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57
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr
Herausgegeben von
Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner
Band 57
Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr
Patrick Stevenson
Migration und Mehrsprachigkeit in Europa: Diskurse über
Sprache und Integration................................................................................. 13
Rita Franceschini
Die ‘mehrsprachigsten’ Bürger Europas. Sprecher von historischen
und neuen Minderheitensprachen und ihr Beitrag
zur Multikompetenz....................................................................................... 29
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Anil Bhatti
Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität. Vergleichende
Überlegungen zwischen Indien und Europa.................................................. 55
Rosemarie Tracy
Mehrsprachigkeit: Realität, Irrtümer, Visionen............................................. 69
Tanja Anstatt
Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von
Jugendlichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland................... 101
Inken Keim
Form und Funktion ethnolektaler Formen: türkischstämmige
Jugendliche im Gespräch............................................................................. 157
Bernd Meyer
Herkunftssprachen als kommunikative Ressource?..................................... 189
wiederum ist die Frage nach dem Verhältnis von Sprachen und Identitäten
zentral, weil die Sprache eines Menschen einen der stärksten identitätsstif-
tenden Faktoren überhaupt darstellt, und zwar sowohl im Selbstverständnis
als auch in der Fremdzuschreibung. Die Sprache ist der entscheidende Zu-
gang, weil Sprache immer einer der wichtigsten Identitätsträger ist. Will man
etwas wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten von Integration, dann
ist das Wissen um die primären sprachlichen Verortungen der Menschen da-
für die Basis. Von Interesse ist dabei nicht nur die Zielsprache der Mehrheits-
gesellschaft (in unserem Falle Deutsch), sondern auch und besonders die je-
weilige Erstsprache. Die spezifischen Kompetenzen, die Menschen mit Mi-
grationshintergrund besitzen, werden in Deutschland gegenwärtig noch nicht
systematisch genutzt, weder beispielsweise in Spracherwerbsprogrammen
zur Verbesserung der sprachlichen Integration noch in professionellen Zu-
sammenhängen zur Verbesserung etwa der Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
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Hier gibt es noch viel Potenzial, dessen gezielte Nutzung sowohl individuell
für die Betroffenen als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene große Vor-
teile verspricht.
Vor diesem Hintergrund versuchen die Beiträge dieses Bandes, die Situation
in Deutschland zu umgreifen und sie mit der Lage in anderen Ländern mit
prominenten Mehrsprachigkeitskonstellationen (von der Schweiz bis Indien)
zu kontrastieren, um auf diese Weise auszuloten, wie es gelingen kann, das
bislang weitgehend ungenutzte Potenzial, das in der Mehrsprachigkeitskom-
petenz von Migranten liegt, besser abzurufen und damit individuell und für
die Gesellschaft nutzbar zu machen.
Die mit den verschiedenen Mehrsprachigkeitskonstellationen verknüpften
Mehrdimensionalitäten ein wenig aufzuschlüsseln, nimmt sich Patrick Ste-
venson in seinem Beitrag zum Thema „Migration und Mehrsprachigkeit in
Europa: Diskurse über Sprache und Integration“ vor. Die Existenz von Mehr-
sprachigkeit – eigentlich: Mehrsprachigkeiten – als Folge von Migration ist
eine gesellschaftliche Tatsache. Dabei gibt es in einem mobilen Europa sehr
verschiedene Mehrsprachigkeitskonstellationen mit sehr unterschiedlichen
sozialen Wertzuschreibungen. Stevenson legt dar, wie sich diese Konstellatio-
nen mit politischen Konzepten – konventionellen (wie Staatsbürgerschaft)
und moderneren (wie Integration) – verschränken, und diskutiert, wie sich in
diesem Spannungsfeld eine kohärente europäische Sprachenpolitik entwi-
ckeln ließe; eine Fragestellung, in die sich auch das LINEE-Projekt zur Erfor-
schung von Mehrsprachigkeit, Sprachpolitik und Migration einordnet.
In der europäischen Sprachenpolitik entsteht leicht der Eindruck, dass auto
chthone Minderheitensprachen und neue Migrationsminderheiten als Gegen-
gie seit dem 19. Jahrhundert, die meisten Staaten Europas mindestens im Be-
wusstsein der meisten ihrer Bürger einsprachig konzipiert. Sprachen jenseits
der eigenen Muttersprache werden als „Fremdsprachen“, nicht als „andere
Sprachen“ oder gar als „europäische (also zugehörige) Sprachen“ wahrgenom-
men. Diese Haltung konfligiert mit den durch Migrationsprozesse einerseits
und die europäische Integration andererseits entstehenden neuen Realitäten,
die die europäischen Nationalstaaten vor neue Herausforderungen stellen. In
welcher Weise die Koexistenz mehrerer Sprachen (und Kulturen) organisier-
bar ist, zeigt in einer Außenperspektive Anil Bhatti am Beispiel Indiens in
seinem Beitrag zu „Sprachenvielfalt und kulturelle Diversität. Vergleichende
Überlegungen zwischen Indien und Europa“.
Nach diesen vorwiegend auf gesamtgesellschaftliche Konstellationen ausge-
richteten Überlegungen wechselt Rosemarie Tracy die Blickrichtung, indem
sie individuelle Mehrsprachigkeitsbedingungen in den Blick nimmt und hier
besonders die zweite Generation und die Prozesse des Spracherwerbs – des
doppelten Erstspracherwerbs bzw. des (früh-)kindlichen Zweitspracherwerbs
innerhalb des Bildungssystems – fokussiert. In ihrem Beitrag „Mehrsprachig-
keit: Realität, Irrtümer, Visionen“ räumt Tracy mit weitverbreiteten Vorurtei-
len und Mythen in Bezug auf Mehrsprachigkeit auf und zeigt, welche Be-
deutung bei der Sprachförderung dem Wissen um Spracherwerbsprozesse
zukommt.
Ebenfalls um die sprachliche Situation der Angehörigen der zweiten Migran-
tengeneration geht es im Beitrag von Tanja Anstatt. Die beiden gemessen an
der Zahl ihrer Sprecher bedeutendsten Minderheitensprachen in Deutschland
sind das Türkische und das Russische; Anstatt berichtet in ihrem Beitrag zum
Thema „Russisch in der zweiten Generation. Zur Sprachsituation von Jugend-
lichen aus russischsprachigen Familien in Deutschland“ aus einer Pilotstudie
zu Spracheinstellungen und Sprachkompetenzen von Jugendlichen aus rus-
sischsprachigen Familien. Dabei zeigt sich, dass zwar das Russische als Iden-
titätsanker bei den Jugendlichen eine bedeutende ideelle Rolle spielt, dass
aber subjektive und tatsächliche Kompetenzen und Bewertungen in sehr un-
terschiedlicher Weise miteinander korrelieren.
Die andere große Migrantengruppe in Deutschland, nämlich die der Türken,
steht im Fokus des Beitrags von İnci Dirim, Marion Döll und Ursula Neu-
mann über „Bilinguale Schulbildung in der Migrationsgesellschaft am Beispiel
der türkisch-deutschen Grundschulklassen in Hamburg“; sie berichten aus dem
Modellversuch der türkisch-deutsch-bilingualen Grundschulen. Im Hamburger
Schulversuch „Bilinguale Grundschule“ wird versucht, durch Einrichtung bilin-
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2009 in der Akademie der Künste in Berlin fand auch eine Fachkonferenz zum
Thema „Sprache und Integration“ statt. Eine der Sektionen dieser Fachkonfe-
renz wurde vom Institut für Deutsche Sprache gestaltet; sie trug den Titel
„Bedeutung und Integration von Herkunftssprachen“. Die im vorliegenden
Band versammelten Beiträge sind auf Basis der Vorträge, die in dieser Sektion
gehalten wurden, entstanden; außerdem enthält der Band einen thematisch
einschlägigen Beitrag von Albrecht Plewnia und Astrid Rothe, die aus einem
Forschungsprojekt berichten, das zum Zeitpunkt der Konferenz gerade erst an
seinem Anfang stand. Die Sektion wurde abgerundet durch eine Podiumsdis-
kussion zum Thema „Was kann Europa lernen? Indien, Referenzland im Um-
gang mit Mehrsprachigkeit“ mit Ludwig M. Eichinger (Institut für Deutsche
Sprache, Mannheim), Hans-Jürgen Krumm (Universität Wien), Gaspar Cano
Peral (Instituto Cervantes, Berlin) und Pramod Talgeri (Jawaharlal Nehru
University, Neu Delhi); die Podiumsdiskussion ist in diesem Band nicht
dokumentiert.
Die Herausgeber sind allen, die an der Entstehung dieses Bandes beteiligt
waren, zu Dank verpflichtet, in erster Linie natürlich den Referenten der Ber-
liner Tagung und Autoren der Beiträge, auch den Teilnehmern der die Sektion
abschließenden Podiumsdiskussion, und nicht zuletzt dem Goethe-Institut als
Veranstalter der Projektreihe „Sprachen ohne Grenzen“, in deren Rahmen die
Konferenz stattfand.
Abstract: Kurz nach seinem Amtsantritt hat der Europäische Kommissar für Mehr-
sprachigkeit, Leonard Orban, in einer Rede im April 2007 erklärt, dass „die Mehrspra-
chigkeit von Anfang an ein Teil des genetischen Kodes der Europäischen Union war“;
diese Behauptung wird regelmäßig, wenn auch weniger bombastisch, in den Veröf-
fentlichungen und Strategien der Kommission wiederholt. Dieser Feststellung wird
im Kontext der Bestrebungen, ein europäisches Bürgerbewusstsein zu entwickeln und
gleichzeitig den Realitäten der ständig wachsenden Migrationszahlen gerecht zu wer-
den, besondere Bedeutung beigemessen.
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Doch in den öffentlichen Diskursen über Sprache und Integration bleibt noch unklar,
wie die Grundbegriffe Mehrsprachigkeit, Migration, (Staats-)Bürgerschaft und Integ-
ration zu verstehen sind. Außerdem werden ‘Migrant(inn)en’ in diesen Diskursen oft
als undifferenzierte soziale Gruppen behandelt. In diesem Beitrag sollen daher zwei
Ziele verfolgt werden. Erstens werden einige Probleme bei der Auslegung wichtiger
Begriffe diskutiert werden, und zweitens werden Ergebnisse einiger Forschungspro-
jekte, die sich im Rahmen des europäischen Netzwerkes LINEE mit der europäischen
Sprachpolitik und mit den Erfahrungen verschiedener Migrantengruppen befasst ha-
ben, kurz vorgestellt.
1. Einleitung
Die verschiedenen Beiträge in diesem Band setzen sich mit dem Thema Spra-
che und Integration aus verschiedenen Forschungsperspektiven auseinander.
Ich möchte in einer eher generellen Diskussion auf jene Schlüsselkonzepte ein-
gehen, die sich als rote Fäden durch diese Untersuchungen ziehen und die be-
handelten Themen verknüpfen, und zwar: Mehrsprachigkeit, Migration, Staats-
bürgerschaft und Integration. Dabei geht es mir weniger um die Phänomene als
solche, als um die Diskurse, die sie begleiten. Im Folgenden werde ich also im
sprachpolitischen Kontext des heutigen Europas die Verbindungen zwischen
diesen Konzepten aufspüren. Da dieses Thema sehr komplex ist, kann ich im
Rahmen dieses Beitrags nicht mehr leisten, als einige Aspekte aufzuzeigen, die
aber in anderen Beiträgen aufgegriffen und weiter diskutiert werden. Dabei
werde ich mich im Wesentlichen auf die Ergebnisse zweier Studien berufen,
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die sich der Erforschung dieser Konzepte gewidmet haben. Diese Studien wur-
den im Rahmen der europäischen Netzwerke Testing Regimes: Language, Mi-
gration and Citizenship in Europe (siehe Extra/Spotti/Van Avermaet (Hg.)
2009b, Hogan-Brun/Mar-Molinero/Stevenson (Hg.) 2009) und LINEE (Lan-
guages in a Network of European Excellence) durchgeführt; ich möchte meinen
Kolleg(inn)en, deren Forschungsergebnisse ich hier vorstelle (siehe vor allem
Mar-Molinero et al. 2009, Studer/Kreiselmaier/Flubacher 2008, Studer/Krei
selmaier/Veisbergs 2008), meine Anerkennung für ihre Arbeit ausdrücken.1
tioniert, die Einsicht, dass wir – und hier zitiere ich Jan Blommaert (2003,
S. 608) – „the various forms of interconnectedness between levels and scales
of sociolinguistic phenomena“ identifizieren und erklären müssen, um genau
zu verstehen „what language achieves in people's lives“.
Wie Susan Gal (2006, S. 14) betont, bleibt die Existenz separater Sprachen und
ihre hierarchisch geordneten Beziehungen zueinander eine der mächtigsten und
beständigsten Sprachideologien im europäischen Kontext. Das Ironische in die-
ser Hinsicht ist die immer noch privilegierte Stellung von ‘Nationalsprachen’,
die Myriaden von untereinander verknüpften Räumen verbinden (zum Beispiel
zuhause, auf der Straße, im Geschäft, bei der Arbeit, auf dem Spielplatz, im
Verein), von denen sich die wenigsten, zumindest in urbanen Gebieten, durch
den exklusiven Gebrauch einer einzigen Sprachvarietät auszeichnen.
Diese Ironie wird durch die oft widersprüchliche politische Rhetorik der euro-
päischen Institutionen noch verstärkt. Mehrsprachigkeit wird einerseits als
Wesenszug der europäischen Gesellschaften dargestellt – so erklärte der da-
malige Kommissar für Mehrsprachigkeit, Leonard Orban, in einer Rede am
27. April 2007, dass Mehrsprachigkeit „von Anfang an ein Teil des geneti-
schen Kodes der Europäischen Union war“. Andererseits gilt Mehrsprachig-
keit gleichzeitig als eine der erstrebenswertesten Schlüsseleigenschaften eines
europäischen Bürgers, die es dementsprechend noch in die Realität umzuset-
zen gilt. Reichliche Beweise hierfür finden sich in der Fülle an Programmen,
Aktivitäten und Strategien, die die Sprachenvielfalt und die soziale Mobilität
zwischen den Mitgliedsstaaten unterstützen sollen.
Diese Ziele müssen sich jedoch mit dem immer noch vorherrschenden Kon-
zept des Monolingualismus auseinandersetzen, das als ‘natürliche Gegeben-
heit’ des Individuums und des Staates gesehen wird. Denn trotz diverser EU-
Strategien und aufgeklärter Initiativen einiger nationaler Institutionen, wie
des Goethe-Instituts, halten politische Diskurse über Sprache in den meisten
Mitgliedsstaaten aufrecht, was Ingrid Gogolin (1994) als den monolingualen
Habitus der multilingualen europäischen Gesellschaften bezeichnet hat.
All dies birgt Konflikte und Fragestellungen, mit denen sich die Forschung im
Bereich der Sprachpolitik auseinandersetzen muss. So besteht Sue Wright
(2004, S. 251) darauf, dass Forschung, die sich mit der sich entwickelnden
Sprachdynamik in Europa befasst, über die konventionelle Auswertung von
Richtlinien als Instrumente des Sprachkontaktmanagements hinausgehen
muss und insbesondere erforschen sollte:
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nien? Welche sozialen und moralischen Werte und Ansichten werden darin
artikuliert? Und welche Wirkungen hatten sie darauf, wie Menschen ihr Le-
ben leben?
Der Forschungskontext ist ein Europa, das zunehmend durch die Auswirkun-
gen sozialer Transformationsprozesse charakterisiert wird, die durch globali-
sierte wirtschaftliche Prozesse entstehen – in erster Linie durch die in großem
Umfang auftretende transnationale Bewegung von Menschen und Gütern.
Diese Prozesse haben widersprüchliche Konsequenzen: Auf der einen Seite
mindern sie die Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen, auf der anderen Sei-
te verursachen sie einen internen politischen Druck in den einzelnen europä-
ischen Staaten, diese Grenzen aufrecht zu erhalten und nationale Interessen zu
behaupten. Eines der Hauptinstrumente zum Erreichen dieses politischen Zie-
les, nämlich das neu gestaltete Konzept der Staatsbürgerschaft, wurde in den
letzten Jahren in den Vordergrund gerückt. Dies umfasst insbesondere ein
Konzept von ‘aktiver’ und ‘mitgestaltender’ Staatsbürgerschaft, wobei die nö-
tigen Qualifikationen für ein Dazugehören einhergehen mit der verbindlichen
Verpflichtung, zur Erhaltung und zur Reproduktion der ‘Gastgesellschaft’ bei-
zutragen. Gleichzeitig arbeitet die Politik auf EU-Ebene an den Grundlagen
für ein europäisches Staatsbürgerschaftsmodell, das die Mobilität der Europä-
er zwischen den Staaten unterstützen soll. In beiden Fällen dient die Sprache
den Gesetzesmachern als eine Kernkomponente in der Formulierung der Bür-
gerrechte, der Verantwortungen und der Möglichkeiten. Doch während einer-
seits der ideale EU-Bürger entworfen wird, der als Polyglott in der Lage ist,
sein Repertoire an Sprachen je nach Nutzen und Bedarf anzuwenden und zu
erweitern, ist andererseits in vielen Mitgliedsstaaten nicht die plurilinguale
Kompetenz, sondern die Beherrschung der ‘Nationalsprache’ die Hauptvor-
aussetzung für die Staatsbürgerschaft.
Mehrsprachigkeit
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werden, aber in dem Kontext, den ich bisher vorgestellt habe, wird deutlich,
dass sie durch den Diskurs der Zugehörigkeit auf das engste miteinander ver-
knüpft sind. Wer ‘zählt’ als Europäer? Wer ist (typisch) britisch, katalanisch
oder schweizerisch? Oder französisch, tschechisch oder rumänisch? Ist es
möglich, sich auf vielfältige Weisen zugehörig zu fühlen? Wer soll dies ent-
scheiden? Und auf welcher Basis? Auf der europäischen Ebene ist Migration
natürlich eine Konsequenz globaler Veränderungen, sie hat aber auch eine
entscheidende Wirkung auf das Gleichgewicht nationaler und supra-nationa-
ler Bezugsrahmen für soziales und politisches Handeln. Zunehmende Migra-
tion innerhalb der EU und in die EU liefert daher die Impulse, die dazu führen,
dass die Rechte und Pflichten des Einzelnen kritisch reflektiert werden. Aber
auch die Beziehungen zwischen den Individuen und den Institutionen müssen
im Hinblick auf die Idealvorstellungen von Inklusion und Integration unter-
sucht werden. Diese Themen werden alle in der Diskussion des Konzepts
Staatsbürgerschaft angesprochen.
Migration kann traditionelle Vorstellungen von ‘Heimat, Land und Nation’
stören, und die dadurch entstehenden sozialen Turbulenzen rufen häufig Ver-
teidigungsstrategien auf den Plan, die den Verlust der Vielfalt manchmal noch
beschleunigen. Eine dieser Strategien auf nationaler Ebene ist die in Stein
gemeißelte Vorstellung von Staatsbürgerschaft als ausschließlich monolingu-
ales Konstrukt. Die in einer solchen Definition enthaltenen Widersprüche
werden deutlich, wenn man zum Beispiel bedenkt, dass Bürger anderer EU-
Mitgliedsstaaten keine Prüfung ihrer Sprachkenntnisse ablegen müssen. Zu-
gleich werden viele Bewerber um die Staatsbürgerschaft durch das zu errei-
sondern auch aus anderen Motiven und nach anderem Muster. Diese ‘neue’
Migration ist charakterisiert durch zeitlich begrenzte, zyklische und transnatio-
nale Bewegungen. Geografisch versprengt, findet sie sich auch jenseits ge-
wachsener städtischer Räume und Arbeitsmärkte. Hier zitiere ich meine Kolle-
gen aus Testing Regimes, Guus Extra, Max Spotti und Piet Van Avermaet:
The effect of this blending of „old“ and „new“ migration produces a new form of
diversity in Europe, one for which the term „super-diversity“ has been coined
(Vertovec 2006, S. 1-2). This type of diversity is of a more complex kind in
which neither the origin of people, nor their presumed motives for migration, nor
their „careers“ as migrants (sedentary versus short-term and transitory), nor their
socio-cultural and linguistic features can be pre-supposed. The cosy (dis)comfort
of the old migration, where migrants, their trajectories and their lives were un-
derstood, or at least acknowledged, by majority group members, has disappeared
and is replaced by a form of complexity that is presenting itself unequivocally at
Europe's doors. (Extra/Spotti/Van Avermaet 2009a, S. 4)
Dennoch basieren sowohl der deutsche Integrationsplan als auch der britische
Plan for Community Cohesion auf der Annahme, dass diese Gemeinschaften
grundsätzlich stabile Bevölkerungsgruppen bilden, die aus ‘jenen, die sich
schon eingelebt haben’, und ‘jenen, die sich noch einleben müssen’, bestehen.
Diese Annahme vernachlässigt jedoch den Trend zur ‘neuen’ Migration, die
sich eben nicht durch Stabilität auszeichnet, nicht durch den definitiven Wech-
sel von einem Ort zu einem anderen, sondern durch den nur vorübergehenden
Aufenthalt und die Pflege transnationaler Kontakte.
Dies stellt die Sprachpolitik vor einige Schwierigkeiten. Einerseits können
integrationspolitische Maßnahmen, die die Kenntnis der Landessprache ver-
langen, die Wünsche und Ziele der Migranten verfehlen, die nicht die Staats-
bürgerschaft oder auch nur einen längeren Aufenthalt in einem Land anstre-
ben. Andererseits führt zunehmende Vielfalt, wiewohl sie auch Anlass zur
Freude geben kann, häufig dazu, dass sich eingelebte und ‘neue’ Gruppen den
Raum und die begrenzten Mittel, die für kulturelle Unterstützung zur Verfü-
gung stehen, gegenseitig streitig machen. ‘Neue’ Migranten werden außerdem
als Herausforderung angesehen, wo es um die kulturelle Vielfalt in traditionell
bilingualen Gebieten geht, wenn sie verstärkt Angebote in der dominanten
Nationalsprache wahrnehmen, wie zum Beispiel Englisch in Wales oder Kas
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tilisch in Katalonien, und sich nicht für regionale bzw. nationale Minderhei-
tensprachen entscheiden.
Mehrsprachigkeit ist in der Tat ein relativ neues Konzept in der europäischen
Sprachpolitik, und es lässt sich nicht leicht mit der bereits bestehenden Vor-
stellung von sprachlicher Vielfalt vereinbaren. Obwohl es durch das neue
Portfolio in die Infrastruktur und den Wortschatz der Kommission aufgenom-
men wurde, ist das Konzept der Mehrsprachigkeit offensichtlich noch durch
die ungelösten Spannungen innerhalb der sprachpolitischen Diskurse auf
höchster Ebene besetzt. Diese Spannungen wiederum verursachen erhebliche
Schwierigkeiten in der Formulierung und Implementierung einheitlicher, ra-
tionaler EU-Richtlinien, was sich natürlich auch auf die nationale und regio-
nale Politik auswirkt.
Das Gesamtbild, das sich hieraus ergibt, ist, dass sich die Politik der Mehr-
sprachigkeit auf EU-Ebene in einem schwierigen Übergangsstadium befindet.
Aus dem Menschenrechtsdiskurs kommend, wurde sie zunehmend zu einem
ökonomischen Thema. Doch politische Entscheidungsträger wie auch Interes-
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Im Gegensatz zur Politik auf europäischer Ebene hat Sprachpolitik auf natio-
naler und regionaler Ebene zumindest in einigen Fällen ein ‘hard edge’ ge-
zeigt, wo sie genau die Räume absteckt, in denen sich Sprecher verschiede-
ner sprachlicher Varietäten bewegen müssen, die sich von den offiziellen
Staatssprachen unterscheiden. Während nationale und regionale Richtlinien
typischerweise als Instrumente zur Umsetzung dienen, werden sie implizit
durch die ökonomischen, sozialen und kulturellen Prioritäten der dominanten
politischen Interessensgruppen motiviert (und eingeschränkt): sprachliche
Realpolitik also, eingebettet in die Diskurse über Integration und sozialen
Zusammenhalt.
Während also die spanischen und britischen Regierungen formell der EU-
Strategie zur Mehrsprachigkeit Genüge leisten und die Schweiz als beispiel-
haft für die Entwicklung interner und grenzüberschreitender multilingualer
Beziehungen gilt, gibt es in jedem Land auffällige Widersprüche zwischen der
Rhetorik des offiziellen Diskurses und der eigentlichen Sprachpolitik: zum
Beispiel, wenn Spanien durch die Erteilung einer „kompensatorischen Ausbil-
dung“ für multilinguale Kinder mit „unzureichenden Kenntnissen des Kastili-
schen“ bestimmte Arten von Mehrsprachigkeit als Defizit festschreibt.
In allen diesen Fällen deutet die Politik die Herausforderungen durch mehr-
sprachige Bevölkerungsgruppen nicht als mögliche soziale und kulturelle Be-
reicherung, sondern als Hindernis für Integration und sozialen Zusammenhalt.
Während staatliche und regionale Behörden jedoch Sprachstandstests als Zu-
gangsbegrenzungen nutzen und gleichzeitig als Anreiz zum Erlangen des be-
gehrenswerten Status eines Staatsbürgers präsentieren, äußerten Migranten
andere Ansichten über den Wert der Notwendigkeit, die spärlichen Ressour-
cen Zeit und Geld in das Lernen einer Sprache zu investieren, die vom ‘Gast-
land’ vorgeschrieben wird. Rumänische Migranten in Basel akzeptierten zwar,
dass es wichtig sei, Deutsch zu lernen, argumentierten aber auch, dass es nicht
ausreichend sei. Migranten, die wir in Southampton, Barcelona und Castelló
interviewten, waren in ihrem Urteil reservierter. Ihre Motivation, Englisch,
Kastilisch oder Katalanisch (bzw. Valenzianisch) zu lernen, war vor allem von
persönlichen Bedürfnissen und Umständen geprägt und nicht von den Erwar-
tungen und politischen Zielen der Staaten: Enge persönliche Kontakte in der
4. Schlussfolgerungen
5. Literatur
Blommaert, Jan (2003): Commentary: A Sociolinguistics of Globalisation. In: Journal
of Sociolinguistics 7, 4, S. 607-24.
Bundesregierung (2007): Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chan-
cen. Berlin.
Department for Communities and Local Government (2008): The Government's re-
sponse to the commission on integration and cohesion. London.
Extra, Guus/Spotti, Massimiliano/Van Avermaet, Piet (2009a): Testing regimes for
newcomers. In: Extra/Spotti/Van Avermaet (Hg.) (2009b), S. 1-33.
Extra, Guus/Spotti, Massimiliano/Van Avermaet, Piet (Hg.) (2009b): Language test-
ing, migration and citizenship: Cross-national perspectives on integration regimes.
London.
Abstract: Die Europäische Union hat zur Mehrsprachigkeit einen Strategieplan erstellt,
der eine Perspektive befördert, um die sprachliche Diversität positiv zu werten. Vor
diesem Hintergrund lässt sich eine Tatsache nicht leugnen: Wenn die Mehrsprachigkeit
allgemein gefördert werden soll, dann bringen Sprecher(innen) von Sprachminderheiten
– historische, lang ansässige bis hin zu neuen Minderheiten – eine Sprachkompetenz in
die Union ein, die ihnen eine herausragende Stellung und Chance zuweist.
Die Herausforderung an die Gesellschaft ist dabei dreifach: die Bedürfnisse nach
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sozial herausgebildet; ebenso wird aus der früheren Debatte die Funktiona-
lität in der Beherrschung von Sprachen übernommen – und nicht die totale,
unrealistische Perfektion in den Vordergrund gerückt.
chigkeit, wie sie sich (1) in einer Makro-Sicht auf eine Gesellschaft zeigen
kann; (2) die Handhabung von Mehrsprachigkeit in Institutionen; so, wie sie
sich (3) in Gruppenverhalten und in Diskursen zeigt; sowie (4) die Mehr-
sprachigkeit, die ein Individuum im Laufe seines Lebens herausbilden kann.
Heute geht es, wie bereits gesagt, nicht mehr so sehr darum, bei der Defini-
tion von Mehrsprachigkeit die perfekten Kenntnisse und das Wissen um
Regeln in den Vordergrund zu stellen. Sprachkompetenz – als Resultat ver-
standen – meint hier vielmehr, dass ein Sprecher einen flexiblen und situa
tionsadäquaten Umgang in verschiedenen Varietäten zeigen kann, auch
wenn sich diese Flexibilität über mehrere Sprachen hinweg erstrecken kann.
In diesem Sinne kann man viele Sprachen beherrschen, aber trotzdem
sprachlich inkompetent sein. Sprache kompetent zu verwenden bedeutet,
sich in unterschiedlichen Kontexten adäquat zu verhalten, und zwar nicht
allein, was die Sprachformen betrifft, sondern auch, was die pragmatische
und die kulturelle Adäquatheit betrifft: Um multikompetent zu sein, reicht
es nicht, viele Sprachen nebeneinander zu beherrschen, sondern es braucht
dazu jene Fähigkeit, damit flexibel und situationsgerecht umzugehen. Ein
multikompetenter Sprecher verfügt über zusätzliche Fähigkeiten, die ihm
aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Sprachen und den damit ver-
bundenen Erfahrungen erwachsen.4
4
In Kapitel 5 werden einige dieser Eigenschaften diskutiert. – Der Begriff der Multikompe-
tenz, von Vivian Cook geprägt (siehe Cook 1992), wird hier aus seiner psycholinguistischen
Tradition herausgelöst und einer umfassenderen Definition zugeführt, die mit einer soziolin-
guistischen Sicht kompatibel ist.
Die Definition von Mehrsprachigkeit und die ersten Überlegungen zur Multi-
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kompetenz haben ihren Ursprung in Diskussionen, die noch früher aus mehre-
ren Forschungsprojekten heraus entsprungen sind. Eines der ersten war Ende
der 80er Jahre der Binnenmigration in der Schweiz gewidmet (Lüdi et al.
1994), ein weiteres der Interpretation der Sprachdaten aus der Schweizer
Volkszählung von 1990 (Lüdi et al. 1997), bei dem Mehrfachnennungen zum
Gebrauch von mehreren Sprachen in der Familie und auf der Arbeit / in der
Schule erstmals flächendeckend erhoben wurden. Mitte der 90er Jahre startete
dann ein Projekt, das der Übernahme von Minderheitensprachen bei Mehr-
heitssprechern in Basel gewidmet war (Franceschini 1998, 2002a, 2002b). All
diese Forschungserfahrungen haben die Definition von Mehrsprachigkeit und
Multikompetenz mitgeprägt. Nachfolgend sollen in einer Art Rückschau einige
Ergebnisse aus diesen Projekten dargestellt werden, die vor dem heutigen Hin-
tergrund einer erweiterten europäischen Perspektive eine – wie mir scheint –
weiter reichende Interpretation erfahren.6
5
Die Definition ist im Rahmen der Arbeiten im Forschungsnetzwerk LINEE, von dem noch
die Rede sein wird, erarbeitet worden. In einem internen Report, der von Ros Mitchell ver-
fasst worden ist, findet sich eine folgende Arbeitsdefinition: „Multicompetence [...] relates
to the complex, flexible, integrative and adaptable behaviour which multilingual individuals
display. A multicompetent person is therefore an individual with knowledge of an extended
and integrated linguistic repertoire who is able to use the appropriate linguistic variety for
the appropriate occasion.“ (Mitchell et al. 2008, S. 7).
6
Diese Studien hier mit einigem zeitlichen Abstand nochmals Revue passieren zu lassen, war
die Idee von Ludwig M. Eichinger und Albrecht Plewnia: Ihrer Überzeugungsarbeit ist es
geschuldet, dass ich mich dafür habe begeistern lassen. Beiden ergeht mein Dank. Die Ver-
antwortung für das Misslingen dieser Zusammenstellung kann gleichwohl nur mir allein
angelastet werden.
In den 90er Jahren war unsere Forschungsgruppe7 mit der Fragestellung be-
schäftigt, wie es sprachlich mit der internen Migration in der Schweiz be-
stellt ist. Es war sehr ungewöhnlich, sich mit Binnenwanderern zu befassen,
nachdem einige Jahrzehnte lang fast ausschließlich über Ausländer in der
Schweiz geforscht worden war (unter den ersten Hoffmann-Nowotny 1973,
Hettlage-Varjas/Hettlage 1984). Wir wussten nicht viel über die Schweizer
(-innen), die zwischen den Sprachgrenzen der Schweiz umsiedeln. Wir
wollten wissen, wie es ihnen dabei sprachlich ergeht, wie die neue Umge-
bung sich auf ihr sprachliches Verhalten, auf ihre Vorstellungen, letztlich auf
ihre Identität auswirkt.
Die Schweiz versteht sich als mehrsprachiges Land, mit einem verfassungs-
mäßig verankerten Status von vier Sprachen (siehe Abb. 1).
Wenn die Mehrsprachigkeit in der Schweiz dargestellt wird, kommt meist eine
Karte zum Einsatz, welche die vier traditionellen Sprachgebiete abbildet. Das
Bild kommt dadurch zustande, dass Gemeinden mit einem mehr als 50-pro-
zentigen Anteil an Sprechern einer der Landessprachen – Deutsch, Franzö-
sisch, Italienisch oder Rätoromanisch – dargestellt werden. Die Sprecher ha-
ben eine dieser Sprachen als Hautsprache8 angegeben.
Das Bild, das solche Karten vermitteln, ist sehr prägend. Es fußt und geht
zurück auf das schweizerische Territorialprinzip und bestimmt es dadurch
mit. Letztlich besteht das Territorialprinzip auf einer einsprachigen Sichtwei-
se, da es vermittelt, dass man in einem Sprachgebiet lebt, in dem klar eine
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Sprache vorherrschend ist – und dies ungeachtet der Kontakte, die sich im
Alltag ergeben können. Diese Karten bilden somit nicht einmal eine gesell-
schaftlich erlebbare Mehrsprachigkeit ab, sondern viel eher das kollektiv kon-
struierte Bekenntnis zu einer Sprache – zu einem Kern, der als einsprachig
konzipiert wird. Übergangsgebiete werden dabei jedoch dichotomisch ge-
schnitten, zweisprachige Sprecher zu einer eindeutigen Wahl gezwungen.
Die hier für die Abbildung gewählte Karte (siehe Abb. 2) ist deshalb unge-
wöhnlich, da sie einen Kompromiss darstellt: Sie zeigt diese Dichtezonen auf
und unterscheidet zwischen dichten und weniger dichten Gebieten, in denen
Sprecherinnen und Sprecher sich zu einer Sprache bekannt haben. Damit lässt
die Karte sehr wohl zu, jene Gebiete zu bestimmen, in denen Sprecher der vier
Landessprachen verdichtet wohnen.
8
Diese Frage lautete – wie in vorangehenden Jahren – „Welches ist die Sprache, in der sie
denken und die Sie am besten beherrschen? (Nur eine Sprache angeben.)“. Eine Neuheit bei
der Volkszählung 1990, die den Sprachgebrauch in zwei Makrokontexten erkundete, waren
Mehrfachantworten: in der Familie und an der Arbeit, bzw. in der Schule. Diese Frage lau-
tete: „Welche Sprache(n) sprechen Sie regelmäßig? (Hier kann mehr als eine Antwort gege-
ben werden.)“. Die hier abgebildete Karte (Abb. 2) bezieht sich lediglich auf die erste Frage.
Die Volkszählungen finden alle zehn Jahre statt.
9
In der französischsprachigen Schweiz sind nur noch Überreste von dialektalen Varietäten zu
finden (die sog. patois), während in der italienischsprachigen Schweiz der Dialekt sehr wohl
mehr als nur residual vorhanden ist, doch ist er nicht mit denselben sozial neutralen Konno-
tationen versehen wie der Dialektgebrauch in der Deutschschweiz.
10
Die Angaben sind dem pdf-Dokument „Bevölkerungsstruktur, Hauptsprache und Religion“,
des Bundesamtes für Statistik entnommen (siehe Bundesamt für Statistik BFS 2003).
Die Binnenwanderer, die wir Ende der 80er Jahre des letzen Jahrhunderts un-
tersucht haben, waren Schweizer Einzelpersonen oder Familien, die von ei-
nem Sprachgebiet in ein anderes umgesiedelt waren. Wir haben sie in den
ersten Monaten ihres Umzuges interviewt und sie dann regelmäßig besucht.
Es wurden auch Tests durchgeführt, wir haben Aufnahmen gemacht und ma-
chen lassen, und baten die erwachsenen Informanten, ihre sprachlichen Netz-
werke aufzuzeichnen. Die Erwachsenen waren beruflich qualifizierte bis hoch
qualifizierte Personen.11
Die Interviews erweisen sich auch heute noch als interessante Quelle, um Vor-
stellungen und Veränderungen in den persönlichen Einschätzungen zu verfol-
gen, wie sie in den ersten Jahren einer Migration auftreten. Der Interviewleit-
faden war nicht stark vorstrukturiert, so dass die Interviewten viel Raum
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lieren kann, die tief menschliches Erleben berührt und sich im sprachlichen
Verhalten niederschlägt: Der Schrecken, die Kinder nicht mehr zu verstehen,
wenn sie untereinander die Umgebungssprache fließend zu sprechen begin-
nen; der Riss, der durch die Familie geht, und der Keil, der durch falsch ver-
standene schulische Intervention in die Familien getrieben wird.
Wir hatten in dieser Studie, wie bereits erwähnt, auch die persönlichen Bezie-
hungsnetzwerke erhoben, um dabei vor allem die Kontakte im neuen Sprach-
gebiet in den ersten Jahren der Umsiedlung zu erheben. Es hat sich auch hier
bestätigt, was vor uns schon beispielsweise die Gruppe des Heidelberger For-
schungsprojektes in den 60er und 70er Jahren12 nachgewiesen hatte. Dieses
Projekt befasste sich mit dem spontanen Deutscherwerb von Immigranten in
Deutschland. Ein Resultat des Heidelberger Forschungsprojekts war, dass die
engen freundschaftlichen Kontakte die entscheidende Variable darstellten, die
den besseren oder schlechteren Erwerb von Deutsch erklären konnte: Es war
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nicht allein die Länge des Aufenthalts beispielsweise des portugiesischen Ar-
beiters in Mannheim, nicht allein das Alter bei der Einreise, nicht die eventu-
ellen Vorkenntnisse der deutschen Sprache, die die nach Jahren erreichte
Sprachkompetenz dieser Erwachsenen erklärte. Es war die Intensität des Kon-
taktes mit deutschen Freunden im Alltag.
Dieselbe Schlussfolgerung mussten auch wir aus der Studie zur Binnenmigra
tion ziehen: Je mehr unsere Informanten in ihren Netzwerken Deutschsprachige
nachwiesen, umso besser waren nicht nur die Sprachkompetenzen in der Umge-
bungssprache, sondern generell auch die Einstellungen zur neuen Umgebung.
Letzteres Resultat mag man mit Ernüchterung aufnehmen. Es verweist darauf,
dass Spracherwerb und Integration Hand in Hand gehen und in einem dichten
sozialen und emotionalen Umfeld am ehesten gelingen. Sprachkurse allein rei-
chen nicht aus – was man schon lange weiß. Dies hat zur Folge, dass ‘die Ein-
heimischen’ eine wichtige Rolle, ja die entscheidende Rolle bei der sprachlichen
und sozialen Integration zu spielen scheinen. Spracherwerb gelingt durch Kon-
takt, emotional positiven Kontakt. Das Resultat mag auch ernüchternd wirken,
weil zur erfolgreichen sprachlichen und sozialen Integration viel mehr noch als
die Spracherwerbsforschung die Wohnbaupolitik gefragt zu sein scheint. Es ist
eminent wichtig, eine Umgebung zu schaffen, in der leicht Kontakte zustande
12
Siehe HPD (1975), d.h. das Heidelberger Forschungsprojekt Pidgin-Deutsch, das sich mit
der Sprache ausländischer Arbeiter befasst hatte. Federführend wirkten dabei Wolfgang
Klein, Norbert Dittmar und Wolfgang Wildgen mit. Das Projekt eröffnete breite Debatten
und steht heute in seiner Wirkung als Pionierleistung im Bereich der Spracherwerbsfor-
schung da, die sich mit nicht-gelenktem Spracherwerb von Erwachsenen befasst.
Statistisch umgesetzt kann der Grad der sprachlichen Integration anhand jenes
Ausmaßes gemessen werden, in dem die Umgebungssprache in der Familien-
kommunikation einer fremdsprachigen Familie Verwendung findet. Dies soll
hier als ein möglicher Grad der sprachlichen Integration gelten. Wir konnten
statistisch nachweisen, dass dieselben Sprachgruppen in den drei Sprachgebie-
ten unterschiedlich auf die sie umgebende Mehrheitssprache reagieren. In ei-
nem Gebiet war es leichter, dass die Umgebungssprache in die Familie Einzug
hielt, im anderen Gebiet nicht. Man stelle sich nochmals bildlich vor: Zwei Fa-
milien aus demselben türkischen oder kurdischen Dorf wandern aus. Eine Fami-
lie siedelt sich in Zürich an – also in der Deutschschweiz –, die andere in Lau-
sanne – also in der französischsprachigen Schweiz. Die Familie wird in einem
Sprachgebiet die Umgebungssprache in einem größeren Ausmaß aufnehmen als
im anderen Landesteil. Diese Tendenz war übereinstimmend für alle größeren
Sprachgruppen, über zwei Jahrzehnte hinweg. Die Resultate der Volkszählung
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Abb. 3: Aufnahme der Ortssprache ins Repertoire der Familie von ausländischen Sprecher-
(inne)n der sechs wichtigsten Nichtlandessprachen nach Sprachgebieten und Spra-
chen, 2000 (exklusive Personen ohne Angaben)
2) Aus leicht anders gelagerter Perspektive kann man sagen, dass die Integra-
tionskraft in den romanischsprachigen Gebieten höher ist, da die ausländi-
schen Mitbürger die Sprache der Umgebung – d.h. Französisch und Italie-
nisch – in höherem Ausmaß in ihrer Familienpraxis integrieren als in der
Deutschschweiz.
3) Aus einer gänzlich anderen Perspektive kann man hingegen sagen, dass
sich in der Deutschschweiz die Herkunftssprachen in den Familien besser
erhalten können, da die Umgebungssprache nicht leicht in die Familien-
praxis Aufnahme findet.
Auf jeden Fall ist offensichtlich, dass sich die sprachlichen Umgebungen mit
deren Kommunikationskultur auf die Integration von Fremdsprachigen selek-
tiv auswirken – und dies bei allen Fremdsprachigen, ungeachtet der Nähe oder
Ferne der typologischen Sprachstruktur. Selektiv ist dabei die vorherrschende
Umgebungssprache im jeweiligen Sprachgebiet.
Bezogen auf die Schweiz zumindest kann man sagen, dass es bei der sprach-
lichen Integration – gemessen an der Integration der Umgebungssprache im
Sprachhabitus fremdsprachiger Familien – nicht allein auf die Immigranten
ankommt, sondern auch auf die Interaktion im jeweiligen Gebiet.
Dass dieser Kontakt mit vielen Anderssprachigen nicht spurlos an den altein-
gesessenen Schweizern vorbeigegangen ist, war Ziel einer anderen Untersu-
chung (Franceschini 1998): Aus Aufnahmen mit deutschsprachigen Händlern
in einem durchschnittlich sprachlich gemischten Viertel in Basel (Gundeldin-
gen), konnte nachgewiesen werden, in welcher Weise sie diese Minderheiten-
sprachen in ihr passives und aktives Repertoire aufgenommen hatten (ohne
diese Sprachen in der Schule gelernt zu haben). Händler konnten Sprachen
von Minderheiten in alltagspraktischen Zusammenhängen verwenden, in un-
terschiedlichen Mischformen (siehe Franceschini 1999a, 2001, 2002a, 2002b).
Wenn genügend Interaktionen stattfinden, kann die Sprache der Minderheiten
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sozusagen auf die Mehrheit überspringen. Dieses Phänomen habe ich „Sprach
adoption“ genannt (Franceschini 1999b); andere, die ähnliche Phänomene un-
ter Jugendlichen untersucht haben, „crossing“ (Rampton 1995). Es geht dabei
um dasselbe Phänomen, nämlich darum, dass Mehrheitssprecher sich Teile
von Minderheitensprachen aneignen. Damit de-ethnisieren sich Minderhei-
tensprachen ein Stück weit. Das Phänomen ist nur unter der Annahme einer
intensiven Interaktion zwischen Sprachgruppen erklärbar.
Am Beispiel der Schweiz lassen sich gut Szenarien aufzeigen, die uns, wie
mir scheint, in Zukunft beschäftigen werden. Auch die Schweiz sieht sich mit
der Problematik der Integration von Neuzuzüglern konfrontiert. Mit einem An-
teil von über 21 Prozent ausländischer Mitbürger hat die Schweiz einen der
europaweit höchsten Anteile an ausländischen Staatsbürgern.14 Steigend ist
der Anteil der Bürger aus außereuropäischen Ländern. Die Schweiz ist ein seit
alters her mehrsprachiges Land – wie eigentlich mit wenigen Ausnahmen
alle Länder, wenn man genauer hinsieht. Doch die Schweiz versteht sich auch
als solches, nämlich als viersprachiges Land. Dies macht einen feinen, doch
umso wichtigeren Mentalitätsunterschied aus: Die Schweiz versucht die Tra-
14
Auf das Total der ausländischen Wohnbevölkerung sind 17,5 Prozent italienische, 14,1 Pro-
zent deutsche und 11,8 Prozent portugiesische Staatsbürger, gefolgt von Personen aus Ser
bien und Montenegro (11,1 Prozent), 4,3 Prozent haben die türkische Staatsbürgerschaft
(Bundesamt für Statistik: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/01/07/blank/key/01/01.
html (Stand: 05/2011)).
darauf angewiesen, mehrsprachig zu sein, und sei es nur deshalb, um mit der
weiteren Umgebung zu kommunizieren und wirtschaftlich zu bestehen.
4) Diese beiden Gruppierungen – alteingesessene, autochthone und neue
Migrantengruppen – bringen erhöhte Mehrsprachigkeit in eine Gesell-
schaft ein. Minderheitengruppen werden damit Vorreiter einer gewünsch-
ten Entwicklung.
5) In den Schulklassen erhöht sich der Anteil an Kindern, die lebensgeschicht-
lich potenziell seit frühester Kindheit an mit mehr Sprachen Umgang ha-
ben. Diese Erfahrungen können für den Spracherwerb genutzt werden, da
erwiesen ist, dass vorgängige Erfahrungen sich für den Erwerb weiterer
Sprachen als stützend erweisen.
6) Durch vermehrten und vorgezogenen Fremdsprachenunterricht kommen
nun auch Kinder aus eher einsprachig gestalteten Familien zum Erwerb
einer, meist von zwei schulischen Fremdsprachen.
7) Kontakte zwischen den Kindern mit mehr oder weniger lebensgeschichtli-
cher Mehrsprachigkeit lassen für alle potenziell mehr Erfahrungen zu un-
terschiedlichen Sprachen zu, was auch positiv für den Unterricht genutzt
werden kann.
Diese Herausforderungen betreffen unterschiedliche gesellschaftliche Sphä-
ren und Konstellationen von Mehrsprachigkeit. Sie legen es nahe, nicht nur im
Fremdsprachenunterricht, sondern auch im alltäglichen Umgang die Gelegen-
heiten zum Kontakt und zum Erwerb von Sprachen zu nutzen.
Der schulische Kontext ist mit Sicherheit ein privilegierter Ort sekundärer
Sozialisation, weshalb diesem im Zusammenhang mit der Förderung von
Mehrsprachigkeit in seiner herausragenden Rolle immer besondere Beobach-
tung zuteil wird. Doch innerhalb des schulischen Rahmens können nicht alle
Probleme gelöst werden, noch können alle Herausforderungen angegangen
werden. Denn in jedem schulischen Kontext spiegelt sich ein Stück weit die
lokale Gesellschaft wider, welche sich durch die Schule reproduziert, gerade
in ihren gesellschaftlichen Werten und Haltungen. Interventionen sollten dazu
dienen, dass beide Systeme – Schule und Gesellschaft – Impulse aufnehmen
und sich gegenseitig stimulierend weiter entwickeln. Der Frage, wie solche
Impulse aussehen könnten, geht ein europäisches Forschungsprojekt nach. Es
ortet gerade in schulisch mehrsprachigen Kontexten eine Handhabung von
Mehrsprachigkeit, in denen Kinder und Erwachsene nolens volens Lösungs-
ansätze entwickeln, die den neuen Herausforderungen gerecht zu werden ver-
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suchen. Sie werden dabei oft alleine gelassen und erfinden Vorgehensweisen,
die Richtlinien, aber auch lokal auftretende Problemlagen in Einklang zu brin-
gen versuchen. Noch zu wenig wird das Potenzial gesehen, das in einer sol-
chen Komplexität steckt.
Es ist nicht zu leugnen, dass sich die Schule (wie die Gesellschaft selbst, für
die sie steht) in einem umfassenden Veränderungsprozess befindet, der weit
über die Handhabung von rein sprachlicher Diversität hinausgeht. Sprachlich
heterogene Gruppen lassen sich nicht wegdiskutieren, denn sie sind konstitu-
tiv für eine neue Realität, die – nebenbei gesagt – so neu auch wieder nicht ist.
Wenn man heute z.B. in einem urbanen Kontext vor einem Klassenverband
steht, dann findet man durchmischte Gruppen, die eine biografisch entstan-
dene Mehrsprachigkeit in den Schulalltag einbringen und solche, die neu, bei-
spielsweise im Fremdsprachenunterricht, mit anderen Sprachen konfrontiert
werden. Man kann z.B. mit neu angekommenen Kindern mit Migrationshin-
tergrund, mit Bildungsinländern (d.h. in der Aufnahmegesellschaft geborenen
und sozialisierten Kindern) und mit Kindern aus Familien ohne aktuellen Mi-
grationshintergrund konfrontiert sein. Ein stark sprachlich durchmischtes Bild
ergibt sich auch, seit altersher, in Sprachgrenzgebieten.
Dem Vergleich von Schulsystemen in Europa in Bezug auf die Handhabung
von sprachlicher Diversität widmet sich eines der vier Themen im EU-Exzel-
zeichnet, und alle Akteure befassen sich damit, in den meisten Fällen explizit.
Lehrpersonen sehen sich mit unterschiedlichsten Sprachkompetenzen kon-
frontiert, hinzu kommt nun – meist schon auf der Primarschulebene – der
Früherwerb einer weiteren Sprache. Die traditionelle Lehrerausbildung hat sie
darauf nicht vorbereitet. Die Lehrer bemerkten dabei – und dies entgegen ei-
niger tradierter Meinungen –, dass gerade Kinder mit mehrsprachigen Erfah-
rungen bei einer neu zu erwerbenden Sprache sich nicht selten als besonders
geschickte Lerner entpuppen. Diese Bobachtung ging in den meisten Fällen
gegen die Erwartungen der Lehrpersonen selbst, die allgemein noch stark in
der Ideologie eines muttersprachlich-einsprachigen Unterrichts leben, mit al-
lem, was an Annahmen damit einhergeht. Wir konnten zudem beobachten,
wie Kinder untereinander sich gegenseitig helfen – als peer learning bekannt
15
Das Netzwerk LINEE (Languages in a Network of European Excellence) wird innerhalb des
VI. Rahmenprogramms der EU gefördert (2006-2010, Nr.: CIT4-2006-28388). Die Projekt-
homepage ist erreichbar unter: http://www.linee.info. Vgl. auch den Beitrag von Patrick Ste-
venson in diesem Band.
16
Es wurde eine multimethodologische Herangehensweise, mit Triangulation, angewendet.
Zur Datenbasis trugen bei: Feldbeobachtungen, Analyse von Dokumenten, Audio- und Video-
aufnahmen, qualitative Einzelinterviews, Focus-Gruppen, Fragebogenuntersuchungen,
Matched-Guise-Tests. Die Herangehensweise kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Man
vergleiche zur Orientierung die Web-Seite des Netzwerks (http://www.linee.info). In diesem
Forschungskonsortium der Area C: Multilingualism and Education haben mitgearbeitet: Ros
Mitchell, Jennifer Jenkins, Anna Fenyvesi, Silvia Dal Negro, Paul Videsott, Gessica De An-
gelis, Don Peckham, Elena Ioannidou, Alessia Cogo, Karolina Kolocsai, Tamah Sherman,
Dagmar Sieglova, Gerda Videsott, Enrica Cortinovis, Christina Reissner, Amanda Hilmars-
son-Dunn, Veronica Irsara, Marie-Luise Volgger, Zsuzsanna Dégi, Zsuzsanna Kiss, István
Rabec. Ich bin allen für die anregenden Diskussionen und Impulse zu Dank verpflichtet.
te Diversität in den Schulen per se gute Lernformen bietet; es kommt auf de-
ren Handhabung an und die Wertschätzung, die damit einhergeht.
Man kann sich aber auch in diesem Zusammenhang in Erinnerung rufen, dass
es seit einigen Jahrzehnten konsistente Resultate gibt, die nachweisen, dass
mehrsprachig aufwachsende/geschulte Kinder in vielen Fähigkeiten – auch in
nicht-sprachlichen – besser abschneiden als einsprachig aufwachsende/ge-
schulte. Schon die sehr frühen Arbeiten um Wallace Lambert (siehe z.B. Peal/
Lambert 1962), nach dessen Studien die folgende Auflistung erstellt ist, hatten
dies nachgewiesen. In letzter Zeit mehren sich die Erkenntnisse dazu (siehe
zum Überblick Bialystock (2001) und die Arbeiten ihrer Arbeitsgruppe).
Es wäre der Fairness geschuldet, wenn alle Kinder von diesen nachgewiese-
nen Vorteilen der Mehrsprachigkeit profitieren könnten. Dies ist aber ganz
offensichtlich in den meisten Schulsystemen nicht der Fall: Die Teilhabe bil-
dungsferner Immigrantenschichten ist nicht sehr ausgeprägt, obwohl gerade
diese Gruppen potentiell eine lebensgeschichtliche Mehrsprachigkeit einzu-
bringen hätten. Ihre Mehrsprachigkeit scheint weniger wert zu sein. Der Hin-
weis, Immigrantensprachen seien in wirtschaftlicher Hinsicht nicht besonders
marktfähig, mag heute zutreffen, aber greift entschieden zu kurz: Langfristig
gedacht, könnten gerade Gegenden, aus denen heute Immigranten stammen,
zu neuen Märkten werden. Und für die Erschließung dieser Märkte wären gut
ausgebildete, multikompetente Sprecher von Nutzen. Die Investition bei-
spielsweise in Bildungsinländer lohnt sich auch aus dieser Sicht.
Im Übrigen sind zurzeit Regionen mit Sprachminderheiten gerade durch ihre
Fähigkeiten, als kulturelle Brücke zu fungieren, nicht selten am Aufschwung
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6. Schlussworte
Die bessere Wahrnehmung und das Wissen um die Vorteile der Mehrsprachig-
keit könnten nun eine Wende bewirken, seitdem die EU stark auf diese Karte
setzt. Das Thema hat ohne Zweifel eine Aufwertung erfahren, und man darf
gespannt sein, wie die anfangs erwähnte Rahmenstrategie nun umgesetzt
führen, ist nicht einfach ein Sprechen über ein Schulfach. Es ist viel mehr: Das
Thema spricht Loyalitäten an, es spricht Lebensgeschichten an. Über Mehr-
sprachigkeit zu sprechen, ist in vielen Fällen ein Sprechen über Familienkom-
munikation und über Identitäten und kulturelle Zugehörigkeit. Über Sprache
zu sprechen, ist weit mehr noch ein Sprechen über Macht; es ist Sprechen über
Teilhabe, Rechte und Pflichten in einer Gemeinschaft und in einer wirtschaft-
lichen Umgebung.
7. Literatur
Bialystok, Ellen (2001): Bilingualism in Development. Cambridge, MA.
Bundesamt für Statistik BFS (Hg.) (2003): Bevölkerungsstruktur, Hauptsprache und
Religion. (= Reihe Volkszählung 2000 – Strukturerhebung der Schweiz, Rote Rei-
he 3). Neuchâtel. Internet: http://libraries.admin.ch/cgi-bin/gwalex/ (Stand: 05/2011).
Commission of the European Communities (2007): Final Report, High Level Group
on Multilingualism. Luxembourg: Office for Official Publications of the European
Communities. Internet: http://ec.europa.eu/education/policies/lang/doc/multireport_en.pdf
(Stand: 05/2011).
Cook, Vivian J. (1992): Evidence for multicompetence. In: Language Learning 42, 4,
S. 557-592.
Franceschini, Rita (1997): Die Präsenz der Nicht-Landessprachen in der Schweiz. In:
Lüdi et al., S. 455-520.
Franceschini, Rita (1998): Italiano di contatto: parlanti occasionali e riattivazioni di
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Abstract: Der Entwicklungsprozess Europas bedeutet unter anderem auch, dass rela-
tiv homogene, monosprachige Nationen sich zu einem komplexen mehrsprachigen
Staatenverbund entwickeln. Migrationsschübe und die damit verbundenen Probleme
von Inklusion, Exklusion und Integration sind Merkmale dieses Vorgangs. Mehrspra-
chigkeit und kulturelle Diversität sind dadurch hochaktuelle Themen in der euro-
päischen Kulturdiskussion geworden. Dieser Vortrag behandelt einige Aspekte des
zukünftigen mehrsprachigen, plurikulturellen Europas mit dem mehrsprachigen, pluri-
kulturellen Indien in vergleichender Absicht.
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The process of European development means, among other things, that relatively ho-
mogeneous, monolingual nations are developing into a complex multilingual union.
Waves of migration and the associated problems of inclusion, exclusion and integra-
tion are features of this process. Multilingualism and cultural diversity have therefore
become highly topical issues in the European debate on culture. This article addresses
some aspects of the future multilingual and multicultural Europe in comparison with
multilingual and multicultural India.
Es ist kein Zufall, dass die angesprochene Gefährdung bereits am Anfang des
20. Jahrhunderts im Rahmen der indischen Befreiungsbewegung bemerkt wur-
de. Denn die indische Befreiungsbewegung wurde mit dem seltsamen histori-
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schen Problem konfrontiert, dass der englische Kolonialismus, wie alle Kolo-
nialismen überhaupt, vor die Aufgabe gestellt wurde, aus einem Land der
Vielfalt nun eine regierbare Einheit zu machen. Und das, was an indischer Viel-
falt, indischen Kulturen, indischen Religionen und Sprachen vorhanden war,
wurde aus der Epistemologie des Kolonialismus heraus als Chaos empfunden,
und Chaos muss gezähmt werden, Chaos muss klassifiziert werden, Chaos
muss durch eine Art von Taxonomie in den Griff gebracht werden, damit es
dirigierbar wird.3 Dadurch entstand nun eine Figur des Denkens, die bis heute
noch wirksam ist. Das Normale ist die lineare Entwicklung, alles andere ist
abnormal, ist eine Abweichung und bestenfalls exotisch – das Exotische kann
man auch lieben, insofern kann man das paternalistisch betrachten. Das Nor-
male wäre eine Sprache, eine administrative Sprache, möglicherweise auch
eine poetische Sprache, eine Kodifizierung des Landes, eine saubere Trennung
zwischen volkstümlichen Entwicklungen und dem, was zur hohen Kultur ge-
hört. Auch die Religion wäre davon betroffen, man hätte am liebsten einen
Text, einen Code, eine Deutungsinstanz, eine Möglichkeit, das alles in den
Griff zu bekommen. Das wäre das Normale. Alles andere wäre dann eine Ab-
weichung. Die indische Befreiungsbewegung sah sich vor das Problem ge-
stellt, das, was an indischer Vielfalt vorhanden war, als etwas Positives darzu-
stellen, als Ressource, als Vorteil. Die Tatsache, dass man viele Sprachen im
Lande, also eine große Diversität hatte, war kein Nachteil, sondern eher ein
Vorteil. Aber das war ein gewaltiger Aufwand an Epistemologie, an Kampf,
denn diese Auffassung ist nicht ohne weiteres durchzusetzen. Die Vorstellung,
dass man eine Sprache haben muss, ist bis in die Modernisierungstheorie ge-
3
Vgl. Cohn (1985), Bayly (1996), Bhatti (1997), Rahman (1997).
Das bedeutet, dass die Diversität Indiens aus der Defensive heraus ständig
als positives Faktum dargestellt werden musste. Und dies war eine ganz gro-
ße Defensive gegenüber der dominanten Ideologie, dass Diversität etwas
wie ein Fluch sei. Das Modell, welches dahinter steckt, ist der Turmbau zu
Babel. Der ständige Rekurs auf diesen Mythos ist etwas, was in Indien
zu großen Nachteilen geführt hat. Denn in der Auseinandersetzung mit der
indischen Diversität, der indischen sprachlichen Vielfalt, waren dann selbst
die Sprachwissenschaftler in Indien, die diese Sprachenvielfalt immer wie-
der positiv darstellen wollten, stets konfrontiert mit der Notwendigkeit, sich
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Das betraf nicht nur die Vorstellung von der zu beschreibenden Sprachenviel-
falt, sondern auch gewisse Ideologien, die damit zusammenhingen. Das Wich-
tigste war natürlich die Frage der Muttersprache. Dass die Muttersprache,
dass eine Sprache allgemein einen Wert hat, war für die indische Tradition
völlig unverständlich. Es gibt ein sehr schönes Urteil des Hohen Gerichts zu
Madras in Indien, worin steht:
Mother tongue is a concept that we all appear to understand very well and take
for granted. Mother tongue is a very important concept or construct within the
Constitution of India. Several important provisions within the Indian Constitu-
4
So schreibt z.B. Jonathan Pool: „[...] but a country that is linguistically highly hetero
genenous is always underdeveloped, and a country that is developed always has considera-
ble language uniformity – if not uniformity of language origin, then widespread knowledge
of a common language. Language uniformity is a necessay but not sufficient condition of
economic development and economic development is a sufficient but not necessary condi-
tion of language uniformity.“ (Pool 1972, zit. n. Srivasatava 2007, S. 38f.).
tion revolved around this concept or construct. Discussions regarding the me-
dium of instruction and other official languages depend on the interpretation
of this concept. More often than not, mother tongue becomes a political idea
rather than a linguistic concept. Mother tongues are elevated to some human,
superhuman and divine status, and are worshipped literally. Mother tongue
becomes a rallying point for groups of people to unite and express their soli-
darity more as a political entity. (Zitiert nach Maalikarjun 2004)5
Mit diesem schönen Paradoxon hat das Hohe Indische Gericht dann das Pro-
blem gewissermaßen aus der Welt geschafft. Aber dahinter steht schon eine
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gewisse Haltung innerhalb der indischen Gesellschaft, dass der hohe Wert,
den man in Europa der Muttersprache beimisst, im Grunde genommen keine
ontologische Grundbefindlichkeit oder eine Grundbedingung für die Authen-
tizität des Menschen ist. Schriftsteller haben immer wieder darauf hingewie-
sen, dass Indien stets eine polyglotte Landschaft war. Ich zitiere die Schrift-
stellerin Deshpande, die auf die Forderung, dass authentische Literatur nur in
der ‘Muttersprache’ geschrieben werden kann, mit den Worten reagiert:
It is this charge, that genuine and good literature can only emerge from our own
languages, which I take seriously [...] But when I begin to consider this propo-
sition, I have to pause even before I begin to contend with it, since, for many of
us, the question ‘What is my mother tongue?’ does not have a simple answer. Is
my mother tongue my father's language? (It most often means this. The logic of
calling it a ‘mother tongue’ defeats me.) Or, if my mother has a different lan-
guage, is it that? Is it the language spoken in my home, the one which I have
been educated in, or the one I read, write and think in? [...] In any case, most of
us Indians learn to live with more than one language, moving swiftly from one
to another according to the need. The note of astonishment with which it is said
that the poet Bendre wrote in Kannada, even though his mother tongue was
Marathi, seems to me unwarranted. Why is it surprising? The language of cre-
ativity need not necessarily be the mother tongue, though it may very often be
that; the two are not synonymous. (Deshpande 2003, S. 66)
Das ist eine ganz andere Haltung als diejenige, die noch in den sechziger,
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts weit verbreitet war und besagte:
5
www.languageinindia.com/april2004/kathmandupaper1.html (Stand: 04/2011).
6
www.languageinindia.com/april2004/kathmandupaper1.html (Stand: 04/2011).
Sowohl der Vergleich mit Religion als auch das Beiwort „erfüllt“ und die bei
Weisgerber vorkommenden Ausdrücke wie „Sprachvermengung“ sind be-
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Ananthamurthy hat ein schönes Bild dafür entwickelt, welches von dem Vor-
hof, dem Hinterhof und dem oberen Stockwerk der Sprache spricht.8 Der
Vorhof wäre der Marktplatz, aus soziologischer Sicht die Öffentlichkeit, der
Hinterhof wäre die private Sphäre, und das obere Stockwerk wäre der Bereich
der intellektuellen Kommunikation. Wenn man drei Sprachen hat, hat man mit
7
Weisgerber (1966, S. 85). Es gab auch andere Stimmen in Deutschland, die damals noch
nicht genügend berücksichtigt wurden: Vgl. auch das Zeugnis des Romanisten Wilhelm
Theodor Elwert Das zweisprachige Individuum. Ein Selbstzeugnis aus dem Jahr 1973, sowie
Elias Canettis (1977) bekannte Schilderung seiner mehrsprachigen Jugend in Rustchuk.
8
Ananthamurthy (2007, S. 249ff.). Siehe auch Ananthamurthy (2009).
dem Bild eines Hauses – eines Vorhofes, eines Hinterhofes und eines oberen
Stockwerks – eine mehrsprachige Einheit, die funktioniert. Genauso, wie man
in einem solchen Haus wohnen könnte, könnte man in einer gesellschaftlichen
Situation metaphorisch auch so existieren. Das würde bedeuten, dass man die-
sen Vorhof, den Hinterhof und das obere Stockwerk nicht auseinander divi-
diert. Der Ort, wo sich das Haus befindet, würde zusammenbrechen, würde
nicht funktionsfähig sein. Und das ist eine ganz andere Art und Weise, mit
dem Problem, welche Sprache man spricht, umzugehen. Und das Bild des
Hauses ist ganz anders als das metaphysisch aufgeladene Bild eines Hauses
des Seins im Sinne Heideggers.9
Einer der bedeutendsten Hindi-Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, Ga-
janan Madhav Muktibodh, schrieb auf Hindi, sein Bruder Sharatchandra
Muktibodh schrieb auf Marathi, die Familie war eine Hindi-Marathi-schrei-
bende Familie, und die Wahl der dichterischen Sprache war eine Wahl, die
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damit zusammenhängt, dass man mit der Sprache, also mit einer Materie, um-
geht. Man kann damit zimmern. Im Deutschen begegnet man dieser Haltung
in manchen Sprachreflexionen aus dem Exil. Peter Weiss, der sich im Exil der
deutschen Sprache wieder annäherte, musste sie wie Material betrachten.
„Jetzt mache ich mir die Sprache selbst“ schreibt er (Weiss 1982, S. 250). Die
durch das erzwungene Exil eingetretene Entfernung von der deutschen Spra-
che war auch mit einer Entfernung von sich selbst verbunden. „Gleichzeitig
mit dem Versuch, sich wiederzuentdecken und neu zu bewerten, musste diese
Sprache neu errichtet werden.“ Dieses Neuerrichten ist ganz anders als eine
Rückkehr in den Schoß der Muttersprache zu verstehen.
Dieses Gefühl, dass Sprache Material ist, wäre im indischen Kontext völlig
normal, es ist also nicht mit einer Grenzerfahrung verbunden. Sowohl Ga-
janan Madhav Muktibodh als auch sein Bruder haben ihre Briefe auf Eng-
lisch veröffentlicht, ebenso ihre administrative Korrespondenz auf Englisch
geführt. So haben sie diese aus dem Ausland schwer zu begreifende, aber völ-
lig normale Fähigkeit, in mehreren Sprachen zusammenzuarbeiten.10 Es hilft
überhaupt nicht, wenn man diese Form des Umgangs mit mehreren Sprachen
mit linguistischen Begriffen wie Code-Switching zu umschreiben versucht.
Denn das ist eine mechanistische, behavioristische Metapher, die nicht hilf-
reich ist, um Mehrsprachigkeit zu charakterisieren. Es ist nicht so, als ob irgend-
wo ein ‘Switch’ wäre, den man ein- und ausschaltet. Viel besser ist ein sehr
schöner Ausdruck, den ich bei Goethe gefunden habe. Im „West-östlichen
9
Vgl.: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ In: Heidegger (1949, S. 5).
10
Siehe auch Trivedi (2008).
Es gibt eine bedeutende Rede von Josef von Hammer-Purgstall vom 19. Mai
1852, eine Pfingstrede bei einer feierlichen Sitzung der Kaiserlichen Akade-
mie der Wissenschaften in Wien. Hammer-Purgstall, als Präsident der Aka-
demie, hat vom Pfingstfest als dem eigentlichen Fest der Polyglossie, der
Vielsprachigkeit, gesprochen. Er spricht von der europäischen Zeit nach Na-
poleon als Zeit der Vielsprachigkeit in Europa.
Diese Vielsprachigkeit entfaltet sich erst durch den größeren und näheren Ver-
kehr der Völker in Krieg und Frieden, in Handel und Wandel, durch die gegen-
seitige Einwirkung ihrer Literaturen. (Hammer-Purgstall 1852, S. 91)13
Die gerechte Eifersucht jedes Volkes auf die Erhaltung und Entwicklung seiner
Muttersprache geht mit der immer mehr sich ausbreitenden Vielsprachigkeit
ihre Wege und sie beirren sich auf denselben nicht im Geringsten. Die Wach-
samkeit der Völker auf scharfe Abmarkung ihres eigenen Sprachgebietes steht
der Vielsprachigkeit so wenig entgegen, dass sie diese vielmehr befördert, in-
dem die Ausbildung der Sprachen mehrerer Völker der ausschließlichen Ober-
herrschaft einer Weltsprache schnurstracks entgegensteht. Die Herrschaft einer
allgemeinen Weltsprache ist nur eine Übergangsperiode in der Weltgeschichte,
welche durch den immer engeren Verkehr der Völker, durch den dampfbeflü-
gelten Austausch ihrer Waren und Ideen, die Verbreitung der Vielsprachigkeit
befördert. (ebd.)
Das ist eine wunderbare Rede, ein Lob der Vielsprachigkeit. Hammer-
Purgstall hat dazu eine Definition des idealen Österreichers (im
Habsburg'schen Sinne) gegeben: „Je mehr Du Sprachen des österreichischen
Kaisertums verstehst, desto mehr wirst Du ein ganzer Österreicher.“ (ebd.,
S. 95). Worum es mir hier geht, ist: Es gab mehrere Stimmen dieser Art in
der Habsburger Monarchie, in der Schweiz – noch bis in unsere Gegenwart
hinein in Zentraleuropa.14 Dass diese Stimmen nicht zum Tragen gekommen
sind, hängt natürlich mit der Entwicklung des nationalstaatlichen Gedan-
kens in Europa, mit der Machtpolitik innerhalb Europas zusammen, sowie
mit der Verbreitung und der Ausweitung des europäischen Weltherrschafts-
13
In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf Schmeller (1988). Ich danke Ludwig
M. Eichinger und Hans-Jürgen Krumm für diesen Hinweis. Aus Platzgründen muss ich auf
eine Darstellung der Nähe, aber auch auf den Unterschied zu Hammer-Purgstall leider
verzichten.
14
Vgl. Csáky (2010), Feichtinger/Prutsch/Csáky (2003).
Wenn wir sagen, dass Indien ein mehrsprachiges Land ist, dann fußt das auf
soliden wissenschaftlichen Grundlagen. Die Anthropological Survey of India
hat ergeben, dass mehr als 65% der indischen Bevölkerung und mehr als 75%
der indischen Communities mindestens zweisprachig und die Mehrzahl dar-
aus dreisprachig sind. Mehrsprachigkeit ist also keine isolierte Erscheinung.
Aber was ist das für eine Mehrsprachigkeit? Ananthamurthy hat boshaft ge-
sagt, die Mehrsprachigkeit in Indien liege bei den Ungebildeten und nicht bei
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den Gebildeten. Die Gebildeten wollen ihre Kinder nur in einer Sprache erzie-
hen und möglichst schnell in die USA schicken. Die ungebildete, arbeitende
Bevölkerung sei mit der Mehrsprachigkeit gewissermaßen aufgewachsen,
weil diese Mehrsprachigkeit mit ihren Arbeitsbedingungen zusammenhänge.
Mehrsprachigkeit sei eine praxisorientierte Begabung. Damit spielen sowohl
Ananthamurty als auch die Anthropological Survey of India, hochwissen-
schaftlich formuliert, darauf an, dass Indien durch die Binnenmigration, durch
die großen Bewegungen innerhalb Indiens, durch die Struktur des Landes,
durch diese vielen Religionen, ihre verschiedenen Wallfahrtsorte, durch die
Pilgermöglichkeiten, durch die administrative Durchdringung des Landes und
vor allem durch die Eisenbahn aus allen arbeitenden Menschen mehrsprachi-
ge Menschen macht. Und diese Mehrsprachigkeit kann nicht definiert werden
als die perfekte Beherrschung von Sprachen, sondern als die hinreichende Be-
herrschung von Sprachen, die je nachdem, was man mit diesen Sprachen an-
fangen kann, dann weiter perfektioniert wird. Das bedeutet: Wenn ein aus ei-
ner Marathi-schreibenden Familie stammender Dichter wie Muktibodh
entscheidet, lieber auf Hindi zu schreiben, kann er das machen, ohne dass sich
jemand darüber wundert. Diese Kommunikation und Binnenmigration gibt
der indischen Mehrsprachigkeit eine Form der Durchmischung, eine Durch-
mischungsqualität, die – soweit mein Eindruck von der europäischen Situa
tion – in Europa noch erreicht werden müsste. Die Politik, die sich in Europa
entwickelt, müsste dann in diese Richtung gehen. Und das ist auch der Unter-
schied zwischen der Drei-, Vier- und vielleicht Fünfsprachigkeit in der
Schweiz und der Mehrsprachigkeit in Indien: Es gibt nicht diese Durchmi-
All das hängt mit einer bestimmten Haltung zur Kultur zusammen, die nicht
von den Wurzeln der Kulturen ausgeht, wo man nach Authentizität sucht, oder
wo man das erfüllte Sein des Menschen durch ein Ringen nach Authentizität
und Wurzeln definiert, sondern dass man Kulturen als verschiedene palimpsest
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Wenn man nun zu dem Gedanken zurückkehrt, mit dem ich begonnen habe,
Homogenität – Heterogenität, und Mehrsprachigkeit als etwas, was in der He-
terogenität, der kulturellen Vielfalt situiert ist, dann müsste man dieses Bild
des Rhizomatischen, Palimpsestartigen dehnen, als eine Umschreibung der
Grundcharakteristik aller großen territorialen Gebilde, die davon gekenn-
zeichnet sind und nur davon leben, dass es diese Diversität gibt, sei es als
Sprachenvielfalt, sei es als religiöse Vielfalt, sei es als kulturelle Vielfalt. Und
das ist keine neue Einsicht, das hat der Gedanke an die Gleichzeitigkeit des
Ungleichzeitigen von Ernst Bloch auch ausgedrückt. Es gibt ein anderes Bild,
das bei Ludwig Wittgenstein zu finden ist, welches das, was ich sage, schön
umschreibt. Wir können, schreibt er, einen Begriff von „Etwas“ ausdehnen
wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des
Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft,
sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.
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Wenn aber Einer sagen wollte: ‘Also ist allen diesen Gebilden etwas gemein-
sam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten’ – so würde ich
antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es
läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen
dieser Fasern. (Wittgenstein 1975, S. 57 (Nr. 66) sowie S. 77 (Nr. 76))
Es ist in diesem Übergreifen, dass das, was wir Vielfalt nennen, vielleicht so
erfasst werden kann. Plurikulturelle, mehrsprachige, heterogene Gesellschaf-
ten wären in dem Sinne komplizierte Netze von Ähnlichkeiten, die ineinander
übergreifen und sich kreuzen. Das wäre die Perspektive, auf deren Grundlage
man eventuell den fundamentalistischen Richtungen, die diese Vielfalt zerstö-
ren wollen, die etwas Singuläres, Lineares, vorsetzen wollen, etwas Anderes
gegenübersetzt, das die Vielfalt als kulturellen Gewinn begreift. Und dazu
gehört die sprachliche Vielfalt.
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geben?“ von 1815, sowie ein Nachruf auf Hermann Barkey (1894-1987) und der
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a.M.
There is a curious contradiction between, on the one hand, the extent of bilingualism
and multilingualism within our societies and within the individual, and, on the other
hand, the lack of awareness of what it takes to foster it. This contribution discusses
some popular myths which hamper our understanding of bilingualism/multilingual-
ism as a normal state of the human mind. The coexistence and coactivation of more
than one linguistic system within a single head even provides individual speakers with
the unique opportunity for systematically employing language mixing for discourse-
functional and pragmatic purposes. After an illustration of this resourcefulness with
data from a project investigating language contact in adult German immigrants in the
U.S., it will be shown how early young bilingual children are able to cope with the
challenge of coexisting input languages. Finally, suggestions as to how this potential
could be exploited in the field of education in order to empower and support second
language acquisition and multilingualism in childhood will be proposed.
1. Einleitung
„Europa ist – wie jeder der Mitgliedsstaaten – mehrsprachig. Erhalt und För-
derung dieser Mehrsprachigkeit ist erklärter politischer Wille“ (Decke-Cor-
nill/Küster 2010, S. 143). Diesen auf den ersten Blick klaren Aussagen in ei-
nem fremdsprachendidaktischen Handbuch lassen ihre Verfasser sogleich die
berechtigte Frage folgen „Was aber ist darunter zu verstehen?“ (ebd.). Denkt
man beispielsweise bei der zu erhaltenden und zu fördernden Mehrsprachig-
keit an die Vielfalt der Erstsprachen, die man auf Europas Schulhöfen vorfin-
det? Meint man die Sprachen, die als Teil des Bildungskanons innerhalb die-
ser Schulen unterrichtet werden? Und von wessen politischem Willen ist die
Rede? Gemäß europäischer Mehrsprachigkeitspolitik sollen die Bürger und
Bürgerinnen Europas künftig drei Sprachen beherrschen, neben ihren jeweili-
gen Erstsprachen zwei andere Sprachen, beispielsweise das Englische als lin-
gua franca und eine weitere, vielleicht benachbarte europäische Sprache (vgl.
Europäische Kommission (Hg.) 2008, sowie zahlreiche EU-Publikationen der
letzten Jahre). Während Eurobarometer-Umfragen zeigen, dass die Bürger(in-
nen) Europas selbst sehr unterschiedliche Meinungen dazu haben, ob der Er-
werb einer dritten Sprache sinnvoll oder allein aus zeitlichen Gründen mach-
bar ist (vgl. Bär 2004, S. 50ff.), belegt ein kurzes Hineinhören in die Schulhöfe
europäischer Großstädte, dass die Realität das europäische Desiderat längst
übertrifft und dass die Menge der in Europa koexistierenden Sprachen weit
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über den Pool der Landessprachen und die prominentesten Dialekte seiner
Mitgliedsstaaten hinausreicht. Manche Kinder werden bereits von Geburt an
im Elternhaus in mehreren Sprachen angesprochen, von denen möglicherwei-
se keine der Umgebungs- oder Landessprache entspricht. Letztere würde dann
als dritte (oder weitere) Sprache erlernt, idealerweise möglichst früh, z.B. mit
dem Zeitpunkt des Eintritts in eine vorschulische Bildungseinrichtung. Im
Grundschulalter kämen bildungssprachliche mündliche und schriftsprachli-
che Register der Landessprache hinzu sowie eine Fremdsprache, in Deutsch-
land beispielsweise Englisch oder Französisch. In weiterführenden Schulen
eröffnen sich neue Optionen, und zwar nicht nur aus dem Kreis der so genann-
ten „lebenden“ Sprachen. Viele Menschen in Europa erfüllen also die Wunsch-
vorstellung einer individuellen Mehrsprachigkeit schon im Kindes- oder
Jugendalter. Aber während man auf europäischer Ebene linguistische Diversi-
tät als individuellen und gesellschaftlichen Vorteil zelebriert und sich da-
durch einen Wettbewerbsvorteil auf internationalen Märkten erhofft (vgl. Dar-
quennes 2011), scheint sich auf lokaler Ebene kaum jemand wirklich über die
real existierende linguistische Artenvielfalt zu freuen. Vielmehr ringen die Bil-
dungssysteme vieler europäischer Staaten mehr oder weniger hilflos mit den
durch die Heterogenität sozialer und sprachlicher Herkunft bedingten Heraus-
forderungen. Denn die mehrsprachige Biografie von Schülern und Schülerin-
nen schließt oftmals gerade diejenigen Sprachen nicht oder nicht in ausrei-
chendem Maße ein, die sie für eine erfolgreiche Bildungskarriere benötigen.
Dies bedeutet auch, dass die Mehrheit der jungen Menschen mit Migrations-
hintergrund den Schritt in weiterführende Schulen nicht schaffen und ein be-
achtlicher Teil von ihnen keinen Schulabschluss vorweisen kann. Die meisten
Erstsprachen, die in deutschen Schulhöfen zu hören sind, haben jedenfalls
of a child who speaks English poorly, has difficulty in school, and is in need of
remediation.“ (1986, S. 10). Mehrsprachigkeit wäre somit ein individuelles Risi-
ko und bestenfalls ein temporäres gesellschaftliches Übel, „characteristic of the
less developed nations“, „something ‘to get over’“ (Myers-Scotton 2006, S. 10).
Die internationalen Vergleichsstudien und die Bildungsberichte des letzten
Jahrzehnts lassen keinen Zweifel daran, dass Kinder und Jugendliche aus Zu-
wandererfamilien und aus bildungsfernen Schichten gerade in Deutschland
erheblich benachteiligt sind (vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) 2001,
OECD (Hg.) 2010, Expertenrat „Herkunft und Bildungserfolg“ 2011, Bade/
Bommes/Münz (Hg.) 2004, Gomolla/Radtke 2002). Dieser Zustand schadet
nicht nur der Volkswirtschaft (vgl. Wößmann/Piopiunik 2009), die aufgrund
eines akuten Mangels an qualifizierten Arbeitskräften bereits jetzt auf weitere
Neuzuwanderung angewiesen ist (vgl. das Jahresgutachten 2011 des Sachver-
ständigenrats deutscher Stiftungen). Für eine angebliche Wissens- und Infor-
mationsgesellschaft liegt darin ein fundamentaler Widerspruch von Anspruch
und Wirklichkeit.
Der internationale Bildungsvergleich belegt, dass Versuche, einzelne Zuwan-
derergruppen, allen voran türkische Migrant(inn)en, für das schlechte Ab-
schneiden des deutschen Schulsystems verantwortlich zu machen, daran
1
Vgl. dazu die Debatte um die so genannte „Halbsprachigkeit“ (Skutnabb-Kangas 1984, vor
allem die Kritik in Romaine 1995 und Siebert-Ott 2001). Von vermeintlichen Defiziten
mehrsprachiger Kinder in allen ihren Sprachen wird seit Jahren regelmäßig in der Tages-
presse berichtet, vgl. exemplarisch den Beitrag „Schulen im Ausnahmezustand“, Welt am
Sonntag vom 19.6.2011.
Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist dem Menschen angeboren. Sie ist un-
abhängig von der Modalität (Gebärdensprache, Lautsprache), von der In-
telligenz, von der Erziehungspraxis und von der Anzahl der beteiligten
Sprachen. Aus demografischer Perspektive betrachtet ist Mehrsprachigkeit
schon längst der Normalfall (vgl. Baker/Jones 1998, Myers-Scotton 2006,
Romaine 1995), vor allem dann, wenn man – was aus sprachwissenschaftli-
cher Sicht angemessen wäre – Dialekte und sonstige systematisch differen-
zierbare Varietäten einschließt, die im Kopf des Individuums und in seiner
Gesellschaft koexistieren. Wenn ich dennoch im Folgenden vereinfachend
von monolingualen und bilingualen/mehrsprachigen2 Kompetenzen spre-
che, so sollte dabei die Unmöglichkeit einer scharfen Grenzziehung im Auge
behalten werden.
2
Da eine nähere Unterscheidung zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit im Folgenden nicht
wichtig ist, werde ich beide Termini synonym verwenden.
Sprache ist instrumentell für die Konstruktion unseres Selbstbilds und für die
Art und Weise, wie wir andere sozial kategorisieren (vgl. Le Page/Tabouret-
Keller 1985, Antaki/Widdicombe (Hg.) 1998, Hinnenkamp/Meng (Hg.) 2005,
Auer (Hg.) 2007). Durch unsere Art und Weise zu sprechen drücken wir Wert-
schätzung, Solidarität oder Distanz aus und verorten uns relativ zu anderen,
d.h. „language [...] may be the most visible symbol of a group“ (Myers-Scotton
2006, S. 114). Eindrucksvoll zeigt sich dies in so genannten Matched Guise-
Experimenten, in denen Versuchsteilnehmer(innen) Personen, von denen ih-
nen Tonaufnahmen vorgespielt werden, bezüglich bestimmter Merkmale be-
urteilen sollen (z.B. als sympathisch, intelligent, fleißig, vertrauenswürdig
etc.; vgl. Lambert 1960, Romaine 1995, Gardner-Chloros 2009; für informelle
pädagogische Übungen Tracy 2010). Die Aufnahmen bestehen aus Texten, die
entweder in Sprache A oder Sprache B vorgetragen werden. Was die Versuchs-
teilnehmer(innen) nicht wissen: Unter den Vortragenden sind Mehrsprachige,
die sie mithin zweimal hören und entsprechend zweimal einschätzen, einmal
nach Hören von Sprache A, einmal nach Sprache B. Anhand dieser Einschät-
zungsaufgabe lassen sich Einstellungen gegenüber bestimmten Sprachge-
meinschaften sehr einfach elizitieren.
Die in der Vergangenheit auch von sprachwissenschaftlicher Seite vorge-
brachte Besorgnis um eine durch Mehrsprachigkeit begünstigte oder verur-
sachte Identitätsverwirrung und fehlende politische Loyalität (vgl. nochmals
Weisgerber 1966), die der Nationalsprachenideologie des 18. und 19. Jahr-
kann (vgl. Hinnenkamp/Meng (Hg.) 2005, Keim 2007, Keim i.d.Bd.). Das
damit einhergehende Selbstbewusstsein zeigt sich beispielsweise in dem fol-
genden Zitat einer jungen türkischstämmigen Frau (aus Keim/Tracy 2007,
S. 131), die sich hier zu ihrer Sprache, der „Mischsprache“ bekennt, deren
Beherrschung sie auch von einem künftigen Lebenspartner erwartet. Der
Asterisk in der Verschriftung steht für eine kurze Pause.
(1) isch könnte nie einen Mann lieben wenn er meine Sprache nischt kann * die
Mischsprache * einen Türken nich und auch keinen Deutschen * isch könnte
nie zu einem sagen *ich liebe dich* das klingt so hart * aber seni seviyorum
klingt schön
Wie Keim (i.d.Bd., 2007) zeigt, können Mischvarietäten, Dialekt und stan-
dardnahe Formen durchaus nebeneinander existieren und sich funktional
ergänzen. In Kapitel 3 werde ich anhand des deutsch-englischen Sprachkon-
takts bei erwachsenen Migrantinnen verdeutlichen, wie individuelle Mehr-
sprachigkeit dem Einzelnen erlaubt, mehreren Stimmen und Stimmungen
gleichzeitig Ausdruck zu verleihen. Während die Sprachwissenschaft der
letzten Jahrzehnte die Kompetenz hervorgehoben hat, die der Sprachmi-
schung bilingualer Sprecher zugrundeliegt (vgl. Auer (Hg.) 1998, Bullock/
Toribio (Hg.) 2009, Clyne 2003, Gardner-Chloros 2009, Keim i.d.Bd., Muys-
ken 2000, Myers-Scotton 2006, Tracy/Lattey 2010), weist die Reaktion von
Nichtexpert(inn)en auf ein interessantes Paradox hin: Auch wer Mehrspra-
chigkeit prinzipiell befürwortet, mag im Grunde immer noch erwarten, dass
sich bilinguale Menschen möglichst monolingual verhalten, also so, als ob sie
eigentlich doch nicht bilingual wären bzw. als ob sie mehrere, völlig iso-
liert voneinander existierende Monolinguale in sich vereinten (vgl. die Kritik
in Grosjean 2008, Kap. 2).
Sprachen sind fiktive Objekte, keine realen, die irgendwo en bloc in unserem
Gehirn ein Eigenleben führen. Sie existieren nur gedacht – im Sinne der abs-
trakten Objekte von Poppers „Dritter Welt“ (1979) – und lassen sich nicht
unverändert aus der Hand einer Vorgängergeneration übernehmen und gleich
einem Erbstück unversehrt an die eigenen Kinder weitergeben. Realität hin-
gegen sind individuelle Kenntnissysteme, die das ausmachen, was man ge-
meinhin als Kompetenz bezeichnet. Chomsky (1986, S. 25) spricht hier von
internalisierter Sprache, I-Sprache. Dazu gehören das mentale Lexikon sowie
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Bei der Diskussion um die sprachlichen Defizite von Kindern mit Migrations-
hintergrund ist seit Jahren immer wieder davon die Rede, dass man „die Eltern
ins Boot holen“ muss. Wenn damit gemeint ist, dass Familien im Rahmen ihrer
Möglichkeiten dazu beitragen sollten, den Bildungsweg ihrer Kinder unterstüt-
zend zu begleiten, so kann man dem nur beipflichten. Ist damit hingegen ge-
meint, dass Eltern, die das Deutsche nur bruchstückhaft beherrschen, mit ihren
Kindern Deutsch sprechen sollten, so wäre dies eine Verkennung dessen, was
Kinder für den zügigen Erwerb des Deutschen und insbesondere als Vorausset-
zung für den Ausbau bildungssprachlicher Kompetenzen benötigen: nämlich
kompetente Vorbilder für ihre jeweiligen Zielsprachen.
Dabei steht außer Frage, dass Erwachsene durch eigenes Deutschlernen Kin-
dern ein gutes Beispiel für Lernbereitschaft schlechthin bieten und außerdem
die Alltagsrelevanz des Deutschen als Umgebungssprache unterstreichen.
3
Diese Sorge wurde mir gegenüber anlässlich von Vorträgen und Weiterbildungsveranstal-
tungen der letzten Jahre häufig geäußert, und zwar sowohl von Eltern selbst als auch seitens
von Erzieher(inne)n, Grundschullehrer(inne)n, Kinderärzt(inn)en und Logopäd(inn)en, die
ihrerseits von Gesprächen mit Eltern berichteten.
4
Man bedenke, was dies für den „muttersprachlichen“ Unterricht bedeutet. Welche Variante
der Herkunftssprache wäre in diesem Fall die geeignete Zielsprache? Man kann sich un-
schwer ausmalen, dass der so genannte muttersprachliche Unterricht für viele Kinder eher
einem Fremdsprachenunterricht gleich käme.
Beides sollte sich positiv auf die Lernmotivation ihrer Kinder auswirken.
Dennoch: Sofern Eltern nicht schon zur Zeit der Geburt ihrer Kinder über gute
Deutschkenntnisse verfügen, können sie sich diese mit Sicherheit nicht schnell
genug und vor allem nicht hinreichend variationsreich und differenziert aneig-
nen, um ihre Kinder auf bildungssprachliche Leistungsanforderungen vorzu-
bereiten (vgl. auch Tracy 2008). Eltern können andererseits natürlich dafür
Sorge tragen, dass ihre Kinder möglichst früh und regelmäßig eine Kinderta-
gesstätte besuchen. Des Weiteren können Eltern ihren Kindern bei der Aneig-
nung von Weltwissen helfen und generell ihre Neugier und ihre Lust am Ler-
nen erhalten. Eben dies sollten Zuwandererfamilien in den Sprachen tun, die
sie selbst sicher beherrschen und in denen sie ihren Kindern den für den Erst-
spracherwerb benötigten komplexen, authentischen Input anbieten können.
Was den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache und insbesondere bildungs-
sprachliche Varietäten angeht, ist in erster Linie das Bildungssystem gefor-
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dert, Kindern das benötigte sprachliche Angebot zu unterbreiten, das sie für
einen möglichst zügigen Erwerb eines umfangreichen Lexikons und der ziel-
sprachlichen Grammatik benötigen. Eine Beschränkung auf Satzfragmente
(„Alle mal herhören!“, „Schuhe anziehen vorm Rausgehen!“ etc.), die für den
Kita-Alltag und die Kommunikation mit großen Kindergruppen typisch sind,
bietet Kindern keine ausreichende Informationsbasis. Auch eine so genannte
„ganzheitliche“ Förderung in den Kitas, so gut sie gemeint ist, ist keine Ga-
rantie, dass Kindern hinreichend komplexer verbaler Input zur Verfügung
steht. Für viele Erwerbsaufgaben und sprachliche Details ergeben sich näm-
lich die relevanten Erfahrungskontexte nicht „von alleine“ oder gar zufällig.
Bekannte Erwerbshürden sollten daher von entsprechend geschultem Perso-
nal gezielt - und dies steht keineswegs im Gegensatz zu „ spielerisch“ - ange-
gangen werden (vgl. Tracy/Lemke (Hg.) 2009).
Erzieher(innen) müssen nicht nur in der Lage sein, durch intensive sprachli-
che Interaktion Kindern den für den Spracherwerb benötigten Input zu liefern.
Laut aktueller Bildungs- und Orientierungspläne gehört in ihre Verantwortung
auch die „Wahrnehmung, Beobachtung und regelmäßige Dokumentation des
Entwicklungsstandes bzw. der Entwicklungsfortschritte jedes Kindes“ (Minis-
terium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2007, S. 47). Diese
Anforderungen sind nicht trivial und setzen theoretische Grundlagen voraus,
ohne die man nicht einmal wüsste, worauf man beim Beobachten seine Auf-
merksamkeit richten sollte (vgl. Schulz/Tracy/Wenzel 2008; Tracy 2008, 2009;
Schulz/Tracy 2011; Hopp/Thoma/Tracy 2010). Berechtigt ist auch die Frage,
ob angesichts der in der Praxis vorherrschenden Bedingungen überhaupt eine
haben viele Initiativen auf die Förderung von Kindern im letzten Vorschuljahr
gesetzt. Erste Wirksamkeitsstudien zeigen allerdings deutlich, dass diese Rech-
nung nicht aufgeht (vgl. beispielsweise die Homepage der Baden-Württem-
berg Stiftung www.bwstiftung.de). Ungeachtet der methodischen Probleme, die
zu einer Kritik an der Evaluation selbst führten (vgl. Tracy i.Vorb.), sprechen
die Ergebnisse in vieler Hinsicht eine deutliche Sprache: Die Fördermaßnah-
men beginnen zu spät, sind aufgrund von Fehlzeiten nicht verlässlich, der
insgesamt für die Förderung zur Verfügung stehende Zeitraum ist zu kurz, und
die Qualifikation der pädagogischen Fachkräfte erweist sich trotz offenkundi-
ger Bemühungen als verbesserungsbedürftig (vgl. Hofmann et al. 2008, Gas-
teiger-Klicpera/Knapp/Kucharz 2010).
Ein besonders fataler Irrtum besteht in der Annahme, dass man Kinder mit
Deutsch als Zweitsprache innerhalb eines knapp bemessenen Förderzeitraums
gleich in vielen sprachlichen Bereichen, u.a. solchen, die sich durch ein hohes
Maß an Idiosynkrasie auszeichnen (u.a. Wortschatz, Wortbildung), auf ein
muttersprachliches Niveau bringen könnte. Kein Lehrer/keine Lehrerin schu-
lischer Fremdsprachen käme auf die Idee, die Leistungen von Schüler(inne)n
nach einem Unterrichtsjahr an denen gleichaltriger Kinder oder Jugendlicher
in England oder Frankreich zu messen. Fairerweise würden sich Lehrkräfte
bei der Bewertung von Entwicklungsfortschritten in der Fremdsprache an
dem orientieren, was im Unterricht oder in Lehrbüchern behandelt wurde. In
der öffentlichen Diskussion um die Sprachförderung wurden Erwartungen ge-
weckt, die angesichts der Bedingungen „im Feld“ und der Einschränkung der
Förderdauer unrealistisch waren. Nicht zuletzt muss bedacht werden, dass die
für die Messung von Effekten eingesetzten Verfahren für monolinguale Popu-
lationen entwickelt und normiert wurden und sich von daher für den Einsatz
beim Zweitspracherwerb nur sehr bedingt eignen (vgl. Schulz/Tracy/Wenzel
2008, Schulz/Kersten/Kleissendorf 2009).
Mehrsprachigkeit ist – wie bereits betont wurde – nicht mit völlig ausgewo-
genen, in beiden/allen Sprachen gleichermaßen differenzierten lexikalischen
und stilistischen Repertoires gleichzusetzen. Allerdings kann man im Fall
regelmäßig verwendeter Sprachen von beträchtlichem Koaktivierungspoten-
zial und wechselseitigem Priming ausgehen (vgl. Clyne 2003, Green 2000,
Grosjean 2008). Lexeme und Satzbaupläne beider/aller Sprachen sind prinzi-
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piell „einsatzbereit“ und können auch mehr oder weniger intensiv und be-
merkenswert flüssig gemischt werden. Mittlerweile belegen unzählige Studi-
en, dass Mischäußerungen weder in formaler noch in funktionaler Hinsicht
chaotisch sind (vgl. Auer (Hg.) 1998, Bullock/Toribio (Hg.) 2009, Gardner-
Chloros 2009, Muysken 2000, Hinnenkamp/Meng (Hg.) 2005, Myers-Scotton
2006). Ziel des folgenden Abschnitts ist es, diese Systematik anhand ausge-
wählter deutsch-englischer Fallbeispiele zu illustrieren. Die Daten stammen
aus einem Forschungsprojekt5 mit Amerikaner(inne)n deutscher Herkunft in
den USA, die mehrere Jahre lang regelmäßig unter variierenden Bedingungen
aufgenommen wurden. Im Zentrum der Studie standen funktionale und for-
male Eigenschaften von mündlichen und schriftlichen Kontaktphänomenen
sowie die Identifikation individueller Sprecherprofile (vgl. Lattey/Tracy
2001, Münch 2006, Stolberg/Tracy 2008, Stolberg/Münch 2010, Tracy/Lat-
tey 2010).
(2) So life was verywe wir sagn „bunt“, ne? Leipziger Allerlei, that′s what it was
(3) [...] dann denk ich oft, we-when people complain, was wir alles ham
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In (2) konkurrieren ein formal ähnliches englisches und ein deutsches pronomi-
nales Subjekt (we/wir), in (3) verwandte Komplementierer (wenn/when). In (4)
wurde ein deutscher Verbstamm in einen englischen Satz integriert - aus Sicht
der Sprecherin offensichtlich ein Versprecher und nicht einfach nur eine Entleh-
nung, da die Verbform von ihr im dritten Anlauf repariert wird. Andere Misch-
formen zeigen eher das kooperative Potenzial mehrsprachiger Ressourcen. In
(5) - (6) sieht man, dass der Sprachwechsel mit bestimmten Diskursfunktionen
und spezifischen Zügen des Argumentationsgangs einhergeht. Bei beiden kor-
reliert der Wechsel vom Deutschen ins Englische mit einer Abfolge von Rah-
menstruktur, gebildet durch Matrixsätze mit Verben des Sagens/Denkens, und
direkter oder indirekter Redewiedergabe. In (5) berichtet die 80-jährige KL,
TGs jüngere Schwester, empört von einer Unterhaltung mit ihrem Sohn, der den
Wunsch geäußert hatte, sie möge nicht mehr selbst Auto fahren. In diesem Fall
kann man übrigens sicher sein, dass das ursprüngliche Gespräch auf Englisch
stattgefunden hat, weil keiner der beiden Söhne KLs Deutsch spricht.
(5) Aber ich hab gesagt, I go according to the way I feel, and if I feel well enough
that I think I can do it, I will do it. Ich fahr doch schon äh seit neunzehnhun-
dertzweiundfünfzig …
6
Soweit Zuordnungen möglich sind, werden englische Anteile kursiv wiedergegeben, der
Rest recte. Ein Trennstrich „“ symbolisiert einen Abbruch. Sowohl deutsche als auch eng-
lische Verzögerungssignale werden undifferenziert durch äh/ähm transkribiert. Satzzeichen
dienen lediglich der Leseerleichterung.
In (6) schildert TG eine mehr als sechs Jahrzehnte zurückliegende, auf Deutsch
geführte Unterhaltung mit der ebenfalls deutschstämmigen Frau ihres ersten Ar-
beitgebers in den USA, dem sie kurz zuvor ihre Kündigung eingereicht hatte.
(6) ... dann hat sei Frau zu mir gesagt, why are you leaving us now? Da sog i, be-
cause I would like to laugh once in a while, und dann hats' g'sagt, well I'm here
too an′ ich leb noch, hots' g'moant. Na hab ich g'sagt, well, gee ...
TG wechselt hier nicht nur zwischen Englisch und Deutsch. Innerhalb der
deutschen Passagen koexistieren außerdem Formen des Standarddeutschen
(z.B. ich, hat, gesagt) und des Bairischen (i, hot, sog, g′sagt, na etc.). Im
Grunde sind also mindestens drei Systeme in hohem Maße aktiviert und an
der Re-Inszenierung des Dialogs beteiligt.
(7) - (10), ebenfalls von TG produziert, illustrieren weitere diskurspragmati-
sche Funktionen, die in der Forschung gut belegt sind (vgl. Auer (Hg.) 1998,
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In (11) - (12) geht der Sprachwechsel mit der Ergänzung von Hintergrundin-
formation und Interpretationshilfen einher. In (11) wechselt TG allerdings
nicht zum Zitieren ins Englische; vielmehr kann man (amüsiert) feststellen,
dass sie ihrem aus Hamburg stammenden Arzt auf Bairisch realisierte Äuße-
rungen in den Mund legt.
(11) Und dann hot mei Doktor, der war von Hamburg, Doktor L., he was nice and
I liked him very much. Der hot zu mir g'sogt, ‘Toni, du hast a deutsche Figur.’
(12) [...] and ähm es war so schön da, und nebn dene hot die Elsa Maxwell g'wohnt,
she was a gossip woman, you know
Stickel Eis fallen lassen, und wir Kinder ham das aufklaabt und ham's g'lutscht
weil des gut war im Sommer, und na hat mei Großmutter g'sagt äh, geh rauf
und nimm a Schaufe un en Besen und tu mer de Rossboin raufbringe, die
brauch ich für meine Fuchsien am Balkon. Na hob i. Daneben san die Eissti-
ckeln g'legen wo mir g'spieg'lutscht ham. Today you would say, „Oh, this is
so unsanitary.“
Über den inter-sentenzialen Sprachwechsel hinaus, den die meisten der bishe-
rigen Beispiele exemplifizieren, finden sich auch komplexere intra-sentenzia-
le Mischungen. In (14) sehen wir eine im Grunde englische Struktur, die zum
Teil mit deutschem Wortschatz realisiert wurde. In (15) haben wir es mit dem
komplementären Fall zu tun: Hier entspricht die Gesamtstruktur einem deut-
schen Verbzweit-Hauptsatz.7
(14) [...] und scheinbar die Mutter wasn′t a good housekeeper because die war des
von dahoam net g'wöhnt, dass man'n Boden putzen muss
(15) [...] and then the next morning hob i mer denkt [...]
7
In der Theorie Muyskens (2000) handelt es sich hier um Fälle einer verzögerten Lexikalisie-
rung („delayed lexicalization“). In der traditionellen Sprachkontaktforschung spricht man
von Lehnübersetzung oder Calquing (vgl. auch Backus/Dorlijn 2009).
die Schul.
(17) I remember wenn der Hit- der Hindenburg gestorben is.
Der doppelte Erstspracherwerb, bei dem Kinder von Geburt an von ihren Be-
zugspersonen in mehr als einer Sprache angesprochen werden,9 eröffnet uns
eine besonders privilegierte Gelegenheit, um zu erforschen, wie früh und wie
systematisch bilinguale Kinder Sprachen trennen und ihre Sprachwahl kon
trollieren können. Entgegen früheren Annahmen (z.B. Volterra/Taeschner 1978)
belegen qualitative und quantitative Untersuchungen, dass Kinder im Laufe
der ersten beiden Lebensjahre in der Lage sind, Sprachen auf verschiedenen
Ebenen des Systems (Phonologie, Morphosyntax, Semantik) zu unterscheiden
und im Alter von zwei bis drei Jahren sprachlich differenziert auf unterschied-
liche Gesprächspartner reagieren (vgl. Cenoz/Genesee 2001; de Houwer
1990; Döpke (Hg.) 2000; Genesee/Nicoladis/Paradis 1995; Genesee/Nicola-
dis 2007; Hulk/Cornips 2006; Lanza 1997; Lleó (Hg.) 2006; Meisel 1989,
2004, 2007; Müller et al. 2007; Müller/Cantone 2009; Bosch/Sebastián-Gallés
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2001; Quay 1995). Kinder, die Deutsch und Englisch als simultane Erstspra-
chen erwerben, zeigen uns bereits anhand der Platzierung nicht-finiter Verben
in ihren Zwei- und Mehrwortäußerungen im Alter von 18 bis 24 Monaten,
dass sie den formalen Kontrast zwischen deutschen und englischen Verbal-
phrasen kennen (vgl. Gawlitzek-Maiwald/Tracy 1996; Tracy/Gawlitzek-Mai-
wald 2000, 2005). In ihren englischen Äußerungen geht der verbale Kopf rela-
tiv konsistent seinem Komplement voraus, im Deutschen folgt er ihm, wie in
den folgenden Äußerungen eines bilingualen Kindes, Hannah, die am glei-
chen Tag in Gesprächen mit unterschiedlichen Gesprächspartnern aufgenom-
men wurden (vgl. auch Tracy 2007, 2008).10
(18) Hannah (2;2)
(a) H. steckt ein Messer in eine Tasse, will Mutter darauf aufmerksam
machen.
Mami, put də knife in cup Vokativ, Verb+Objekt
(b) H. nimmt ein Buch auf.
ich das lesen Subjekt+Objekt+Verb
8
Diese Daten wurden in dem Projekt „Erwerb der komplexen Syntax“ erhoben, einem Pro-
jekt des DFG-Schwerpunktprogramms „Spracherwerb“. Das Projekt verglich den Erwerb
von Nebensätzen bei monolingualen deutschsprachigen und bei bilingualen deutsch- und
englischsprachigen Kindern.
9
Z.B. nach dem Partnerprinzip, wobei die Kinder von Vater und Mutter oder sonstigen Be-
zugspersonen in unterschiedlichen Sprachen angesprochen werden. Vgl. den Überblick über
familiäre Sprachpolitik in Romaine (1995), Tracy/Gawlitzek-Maiwald (2000), Tracy (2008).
10
Die Zahlen in Klammern geben das Alter der Kinder in Jahren und Monaten an, i.e. (2;2)
entspricht einem Alter von 2 Jahren und 2 Monaten.
In der Episode in (19) produziert Hannah eine Reihe von Äußerungen, in de-
ren Verlauf sie eine ihr selbst suspekt erscheinende Struktur schrittweise
modifiziert.
(19) Hannah (2;2) versucht vergeblich, eine Puppe in einem Spielzeugbuggy fest-
zuschnallen. Schließlich wendet sie sich mit einer expliziten Aufforderung an
ihre Mutter, die sich in dieser ganzen Sequenz im Hintergrund hält.
(a) die dolly einstræppen
(b) die dolly eintræp
(c) das einstra:p in ... die puppe
(d) die einstra:p in ... die dolly
(e) die Mama helf mir tæp it in
(f) Mama tæp it in ... die dolly
bar (18b) oben. In (19b) eliminiert Hannah zunächst das deutsche Infinitivsuf-
fix -en. In (c) und (d) tritt mit der Partikel in eine semantische Entsprechung
des deutschen Präfixes ein- in Erscheinung. In (c) und (d) wird mit dem Nach-
trag die puppe/die dolly die Referenz des deutschen präverbalen pronomina-
len Objekts (das/die) verdeutlicht, aber erst in (e) und (f) wird das direkte
Objekt (it) in der für ein englisches Komplement typischen Position nach dem
Verb realisiert, dafür verschwindet das deutsche direkte Objekt. In (f) ist die
Sprecherin bei einer englischen Struktur angekommen (abgesehen von die im
Nachtrag). Die Abfolge von Reparaturbemühungen verdeutlicht, dass Hannah
– natürlich implizit – ‘weiß’, wie sich deutsche und englische Verbalphrasen
syntaktisch und morphologisch unterscheiden und wie sich ein beliebiges
Verb und seine Argumente morphologisch und syntaktisch an die beiden ziel-
sprachlichen Systeme anpassen lassen. Hannahs einzige echte Unsicherheit
besteht bezüglich der lexikalischen Verortung von strap. Interessant ist auch,
dass sie diese Reparaturen selbst initiiert, d.h. dass diese nicht erst durch Re-
aktionen der Mutter hervorgerufen werden. Ihr eigenes metasprachliches
Kontrollsystem signalisiert ihr offensichtlich, dass hier etwas „nicht stimmt“,
und sie macht sich daran, dieses Problem zu lösen.
Die Sprachentrennung auf der Ebene der grammatischen Repräsentation wird
weiterhin dadurch belegt, dass sich die beteiligten Systeme nicht immer im
Gleichschritt entwickeln, d.h. es kann zu mehr oder weniger ausgeprägten
asynchronen Entwicklungen kommen (vgl. Bernardini/Schlyter 2004, Gaw
litzek-Maiwald/Tracy 1996, Genesee/Nicoladis/Paradis 1995, Müller et al.
2007, Hulk/Cornips 2006). So ist es beispielsweise durchaus möglich, dass
Hier zeigt sich, wie schon in (19), wenngleich nun in einem fortgeschrittene-
ren Entwicklungsstadium, die anscheinend mühelose Anpassung von Lexe-
men an die morphosyntaktischen Anforderungen der einen oder anderen
Sprache.
Dieses spielerische Anpassen von Elementen einer Sprache an die andere lässt
sich auch anhand von (22) illustrieren. Die Episode stammt aus einer Aufnah-
me mit den Geschwistern Laura und Adam, die von Geburt an mit Deutsch
und Englisch als doppelten Erstsprachen aufwachsen (vgl. auch Gawlitzek-
Maiwald 1997).
(22) Adam (5;5) und eine erwachsene Gesprächspartnerin unterhalten sich auf Eng-
lisch, als seine Schwester Laura (3;2) ins Zimmer kommt.
L. hüpft durch's Zimmer und singt. Telefon, Rotzkanon, Telefon, Rotzkanon ...
Erwachsene fragt Adam What′s that in English?
A. We don′t say [roudzkənəun] in English
Im gleichen Alter findet man auch die strategische Nutzung beider Sprachen
im Sinne des Code-Switching, wie wir es bei den Erwachsenen in Kapitel 3
sehen konnten, vgl. (24).
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(24) Hannah beim Rollenspiel mit zwei Puppen, die sie mehrfach vergeblich in ein
zu kleines Spielzeugauto zu quetschen versucht:
I'm trying again, oh geht's nicht, now try again, oh geht auch nicht ….
Kinder sind nicht nur sehr effiziente und systematische Lerner; sie können
auch früh mit der Koexistenz von Sprachen und dem damit einhergehenden
Wettbewerb und Kooperationspotenzial umgehen, und zwar sowohl zur tem-
porären Entlastung der „schwächeren“ oder langsameren Sprache, als auch,
um das mit der Mehrsprachigkeit einhergehende mehrstimmige Potenzial
auszuschöpfen.
Wir wissen mittlerweile auch, dass sich Kinder mit unterschiedlichen Erst-
sprachen, die im Alter von drei bis vier Jahren zum ersten Mal mit dem Eintritt
in eine Kindertagesstätte intensiv mit der deutschen Sprache in Kontakt kom-
men, im Laufe von ein bis zwei Jahren - manche Kinder noch schneller - die
Grundstrukturen der deutschen Grammatik erschließen können. Sie durchlau-
fen für die Verbstellung und die Subjekt-Verb-Kongruenz im Wesentlichen die
Phasen, die wir auch vom Erwerb des Deutschen als Erstsprache kennen (vgl.
Rothweiler 2006, 2007; Schulz/Tracy/Wenzel 2008; Schulz/Tracy 2011; Tho-
ma/Tracy 2006; Tracy 2007, 2008; Tracy/Thoma 2009). Je nachdem, wie
Erst- und Zweitsprache kontrastieren, können sich in Teilbereichen die für den
doppelten Erstspracherwerb angenommenen Bootstrapping-Effekte (vgl. Gaw-
litzek-Maiwald/Tracy 1996, Müller et al. 2007) einstellen (vgl. Bryant 2010,
Haberzettl 2005).
Generell kann man festhalten, dass der kindliche Spracherwerb unter günsti-
gen Erwerbsbedingungen ein Selbstläufer ist. Dies bedeutet aber nicht, dass
als zehn Jahre nach den ersten vergleichenden Bildungsstudien muss man sich
immer noch fragen, wie gut unsere vorschulischen und schulischen Einrichtun-
gen auf die Kompetenzen und Ressourcen vorbereitet sind, die Kinder im Prin-
zip mit sich bringen. Wie also könnte man Schulen in einen symbolischen
Markt verwandeln, auf dem die über den traditionellen Kanon der Schulfremd-
sprachen hinausgehenden sprachlichen Ressourcen Anerkennung finden und
sich ausbauen lassen?11 Bei den im Folgenden kurz angesprochenen Optionen
gehe ich nicht auf bereits existierende Unterrichtsformen ein, in denen aner-
kannten Schulfremdsprachen mehr Raum gegeben wird, wie z.B. in bilingua-
len Schulmodellen, im bilingualen Sachfachunterricht und beim frühen Fremd-
sprachenunterricht in der Grundschule (vgl. Pienemann/Keßler/Roos 2005,
Decke-Cornill/Küster 2010). Vielmehr beschränke ich mich auf den potenziel-
len Vorteil eines Grundlagenfaches „Sprache und Kommunikation“ und auf die
Notwendigkeit, die Bewertung schulischer Leistungen stärker zu differenzie-
ren, um zu verhindern, dass Kinder mit Deutsch als Zweitsprache bereits in der
Grundschule an sprachlichen Details scheitern, die letztlich für den Bildungs-
weg irrelevant sind (vgl. auch Tracy 2010). Man bedenke in diesem Zusam-
menhang auch, dass keine deutsche Hochschule fachlich renommierte
Wissenschaftler(innen) aus Japan, Australien oder Indien nicht auf Lehrstühle
11
Vgl. auch die Überlegungen von Hopf (2005, S. 248), dem zufolge „die vorhandenen Kom-
petenzen in den Herkunftssprachen als Fremdsprachenleistungen in die Zeugnisse einge-
hen“ könnten. Wie dies angesichts der Vielfalt von Erstsprachen praktisch und objektivier-
bar umgesetzt werden könnte, ist unklar. Möglich wäre jedoch im Rahmen eines Faches
„Sprache“ die Bewertung der analytischen, metasprachlichen Auseinandersetzung mit
sprachlichen Eigenschaften.
berufen würde, weil sie das deutsche Genus oder den Kasus nicht beherrschten
oder mit der Architektur deutscher Sätze oder der deutschen Silbenstruktur
Schwierigkeiten hätten. Etwas von dieser Toleranz gegenüber Sprachlerner(in-
ne)n, die in der internationalen Wissenschaftsszene, der Wirtschaft und bei
Kulturkontakten selbstverständlich ist, sollte schließlich auch in voruniversitä-
ren Bildungseinrichtungen praktiziert werden können.
Ein naheliegender, nicht nur symbolischer Schritt in Richtung Umsetzung der
europäischen Vision von Mehrsprachigkeit bestünde darin, die Vielfalt ko-
existierender Sprachen vor Ort zu nutzen, um möglichst früh, d.h. bereits in
der ersten Grundschulklasse, an die metasprachlichen Kompetenzen von Kin-
dern zu appellieren, indem man mit ihnen über Sprache im Allgemeinen und
die ihnen implizit längst vertrauten Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen
Sprachen diskutiert, aber auch über ihre kommunikativen Erfahrungen (Wel-
che Art der Formulierung empfindet man als Lob, als Ermutigung, was als
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12
Vgl. auch das Projekt SprachChecker des Sokrates-Programms der EU (www.taaltrotters.eu,
Stand: 07/2011).
Lehrkräfte müssten noch besser als bisher darin geschult werden, einzuschät-
zen, welche Merkmale oder Abweichungen in bestimmten Entwicklungsstadi-
en relevanter sind als andere. Man wird beispielsweise keine Übungen zur
Unterscheidung von Dativ- und Akkusativformen machen, wenn einem Ler-
ner die Artikel, die neben den Pronomina wichtigsten Trägerelemente für Ka-
sus- und Genusformen des Deutschen, noch gänzlich fehlen.
Im Zuge dieser bewussten Auseinandersetzung mit Sprache(n), inklusive ihrer
Erstsprachen, kann man Schüler(inne)n auch das metalinguistische Rüstzeug
vermitteln, das sie benötigen, um über Sprachen zu sprechen. Man ließe damit
auch einen bewussten und analytischen Umgang mit Sprache wieder in die
Schulen hinein, aus denen ein vorrangig kommunikativ ausgerichteter Unter-
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richt ihn vor Jahren verbannt hatte. Dabei steht eine stärker analytische Aus-
richtung des Umgangs mit Sprache völlig im Einklang mit dem, was Kinder
spontan von sich aus und gewissermaßen von klein auf im Umgang mit Spra-
che zu leisten imstande sind. Es gibt aber noch einen weiteren, nicht-trivialen
Grund, um nicht nur der real existierenden Sprachenvielfalt innerhalb der
Schule ein legitimes Forum zu gewähren, sondern dem Thema Sprache schlecht-
hin: Schließlich sind alle Sprachen ungeachtet oberflächlicher struktureller
Differenzen und ungeachtet unterschiedlicher kommunikativer Praktiken letzt-
lich doch nur Ausprägungen der gleichen menschlichen Sprachfähigkeit.
6. Literatur
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Lizenziert für UB_Wien am 24.05.2023 um 19:22 Uhr
Einleitung
Während slavische Sprachen in Deutschland bis in die achtziger Jahre des
zwanzigsten Jahrhunderts noch ein marginales Phänomen waren, hat sich
dieses Bild durch die Migrationsbewegungen in den letzten Jahrzehnten ge-
wandelt. Unter den slavischen Sprachen ist das Russische besonders stark
vertreten, das – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – zu der nach
Deutsch am häufigsten gesprochenen Sprache in Deutschland wurde. In der
Diskussion um die Mehrsprachigkeit in Deutschland muss diese Sprecher-
gruppe, deren Sprachsituation und Sprachverhalten sich z.B. von denjenigen
der Türkischsprecher deutlich unterscheidet, also schon aus quantitativen
Gründen unbedingt einbezogen werden. Dies möchte ich im Folgenden tun,
wobei ich zunächst einen knappen Überblick über die Situation des Russi-
schen in Deutschland gebe (Kap. 1). Dann möchte ich mich als Schwerpunkt
mit der Frage der nachwachsenden so genannten zweiten Generation befas-
sen und anhand einer kleineren empirischen Erhebung die bislang noch
kaum untersuchte Sprachsituation von Jugendlichen betrachten (Kap. 2).
Dabei soll es zunächst darum gehen, welche Einstellungen die befragten
Jugendlichen der zweiten Generation zum Russischen haben, wann sie ihre
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1.2 Förderung
Für die zweite Generation der Einwanderer (zu diesem Begriff siehe unten
Kap. 1.5) stellt sich die Lage dennoch komplexer dar: Die Umgebungssprache
Deutsch spielt eine zentrale Rolle, und der Familienkreis ist für den umfassen-
den Erwerb der Herkunftssprache in der Regel nicht ausreichend. Was das Rus-
3
Über die genannten hinaus gibt es weitere, vom Statistischen Bundesamt nicht eigens
aufgeführte Herkunftsländer mit niedrigeren Emigrationszahlen, etwa Weißrussland, Mol-
dawien u.a.
sische betrifft, entstehen vor diesem Hintergrund Einrichtungen, die den Er-
werb der Sprache der Kinder unterstützen sollen. Es gibt bereits eine ganze
Reihe von bilingualen russisch-deutschen Kindergärten; die meisten befinden
sich in Berlin, einzelne daneben auch in Frankfurt a.M., München und anderen
Städten. Je nach Ansatz arbeiten dort bilinguale oder aber jeweils russische und
deutsche Erzieherinnen. In Berlin entstehen die ersten bilingualen Klassen in
Schulen, meist an Grundschulen. Das verbreitetste Instrument sind die so ge-
nannten Samstagsschulen, die inzwischen in recht großer Zahl existieren (allei-
ne in Bochum gibt es drei); sie werden von Vereinen getragen, ihr Besuch ist
kostenpflichtig. Hierbei handelt es sich um Schulen, deren Ziel in erster Linie
Sprachvermittlung ist, an denen aber auch russische Geschichte, Literatur usw.
unterrichtet werden. Diese Institutionen vertreten in der Regel einen dezidiert
bilingualen bzw. bikulturellen Ansatz; sie intendieren also keine Parallelkultur,
sondern eine Integration mit Stützung der Herkunftssprache.4
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In der Wissenschaft wird der Nutzen der Mehrsprachigkeit und die prinzipiel-
le Fähigkeit von Kindern zum mehrsprachigen Spracherwerb kaum noch be-
zweifelt (siehe z.B. Bialystok 2009, Tracy 2007).6 Ziel der Integration wäre
dann der Typ der kompetenten Bilingualität: Das Individuum beherrscht so-
wohl die Sprache der Aufnahmegesellschaft als auch die Herkunftssprache. In
diesem Zusammenhang ist allerdings eine wichtige Anmerkung zu machen:
In der Mehrsprachigkeitsdiskussion wird vielfach darauf hingewiesen, dass
ein mehrsprachiges Individuum nicht identisch ist mit mehreren einsprachi-
gen Individuen (Tracy 2009, speziell zum Wortschatz siehe Taylor 2002). Bei
mehrsprachigen Sprechern können die einzelnen Sprachen vielmehr unter-
schiedlich ausgeprägt sein – dies hängt stark von den Verwendungsbereichen
ab. Typischerweise ist etwa in der Landessprache der mit Ausbildung und Be-
ruf verbundene Wortschatz umfangreicher, in der Herkunftssprache hingegen
der Wortschatz im Bereich häusliches Leben, Emotionen usw. Wenn hier von
kompetenter Bilingualität gesprochen wird, so ist damit gemeint, dass in den
Situationen, in denen sie benötigt werden, eine angemessene Kommunikation
in den beiden Sprachen möglich ist.
5
Natürlich ist dies eine schematische Abstraktion, die Übergänge zwischen den Bereichen
vernachlässigt.
6
Auch in den Medien wird in jüngster Zeit der Nutzen der Mehrsprachigkeit gerade im kind-
lichen Alter propagiert, wobei allerdings vor allem an Prestigesprachen wie das Englische
gedacht wird. Vorteile der Mehrsprachigkeit, etwa ein kognitiver Nutzen (Bialystok 2009),
sind allerdings unabhängig davon, welche Sprachen das Individuum erlernt.
In der Einleitung wurde angesprochen, dass sich die Lage der Russischspre-
cher von der Lage der türkischstämmigen Migranten deutlich unterscheidet.
Dies zeigt die Analyse des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung
(„Zur Lage der Integration in Deutschland“, 2009): Sie weist nach, dass die
Aussiedler als die Migrantengruppe gelten können, die von allen erfassten am
besten integriert ist, wobei Integration hier in Parametern wie Bildungserfolg,
Erwerbslosenquote, Eheschließung mit Einheimischen u.Ä. gemessen wird
(siehe Berlin-Institut (Hg.) 2009, S. 28ff.). Zu den Aussiedlern (oben habe ich
bereits darauf hingewiesen, dass hierzu zwar nicht nur, aber überwiegend
Russischsprecher gehören) konstatiert diese Studie:
Die Aussiedler sind eine sehr integrationsfreudige Herkunftsgruppe. Die in
Deutschland Geborenen schneiden bei vielen Indikatoren deutlich besser ab
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als die Zugewanderten und weisen sogar bessere Werte auf als die Einheimi-
schen. Bemerkenswert ist der Rückgang bei der Jugenderwerbslosigkeit, die
sich von der ersten auf die zweite Generation fast halbiert hat. (ebd., S. 35).
Die Quote der Akademiker liegt in der zweiten Generation mit gut 20% eben-
falls höher als bei den Einheimischen, die Quote der bikulturellen Eheschlie-
ßungen liegt in der zweiten Generation bei knapp 70% (ebd., S. 34f.). Ganz
anders sieht es hingegen bei der zweiten Generation der türkischstämmigen
Migranten aus (ebd., S. 36f.).
Es wurde bisher mehrfach angesprochen, dass der Faktor Generation eine au-
ßerordentlich große Rolle in der Integration spielt, was u.a. die oben angeführ-
ten Ergebnisse des Berlin-Instituts sehr deutlich zeigen. Als zweite Generation
werden Personen bezeichnet, die nicht selbstständig zugewandert sind, son-
dern bereits im neuen Land geboren wurden oder als Kinder mit ihrer Familie
kamen; in der vorliegenden Untersuchung spreche ich von zweiter Genera
tion, wenn die Zuwanderung bis zum einschließlich 12. Lebensjahr erfolgte
(analog siehe Krefeld 2004). In Bezug auf die Entwicklung der Herkunfts-
sprache sagt das sog. Generationenmodell, das auf der Basis verschiedener
empirischer Studien gewonnen wurde, Folgendes voraus: Die erste Migran-
tengeneration ist monolingual oder zumindest dominant in ihrer Herkunfts-
sprache; die zweite Generation ist in unterschiedlichen Formen bilingual, sie
Ein entscheidender Faktor für die sprachliche Entwicklung ist, dass die Ange-
hörigen der zweiten Generation ihre Kindheit ganz oder teilweise im neuen
Land verbracht und entsprechend im Herkunftsland die Schule gar nicht oder
nur kurze Zeit besucht haben. Der Erwerb der Herkunftssprache ist bei ihnen
sehr stark an den privaten Kreis, vor allem das Elternhaus, gebunden. Dies hat
gravierende Auswirkungen auf die sprachliche Entwicklung: In der Schule
wird nicht nur die schriftliche Seite der Sprache – von der Alphabetisierung
bis zur Routine im Umgang mit anspruchsvollen Texten – erlernt, sondern es
werden auch komplexe Ausdrucksmittel erworben und trainiert, etwa die Ver-
wendung komplexerer Syntax, spezieller Lexik usw., und es wird eine Sprach-
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Ein weiteres Problem ist, dass die Herkunftssprache nicht nur oft unvollstän-
dig erworben wird, sondern auch wieder schwinden kann. Studien der jünge-
ren Zeit zeigen, dass unter dem Druck einer starken Zweitsprache die bereits
erworbene Erstsprache in großem Umfang wieder abgebaut werden kann
(„Attrition“), wenn der Kontakt mit der dominierenden Zweitsprache vor der
Pubertät einsetzt. Besonders drastische Folgen konnten Pallier et al. (2003,
siehe auch Pallier 2007) nachweisen: Unter extremen Umständen kann eine
Erstsprache bei Wechsel der sprachlichen Umgebung im Kindesalter sogar
vollständig schwinden.8
7
Eine Längsschnittstudie zu einigen russlanddeutschen Familien, in der dieses Phänomen für
die nachwachsenden Kinder ebenfalls deutlich beobachtet wurde, führte Meng (2001) durch.
8
Einen Überblick über diese Prozesse und über die Rolle des Alters bietet Bylund (2009).
Alter bei
Infor- Ge- Einreise- Herkunfts-
Daten- Schule
mant Nr. schlecht alter land
erhebung
01 f 0 15 Kasachstan 9. Kl. Hauptschule
02 m 1 16 Ukraine 10. Kl. Gymnasium
03 f 4 16 Kasachstan 9. Kl. Realschule
04 f 4 17 Kasachstan 10. Kl. Gymnasium
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Eine Übersicht über biografische Daten der befragten Jugendlichen gibt Ta-
belle 1. Die meisten Informanten stammen aus Kasachstan, einige andere aus
der Ukraine und Russland. Der größte Teil gibt an, Spätaussiedler zu sein, zwei
nennen jüdische Herkunft, zu sechs Jugendlichen liegen diesbezüglich keine
Angaben vor. Die Jugendlichen leben in verschiedenen Städten des Ruhrge-
biets und besuchen die 8. bis 10. Klasse unterschiedlicher Schulformen, zwei
haben die Schule bereits abgeschlossen. Für alle befragten Jugendlichen gilt,
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dass Russisch die Familiensprache ist, sie wird mit den Eltern und meist noch
weiteren Familienmitgliedern verwendet. Alle 17 Jugendlichen geben an, ne-
ben den Eltern regelmäßigen Kontakt mit weiteren Verwandten aus demselben
Herkunftsland (meist Großeltern, auch Tanten und Onkel) zu haben. Bis auf
einen Befragten stehen auch alle in regelmäßiger Verbindung mit Verwandten
bzw. guten Freunden im Herkunftsland. Deutsch wurde laut eigenen Angaben
zum Teil im Kindergarten, vorwiegend aber in der Schule erworben.
Ich möchte mich zunächst den Einstellungen zuwenden, die die Jugendlichen
gegenüber dem Russischen zum Ausdruck bringen und diese anhand der Ant-
worten auf die folgenden Fragen illustrieren (in eckigen Klammern jeweils
die im Fragebogen anzukreuzenden Antwortmöglichkeiten):
nicht wichtig]
3) Gut Russisch zu verstehen ist mir ... [sehr wichtig/etwas wichtig/gar nicht
wichtig]
4) Möchten Sie, dass Ihre Kinder auch einmal Russisch lernen? [auf jeden
Fall/vielleicht/nein]
5) Sind Sie stolz darauf, Russisch zu können? [ja/nein/weiß nicht]
6) Ist es Ihnen unangenehm, in der Öffentlichkeit Russisch zu reden? [ja/nein/
weiß nicht]
Mit der Frage „Welche Sprache würden Sie als Ihre Muttersprache bezeich-
nen?“ sollte ermittelt werden, welcher Sprache die Loyalität gilt, welcher
Sprache die Jugendlichen sich subjektiv zugehörig fühlen.14 Alle Jugendli-
chen gaben Russisch an, vier von ihnen zusätzlich als zweite Muttersprache
Deutsch, keiner kreuzte nur Deutsch an. Mehr als der Hälfte der Befragten ist
es „sehr wichtig“, Russisch gut zu beherrschen, die übrigen bezeichnen es als
„etwas wichtig“, niemand als „gar nicht wichtig“. Interessant ist, dass zumin-
dest die passive Kenntnis, nämlich das gute Verstehen, von fast allen (94%)
als „sehr wichtig“ betrachtet wird. Ebenfalls möchten fast alle Jugendlichen
(94%) das Russische an ihre Kinder weitergeben, und ausnahmslos alle sind
stolz darauf, Russisch zu können. 88% der Befragten ist es nicht unangenehm,
in der Öffentlichkeit Russisch zu reden.
14
„Muttersprache“ ist ein Begriff, der unterschiedlich gedeutet werden kann, die Interpretation
muss daher vorsichtig bleiben. Er wurde hier verwendet, da er alltagssprachlich für diejeni-
ge Sprache verwendet wird, der ein Sprecher sich emotional eng verbunden fühlt.
So lässt sich hier ein deutliches Bild erkennen: Quer durch die verschiedenen
Bildungsschichten und unabhängig davon, ob die Jugendlichen eine bewusste
Erinnerung an ihr Herkunftsland haben oder schon als sehr kleine Kinder nach
Deutschland kamen, ist das Russische für sie die Sprache, der ihre Loyalität
gilt, die wichtig für ihre Identität ist, zu der sie stehen, und die sie in ihrer
Familie auch in der nächsten Generation erhalten möchten.
2.2 Sprachverwendung
Wenden wir uns nun einigen Antworten auf Fragen nach der Sprachverwen-
dung zu. Gefragt wurde im Fragebogen detailliert nach der Verwendung des
Russischen und Deutschen mit verschiedenen Personen und in verschiedenen
Situationen sowie nach verschiedenen Medien. Daraus werden in Tabelle 3
die Antworten auf folgende Fragen wiedergeben:
1) Bei welchen Gelegenheiten sprechen Sie Russisch? Angaben für Wert „Zu
Hause“:15 [immer/oft/gelegentlich/selten/nie]
b) Deutsch: [immer/oft/gelegentlich/selten/nie]
15
Diese Fragen waren im Fragebogen tabellarisch zusammengestellt.
16
Dieser Frage wurde eine Frage danach vorausgeschickt, ob der/die Befragte Freunde aus
russischsprachigen Familien hat, was ausnahmslos alle bejahten.
10 f 8 2 2 1 0 2 0 2
11 f 8 2 1 2 0 1 2 2
12 f 8 2 1 1 0 0 1 2
13 m 10 2 1 2 0 1 2 2
14 m 11 2 2 2 0 1 0 2
15 m 11 2 2 0 0 1 0 2
16 f 12 2 2 1 0 1 0 2
17 m 12 2 2 0 0 0 2 2
Summe abs. 2 14 2 7 2 10 2 0 2 4 2 5 2 16
1 2 1 9 1 5 1 1 1 8 1 3 1 1
0 1 0 1 0 2 0 16 0 5 0 9 0 0
Summe in % 2 82 2 41 2 59 2 0 2 24 2 29 2 94
1 12 1 53 1 29 1 6 1 47 1 18 1 6
0 6 0 6 0 12 0 94 0 29 0 53 0 0
Ø 1,8 1,4 1,5 0,1 0,9 0,8 1,9
Die Antworten der Jugendlichen auf diese Fragen zeichnen folgendes Bild:
Russisch ist zu Hause fast durchgehend die dominante Sprache. Mit Freunden
aus russischsprachigen Familien hingegen wird im Durchschnitt in etwa
gleich oft Deutsch und Russisch gesprochen. Dies ist überraschend, wenn
man sich die hohe Loyalität dem Russischen gegenüber vor Augen hält und
unterstreicht die dominante Rolle der Umgebungssprache. Unterteilen wir die
Jugendlichen nach Einreisealter in zwei Gruppen, so wird das Bild noch kla-
rer. Die Jugendlichen 01-13 mit einem Einreisealter bis 10 Jahre sprechen mit
ihren Freunden aus russischsprachigen Familien vorwiegend Deutsch: Der
Durchschnitt für die Verwendung des Russischen liegt für die Informanten
01-13 (Einreisealter 0-10 Jahre) bei 1,2, für die Verwendung des Deutschen
bei 1,7. Die vier Jugendlichen mit einem Einreisealter von 11-12 Jahren spre-
chen hingegen mit diesen Freunden meist Russisch, ihr Durchschnittswert für
Russisch liegt bei 2,0, für Deutsch bei 0,8.
Russische Bücher werden praktisch gar nicht konsumiert; wenn Bücher gele-
sen werden, dann auf Deutsch. Allerdings zählen sich viele der befragten Ju-
gendlichen offenbar grundsätzlich nicht zu den Viellesern: Fünf von ihnen le-
sen auch auf Deutsch selten oder nie Bücher, weitere acht nur gelegentlich. In
Bezug auf den Konsum russischer Filme und Fernsehprogramme ist das Bild
sehr heterogen und dürfte u.a. davon bestimmt sein, ob zu Hause Zugang zu
russischen Fernsehprogrammen besteht. Demgegenüber geben alle Jugendli-
chen an, Filme bzw. Fernsehen „immer“ oder „oft“ auf Deutsch zu sehen. Das
Deutsche ist also auch zu Hause schon aufgrund der Medien ständig präsent.
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02 m 1 5 4 5 5
03 f 4 4 2 5 5
04 f 4 3 3 5 5
05 f 5 2 3 5 5
06 m 7 4 3 5 5
07 f 7 2 1 5 5
08 f 7 3 2 5 5
09 m 7 5 0 5 4
10 f 8 5 3 4,5 5
11 f 8 2 2 4 4
12 f 8 3 1 4 4
13 m 10 4 2 5 5
14 m 11 5 3 4 4
15 m 11 5 5 4 5
16 f 12 5 5 4 5
17 m 12 5 5 3 4
Ø gesamt 3,8 2,7 4,6 4,7
Zur Erklärung dieser Wende sind in erster Linie drei Faktoren zu nennen:
1) Je niedriger das Einreisealter, desto leichter ist der Erwerb des Deutschen
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als zweiter Sprache, desto leichter kann aber auch die Erstsprache Russisch
verdrängt werden.17
2) Je älter das Kind bei der Emigration, desto länger hat es im Herkunftsland
Schulunterricht in der Erstsprache erhalten, entsprechend sind die Schreib-
und Lesekompetenz stabiler und der Erwerb komplexerer sprachlicher
Mittel weiter fortgeschritten. In jüngster Zeit wurde auch gezeigt, dass die
Alphabetisierung selbst einen stabilisierenden Effekt auf die Kompetenz in
der Herkunftssprache ausübt (Zaretsky/Bar Shalom 2010).
3) Das Einreisealter ist korreliert mit der Aufenthaltsdauer, d.h. für die be-
fragten Jugendlichen mit dem höchsten Einreisealter liegt die Immigration
am kürzesten zurück, entsprechend ist auch die Dauer der zweisprachigen
Situation weniger lang.
2.4 Sprachdaten
Im letzten Kapitel möchte ich mich nun den Sprachproben zuwenden, die im
Rahmen der Pilotstudie erhoben wurden. Dabei sollen einerseits die russi-
schen und die deutschen Erzählungen der Jugendlichen unter einigen quanti-
tativen Perspektiven miteinander verglichen werden, andererseits möchte ich
diese dann wiederum mit Erzählungen von bilingualen und monolingualen
Vorschulkindern und monolingualen Erwachsenen vergleichen. Bei der Erhe-
bung der Sprachdaten wurden die Informanten gebeten, eine Bildergeschich-
te, die sog. „Frog story“ von Mercer Mayer, nachzuerzählen. Dies ist eine aus
24 Bildern bestehende Geschichte ohne Worte; sie handelt von einem Jungen
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und seinem Hund, die auf der Suche nach ihrem entlaufenen Frosch in Feld
und Wald einige Abenteuer erleben. Diese Bildergeschichte wurde in der
Spracherwerbsforschung bereits sehr oft verwendet (vgl. Bamberg 1987,
Berman/Slobin 1994) und wird in jüngster Zeit auch für die Erhebung von
Sprachdaten Bilingualer eingesetzt (siehe Anstatt 2008, 2010; Polinsky 2008).19
Für die hier untersuchte Gruppe erscheint sie auch insofern als geeignet, als es
sich um einen Texttyp handelt, mit dem die Jugendlichen im Russischen noch
am ehesten vertraut sind, denn wir können annehmen, dass sie in ihrer Kind-
heit mit den Eltern Bilderbücher auf Russisch angesehen haben. Polinsky
(2008) diskutiert eine Reihe von Möglichkeiten, wie die Nacherzählungen
dieser Bildergeschichte im Hinblick auf sprachliche Fähigkeiten analysiert
werden können. In Anstatt (2010) habe ich mich mit lexikalischen Strategien
bei mono- und bilingualen Jugendlichen und Kindern beim Nacherzählen die-
ser Geschichten auf Russisch und auf Deutsch befasst; in Anstatt (2008) habe
ich die Verwendung von Verbalaspekt und Tempus bei bilingualen Kindern
ebenfalls anhand von Nacherzählungen dieser Geschichte untersucht. An die-
ser Stelle möchte ich ein Schlaglicht auf den Umfang der Erzählungen in den
beiden Sprachen werfen und beispielhaft den Wortschatz der Jugendlichen
beleuchten.
18
Eine Erklärung hierfür könnte der „Akzent“ im Mündlichen sein, also russische Einflüsse im
phonetischen/phonologischen Bereich. Darüber hinaus spielt wohl eine Rolle, dass das Le-
sen in der Schule unablässig praktiziert wird.
19
Ihre weite Verwendung hat den Vorteil, dass umfangreiche Daten zu verschiedenen Pro-
bandengruppen vorliegen, die zu Vergleichszwecken herangezogen werden können, reiches
Material findet sich z.B. im Internet-Projekt CHILDES.
(1b) ė nu upal v vodu. ‘äh na (er) ist ins Wasser gefallen.’ (Inf. 08, russi-
sche Erzählung)
20
Hierbei wurden alle vorkommenden Wortformen gezählt, so ergeben lese, lese, las insge-
samt drei Wortformen. Ich verwende hier Wortformen als Maß, da sich diese eher für einen
Vergleich zwischen den beiden Sprachen eignen.
21
Die Beschränkung auf die Kernsituationen erfolgte, um die theoretisch offene Menge an
Kommentaren (ein Hirsch guckt hinunter, es sind Pflanzen zu sehen, das Wasser ist flach
usw.) auf ein vergleichbares und handhabbares Maß zu reduzieren.
Die Auszählung ergab, dass die Jugendlichen mit Einreisealter bis 10 Jahre
auf Russisch im Durchschnitt deutlich weniger Kernpropositionen versprach-
lichen als auf Deutsch; dabei war die Zahl bei einigen ausgeglichen, bei ande-
ren waren die Unterschiede beträchtlich (z.B. bei den Informanten Nr. 03, 07,
09). Die vier Jugendlichen mit höherem Einreisealter benannten auf Russisch
etwas mehr Situationen, Informant Nr. 17 sogar bedeutend mehr.
Inf. G. EA 1a) Anzahl der 1b) Anzahl der 2a) Kernpropo 2b) Kernpropo
Wortformen Wortformen sitionen sitionen
russisch deutsch russisch deutsch
01 f 0 209 332 22 24
02 m 1 507 570 36 35
03 f 4 212 457 26 36
04 f 4 292 405 24 23
05 f 5 344 431 33 32
06 m 7 326 439 26 29
07 f 7 121 413 17 37
08 f 7 282 472 33 38
09 m 7 304 497 22 34
10 f 8 328 530 41 37
Inf. G. EA 1a) Anzahl der 1b) Anzahl der 2a) Kernpropo 2b) Kernpropo
Wortformen Wortformen sitionen sitionen
russisch deutsch russisch deutsch
11 f 8 215 353 30 40
12 f 8 180 243 29 28
13 m 10 145 211 15 21
14 m 11 181 236 30 28
15 m 11 164 215 17 19
16 f 12 223 310 34 33
17 m 12 329 275 38 23
Ø alle 257 376 28 30
Ø 01-13 267 412 27 32
Ø 14-17 224 259 30 26
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Tab. 5: Umfang der Erzählungen der bilingualen Jugendlichen im Russischen und Deutschen
2.4.2 Wortschatzphänomene
Werfen wir nun einen genaueren Blick auf das sprachliche Verhalten der Ju-
gendlichen, wobei ich mich auf Wortschatzphänomene beschränken möchte.22
Für die Jugendlichen 01 bis 13 mit einem Einreisealter bis 10 Jahre (deren
Erzählungen im Hinblick auf den Wortschatz in Anstatt (2010) im Detail ana-
lysiert wurden) ist zu erkennen, dass die russische Erzählung ihnen beträcht-
lich mehr Mühe bereitet als die deutsche. Deutliches Anzeichen dafür ist, dass
erheblich mehr Hesitationsphänomene (v.a. gefüllte und ungefüllte Pausen)
auftreten, die zum Teil sehr lang sind. Hesitationen gelten als der zentrale In-
dikator für Sprachplanungsprozesse: Sie weisen darauf hin, dass eine beson-
dere kognitive Belastung vorliegt und zusätzliche Verarbeitungszeit benötigt
wird (Fehringer/Fry 2007). Auffällig ist weiterhin, dass die Jugendlichen in
den russischen Erzählungen deutlich mehr Ersatzstrategien, etwa Umschrei-
bungen, aufweisen als in den deutschen.
Diese Phänomene treten auch bei den Jugendlichen auf, die allgemein über
ein recht sicheres Russisch verfügen. Als Beispiel möchte ich den Informan-
ten Nr. 02 anführen, einen Schüler der zehnten Klasse des Gymnasiums, der
im Alter von einem Jahr nach Deutschland kam. Er schätzt sich selbst als
22
Der Wortschatz gilt im Zusammenhang mit der Attrition von Herkunftssprachen als der an-
fälligste Bereich, siehe dazu z.B. Ammerlaan (1996), ein Überblick findet sich bei Schmid/
Köpke (2004).
ähm fliegt aus dem Baum äh # äh # äh ## [10 sec.] na ein Tier das
fliegen kann’ (lacht). (Inf. 02, russische Erzählung, Beschreibung
von Bild 8 der Froschgeschichte)24
Wie oben erwähnt treten in den russischen Erzählungen der Jugendlichen er-
heblich mehr Ersatzstrategien zur Füllung von lexikalischen Lücken auf als in
den deutschen. Dabei werden nicht nur Umschreibungen wie in Beispiel (2b)
verwendet, sondern häufiger auch Wörter aus dem Deutschen. Grundsätzlich
ist festzustellen, dass der Rückgriff auf die jeweils andere Sprache ausschließ-
lich im Russischen vorkommt: Hier verwenden die Jugendlichen regelmäßig
deutsche Wörter, siehe Beispiel (4). In ihren deutschen Erzählungen treten
hingegen überhaupt keine russischen Wörter auf. Die Verwendung deutscher
Wörter wird stets von metasprachlichen Kommentaren begleitet wie „mir fällt
das russische Wort nicht ein“ o.Ä., siehe Beispiel (4), das zeigt, dass diese
Lösungsstrategie unter hohem kommunikativem Druck erfolgt.
Insgesamt bleibt das Deutsche auch während der russischen Erzählung offen-
bar „angeschaltet“, also aktiviert, während umgekehrt das Russische während
der deutschen Erzählung deaktiviert scheint. Dies kann mit dem Modell der
bilingualen Modi von Grosjean (2001) erklärt werden: Bilinguale verfügen
über einen monolingualen Modus, in dem ihre zweite Sprache weitgehend
deaktiviert ist, so dass es kaum oder gar nicht zu lexikalischen Übernahmen
aus dieser kommt. Dieser Modus tritt im Gespräch mit einsprachigen Spre-
chern auf. Im bilingualen Modus, der im Gespräch mit bilingualen Sprechern
derselben beiden Sprachen auftritt, ist auch die gerade nicht verwendete Spra-
che aktiviert, und es kann leicht auf sie zugegriffen werden. Die Russischspre-
cher der zweiten Generation sind nun, was das Russische angeht, kaum je im
monolingualen Modus, da sie ja fast nur mit ihrerseits zweisprachigen Rus-
sischsprechern interagieren. Das Deutsche bleibt also immer aktiviert, und es
ist ein Leichtes, auf ein Wort aus dem Deutschen zurückzugreifen, wenn eine
aktuelle Wortnot auftritt, zumal dieses ja vom Gesprächspartner verstanden
wird. Ein Problem wird dies dann, wenn der monolinguale Modus für die
Herkunftssprache gar nicht zur Verfügung steht, der Gesprächspartner aber
kein Deutsch spricht. Im Deutschen sind die Jugendlichen hingegen regelmä-
ßig im monolingualen Modus, da sie sehr oft mit Sprechern kommunizieren,
die kein Russisch sprechen.
Zum Abschluss möchte ich einen quantitativen Vergleich der Erzählungen der
Jugendlichen mit Erzählungen derselben Geschichte durch einige andere
Sprechergruppen vorstellen. Ich beziehe mich im Folgenden nur auf die 13
Jugendlichen, deren Einreise bis zum Alter von 10 Jahren erfolgte.
Die Abbildungen 4 und 5 stellen die durchschnittliche Zahl der pro Erzählung
verwendeten Wortformtypen25 für insgesamt vier Sprechergruppen dar:26
1) 11 bilinguale Vorschulkinder zwischen 4 und 6 Jahren (Durchschnittsalter
5,5 Jahre), Geburt in Deutschland oder Einreisealter zwischen 0 und 2
Jahren;
2) 13 bilinguale Jugendliche (Einreisealter 0-10 Jahre);
3) 10 russisch monolinguale Vorschulkinder zwischen 4 und 6 Jahren (Durch-
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mit Einreisealter bis 10 Jahre auf derselben Höhe wie diejenigen der mono-
und bilingualen Kindergartenkinder und erheblich niedriger als die der mo-
nolingualen Erwachsenen.27 Diese beiden Zahlen weisen darauf hin, dass sich
das Deutsche der Jugendlichen altersgemäß weiterentwickelt, während ihr
Russisch im Durchschnitt betrachtet stagniert.
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Abb. 4: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen Abb. 5: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortformtypen
Abb. 4: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortform- Abb 5: Mittlere Anzahl der verwendeten Wortform-
in den deutschen Erzählungen in den russischen Erzählungen
typen in den deutschen Erzählungen typen in den russischen Erzählungen
3. Fazit
Das Russische ist in Deutschland derzeit eine vitale Sprache; sie wird – bei
einigen Verwendungsmöglichkeiten außerhalb der Kernfamilie – in allererster
Linie innerhalb von Familien verwendet, die aus russischsprachigen Ländern
stammen. Der größte Anteil der Russischsprecher sind Russlanddeutsche (so
genannte (Spät-)Aussiedler); diesen wurde in jüngster Zeit ein stark integrati-
ves Verhalten bescheinigt. Eine weitere relevante Gruppe sind aus der ehema-
ligen Sowjetunion stammende jüdische Russischsprecher.
In Bezug auf die sprachliche und auch soziokulturelle Integration kann die
Immigrationsgeneration als der entscheidende Faktor betrachtet werden: In
der zweiten Generation findet ein Integrationsschub in die aufnehmende Ge-
sellschaft statt, der sich auch in der sprachlichen Situation widerspiegelt. Die-
ser Prozess wurde im zweiten Teil dieses Beitrags auf der Grundlage einer
empirischen Studie untersucht, an der 17 in Deutschland lebende 15- bis
18-jährige Jugendliche aus russischsprachigen Familien teilnahmen. Die Stu-
die ergab, dass das Russische für die Jugendlichen ausnahmslos eine wichtige
ideelle Rolle spielt: Sie stehen loyal zu dieser Sprache, die sie als Mutterspra-
che ansehen, und möchten sie an die nächste Generation weitergeben. Was die
27
Natürlich gibt es hier zwischen den einzelnen Jugendlichen individuelle Unterschiede,
ebenso bei den Kindern (siehe dazu Anstatt 2009).
sen ordnen sich die Jugendlichen niedrigere Kompetenz zu, aber auch das
Sprechen liegt in der Bewertung deutlich niedriger als im Deutschen. Dies
wird ebenfalls durch die Sprachproben unterstützt, in denen einige Jugendli-
che große Schwierigkeiten hatten, ihre Verbalisierungsabsichten auf Russisch
umzusetzen. Andere meisterten die Aufgabe ohne größere Probleme, aber es
wurde dennoch deutlich, dass die Verwendung des Russischen beträchtlich
höheren Verarbeitungsaufwand bedeutet und der Wortschatz schwerer abruf-
bar bzw. eingeschränkter ist als im Deutschen. Anders ist das Bild bei den
Jugendlichen mit höherem Einreisealter: Sie beurteilen ihr Russisch als die
stärkere Sprache und hatten weniger Wortschatzprobleme in der russischen
Sprachprobe. Diese Beobachtungen basieren auf einer Pilotstudie mit einer
kleinen Gruppe von Jugendlichen; aufgrund ihrer großen Einheitlichkeit lässt
sich jedoch annehmen, dass es sich um allgemeinere Tendenzen handelt, zu-
mal sie im Einklang mit den Ergebnissen größerer Studien zu benachbarten
Fragestellungen stehen.
Für die Zukunft des Russischen in Deutschland zeigt sich auf dieser Grundla-
ge, dass von der ersten zur zweiten Generation (v.a. bei den Personen, die bis
zum Alter von 10 Jahren immigrierten) ein beträchtlicher Rückgang der Rus-
sischkompetenz und ein gleichzeitiger ebensolcher Anstieg der Deutschkom-
petenz zu verzeichnen ist. Trotz der hohen Loyalität zum Russischen ist somit
auf die Dauer mit einem Schub in Richtung monolinguale Assimilation zu
rechnen, der durch die vom Berlin-Institut (Hg.) (2009) ermittelten soziokul-
turellen Assimilationstendenzen (v.a. dem sehr hohen Anteil an Eheschließun-
gen mit Einheimischen) verstärkt werden dürfte.
4. Literatur
Achterberg, Jörn (2005): Zur Vitalität slavischer Idiome in Deutschland. Eine em-
pirische Studie zum Sprachverhalten slavophoner Immigranten. München.
Ammerlaan, Ton (1996) „You get a bit wobbly ...“ exploring bilingual lexical retrieval
processes in the context of first language attrition. Nijmegen.
Anstatt, Tanja (Hg.) (2007): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Erwerb
– Formen – Förderung. Tübingen.
Anstatt, Tanja (2008): Aspect and tense in storytelling by Russian, German and bilin-
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versuchs Bilinguale Grundschule. Zunächst wird der Schulversuch unter Nutzung von
Analysen der wissenschaftlichen Begleitung vor allem am Beispiel der türkisch-deutsch
bilingualen Klassen vorgestellt. Anschließend wird gezeigt, welche Herausforderungen
die bilinguale schulische Erziehung in Deutsch und einer Migrantensprache enthält und
welche didaktisch-methodischen Strategien erfolgversprechend sind. Die Analysen der
wissenschaftlichen Begleitung stützen sich vor allem auf die Datenerhebungen in den
türkisch-deutsch-bilingualen Klassen des Schulversuchs, die sich über einen Zeitraum
von vier Jahren erstreckten. Erhoben wurden Daten zur mündlichen und schriftlichen
Sprachentwicklung, zu familialen Rahmenbedingungen und Schulleistungen sowie den
didaktisch-methodischen Aspekten des Unterrichts.
In Germany, migrant languages are usually promoted only in the context of home
language instruction for migrants. Bilingual models usually refer to German and
so-called world languages such as English, which are mostly the foreign languages
learned by pupils at school. Evaluations of bilingual models in the USA, in which in-
struction is given in a migrant language as well as in the official language, show that
and how this kind of the bilingual education leads to successful learning in language
and in school in general. However, because of various political, educational and socio-
cultural differences the models cannot be transferred one to one to the German con-
text. The article discusses the Bilingual Primary School experiment in Hamburg. First
this experiment is described with particular reference to the Turkish-German bilingual
classes, drawing on the analyses of the accompanying evaluation study. This is fol-
lowed by a discussion of the challenges confronting a bilingual school education in
German and a migrant language and of promising strategies and teaching methods.
The analyses of the accompanying evaluation study are based mainly on data col-
lected in the Turkish-German bilingual classes of the experiment, covering a period of
four years. Data were collected on the development of spoken and written language,
on the family backgrounds and performance at school and on aspects of the teaching
methods used.
Im Zuge der Diskussionen über mögliche Wege der besseren schulischen In-
tegration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund wird
auch über bilinguale Beschulungsmodelle debattiert. Die Positionen hierzu
sind konträr, die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern (z.B. Cum-
mins 2008) und Gegnern bilingualer Modelle (z.B. Esser 2006) sind leiden-
schaftlich. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es nicht, eben diese Diskussion
nachzuzeichnen und zu bewerten. Im Mittelpunkt stehen stattdessen Erkennt-
nisse zur Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten in zwei bilingualen Klassen,
in denen Kinder, die die Minderheitensprache Türkisch sprechen, gemeinsam
mit Sprechern der Mehrheitssprache Deutsch unterrichtet werden. Untersu-
chungen aus den USA und Kanada hatten Two-Way-Immersion-Modelle für
die gemeinsame Beschulung als besonders geeignet herausgestellt – die Über-
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tragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschsprachigen Raum war jedoch un-
klar (vgl. Reich/Roth 2002).
Für die Modellklassen gilt kein festes Einzugsgebiet; es können Kinder aus
dem gesamten Hamburger Stadtgebiet angemeldet werden. Wie die parallel
dazu geführten regulären Klassen sind sie nach dem Prinzip der ‘Verlässlichen
Halbtagsgrundschule’ organisiert. Die Kinder gehen von 8 bis 13 Uhr zur
Schule und erhalten Unterricht nach denselben Richtlinien und Bildungsplä-
nen wie Kinder in Regelklassen. Für den Unterricht in Italienisch, Portugie-
Die Hamburger Behörde für Schule und Berufsbildung war sehr daran interes-
siert, den Schulerfolg der Kinder in sprachlicher und sachlicher Hinsicht zu
sichern. Daher übertrug sie dem Institut für International und Interkulturell
Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg den Auftrag,
die Sprachentwicklung der Kinder in beiden Sprachen zu beobachten. Die Pla-
nung und Realisierung der wissenschaftlichen Begleitung der bilingualen Be-
gleitung oblagen Ingrid Gogolin, Ursula Neumann und Hans-Joachim Roth.
Die Begleitung umfasste unter anderem eine Eingangserhebung im ersten
Schuljahr, in der der Sprachstand der Kinder in beiden Sprachen und ihre fa-
miliäre Situation erfasst wurden. Für die Sprachstandsfeststellung wurde ein
Vorläufer des Hamburger Verfahrens zur Sprachstandsanalyse 5-Jähriger (HA-
VAS 5, Reich/Roth 2004, 2007) verwendet. Angaben zum familiären Hinter-
grund wurden durch standardisierte mündliche Interviews auf Deutsch oder in
der Partnersprache erhoben. Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten
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der Kinder wurde im Laufe der Grundschulzeit jährlich im Hinblick auf die
mündliche Textproduktion, das Schreiben und die Lesekompetenz durch den
Einsatz verschiedener altersgemäßer Verfahren (z.T. von der wissenschaftli-
chen Begleitung entwickelt, z.T. mit bereits erprobten Verfahren wie dem
IGLU-Leseverständnis-Test etc.) beobachtet. Die Zufriedenheit der Eltern mit
dem Schulversuch wurde am Ende des vierten Schuljahres durch einen mehr-
sprachigen Fragebogen erhoben. Die Lehrerinnen und Lehrer im Schulver-
such wurden modellbegleitend in Form von narrativen Einzelinterviews zu
didaktisch-methodischen Regelungen und Erfahrungen befragt. Ergänzend
wurden in jedem Schuljahr Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt, die wei-
teren Aufschluss darüber gaben, wie bilingualer Unterricht in den verschiede-
nen Klassen realisiert wurde. Daneben wurden im Rahmen der wissenschaft-
lichen Begleitung jährlich Workshops durchgeführt, in denen den Lehrerinnen
und Lehrern zum einen Zwischenergebnisse der Evaluation zurückgemeldet
und zum anderen Fachvorträge zu modellrelevanten Themen präsentiert wur-
den. Die Workshops dienten den Lehrkräften darüber hinaus als Forum, um
sich mit Kollegen zu unterrichtlichen Belangen auszutauschen.
Im Jahr 2007 wurden die zentralen Ergebnisse der Abschlussuntersuchungen
in den italienisch-, portugiesisch- und spanisch-deutschen Klassen vorgelegt
(vgl. Roth/Neumann/Gogolin 2007), über die Ergebnisse der türkisch-deut-
schen Klassen wurde im Sommer 2009 berichtet (Dirim/Döll/Neumann/Roth
2009). Der vorliegende Beitrag fasst die zentralen Ergebnisse der wissen-
schaftlichen Begleitung zusammen und gibt damit einen Einblick in die
sprachliche Entwicklung der Kinder der beiden Klassen.
im Abstand von jeweils drei Monaten dreimal Tests zur Erfassung des Standes
der Alphabetisierung in beiden Sprachen, die Sofa- und para-Tests (Dehn
1988, Reich 2001), durchgeführt. Die Kinder werden aufgefordert, im Deut-
schen die Wörter Sofa, Mund, Limonade, Reiter und Kinderwagen und im
Türkischen die Wörter para (Geld), kitap (Buch), eldiven (Handschuh), san-
dalye (Stuhl) und kalem (Stift) zu schreiben. Die Gegenstände sind auf einem
Arbeitsblatt abgebildet, es kann direkt neben die Abbildungen geschrieben
werden.6 Zur Erfassung der Lesefähigkeiten der Kinder wurden am Ende des
vierten Schuljahres Lesetests mit den aus der IGLU-Studie bekannten Instru-
menten durchgeführt (Bos et al. (Hg.) 2003).
Die Ergebnisse der ersten Erhebung zeigen für das Deutsche deutliche und
hoch signifikante Differenzen bei den von den beiden Sprachgruppen erziel-
ten Mittelwerten (vgl. Tab. 2). Die ohne Türkischkenntnisse eingeschulten
Kinder erreichen erwartungsgemäß deutlich höhere Werte im Deutschen als
die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder. Die ohne Türkischkennt-
nisse eingeschulten Kinder konnten sich zu Beginn des ersten Schuljahres
erwartungsgemäß noch nicht auf Türkisch äußern.
Deutsch Türkisch
Sprachgruppe 1. Halbjahr 2. Halbjahr 1. Halbjahr 2. Halbjahr
ohne Türkisch- MW 2,62 2,96 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16 16 16
SD 0,50 0,67 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 1,67 2,38 2,23 2,23
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kenntnissen N 21 21 21 21
SD 0,75 0,96 0,75 0,78
gesamt MW 2,08 2,63 1,26 1,27
N 37 37 37 37
SD 0,80 0,88 1,25 1,26
Am Ende des ersten Schuljahres ist im Deutschen für beide Gruppen ein Zu-
wachs der Mittelwerte zu verzeichnen, die Unterschiede zwischen den Grup-
pen verfehlen knapp die Signifikanzgrenze (Mann-Whitney-U-Test: p = 0,059).
Besonders deutlich ausgeprägt ist der Zuwachs bei den mit Türkischkenntnis-
sen eingeschulten Kindern. Die Gruppe der ohne Türkischkenntnisse einge-
schulten Kinder weist weiterhin einen deutlichen Vorsprung vor den mit Tür-
kischkenntnissen eingeschulten Kindern auf.
Die Ergebnisse im Türkischen lassen am Ende des ersten Schuljahres gegen-
über den Werten der Eingangserhebung wider Erwarten keinen Zuwachs er-
kennen. Die mündliche Darstellungsfähigkeit der Kinder, die bei Einschulung
bereits über Türkischkenntnisse verfügten, gleicht sich im Deutschen zum
Ende des ersten Schuljahres an die Darstellungsfähigkeit im Türkischen an.
Der Spracherwerb der Kinder, die mit Türkischkenntnissen eingeschult wur-
den, konzentriert sich im ersten Schuljahr offenbar auch im bilingualen Mo-
dell vorwiegend auf das Deutsche. Die ohne Türkischkenntnisse eingeschul-
7
In den Berechnungen, die die Entwicklungen während des ersten Schuljahres betreffen, wer-
den ausschließlich Daten von Kindern berücksichtigt, von denen im ersten und zweiten
Halbjahr des ersten Schuljahres beide Sprechproben erhoben werden konnten (N=37).
Ein weiterer zentraler Befund ist, dass die Häufigkeit der Sprachhandlung
Deuten/Vermuten sowohl im Deutschen als auch im Türkischen signifikant
mit klassischen Sprachstandsindikatoren (verbaler Wortschatz, syntaktische
Komplexität etc.) korreliert; sie steht also mit einer fortgeschrittenen allge-
meinen Sprachkompetenz in Zusammenhang (Dirim/Döll/Neumann/Roth
2009, S. 47f.).8
Tab. 3: Mittelwerte, Formen und Stellungen des Verbs (Types), 1. Schuljahr (Deutsch)
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Die Vielfalt der verwendeten Formen und Stellungen des Verbs wurde auch
in den mündlichen Sprechproben des vierten Schuljahres, die jetzt allerdings
mit den Impulsen „Topfszene“ und „Ultraschall“ erhoben wurden, analysiert.
Vom Ende des ersten zum Ende des vierten Schuljahres ist erneut eine Zu-
nahme der verwendeten Formen und Stellungen des Verbs zu beobachten
(vgl. Tab. 4); die Veränderungen vom ersten Halbjahr des ersten Schuljahres
zum vierten Schuljahr verfehlen die Signifikanzgrenze nur knapp (Wilcoxon-
Test: p = 0,063). Trotz der geringen Größe der untersuchten Gruppe kann von
einem systematischen Zusammenhang ausgegangen werden. Die Kinder
brachten zur Bewältigung der gestellten sprachlichen Aufgaben am Ende des
vierten Schuljahres ein weiter entfaltetes morphologisch-syntaktisches Sys-
tem in Anwendung als bei ihrer Einschulung. Es fällt jedoch auf, dass die von
mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kindern erzielten Werte auch im
vierten Schuljahr hinter den Ergebnissen der Kinder, die ohne Türkischkennt-
nisse eingeschult wurden, zurückbleiben. Eine Signifikanz des Unterschieds
zwischen den Gruppen lässt sich (wie im ersten Schuljahr) jedoch nicht
nachweisen.
N 15 15 15
SD 1,58 0,99 1,01
gesamt MW 7,53 7,70 8,07
N 30 30 30
SD 1,31 0,99 1,08
Tab. 4: Mittelwerte, Formen und Stellungen des Verbs (Types), 1. bis 4. Schuljahr (Deutsch)9
Ein direkter Vergleich mit den Ergebnissen des ersten Schuljahres ist daher
nicht möglich, wenngleich die im ersten und vierten Schuljahr verwendeten
Impulse in gleichem Umfang geeignet sind, unterschiedliche Konnektoren zu
elizitieren. Die Daten können jedoch zum Vergleich der beiden Sprachgrup-
pen herangezogen werden. Dabei wird deutlich, dass die mit Türkischkennt-
nissen eingeschulten Kinder im Vergleich zu ihren Mitschülern und Mitschü-
lerinnen mehr Konnektoren verwenden.10
Präsens 15 15 15 15 15 15
Kopulakonstruktionen 15 15 15 14 15 15
Modalverbkonstruktionen 13 15 10 14 15 13
Verb mit getrenntem Präfix 15 15 14 15 14 13
Inversion 15 13 15 14 10 14
Endstellung im Nebensatz 15 15 15 10 14 15
Perfekt 12 15 14 12 14 12
Präteritum 6 7 10 8 11 13
Passiv 3 2 7 3 1 2
Konjunktiv II 2 0 5 0 0 3
Verbalperiphrase 6 7 5 4 3 2
1. Halbjahr
Aussageverbindungen
gesamt einfache komplexe
ohne Türkisch- MW 0,00 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16 16
SD 0,00 0,00 0,00
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2. Halbjahr
Aussageverbindungen
gesamt einfache komplexe
ohne Türkisch- MW 0,00 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16 16
SD 0,00 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 9,86 6,48 3,24
kenntnissen N 21 21 21
SD 6,52 4,08 2,95
gesamt MW 5,59 3,68 1,84
N 37 37 37
SD 6,94 4,45 2,73
Auch für das Türkische zeigt sich vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten
Schuljahres ein Anstieg der Menge der verwendeten Verbindungen, d.h. auch
im Türkischen sind die Äußerungen am Ende des ersten Schuljahres kohärenter
als zu Beginn. Aber auch die Vielfalt der von den Kindern verwendeten Verbin-
dungen hat vom ersten zum zweiten Halbjahr zugenommen (vgl. Tab. 10). Die
Werte und Anstiege beziehen sich jedoch nur auf Kinder, die bereits mit Tür-
kischkenntnissen eingeschult wurden. Die ohne Türkischkenntnisse einge-
schulten Schülerinnen und Schüler verwendeten keine Aussageverbindungen.
Die Verwendung von Aussageverbindungen wurde auch in den Sprechproben
des vierten Schuljahres analysiert. Dabei wurde deutlich, dass die ohne Tür-
kischkenntnisse eingeschulten Schülerinnen und Schüler am Ende der Grund-
schulzeit keinerlei Aussageverbindungen im Türkischen produzieren (siehe
Tab. 10).
Types
1. Halbjahr 2. Halbjahr 4. Schuljahr
Aussageverbindungen
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1. Halbjahr 2. Halbjahr
Types Types
ohne Türkisch- MW 13,34 15,78
kenntnisse N 16 16
SD 3,10 3,32
mit Türkisch- MW 11,09 13,74
kenntnissen N 21 21
SD 5,27 5,28
gesamt MW 12,07 14,62
N 37 37
SD 4,55 4,60
Für das Türkische hat sich gezeigt, dass die Menge der verwendeten verschie-
denen Verben vom ersten zum zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres leicht
abnimmt (vgl. Tab. 12). Signifikant ist diese Veränderung nicht, man kann
daher eher von einer Stagnation der semantischen Entwicklung während des
ersten Schuljahres sprechen. Diese Beobachtung stärkt die eingangs formu-
lierte Vermutung, dass die Sprachaneignung der mit Türkischkenntnissen ein-
geschulten Kinder im ersten Schuljahr vorwiegend auf das Deutsche konzen-
triert ist.
1. Halbjahr 2. Halbjahr
Types Types
ohne Türkisch- MW 0,00 0,00
kenntnisse N 16 16
SD 0,00 0,00
mit Türkisch- MW 12,61 11,62
kenntnissen N 21 25
SD 4,48 3,30
gesamt MW 7,16 7,09
N 37 41
SD 7,16 6,28
Tab. 12: Mittelwerte, Menge der durchschnittlich verwendeten Verben (Types)
pro Sprechimpuls, 1. Schuljahr, Türkisch
Ein erklärtes Ziel des Modellversuchs war es, die Kinder in beiden Sprachen
an die (jeweilige) Bildungssprache heranzuführen. Wenngleich der Begriff
‘Bildungssprache’ aktuell im Zusammenhang mit der Förderung von Kindern
mit Migrationshintergrund zu Recht häufig gebraucht wird, ist noch nicht ein-
deutig geklärt, welche Phänomene Bildungssprache charakterisieren (Gogolin
2010). In Roth/Neumann/Gogolin (2007) wird für das Deutsche ein Modell
vorgeschlagen, das Passivkonstruktionen, Konjunktiv, weitere unpersönliche
Ausdrücke, Nominalisierungen, Komposita, Attribute und Konstruktionen
mit lassen umfasst. Die Sprachproben der Kinder wurden im vierten Schuljahr
daher zusätzlich auf diese Phänomene hin analysiert. Durch eine Hauptkom-
ponentenanalyse konnten drei sprachliche Modi identifiziert werden: um-
gangssprachlicher, akademischer und elaborierter Modus (ebd., S. 59).12 Für
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12
Kurzcharakterisierung der drei Modi: umgangssprachlicher Modus: häufige Verwendung
sprechsprachlicher Floskeln und umgangssprachlicher Wendungen, weiterhin Verwen-
dung von Satzgefügen; akademischer Modus: Substantivierung, Gebrauch von Komposi-
ta, begleitet von einem hochfrequenten Einsatz von Verben, unpersönlichen Ausdrücken
und Konnektoren; elaborierter Modus: Konjunktiv und Passiv (Roth/Neumann/Gogolin
2007, S. 59)
13
Bei den Abbildungen 1 bis 3 handelt es sich um Boxplots, die Median, Quartile, Extremwer-
te und Ausreißer zeigen.
MW
kenntnisse N 16 16 16
SD 1,45 1,04 0,63
mit Türkisch- MW 6,90 9,00 9,71
kenntnissen N 25 25 25
SD 2,40 0,94 0,47
gesamt MW 6,92 9,03 9,58
N 41 41 41
SD 2,06 0,97 0,55
Die Ergebnisse des para-Tests zeigen, dass die Kinder beider Sprachgruppen
in der Entwicklung der Alphabetisierung des Türkischen zunächst (während
der ersten und zweiten Erhebung) etwa gleichauf liegen (vgl. Tab. 13). Wie für
das Deutsche nehmen die Leistungen von Erhebung zu Erhebung deutlich zu
(Wilcoxon-Test jeweils: p = 0,000). Erst am Ende des ersten Schuljahres zeigt
sich ein Vorsprung der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder vor ih-
ren mit Türkischkenntnissen eingeschulten Mitschülerinnen und Mitschülern.
Die Differenzen zwischen den Sprachgruppen sind jedoch zu keinem Zeit-
punkt signifikant (Dirim/Döll/Neumann/Roth 2009, S. 53f.). Die Prüfung der
Zusammenhänge der Testergebnisse in beiden Sprachen zeigt, dass die Ergeb-
nisse in beiden Sprachen zu jedem Zeitpunkt hoch signifikant korrelieren, die
Stärke des Zusammenhangs im Laufe der Zeit jedoch abnimmt. Die Schreib-
fähigkeit der Kinder entwickelt sich also von einer allgemeinen hin zu einer
sprachspezifischen (ebd.).
Deutsch Türkisch
ohne Türkisch- MW 106,3725 82,8888
kenntnisse N 16 16
SD 12,27377 6,58656
mit Türkisch- MW 102,2867 95,2788
kenntnissen N 24 24
SD 11,71447 15,02093
gesamt MW 103,921 90,3227
N 40 40
SD 11,95741 13,69438
Die Ergebnisse (vgl. Abb. 3 und Tab. 14) zeigen, dass sich die Lesefähigkeiten
der beiden Sprachgruppen im Deutschen nicht signifikant unterscheiden,
wenngleich die mit Türkischkenntnissen eingeschulten Kinder im Mittel et-
was niedrigere Ergebnisse erzielen – dieses Resultat lässt sich in allen Ham-
burger Modellklassen wiederfinden (vgl. Roth/Neumann/Gogolin 2007) und
steht erfreulicherweise in Kontrast zu den Ergebnissen bislang vorliegender
Untersuchungen und der IGLU-Studie, in der Kinder mit Migrationshinter-
grund durchweg geringere Leistungen erzielten als ihre deutschstämmigen
Mitschülerinnen und Mitschüler.15
(und hier sind nicht nur die türkisch-deutschen Klassen gemeint) erzielten
Mittelwerte im Deutschen liegen allesamt zwischen 102 und 114 Punkten
und damit im Bereich des nationalen Mittelwerts (ebd., S. 60ff.). Eine Be-
nachteiligung der Schülerinnen und Schüler der bilingualen Klassen gegen-
über Kindern, die eine Regelklasse besuchen, ist im Bereich des Erwerbs von
Lesekompetenz im Deutschen demnach nicht zu erkennen (ebd.).
4. Resümee
Die Erwartungen an bilinguale Modelle dürfen aber auch nicht zu hoch sein.
Auch nach vier Jahren Schulzeit sind die sprachlichen Ausgangsbedingungen
noch spürbar: Einige der ohne Türkischkenntnisse eingeschulten Kinder er-
werben nur Grundkenntnisse der Partnersprache; den mit Türkischkenntnis-
sen eingeschulten Kindern wiederum bereiten elaborierte Formen des Deut-
schen tendenziell noch mehr Probleme als ihren ohne Türkischkenntnisse
eingeschulten Klassenkameraden. Dies ist auch als empirische Evidenz dafür
zu bewerten, dass Kinder in der schulischen Bildung ihre mitgebrachten Spra-
chen (sei diese Sprache Deutsch oder eine andere Sprache) am besten weiter-
entwickeln. Damit wäre eines der Argumente für die bilinguale Bildung für
Kinder aus Migranten- bzw. Minderheitenfamilien gestärkt: diese Kinder soll-
ten unbedingt die Möglichkeit erhalten, virtuose Kompetenzen in der Mehr-
heitssprache zu entwickeln, aber sie sollten in diesem Prozess und mit ihren
nichtdeutschen Herkunftssprachen im Sinne einer für den Wissensaufbau zen-
tralen Ressource arbeiten können, was heißt, dass auch diese Sprachen syste-
matisch zu Bildungssprachen ausgebaut werden.
16
Vgl. zu den Schlussfolgerungen für die Didaktik in sprachlich heterogenen Klassen allge-
mein auch Neumann (2009).
5. Literatur
Bos, Wilfried/Lankes, Eva/Prenzel, Manfred/Schwippert, Knut/Walther, Gerd/Valtin,
Renate (Hg.) (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der
vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster.
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Budach, Gabriele/Erfurt, Jürgen/Kunkel, Melanie (Hg.) (2008): Écoles plurilingues
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school. In: Ramseger, Jörg/Wagener, Matthea (Hg.): Chancenungleichheit in der
Grundschule. Ursachen und Wege aus der Krise. Wiesbaden.
17
Zur weiteren Entwicklung in der Sekundarstufe siehe Neumann (2011), Duarte (2011).
Esser, Hartmut (2006): Sprache und Integration: Die sozialen Bedingungen und Fol-
gen des Spracherwerbs von Migranten. Frankfurt a.M.
Franz, Marianne/Laufer, Lutz/Regelein, Silvia (2008): Lernschule Fibel. Ausgabe D.
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Gogolin, Ingrid/Neumann, Ursula/Roth, Hans-Joachim (2003): Schulversuch Bilin-
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Kemp, Robert F./Bredel, Ursula/Reich, Hans H. (2008): Morphologisch-syntaktische
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2007. Abschlussbericht über die italienisch-deutschen, portugiesisch-deutschen
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In recent years, ethnolectal forms of German have developed in many large cities
among young people of the 2nd and 3rd generations of migrants. They are character-
istic of multilingual contexts, in which speakers of different linguistic backgrounds
use the regional vernacular of the country in which they live as a lingua franca. The
new forms have large areas of overlap with the regional varieties, but they show pro-
sodic-phonetic, lexical and morphosyntactic differences. Mostly they are used only in
certain contexts, and the speakers switch with great ease between regional varieties,
varieties of their mother tongue, mixed languages and ethnolectal forms.
On the basis of three ethnographic case studies in Mannheim it is shown what the
ethnolectal forms developed by the young migrants look like and the purposes for
which the young people use them. The young people have a wide linguistic repertoire,
have a command of ethnolectal and standard forms and make use of the difference
between the two as a communicative resource.
rung von Ethnolekten, die sich in den letzten Jahren in urbanen Kontexten
herausgebildet haben (Kap. 3 und 4), werde ich auf der Basis ethnografischer
Studien, die ich in Mannheim durchgeführt habe, zeigen, wie die dort entwi-
ckelten ethnolektalen Formen aussehen und zu welchen Zwecken sie von den
jugendlichen Sprecher(inne)n verwendet werden (Kap. 5 und 6).
2. Forschungsüberblick
chen in Amsterdam und Nijmegen die Prozesse, die bei der Entstehung von
Ethnolekten eine Rolle spielen;2 Quist (2005 und 2008) beschreibt ethnische
Varietäten in multiethnischen Einwanderergebieten in Kopenhagen; und in
London und Birmingham untersucht eine Projektgruppe (Kerswill i.Vorb.)
die Verbreitung ethnolektaler Merkmale über ethnische Grenzen hinaus.3 In
Deutschland begann die Forschung mit der kleinen Studie von Füglein
(2000) zum ethnolektalen Deutsch türkischer Jugendlicher der 2./3. Gene-
ration in München, Böblingen und Nürnberg. Die darauf folgenden Arbeiten
von Auer (2003) und Dirim/Auer (2004) kommen zu dem Ergebnis,4 dass
es sich bei den bisher beobachteten ethnolektalen Formen um eine poten-
ziell neue „Varietät des Deutschen“ handelt (ebd., S. 207). Wiese (2006)
und Freywald et al. (i.Vorb.) finden im Deutsch von Berliner Migran-
tenjugendlichen ähnliche Charakteristika wie die Vorgängerstudien. Auf
1
In den Niederlanden beschreiben Appel/Schoonen (2005) die sog. Straattaal (‘Straßenspra-
che’); zur Beschreibung des Sprachgebrauchs von Jugendlichen in multilingualen Kontex-
ten in Schweden vgl. z.B. Bodén (2004).
2
Hinskens/Muysken (2007) untersuchen in dem quantitativ-soziolinguistischen Projekt „The
roots of ethnolects. An experimental comparative study“ den Bezug ethnolektaler Merkmale
zu den Herkunftsvarietäten der Sprecher, den Regionalvarietäten der Aufnahmegesellschaft
und zu lernersprachlichen Prozessen.
3
Die bisher publizierten Ergebnisse zeigen, dass ethnolektale Merkmale sich über multi
ethnische Jugendnetzwerke ausbreiten und zur Entstehung von Multi-Ethnolekten führen.
4
Die Autoren vergleichen die Ergebnisse von Füglein, die Daten, die Tertilt (1996) zu den
„Turkish Power Boys“ erhoben hat, mit eigenen Daten aus ihrer Hamburger Untersuchung.
Ihre Erkenntnis basiert auf einem Vergleich dieser verschiedenen Datensätze und der hohen
Übereinstimmung bestimmter Phänomene.
Für die neuen Sprachformen gibt es Bezeichnungen sowohl aus der Sprecher-
perspektive als auch aus der Perspektive von Außenstehenden. Das bedeutet,
dass es ein weit verbreitetes gesellschaftliches Wissen über die neuen Sprach-
formen gibt und dass sie mit bestimmten Sprechergruppen assoziiert werden. In
Stockholm heißen die neuen Varietäten Rinkebysvenska (‘Rinkeby-Schwe-
disch’) oder invandrerska (‘Immigrantisch’), in Malmö und Göteburg ke-
bebspråk (‘Kebab-Sprache’) oder spaggesvenska (‘Spaghetti-Schwedisch’, vgl.
Kotsinas 1998). Madsen (i.Vorb.) nennt als Sprecherbezeichnungen perger-stil
(‘Nigger-Stil’) oder perger-sprog (‘Pergersprache’), und Quist (2005) führt die
aus der Außenperspektive abwertenden Bezeichnungen perkerdansk (‘Perker-
dänisch’) und indvandrerdansk (‘Einwandererdänisch’) an. In den Niederlan-
den gibt es Sprecherbezeichnungen wie Straattaal (‘Straßensprache’, vgl. Nor-
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men, versteht Auer das nicht als Transgression einer ethnischen Grenze, son-
dern als De-Ethnisierung des Ethnolekts; für diese Jugendlichen sind ethno-
lektale Formen zur „eigenen Stimme“ geworden.
a) Prosodie:
In allen Studien werden prosodische Eigenschaften hervorgehoben; Kotsinas
(1998) beschreibt sie eher impressionistisch als „choppy“ oder „uneven“;
Dirim/Auer (2004) sprechen von silbenzählendem Rhythmus und der Nicht-
Reduktion von Nebensilben; Quist (2005) beschreibt ein „staccato“-artiges
Sprechen und eine unübliche Akzentstruktur; Keim/Knöbl (2007) beobachten
einen Silben zählenden kurz getakteten Rhythmus und Akzentzuweisungen,
die für die Informationsstruktur deutscher Äußerungen nicht passen. Die bis-
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her umfassendste Untersuchung (Kern i.Vorb.) legt dar, dass die rhythmische
Struktur mit kurzen Einheiten von fast gleicher zeitlicher Länge die phoneti-
sche und die syntaktische Struktur beeinflusst: Es werden akzentisochrone
und isometrische Einheiten produziert, und Linksversetzungen, Ausklamme-
rungen ebenso wie Reduktionen von Phrasen (z.B. durch Tilgung von Präpo-
sition und Artikel) kommen häufig vor. In den Studien, in denen türkische
Sprecher(innen) beteiligt sind, können Einflüsse aus dem Türkischen identifi-
ziert werden; es kommen aber auch Merkmale vor, die nicht aus dem Türki-
schen erklärt werden können (ebd.).
b) Phonologie/Phonetik:
Vor allem folgende Merkmale spielen eine Rolle:
–– Koronalisierung von [ç] zu [ς], z.B. /ich/→/isch/;17
–– Reduktion von [ts] zu [s] oder [z] am Wortanfang;18
–– Nicht-Vokalisierung von auslautendem /r/ und die apikale Realisierung in
Anlautclustern;19
16
Zur Klärung der Frage, ob ethnolektale Merkmale auf universellen Prinzipien beruhen oder
einzelsprachenabhängig sind, sind weitere Forschungen notwendig. Vor allem müssten Eth-
nolekte, die ohne Beteiligung germanischer Sprachen entstanden sind, einbezogen werden.
Mit der Frage der Wurzeln ethnolektaler Merkmale beschäftigt sich derzeit die Studie von
Hinskens und Muysken, vgl. Hinskens/Muysken (i.Vorb.).
17
Vgl. Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007), Selting (i.Vorb.), Wiese (2006).
18
Vgl. Kotsinas (1998), Androutsopoulos (2001b), Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007),
Wiese (2006).
19
Vgl. Kotsinas (1998), Dirim/Auer (2004), Keim/Knöbl (2007).
c) Lexik:22
Lexikalische Entlehnungen kommen vor allem aus den Sprachen großer Min-
derheitengruppen, in Deutschland aus dem Türkischen, in den Niederlanden
aus dem Arabischen. Lexikalische Entlehnungen aus dem Türkischen werden
z.B. als Adressierungen, Diskurspartikel oder Interjektionen verwendet, z.B.
kız (‘Mädchen’), lan (‘Mann’), moruk (‘Alter’). Einleitungsformeln wie hadi
(‘los, auf geht's’), çüş (‘stopp, hör auf du Idiot’) oder Intensivierer wallah
(‘wirklich’) gebrauchen auch Sprecher, die kein Türkisch sprechen; es gibt
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toslang“ bezeichnet wird.28 Das ist eine vereinfachte Form der regionalen
durch den rheinfränkischen Dialekt geprägten Umgangssprache, die eine Rei-
he der oben (Kap. 4) aufgeführten Merkmale aufweist. Dabei kommen einige
relativ durchgängig, andere nur vereinzelt vor. Relativ durchgängig, d.h. in
vielen möglichen Positionen, kommen folgende Merkmale vor:
und durch abweichendes Genus (fem. statt mask.) in coole angeba. Mit dieser
Selbstcharakterisierung setzt sich der Junge in Kontrast zur Fremdcharakterisie-
rung der Lehrerin und verwendet dazu die in der Kindergruppe übliche Formu-
lierungsweise. Als derselbe Junge der Lehrerin erklärt, warum sein Freund trau-
rig ist, formuliert er das folgendermaßen: er hat geweint * weil sein=mama nich
gekommen is↓.32 In dieser Situation und bei diesem Anlass spricht er standardnä-
her, d.h. es gibt im untersuchten Material des Jungen Belege dafür, dass er zwi-
schen beiden Sprachformen situativ zu unterscheiden beginnt.
Die Kinder erleben, dass die Lehrenden ethnolektale Formen korrigieren, und
sie können unterschiedlich darauf reagieren. Im folgenden Beispiel (vgl. Meh-
ler 2009) übernimmt eine Erstklässlerin die Korrektur der Lehrerin. Als das
31
Die Beispiele stammen aus der Masterarbeit von Kerstin Mehler (2006, Universität Mann-
heim), veröffentlicht 2009: „Zur grammatischen und kommunikativen Kompetenz von Kin-
dern mit Migrationshintergrund“. Die Autorin diskutiert auf der Basis ihres Materials
(Sprachaufnahmen aus dem Unterricht mit vier Erstklässlern) auch die Frage, inwieweit ein
vom Standardgebrauch abweichendes Merkmal als lernersprachlich oder ethnolektal klassi-
fiziert werden kann. In einer Reihe von Fällen ist eine Unterscheidung nicht möglich; doch
es scheint eine Tendenz zu geben, dass die kindlichen Sprecher bei der Selbstcharakterisie-
rung als „stark, cool, grausam“ verstärkt formelhafte und ethnolektale Formen gebrauchen.
Das ist auch im angeführten Beispiel der Fall, als der Junge sich als coole angeba und
gangsta bezeichnet. Die Präferenz für ethnolektale Formen bei solchen Selbstcharakterisie-
rungen erklärt die Autorin durch den Einfluss älterer Jungen aus dem Umfeld oder durch den
Einfluss medialer Figuren aus Film und Comedy.
32
Eine systematische Unterscheidung zwischen Umgangsdeutsch und ethnolektalen Formen
nach situativen, personellen oder thematischen Aspekten kommt bei den Schulanfängern
allerdings (noch) nicht vor.
Mädchen sich mit der Äußerung isch muss toilette an sie wendet, reagiert die
Lehrerin mit einer grammatisch korrekten Antwort: wir sind doch fertig * du
kannst auf die toilette. Daraufhin fragt das Kind die gleichaltrige Freundin
kommst du mit mir auf die toilette↑ und übernimmt dabei die grammatisch
korrekte Äußerung der Lehrerin. Die Differenz zwischen Ethnolekt und Um-
gangsdeutsch kann aber auch zu einem Spiel mit dem Lehrer genutzt werden.
Keim (2004a) beschreibt einen Fall, in dem sich ein Erstklässler mit isch muss
toilette an den Lehrer wendet. Als der ihn rügt und eine korrekte Formulierung
einfordert, grinst der Junge und reformuliert sein Anliegen: darf ich bitte auf
die toilette gehen. Der Junge kennt die korrekte Form und es macht ihm offen-
sichtlich Spaß, vom Lehrer zur Korrektur aufgefordert zu werden.
Im Laufe der Schulzeit lernen Migrantenkinder und -jugendliche die Diffe-
renz zwischen ethnolektalen und standardnahen Formen als kommunikative
Ressource zu nutzen, beide Formen kontextspezifisch zu gebrauchen und sie
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Als Murat das Rektorenzimmer verlässt, hört er, noch bevor er die Tür ge-
schlossen hat, dass die drei Lehrer sich über ihn lustig machen:
MU: ham misch ausgelacht- * ja“ dann bin=isch rei“n- *
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MU: hab zu meinem lehrer gesagt wenn noch ei“ner von eusch/
MU: →also ri“schdisch au“sgerastet isch konnt net mehr isch
MU: hätt fast geweint← * isch bin rei“n- hab gemeint wenn
MU: ei“ner von eusch noch ei“nmal über misch lacht- * dann
MU: seid ihr tot- * isch mach eusch kaputt >hab=isch gemeint<↓
MU: * halt * aus wu“t- (…)un=isch hab meine sachen gepackt
MU: an dem tag und bin weg von der schule↓ * einfach so rau“s↓
an die Interviewerin gerichtet sind, die z.T. auch von ihr evoziert werden und
auf die sie reagiert.36 Diese ausgebauten Formen werden also verwendet, um
der Interviewerin gegenüber eine freundliche, aber sozial eher distanzierte Be-
ziehung anzuzeigen.
Auf die Nachfrage der Interviewerin, wer diese Anna ist, antwortet Canan:
CA: da ham wir eine frau kennen gelernt * von DDR oder↑
36
Vgl. die Analyse in Keim/Knöbl (2007, S. 179ff.).
37
Für eine ausführliche Beschreibung dieser Fallstudie vgl. Keim (2007).
38
Auf der prosodisch-phonetischen Ebene jedoch gibt es ganz ähnliche Merkmale wie bei dem
vorher beschriebenen Murat; vgl. dazu Keim/Knöbl (2007).
ohne Artikel enthält, wird von der Freundin unaufwändig im folgenden Bei-
trag repariert: sie hat in de=DDR-zeit gelebt.
Canan ist sich nicht sicher, ob das Foto, das sie gerade beschreiben will, am
ersten oder am zweiten Tag der Berlinfahrt aufgenommen wurde und richtet
die Vergewisserungsfrage des war erste=tag * gell↑ * oda= zweite (Z. 01) an
die anderen Mädchen. Die Freundin Fidan (FI) ist sicher, dass es nicht der
erste Tag war (nei“n des war nischt erste=tag, Z. 02/03), doch Alara (AA)
widerspricht und behauptet: doch des war der erste tag (Z. 04). Darauf liefert
Fidan ein Zusatzargument für ihre Version (ein bestimmtes Kleidungsstück,
das CA auf diesem Foto trägt), das Canan überzeugt, dass das Foto doch am
zweiten Tag aufgenommen wurde (Z. 06). Interessant an diesem Ausschnitt
ist, dass Canan in der Vergewisserungsfrage (Z. 01) die Temporalangabe eth-
nolektal (ohne Artikel) realisiert des war erste= tag * gell↑ * oder zweite und
ihre Freundin Fidan, die ihr bei der Entscheidung hilft, die ethnolektale Form
übernimmt nei“n des war nischt erste=tag (Z. 02/03). Alara dagegen, die die
Gegenversion zu Fidans Version liefert, verwendet Standardformen wie doch
des war der erste tag (Z. 04). Die endgültige Version, die Canan formuliert,
nachdem sie von Fidan überzeugt wurde, ist dann wieder ethnolektal realisiert
39
Für weitere Variationsmuster vgl. Keim (2007).
wurde, trafen sie nachts in ihrem Jugendhotel, in dem auch die Jungen wohn-
ten, auf einen splitternackten und total betrunkenen Jungen. Dieses Ereignis
wird von Dilara (DI) erzählt, die sich zu dem Zeitpunkt, als die anderen auf den
nackten Jungen trafen, bereits in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Als sie im
Flur Krach hörte, ging sie hinaus und entdeckte dort den nackten Jungen:
02 DI: hab mein gesischt gewaschen↑ isch hab mein jogging anzug
07 DI: isch wollte schlafen un=dann↑ isch hab gesagt hey sind
durch das falsche Genus ethnolektal markiert. Die Erzählerin ist durch die Art
der Höhepunktdarstellung ausgesprochen erfolgreich; die Mädchen, die das
Ereignis ja bestens kennen, fiebern am Höhepunkt mit (vgl. AAs Versuche zur
Beteiligung) und belohnen die Darstellung durch helles und kreischendes
Lachen.
In diesem Beispiel kommt nur eine ethnolektale Form vor, und zwar bei der
Ausgestaltung des Höhepunktes. Dieselbe Sprecherin verwendet in ihrer Ant-
wort auf die Nachfrage der Interviewerin wo kam der her↑ (Z. 17) das korrek-
te Genus: un=der war halt besoffn↑ (Z. 19). Das zeigt, dass die ethnolektale
Form zusammen mit den übrigen diskursiven und prosodischen Verfahren zu
den Mitteln und Verfahren gehört, die in narrativen Darstellungen zur Erzeu-
gung von Spannung eingesetzt werden. Unter diesem Aspekt ist das hier ge-
zeigte Verfahren ähnlich dem in der vorherigen Fallstudie beschriebenen Ver-
fahren: ethnolektale Formen in Sequenzen, die in besonderer Weise auch an
die Peergroup adressiert sind.
Die letzte Studie zeigt, dass die Fähigkeit, zwischen Ethnolekt und Stan-
dardformen situativ zu unterscheiden, auch im Zusammenhang mit dem Er-
werb schriftsprachlicher Kompetenzen entwickelt wird. Das im Folgenden
analysierte Gesprächsmaterial stammt wieder von Hauptschüler(inne)n aus
dem untersuchten Migrantenwohngebiet. Es handelt sich um eine Sprach-
40
Vgl. zu dieser Fallstudie Keim (2009a und 2009b).
41
Der Sprachförderunterricht findet im Rahmen des Sprachförderprogramms der Mercator-
Stiftung statt, die bundesweit an 35 Standorten vertreten ist. Das Programm sieht vor, dass
Studierende Migrantenkinder der Sekundarstufe I in kleinen Gruppen mindestens vier Stun-
den wöchentlich in Deutsch mündlich und schriftlich fördern. Das Mercatorprojekt ist auch
an der Universität Mannheim vertreten und wird von Rosemary Tracy und mir geleitet.
Vorrangiges Ziel der Förderung ist es, die Textrezeptions- und -produktionsfähigkeiten
(mündlich und schriftlich) der Kinder zu verbessern. Dazu greifen die Studierenden die
Kinder interessierende Themen auf, bieten ihnen dazu Sachinformationen und Text-, Spiel-
Audio- oder Filmmaterial an und unterstützen die Kinder bei der Produktion mündlicher und
schriftlicher Versionen. Zur Projektbeschreibung siehe Tracy/Keim (2009).
06 FA: mutter von happy feet↑ war voll geil/eh voll gute sängerin↑
07 FA: sehr gute↑ * un die hat einen/ →wie/wie soll=sch des sagn←↑
08 K LACHEND #
11 FA: un dann ham die ei gekriegt↑ * un dann hat der mann des ei
19 FA: kind war da↑ und wer macht unsere kind diese füße so↑ *
21 FA: die singen gegangen * der junge macht so <giiaah> * der kann
22 K KRÄCHZT
In dieser ersten Erzählepisode sind folgende Strukturteile realisiert, die für das
Genre ‘Erzählung’ konstitutiv sind:
–– Einführung der Akteure: Die zentrale Figur des kleinen Pinguin des ging
um pinguin happy feet (Z. 03), Erläuterung seines ungewöhnlichen Na-
mens (Z. 03/04) und Einführung seiner Eltern (Z. 04/10); dabei wird ein
wesentliches Merkmal der Mutter fokussiert (gute Sängerin) und dadurch
ein entsprechendes Merkmal für das Kind projiziert;
–– Darstellung eines Ereignisses aus der Vorgeschichte, das zur Deformation
und dem Anderssein führt (Z. 15/20): Der Vater lässt das Ei aus Versehen
fallen; als das Kind schlüpft, hat es verkrüppelte Füße;
–– Darstellung eines Ereignisses, das die Unfähigkeit zu singen offenbart
(Z. 20/23).
happy feet * happy feet bedeutet glückliche füße (...) und dann hat der
mann des ei unter dem ding versteckt (...) und dann sind die singn gegan-
gen (...) der kann nischt richtisch singn.
–– jugendsprachliche Formen: die Äußerung voll geil/ eh voll gute sängerin,
in der das Adjektiv voll als Intensivierer (im Sinne von sehr) und das qua-
lifizierende Adjektiv geil auftritt.42 Als jugendsprachlich kann auch der
derbe Ausdruck rummachen charakterisiert werden. Interessant ist die
Selbstkorrektur in der Äußerung war voll geil/ eh voll gute sängerin * sehr
gute; Fatih korrigiert den jugendsprachlichen Bewertungsausdruck geil zu
dem sozialstilistisch neutralen gut und den jugendsprachlichen Intensivie-
rer voll zu sehr. Die Korrekturen zeigen seine zunehmende stilistische
Bewusstheit.
–– eine Reihe ethnolektaler Formen:43 Ausfall von Artikel in NP und PP (5),
z.B. und dann ham die (ein) ei gekriegt oder die hat einfach mit (einem)
mann rumgemacht; Ausfall von Artikel und Präposition (2), z.B. und dann
(am) nächste(n) tag is die mutter gekommen; anderes Genus (1) und ande-
rer Kasus (1) unsere kind (fem.) statt unser kind (neutr.) und wer macht
unsere kind diese füße so statt unserem kind (Dat.); analytische Wortbil-
dung diese füße so statt solche füße;
42
Solche Konstruktionen sind in der Jugendsprachforschung beschrieben, wie z.B. voll dumme
tussi, oder des is voll geil u.Ä. Auch andere Migrantenjugendliche verwenden Konstruktio-
nen mit dem jugendsprachlichen Intensivierer voll. In Keim (2008b, S. 227) z.B. wird eine
Deutsch-Türkin zitiert: des war voll schlimm für mich, des war irgendwie voll die qual (ebd.).
43
Die fehlenden Elemente sind in Klammern und fett markiert; die Zahlen in den Klammern
bezeichnen die Häufigkeit des Vorkommens.
Diese ethnolektalen Formen werden weder von den anderen Kindern noch
von den deutschsprachigen Erwachsenen korrigiert. Auch Betül, die im Er-
zählverlauf immer wieder die Erzählerrolle übernimmt und expandierte narra-
tive Sequenzen produziert, gebraucht ethnolektale Formen, wie das folgende
Beispiel zeigt:
05 BE: ham die/ danach kam ein mädchen↑ ein kleines mädchen
05 BE: LACHT nein * sie bekamen ein * sie bekamen ein ei“
Wort arsch ab und sucht nach einem alternativen Ausdruck für den Körperteil,
unter den der Pinguin-Vater das Ei legt. Noch bevor er fortfahren kann, nennt
Betül (überlappend mit seiner Formulierung) als Alternative für den derben
Ausdruck arsch den umgangssprachlichen unter den po gelegt (Z. 12);44 Fatih
übernimmt diese Alternative (Z. 10). Betül zeigt hier ihre Fähigkeit zum situ-
ationsadäquaten Gebrauch von stilistischen Alternativen; in dieser Sequenz
bewegt sie sich bereits nahe an schriftsprachlichen Formen. Das wird beson-
ders deutlich im Vergleich zu den Formulierungen von IN, die Merkmale des
Mündlichen enthalten (Elision, Kontraktionen). Kurze Zeit später sitzt Fatih
am Computer und schreibt ohne Hilfe von Betül oder der Interviewerin den
folgenden schriftsprachlichen Satz, den er laut vorliest:
02 IN: un was war mit dem band↑ * warum war des wichtig↑
03 FA: das
06 FA: SCHREIBT
Auf INs Frage was war mit dem band ↑ warum war des wichtig↑ (Z. 02) ant-
wortet Fatih: das band bedeutete dass er der anführer war (Z. 03/04). In die-
44
Der Ausdruck Po ist umgangssprachlich gebräuchlich und für Kinder üblich.
8. Transkriptionskonventionen
Die Sprecherbeiträge sind in Partiturschreibweise angeordnet. Dabei werden
folgende Konventionen verwendet:
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9. Literatur
Androutsopoulos, Jannis (2001a): „Ultra korregd Alder!“ Zur medialem Stilisierung
und Popularisierung von Türkendeutsch. In: Deutsche Sprache 29, 4, S. 321-339.
Androutsopoulos, Jannis (2001b): From the streets to the screens and back again: On
the mediated diffusion of ethnolectal patterns in contemporary German. (= LAUD,
Series A, 522). Essen.
Androutsopoulos, Jannis (2007): Ethnolekte in der Mediengesellschaft. Stilisierung
und Sprachideologie in Performance, Fiktion und Metasprachdiskurs. In: Fan-
drych/Salverda (Hg.), S. 113-156.
Appel, René/Schoonen, Rob (2005): Street Language. A multilingual youth register in
the Netherlands. In: Journal of Multilingual and Multicultural Development 26, 2,
S. 85-117.
Auer, Peter (2003): „Türkenslang“– ein jugendsprachlicher Ethnolekt des Deutschen
und seine Transformationen. In: Häcki-Buhofer, Annelies (Hg.): Spracherwerb
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Abstract: Ausgangspunkt für diesen Beitrag sind soziodemografische Daten, die da-
rauf hindeuten, dass in Deutschland relevante Teile der Wohnbevölkerung anlassbe-
zogen in anderen Sprachen als dem Deutschen kommunizieren müssen oder wollen.
Aus dieser veränderten Sprachenlandschaft ergeben sich neue Anforderungen an öf-
fentliche Einrichtungen, Behörden und Unternehmen, aber auch neue Möglichkeiten
der Nutzung dieser sprachlichen Ressourcen. So spielen Mitarbeiter mit guten Kennt-
nissen der Herkunftssprachen in vielen Unternehmen und Einrichtungen eine wichti-
ge Rolle bei der Kommunikation mit Personen mit geringen Deutschkenntnissen. Der
Einsatz dieser Personen ist teilweise jedoch auch problematisch, da sie in den Her-
kunftssprachen den Anforderungen des Sprachgebrauchs in beruflichen Kontexten
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nicht immer gewachsen sind. Daher werden ein reflektierter Umgang mit den Spra-
chenpotenzialen und eine aktive Gestaltung mehrsprachiger Kommunikationspraxen
in öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen gefordert.
The starting point for this article is provided by socio-demographic data which point
to the fact that significant sections of the German population have to or want to use
languages other than German for communication according to the situation. This
changed language landscape makes new demands on public institutions, authorities
and companies, but also creates new opportunities to make use of these linguistic re-
sources. Thus in many companies and institutions employees with good knowledge of
migrant languages play an important role in communication with people who have a
limited knowledge of German. However, the use of these people also has its problems,
since they are not always equal to the task of using the migrant languages adequately
in professional contexts. For this reason the article proposes reflection on the handling
of the language potential and an active organisation of multilingual communication
practices in public institutions and companies.
Geht man von den wenigen verfügbaren soziodemografischen Daten aus, wie
sie im sozioökonomischen Panel des Berliner DIW erhoben werden, so steht
in jeder Einwanderergruppe eine große, sprachlich gut integrierte Gruppe ei-
ner kleineren, nicht gut integrierten Gruppe gegenüber (Haug 2008). Das Ver-
Aus dieser Gemengelage nähren sich Anekdoten wie die des bosnischen
Mädchens, das elterliche Bedenken bezüglich einer Klassenfahrt selbst zer-
streuen konnte, indem es als Dolmetscherin im Gespräch mit dem Klassen-
lehrer dessen Erläuterungen in bestimmten Details abwandelte und so – ge-
stützt auf die „Stimme des Lehrers“ – die eigenen Eltern beruhigte. Solche
wahren Geschichten erscheinen zunächst amüsant, die zugrunde liegende
Praxis ist jedoch eigentlich unerhört: Die Schulbehörde in einem durch Mi
gration und Mehrsprachigkeit geprägten Stadtstaat wie Hamburg bietet den
Schulen keine konkrete Hilfestellung bei der Lösung eines alltäglichen Kom-
munikationsproblems. Stattdessen behelfen sich Lehrer und Schulleitungen,
indem sie die Lösung dieses Problems an die Familien weiterreichen, manch-
mal auch ältere Schüler als Schuldolmetscher rekrutieren oder – im besten
Fall – auf eigene Initiative hin gezielt Kollegen mit herkunftssprachlichen
Kenntnissen einstellen. Die Qualität der Dolmetschleistungen, die auf der
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tan werden kann, sind alle Gespräche, die in Verbindung mit der ärztlichen
Aufklärungspflicht stehen (Meyer 2004). Die Aufklärung des Patienten ist
eine Berufspflicht des Arztes. Eine Behandlung darf nur dann erfolgen, wenn
nach der erforderlichen Aufklärung durch den Arzt der Patient in die Be-
handlung einwilligt. Diese Aufklärung muss durch den Arzt selbst erfolgen.
Im Zweifel ist der Arzt verpflichtet nachzuweisen, dass er seiner Aufklä-
rungspflicht nachgekommen ist. Hierzu hat der Arzt zu dokumentieren, dass
er den Patienten persönlich aufgeklärt hat. Die Aufklärung des Patienten
durch nichtärztliches Personal ist unzulässig. Ein Arzt muss sich im Ge-
spräch mit einem Patienten darüber vergewissern, dass dieser die Informati-
onen verstanden hat (Amtsgericht Leipzig v. 30.5.2003, in: Medizinrecht
2003, S. 582). Hierzu gehört es auch, sich zu vergewissern, dass der Patient
die deutsche Sprache beherrscht, sofern die Aufklärung in dieser vorgenom-
men wird (OLG Oldenburg v. 12.6.96, in: Versicherungsrecht 1996, S. 978;
OLG Nürnberg v. 28.6.1995, in: Medizinrecht 1996, S. 213). Besteht Unsi-
cherheit darüber, ob der Patient das Deutsche beherrscht, muss der Arzt eine
„sprachkundige Person“ hinzuziehen (OLG Karlsruhe v. 2.8.1985, in: Versi-
cherungsrecht 1997, S. 241). Über die Frage, ob und inwieweit die zum
Übersetzen herangezogene Person beide Sprachen beherrschen muss, und
inwieweit sich der Arzt über diesen Sachverhalt zu vergewissern hat, scheint
keine Rechtsprechung vorzuliegen. Verschiedene Urteile, die jeweils Fragen
der Haftung des Arztes wegen unterlassener bzw. mangelhafter Aufklärung
betrafen, befassen sich jedoch mit Sprachproblemen des Arztes im Aufklä-
rungsgespräch. Das Amtsgericht Leipzig (Urteil vom 30.5.2003, 17 C 344/03)
entschied, ein gewissenhaftes Aufklärungsgespräch sei nicht möglich, wenn
legt. Während von Ärzten mit anderer Muttersprache eine hohe Kompetenz
im Deutschen erwartet wird, reicht für Behelfsdolmetscher irgendeine Art von
Zweisprachigkeit aus. Diese Rechtsprechung unterstellt relativ optimistisch,
dass die Beteiligung solcher Ad-hoc-Dolmetscher die Verständigung zwi-
schen Arzt und Patient in jedem Fall verbessert und nicht zusätzlich behindert.
Immerhin verpflichtet sie aber ganz eindeutig Ärzte in bestimmten Fällen
dazu, eine Kommunikation in anderen Sprachen als dem Deutschen zu ermög-
lichen, wenn Patienten des Deutschen nicht ausreichend mächtig sind.
Auch seitens der EU wird Mehrsprachigkeit in ihrer Funktion für den sozialen
Zusammenhalt und die Kommunikation der Bürger mit den europäischen Ins-
titutionen sowie als wichtiger Faktor für die Erhöhung der Wettbewerbsfähig-
keit der europäischen Wirtschaft gesehen. Im Rahmen der ELAN-Studie
(2006, „Effects on the European Economy of Shortages of Foreign Language
Skills in Enterprise“) ließ die Generaldirektion für Bildung und Kultur Effekte
mangelnder Fremdsprachenkenntnisse auf die europäische Wirtschaft unter-
suchen. Die Studie kann als der erste systematische Versuch gelten, den öko-
nomischen Nutzen von Sprachkenntnissen für europäische Unternehmen zu
quantifizieren. In ihr wurden 2 000 exportorientierte kleine und mittlere Unter-
nehmen (KMU) aus 29 europäischen Ländern (inkl. EU-Aufnahmekandidaten)
in Bezug auf die Relevanz von Fremdsprachenkenntnissen, entgangenen Auf-
trägen aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und die Prognosen für den zu-
Die Studie legt nahe, dass die Investitionen der KMU in Sprachen bzw. sprach-
bezogene Strategien, ihre Exportorientierung und ihre Produktivität zusam-
menhängen. Zudem wurde festgestellt, dass 11% der befragten Unternehmen
schon die Erfahrung gemacht hatten, dass ihnen ein Auftrag aufgrund man-
gelnder Sprachenkenntnisse entgangen war. Das Volumen der Aufträge ran-
gierte dabei zwischen 1 Mio. € und 13,5 Mio. €. Im Durchschnitt ergab sich
über einen Zeitraum von drei Jahren für jedes der Unternehmen ein Verlust
von 325 000 €. Dies bezieht jedoch lediglich die Fälle ein, in denen die Unter-
nehmen selbst die Sprachenproblematik als Ursache für den Misserfolg ansa-
hen. Die Studie zeigt weiter, dass vielen KMU die Sprachenproblematik be-
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wusst ist. Dies manifestiert sich vor allem darin, dass in 15 von 29 Ländern
mindestens die Hälfte der Befragten in irgendeiner Weise Maßnahmen ergrif-
fen haben, um die Kommunikation mit Kunden und Zulieferern im Ausland
zu verbessern oder effektiver zu gestalten. Zu den häufig genannten Maßnah-
men gehören die Einstellung von Muttersprachlern, die Anpassung von Web-
seiten, der Einsatz von Dolmetschern und Übersetzern sowie Sprachkurse für
die Mitarbeiter.
Wie erwartet spielt Englisch eine große Rolle für alle Unternehmen. Vor al-
lem große, multinationale Unternehmen versuchen, Englisch als Firmenspra-
che einzuführen. Zudem geben 19% der KMU, die aufgrund von Sprachpro-
blemen Aufträge verloren hatten, an, dass mangelnde Englisch-Kenntnisse in
Wort und Schrift die Ursache dafür gewesen seien (ELAN 2006, S. 18). Ne-
ben Englisch werden jedoch auch eine ganze Reihe anderer Sprachen als
Grund genannt: Deutsch, Französisch, Italienisch, Russisch und Chinesisch.
Zudem gaben 38% der Befragten in der Studie auch mangelnde Kompetenz
in „other language situations“ als Grund an, wobei unklar bleibt, ob in dieser
Kategorie andere Kommunikationssituationen oder aber andere Sprachen als
die genannten zusammengefasst wurden (möglicherweise beides). Somit
könnte auch noch eine Reihe anderer Sprachen für exportorientierte KMU
eine Rolle spielen.
Branche Anzahl
Industrietechnik 2
Gastgewerbe 1
Dienstleistung 6
Unternehmens-/Personalberatung 6
Spedition und Handel 6
Rechtsanwalt 3
Ingenieurwesen 4
Bildungssektor 6
Beratung 1
Soziales 1
Handwerksberufe 2
Energiewesen 2
Medizin 4
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Bauwesen 4
Textilprüfung 1
Politik 1
Musikproduktion 1
Automobilbranche 1
Informationstechnologie 3
Umweltschutz 1
Wirtschaft 3
Finanzbranche 4
Möbel 1
Biometrie 1
Industrietechnik 2
Gesamt: 65
85% der Firmen gaben an, dass die eingesetzten Mitarbeiter Muttersprachler
der verwendeten Sprachen sind. Sprachkurse und universitäre Ausbildungen
wurden von 38% der Firmen als weitere Erwerbswege genannt. Auch bei
dieser Frage waren Mehrfachnennungen zulässig, sodass eindeutige Zuord-
nungen nicht ohne weiteres möglich sind. Festzuhalten ist, dass Herkunfts-
sprachen in den Firmen sowohl von Muttersprachlern als auch von Zweit-
sprachlern verwendet werden, der Anteil der Muttersprachler jedoch deutlich
überwiegt. Wie schon in der ELAN-Studie herausgearbeitet wurde, setzen
also die befragten Unternehmen Sprachkurse, Verpflichtung externer Sprach-
mittler und den Einsatz zweisprachiger Angestellter im Verbund ein, in dieser
Erhebung jedoch mit einer deutlichen Bevorzugung der muttersprachlichen
Mitarbeiter. Auch im Zusammenhang der wirtschaftlichen Beziehungen zu
den Herkunftsregionen kann also die eingangs gestellte Frage nach einem
Bedarf an Kommunikation in den Herkunftssprachen bejaht werden. Die-
ser Bedarf wird auch durch Personen gedeckt, die Herkunftssprachen im
Rahmen ihrer Ausbildung oder später erlernt haben, etwa im Rahmen eines
universitären Studiums. Häufiger sind es jedoch Personen mit mutter- bzw.
familiensprachlichen Kenntnissen, die die Geschäftskommunikation ermög-
lichen. Wie in der Untersuchung jedoch auch festgestellt wurde, ist der Ein-
satz dieser Personen nicht immer unproblematisch. So gaben Firmen an, dass
Wortschatz, Fachsprache und kommunikative Kompetenzen der betreffenden
Mitarbeiter nicht ausreichend für die Aufgaben sind, die ihnen aufgrund ihrer
Sprachpotenziale zufallen. Es scheint also so zu sein, dass nicht das struktu-
relle Sprachwissen an sich, sondern das mit dem Sprachgebrauch zusammen-
hängende Wissen der Bereich ist, in dem Unternehmen Defizite im sprachli-
chen Handeln ihrer Mitarbeiter vermuten. Den Mitarbeitern fehlt also nicht
einfach das Wissen über sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten an sich, son-
dern auch oder insbesondere das Wissen, das für die Kommunikation in be-
stimmten fachlichen Kommunikationsbereichen benötigt wird. So gaben Fir-
men z.B. an, dass sie die Unsicherheit der Mitarbeiter mit Kenntnissen einer
Herkunftssprache, die mangelnde Aktualität ihrer Sprachbeherrschung, oder
auch den Einblick in vertrauliche Themen außerhalb der Mitarbeiterkompe-
tenz für problematisch hielten.
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1) Muttersprachler – Nichtmuttersprachler
2) Nichtmuttersprachler – Nichtmuttersprachler
3) Muttersprachler – Muttersprachler
Herr Gomes kam ins Krankenhaus, weil er in seiner Wohnung plötzlich be-
wusstlos geworden war. Im Krankenhaus wurden mehrere Untersuchungen
durchgeführt, um die Gründe für die Ohnmacht und den Sturz herauszufin-
den. Herr Gomes lag auf einer internistischen Station, wurde jedoch auch von
einer Neurologin untersucht, da er über Depressionen klagte. Aus dem Anam
nese-Gespräch mit der Neurologin, das etwa 45 Minuten dauerte, stammt der
folgende Transkript-Ausschnitt. Die Teilnehmer des Gesprächs sind die Neu-
rologin Frau Ackermann (A), der Patient Herr Gomes (P) und die portugie-
sischsprachige Krankenschwester Micaela (D), die in Deutschland aufge-
wachsen ist und in Hamburg ihre Ausbildung gemacht hat. Bezogen auf die
Aktantenkonstellation handelt es sich also um einen Mischtyp: Herr Gomes
spricht nicht-muttersprachliches Deutsch mit einer deutschen Ärztin und
muttersprachliches Portugiesisch mit der Krankenschwester, die in einer por-
tugiesischen Familie in Deutschland aufgewachsen ist. Die Sprachenkennt-
nisse der Krankenschwester sind unterschiedlich ausgebaut: Deutsch ist die
dominante Sprache von Schule, Ausbildung, Beruf und Freundeskreis; Portu-
giesisch ist die Familiensprache. Das Gespräch fand im Krankenzimmer
statt; es waren keine anderen Patienten anwesend. Der Ausschnitt beginnt
nach der Begrüßung am Anfang des Gesprächs.
1
Die Transkriptionen sind online verfügbar unter http://www.exmaralda.org/corpora/sfb_k2.html
(Stand: 04/2011).
7 P Ja, stimmt.
8 P Ja.
9 A Hm˙
10 • Seit wann ist das denn
so?
11 P • • • Seit…
12 ((3,5s)) Als ich gefalle
hab.
13 • D/ desde que eu caí. • S/ seit ich gefallen bin.
In diesem Ausschnitt lassen sich vier Arten der Interaktion feststellen: zu-
nächst die direkte Interaktion zwischen Ärztin und Patient auf Deutsch
(Z. 6-12), zweitens ein partielles Dolmetschen, bei dem einzelne Äußerungen
4. Schlussfolgerungen
Essers Vermutung, „dass das ethnische Sozialkapital, jedenfalls was den Zu-
gang zu den beruflichen Positionen betrifft, keinen besonderen Wert besitzt“
(Esser 2006c, S. 534), ist plausibel. Die Förderung des Deutscherwerbs ist ein
wichtiges Mittel, um die Integration von Migranten in das deutsche Bildungs-
system und den Arbeitsmarkt zu verbessern. Was aber bedeutet dies für die
Kommunikation mit dem Patienten Herrn Gomes? Wie in diesem Beitrag ge-
zeigt wurde, ist es soziodemografisch unsinnig, ethisch fragwürdig und in
manchen Kontexten sogar rechtswidrig, auf der Verwendung des Deutschen
zu bestehen. Deutsch ist die wichtigste Umgangssprache in Deutschland, aber
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eben nicht die einzige. Andere Sprachen sind präsent, werden verwendet und
auch benötigt. Denn: Herr Gomes wird keinen Deutschintensivkurs mehr ab-
solvieren. Die Krankenschwester, die die Kommunikation mit ihm unterstützt,
ist jedoch auf die Mittlertätigkeit nicht vorbereitet und wird selbst auch nicht
institutionell unterstützt. Die fachfremde Tätigkeit des Dolmetschens, für de-
ren Ausübung andere ein Universitätsstudium absolvieren, führt sie nebenher
aus und ohne dass sie jemand fragt, ob sie dies überhaupt möchte. Sie hat
keine Fortbildungsmöglichkeiten, ihre eigentliche Arbeit bleibt liegen, eine
Honorierung der Dolmetschleistung ist nicht zu erwarten. Möglicherweise ist
sie sprachlich auch gar nicht zu besonderen Dolmetschleistungen in der Lage,
weil ihre Zweisprachigkeit unbalanciert ist und sich ihre sprachlichen Kompe-
tenzen im Deutschen und im Portugiesischen auf verschiedene Zweckberei-
che von Sprache beziehen. Der Translationskultur, die in Beispielen wie dem
hier präsentierten sichtbar wird, liegt eine naive Auffassung der Voraussetzun-
gen zugrunde, die für eine erfolgreiche sprachliche Vermittlung nötig sind
(Meyer et al. 2003).
Auch wenn es schwierig ist, Prognosen zur Vitalität der Herkunftssprachen
abzugeben: vor dem Hintergrund von „Super-Diversity“ (Vertovec 2006)
und „Transnationalisierung“ (Pries 2008) wird die sprachliche Vielfalt
Deutschlands auch in Zukunft vermutlich eher zu-, als abnehmen. Es wäre
falsch, mittels der alleinigen Fixierung auf die Förderung und Verbreitung
des Deutschen gegen diesen Trend zu arbeiten. Vielmehr müsste es darum
gehen, neue Verfahren und Standards zu entwickeln und die vorhandenen
kommunikativen Potenziale im Deutschen und in den Herkunftssprachen
daran zu messen.
Ich würde nicht sagen, dass die alle mit mir Türkisch sprechen. Es kommt
immer auf die Situation an. Wenn ich auf Türkisch angesprochen werde, dann
unterhalte ich mich mit dem Kunden auch auf Türkisch. Aber wenn der Kunde
sich mit mir auf Deutsch unterhalten möchte, dann mache ich das auch auf
Deutsch weiter. Je nach Situation. (Meyer 2009, S. 43)
Diese Flexibilität setzt allerdings voraus, dass Mitarbeiter über die entspre-
chenden Potenziale verfügen und die jeweiligen Aufgaben auch tatsächlich in
beiden Sprachen bewältigen können. Ob dies der Fall ist, kann nicht pauschal
beurteilt werden. Vielmehr müssen die spezifischen Anforderungen an berufs-
bezogene Kommunikation reflektiert werden. Je höher diese Anforderungen
sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass zusätzliche Maßnahmen ergriffen
werden müssen, damit Mitarbeiter in beiden Sprachen gleichermaßen zweck-
mäßig handeln können. Erst durch einen solchen berufsbezogenen Ausbau der
Zwei- und Mehrsprachigkeit aber werden Herkunftssprachen tatsächlich zu
einer kommunikativen Ressource.
5. Literatur
Ahlzweig, Claus (1994): Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre
Sprache. Opladen.
Bolden, Galima (2000): Toward understanding practices of medical interpreting: in-
terpreters' involvement in history taking. In: Discourse Studies 2, 4, S. 387-419.
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Sprecher distanziert bewertet werden. Das gilt auch und besonders für die beiden
zahlenmäßig größten Sprachminderheiten, Russisch und Türkisch – und hier vor
allem für das Türkische.
Multilingualism is a social reality in Germany as well as in other countries. Differ-
ent languages, however, enjoy different levels of prestige. This article analyses at-
titudes towards other languages and their speakers. The analysis is based firstly on
data collected from a nation-wide representative poll, and secondly on a survey of
students from the 9th and 10th forms on their attitude towards languages. While
French, Italian, Spain and English are mainly considered favourably, the majority of
speakers dislike, above all, immigrant languages. This holds true in particular for
the two largest minority languages, Russian and Turkish – and here, particularly,
for Turkish.
reich und verschieden wie die Reiseziele. Doch Sprachkontakt ist nicht nur
unterwegs möglich; ein ganz anders gearteter Bereich, in dem lebensalltägli-
che Sprachkontakterfahrungen gemacht werden, ist derjenige der Medien, und
zwar der Informationsmedien ebenso wie – zweifellos in weit stärkerem Maße
– der gesamte Bereich der Unterhaltungsindustrie (von Hollywood bis Silicon
Valley), die stark angelsächsisch dominiert sind. Ein drittes, wiederum ganz
anderes Feld schließlich, in dem Sprachbegegnungen stattfinden, liegt im un-
mittelbaren Erleben von Mehrsprachigkeit im eigenen Lebensumfeld durch
den Umgang mit mehrsprachigen Personen. Mehrsprachigkeit in nennenswer-
tem Umfang ist in Deutschland (wenn man von den alten autochthonen Min-
derheitengebieten und dem Sonderfall des Niederdeutschen absehen will) ein
Resultat der Migrationen der letzten Jahrzehnte; im Bewusstsein der meisten
seiner Bürger ist Deutschland jedoch nach wie vor ein konzeptionell einspra-
chiges Land. Das hat mit der europäischen Geschichte der Nationalstaaten
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Das Erleben von Mehrsprachigkeit, d.h. die Begegnung mit anderen Spra-
chen, kann sich, wie oben skizziert, auf sehr unterschiedlichem Wege und in
sehr unterschiedlichen Kontexten vollziehen. Sieht man von den kontextuell
trivialen Fällen ab (etwa Reisen in anderssprachige Länder oder auch der
schulische Fremdsprachenunterricht), sind natürlich diejenigen Konstellatio-
nen zentral, in denen eine fremde Sprache als Trägerin eines Kommunika
tionsereignisses unmittelbar als fremde Sprache erlebt wird. Das kann in der
direkten Konfrontation mit einem Sprecher erfolgen oder in der indirekten
Teilhabe an anderssprachiger Kommunikation im öffentlichen Raum, und es
kann – sprecherungebunden – über die Rezeption anderssprachiger (und of-
fen adressierter) Kommunikate in den auch medial verschiedensten Zusam-
menhängen erfolgen (in Massenmedien ebenso wie in randständiger Alltags-
kommunikation wie beispielsweise in mehrsprachigen Bedienungsanleitun-
gen o.Ä.).
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3
Ein zentrales Interesse unseres Projekts liegt darin, Zusammenhänge zwischen der Bewer-
tung von Sprachen bzw. Varietäten auf der einen Seite und den Stereotypen über die zuge-
hörigen Sprecher auf der anderen Seite sichtbar zu machen. Für die Bewertung von Bairisch
bzw. dem „typischen Bayern“ und Sächsisch bzw. dem „typischen Sachsen“ vgl. Plewnia/
Rothe (i.Dr.).
Offenkundig hat die Zuweisung von Sympathie viel mit Bekanntheit zu tun.
Die mit Abstand am häufigsten genannten Akzente sind die der Sprachen der
großen romanischen Nachbarn des Deutschen; mehr als ein Drittel der Be-
fragten nennen den französischen, mehr als ein Fünftel den italienischen Ak-
zent. Es folgen der englische und der spanische Akzent mit jeweils knapp 10
Prozent und der niederländische Akzent mit immerhin 7,3 Prozent. Die klar
4
Die Frage war offen formuliert, d.h. es wurde keine Liste o.Ä. vorgegeben. Auf diese Weise
ist sichergestellt, dass tatsächlich aktives Wissen der Befragten (und keine Echoformen)
abgebildet wird. In den Diagrammen und Tabellen sind Einzelnennungen bzw. Kategorien
mit sehr wenigen Nennungen nicht gesondert aufgeführt.
positive Bewertung des französischen Akzents ist vor dem Hintergrund der
engen kulturhistorischen Verbundenheit von Deutschland und Frankreich
nicht sonderlich überraschend; Frankreich ist für Deutschland über Jahrhun-
derte Bezugspunkt der kulturellen Orientierung, und das Französische hat
über die ganze deutsche Sprachgeschichte einen prägenden Einfluss auf das
Deutsche ausgeübt.5 Französisch ist eine lang etablierte Schulfremdsprache,
und Frankreich ist, nicht zuletzt durch die Versöhnungspolitik seit dem Zwei-
ten Weltkrieg (mit Städtepartnerschaften, Schüleraustausch usw.), aber auch
als attraktives Urlaubsland, beständig präsent. Ähnliches gilt für Italien, das
für Deutschland immer ein wichtiger Partner für kulturelle Inspirationen war
und das als „Land, wo die Zitronen blühen“ aus deutscher Perspektive immer
wieder zum Sehnsuchtsort stilisiert wurde.
Dass andererseits Bekanntheit allein keine Garantie für eine positive Bewer-
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tung ist, sieht man an der Tatsache, dass sich die deutliche Mehrzahl der Nen-
nungen auf die Akzente der größeren westeuropäischen Nachbarn (Spanien
eingeschlossen) konzentriert. Die Akzente der größten Sprachminderheiten in
Deutschland hingegen, nämlich Russisch und Türkisch, werden erst an achter
(russischer Akzent: 4,4 Prozent) bzw. zehnter Stelle (türkischer Akzent: 3,2
Prozent) genannt. Aus diesen niedrigen Werten lässt sich nun aber nicht etwa
schlussfolgern, dass die jeweils zirka drei Millionen Sprecher des Russischen
und des Türkischen in Deutschland6 für die Mehrheit der Befragten so wenig
präsent sind, dass sie sich einer aktiven Bewertung entzögen. Darauf deutet
Diagramm 2 auf der folgenden Seite hin, in dem die Antworten auf die paral-
lele Frage nach etwaigen unsympathischen Akzenten dargestellt sind.
Einen klaren Generationeneffekt sieht man auch bei der komplementären Fra-
ge nach den unsympathischen Akzenten. In der jüngeren Altersgruppe nennen
über ein Viertel der Befragten den türkischen Akzent; der Unterschied zwi-
schen der jüngeren und der älteren Altersgruppe ist hier statistisch hoch signi-
fikant. Auch beim französischen Akzent, der in der jüngeren Altersgruppe
immerhin von 8,0 Prozent der Befragten genannt wird, ist der Unterschied
zwischen der jüngeren und der älteren Altersgruppe statistisch hoch signifi-
kant; allerdings steht diesen Nennungen, anders als beim türkischen Akzent,
der höchste Wert überhaupt bei den sympathischen Akzenten (38,0 Prozent)
Auch hier gilt, dass dem französischen Akzent durchgängig die höchsten
Sympathiewerte zugeschrieben werden; im Weiteren unterscheiden sich die
7
In den Tabellen werden die Prozente bezogen auf die Zahl der Befragten ausgewiesen. Da
Mehrfachantworten möglich waren, kann die Summe der angegebenen Prozentzahlen mehr
als 100 betragen. Je mehr Einzelantworten in einer Gruppe insgesamt gegeben werden, des
to höher sind tendenziell auch die Einzelwerte.
einzelnen Teilgruppen aber zum Teil erheblich voneinander. Auf einige As-
pekte sei kurz hingewiesen: Deutliche Nachbarschaftseffekte sind bei den
„kleinen“ Nachbarsprachen mit bundesweit gesehen geringer medialer Prä-
senz zu verzeichnen. So nennen beispielsweise in den nördlichen Bundeslän-
dern (Schleswig-Holstein, Hamburg) fast ein Viertel der Befragten den däni-
schen Akzent, der in den übrigen Ländern nur eine marginale Rolle spielt.
Ähnlich, wenngleich nicht ganz so markant, sind die Verhältnisse in Bezug
auf das Niederländische: Die höchsten Werte für Deutsch mit einem nieder-
ländischen Akzent werden in den Grenzländern Niedersachsen und Nord-
rhein-Westfalen (10,6 Prozent) und den Nordsee-Anrainern Schleswig-Hol-
stein und Hamburg (12,2 Prozent) erreicht. Der Effekt ist auch beim großen
Nachbarn Italien erkennbar: In Bayern nennen 31,7 Prozent der Befragten
Deutsch mit einem italienischen Akzent (der damit fast mit dem französischen
Akzent gleichzieht), in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen hingegen
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sind es lediglich 22,7 Prozent, und in den ostdeutschen Ländern8 und im Nor-
den kommt der italienische Akzent nur auf Werte um 10 Prozent.
Auffällig ist schließlich, dass der russische Akzent in Ostdeutschland mit
(freilich vergleichsweise niedrigen) 7,2 Prozent den höchsten Wert erreicht;
das dürfte allerdings weniger mit geografischer Nähe als mit anderen Formen
alltagsweltlicher (historischer) Präsenz des Russischen zusammenhängen, die
anscheinend bei einigen Befragten zu positiven Bewertungen Anlass gibt.9
Die Nachbarschaft zu Polen wiederum schlägt sich in Ostdeutschland zumin-
dest nicht in positiven Bewertungen nieder.10
rem Anteil an der gesamten Wohnbevölkerung); doch gerade über diese Gruppe
sind, weil sie sehr heterogen ist, statistische Aussagen schwierig. Aus diesem
Grund wurde für die Schüler-Erhebung eine Mannheimer Realschule ausge-
wählt, nahe der Innenstadt, die sich durch einen weit überdurchschnittlich ho-
hen Anteil von Schülern, die familiär in Migrationskontexten stehen, auszeich-
net. Die Erhebung erbrachte 254 verwertbare Fragebögen.12 Komplementär
dazu wurde derselbe Fragebogen auch an zwei Schulen am Niederrhein einge-
setzt, an einer Realschule im Kreis Wesel und an einem Gymnasium im Kreis
Kleve, ebenfalls in den 9. und 10. Klassen; hier kamen 256 Fragebögen zusam-
men.13 Insgesamt ergab sich also ein vergleichsweise großes Sample von 510
Fragebögen; in den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse der Auswertung
derjenigen Teile des Fragebogens, die die Bewertung anderer Sprachen und
ihrer Sprecher zum Gegenstand hatten, präsentiert.14
11
Vgl. die Analysen in Gärtig/Plewnia/Rothe (2010).
12
Im soziodemografischen Teil des Fragebogens wurden die Schüler gebeten anzugeben, wel-
che Sprachen sie selbst beherrschen, verbunden mit der Möglichkeit, die eigene Kompetenz
einzuschätzen und die einzelnen Sprachen als „Muttersprache“ und „Vatersprache“ zu kenn-
zeichnen. 166 von den Mannheimer Schülern, d.h. 65,6 Prozent, gaben eine andere Sprache
als Deutsch als Mutter-/Vatersprache (oder als weitere Mutter-/Vatersprache neben Deutsch)
an.
13
Den Schulleitungen und den beteiligten Lehrkräften sei an dieser Stelle für ihre freundliche
und überaus bereitwillige Unterstützung herzlich gedankt.
14
Natürlich sind alle Aussagen zunächst einmal nur Aussagen über die drei untersuchten Schu-
len (von denen die eine ja gezielt wegen ihres vom Durchschnitt abweichenden Profils aus-
gewählt wurde) und damit – anders als bei der Repräsentativumfrage, über die oben berich-
tet wurde – nur mit Einschränkungen generalisierbar.
Die Schüler zeigen sich insgesamt auskunftsfreudiger als die Befragten der
Repräsentativumfrage, d.h. es werden insgesamt deutlich mehr Sprachen ge-
nannt. Das Grundmuster ähnelt aber im Großen und Ganzen demjenigen der
bundesweit befragten Erwachsenen. Genannt werden als erstes die großen
Nachbarsprachen Spanisch, Englisch, Italienisch und Französisch (Spanisch
mit großem Vorsprung, Französisch – vermutlich mit einem gewissen „Pflicht-
sprachen-Malus“ – weiter hinten); die weiteren Sprachen, insbesondere die
Migrantensprachen, folgen erst in größerem Abstand. Ob man den Wert für
Deutsch (8,6 Prozent) als hoch oder niedrig beurteilen will, hängt von der Per-
spektive ab; sicher hat eine Rolle gespielt, dass aus Schülerperspektive der
Begriff „Sprache“ zunächst einmal prägnant als „Fremdsprache“ verstanden
wird und der Gedanke an Deutsch nicht sehr nahe liegt.
Frage: Gibt es Sprachen, die du besonders unsympathisch findest? (bis zu drei Nen-
nungen möglich)
Ähnlich wie bei der bundesweiten Umfrage, bei deren Auswertung unterhalb
der Gesamtergebnisse regionale und altersbedingte Unterschiede nachweisbar
sind, ist natürlich auch hier mit Nähe- und Bekanntheitseffekten zu rechnen.
Aufschlussreich ist daher eine Binnendifferenzierung der Daten nach Erhe-
bungsorten, wie sie Tabelle 4 auf der folgenden Seite bietet.
nur 17,0 Prozent von den Schülern der beiden Realschulen, wo Latein ja
praktisch keine Rolle spielt; der größte Teil der Nennungen (83,0 Prozent)
stammte von den Gymnasiasten.
In Tabelle 5 sind zunächst die Antworten derjenigen Schüler, die als Mutter-/
Vatersprache keine andere Sprache als Deutsch angegeben haben, zusam-
mengefasst.
Tabelle 6 auf der folgenden Seite bietet die Antworten derjenigen Schüler, die
(auch) Russisch als Mutter-/Vatersprache angeben.
Nicht sehr überraschend ist, dass, als ein Beleg positiver Eigenbewertung,
Russisch (zusammen mit Spanisch, das in allen Gruppen vorne liegt) am häu-
figsten genannt wird. Deutsch erreicht hier mit 14,3 Prozent den höchsten
Wert von allen Teilgruppen. Dass Niederländisch nicht vorkommt, hat wiede-
rum damit zu tun, dass die meisten Russisch-Sprecher – 71,4 Prozent – aus
Mannheim kommen. Bei den unsympathischen Sprachen wird Türkisch als
Deutsch 14,3%
Positive Eigenbewertungen sind auch bei den Schülern mit Polnisch als Mut-
ter-/Vatersprache erkennbar (Tab. 7).
16
Die Zahl derjenigen, die hier Russisch als Mutter-/Vatersprache angeben, ist sehr klein
und liegt an der Untergrenze des statistisch Auswertbaren. Die tatsächliche Zahl der Rus-
sisch-Sprecher dürfte höher liegen; bei der Gruppe der Aussiedler ist nach Aussage einer
Lehrkraft zu vermuten, dass – obwohl die Befragung natürlich anonym war – Schüler, die
einem russischsprachigen Kontext entstammen, diesen aus Prestigegründen, um nicht als
„Ausländer“ wahrgenommen zu werden, nicht kenntlich machen. Analoges gilt für Pol-
nisch (Tab. 7).
17
Auch diese Gruppe ist nicht sehr groß, insofern sind die Zahlen mit Bedacht zu interpretie-
ren. Vgl. im Übrigen Anmerkung 16.
Die sehr deutliche Ablehnung des Türkischen durch die Russisch- und Pol-
nisch-Sprecher, aber auch durch die einsprachig-deutsche Mehrheit, hat kei-
ne ganz klare Entsprechung in der Gruppe der Türkisch-sprachigen Schüler
(Tab. 8).
Zwar werden hier bei den unsympathischen Sprachen Russisch an zweiter und
Polnisch (zusammen mit Chinesisch) an dritter Stelle relativ prominent ge-
nannt, doch die Zahlen sind insgesamt erheblich niedriger als in den anderen
Teilgruppen,18 und die Antipathie ist nicht so klar fokussiert. Arabisch wird
sogar von 18,8 Prozent als sympathisch bezeichnet (und nur von 8,8 Prozent
als unsympathisch).
18
Das hängt auch damit zusammen, dass die Zahl derjenigen, die zu dieser Frage keine Anga-
ben machen, mit 36,3 Prozent deutlich höher liegt als bei den anderen Gruppen (nur Deutsch:
15,0 Prozent, Russisch: 7,1 Prozent, Polnisch: 13,6 Prozent).
19
Die Vorstellung eines Kompetenzerwerbs sozusagen durch Zauberei scheint als Gedanken-
spiel für die Schüler so abwegig nicht zu sein; jedenfalls haben nur 20 Schüler (3,9 Prozent)
diese Frage überhaupt nicht beantwortet.
20
In einem Pretest hatte sich gezeigt, dass der Begriff „Sprache“ zumindest im schulischen Kon-
text im ersten Zugriff überwiegend prägnant als „Fremdsprache“ gelesen wird; der Status von
Deutsch war daher vielfach unklar. Für die Mehrheit der Schüler – auch für diejenigen mit ei-
ner anderen (oder weiteren) Muttersprache als Deutsch – war die Kompetenz im Deutschen so
selbstverständlich, dass an Deutsch in diesem Zusammenhang nicht gedacht wurde. Um sol-
che Missverständnisse – und entsprechende Unklarheiten bei der Auswertung – zu vermeiden,
wurde Deutsch dann explizit ausgeschlossen. (Deutsch wurde dann auch tatsächlich von nur
einem Schüler genannt.) Allerdings ergibt sich aus dieser Festlegung eine gewisse interpreta-
torische Schwierigkeit in Bezug auf die Fälle, in denen Schüler mit einer anderen Mutterspra-
che diese nennen bzw. gerade nicht nennen (vgl. unten Anmerkung 24).
zeigt, dass auch Englisch von seiner ökonomischen und politischen Bedeu-
tung profitiert, während umgekehrt Italienisch zwar für 33,5 Prozent der
Schüler sympathisch ist, sich aber nur 24,5 Prozent wünschen, es perfekt zu
können.
Türkisch, Russisch, Arabisch und Polnisch werden erst mit größerem Abstand
als Wunschsprachen genannt. Natürlich spiegelt sich auch hier die Zusam-
mensetzung der Stichprobe wider, insofern mit dem Effekt der positiven Ei-
genbewertungen der Minderheiten zu rechnen ist; die Tabellen 9 bis 12 zeigen
daher die Ergebnisse wieder gesondert nach den einzelnen Sprechergruppen.
Gewünschte Sprachen
Englisch 82,0%
Spanisch 67,3%
Französisch 43,1%
Italienisch 25,8%
Niederländisch 15,7%
Chinesisch 13,1%
Russisch 8,2%
Türkisch 5,2%
Polnisch 4,6%
Gewünschte Sprachen
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Englisch 78,6%
Russisch 71,4%
Spanisch 50,0,%
Französisch 35,7%
Chinesisch 14,3%
Portugiesisch 14,3%
Am häufigsten genannt wird auch hier Englisch (etwas häufiger als im Ge-
samtdurchschnitt, etwas seltener als in der Gruppe der Nur-Deutsch-Mutter-
sprachler); es folgt mit 71,4 Prozent Russisch. Diese sehr positive Eigenbe-
wertung zeugt von einer hohen Sprachloyalität zumindest der befragten
Schüler.24 Spanisch und Französisch werden seltener gewünscht; Türkisch
und Polnisch werden von keinem einzigen Schüler genannt.
22
Für Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und Griechisch ist dasselbe Muster erkennbar; da die
Zahlen insgesamt jedoch sehr klein sind, werden sie hier nicht im Detail referiert. Arabisch
wird nur von 1,0 Prozent der Befragten genannt.
23
Zum Problem der niedrigen Probandenzahl vgl. oben Anmerkung 16.
24
Dass Russisch hier vergleichsweise oft gewünscht wird, könnte auch damit zu tun haben,
dass die eigene Kompetenz von den Schülern als defizitär wahrgenommen wird; diese Deu-
tung würde auch zu den Untersuchungen von Tanja Anstatt zu den Spracheinstellungen von
russischsprachigen Jugendlichen passen (vgl. Anstatt i.d.Bd., Kap. 2.1). Damit ist natürlich
noch nichts über die Sprachloyalität der anderen Gruppen gesagt. Die Tatsache, dass Tür-
kisch von den türkischsprachigen Schülern weniger häufig gewünscht wird als Russisch von
den russischsprachigen Schülern, wäre demnach nicht ein Indiz für eine geringere
Sprachloyalität der türkischsprachigen Schüler, sondern würde eher daran liegen, dass die-
Gewünschte Sprachen
Spanisch 63,6%
Englisch 59,1%
Polnisch 50,0%
Französisch 27,3%
Chinesisch 27,3%
Italienisch 13,6%
Russisch 9,1%
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Arabisch 9,1%
Türkisch 4,5%
In dieser Gruppe (und nur in dieser) ist Spanisch noch vor Englisch die meist-
genannte Sprache; Polnisch hat mit 50,0 Prozent den dritten Platz inne. Fran-
zösisch und Italienisch werden seltener genannt als im Gesamtdurchschnitt,
Chinesisch deutlich und Arabisch etwas häufiger.25
Bei den Türkisch-Sprechern steht wiederum Englisch vor Spanisch; das Tür-
kische wird häufiger als im Durchschnitt und als bei allen anderen Gruppen
genannt (Tab. 12 auf der folgenden Seite).
Allerdings wird Türkisch hier nur von 41,3 Prozent der Türkisch-Sprecher
genannt; das ist zwar wesentlich mehr als in allen anderen Gruppen, aber für
eine Eigenbewertung erstaunlich niedrig. Deutlich häufiger genannt wird
auch Arabisch (25,0 Prozent gegenüber 6,3 Prozent im Gesamtdurchschnitt),
seltener hingegen Italienisch (15,0 Prozent gegenüber 24,5 Prozent im Ge-
samtdurchschnitt). Russisch (6,3 Prozent) und besonders Polnisch (1,3 Pro-
zent) liegen jeweils deutlich unter den Durchschnittswerten und auch unter
den Werten der Gruppe der Nur-Deutsch-Muttersprachler.
sen ihre Türkisch-Kompetenz vielfach so selbstverständlich ist, dass sie sozusagen nicht
gewünscht zu werden braucht. (Aus diesem Grund wurde Deutsch auch explizit aus den
wünschbaren Sprachen ausgeschlossen.)
25
Allerdings ist auch hier bei der Interpretation die relativ niedrige Probandenzahl zu berück-
sichtigen.
Gewünschte Sprachen
Englisch 71,3%
Spanisch 55,0%
Türkisch 41,3%
Französisch 41,3%
Arabisch 25,0%
Italienisch 15,0%
Chinesisch 15,0%
Russisch 6,3%
Obgleich mit dieser Frage durchaus andere Dinge abgefragt wurden als mit
den Sympathie-Fragen, sind ähnliche Muster erkennbar. Für diejenigen, die
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nur Deutsch als Muttersprache haben, sind offenbar vor allem die großen
(west-)europäischen Sprachen attraktiv; die Sprachen der in Deutschland prä-
senten Migranten werden nur selten als Wunschsprachen genannt. Deren
Prestige ist auch innerhalb der anderen Teilgruppen sehr unterschiedlich ver-
teilt. Selbst bei den Eigenbewertungen gibt es deutliche Differenzen; am nied-
rigsten sind hier die Werte der Sprecher des Türkischen.
5. Sprachgefallen
Die bisher vorgestellten Fragen waren offen formuliert, d.h. die Probanden
konnten und mussten bei ihren Antworten eigene Formulierungen wählen. Auf
diese Weise ist es möglich, aktiv präsente Wissensbestände abzufragen. Die
Auswertung offener Fragen ist jedoch vergleichsweise mühsam, weil die Ant-
worten oft relativ heterogen ausfallen und jede Antwort einzeln erfasst und
katalogisiert werden muss. Das Verfahren stößt zudem an seine Grenzen, wenn
es darum geht, Graduierungen zu erfassen, weil die Probanden nur zwischen
Nennung und Nichtnennung entscheiden können. Aus diesem Grund wurde
den Schülern ein anders perspektivierter Fragenblock vorgelegt, bei dem für
eine Liste von Sprachen (Deutsch, Polnisch, Italienisch, Russisch, Französisch,
Spanisch, Türkisch und Englisch) jeweils auf einer Fünferskala von „sehr gut“
bis „sehr schlecht“ angegeben werden sollte, wie gut die betreffenden Spra-
chen den Schülern gefallen. Zu den Antworten lassen sich Mittelwerte bilden;26
die Ergebnisse für die hier fokussierten Sprachen zeigt Diagramm 6.
26
Dabei wird für die Diagramme für „sehr gut“ der Wert 2 gesetzt, für „gut“ 1, für „teils/teils“
0, für „schlecht“ 1 und für „sehr schlecht“ 2.
Die Mittelwerte geben bereits ein einigermaßen klar konturiertes Bild der Be-
wertung der untersuchten Sprachen. Allerdings wird durch diese Form der Dar-
stellung bei extrem unterschiedlichem Antwortverhalten innerhalb der Gruppe
eine etwaige Heterogenität verdeckt, weil positive und negative Antworten ge-
wissermaßen miteinander verrechnet werden. Tatsächlich gibt es durchaus
(wie bereits bei den bisherigen Analysen zu erkennen war) einen gewissen
Grad an Heterogenität im Antwortverhalten der Schüler. Das zeigt ein Blick
auf die Standardabweichungen zu den einzelnen Sprachen (Diagr. 7).
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Diagr. 7: Sprachgefallen/Standardabweichungen
Das Maß der Standardabweichung gibt an, wie hoch die Streuung aller Werte
um den Mittelwert ist. Je „einiger“ sich die Befragten sind, desto niedriger
fällt die Standardabweichung aus; je stärker die Antworten divergieren, desto
höher ist die Standardabweichung. In Diagramm 7 sieht man, dass die Stan-
dardabweichung bei der Bewertung des Spanischen am niedrigsten ist; auch
die Urteile über Englisch und Deutsch fallen relativ einhellig aus. Der Wert
bei Französisch dagegen ist der zweithöchste. Dies passt zu den Antworten
auf die Sympathie-Fragen (vgl. oben Diagr. 3 bzw. 4 und Tab. 4 bis 8), wo
Spanisch und auch Englisch ja durchgängig positiv bewertet wurden, Franzö-
sisch hingegen eher umstritten war. Hoch ist die Standardabweichung auch
bei Polnisch, Russisch und Türkisch, d.h. hinter den ohnehin niedrigen Mittel-
werten gibt es auch eine große Varianz im Antwortverhalten.
Die unterschiedlich hohen Standardabweichungen legen nahe, die Daten nach
Untergruppen weiter aufzuschlüsseln. Diagramm 8 bietet zunächst (analog zu
Tab. 4) eine Differenzierung nach Erhebungsorten.
29
Statistik: Spanisch: MNied=1,64 (SENied=0,05), MMa=1,62 (SEMa=0,05), t(498)=0,29, n.s.,
r=0,01; Englisch: MNied=1,79 (SENied=0,06), MMa=1,73 (SEMa=0,05), t(506)=0,71, n.s., r=0,03;
Italienisch: MNied=1,87 (SENied=0,06), MMa=2,15 (SEMa=0,07), t(499)=3,12, p<0,01, r=0,14;
Französisch: MNied=2,53 (SENied=0,08), MMa=2,82 (SEMa=0,09), t(496)=2,54, p<0,05, r=0,11;
Russisch: MNied=3,27 (SENied=0,08), MMa=3,13 (SEMa=0,08), t(485)=1,24, n.s., r=0,06; Pol-
nisch: MNied=3,4 (SENied=0,07), MMa=3,27 (SEMa=0,08), t(476)=1,24, n.s., r=0,06; Türkisch:
MNied=3,73 (SENied=0,08), MMa=3,06 (SEMa=0,1), t(464)=5,23, p<0,001, r=0,24.
30
Für Russisch und Polnisch gilt im Prinzip dasselbe, nur werden (wegen des durch das kleine
N relativ hohen Standardfehlers) die Unterschiede nicht signifikant.
Ganz anders sieht die Situation bei den Minderheitensprachen aus. Diagramm
10 zeigt die Bewertungen für das Russische. Von denjenigen, die nur Deutsch
als Erstsprache haben, wird Russisch leicht negativ bewertet (0,38); die Eigen-
bewertungen hingegen sind mit 1,92 klar positiv (und damit so hoch wie die
keiner anderen Gruppe; vgl. unten Diagr. 13). Positiv wird Russisch, in einer
Art innerslawischen Solidarität, auch von den Polnisch-Sprechern bewertet
(mit 0,59), während der Wert der Türkisch-Sprecher leicht negativ ist (0,22).
31
Statistik: ANOVA F(3, 417)=2,15, n.s., η2=0,02; Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachver-
gleiche ist signifikant.
32
Statistik: Welch F(3, 58)=171,6, p<0,001, η2=0,13; signifikante Post-hoc-Tests und entspre-
chende t-Tests: MnD=3,38 (SEnD=0,07), MPol=2,41 (SEPol=0,18), t(27)=4,98, p<0,001, r=0,69;
MnD=3,38 (SEnD=0,07), MRu=1,08 (SERu=0,08), t(38)=22,94, p<0,001, r=0,97; MRu=1,08
Der Effekt der positiven Eigenbewertung zeigt sich auch sehr deutlich beim
Polnischen. Denjenigen Schülern, die auch Polnisch sprechen, gefällt Pol-
nisch gut (1,55), alle anderen bewerten es negativ. Das gilt auch für die Rus-
sisch-Sprecher (die sich also sozusagen nicht richtig revanchieren), deren
Wert aber immerhin, abgesehen von den Polnisch-Sprechern selber, mit 0,14
der höchste ist (Diagr. 11).
Russisch und Polnisch werden also insgesamt sehr ähnlich bewertet: von der
jeweils eigenen Gruppe klar positiv, von allen anderen hingegen leicht negativ.
Das Bild, das sich für die Bewertung des Türkischen ergibt, zeigt Dia-
gramm 12 auf der folgenden Seite.
Im Prinzip zeigt sich auch hier dasselbe Muster. Die Sprecher des Türkischen
– und nur sie – bewerten das Türkische sehr positiv (mit 1,69), alle anderen
Gruppen bewerten es negativ. Beim Russischen und Polnischen waren die
Fremdbewertungen jedoch nur leicht negativ, hier sind sie klar negativ. Am
wenigsten ablehnend äußern sich noch die Schüler mit nur Deutsch als Erst-
sprache (mit 0,86), noch einmal deutlich distanzierter urteilen die Polnisch-
Sprecher (mit 1,05) und die Russisch-Sprecher (mit 1,15; dies ist der nied-
rigste Wert überhaupt von allen Teilfragen und Teilgruppen). Türkisch scheint
bei den Schülern in noch stärkerer Weise zu polarisieren, als dies bei den bei-
den anderen fokussierten Minderheitensprachen der Fall ist.
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6. Sprecherstereotype
Mit den in den bisherigen Kapiteln beschriebenen Fragen wurde versucht, die
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In Diagramm 14 auf der folgenden Seite sind die Mittelwerte37 der drei abge-
fragten Eigenschaften für den „typischen Deutschen“, den „typischen Rus-
sen“ und den „typischen Türken“ dargestellt.
39
Statistik: freundlich: Welch F(2, 968)=14,75, p<0,001, η2=0,02; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MtD=3,16 (SEtD=0,04), MtRu=2,96 (SEtRu=0,05), t(975)=3,07,
p<0,01, r=0,10; MtD=3,16 (SEtD=0,04), MtTü=2,79 (SEtTü=0,06), t(935)=5,33, p<0,001,
r=0,17; gebildet: Welch F(2, 927)=159,67, p<0,001, η2=0,17; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MtD=3,5 (SEtD=0,03), MtRu=2,88 (SEtRu=0,04), t(952)=11,46,
p<0,001, r=0,35; MtD=3,5 (SEtD=0,03), MtTü=2,48 (SEtTü=0,05), t(864)=16,93, p<0,001,
r=0,50; MtRu=2,88 (SEtRu=0,04), MtTü=2,48 (SEtTü=0,05), t(923)=6,08, p<0,001, r=0,20; tem-
peramentvoll: ANOVA F(2, 1406)=157,86, p<0,001, η2=0,18; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MtD=2,84 (SEtD=0,05), MtRu=3,59 (SEtRu=0,05), t(929)=−11,52,
p<0,001, r=0,35; MtD=2,84 (SEtD=0,05), MtTü=3,98 (SEtTü=0,05), t(959)=17,13, p<0,001,
r=0,48; MtRu=3,59 (SEtRu=0,05), MtTü=3,98 (SEtTü=0,05), t(924)=5,89, p<0,001, r=0,19.
Aufschlussreich ist es in diesem Zusammenhang auch, sich die Quote der feh-
lenden Antworten bzw. der Enthaltungen anzusehen. Bei allen Befragungen
werden einzelne Fragen von einem gewissen Prozentsatz der Befragten nicht
beantwortet. Die entsprechenden Werte sind in Diagramm 16 wiedergegeben.
11,2 Prozent keine Antwort). Für den „typischen Deutschen“ und auch für den
„typischen Türken“ sind anscheinend bei den meisten Schülern zuverlässig
abrufbare Konzepte vorhanden, während ein Bild des „typischen Russen“ bei
vielen weniger stabil verankert zu sein scheint.40
In den folgenden drei Diagrammen werden die Daten wieder nach Sprecher-
gruppen aufgeschlüsselt; in Diagramm 17 sind die Bewertungen des „typi-
schen Deutschen“ für die drei abgefragten Eigenschaften abgebildet.
Der linke Säulenblock zeigt die Mittelwerte der Antworten für das Merkmal
freundlich/unfreundlich, der mittlere für gebildet/ungebildet, der rechte für
temperamentvoll/ruhig.42 Insgesamt unterscheiden sich die Bewertungen der
einzelnen Gruppen nicht erheblich. Bei freundlich/unfreundlich sind alle Mit-
telwerte leicht im positiven Bereich (von 0,05 bis 0,22), für gebildet/ungebil-
det sind die Werte noch etwas höher (die Gruppe der Russisch-Sprecher weicht
mit einem Wert von nur 0,07 etwas ab, leidet aber auch, weil sie relativ klein
ist, unter einem höheren Standardfehler). Analoges gilt für temperamentvoll/
ruhig, wo die Werte, diesmal leicht im nominell negativen Bereich, ebenfalls
sehr eng beieinander liegen (0,06 bis 0,23).
Das Bild des „typischen Deutschen“ ist also, zumal wenn man die geringe
Zahl der fehlenden Werte mitberücksichtigt (vgl. Diagr. 16), insgesamt ziem-
lich konsensuell. Bei den Bewertungen des „typischen Russen“ (Diagr. 18)
gibt es hingegen auffällige Unterschiede.
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Mehrfachvergleiche ist signifikant; gebildet: ANOVA F(3, 412)=1,96, n.s., η2=0,01; Post-
hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant; temperamentvoll: Welch F(3,
37)=0,24, n.s., η2=0,002; Post-hoc-Tests: Keiner der Mehrfachvergleiche ist signifikant.
42
„D“: Schüler, die nur Deutsch als Erstsprache angeben, „R“: Schüler, die (auch) Russisch als
Erstsprache angeben, „P“: Schüler, die (auch) Polnisch als Erstsprache angeben, „T“: Schü-
ler, die (auch) Türkisch als Erstsprache angeben.
43
Statistik: freundlich: ANOVA F(3, 386)=8,43, p<0,001, η2=0,06; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MnD=3,19 (SEnD=0,06), MRu=1,93 (SERu=0,20), t(292)=4,42,
p<0,001, r=0,25; MRu=1,93 (SERu=0,20), MTü=3,03 (SETü=0,12), t(86)=3,94, p<0,01,
r=0,39; gebildet: ANOVA F(3, 368)=10,98, p<0,001, η2=0,08; signifikante Post-hoc-Tests
und entsprechende t-Tests: MnD=3,2 (SEnD=0,05), MRu=1,93 (SERu=0,29), t(276)=5,37,
p<0,001, r=0,31; MRu=1,93 (SERu=0,29), MPol=2,91 (SEPol=0,13), t(18)=3,12, p<0,01,
haben und dass dies im besonderen Maße für das Türkische gilt (vgl. oben
Diagr. 12). Dieser Sachverhalt zeigt sich auch sehr deutlich bei der Bewertung
der Sprecherstereotype. Diagramm 19 bildet die Bewertungen für den „typi-
schen Türken“ nach Sprechergruppen ab.
Das Muster für den „typischen Türken“ ähnelt im Prinzip demjenigen für den
„typischen Russen“, mit dem Unterschied allerdings, dass die Distanzen zwi-
schen Eigenbewertungen und Fremdbewertungen bei den Merkmalen freund-
lich/unfreundlich und gebildet/ungebildet erheblich größer sind, weil die Fremd-
bewertungen noch entschiedener im negativen Bereich liegen.45 Der Vergleich
der Diagramme 18 und 19 zeigt, dass die einzelnen Gruppen mit einem sehr
unterschiedlichen Prestige ausgestattet sind und dass auch das Verhältnis der
Minderheiten untereinander nicht symmetrisch ist. Der „typische Deutsche“ be-
kommt einvernehmlich von allen Gruppen eine tendenziell positive Bewertung.
Klare Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdbewertungen gibt es hingegen
beim „typischen Russen“ und beim „typischen Türken“. Der „typische Russe“
wird (bezogen auf die Fremdbewertungen) leicht, der „typische Türke“ klar ne-
gativ bewertet. Insbesondere gibt es eine Asymmetrie innerhalb der Minderhei-
ten. Besonders negative Bewertungen erfährt der „typische Türke“ von den
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Russisch- und den Polnisch-Sprechern, d.h. die Russisch- und die Polnisch-
Sprecher bewerten den „typischen Türken“ noch einmal deutlich negativer, als
die Türkisch-Sprecher den „typischen Russen“ bewerten.
Diagramm 20 auf der folgenden Seite bietet noch einmal eine Gegenüberstel-
lung der Eigenbewertungen.
1) Von den zirka 5 000 bis 6 000 Sprachen der Welt ist für die Sprecher in
Deutschland nur ein sehr kleiner Teil – einige Dutzend – kognitiv und so-
zial relevant. Für diese wenigen Sprachen zeigt sich allerdings bezüglich
des Prestiges ein ziemlich klares Muster. Bei der im Rahmen unseres Pro-
jekts durchgeführten Repräsentativumfrage werden auf die offene Frage
nach sympathischen fremdsprachigen Akzenten dominant die Sprachen
der großen (west-)europäischen Nachbarn des Deutschen (Französisch,
Italienisch, Englisch, Spanisch) genannt; bei den unsympathischen Akzen-
ten entfällt eine größere Zahl von Nennungen auf Russisch, Türkisch und
Polnisch. Dieses Muster bestätigt sich grosso modo bei den von uns be-
fragten Schülern.
2) Zu ganz ähnlichen Ergebnissen führt bei den befragten Schülern auch die
Aufforderung, eine Reihe vorgegebener Sprachen zu bewerten; besonders
schlecht schneiden wiederum die Sprachen der größeren Migrantengrup-
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pen ab. Dasselbe Muster erbringt die Frage nach Sprecherstereotypen: der
„typische Deutsche“ wird im Schnitt positiv, der „typische Türke“ im
Schnitt negativ bewertet.
3) Differenziert man die Antworten nach Sprechergruppen, zeigt sich ein
mehrschichtiges Bild. Einerseits sind die Selbstbewertungen durchgängig
positiv. Andererseits gelten die Negativstereotype, die die Mehrheitsgruppe
gegenüber den einzelnen Minderheiten zeigt (die Deutsch-Sprecher bewer-
ten die Türkisch- und die Russisch-Sprecher negativ), auch für gerade diese
Minderheiten (d.h. auch die Türkisch-Sprecher bewerten die Russisch-
Sprecher negativ und umgekehrt). Die am stärksten negativen Bewertungen
entfallen konsequent auf das Türkische bzw. den „typischen Türken“.
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Die »türkischen
Powergirls«
Lebenswelt und kommunikativer
Stil einer Migrantinnengruppe in
Mannheim
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