frage nach einem
Bedarf an Kommunikation in den Herkunftssprachen bejaht werden. Die-
ser Bedarf wird auch durch Personen gedeckt, die Herkunftssprachen im
Rahmen ihrer Ausbildung oder später erlernt haben, etwa im Rahmen eines
universitären Studiums. Häufiger sind es jedoch Personen mit mutter- bzw.
familiensprachlichen Kenntnissen, die die Geschäftskommunikation ermög-
lichen. Wie in der Untersuchung jedoch auch festgestellt wurde, ist der Ein-

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204 Bernd Meyer

satz dieser Personen nicht immer unproblematisch. So gaben Firmen an, dass
Wortschatz, Fachsprache und kommunikative Kompetenzen der betreffenden
Mitarbeiter nicht ausreichend für die Aufgaben sind, die ihnen aufgrund ihrer
Sprachpotenziale zufallen. Es scheint also so zu sein, dass nicht das struktu-
relle Sprachwissen an sich, sondern das mit dem Sprachgebrauch zusammen-
hängende Wissen der Bereich ist, in dem Unternehmen Defizite im sprachli-
chen Handeln ihrer Mitarbeiter vermuten. Den Mitarbeitern fehlt also nicht
einfach das Wissen über sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten an sich, son-
dern auch oder insbesondere das Wissen, das für die Kommunikation in be-
stimmten fachlichen Kommunikationsbereichen benötigt wird. So gaben Fir-
men z.B. an, dass sie die Unsicherheit der Mitarbeiter mit Kenntnissen einer
Herkunftssprache, die mangelnde Aktualität ihrer Sprachbeherrschung, oder
auch den Einblick in vertrauliche Themen außerhalb der Mitarbeiterkompe-
tenz für problematisch hielten.
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3. Mehrsprachige Praxis – wie werden die Potenziale im


Migrationskontext genutzt?

Wie Kommunikation in mehrsprachigen Konstellationen verläuft und vor


welche Herausforderungen Beteiligte dabei gestellt werden, wird im Folgen-
den anhand eines Beispiels illustriert. Das Ziel ist, einige der Charakteristika
dieser Kommunikationspraxis sowie mit ihr verbundene Probleme herauszu-
arbeiten. Generell lassen sich drei Konstellationen unterscheiden, in denen
mehrsprachige Kommunikation praktiziert werden kann:

1) Muttersprachler – Nichtmuttersprachler
2) Nichtmuttersprachler – Nichtmuttersprachler
3) Muttersprachler – Muttersprachler

In allen drei Konstellationen lassen sich empirisch verschiedene Ausprägun-


gen mehrsprachiger Kommunikation beobachten. So können etwa Mutter-
sprachler und Nichtmuttersprachler des Deutschen auf Deutsch miteinander
kommunizieren, sie können aber auch einen Mittler einschalten oder auf eine
lingua franca, d.h. einen sprachlichen Notbehelf oder eine gemeinsame dritte
Sprache, ausweichen. Kombiniert man die verschiedenen Aktantenkonstel­
lationen mit den bisher bekannten Formen von mehrsprachiger Kommunika-
tion, so ergibt sich folgende Matrix:

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 205

Muttersprachler – Nichtmutter- Muttersprachler –


Nichtmutter- sprachler – Nicht- Muttersprachler
sprachler muttersprachler
Kommunikation in
× × ×
der Mehrheitssprache
lingua franca × × ×
Dolmetschen und
× × nicht anwendbar
Übersetzen
Rezeptive
× × nicht anwendbar
Mehrsprachigkeit
Sprachmischung × × ×

Tab. 3: Übersicht zu Konstellationen mehrsprachiger Kommunikation (‘×’ = ist möglich)


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Zusätzliche Dimensionen, die auf diese Kombinationsmöglichkeiten einwir-


ken, sind:
–– der jeweilige Grad der Sprachbeherrschung in den involvierten Sprachen
bzw. die Verwendung von Mehrsprachigkeitssurrogaten;
–– die durch den jeweiligen Handlungsraum vorgegebenen Bedingungen, Be-
schränkungen, Normen, aber auch Möglichkeiten (z.B. in Behörden mit
einer gesetzlich festgeschriebenen Amtssprache), die sich etwa in der ex-
pliziten und impliziten Sprachpolitik von Unternehmen und öffentlichen
Einrichtungen manifestieren;
–– historische Dimensionen, die im Sprachbewusstsein der Öffentlichkeit, der
gesellschaftlichen Sprachbildung (Sprachwissen) und dem Grad an mehr-
sprachiger Normalität bzw. der Menge an mehrsprachigen Kommunika­
tionsangeboten erkennbar werden.

So kann es etwa dazu kommen, dass zwei Muttersprachler derselben Sprache


auf eine Verkehrssprache bzw. Amtssprache ausweichen müssen (ohne Rück-
sicht auf ihre tatsächliche Kompetenz in dieser Sprache), weil sie aufgrund
gesetzlicher Bestimmungen dazu gezwungen werden. Ebenso ist denkbar,
dass Migranten mit verschiedenen Muttersprachen in der Mehrheitssprache
des Gastlandes kommunizieren, jedoch auf der Basis unterschiedlicher
Sprachbeherrschung, so dass Sprachmischungen auftreten oder der Wechsel
in eine lingua franca erforderlich wird.

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206 Bernd Meyer

Das folgende Beispiel stammt aus dem DFG-Projekt „Dolmetschen im


Krankenhaus“, das von 1999 bis 2005 in zwei Förderphasen am Hamburger
Sonderforschungsbereich „Mehrsprachigkeit“ durchgeführt wurde. In dem
Projekt wurden Arzt-Patienten-Gespräche in einem Hamburger Kranken-
haus aufgezeichnet. Diese Audioaufnahmen wurden verschriftlicht (tran-
skribiert).1

Fünf der Gespräche in dieser Datensammlung wurden mit dem Patienten


Herrn Gomes, einem aus Portugal stammenden Rentner, geführt. Herr Go-
mes war mit Anfang Zwanzig nach Deutschland gekommen und hatte bis
zum Renteneintritt als Hilfsarbeiter in verschiedenen Branchen gearbeitet.
Seit seiner Übersiedelung nach Deutschland hatte er immer allein gelebt. Sei-
ne sozialen Kontakte beschränkten sich auf einige in Hamburg lebende Ver-
wandte und Landsleute. Zum Zeitpunkt des Gesprächs lebte er mehr als drei-
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ßig Jahre in Deutschland, hatte jedoch wenig Kontakt zu Muttersprachlern


des Deutschen.

Herr Gomes kam ins Krankenhaus, weil er in seiner Wohnung plötzlich be-
wusstlos geworden war. Im Krankenhaus wurden mehrere Untersuchungen
durchgeführt, um die Gründe für die Ohnmacht und den Sturz herauszufin-
den. Herr Gomes lag auf einer internistischen Station, wurde jedoch auch von
einer Neurologin untersucht, da er über Depressionen klagte. Aus dem Anam­
nese-Gespräch mit der Neurologin, das etwa 45 Minuten dauerte, stammt der
folgende Transkript-Ausschnitt. Die Teilnehmer des Gesprächs sind die Neu-
rologin Frau Ackermann (A), der Patient Herr Gomes (P) und die portugie-
sischsprachige Krankenschwester Micaela (D), die in Deutschland aufge-
wachsen ist und in Hamburg ihre Ausbildung gemacht hat. Bezogen auf die
Aktantenkonstellation handelt es sich also um einen Mischtyp: Herr Gomes
spricht nicht-muttersprachliches Deutsch mit einer deutschen Ärztin und
muttersprachliches Portugiesisch mit der Krankenschwester, die in einer por-
tugiesischen Familie in Deutschland aufgewachsen ist. Die Sprachenkennt-
nisse der Krankenschwester sind unterschiedlich ausgebaut: Deutsch ist die
dominante Sprache von Schule, Ausbildung, Beruf und Freundeskreis; Portu-
giesisch ist die Familiensprache. Das Gespräch fand im Krankenzimmer
statt; es waren keine anderen Patienten anwesend. Der Ausschnitt beginnt
nach der Begrüßung am Anfang des Gesprächs.

1
Die Transkriptionen sind online verfügbar unter http://www.exmaralda.org/corpora/sfb_k2.html
(Stand: 04/2011).

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 207
Ausschnitt aus dem Gespräch mit Herrn Gomes (DiK, Nr. 25)

Originaläußerung Nachträgliche Übersetzung


1 D Ela, ela (é) • ehm médica Sie, sie (ist) • ähm Ärztin
da neurologia. der Neurologie.
2 P ((unverständlich, 1s))˙
3 D Eh é um médico dos • ner- Äh das ist ein Nervenarzt,
vos, • eh médico da cabeça, • äh Kopfarzt, Nervenarzt.
dos nervos.
4 P (Ai) sim˙ (Ach) so
5 A ((1s)) Jà˙
6 • Man hat mich gebeten,
nochmal nach Ihnen zu
gucken, weil äh • Sie
sagten, • dass wohl so •
depressive • • Störungen •
da sind.
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7 P Ja, stimmt.
8 P Ja.
9 A Hm˙
10 • Seit wann ist das denn
so?
11 P • • • Seit…
12 ((3,5s)) Als ich gefalle
hab.
13 • D/ desde que eu caí. • S/ seit ich gefallen bin.

14 D • Seit er hingefallen ist.


15 A Seitdem • ist (da)
Depression.
16 D (Seitdem)…
17 P Ja.
18 A Und vorher?
19 P ((1s)) Vor mehrmals äh
gewese, ja.
20 ((2s)) Hm aber/ mas ((2s))
äh jetz wer/ äh werd ein
bisschen mehr schlimm.
Aber...
21 A Hm˙
22 P E agora é mai/ mais pesado. Und jetzt ist es schl/
schlimmer.
23 D Ja, jetzt, jetzt fühlt er
sich auch • schlimmer.
24 Also jetzt findet er diese
Depressionen auch schlim-
mer.

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208 Bernd Meyer

25 A • • Ähm • seit wann • haben


Sie denn • ü/ überhaupt mit
• Stimmungsschwankungen •
zu tun?
26 D Há quanto tempo já você • Seit wann schon haben Sie/
tem/ ((1s)) que nota dife- bemerken Sie Unterschiede
renças assim no seu estar? so in Ihrem Befinden?
27 ((2s)) Assim, (que você t)… So, dass Sie h…

28 P Já há vários meses. Schon seit vielen Monaten.

29 D Já há mais tempo que agora Ist es schon länger her,


você tem eh depressão dass sie jetzt äh (richti-
(mesmo)? ge) Depressionen haben?
30 P (Há), há mais tempo. Seit, seit längerer Zeit.
31 Há vários, há vários meses. Seit vielen, seit vielen
Monaten.
32 D Schon länger, also das is
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schon n paar Monate her.


33 A Paar Monate.
34 Nich schon Jahre?
35 P ((1s)) Nee.
36 A Hm' hm'˙
37 Und • äh • • wie • sieht
das aus, diese •
Depression?
38 Was • äh • ist dann anders?
39 P Ja, eu perco a noção. Ja, ich verliere die
Besinnung.
40 (Eu) perco a noção. Ich verliere die Besinnung.

41 D • Er, er hat das Gefühl, er


wird so • • ohnmächtig,
dass er so • das Ganze
verliert so.
42 ((1s)) Mas você eh/ depres- Aber Sie äh/ Depressionen
são • • • é você tar/ ehm • dass Sie sin/ ähm traurig
tá triste. sind.
43 P É isso, tar triste por Genau, traurig sein, weil
estar só e, e depressivo, man allein und, und depres-
exactamente. siv ist, genau.
44 D • Ja, w/ ähm weil er sich
so alleine fühlt auch.
45 A Hm˙

In diesem Ausschnitt lassen sich vier Arten der Interaktion feststellen: zu-
nächst die direkte Interaktion zwischen Ärztin und Patient auf Deutsch
(Z. 6-12), zweitens ein partielles Dolmetschen, bei dem einzelne Äu­ßerungen

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 209
aus einem komplexen Redezug separat ins Deutsche übertragen werden
(Z. 18-24), drittens Redezüge, die unmittelbar von der Krankenschwester
komplett gedolmetscht werden (Z. 26-27), und viertens Frage-Antwort-Se-
quenzen, bei denen die Frage auf Deutsch gestellt, die Antwort jedoch zu-
nächst vom Patienten auf Portugiesisch gegeben und dann nachträglich von
der Krankenschwester gedolmetscht wird (Z. 37-41). Es wird also nicht der
Interaktionsmodus des nachzeitigen Dolmetschens mit einer geordneten Ver-
teilung der Redezüge praktiziert, sondern quasi von Fall zu Fall gedolmetscht
oder auch nicht. Die Krankenschwester mit Portugiesisch-Kenntnissen betei-
ligt sich dabei vor allem dann am Gespräch, wenn die sprachlichen Kompe-
tenzen des Patienten für die Hervorbringung oder Rezeption einer Äußerung
nicht ausreichen. Diese flexiblen Formen des Umgangs mit der teilweise
durchlässigen Sprachbarriere führen an verschiedenen Stellen zu inhaltlichen
Eingriffen und eigenständigen Äußerungen der dolmetschenden Kranken-
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schwester, die offensichtlich bestrebt ist, unklare oder unpassende Antworten


des Patienten diagnostisch verwertbar zu formulieren. So scheint etwa die
Antwort in Zeile 39 nicht zur ärztlichen Frage nach dem Charakter der De-
pression zu passen, sondern auf die Ohnmacht als Auslöser des Kranken-
hausaufenthaltes Bezug zu nehmen (Ja, eu perco a noção. (Eu) perco a
noção. ‘Ja, ich verliere die Besinnung. Ich verliere die Besinnung.’). In ihrer
deutschen Version versucht die Krankenschwester, eine passende inhaltliche
Bezugnahme zu konstruieren, indem sie Gomes' Umschreibung von Ohn-
macht (‘die Besinnung verlieren’) nicht als physischen, sondern als seeli-
schen Zustand interpretiert: Er, er hat das Gefühl, er wird so • • ohnmächtig,
dass er so • das Ganze verliert so (Z. 41). Solche inhaltlichen Eingriffe kön-
nen mit Bolden (2000) als aktive Beteiligung der dolmetschenden Person an
der Hervorbringung des diagnostisch relevanten Wissens verstanden werden.
Zu bedenken ist jedoch, dass diese Art der Ausgestaltung der Dolmetscher-
rolle ein erhebliches Fehlerpotenzial beinhaltet. Die Konkretionen oder Er-
läuterungen vager und unklarer Aussagen mögen vordergründig zu einer
Effektivierung der Kommunikation führen. Sie erfolgen jedoch immer auf
der Grundlage einer Interpretation der Ausgangsäußerung, die von der dol-
metschenden Person vor dem Hintergrund ihres eigenen Wissens- und Erfah-
rungshorizontes vorgenommen wird. Je nachdem, wie dieser beschaffen ist,
wird die zielsprachliche Version dann mehr oder weniger adäquat sein. Dass
die Dolmetschleistungen von Ad-hoc-Dolmetschern im Krankenhaus teil-
weise als sehr problematisch einzuschätzen sind, wurde in verschiedenen dis-
kursanalytischen Arbeiten dargestellt (Bührig/Meyer 2003, 2004; Meyer
2005; Bührig/Meyer 2009). Insbesondere die in Krankenhäusern, Schulen

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210 Bernd Meyer

und sozialen Einrichtungen verbreitete Praxis, Kinder und andere Familien-


angehörige als Dolmetscher einzusetzen, muss in Frage gestellt werden (Paw-
lack/Kliche/Meyer 2010).

4. Schlussfolgerungen

Essers Vermutung, „dass das ethnische Sozialkapital, jedenfalls was den Zu-
gang zu den beruflichen Positionen betrifft, keinen besonderen Wert besitzt“
(Esser 2006c, S. 534), ist plausibel. Die Förderung des Deutscherwerbs ist ein
wichtiges Mittel, um die Integration von Migranten in das deutsche Bildungs-
system und den Arbeitsmarkt zu verbessern. Was aber bedeutet dies für die
Kommunikation mit dem Patienten Herrn Gomes? Wie in diesem Beitrag ge-
zeigt wurde, ist es soziodemografisch unsinnig, ethisch fragwürdig und in
manchen Kontexten sogar rechtswidrig, auf der Verwendung des Deutschen
zu bestehen. Deutsch ist die wichtigste Umgangssprache in Deutschland, aber
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eben nicht die einzige. Andere Sprachen sind präsent, werden verwendet und
auch benötigt. Denn: Herr Gomes wird keinen Deutschintensivkurs mehr ab-
solvieren. Die Krankenschwester, die die Kommunikation mit ihm unterstützt,
ist jedoch auf die Mittlertätigkeit nicht vorbereitet und wird selbst auch nicht
institutionell unterstützt. Die fachfremde Tätigkeit des Dolmetschens, für de-
ren Ausübung andere ein Universitätsstudium absolvieren, führt sie nebenher
aus und ohne dass sie jemand fragt, ob sie dies überhaupt möchte. Sie hat
keine Fortbildungsmöglichkeiten, ihre eigentliche Arbeit bleibt liegen, eine
Honorierung der Dolmetschleistung ist nicht zu erwarten. Möglicherweise ist
sie sprachlich auch gar nicht zu besonderen Dolmetschleistungen in der Lage,
weil ihre Zweisprachigkeit unbalanciert ist und sich ihre sprachlichen Kompe-
tenzen im Deutschen und im Portugiesischen auf verschiedene Zweckberei-
che von Sprache beziehen. Der Translationskultur, die in Beispielen wie dem
hier präsentierten sichtbar wird, liegt eine naive Auffassung der Voraussetzun-
gen zugrunde, die für eine erfolgreiche sprachliche Vermittlung nötig sind
(Meyer et al. 2003).
Auch wenn es schwierig ist, Prognosen zur Vitalität der Herkunftssprachen
abzugeben: vor dem Hintergrund von „Super-Diversity“ (Vertovec 2006)
und „Transnationalisierung“ (Pries 2008) wird die sprachliche Vielfalt
Deutschlands auch in Zukunft vermutlich eher zu-, als abnehmen. Es wäre
falsch, mittels der alleinigen Fixierung auf die Förderung und Verbreitung
des Deutschen gegen diesen Trend zu arbeiten. Vielmehr müsste es darum
gehen, neue Verfahren und Standards zu entwickeln und die vorhandenen
kommunikativen Potenziale im Deutschen und in den Herkunftssprachen
daran zu messen.

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Herkunftssprachen als kommunikative Ressource? 211
Migranten setzen ihre Mehrsprachigkeit berufsbezogen ein, wo es sich ergibt,
und sie werden dies auch in Zukunft tun. Häufig wird der Kontakt zwischen
Einrichtungen oder Firmen und ihren Kunden erst durch die Beteiligung von
bilingualen Mittlern, Angestellten mit entsprechenden Sprachkenntnissen oder
durch andere Formen des kommunikativen Entgegenkommens möglich. Zu
bedenken ist jedoch, dass die Kenntnisse der Herkunftssprachen und des Deut-
schen nicht immer und für jeden Zweck ausreichend ausgebaut sind. In Kran-
kenhäusern, Schulen, aber auch in international ausgerichteten Firmen lässt
sich teilweise ein unreflektierter Umgang mit der Ressource Mehrsprachigkeit
feststellen. Verbesserungen können erreicht werden, indem unzeitgemäße
rechtliche Hürden in den Verwaltungen abgebaut, an spezifischen Tätigkeiten
orientierte Fortbildungsmöglichkeiten entwickelt und die organisatorischen
und personellen Rahmenbedingungen reflektiert werden. Das ideologisch mo-
tivierte Bestehen auf der Verwendung von bestimmten Sprachen müsste durch
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eine flexible, an gegenseitiger Verständigung orientierte Herangehensweise ab-


gelöst werden, wie sie ein Bankkaufmann, der in einem Hamburger Geldinsti-
tut angestellt ist, formuliert. Auf die Frage, ob denn die türkischsprachigen
Kunden alle mit ihm Türkisch sprächen, antwortet er:

Ich würde nicht sagen, dass die alle mit mir Türkisch sprechen. Es kommt
immer auf die Situation an. Wenn ich auf Türkisch angesprochen werde, dann
unterhalte ich mich mit dem Kunden auch auf Türkisch. Aber wenn der Kunde
sich mit mir auf Deutsch unterhalten möchte, dann mache ich das auch auf
Deutsch weiter. Je nach Situation. (Meyer 2009, S. 43)

Diese Flexibilität setzt allerdings voraus, dass Mitarbeiter über die entspre-
chenden Potenziale verfügen und die jeweiligen Aufgaben auch tatsächlich in
beiden Sprachen bewältigen können. Ob dies der Fall ist, kann nicht pauschal
beurteilt werden. Vielmehr müssen die spezifischen Anforderungen an berufs-
bezogene Kommunikation reflektiert werden. Je höher diese Anforderungen
sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass zusätzliche Maßnahmen ergriffen
werden müssen, damit Mitarbeiter in beiden Sprachen gleichermaßen zweck-
mäßig handeln können. Erst durch einen solchen berufsbezogenen Ausbau der
Zwei- und Mehrsprachigkeit aber werden Herkunftssprachen tatsächlich zu
einer kommunikativen Ressource.

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212 Bernd Meyer

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Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit


Wie Schüler über ihre und andere Sprachen denken

Abstract: Mehrsprachigkeit ist auch in Deutschland eine gesellschaftliche Realität.


Allerdings sind die verschiedenen Sprachen mit einem unterschiedlichen Prestige
ausgestattet. In diesem Beitrag werden Einstellungen gegenüber anderen Sprachen
und ihren Sprechern näher untersucht. Dazu werden zum einen die Daten einer bun-
desweit durchgeführten Repräsentativumfrage herangezogen, zum andern wird eine
Erhebung mit Schülern der 9. und 10. Klasse zu ihren Spracheinstellungen ausge-
wertet. Überwiegend positiv beurteilt werden Französisch, Italienisch, Spanisch
und Englisch, während insbesondere Migrantensprachen von der Mehrheit der
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Sprecher dis­tanziert bewertet werden. Das gilt auch und besonders für die beiden
zahlenmäßig größten Sprachminderheiten, Russisch und Türkisch – und hier vor
allem für das Türkische.
Multilingualism is a social reality in Germany as well as in other countries. Differ-
ent languages, however, enjoy different levels of prestige. This article analyses at-
titudes towards other languages and their speakers. The analysis is based firstly on
data collected from a nation-wide representative poll, and secondly on a survey of
students from the 9th and 10th forms on their attitude towards languages. While
French, Italian, Spain and English are mainly considered favourably, the majority of
speakers dislike, above all, immigrant languages. This holds true in particular for
the two largest minority languages, Russian and Turkish – and here, particularly,
for Turkish.

1. Sprachbegegnungen in einsprachigen Gesellschaften

Sprache gehört zu den stärksten Identitätsträgern überhaupt, und Alteritätser-


fahrungen werden zentral über das Erleben der Existenz von Mehrsprachig-
keit gemacht. In modernen Industriegesellschaften, die sich durch einen ho-
hen Grad an Mobilität sowohl der dort lebenden Menschen als auch von Waren
und Dienstleistungen auszeichnen, ist der Kontakt zu fremden Sprachen sehr
leicht und sind die Kontaktanlässe sehr zahlreich geworden. Einen zentralen
Begegnungskontext für das Erleben von Anderssprachigkeit stellt der Touris-
mus dar; Reisen in andere Länder sind in der Regel gleichbedeutend mit einer
Kontrasterfahrung anderssprachiger Umwelten (und damit zugleich der eige-
nen Anderssprachigkeit). Die kontaktierenden Sprachen sind dabei so zahl-

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216 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

reich und verschieden wie die Reiseziele. Doch Sprachkontakt ist nicht nur
unterwegs möglich; ein ganz anders gearteter Bereich, in dem lebensalltägli-
che Sprachkontakterfahrungen gemacht werden, ist derjenige der Medien, und
zwar der Informationsmedien ebenso wie – zweifellos in weit stärkerem Maße
– der gesamte Bereich der Unterhaltungsindustrie (von Hollywood bis Silicon
Valley), die stark angelsächsisch dominiert sind. Ein drittes, wiederum ganz
anderes Feld schließlich, in dem Sprachbegegnungen stattfinden, liegt im un-
mittelbaren Erleben von Mehrsprachigkeit im eigenen Lebensumfeld durch
den Umgang mit mehrsprachigen Personen. Mehrsprachigkeit in nennenswer-
tem Umfang ist in Deutschland (wenn man von den alten autochthonen Min-
derheitengebieten und dem Sonderfall des Niederdeutschen absehen will) ein
Resultat der Migrationen der letzten Jahrzehnte; im Bewusstsein der meisten
seiner Bürger ist Deutschland jedoch nach wie vor ein konzeptionell einspra-
chiges Land. Das hat mit der europäischen Geschichte der Nationalstaaten
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und Nationalsprachen zu tun; Reflexe davon zeigen sich regelmäßig in der


öffentlichen Debatte, wenn, einem gewissen Konjunkturzyklus folgend, ein
Sprachschutzgesetz oder eine grundgesetzliche Verankerung des Deutschen
gefordert wird. Zugleich sind solche Diskussionen ein Indiz dafür, dass die
Existenz von Mehrsprachigkeit als gesellschaftliche Realität nicht mehr völlig
ignoriert werden kann.1
Diese hier skizzierten möglichen Fremdsprachigkeitskontakte sind in ganz
verschiedene mentale Konzepte und Wertgefüge eingebunden, und sie sind in
sehr unterschiedlicher Weise an personale Träger und zugehörige soziale Kon-
texte gebunden. Dementsprechend führen sie zu sehr unterschiedlichen Be-
wertungen, Haltungen und Einstellungen den beteiligten Sprachen gegenüber.
Sozial sind nicht alle Sprachen gleich, Sprachen sind mit einem sehr unter-
schiedlichen Prestige ausgestattet. Touristische Kontakte führen, weil sie
meist in positiver Stimmung stattfinden und weil die mit ihnen verbundene
Mehrsprachigkeit für das eigene Lebensalltagsgerüst gewissermaßen neutral
ist und somit keine Gefahr darstellt, üblicherweise zu positiveren Affekten
1
Jedenfalls hat ein nennenswerter Anteil der in Deutschland lebenden Personen eine andere
Muttersprache als Deutsch. Die Zahlen hierzu sind sehr unsicher, weil in Deutschland (an-
ders als etwa in Österreich und der Schweiz) keine amtlichen Erhebungen zu sprachlichen
Verhältnissen durchgeführt werden. Hinweise können die Staatsangehörigkeiten geben:
Der letzte Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes weist einen Anteil von 8,8% Auslän-
dern an der Bevölkerung aus, von denen die meisten nicht Deutsch als Muttersprache haben
dürften. Mehrsprachig mit abgestufter Kompetenz sind zweifellos auch viele der rund drei
Millionen Aussiedler bzw. Spätaussiedler. Hinzu kommen die „Personen mit Migrations-
hintergrund“, aber „ohne eigene Migrationserfahrung“, die im Mikrozensus auf rund vier
Millionen beziffert werden (Statistisches Bundesamt (Hg.) 2010, S. 7).

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 217
(bei Fernreisen kommt der Reiz des Exotischen dazu). Es gibt Sprachen, die
signalhaft für kulturelle Attraktivität stehen; Französisch und auch Italienisch,
die in Europa traditionelle Prestigesprachen sind, wären Beispiele. Ökono-
misch veranlasste Sprachbegegnungen (hier ist vor allem Englisch zu nennen)
stehen in einem wieder anderen Kontext. Und es gibt die zahlreichen Spra-
chen, die im Zuge der (vor allem Arbeits-)Migration der letzten Jahrzehnte zu
– größeren und sehr kleinen – Minderheitensprachen in Deutschland gewor-
den sind und die auch ein sehr unterschiedliches Prestige aufweisen.
Diese Tatsache, dass reale Mehrsprachigkeit faktisch nicht ein äquivalentes
und äquidistantes Nebeneinander mehrerer gleich großer und sozial gleich
wertiger Sprachen ist, scheint im politischen Diskurs noch nicht zuverlässig
verankert zu sein. Allerdings gibt es auch zu Einstellungen gegenüber anderen
Sprachen bisher nicht sehr viele verlässliche Daten. Diesem Problem soll der
vorliegende Beitrag ein wenig abhelfen.
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2. Deutsch mit fremdsprachigem Akzent

Die im Folgenden vorgestellten Daten wurden gewonnen im Rahmen eines For-


schungsprojekts zu aktuellen Spracheinstellungen in Deutschland. Es handelt
sich um ein interdisziplinäres Projekt, das das Institut für Deutsche Sprache
zusammen mit dem Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Mannheim
durchführt; als Drittmittelprojekt wird es finanziert von der Volkswagen-Stif-
tung. Kern des Projekts ist eine repräsentative Meinungsumfrage unter rund
2 000 erwachsenen Personen in Deutschland, die die Projektpartner im Herbst
2008 von der Forschungsgruppe Wahlen als Telefonumfrage haben durchführen
lassen. Diese Umfrage deckt mit über 60 inhaltlichen Fragen ein sehr breites
Themenspektrum ab; erfragt wurden Einstellungen zum Deutschen, zu Dialek-
ten und zu anderen Sprachen in Deutschland, Meinungen zu Sprachveränderun-
gen, Sprachgebrauch und Sprachpflege sowie Einschätzungen zu Fragen zur
Sprachenvielfalt in der EU und zur Fremdsprachenbeherrschung. Die Daten der
Gesamtstichprobe wurden nach einem Gewichtungsschlüssel nach Geschlecht,
Alter, Bildungsabschluss und Wohnort umgerechnet, so dass die Angaben der
Befragten auf die gesamte Wohnbevölkerung Deutschlands übertragen werden
können und damit repräsentativ sind.2
2
Erste Ergebnisse der Umfrage wurden mit Eichinger et al. (2009) und mit Gärtig/Rothe
(2009) vorgelegt; ausführlich dokumentiert ist die Erhebung in Gärtig/Plewnia/Rothe (2010).
Weitere Publikationen aus dem Projekt zu spezifischen Fragestellungen sind Plewnia/Rothe
(2009) (zu Ost-West-Unterschieden im Bereich der Spracheinstellungen) sowie Plewnia/
Rothe (i.Dr.) (zu Dialektbewertungen).

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218 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Das Erleben von Mehrsprachigkeit, d.h. die Begegnung mit anderen Spra-
chen, kann sich, wie oben skizziert, auf sehr unterschiedlichem Wege und in
sehr unterschiedlichen Kontexten vollziehen. Sieht man von den kontextuell
trivialen Fällen ab (etwa Reisen in anderssprachige Länder oder auch der
schulische Fremdsprachenunterricht), sind natürlich diejenigen Konstellatio-
nen zentral, in denen eine fremde Sprache als Trägerin eines Kommunika­
tionsereignisses unmittelbar als fremde Sprache erlebt wird. Das kann in der
direkten Konfrontation mit einem Sprecher erfolgen oder in der indirekten
Teilhabe an anderssprachiger Kommunikation im öffentlichen Raum, und es
kann – sprecherungebunden – über die Rezeption anderssprachiger (und of-
fen adressierter) Kommunikate in den auch medial verschiedensten Zusam-
menhängen erfolgen (in Massenmedien ebenso wie in randständiger Alltags-
kommunikation wie beispielsweise in mehrsprachigen Bedienungsanleitun-
gen o.Ä.).
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Die andere Form, in der sich Mehrsprachigkeit in einer konzeptionell mono-


lingualen Gesellschaft mit einer dominanten Mehrheitssprache wie der deut-
schen manifestiert, besteht im Gebrauch der Mehrheitssprache durch Sprecher
mit einer anderen Muttersprache, in Bezug auf das Deutsche also der Ge-
brauch von Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache. Die meisten L2-Sprecher
sind für Muttersprachler als solche identifizierbar, weil ihre L1 die L2 in Form
eines Akzents grundiert; in diesem Sinne ist der Gebrauch von Deutsch durch
Sprecher mit einer anderen Muttersprache als Deutsch in den meisten Fällen
zugleich eine Manifestation der Existenz von Mehrsprachigkeit. Im Unter-
schied zu fremdsprachigen Kommunikationsereignissen, die prinzipiell me­
dial beliebig realisiert werden können, ist der Gebrauch von (in unserem Fall)
Deutsch mit einem anderssprachigen Akzent immer an gesprochensprachliche
Formen gebunden, und damit gibt es hinter den Kommunikaten auch immer
zugehörige Sprecher, die sich als mögliche Projektionsflächen für etwelche
Stereotypen anbieten.3 Ein Themenkomplex der Repräsentativerhebung galt
der Wahrnehmung und Bewertung anderer Sprachen. In diesem Zusammen-
hang wurden die Befragten nach ihrer Bewertung – Sympathie und Antipathie
– für fremdsprachige Akzente gefragt (Diagr. 1 und 2).

3
Ein zentrales Interesse unseres Projekts liegt darin, Zusammenhänge zwischen der Bewer-
tung von Sprachen bzw. Varietäten auf der einen Seite und den Stereotypen über die zuge-
hörigen Sprecher auf der anderen Seite sichtbar zu machen. Für die Bewertung von Bairisch
bzw. dem „typischen Bayern“ und Sächsisch bzw. dem „typischen Sachsen“ vgl. Plewnia/
Rothe (i.Dr.).

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Diagr. 1: Sympathische Akzente


Frage: Gibt es einen oder mehrere ausländische Akzente, die Sie besonders sympa-
thisch finden? Also gemeint ist nicht die Fremdsprache, sondern die Art und Weise,
wie Ausländer Deutsch sprechen. Welche sind das? (Frage nur an Personen mit
Deutsch als Muttersprache; bis zu drei Nennungen möglich)4

Offenkundig hat die Zuweisung von Sympathie viel mit Bekanntheit zu tun.
Die mit Abstand am häufigsten genannten Akzente sind die der Sprachen der
großen romanischen Nachbarn des Deutschen; mehr als ein Drittel der Be-
fragten nennen den französischen, mehr als ein Fünftel den italienischen Ak-
zent. Es folgen der englische und der spanische Akzent mit jeweils knapp 10
Prozent und der niederländische Akzent mit immerhin 7,3 Prozent. Die klar
4
Die Frage war offen formuliert, d.h. es wurde keine Liste o.Ä. vorgegeben. Auf diese Weise
ist sichergestellt, dass tatsächlich aktives Wissen der Befragten (und keine Echoformen)
abgebildet wird. In den Diagrammen und Tabellen sind Einzelnennungen bzw. Kategorien
mit sehr wenigen Nennungen nicht gesondert aufgeführt.

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220 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

positive Bewertung des französischen Akzents ist vor dem Hintergrund der
engen kulturhistorischen Verbundenheit von Deutschland und Frankreich
nicht sonderlich überraschend; Frankreich ist für Deutschland über Jahrhun-
derte Bezugspunkt der kulturellen Orientierung, und das Französische hat
über die ganze deutsche Sprachgeschichte einen prägenden Einfluss auf das
Deutsche ausgeübt.5 Französisch ist eine lang etablierte Schulfremdsprache,
und Frankreich ist, nicht zuletzt durch die Versöhnungspolitik seit dem Zwei-
ten Weltkrieg (mit Städtepartnerschaften, Schüleraustausch usw.), aber auch
als attraktives Urlaubsland, beständig präsent. Ähnliches gilt für Italien, das
für Deutschland immer ein wichtiger Partner für kulturelle Inspirationen war
und das als „Land, wo die Zitronen blühen“ aus deutscher Perspektive immer
wieder zum Sehnsuchtsort stilisiert wurde.
Dass andererseits Bekanntheit allein keine Garantie für eine positive Bewer-
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tung ist, sieht man an der Tatsache, dass sich die deutliche Mehrzahl der Nen-
nungen auf die Akzente der größeren westeuropäischen Nachbarn (Spanien
eingeschlossen) konzentriert. Die Akzente der größten Sprachminderheiten in
Deutschland hingegen, nämlich Russisch und Türkisch, werden erst an achter
(russischer Akzent: 4,4 Prozent) bzw. zehnter Stelle (türkischer Akzent: 3,2
Prozent) genannt. Aus diesen niedrigen Werten lässt sich nun aber nicht etwa
schlussfolgern, dass die jeweils zirka drei Millionen Sprecher des Russischen
und des Türkischen in Deutschland6 für die Mehrheit der Befragten so wenig
präsent sind, dass sie sich einer aktiven Bewertung entzögen. Darauf deutet
Diagramm 2 auf der folgenden Seite hin, in dem die Antworten auf die paral-
lele Frage nach etwaigen unsympathischen Akzenten dargestellt sind.

Tatsächlich bildet auch dieses Diagramm, wenngleich gewissermaßen mit


dem Vorzeichen der negativen Bewertung, Prominenzen ab. Insgesamt gibt es
deutlich weniger Nennungen, und es werden deutlich weniger verschiedene
Akzente genannt als bei der positiven Frage. Die weitaus meisten Befragten
geben an, keinen Akzent, welcher es auch sei, unsympathisch zu finden. Eine
größere Zahl von Nennungen entfällt im Wesentlichen auf nur drei Gruppen:
5
Vgl. Plewnia (2011, S. 440-441).
6
Die Zahlen hierzu sind nicht sehr valide. Mit einiger Vorsicht kann man zumindest in un-
gefähren Größenordnungen von Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit auf Sprachkompetenz
schließen. Das Statistische Bundesamt hält im Bericht zu seinem letzten Mikrozensus fest:
„Gut 3,0 Mio. Menschen mit Migrationshintergrund haben ihre Wurzeln in der Türkei, 2,9
Mio. in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion“ (Statistisches Bundesamt
(Hg.) 2010, S. 8). Zur Zahl der Russisch-Sprecher vgl. auch die Überlegungen von Tanja
Anstatt (i.d.Bd., Kap. 1.1).

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 221
den türkischen Akzent (17,2 Prozent der Befragten), den russischen Akzent
(13,3 Prozent) und den polnischen Akzent (8,5 Prozent). Die hohen Werte an
dieser Stelle korrespondieren mit den relativ niedrigen Werten für diese Grup-
pen in Diagramm 1.
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Diagr. 2: Unsympathische Akzente


Frage: Und gibt es einen oder mehrere ausländische Akzente, die Sie besonders un-
sympathisch finden? (Frage nur an Personen mit Deutsch als Muttersprache; bis zu
drei Nennungen möglich)

Man kann nun die Gesamtstichprobe nach verschiedenen Kriterien weiter


aufschlüsseln, indem man sie in einzelne Untergruppen unterteilt und die
Antworten für die jeweiligen Untergruppen gesondert ausweist. Eine solche
Aufschlüsselung der Antworten auf die Frage nach Sympathie bzw. Antipa-
thie für fremdsprachige Akzente nach Alter bieten die Tabellen 1 und 2 auf
der folgenden Seite. Hier sind die Antworten der jüngeren Befragten (18 bis
29 Jahre), einer mittleren Altersgruppe (30 bis 59 Jahre) und der älteren
Befragten (ab 60 Jahre) wiedergegeben.

Der französische Akzent wird in allen Altersgruppen mit Abstand am häufigs-


ten genannt; es folgt der italienische Akzent. Signifikante Unterschiede inner-
halb der Gruppen gibt es nur beim englischen und beim spanischen Akzent, die
jeweils von den Befragten der jüngeren Altersgruppe deutlich positivere Werte
erhalten (englischer Akzent: 16,9 Prozent, spanischer Akzent: 15,5 Prozent) als
von den beiden anderen Altersgruppen. Das Englische hat eine hohe Präsenz

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222 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

und ein hohes Prestige besonders in denjenigen Alltagsbereichen, die sich


durch eine programmatische Jugendlichkeit auszeichnen (wie etwa die Elek­
tronikindustrie oder die stark angelsächsisch dominierte Musikindustrie, die ja
zugleich ein kulturelles Gesamtsetting transportieren); insofern ist es nicht
überraschend, dass der englische Akzent in der jüngeren Altersgruppe deutlich
häufiger genannt wird. Beim Spanischen ist ein ähnlicher Generationeneffekt
zu sehen; dazu passt beispielsweise, dass Spanisch in jüngerer Zeit als Wahl-
Schulfremdsprache an Bedeutung gewonnen hat.

18-29 Jahre 30-59 Jahre 60+ Jahre


(N=246) (N=959) (N=630)
Französisch 38,0% 37,0% 33,7%
Italienisch 19,8% 22,2% 19,4%
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keinen 15,6% 17,0% 17,3%


Englisch 16,9% 9,9% 6,5%
Spanisch 15,5% 10,1% 6,7%

Tab. 1: Sympathische Akzente (nach Alter)

18-29 Jahre 30-59 Jahre 60+ Jahre


(N=246) (N=959) (N=630)
keinen 43,2% 49,5% 47,6%
Russisch 16,1% 16,2% 10,8%
Türkisch 26,7% 10,2% 6,4%
Polnisch 4,0% 7,6% 7,5%
Französisch 8,0% 1,1% 0%

Tab. 2: Unsympathische Akzente (nach Alter)

Einen klaren Generationeneffekt sieht man auch bei der komplementären Fra-
ge nach den unsympathischen Akzenten. In der jüngeren Altersgruppe nennen
über ein Viertel der Befragten den türkischen Akzent; der Unterschied zwi-
schen der jüngeren und der älteren Altersgruppe ist hier statistisch hoch signi-
fikant. Auch beim französischen Akzent, der in der jüngeren Altersgruppe
immerhin von 8,0 Prozent der Befragten genannt wird, ist der Unterschied
zwischen der jüngeren und der älteren Altersgruppe statistisch hoch signifi-
kant; allerdings steht diesen Nennungen, anders als beim türkischen Akzent,
der höchste Wert überhaupt bei den sympathischen Akzenten (38,0 Prozent)

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 223
gegenüber. Ferner ist zu berücksichtigen, dass in der jüngeren Altersgruppe
insgesamt absolut wesentlich mehr fremdsprachige Akzente genannt werden
und daher die Prozentwerte auch höher ausfallen.7
Inwieweit hier tatsächlich Sympathie bzw. Antipathie für ein mit fremdspra-
chigem Akzent gesprochenes Deutsch abgefragt wurde, ist nur anhand der
Zahlen kaum zu beurteilen. Tatsächlich ist durchaus damit zu rechnen, dass,
trotz der dezidierten Frageformulierung, auch allgemeinere Sympathie-Kon-
zepte, die sich an übergeordneten Stereotypen orientieren, abgerufen werden.
Dadurch aber, dass die Fragen offen formuliert waren, ist sichergestellt, dass
die Antworten das aktive Wissen der Befragten spiegeln und damit alltags-
weltliche Prominenzen abbilden. Muster mit höherer Präsenz fordern stärker
zu Bewertungen – positiv wie negativ – heraus. Dass Bekanntheit und Nähe
bei der Sympathieverteilung ein entscheidender Faktor ist, zeigt sich beson-
ders deutlich, wenn man die Antworten nach der Herkunft der Befragten auf-
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schlüsselt. In Tabelle 3 sind die Nennungen für einzelne Bundesländer nach


ihren Nachbarschaften gruppiert.

ehem. DDR NI, NW SH, HH RP, SL, BW BY


(N=428) (N=520) (N=94) (N=285) (N=249)
Französisch 32,1% 41,0% 31,2% 38,5% 32,5%
Italienisch 10,5% 22,7% 9,1% 26,4% 31,7%
kein Akzent 18,2% 15,5% 21,6% 14,2% 16,9%
Englisch 13,1% 12,0% 7,4% 7,5% 4,7%
Spanisch 4,2% 12,4% 3,1% 15,0% 10,3%
Niederländisch 7,2% 10,6% 12,2% 4,4% 3,4%
...
Russisch 7,2% 3,2% 2,7% 2,6% 4,2%
Dänisch 2,9% 4,0% 22,0% 1,9% 0,8%
...
Polnisch 2,6% 2,7% 2,3% 2,3% 1,6%

Tab. 3: Sympathische Akzente (nach Regionen)

Auch hier gilt, dass dem französischen Akzent durchgängig die höchsten
Sympathiewerte zugeschrieben werden; im Weiteren unterscheiden sich die
7
In den Tabellen werden die Prozente bezogen auf die Zahl der Befragten ausgewiesen. Da
Mehrfachantworten möglich waren, kann die Summe der angegebenen Prozentzahlen mehr
als 100 betragen. Je mehr Einzelantworten in einer Gruppe insgesamt gegeben werden, des­
to höher sind tendenziell auch die Einzelwerte.

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224 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

einzelnen Teilgruppen aber zum Teil erheblich voneinander. Auf einige As-
pekte sei kurz hingewiesen: Deutliche Nachbarschaftseffekte sind bei den
„kleinen“ Nachbarsprachen mit bundesweit gesehen geringer medialer Prä-
senz zu verzeichnen. So nennen beispielsweise in den nördlichen Bundeslän-
dern (Schleswig-Holstein, Hamburg) fast ein Viertel der Befragten den däni-
schen Akzent, der in den übrigen Ländern nur eine marginale Rolle spielt.
Ähnlich, wenngleich nicht ganz so markant, sind die Verhältnisse in Bezug
auf das Niederländische: Die höchsten Werte für Deutsch mit einem nieder-
ländischen Akzent werden in den Grenzländern Niedersachsen und Nord-
rhein-Westfalen (10,6 Prozent) und den Nordsee-Anrainern Schleswig-Hol-
stein und Hamburg (12,2 Prozent) erreicht. Der Effekt ist auch beim großen
Nachbarn Italien erkennbar: In Bayern nennen 31,7 Prozent der Befragten
Deutsch mit einem italienischen Akzent (der damit fast mit dem französischen
Akzent gleichzieht), in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hingegen
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sind es lediglich 22,7 Prozent, und in den ostdeutschen Ländern8 und im Nor-
den kommt der italienische Akzent nur auf Werte um 10 Prozent.
Auffällig ist schließlich, dass der russische Akzent in Ostdeutschland mit
(freilich vergleichsweise niedrigen) 7,2 Prozent den höchsten Wert erreicht;
das dürfte allerdings weniger mit geografischer Nähe als mit anderen Formen
alltagsweltlicher (historischer) Präsenz des Russischen zusammenhängen, die
anscheinend bei einigen Befragten zu positiven Bewertungen Anlass gibt.9
Die Nachbarschaft zu Polen wiederum schlägt sich in Ostdeutschland zumin-
dest nicht in positiven Bewertungen nieder.10

3. Welche Sprachen Schüler sympathisch finden


Der Blick auf die Daten der Repräsentativerhebung hat gezeigt, dass es bei der
Frage nach Sympathie und Antipathie für fremdsprachige Akzente einerseits
bundesweit recht klare Muster gibt, die sich durchaus als Reflexe der Promi-
nenz einzelner Sprachen lesen lassen, und dass andererseits eine Binnendiffe-
renzierung der Stichprobe sowohl regionale Unterschiede als auch klare Al-
terseffekte erkennbar werden lässt. Ein klarer Befund ist die in allen Gruppen
durchgängige Sympathie für den französischen Akzent. Dezidiert unsympa-
thisch finden die meisten Befragten keinen Akzent; die Akzente aber, die ge-
8
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen sowie der
Ostteil Berlins.
9
Dazu passt auch, dass bei der entsprechenden Frage nach unsympathischen Akzenten der
russische Akzent in Ostdeutschland weniger oft genannt wird als in den westlichen Bundes-
ländern (13,5 Prozent im Osten gegenüber 19,2 Prozent im Westen).
10
Immerhin wird der polnische Akzent aber im Osten bei den unsympathischen Akzenten mit
6,5 Prozent etwas seltener genannt als im Westen (dort sind es 9,0 Prozent).

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 225
nannt werden, sind die der Sprachen der großen Migrationsminderheiten, Tür-
kisch, Russisch, auch Polnisch, und zwar von den jüngeren Befragten häufiger
als von den älteren.
Solche Muster entlang verschiedener Teilstichproben lassen sich auch für an-
dere Spracheinstellungen finden.11 Allerdings erreichen ab einer gewissen Gra-
nularität des Zuschnitts der Untergruppen die einzelnen Teilstichproben nicht
mehr zuverlässig die für statistische Aussagen erforderliche Mindestgröße. Im
Rahmen des hier beschriebenen Forschungsprojekts wurde daher in Ergänzung
zur Repräsentativumfrage im Winter 2010 eine weitere Erhebung durchge-
führt. Befragt wurden Schüler der 9. und 10. Jahrgangsstufe, analog zu ausge-
wählten Themenkomplexen der Repräsentativumfrage, zu ihren Einstellungen
zum Deutschen, zu Dialekten und zu anderen Sprachen. In der Repräsenta­
tivumfrage wird auch ein gewisser Anteil von Personen mit einer anderen Mut-
tersprache als Deutsch erfasst (nämlich 8,6 Prozent; das entspricht in etwa ih-
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rem Anteil an der gesamten Wohnbevölkerung); doch gerade über diese Gruppe
sind, weil sie sehr heterogen ist, statistische Aussagen schwierig. Aus diesem
Grund wurde für die Schüler-Erhebung eine Mannheimer Realschule ausge-
wählt, nahe der Innenstadt, die sich durch einen weit überdurchschnittlich ho-
hen Anteil von Schülern, die familiär in Migrationskontexten stehen, auszeich-
net. Die Erhebung erbrachte 254 verwertbare Fragebögen.12 Komplementär
dazu wurde derselbe Fragebogen auch an zwei Schulen am Niederrhein einge-
setzt, an einer Realschule im Kreis Wesel und an einem Gymnasium im Kreis
Kleve, ebenfalls in den 9. und 10. Klassen; hier kamen 256 Fragebögen zusam-
men.13 Insgesamt ergab sich also ein vergleichsweise großes Sample von 510
Fragebögen; in den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse der Auswertung
derjenigen Teile des Fragebogens, die die Bewertung anderer Sprachen und
ihrer Sprecher zum Gegenstand hatten, präsentiert.14
11
Vgl. die Analysen in Gärtig/Plewnia/Rothe (2010).
12
Im soziodemografischen Teil des Fragebogens wurden die Schüler gebeten anzugeben, wel-
che Sprachen sie selbst beherrschen, verbunden mit der Möglichkeit, die eigene Kompetenz
einzuschätzen und die einzelnen Sprachen als „Muttersprache“ und „Vatersprache“ zu kenn-
zeichnen. 166 von den Mannheimer Schülern, d.h. 65,6 Prozent, gaben eine andere Sprache
als Deutsch als Mutter-/Vatersprache (oder als weitere Mutter-/Vatersprache neben Deutsch)
an.
13
Den Schulleitungen und den beteiligten Lehrkräften sei an dieser Stelle für ihre freundliche
und überaus bereitwillige Unterstützung herzlich gedankt.
14
Natürlich sind alle Aussagen zunächst einmal nur Aussagen über die drei untersuchten Schu-
len (von denen die eine ja gezielt wegen ihres vom Durchschnitt abweichenden Profils aus-
gewählt wurde) und damit – anders als bei der Repräsentativumfrage, über die oben berich-
tet wurde – nur mit Einschränkungen generalisierbar.

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226 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Ein Fragenpaar des Fragebogens zielte, in Anlehnung an die entsprechenden


Fragen der Repräsentativumfrage, auf Sympathie bzw. Antipathie für andere
Sprachen ab (Diagr. 3 und 4). Die Frage war ebenfalls offen formuliert; die
Schüler wurden, weil im Weiteren auch Sprecherstereotype erhoben werden
sollten, nicht nach Akzenten, sondern direkt nach Sprachen gefragt.
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Diagr. 3: Sympathische Sprachen


Frage: Gibt es Sprachen, die du besonders sympathisch findest? (bis zu drei Nennun-
gen möglich)

Die Schüler zeigen sich insgesamt auskunftsfreudiger als die Befragten der
Repräsentativumfrage, d.h. es werden insgesamt deutlich mehr Sprachen ge-
nannt. Das Grundmuster ähnelt aber im Großen und Ganzen demjenigen der
bundesweit befragten Erwachsenen. Genannt werden als erstes die großen
Nachbarsprachen Spanisch, Englisch, Italienisch und Französisch (Spanisch
mit großem Vorsprung, Französisch – vermutlich mit einem gewissen „Pflicht-
sprachen-Malus“ – weiter hinten); die weiteren Sprachen, insbesondere die
Migrantensprachen, folgen erst in größerem Abstand. Ob man den Wert für
Deutsch (8,6 Prozent) als hoch oder niedrig beurteilen will, hängt von der Per-
spektive ab; sicher hat eine Rolle gespielt, dass aus Schülerperspektive der
Begriff „Sprache“ zunächst einmal prägnant als „Fremdsprache“ verstanden
wird und der Gedanke an Deutsch nicht sehr nahe liegt.

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 227

Diagr. 4: Unsympathische Sprachen


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Frage: Gibt es Sprachen, die du besonders unsympathisch findest? (bis zu drei Nen-
nungen möglich)

Das Antwortverhalten bei den unsympathischen Sprachen ähnelt demjenigen


der jüngeren Generation der Repräsentativumfrage (vgl. oben Tab. 2), ist je-
doch in manchem noch etwas prononcierter. Dominant genannt werden die
Migrantensprachen Türkisch (35,9 Prozent) und Russisch (25,3 Prozent),
auch Polnisch (15,5 Prozent) und Arabisch15 (12,4 Prozent); hinzu kommen
Französisch (16,7 Prozent) und Latein (9,2 Prozent) als unpopuläre und als
schwer geltende Schulfremdsprachen.

Ähnlich wie bei der bundesweiten Umfrage, bei deren Auswertung unterhalb
der Gesamtergebnisse regionale und altersbedingte Unterschiede nachweisbar
sind, ist natürlich auch hier mit Nähe- und Bekanntheitseffekten zu rechnen.
Aufschlussreich ist daher eine Binnendifferenzierung der Daten nach Erhe-
bungsorten, wie sie Tabelle 4 auf der folgenden Seite bietet.

Das unterschiedliche Profil der Erhebungsorte schlägt sich erkennbar in den


Antworten nieder. Besonders deutlich zeigt es sich beispielsweise bei der Be-
wertung des Niederländischen, das sowohl bei den sympathischen als auch bei
den unsympathischen Sprachen bei den beiden niederrheinischen Schulen we-
sentlich höhere Werte erhält als in Mannheim (11,7 Prozent gegenüber 3,1 Pro-
zent bzw. 18,8 Prozent gegenüber 9,4 Prozent); hier ist klar erkennbar, wie
Präsenz – in diesem Fall durch geografische Nachbarschaft – zu Bewertungen,
gleich ob positiv oder negativ, motiviert. Ein entsprechender Effekt zeigt sich
15
1,8 Prozent der befragten Mannheimer Schüler geben Arabisch als Muttersprache an.

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228 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

in Mannheim in Bezug auf die Migrantensprachen, die offenkundig eine höhe-


re alltagsweltliche Relevanz haben: Türkisch wird hier wesentlich positiver
bewertet als am Niederrhein (sympathisch: 11,4 Prozent gegenüber 2,7 Pro-
zent) bzw. weniger negativ (unsympathisch: 28,7 Prozent gegenüber 43,0
Prozent); Analoges gilt für Russisch, das in Mannheim etwas häufiger als sym-
pathische und deutlich seltener als unsympathische Sprache genannt wird als
am Niederrhein. Polnisch ist in Mannheim weniger unsympathisch (9,8 Pro-
zent in Mannheim gegenüber 21,1 Prozent am Niederrhein); Arabisch hat in
beiden Listen, bei Sympathie und bei Antipathie, in Mannheim deutlich höhere
Werte. Einen gewissen Sonderfall stellt Latein dar; es spielt nur bei den un-
sympathischen Sprachen eine gewisse Rolle, doch man darf annehmen, dass
hier weniger die Sprache als das Unterrichtsfach bewertet wird. Dass Latein
anscheinend am Niederrhein viel weniger geschätzt wird als in Mannheim,
ist in Wahrheit ein Schularteneffekt: Von allen Nennungen für Latein kamen
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nur 17,0 Prozent von den Schülern der beiden Realschulen, wo Latein ja
praktisch keine Rolle spielt; der größte Teil der Nennungen (83,0 Prozent)
stammte von den Gymnasiasten.

Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen


Mannheim Niederrhein Mannheim Niederrhein
Spanisch 46,9% 54,3% Türkisch 28,7% 43,0%
Englisch 32,7% 37,1% Russisch 16,9% 33,6%
Italienisch 29,1% 37,9% Französisch 18,1% 15,2%
Französisch 24,0% 34,0% Polnisch 9,8% 21,1%
Russisch 10,2% 8,6% Niederländ. 9,4% 18,8%
Niederländ. 3,1% 11,7% Arabisch 16,1% 8,6%
Türkisch 11,4% 2,7% Chinesisch 15,7% 7,0%
Polnisch 4,7% 6,3% Latein 2,0% 16,4%
Arabisch 8,7% 1,6%

Tab. 4: Sympathische und unsympathische Sprachen (nach Erhebungsorten)

Die in Tabelle 4 dokumentierten Unterschiede zwischen den beiden Erhe-


bungsorten hängen also einerseits – wie bei der Bewertung des Niederländi-
schen – mit regionalen Faktoren zusammen. Andererseits deuten sie darauf
hin, dass die Zusammensetzung der Stichproben, die ja in unterschiedlicher
Weise heterogen sind, eine Rolle spielt. In Gesamtdarstellungen mit Durch-
schnittswerten werden kleinere Teilgruppen von größeren unweigerlich majo-

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 229
risiert; es lohnt sich daher, die Daten noch genauer aufzuschlüsseln. Für diese
Untersuchung wurde gezielt ein Kontext von Mehrsprachigkeit gesucht; folg-
lich kann die individuelle Distanz zu den hier bewerteten Sprachen sehr unter-
schiedlich sein, d.h. es handelt sich keineswegs nur um Distanzbewertungen,
sondern unter Umständen auch um Eigenbewertungen. Weist man die Ant-
worten gesondert nach Sprechergruppen aus, ergibt sich ein differenziertes
Bild (Tab. 5 bis 8).

In Tabelle 5 sind zunächst die Antworten derjenigen Schüler, die als Mutter-/
Vatersprache keine andere Sprache als Deutsch angegeben haben, zusam-
mengefasst.

Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen


Spanisch 54,6% Türkisch 41,8%
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Englisch 39,2% Russisch 31,4%


Italienisch 34,6% Polnisch 17,3%
Französisch 31,7% Französisch 16,0%
Niederländisch 10,8% Niederländisch 15,0%
Latein 13,1%

Tab. 5: Sympathische und unsympathische Sprachen (Deutsch; N=306)

Die Unterschiede zum Gesamtdurchschnitt (Diagr. 3 und 4) sind zunächst


nicht besonders hoch. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, macht die
Gruppe doch den mit Abstand größten Teil der Stichprobe aus (60,0 Prozent).
Die Werte für die genannten Sprachen sind durchgängig etwas höher, bei den
sympathischen ebenso wie bei den unsympathischen Sprachen. Das lässt be-
reits erwarten, dass sich bei den anderen Teilgruppen für beide Teilfragen ein
etwas anderes Antwortverhalten zeigt.

Tabelle 6 auf der folgenden Seite bietet die Antworten derjenigen Schüler, die
(auch) Russisch als Mutter-/Vatersprache angeben.

Nicht sehr überraschend ist, dass, als ein Beleg positiver Eigenbewertung,
Russisch (zusammen mit Spanisch, das in allen Gruppen vorne liegt) am häu-
figsten genannt wird. Deutsch erreicht hier mit 14,3 Prozent den höchsten
Wert von allen Teilgruppen. Dass Niederländisch nicht vorkommt, hat wiede-
rum damit zu tun, dass die meisten Russisch-Sprecher – 71,4 Prozent – aus
Mannheim kommen. Bei den unsympathischen Sprachen wird Türkisch als

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230 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

die Sprache der anderen großen Migrantengruppe mit großem Abstand am


häufigsten genannt; auch Arabisch ist hier – wie übrigens auch bei den Pol-
nisch-Sprechern (vgl. Tab. 7) – sehr prominent. Russisch spielt bei den un-
sympathischen Sprachen erwartungsgemäß keine Rolle; Polnisch wird zwar
in 14,3 Prozent der Fälle genannt, liegt damit aber unter dem Durchschnitt von
18,6 Prozent.

Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen


Spanisch 64,3% Türkisch 64,3%
Russisch 64,3% Französisch 28,6%
Englisch 35,7% Arabisch 28,6%
Französisch 28,6% Chinesisch 21,4%
Italienisch 21,4% Polnisch 14,3%
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Deutsch 14,3%

Tab. 6: Sympathische und unsympathische Sprachen (Russisch; N=1416)

Positive Eigenbewertungen sind auch bei den Schülern mit Polnisch als Mut-
ter-/Vatersprache erkennbar (Tab. 7).

Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen


Spanisch 50,0% Türkisch 54,5%
Polnisch 45,4% Französisch 31,8%
Englisch 40,9% Arabisch 22,7%
Italienisch 31,8% Niederländisch 18,2%
Chinesisch 13,6%
Japanisch 13,6%

Tab. 7: Sympathische und unsympathische Sprachen (Polnisch; N=2217)

16
Die Zahl derjenigen, die hier Russisch als Mutter-/Vatersprache angeben, ist sehr klein
und liegt an der Untergrenze des statistisch Auswertbaren. Die tatsächliche Zahl der Rus-
sisch-Sprecher dürfte höher liegen; bei der Gruppe der Aussiedler ist nach Aussage einer
Lehrkraft zu vermuten, dass – obwohl die Befragung natürlich anonym war – Schüler, die
einem russischsprachigen Kontext entstammen, diesen aus Prestigegründen, um nicht als
„Ausländer“ wahrgenommen zu werden, nicht kenntlich machen. Analoges gilt für Pol-
nisch (Tab. 7).
17
Auch diese Gruppe ist nicht sehr groß, insofern sind die Zahlen mit Bedacht zu interpretie-
ren. Vgl. im Übrigen Anmerkung 16.

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 231
Auch hier ist Spanisch die sympathischste Sprache; es folgt Polnisch mit
45,4 Prozent, dann, etwas über dem Gesamtdurchschnitt, Englisch mit 40,9
Prozent. Entschieden ist wiederum die Ablehnung des Türkischen (54,5 Pro-
zent); auch Arabisch wird überdurchschnittlich oft genannt. Russisch hinge-
gen nennt von den Polnisch-sprachigen Schülern kein einziger, Polnisch
auch nicht.

Die sehr deutliche Ablehnung des Türkischen durch die Russisch- und Pol-
nisch-Sprecher, aber auch durch die einsprachig-deutsche Mehrheit, hat kei-
ne ganz klare Entsprechung in der Gruppe der Türkisch-sprachigen Schüler
(Tab. 8).

Sympathische Sprachen Unsympathische Sprachen


Spanisch 31,3% Französisch 17,5%
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Türkisch 30,0% Russisch 16,3%


Englisch 25,0% Polnisch 11,3%
Französisch 23,8% Chinesisch 11,3%
Italienisch 22,5% Arabisch 8,8%
Arabisch 18,8% Serbisch 8,8%

Tab. 8: Sympathische und unsympathische Sprachen (Türkisch; N=80)

Zwar werden hier bei den unsympathischen Sprachen Russisch an zweiter und
Polnisch (zusammen mit Chinesisch) an dritter Stelle relativ prominent ge-
nannt, doch die Zahlen sind insgesamt erheblich niedriger als in den anderen
Teilgruppen,18 und die Antipathie ist nicht so klar fokussiert. Arabisch wird
sogar von 18,8 Prozent als sympathisch bezeichnet (und nur von 8,8 Prozent
als unsympathisch).

Offenbar gibt es innerhalb der verschiedenen Minderheiten erhebliche Unter-


schiede in der gegenseitigen Wahrnehmung. Bemerkenswert ist, dass das Tür-
kische von den anderen Minderheiten in weit stärkerem Maße negativ gese-
hen wird, als dies umgekehrt aus der Sicht der Sprecher des Türkischen für
andere Migrantensprachen gilt.

18
Das hängt auch damit zusammen, dass die Zahl derjenigen, die zu dieser Frage keine Anga-
ben machen, mit 36,3 Prozent deutlich höher liegt als bei den anderen Gruppen (nur Deutsch:
15,0 Prozent, Russisch: 7,1 Prozent, Polnisch: 13,6 Prozent).

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232 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

4. Welche Sprachen sich Schüler wünschen würden


Eine andere Möglichkeit der Annäherung an die Einstellungen gegenüber an-
deren Sprachen besteht darin, Wunschfremdsprachen zu erfragen, und zwar
mit der Implikation, dass die Kompetenz in den ausgewählten Sprachen ers-
tens vollständig gegeben und zweitens vollkommen anstrengungslos erwor-
ben ist (so dass Distanz und vermutete Kompliziertheit einer Sprache keine
Gegenargumente sind).19 Die Ergebnisse zeigt Diagramm 5.
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Diagr. 5: Gewünschte Sprachen


Frage: Wenn du den Wunsch frei hättest, drei Sprachen (außer Deutsch) perfekt zu
können, welche würdest du aussuchen? (Das können auch Sprachen sein, die du
schon kannst, aber nicht Deutsch.) (bis zu drei Nennungen möglich)20

19
Die Vorstellung eines Kompetenzerwerbs sozusagen durch Zauberei scheint als Gedanken-
spiel für die Schüler so abwegig nicht zu sein; jedenfalls haben nur 20 Schüler (3,9 Prozent)
diese Frage überhaupt nicht beantwortet.
20
In einem Pretest hatte sich gezeigt, dass der Begriff „Sprache“ zumindest im schulischen Kon-
text im ersten Zugriff überwiegend prägnant als „Fremdsprache“ gelesen wird; der Status von
Deutsch war daher vielfach unklar. Für die Mehrheit der Schüler – auch für diejenigen mit ei-
ner anderen (oder weiteren) Muttersprache als Deutsch – war die Kompetenz im Deutschen so
selbstverständlich, dass an Deutsch in diesem Zusammenhang nicht gedacht wurde. Um sol-
che Missverständnisse – und entsprechende Unklarheiten bei der Auswertung – zu vermeiden,
wurde Deutsch dann explizit ausgeschlossen. (Deutsch wurde dann auch tatsächlich von nur
einem Schüler genannt.) Allerdings ergibt sich aus dieser Festlegung eine gewisse interpreta-
torische Schwierigkeit in Bezug auf die Fälle, in denen Schüler mit einer anderen Mutterspra-
che diese nennen bzw. gerade nicht nennen (vgl. unten Anmerkung 24).

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 233
Dass Englisch von mehr als drei Vierteln der Befragten (76,3 Prozent) am
häufigsten genannt wird, ist wenig überraschend; allerdings hätte man auch
einen noch höheren Wert erwarten können, wenn man etwa die Tatsache in
Rechnung stellt, dass in der Repräsentativumfrage 95,6 Prozent der Befragten
auf die Frage, welche Fremdsprachen in der Schule unterrichtet werden soll-
ten, Englisch nennen.21 Es folgt das bei der Sympathie-Frage oft genannte
Spanisch (62,2 Prozent), dann, mit einem höheren Wert als bei der Sympathie-
Frage (vgl. oben Diagr. 3 und 4), Französisch (40,2 Prozent). Welches im
Einzelnen die Beweggründe waren, die zur Nennung der einen oder anderen
Sprache geführt haben, lässt sich natürlich aus den Zahlen nicht direkt able-
sen. Prinzipiell ist davon auszugehen, dass hier sowohl Sympathie- und Pres-
tige-Faktoren als auch utilitaristische Erwägungen eine Rolle spielen. Letztere
dürften zweifellos für die Mehrzahl der Chinesisch-Nennungen ausschlagge-
bend gewesen sein; der Vergleich mit der Sympathie-Frage (vgl. Diagr. 3)
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zeigt, dass auch Englisch von seiner ökonomischen und politischen Bedeu-
tung profitiert, während umgekehrt Italienisch zwar für 33,5 Prozent der
Schüler sympathisch ist, sich aber nur 24,5 Prozent wünschen, es perfekt zu
können.

Türkisch, Russisch, Arabisch und Polnisch werden erst mit größerem Abstand
als Wunschsprachen genannt. Natürlich spiegelt sich auch hier die Zusam-
mensetzung der Stichprobe wider, insofern mit dem Effekt der positiven Ei-
genbewertungen der Minderheiten zu rechnen ist; die Tabellen 9 bis 12 zeigen
daher die Ergebnisse wieder gesondert nach den einzelnen Sprechergruppen.

Gewünschte Sprachen
Englisch 82,0%
Spanisch 67,3%
Französisch 43,1%
Italienisch 25,8%
Niederländisch 15,7%
Chinesisch 13,1%
Russisch 8,2%
Türkisch 5,2%
Polnisch 4,6%

Tab. 9: Gewünschte Sprachen (Deutsch; N=306)


21
Vgl. Gärtig/Plewnia/Rothe (2010, S. 253-257).

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234 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Die Zahlen der Nur-Deutsch-Muttersprachler unterscheiden sich vom Durch-


schnitt nicht erheblich; die Unterschiede ergeben aber ein klares Muster. Je-
weils geringfügig höher als beim Gesamtdurchschnitt sind die Werte der Spra-
chen auf den vorderen Listenplätzen (Englisch, Spanisch, Französisch,
Italienisch, Niederländisch). Es sind dies die Sprachen der (west-)europäi-
schen Nachbarn. Chinesisch, das viele wohl als Wirtschaftssprache der Zu-
kunft vermuten, liegt auf dem Niveau des Durchschnitts. Niedriger sind die
Werte der Minderheitensprachen bzw. die der Sprachen der ost- und südosteu-
ropäischen Länder;22 für Türkisch ist der Wert nicht einmal halb so hoch wie
der Gesamtdurchschnitt.
Ganz anders sehen die Ergebnisse erwartungsgemäß für die Teilgruppe aus,
die (auch) Russisch als Mutter-/Vatersprache angibt (Tab. 10).

Gewünschte Sprachen
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Englisch 78,6%
Russisch 71,4%
Spanisch 50,0,%
Französisch 35,7%
Chinesisch 14,3%
Portugiesisch 14,3%

Tab. 10: Gewünschte Sprachen (Russisch; N=1423)

Am häufigsten genannt wird auch hier Englisch (etwas häufiger als im Ge-
samtdurchschnitt, etwas seltener als in der Gruppe der Nur-Deutsch-Mutter-
sprachler); es folgt mit 71,4 Prozent Russisch. Diese sehr positive Eigenbe-
wertung zeugt von einer hohen Sprachloyalität zumindest der befragten
Schüler.24 Spanisch und Französisch werden seltener gewünscht; Türkisch
und Polnisch werden von keinem einzigen Schüler genannt.
22
Für Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und Griechisch ist dasselbe Muster erkennbar; da die
Zahlen insgesamt jedoch sehr klein sind, werden sie hier nicht im Detail referiert. Arabisch
wird nur von 1,0 Prozent der Befragten genannt.
23
Zum Problem der niedrigen Probandenzahl vgl. oben Anmerkung 16.
24
Dass Russisch hier vergleichsweise oft gewünscht wird, könnte auch damit zu tun haben,
dass die eigene Kompetenz von den Schülern als defizitär wahrgenommen wird; diese Deu-
tung würde auch zu den Untersuchungen von Tanja Anstatt zu den Spracheinstellungen von
russischsprachigen Jugendlichen passen (vgl. Anstatt i.d.Bd., Kap. 2.1). Damit ist natürlich
noch nichts über die Sprachloyalität der anderen Gruppen gesagt. Die Tatsache, dass Tür-
kisch von den türkischsprachigen Schülern weniger häufig gewünscht wird als Russisch von
den russischsprachigen Schülern, wäre demnach nicht ein Indiz für eine geringere
Sprachloyalität der türkischsprachigen Schüler, sondern würde eher daran liegen, dass die-

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 235
Die Schüler mit Polnisch als Mutter-/Vatersprache hingegen nennen Russisch
als Wunschsprache durchaus, wenngleich mit 9,1 Prozent noch etwas seltener
als der Gesamtdurchschnitt, aber auch etwas häufiger als die Schüler, die nur
Deutsch als Mutter-/Vatersprache angeben (Tab. 11).

Gewünschte Sprachen
Spanisch 63,6%
Englisch 59,1%
Polnisch 50,0%
Französisch 27,3%
Chinesisch 27,3%
Italienisch 13,6%
Russisch 9,1%
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Arabisch 9,1%
Türkisch 4,5%

Tab. 11: Gewünschte Sprachen (Polnisch; N=22)

In dieser Gruppe (und nur in dieser) ist Spanisch noch vor Englisch die meist-
genannte Sprache; Polnisch hat mit 50,0 Prozent den dritten Platz inne. Fran-
zösisch und Italienisch werden seltener genannt als im Gesamtdurchschnitt,
Chinesisch deutlich und Arabisch etwas häufiger.25
Bei den Türkisch-Sprechern steht wiederum Englisch vor Spanisch; das Tür-
kische wird häufiger als im Durchschnitt und als bei allen anderen Gruppen
genannt (Tab. 12 auf der folgenden Seite).
Allerdings wird Türkisch hier nur von 41,3 Prozent der Türkisch-Sprecher
genannt; das ist zwar wesentlich mehr als in allen anderen Gruppen, aber für
eine Eigenbewertung erstaunlich niedrig. Deutlich häufiger genannt wird
auch Arabisch (25,0 Prozent gegenüber 6,3 Prozent im Gesamtdurchschnitt),
seltener hingegen Italienisch (15,0 Prozent gegenüber 24,5 Prozent im Ge-
samtdurchschnitt). Russisch (6,3 Prozent) und besonders Polnisch (1,3 Pro-
zent) liegen jeweils deutlich unter den Durchschnittswerten und auch unter
den Werten der Gruppe der Nur-Deutsch-Muttersprachler.

sen ihre Türkisch-Kompetenz vielfach so selbstverständlich ist, dass sie sozusagen nicht
gewünscht zu werden braucht. (Aus diesem Grund wurde Deutsch auch explizit aus den
wünschbaren Sprachen ausgeschlossen.)
25
Allerdings ist auch hier bei der Interpretation die relativ niedrige Probandenzahl zu berück-
sichtigen.

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236 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Gewünschte Sprachen
Englisch 71,3%
Spanisch 55,0%
Türkisch 41,3%
Französisch 41,3%
Arabisch 25,0%
Italienisch 15,0%
Chinesisch 15,0%
Russisch 6,3%

Tab. 12: Gewünschte Sprachen (Türkisch; N=80)

Obgleich mit dieser Frage durchaus andere Dinge abgefragt wurden als mit
den Sympathie-Fragen, sind ähnliche Muster erkennbar. Für diejenigen, die
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nur Deutsch als Muttersprache haben, sind offenbar vor allem die großen
(west-)europäischen Sprachen attraktiv; die Sprachen der in Deutschland prä-
senten Migranten werden nur selten als Wunschsprachen genannt. Deren
Prestige ist auch innerhalb der anderen Teilgruppen sehr unterschiedlich ver-
teilt. Selbst bei den Eigenbewertungen gibt es deutliche Differenzen; am nied-
rigsten sind hier die Werte der Sprecher des Türkischen.

5. Sprachgefallen

Die bisher vorgestellten Fragen waren offen formuliert, d.h. die Probanden
konnten und mussten bei ihren Antworten eigene Formulierungen wählen. Auf
diese Weise ist es möglich, aktiv präsente Wissensbestände abzufragen. Die
Auswertung offener Fragen ist jedoch vergleichsweise mühsam, weil die Ant-
worten oft relativ heterogen ausfallen und jede Antwort einzeln erfasst und
katalogisiert werden muss. Das Verfahren stößt zudem an seine Grenzen, wenn
es darum geht, Graduierungen zu erfassen, weil die Probanden nur zwischen
Nennung und Nichtnennung entscheiden können. Aus diesem Grund wurde
den Schülern ein anders perspektivierter Fragenblock vorgelegt, bei dem für
eine Liste von Sprachen (Deutsch, Polnisch, Italienisch, Russisch, Französisch,
Spanisch, Türkisch und Englisch) jeweils auf einer Fünferskala von „sehr gut“
bis „sehr schlecht“ angegeben werden sollte, wie gut die betreffenden Spra-
chen den Schülern gefallen. Zu den Antworten lassen sich Mittelwerte bilden;26
die Ergebnisse für die hier fokussierten Sprachen zeigt Diagramm 6.
26
Dabei wird für die Diagramme für „sehr gut“ der Wert 2 gesetzt, für „gut“ 1, für „teils/teils“
0, für „schlecht“ 1 und für „sehr schlecht“ 2.

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 237

Diagr. 6: Sprachgefallen (ausgewählte Sprachen)27


Frage: Bitte bewerte nun einige Sprachen danach, wie gut sie dir gefallen. Wie gut
gefällt dir …? Tabelle: Deutsch/Polnisch/Italienisch/Russisch/Französisch/Spanisch/
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Türkisch/Englisch (Antwortmöglichkeiten jeweils: sehr gut, gut, teils/teils, schlecht,


sehr schlecht, weiß nicht)
Diagramm 6 zeigt die Ergebnisse der Mittelwerte für die gesamte Stichprobe.
Der Vergleich macht augenfällig, dass Deutsch mit einem Mittelwert von 0,86
insgesamt klar besser bewertet wird als die übrigen drei Sprachen; Türkisch
schneidet hier mit 0,39 am schlechtesten ab.28 Diese Bewertungen sind rela-
tiv deutlich und sicher, es gibt bei diesem Fragenblock nur sehr wenig Ausfäl-
le: Die Frage nach Deutsch wurde ausnahmslos von allen Schülern beantwor-
tet, die Zahl der fehlenden Werte für das Türkische liegt bei nur 2,5 Prozent,
für das Russische bei nur 3,7 Prozent; lediglich bei Polnisch ist der Wert mit
5,7 Prozent etwas höher.
27
Statistik: Welch F(3, 1072)=156,62, p<0,001, η2=0,15; signifikante Post-hoc-Tests und ent-
sprechende t-Tests: MD=2,14 (SED=0,04), MPol=3,33 (SEPol=0,05), t(922)=17,56, p<0,001,
r=0,50; MD=2,14 (SED=0,04), MTü=3,39 (SETü=0,07), t(845)=16,10, p<0,001, r=0,48;
MD=2,14 (SED=0,04), MRu=3,2 (SERu=0,06), t(900)=−14,83, p<0,001, r=0,44. – Den statisti-
schen Berechnungen (hier sowie bei den folgenden entsprechenden Diagrammen) liegen
jeweils folgende Variablenwerte zugrunde: Sprachgefallen jeweils 1=„sehr gut“, 2=„gut“,
3=„teils/teils“, 4=„schlecht“, 5=„sehr schlecht“; Stereotype jeweils 1=„sehr freundlich“/
„sehr gebildet“/„sehr temperamentvoll“, 2=„freundlich“/„gebildet“/„temperamentvoll“,
3=„teils/teils“, 4=„unfreundlich“/„ungebildet“/„ruhig“, 5=„sehr unfreundlich“/„sehr unge-
bildet“/„sehr ruhig“. Als Post-hoc-Tests werden bei der ANOVA der Bonferroni-Test und
GT2 nach Hochberg und beim Welch-Test die Werte nach Games-Howell berechnet. Ver-
wendete Abkürzungen: Nied=Niederrhein, Ma=Mannheim, D=Deutsch, nD=L-nur Deutsch,
Pol=Polnisch bzw. L-Polnisch, Ru=Russisch bzw. L-Russisch, Tü=Türkisch bzw. L-Tür-
kisch, tD=typischer Deutscher, tRu=typischer Russe, tTü=typischer Türke.
28
Die Werte für die anderen abgefragten Sprachen, die im Diagramm nicht abgebildet sind,
liegen erwartungsgemäß sämtlich im positiven Bereich: Spanisch 1,37, Englisch 1,24, Ita-
lienisch 0,99 und Französisch 0,33.

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238 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Die Mittelwerte geben bereits ein einigermaßen klar konturiertes Bild der Be-
wertung der untersuchten Sprachen. Allerdings wird durch diese Form der Dar-
stellung bei extrem unterschiedlichem Antwortverhalten innerhalb der Gruppe
eine etwaige Heterogenität verdeckt, weil positive und negative Antworten ge-
wissermaßen miteinander verrechnet werden. Tatsächlich gibt es durchaus
(wie bereits bei den bisherigen Analysen zu erkennen war) einen gewissen
Grad an Heterogenität im Antwortverhalten der Schüler. Das zeigt ein Blick
auf die Standardabweichungen zu den einzelnen Sprachen (Diagr. 7).
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Diagr. 7: Sprachgefallen/Standardabweichungen

Das Maß der Standardabweichung gibt an, wie hoch die Streuung aller Werte
um den Mittelwert ist. Je „einiger“ sich die Befragten sind, desto niedriger
fällt die Standardabweichung aus; je stärker die Antworten divergieren, desto
höher ist die Standardabweichung. In Diagramm 7 sieht man, dass die Stan-
dardabweichung bei der Bewertung des Spanischen am niedrigsten ist; auch
die Urteile über Englisch und Deutsch fallen relativ einhellig aus. Der Wert
bei Französisch dagegen ist der zweithöchste. Dies passt zu den Antworten
auf die Sympathie-Fragen (vgl. oben Diagr. 3 bzw. 4 und Tab. 4 bis 8), wo
Spanisch und auch Englisch ja durchgängig positiv bewertet wurden, Franzö-
sisch hingegen eher umstritten war. Hoch ist die Standardabweichung auch
bei Polnisch, Russisch und Türkisch, d.h. hinter den ohnehin niedrigen Mittel-
werten gibt es auch eine große Varianz im Antwortverhalten.
Die unterschiedlich hohen Standardabweichungen legen nahe, die Daten nach
Untergruppen weiter aufzuschlüsseln. Diagramm 8 bietet zunächst (analog zu
Tab. 4) eine Differenzierung nach Erhebungsorten.

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Diagr. 8: Sprachgefallen (nach Schulen)29

Statistisch signifikant sind die Unterschiede zwischen den beiden Schulen am


Niederrhein und der Mannheimer Schule bei Italienisch und Französisch,
hochsignifikant sind sie bei Türkisch, das vom Durchschnitt der Mannheimer
Schüler wesentlich weniger schlecht bewertet wird als von den Schülern vom
Niederrhein (0,06 gegenüber 0,73).30 Nach den Ergebnissen in Kapitel 3
und 4 ist zu erwarten, dass diesen Differenzen Effekte der Eigenbewertungen
zugrunde liegen. In den Diagrammen 9 bis 12 werden daher die Antworten für
die einzelnen Sprachen separat dargestellt, wobei wiederum jede Sprecher-
gruppe gesondert ausgewiesen wird.

Wie bereits die niedrige Standardabweichung (vgl. Diagr. 7) vermuten ließ,


fallen die Antworten der einzelnen Teilgruppen recht ähnlich aus. Das Deut-
sche wird von den Schülern unabhängig von ihrer Erstsprache/ihren Erstspra-
chen im Großen und Ganzen gleich bewertet, und zwar in gleicher Weise posi-
tiv; die Unterschiede sind nicht signifikant (Diagr. 9 auf der folgenden Seite).

29
Statistik: Spanisch: MNied=1,64 (SENied=0,05), MMa=1,62 (SEMa=0,05), t(498)=0,29, n.s.,
r=0,01; Englisch: MNied=1,79 (SENied=0,06), MMa=1,73 (SEMa=0,05), t(506)=0,71, n.s., r=0,03;
Italienisch: MNied=1,87 (SENied=0,06), MMa=2,15 (SEMa=0,07), t(499)=3,12, p<0,01, r=0,14;
Französisch: MNied=2,53 (SENied=0,08), MMa=2,82 (SEMa=0,09), t(496)=2,54, p<0,05, r=0,11;
Russisch: MNied=3,27 (SENied=0,08), MMa=3,13 (SEMa=0,08), t(485)=1,24, n.s., r=0,06; Pol-
nisch: MNied=3,4 (SENied=0,07), MMa=3,27 (SEMa=0,08), t(476)=1,24, n.s., r=0,06; Türkisch:
MNied=3,73 (SENied=0,08), MMa=3,06 (SEMa=0,1), t(464)=5,23, p<0,001, r=0,24.
30
Für Russisch und Polnisch gilt im Prinzip dasselbe, nur werden (wegen des durch das kleine
N relativ hohen Standardfehlers) die Unterschiede nicht signifikant.

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240 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Diagr. 9: Sprachgefallen Deutsch (nach Sprechern)31


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Ganz anders sieht die Situation bei den Minderheitensprachen aus. Diagramm
10 zeigt die Bewertungen für das Russische. Von denjenigen, die nur Deutsch
als Erstsprache haben, wird Russisch leicht negativ bewertet (0,38); die Eigen-
bewertungen hingegen sind mit 1,92 klar positiv (und damit so hoch wie die
keiner anderen Gruppe; vgl. unten Diagr. 13). Positiv wird Russisch, in einer
Art innerslawischen Solidarität, auch von den Polnisch-Sprechern bewertet
(mit 0,59), während der Wert der Türkisch-Sprecher leicht negativ ist (0,22).

Diagr. 10: Sprachgefallen Russisch (nach Sprechern)32

31
Statistik: ANOVA F(3, 417)=2,15, n.s., η2=0,02; Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachver-
gleiche ist signifikant.
32
Statistik: Welch F(3, 58)=171,6, p<0,001, η2=0,13; signifikante Post-hoc-Tests und entspre-
chende t-Tests: MnD=3,38 (SEnD=0,07), MPol=2,41 (SEPol=0,18), t(27)=4,98, p<0,001, r=0,69;
MnD=3,38 (SEnD=0,07), MRu=1,08 (SERu=0,08), t(38)=22,94, p<0,001, r=0,97; MRu=1,08

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 241

Diagr. 11: Sprachgefallen Polnisch (nach Sprechern)33


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Der Effekt der positiven Eigenbewertung zeigt sich auch sehr deutlich beim
Polnischen. Denjenigen Schülern, die auch Polnisch sprechen, gefällt Pol-
nisch gut (1,55), alle anderen bewerten es negativ. Das gilt auch für die Rus-
sisch-Sprecher (die sich also sozusagen nicht richtig revanchieren), deren
Wert aber immerhin, abgesehen von den Polnisch-Sprechern selber, mit 0,14
der höchste ist (Diagr. 11).
Russisch und Polnisch werden also insgesamt sehr ähnlich bewertet: von der
jeweils eigenen Gruppe klar positiv, von allen anderen hingegen leicht negativ.
Das Bild, das sich für die Bewertung des Türkischen ergibt, zeigt Dia-
gramm 12 auf der folgenden Seite.
Im Prinzip zeigt sich auch hier dasselbe Muster. Die Sprecher des Türkischen
– und nur sie – bewerten das Türkische sehr positiv (mit 1,69), alle anderen
Gruppen bewerten es negativ. Beim Russischen und Polnischen waren die
Fremdbewertungen jedoch nur leicht negativ, hier sind sie klar negativ. Am
wenigsten ablehnend äußern sich noch die Schüler mit nur Deutsch als Erst-
sprache (mit 0,86), noch einmal deutlich distanzierter urteilen die Polnisch-
Sprecher (mit 1,05) und die Russisch-Sprecher (mit 1,15; dies ist der nied-

(SERu=0,08), MPol=2,41 (SEPol=0,18), t(28)=6,74, p<0,001, r=0,79; MRu=1,08 (SERu=0,08),


MTü=3,22 (SETü=0,15), t(81)=12,7, p<0,001, r=0,82; MPol=2,41 (SEPol=0,18), MTü=3,22
(SETü=0,15), t(52)=3,43, p<0,01, r=0,43.
33
Statistik: ANOVA F(3, 394)=23,16, p<0,001, η2=0,15; signifikante Post-hoc-Tests und ent-
sprechende t-Tests: MnD=3,42 (SEnD=0,06), MPol=1,45 (SEPol=0,19), t(26)=9,56, p<0,001,
r=0,88; MRu=3,14 (SERu=0,29), MPol=1,45 (SEPol=0,19), t(34)=5, p<0,001, r=0,65; MPol=2,41
(SEPol=0,18), MTü=3,22 (SETü=0,15), t(91)=7,85, p<0,001, r=0,64.

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242 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

rigste Wert überhaupt von allen Teilfragen und Teilgruppen). Türkisch scheint
bei den Schülern in noch stärkerer Weise zu polarisieren, als dies bei den bei-
den anderen fokussierten Minderheitensprachen der Fall ist.
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Diagr. 12: Sprachgefallen Türkisch (nach Sprechern)34

In Diagramm 13 sind noch einmal die jeweiligen Eigenbewertungen aus den


Diagrammen 9 bis 12 gegenübergestellt.

Diagr. 13: Sprachgefallen/Vergleich der Eigenbewertungen35


34
Statistik: Welch F(3, 37)=204,6, p<0,001, η2=0,48; signifikante Post-hoc-Tests und entspre-
chende t-Tests: MnD=3,86 (SEnD=0,07), MTü=1,31 (SETü=0,08), t(197)=24,45, p<0,001, r=0,87;
MRu=4,15 (SERu=0,30), MTü=1,31 (SETü=0,08), t(14)=9,25, p<0,001, r=0,92; MPol=4,05
(SEPol=0,27), MTü=1,31 (SETü=0,08), t(23)=9,84, p<0,001, r=0,90.
35
Statistik: Welch F(3, 50)=41,11, p<0,001, η2=0,12; signifikante Post-hoc-Tests und entspre-
chende t-Tests: MTü=4,69 (SETü=0,08), MnD=3,96 (SEnD=0,05), t(154)=7,49, p<0,001,
r=0,52; MPol=4,55 (SEPol=0,19), MnD=3,96 (SEnD=0,05), t(325)=2,85, p<0,05, r=0,16;
MRu=4,92 (SERu=0,08), MnD=3,96 (SEnD=0,05), t(26)=10,27, p<0,001, r=0,90.

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 243
Man sieht sehr deutlich, dass die Eigenbewertungen derjenigen, die (auch)
eine andere Erstsprache als Deutsch haben, wesentlich positiver ausfallen als
die Eigenbewertungen derjenigen, die nur Deutsch als Erstsprache haben –
wobei es aber in der generell positiven Bewertung des Deutschen einen brei-
ten Konsens zu geben scheint, der keine Extrembewertungen der Eigengruppe
erforderlich macht (vgl. Diagr. 9). Anders ist dies bei den Minderheitenspra-
chen; sie leben gewissermaßen von den positiven Eigenbewertungen, die je-
weils zugleich weitgehend isoliert sind. Der Wert der Russisch-Sprecher ist
der höchste; die Unterschiede innerhalb dieser drei Gruppen sind jedoch sta-
tistisch nicht signifikant.

6. Sprecherstereotype

Mit den in den bisherigen Kapiteln beschriebenen Fragen wurde versucht, die
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Einstellungen von Schülern zu anderen Sprachen direkt zu erfassen; die Er-


gebnisse geben ein einigermaßen klar konturiertes Bild. Allerdings ist durch-
aus zweifelhaft, dass derartige Antworten als Resultate intensiver sprachrefle-
xiver Prozesse zu interpretieren sind; ebenso wenig kann man erwarten, dass
sich die abgegebenen Urteile auf isoliert wahrgenommene und kontextfrei be-
wertete Sprachen beziehen. Da Sprache nicht isolierbar und nicht von ihren
Sprechern zu trennen ist, ist davon auszugehen, dass die Aussagen der Schüler
zumindest mitgesteuert sind durch den Rückgriff auf allgemeinere Konzepte,
in denen die Sprachnamen mit bestimmten kulturellen Wissensbeständen und
Stereotypen und eben auch mit Erfahrungen mit oder Vorstellungen von zuge-
hörigen Sprechergruppen verbunden sind. Natürlich werden bei der Frage
nach dem Sprachgefallen zwangsläufig auch – oder vielleicht sogar primär –
andere Aspekte als nur die ohnehin schwer greifbare Ästhetik einzelner Sys-
temebenen einer Sprache mitbewertet (was auch plausibel machen mag, dass
die Frage nach dem Sprachgefallen für die Probanden offenbar leicht zu be-
antworten war). Die daraus resultierenden Unschärfen sind unvermeidlich; sie
können jedoch gemildert werden, indem man die direkt sprach(en)bezogenen
Fragen um ein komplementäres Set an sprecherbezogenen Fragen erweitert.

In Ergänzung zu den in Kapitel 3 bis 5 vorgestellten Fragen wurde daher mit


Hilfe von semantischen Differenzialen (nach Osgood/Suci/Tannenbaum
1957) nach einzelnen Sprecherstereotypen gefragt. Die Schüler sollten meh-
rere „typische“ Sprecher anhand von drei Eigenschaften bewerten. Dazu
wurden ihnen fünfstufige bipolare Skalen, deren Pole durch antonyme Ad-

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244 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

jektive bezeichnet waren, vorgelegt. Es handelt sich um die Merkmale


freundlich/unfreundlich, gebildet/ungebildet und temperamentvoll/ruhig.36
Dabei stehen die Merkmale freundlich/unfreundlich sowie temperamentvoll/
ruhig für die Stereotype konstituierende sogenannte „Wärme“-Kategorie,
das Merkmal gebildet/ungebildet gehört der „Status“-Kategorie an (vgl. Fis-
ke et al. 2002).

Die beiden erstgenannten Merkmale ( freundlich/unfreundlich und gebildet/


ungebildet) spannen eine Skala auf, deren Pole sich hinsichtlich ihrer unter-
stellten sozialen Erwünschtheit klar in eine positive und eine negative Ausfor-
mung übersetzen lassen; hier ist eine eindeutige Wertung impliziert. Beim
zweiten Merkmal der „Wärme“-Kategorie (temperamentvoll/ruhig) ist dies
anders: Beide Skalen-Enden können, je nach sozialem Kontext, als positive
Eigenschaft gewertet werden.
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In Diagramm 14 auf der folgenden Seite sind die Mittelwerte37 der drei abge-
fragten Eigenschaften für den „typischen Deutschen“, den „typischen Rus-
sen“ und den „typischen Türken“ dargestellt.

Beim Merkmal freundlich/unfreundlich liegen die Bewertungen für die drei


typischen Sprecher am engsten beieinander; der „typische Deutsche“ wird mit
0,16 leicht positiv bewertet, der „typische Russe“ und der „typische Türke“
leicht negativ (0,04 bzw. 0,21). Dasselbe Grundmuster, jedoch stärker aus-
geprägt, findet sich beim „Status“-Merkmal gebildet/ungebildet; hier wird
insbesondere der „typische Deutsche“ deutlich positiver (0,5) und der „typi-
sche Türke“ deutlich negativer (0,52) bewertet. Im nominell negativen Be-
reich liegt beim „typischen Deutschen“ lediglich das dritte Merkmal, tempe-
ramentvoll/ruhig (0,16), wobei damit allerdings, anders als bei unfreundlich
und ungebildet, keine sozial negative Zuschreibung verbunden sein muss.
Umgekehrt ist dies auch dasjenige Merkmal, bei dem der „typische Russe“
(0,59) und stärker noch der „typische Türke“ (0,98) klar positiv bewertet wer-
den. Es ist denkbar, dass es sich hier zumindest teilweise um eine kompensa-
torische Bewertung handelt.38
36
Dieselben Differenziale sind bereits in der Repräsentativstudie in Bezug auf Dialektsprecher
(der „typische Bayer“ und der „typische Sachse“) abgefragt worden; vgl. Plewnia/Rothe (i.Dr.).
37
In den Diagrammen wird für „sehr freundlich (usw.)“ der Wert 2 gesetzt, für „freundlich
(usw.)“ 1, für „teils/teils“ 0, für „freundlich (usw.)“ 1 und für „sehr freundlich (usw.)“ 2.
38
Zum Phänomen kompensatorischer Ausgleichsbewertungen (etwa die Aufwertung in der
„Wärme“-Kategorie nach Abwertung in der „Status“-Kategorie) vgl. z.B. Schoel/Harris/
Stahlberg (u.B.), Yzerbit/Provost/Corneille (2005) sowie Judd et al. (2005).

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Diagr. 14: Sprecherstereotype39


Frage: Stelle dir nun typische Sprecher dieser Sprachen vor: der typische Deutsche
(bzw. der typische Russe/Italiener/Türke/Franzose). Wie freundlich (bzw. wie gebil-
det/wie temperamentvoll) findest du den typischen Deutschen (bzw. den typischen
Russen/Italie­ner/Tür­ken/Franzosen)? (Antwortmöglichkeiten jeweils: sehr freund-
lich, freundlich, teils/teils, unfreundlich, sehr unfreundlich, weiß nicht bzw. sehr ge-
bildet, gebildet, teils/teils, ungebildet, sehr ungebildet, weiß nicht bzw. sehr tempera-
mentvoll, temperamentvoll, teils/teils, ruhig, sehr ruhig, weiß nicht)

Für die Ermittlung der in Diagramm 14 abgebildeten Mittelwerte wurden die


Antworten aller Schüler zugrunde gelegt. Auch hier ist natürlich mit Reflexen
der Zusammensetzung der Stichprobe zu rechnen. Diagramm 15 auf der fol-
genden Seite zeigt die zugehörigen Standardabweichungen.
Am niedrigsten ist die Standardabweichung mit einem Wert von 0,76 beim
„Status“-Merkmal gebildet/ungebildet in Bezug auf den „typischen Deut-

39
Statistik: freundlich: Welch F(2, 968)=14,75, p<0,001, η2=0,02; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MtD=3,16 (SEtD=0,04), MtRu=2,96 (SEtRu=0,05), t(975)=3,07,
p<0,01, r=0,10; MtD=3,16 (SEtD=0,04), MtTü=2,79 (SEtTü=0,06), t(935)=5,33, p<0,001,
r=0,17; gebildet: Welch F(2, 927)=159,67, p<0,001, η2=0,17; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MtD=3,5 (SEtD=0,03), MtRu=2,88 (SEtRu=0,04), t(952)=11,46,
p<0,001, r=0,35; MtD=3,5 (SEtD=0,03), MtTü=2,48 (SEtTü=0,05), t(864)=16,93, p<0,001,
r=0,50; MtRu=2,88 (SEtRu=0,04), MtTü=2,48 (SEtTü=0,05), t(923)=6,08, p<0,001, r=0,20; tem-
peramentvoll: ANOVA F(2, 1406)=157,86, p<0,001, η2=0,18; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MtD=2,84 (SEtD=0,05), MtRu=3,59 (SEtRu=0,05), t(929)=−11,52,
p<0,001, r=0,35; MtD=2,84 (SEtD=0,05), MtTü=3,98 (SEtTü=0,05), t(959)=17,13, p<0,001,
r=0,48; MtRu=3,59 (SEtRu=0,05), MtTü=3,98 (SEtTü=0,05), t(924)=5,89, p<0,001, r=0,19.

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246 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

schen“; am höchsten ist sie mit 1,22 beim Merkmal freundlich/unfreundlich in


Bezug auf den „typischen Türken“. In der Tendenz gilt das auch für die übri-
gen Merkmale: Beim „typischen Deutschen“ ist die Standardabweichung
niedriger, beim „typischen Türken“ (bei dem alle Werte über 1 liegen) ist sie
höher, der „typische Russe“ liegt dazwischen.
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Diagr. 15: Sprecherstereotype/Standardabweichungen

Aufschlussreich ist es in diesem Zusammenhang auch, sich die Quote der feh-
lenden Antworten bzw. der Enthaltungen anzusehen. Bei allen Befragungen
werden einzelne Fragen von einem gewissen Prozentsatz der Befragten nicht
beantwortet. Die entsprechenden Werte sind in Diagramm 16 wiedergegeben.

Diagr. 16: Sprecherstereotype/Fehlende Werte

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 247
Die Werte unterscheiden sich einerseits entlang der drei Sprecherstereotype,
andererseits entlang der drei abgefragten Merkmale. Für das Merkmal freund-
lich/unfreundlich gibt es für alle Sprecher die niedrigsten Ausfallwerte (d.h.
die Antwort „weiß nicht“ oder keine Angabe). Gewisse Schwierigkeiten ha-
ben die Schüler hingegen mit der Anwendung der Kategorie temperamentvoll/
ruhig; hier finden sich jeweils die höchsten Fehlwerte (zwischen 4,5 Prozent
beim „typischen Deutschen“ und 11,2 Prozent beim „typischen Russen“). Die
Bewertung des „typischen Deutschen“ bereitet offenbar die geringste Mühe;
hier sind für die Merkmale freundlich/unfreundlich und gebildet/ungebildet
fast keine und für das Merkmal temperamentvoll/ruhig nur wenige Ausfälle
(4,5 Prozent) zu verzeichnen. Etwas höher sind die Ausfälle beim „typischen
Türken“ (zwischen 1,6 und 5,9 Prozent), am höchsten sind sie beim „typi-
schen Russen“ (beim Merkmal freundlich/unfreundlich geben 6,9 Prozent, bei
den Merkmalen gebildet/ungebildet und temperamentvoll/ruhig 10,6 bzw.
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11,2 Prozent keine Antwort). Für den „typischen Deutschen“ und auch für den
„typischen Türken“ sind anscheinend bei den meisten Schülern zuverlässig
abrufbare Konzepte vorhanden, während ein Bild des „typischen Russen“ bei
vielen weniger stabil verankert zu sein scheint.40
In den folgenden drei Diagrammen werden die Daten wieder nach Sprecher-
gruppen aufgeschlüsselt; in Diagramm 17 sind die Bewertungen des „typi-
schen Deutschen“ für die drei abgefragten Eigenschaften abgebildet.

Diagr. 17: Sprecherstereotype: der „typische Deutsche“41


40
Eine ähnliche Beobachtung war beim Vergleich der Bewertung von Dialektsprechern in der
Repräsentativerhebung zu machen; hier waren beim Vergleich von „typischem Deutschen“,
„typischem Bayern“ und „typischem Sachsen“ die Ausfälle für den „typischen Sachsen“
besonders hoch (vgl. Plewnia/Rothe i.Dr.).
41
Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 414)=0,35, n.s., η2=0,003; Post-hoc-Tests: Keiner der

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248 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Der linke Säulenblock zeigt die Mittelwerte der Antworten für das Merkmal
freundlich/unfreundlich, der mittlere für gebildet/ungebildet, der rechte für
temperamentvoll/ruhig.42 Insgesamt unterscheiden sich die Bewertungen der
einzelnen Gruppen nicht erheblich. Bei freundlich/unfreundlich sind alle Mit-
telwerte leicht im positiven Bereich (von 0,05 bis 0,22), für gebildet/ungebil-
det sind die Werte noch etwas höher (die Gruppe der Russisch-Sprecher weicht
mit einem Wert von nur 0,07 etwas ab, leidet aber auch, weil sie relativ klein
ist, unter einem höheren Standardfehler). Analoges gilt für temperamentvoll/
ruhig, wo die Werte, diesmal leicht im nominell negativen Bereich, ebenfalls
sehr eng beieinander liegen (0,06 bis 0,23).
Das Bild des „typischen Deutschen“ ist also, zumal wenn man die geringe
Zahl der fehlenden Werte mitberücksichtigt (vgl. Diagr. 16), insgesamt ziem-
lich konsensuell. Bei den Bewertungen des „typischen Russen“ (Diagr. 18)
gibt es hingegen auffällige Unterschiede.
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Diagr. 18: Sprecherstereotype: der „typische Russe“43

Mehrfachvergleiche ist signifikant; gebildet: ANOVA F(3, 412)=1,96, n.s., η2=0,01; Post-
hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant; temperamentvoll: Welch F(3,
37)=0,24, n.s., η2=0,002; Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant.
42
„D“: Schüler, die nur Deutsch als Erstsprache angeben, „R“: Schüler, die (auch) Russisch als
Erstsprache angeben, „P“: Schüler, die (auch) Polnisch als Erstsprache angeben, „T“: Schü-
ler, die (auch) Türkisch als Erstsprache angeben.
43
Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 386)=8,43, p<0,001, η2=0,06; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MnD=3,19 (SEnD=0,06), MRu=1,93 (SERu=0,20), t(292)=4,42,
p<0,001, r=0,25; MRu=1,93 (SERu=0,20), MTü=3,03 (SETü=0,12), t(86)=3,94, p<0,01,
r=0,39; gebildet: ANOVA F(3, 368)=10,98, p<0,001, η2=0,08; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MnD=3,2 (SEnD=0,05), MRu=1,93 (SERu=0,29), t(276)=5,37,
p<0,001, r=0,31; MRu=1,93 (SERu=0,29), MPol=2,91 (SEPol=0,13), t(18)=3,12, p<0,01,

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 249
Hier sieht man sehr deutlich den Effekt der Eigenbewertungen, der auch bei
den Sprachsympathiefragen bereits zum Tragen kam. Von der Gruppe der
Schüler mit nur Deutsch als Erstsprache wird der „typische Russe“ auf
der Skala von freundlich bis unfreundlich leicht im Negativen gesehen (mit
0,19), während die Russisch-Sprecher selbst den „typischen Russen“ ent-
schieden für freundlich halten (mit einem Mittelwert von 1,07). Nur von den
Polnisch-Sprechern kommt auch eine verhalten positive Bewertung (0,36),
während die Türkisch-Sprecher distanzierter urteilen (0,03). Ähnlich sieht
es beim Merkmal gebildet/ungebildet aus, nur dass die Heterostereotype
hier noch etwas stärker in den negativen Bereich reichen (bis 0,25 bei den
Türkisch-Sprechern). Einzig beim Merkmal temperamentvoll/ruhig sind Ei-
gen- und Fremdbewertungen ähnlich gerichtet.
Schon bei den Fragen zu Sprachsympathie und Sprachgefallen war erkennbar,
dass die Sprachen der Migrationsminderheiten generell einen schweren Stand
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haben und dass dies im besonderen Maße für das Türkische gilt (vgl. oben
Diagr. 12). Dieser Sachverhalt zeigt sich auch sehr deutlich bei der Bewertung
der Sprecherstereotype. Diagramm 19 bildet die Bewertungen für den „typi-
schen Türken“ nach Sprechergruppen ab.

Diagr. 19: Sprecherstereotype: „der typische Türke“44

r=0,59; MRu=1,93 (SERu=0,29), MTü=3,25 (SETü=0,10), t(84)=5,17, p<0,001, r=0,49; tem-


peramentvoll: ANOVA F(3, 363)=4,57, p<0,01, η2=0,04; signifikante Post-hoc-Tests und
entsprechende t-Tests: MnD=2,33 (SEnD=0,06), MTü=2,71 (SETü=0,11), t(329)=2,88, p<0,05,
r=0,16; MRu=1,86 (SERu=0,23), MTü=2,71 (SETü=0,11), t(77)=−3,19, p<0,05, r=0,34.
44
Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 408)=64,10, p<0,001, η2=0,32; signifikante Post-hoc-
Tests und entsprechende t-Tests: MnD=3,48 (SEnD=0,06), MTü=1,77 (SETü=0,1), t(140)=14,64,
p<0,001, r=0,78; MRu=3,93 (SERu=0,29), MTü=1,77 (SETü=0,1), t(91)=8,09, p<0,001, r=0,64;

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250 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

Das Muster für den „typischen Türken“ ähnelt im Prinzip demjenigen für den
„typischen Russen“, mit dem Unterschied allerdings, dass die Distanzen zwi-
schen Eigenbewertungen und Fremdbewertungen bei den Merkmalen freund-
lich/unfreundlich und gebildet/ungebildet erheblich größer sind, weil die Fremd-
bewertungen noch entschiedener im negativen Bereich liegen.45 Der Vergleich
der Diagramme 18 und 19 zeigt, dass die einzelnen Gruppen mit einem sehr
unterschiedlichen Prestige ausgestattet sind und dass auch das Verhältnis der
Minderheiten untereinander nicht symmetrisch ist. Der „typische Deutsche“ be-
kommt einvernehmlich von allen Gruppen eine tendenziell positive Bewertung.
Klare Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdbewertungen gibt es hingegen
beim „typischen Russen“ und beim „typischen Türken“. Der „typische Russe“
wird (bezogen auf die Fremdbewertungen) leicht, der „typische Türke“ klar ne-
gativ bewertet. Insbesondere gibt es eine Asymmetrie innerhalb der Minderhei-
ten. Besonders negative Bewertungen erfährt der „typische Türke“ von den
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Russisch- und den Polnisch-Sprechern, d.h. die Russisch- und die Polnisch-
Sprecher bewerten den „typischen Türken“ noch einmal deutlich negativer, als
die Türkisch-Sprecher den „typischen Russen“ bewerten.

Diagramm 20 auf der folgenden Seite bietet noch einmal eine Gegenüberstel-
lung der Eigenbewertungen.

Im linken Balkenblock sind die Mittelwerte der Bewertungen des „typischen


Deutschen“ durch die Schüler, die nur Deutsch als Erstsprache haben, aufge-
tragen, im mittleren die Bewertungen für den „typischen Russen“ durch die
Russisch-Sprecher und im rechten die Bewertungen für den „typischen Tür-
ken“ durch die Türkisch-Sprecher. Die beiden Minderheitengruppen zeigen
eine höhere Eigengruppenloyalität als die Nur-Deutsch-Sprecher; sie bewer-
ten jeweils sich selber deutlich besser, als die Nur-Deutsch-Sprecher den „ty-
pischen Deutschen“ bewerten. (Der Unterschied zwischen den Russisch-Spre-

MPol=3,73 (SEPol=0,23), MTü=1,77 (SETü=0,1), t(99)=−8,69, p<0,001, r=0,66; gebildet:


ANOVA F(3, 396)=53,63, p<0,001, η2=0,29; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende
t-Tests: MnD=3,68 (SEnD=0,05), MTü=2,29 (SETü=0,12), t(362)=11,81, p<0,001, r=0,53;
MRu=4,14 (SERu=0,28), MTü=2,29 (SETü=0,12), t(90)=6,10, p<0,001, r=0,54; MPol=4,14
(SEPol=0,19), MTü=2,29 (SETü=0,12), t(98)=7,52, p<0,001, r=0,60; temperamentvoll: Welch
F(3, 40)=7,93, p<0,001, η2=0,06; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests:
MnD=2,01 (SEnD=0,06), MTü=1,58 (SETü=0,09), t(358)=3,58, p<0,001, r=0,19; MRu=2,57
(SERu=0,29), MTü=1,58 (SETü=0,09), t(89)=4,07, p<0,05, r=0,40.
45
Dabei ist das Muster sogar stabiler, weil es beim „typischen Türken“ insgesamt weniger feh-
lende Werte gibt (vgl. Diagr. 16) und weil auch dadurch, dass die Teilgruppe der Türkisch-
Sprecher größer ist, der Standardfehler bei den Eigenbewertungen geringer ausfällt.

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 251
chern und den Türkisch-Sprechern beim Merkmal gebildet/ungebildet wird
statistisch nicht signifikant; das ist auf den relativ hohen Standardfehler bei
der Gruppe der Russisch-Sprecher zurückzuführen.)
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Diagr. 20: Sprecherstereotype/Vergleich der Eigenbewertungen46

7. Die verschiedenen Sprachen

Sprachen sind verschieden. Diese Feststellung, zu deren Beweis es lediglich


der Evidenz des Augenscheins bedarf, ist an sich trivial; sie hat jedoch Weite-
rungen, wenn man sich bewusst macht, dass die Verschiedenheit des mensch-
lichen Sprachbaus nicht nur beispielsweise Gegenstand grammatisch-typolo-
gischen Interesses ist, sondern auch bestimmte alltagsweltliche und damit
soziale Implikationen trägt. Sprache ist immer ein sehr starkes Unterschei-
dungs-, das heißt – im Wortsinne – Diskriminationsmerkmal; als solches wird
sie von Sprechern genutzt. Sprachen haben ein unterschiedliches soziales
Prestige; der Frage, wie sich die verschiedenen Prestigelagen in Deutschland
verteilen, sind wir in diesem Beitrag nachgegangen. Die Ergebnisse lassen
sich in drei Punkten zusammenfassen:
46
Statistik: freundlich: ANOVA F(2, 394)=44,13, p<0,001, η2=0,18; signifikante Post-hoc-
Tests und entsprechende t-Tests: MTü=4,23 (SETü=0,10), MnD=3,22 (SEnD=0,05), t(381)=8,96,
p<0,001, r=0,42; MRu=4,07 (SERu=0,20), MnD=3,22 (SEnD=0,05), t(316)=3,52, p<0,01,
r=0,19; gebildet: Welch F(2, 32)=2,73, n.s., η2=0,02; signifikante Post-hoc-Tests: Keiner der
Mehrfachvergleiche ist signifikant; temperamentvoll: ANOVA F(2, 383)=87,47, p<0,001,
η2=0,31; signifikante Post-hoc-Tests und entsprechende t-Tests: MTü=4,42 (SETü=0,09),
MnD=2,94 (SEnD=0,06), t(370)=12,70, p<0,001, r=0,55; MRu=4,14 (SERu=0,23), MnD=2,94
(SEnD=0,06), t(307)=4,71, p<0,001, r=0,26.

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252 Albrecht Plewnia / Astrid Rothe

1) Von den zirka 5 000 bis 6 000 Sprachen der Welt ist für die Sprecher in
Deutschland nur ein sehr kleiner Teil – einige Dutzend – kognitiv und so-
zial relevant. Für diese wenigen Sprachen zeigt sich allerdings bezüglich
des Prestiges ein ziemlich klares Muster. Bei der im Rahmen unseres Pro-
jekts durchgeführten Repräsentativumfrage werden auf die offene Frage
nach sympathischen fremdsprachigen Akzenten dominant die Sprachen
der großen (west-)europäischen Nachbarn des Deutschen (Französisch,
Italienisch, Englisch, Spanisch) genannt; bei den unsympathischen Akzen-
ten entfällt eine größere Zahl von Nennungen auf Russisch, Türkisch und
Polnisch. Dieses Muster bestätigt sich grosso modo bei den von uns be-
fragten Schülern.
2) Zu ganz ähnlichen Ergebnissen führt bei den befragten Schülern auch die
Aufforderung, eine Reihe vorgegebener Sprachen zu bewerten; besonders
schlecht schneiden wiederum die Sprachen der größeren Migrantengrup-
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pen ab. Dasselbe Muster erbringt die Frage nach Sprecherstereotypen: der
„typische Deutsche“ wird im Schnitt positiv, der „typische Türke“ im
Schnitt negativ bewertet.
3) Differenziert man die Antworten nach Sprechergruppen, zeigt sich ein
mehrschichtiges Bild. Einerseits sind die Selbstbewertungen durchgängig
positiv. Andererseits gelten die Negativstereotype, die die Mehrheitsgruppe
gegenüber den einzelnen Minderheiten zeigt (die Deutsch-Sprecher bewer-
ten die Türkisch- und die Russisch-Sprecher negativ), auch für gerade diese
Minderheiten (d.h. auch die Türkisch-Sprecher bewerten die Russisch-
Sprecher negativ und umgekehrt). Die am stärksten negativen Bewertungen
entfallen konsequent auf das Türkische bzw. den „typischen Türken“.

Diese Befunde, nach denen insbesondere den beiden größten Sprachminderhei-


ten in Deutschland, den Sprechern des Russischen und des Türkischen, durch-
gängig (außer bei ihren jeweiligen Eigengruppen) ein sehr geringes Prestige
zuerkannt wird, sind zwar in Bezug auf die Schüler-Daten nicht repräsentativ,
aber dennoch aufschlussreich und in der Tendenz zweifellos aussagekräftig.
Beispielsweise wird so unmittelbar plausibel, warum etwa Vorstöße zur Einrich-
tung deutsch-türkischer Gymnasien (nach dem Vorbild der sehr erfolgreichen –
und prestigeträchtigen – deutsch-französischen Gymnasien) in weiten Teilen
der Bevölkerung auf ein sehr verhaltenes Interesse stoßen.
Welche integrations- oder bildungspolitischen Konsequenzen nun aus diesen
Daten zu ziehen wären, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Eine kohären-
te Sprachenpolitik sollte sie jedenfalls berücksichtigen.

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Spracheinstellungen und Mehrsprachigkeit 253
8. Literatur
Eichinger, Ludwig M. et al. (2009): Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland.
Erste Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage. Mannheim.
Fiske, Susan T. et al. (2002): A model of (often mixed) stereotype content: Compe-
tence and warmth respectively follow from perceived status and competition. In:
Journal of Personality and Social Psychology 82, 6, S. 878-902.
Gärtig, Anne-Kathrin/Plewnia, Albrecht/Rothe, Astrid (2010): Wie Menschen in
Deutschland über Sprache denken. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativ-
erhebung zu aktuellen Spracheinstellungen. (= amades. Arbeitspapiere und Mate-
rialien zur deutschen Sprache 40). Mannheim.
Gärtig, Anne-Kathrin/Rothe, Astrid (2009): Über Liebe zum Deutschen, Sympathie
für Dialekte und Sorge um Sprachentwicklung. Was die Menschen in Deutschland
über Sprache denken. In: Sprachreport 3/2009, S. 2-11.
Judd, Charles M. et al. (2005): Fundamental dimensions of social judgment: Under-
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standing the relations between judgments of competence and warmth. In: Journal
of Personality and Social Psychology 98, 6, S. 899-913.
Osgood, Charles E./Suci, George J./Tannenbaum, Percy H. (1957): The measurement
of meaning. Oxford.
Plewnia, Albrecht (2011): Sprachkontakt: Einflüsse anderer Sprachen auf das Deut-
sche. In: Krumm, Hans-Jürgen/Fandrych, Christian/Hufeisen, Britta/Riemer, Clau-
dia (Hg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch.
(= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 19). Berlin/New
York, S. 439-447.
Plewnia, Albrecht/Rothe, Astrid (2009): Eine Sprach-Mauer in den Köpfen? Über ak-
tuelle Spracheinstellungen in Ost und West. In: Deutsche Sprache 37, 2/3,
S. 235-279.
Plewnia, Albrecht/Rothe, Astrid (i.Dr.): Von gebildeten Deutschen, freundlichen
Sachsen und temperamentvollen Bayern. Einstellungen zu Varietäten und ihren
Sprechern. In: Christen, Helen/Patocka, Franz/Ziegler, Evelyn (Hg.): Struktur,
Verwendung und Wahrnehmung von Dialekt. Wien.
Schoel, Christiane/Harris, Nora/Stahlberg, Dagmar (unter Begutachtung): Heartiness
as compensation for lacking competence? – The underlying motives of attitudes
towards standard and non-standard language speakers.
Statistisches Bundesamt (Hg.) (2010): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölke-
rung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2009. (= Fachse-
rie 1, Reihe 2.2). Wiesbaden.
Yzerbyt, Vincent/Provost, Valérie/Corneille, Olivier (2005): Not competent but warm
... really? Compensatory stereotypes in the French-speaking World. In: Group Pro-
cesses & Intergroup Relations 8, 3, S. 291-308.

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Inken Keim

Die »türkischen
Powergirls«
Lebenswelt und kommunikativer
Stil einer Migrantinnengruppe in
Mannheim
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Studien zur deutschen Sprache, Band 39


2., durchges. Auflage 2008, 498 Seiten,
€[D] 39,00/SFr 66,00
ISBN 978-3-8233-6446-7

Die ethnografisch-soziostilistische Fallstudie bietet einen umfas-


senden Einblick in die Lebenswelt, die sozialen Orientierungen
und das Ausdrucksverhalten junger Migrantinnen in Mannheim,
die sich „türkische Powergirls“ nennen. Die ethnografische
Beschreibung des Migrantenstadtteils bildet den Rahmen für die
Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses von der ethnischen
Jugendclique zu einer Gruppe sozial erfolgreicher junger Frauen.
Dieser Prozess ist typisch für junge Migrantinnen in Deutschland,
die in Auseinandersetzung mit relevanten Bezugswelten, der
Welt der türkischen Gemeinschaft und der Welt der deutschen
(Bildungs-)Institutionen, einen eigenständigen Weg zu finden
versuchen. Das Selbstbild, das die Mädchen in diesem Prozess
entwickeln, bildet die Bezugsgröße für ihren Kommunikations-
stil. Der zentrale Teil des Buches beschreibt diesen Stil, den
derb-drastischen Umgangston, den schnellen Wechsel zwischen
Deutsch und Türkisch und den virtuosen Gebrauch verschiedener
Varietäten zum symbolischen Verweis auf soziale Kategorien und
zeigt, wie sich der Stil im Prozess des Erwachsenwerdens und
in Reaktion auf neue Lebensumstände und (Bildungs-)Anforde-
rungen allmählich verändert.

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Ibrahim Cindark

Migration, Sprache und Rassismus


Der kommunikative Sozialstil der Mannheimer „Unmündigen“
als Fallstudie für die „emanzipatorischen Migranten“
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Studien zur deutschen Sprache, Band 51


2010, 283 Seiten,
€[D] 72,00/SFr 121,00
ISBN 978-3-8233-6518-1

In der vorliegenden Arbeit wird mit ethnografischen,


gesprächsanalytischen und gesprächsrhetorischen
Methoden der kommunikative Sozialstil der „emanzi-
patorischen Migranten“ untersucht. Ein wesentliches
Kennzeichen dieses Milieus von Migranten der zweiten
Generation ist, dass seine Akteure offensiv und provo-
kativ mit Rassismen umgehen und sich nicht ethnisch
(als „Türken“, „Italiener“, „Griechen“ etc.) definieren.
Des Weiteren betrachten sie – neben der dominanten
Verwendung des Deutschen als gruppeninterner Kommu-
nikationssprache – (deutsch-türkisches) Code-switching
und Code-mixing als wichtigen Ausdruck ihrer migranti-
schen Identität.
Da Potenziale und Konturen von Stilen erst im Kontrast
eindeutig hervortreten, werden diese Befunde mit der
kommunikativen Praxis einer anderen Sozialwelt von Mig-
ranten der zweiten Generation verglichen, derjenigen der
„akademischen Europatürken“. Hierbei zeigt sich, dass
dieses sich ethnisch und als „Elite“ der türkischen Mi-
JETZT BESTELLEN! granten definierende Milieu moderat auf Diskriminierun-
gen reagiert und deutsch-türkische Sprachvariation als
Ausdruck von ,Halbsprachigkeit‘ ablehnt.

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Die Frage, wie unter den Bedingungen sich ändernder demographi-
scher Verhältnisse einerseits europäische Mehrsprachigkeit, anderer-
seits Zuwanderung und Integration – individuell und kollektiv – erfolg-
reich organisiert werden können, ist eine der europäischen Schlüssel-
fragen. Sprache ermöglicht im Integrationskontext nicht nur den
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entscheidenden Zugang, sie ist auch einer der wichtigsten Identitäts-


träger: Will man etwas wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten
von Integration, dann ist das Wissen um die primären sprachlich-
identitären Verortungen der Menschen die Basis dafür. Von Interesse ist
dabei nicht nur die Zielsprache der Mehrheitsgesellschaft, sondern
sind auch die jeweiligen Erstsprachen. Die spezifischen sprachlichen
Kompetenzen von Menschen mit Migrationshintergrund werden gegen-
wärtig kaum wahrgenommen, geschweige denn genutzt – weder in
Programmen zur sprachlichen Integration noch auf dem Arbeitsmarkt
oder als Vorteil für die einheimische Wirtschaft. Hier liegt jedoch viel
individuelles wie gesamtgesellschaftliches Potenzial.
In diesem Band wird die gegenwärtige Situation in Deutschland mit der-
jenigen in Ländern mit prominenten Mehrsprachigkeitskonstellationen
(von der Schweiz bis Indien) kontrastiert.

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