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Bosnien-Herzegowina
und Österreich-Ungarn,
1878–1918
Lizenziert für UB_Wien am 20.03.2023 um 17:57 Uhr
Herausgegeben von
Milka Car, Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk,
Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler
Band 24 • 2018
Bosnien-Herzegowina und
Österreich-Ungarn, 1878–1918
Lizenziert für UB_Wien am 20.03.2023 um 17:57 Uhr
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ISSN 1862-2518
ISBN 978-3-7720-8604-5
Inhalt
INTRO
Clemens Ruthner
Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie. Eine Einführung......................... 15
Tamara Scheer
„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“. Zu begrifflichen
Zuschreibungen Bosnien-Herzegowinas im österreichisch-ungarischen
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Staatsverband, 1878–1918..................................................................................... 45
VORGESCHICHTEN
Martin Gabriel
Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone zwischen
Habsburg und Hoher Pforte, 1688–1869............................................................ 61
Raymond Detrez
Zurückhaltung und Entschlossenheit. Zur Vorgeschichte der k. u. k.
Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878......................................................... 77
Imre Ress
„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“. Die Haltung
Ungarns zu Bosnien-Herzegowina bis zur Ära Kállay................................... 99
ÜBERNAHMEN
Clemens Ruthner
Besetzungen (1). Die Invasoren und Insurgenten des
Okkupationsfeldzugs 1878 im kulturellen Gedächtnis................................. 123
Robert J. Donia
„Proximate Colony“. Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-
ungarischer Herrschaft........................................................................................ 147
Aydın Babuna
Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr
Nationalismus........................................................................................................ 163
Valeria Heuberger
Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina
unter österreichisch-ungarischer Herrschaft (1878–1914).......................... 193
Dennis Dierks
Der Savindan. Zur Konstruktion eines nationalen Gedenktages im
imperialen Kontext des habsburgischen Bosnien-Herzegowina............... 211
Carl Bethke
Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina.
Überblick mit ‘bosniakischen’ Perspektiven.................................................. 237
Maximilian Hartmuth
Amtssprache Maurisch? Zum Problem der Interpretation des
orientalisierenden Baustils im habsburgischen Bosnien-Herzegowina... 251
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ABBILDER
Clemens Ruthner
Besetzungen (2). Anverwandlung der Orte, Neuformatierung der
Fremde(n)................................................................................................................ 269
František Šístek
Der slawische Halbmond
Tschechische Darstellungen bosnisch-herzegowinischer Muslime in
Literatur, Reiseberichten und Memoiren (1878–1918).................................. 279
Johannes Feichtinger
Nach Said. Der k. u. k. Orientalismus, seine Akteure, Praktiken und
Diskurse................................................................................................................... 307
Reinhard Johler
Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Institutionalisierung
der österreichischen Volkskunde als Wissenschaft...................................... 325
Nedad Memić
„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“. Zur
Internationalisierung des bosnischen Wortschatzes nach der k. u. k.
Okkupation............................................................................................................. 359
Vahidin Preljević
„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“. Literatur, Kultur und
Widersprüche der imperialen Konstellation im habsburgischen
Bosnien-Herzegowina um 1900......................................................................... 373
Stijn Vervaet
Serbischer Okzidentalismus? Anti-westliche Rhetorik in Bosnien-
Herzegowina während der österreichisch-ungarischen Besatzung.......... 391
Anna Babka
„Das war ein Stück Orient“. (Post-)koloniale Ambivalenzen und
Fantasien in Robert Michels Die Verhüllte....................................................... 407
Riccardo Concetti
Robert Michel, oder: Wie die literarische Entdeckung Bosniens-
Herzegowinas weder zu Ruhm noch zu politischer Hellsicht führen
kann.......................................................................................................................... 423
NACHWIRKUNGEN
Franziska Zaugg
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EPILOG
Martin A. Hainz
„Schau‘n gut aus“. Skizze zur Begriffslogik von Kolonie und Provinz....... 531
2018 jähren sich neben anderen Eckdaten der europäischen Geschichte wie
1918, 1938 oder 1968 auch drei einschneidende Ereignisse für Bosnien-Herze-
gowina: Nachdem der sog. Berliner Kongress der kontinentalen Großmächte
im Juli 1878 das Mandat dazu erteilt hatte, wurde die damals osmanische Pro-
vinz (Vilâyet-i Bosna) noch im selben Sommer und Herbst von österreichisch-
ungarischen Truppen besetzt. 1908 annektierte dann die Habsburger Monarchie
Bosnien und die Herzegowina und löste damit eine schwerwiegende internati-
onale Krise aus. Im Herbst 1918 endete schließlich die k. u. k. Herrschaft in der
Region mit dem Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs und
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1 Abgesehen von zwei Tagungen in Wien (ÖAW, Dez. 2008) und Sarajevo (Filozofski
Fakultät, April 2009), die von Autoren des vorliegenden Sammelbandes mit initiiert wor-
den sind und so gewissermßen die Keimzelle für die vorliegende Publikation darstellen.
2 Dies ist auch der Titel eines in den USA veröffentlichten Sammelbands, als dessen
deutschsprachige Fortsetzung sich der vorliegende versteht: Ruthner, Clemens / Reynolds
zug von 1878 selbst, der den größten k. u. k. Militäreinsatz zwischen der Schlacht
von Königgrätz (1866) und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) darstellt.
Gefragt wurde bereits im „Intro“ betitelten Anfang des Sammelbandes nach der
Anschlussfähigkeit des Paradigmas der Kolonie, des Kolonialismus bzw. des Ori-
entalismus für die besetzten Gebiete. Die historische wie theoretische Auseinan-
dersetzung mit diesen Begriffen soll die Leser(innen) in die Lage versetzen, die
Aussagekräftigkeit der folgenden Fallstudien zu beurteilen, die sich in drei Ab-
schnitte gliedern: Darin werden die Auswirkungen der Okkupation sowohl im
politischen bzw. sozialen Feld („Übernahmen“ wie etwa in der Administration,
der Siedlungs- und Religionspolitik etc.) als auch im symbolisch-ästhetischen
Raum („Abbilder“) beschrieben – wobei der kolonialen Formatierung des Frem-
den in kulturellen Repräsentationen (Literatur, Volkskunde, Architektur und
anderen Medien), wie insgesamt der k. u. k. Identitätspolitik und den einheimi-
ÖKV Sarajevo für die Subvention und den Vertrauensvorschuss in Hinblick auf
die Relevanz unseres Unterfangens. Komplementär dazu sei allen Leser(inne)n
eine anregende Lektüre gewünscht und der Hoffnung auf Feedback, ja auf Fort-
setzung dieser Diskussionen Ausdruck verliehen: Viele der hier vorgebrachten
Gedanken und Fallbeispiele verstehen sich als erste Skizzen und Denkanstöße,
in denen vermutlich noch das Potenzial für etliche Detailstudien (Forschungs-
projekte, Monografien, Dissertationen o. ä.) steckt.
Wien/Graz, im Sommer 2018
6 Vgl. Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur impe-
rialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018
(= Herrschaft – Kultur – Differenz 23).- Dieser Monografie sind auch die (überarbeiteten)
Beiträge von Clemens Ruthner zu diesem Sammelband entnommen.
7 Der von ihm initiierten und mitorganisierten Tagung Naša Bosna – Bečka škola vom
21. April 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo verdanken wir
mehrere Beiträge zum vorliegenden Sammelband.
Eine Einführung
gen Bögen über grünklare Flüsse, trotzige Burgen und Klöster mit dem mattgoldenen
Glanz ihrer Heiligenbilder – ein Stückchen Orient im Gebirge und in der Nachbar-
schaft des Mittelmeers – das ist Bosnien-Herzegowina, kaum eine Halbtagsreise von
Mitteleuropa entfernt!
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren dies unwahrscheinlich rückständige und
verwahrloste Provinzen, selbst dem Türkischen Reiche entfremdet und irgendwie
unheimlich. Trotzdem wurden die Österreicher, als sie 1878 als Okkupanten kamen,
keineswegs gut, sondern mit Mißtrauen empfangen. Dieses Mißtrauen wurde jedoch
im Laufe der nächsten 40 Jahre abgebaut. Der Monarchie gelang es, durch eine vor-
bildliche Administration[,] korrektes und gerechtes Verhalten und viel Geduld sowie
durch technische Leistungen das Vertrauen der Bosnier immer mehr zu gewinnen.
Es war ein weiter Weg, der von den ehemaligen Insurgenten zu den treuesten Regi-
mentern der k. u. k. Armee führte – er dauerte nur 40 Jahre, aber er war in seiner Art
wunderbar. Als es 1918 zum endgültigen Zusammenbruch kam, der zur chaotischen
Nachkriegslage führte, wurde von den Bosniern oftmals der österreichischen Ver-
waltung mit leiser Wehmut gedacht, weil sie Recht und Ordnung garantiert hatte.1
werden –, sondern auch die Ungarn als imperiale Partner der österreichischen
Besatzung sind verschwunden. Vergessen wird ebenso, dass viele Soldaten, die
Bosnien-Herzegowina 1878 besetzten, selber Südslawen waren. Dafür wird die
Erfolgsgeschichte erzählt, wie aus rückständiger Wildnis ‘Zivilisation’ wird –
so sehr, dass die neuen bosnischen Untertanen förmlich betrübt sind, als ihre
Besatzer sie wieder verlassen.
Hier wird offenkundig die postimperiale Trauerarbeit jener, die der Herr-
schaft verlustig gegangen sind, auf die Beherrschten rückprojiziert, ganz im
Sinne von Svetlana Boyms Definition, wonach Nostalgie „a longing for a home
that no longer exists or has never existed“ sei, „yet the moment we try to repair
‘longing’ with a particular ‘belonging’.“2 Heute ist dieses Narrativ freilich auch
in Bosnien-Herzegowina durchaus anschlussfähig, gibt es doch dort die Flos-
kel der Großeltern-Generation vom Švabo babo, dem netten „schwäbischen“ (=
‘deutschen’) Väterchen – Kaiser Franz Joseph? –, dem all die schönen k. u. k.
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2 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001, p. 13.
3 Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Ger-
many, 1770–1870. Durham, London: Duke University Press 1997, p. 4, vgl. auch p. 2.
4 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India. Chicago: University of Chicago Press 1992,
p. 10.
Für welche Herangehensweise man sich auch entscheiden mag, handelt es sich
beim historischen Kolonialismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg um eine
der sichtbarsten Auswirkungen eines zeitgenössischen Imperialismus kapita-
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listischer Prägung, der der Welt bis heute zwei Gesichter zeigt(e):7 Zum einen
steht er für militärische Eroberung und Fremdherrschaft über Menschen ande-
rer Ethnien bzw. Hautfarben, für Ungleichheit, Ausbeutung und paternalistische
Identitätspolitiken im Zeichen der „Zivilisation“, aufoktroyiert auf der Basis la-
tent oder manifest rassistischer Diskurse, die einen ‘faulen’, zurückgebliebenen
Eingeborenen8 beschwören, den es zu zähmen und erziehen gilt. Zum anderen
brachte der Kolonialismus aber auch moderne Infrastruktur und Öffentlichkeit,
5 Vgl. etwa Stoler, Ann Laura / Cooper, Frederick: Between Metropole and Colony. Ret-
hinking a Research Agenda. In: diess. (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a
Bourgeois World. Berkeley: U of California Pr. 1997, pp. 1–56, hier p. 4 u. 16.
6 Ibid., p. 5.
7 Zur Kolonialismus-Definition in Hinblick auf eine Abgrenzung von bzw. Kontextuali-
sierung mit dem Imperialismus-Begriff vgl. Balandier, Georges: The Colonial Situation.
A Theoretical Approach [1951]. In: Wallerstein, Immanuel (Hg.): Social Change. The Co-
lonial Situation. New York: Wiley 1966, pp. 34–81, hier p. 39 u.ff.; Arendt, Hannah: Ele-
mente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt/M.: EVA 1955, z. B. p. 309ff.; Said,
Edward: Culture and Imperialism. New York: Knopf 1993. London et al.: Vintage/ Ran-
dom House 1994; Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen.
München: C.H. Beck 1995, 32001 (= Wissen in der BR 2002), p. 26ff.; Reinhard, Wolfgang:
Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart: Kröner 1996, 22008 (= KTG 475), p. 1;
Hodder-Williams, Richard: Colonialism. Political Aspects. In: Smelser, Neil J. / Baltes,
Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Vol. 4.
Amsterdam et al.: Elsevier 2001, pp. 2237–2240, hier p. 2237; Young, Robert J.C.: Empire,
Colony, Postcolony. Chichester: Wiley Blackwell 2015, p. 59ff.
8 Vgl. etwa Alatas, Syed Hussein: The Myth of the Lazy Native. A Study of the Malays,
Filipinos and Javanese from the 16th to the 20th century and its function in the ideology
of colonial capitalism. London: F. Cass 1977.
neue Produkte und Lebensstile ebenso wie Pressewesen,9 Bildungs- und Rechts-
systeme, was für viele Kolonien den ersten Schritt in eine Zivilgesellschaft dar-
stellte und es jenen „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon10) paradoxerweise
ermöglichte, schlussendlich die Kolonialherrschaft gewaltsam oder auch fried-
lich abzuschütteln.
Man könnte hier in Anlehnung an die Begrifflichkeit Horkheimers und Ador-
nos11 von einer doppelten ‘Dialektik des Kolonialismus’ sprechen,12 in der einer-
seits das vorgebliche Aufklärungs- und Reformprojekt der mission cilvilatrice13
(Rudyard Kiplings „White Man’s Burden“14) in Unterdrückung und langwierige
Verwüstung der späteren Dritten Welt ausgeartet ist, dies aber andererseits
nicht nur eine Selbstentfremdung dieser Regionen nach sich zieht, sondern auch
einen wichtigen Schritt in Richtung Modernisierung und Dekolonialisierung
darstellt.
Wie im Folgenden behauptet werden soll, zeigte die Habsburger Monarchie
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9 Zur gesellschaftlichen Dynamik, die mit der Einführung bzw. Duldung ‘eingeborener’
Massenmedien – der Schaffung von „bürgerlicher Öffentlichkeit (Habermas) – ausgelöst
wird und letztendlich zur Dekolonisation beiträgt, vgl. etwa Kalpagam, Uma: Colonial
Governmentality and the Public Sphere in India. In: Journal of Historical Sociology 15
(2002), nr. 1, pp. 35–58.
10 Vgl. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde [1961]. Vorwort von Jean-Paul Sartre.
Übers. von Traugott König. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 142014 (= st 668).
11 Vgl. Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente [1947]. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verl. 1988 (= FW 7404).
12 Dies geschieht freilich unter einem anderen Vorzeichen als bei Fieldhouse, D.K.: Colonia-
lism 1870–1945. An Introduction. London: Weidenfeld & Nicolson 1981. Dieser schreibt:
„Ultimately the twin forces of imperial disillusionism and moral concern and colonial
resentment and ambition fused to generate decolonization. This was the dialectic of co-
lonialism as an historical phenomenon. In its beginnings was its end.“ (ibid., p. 49)
13 Zur „civilizing mission“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Legitimierung des Ko-
lonialismus vgl. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissio-
nen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005; Mann, Michael:
„Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral and Material
progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism as Civilizing
Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, Neu-Delhi: Anthem 2004,
pp. 1–26. Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in
France and West Africa, 1895–1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.- In Bezug auf
Österreich-Ungarn vgl. Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing
Missions in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civili-
zing Mission. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35–48.
14 Eine online-Fassung von Kiplings gleichnamigem Gedicht von 1899 findet sich in eng-
lischer und deutscher Sprache etwa unter www.loske.org/html/school/history/c19/
burden_full.pdf
15 Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.u.k.Kolonialismus’ als Befund, Befindlichkeit und
Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Habs-
kopfes (gleichsam das „österreichische Antlitz in allen Formen“ ,16 um mit Karl
Kraus zu sprechen). Dies soll nun in Form eines historischen Abrisses näher
ausgeführt werden, an den analytische Überlegungen anschließen.
Historiker Arnold Suppan, Evelyn Kolb oder Robin Okey getan haben.17 Auch
sonst weicht in der kanonisierten Geschichtsschreibung des späten 20. und frü-
hen 21. Jahrhunderts das Narrativ von der Vorgeschichte der Okkupation 1878
nicht wesentlich von den Leitlinien ab, die die renommierte Balkanhistorikerin
Barbara Jelavich und andere Forscher/innen vorgezeichnet haben:18
1875 brach auf dem Gebiet der „Europäischen Türkei“ – wie der Balkan da-
mals häufig genannt wurde – eine Revolte gegen die osmanische Herrschaft
aus; sie begann als Protest von unzufriedenen herzegowinischen Landpächtern
gegen ihre muslimischen Grundherren, der rasch eskalierte, eine große Zahl
von Opfern forderte und eine Flüchtlingswelle auslöste. Bald unterstützten
Serbien und Montenegro den Aufstand, der sich bis 1876 bis Bulgarien ausbrei-
tete. Ungeachtet der Tatsache, dass osmanische Truppen in den entbrennen-
den Kämpfen schlußendlich siegreich blieben, ging der Konflikt auch mit einer
innenpolitischen Krise der Hohen Pforte selbst einher, die einen mehrfachen
Führungswechsel – sogar in Form eines Staatsstreichs – bewirkte.19
In Anbetracht der zunehmenden Instabilität des „kranken Manns am Bospo-
rus“ und ehrgeizig imperialistischer russischer Pläne gab die Habsburger Mo-
narchie die Tradition ihrer Balkanpolitik seit den Staatskanzlern Kaunitz und
Metternich auf, die sich mit den Worten Mark Pinsons wie folgt beschreiben
lässt: „(1) to keep Russian presence and influence to a minimum and (2) to
maintain the status quo with the Ottoman administration“.20 Es gibt Anzeichen
für eine expansionistische Neuorientierung der österreichisch-ungarischen
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Bosniens und der Herzegowina auf Antrag des britischen Unterhändler Lord
Salisbury an Österreich-Ungarn abtreten musste. Artikel 25 des Berliner Ver-
trags formulierte am 13. Juli 1878:
The Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by
Austria-Hungary. The Government of Austria-Hungary, not desiring to undertake
the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and
Montenegro in a south-easterly direction to the other side of Mitrovitza, accepts the
Ottoman Administration will continue to exercise its functions there. Nevertheless,
in order to assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as free-
dom and security of communications, Austria-Hungary reserves the right of keeping
garrisons and having military and commercial roads in the whole of this part of the
ancient Vilayet of Bosnia. To this end the Governments of Austria-Hungary and Tur-
key reserve to themselves to come to an understanding on the details.23
Dies ist das vage und vorläufige Verhandlungsergebnis von Berlin, das sich
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Richard Georg Plaschka beschreibt das diplomatische Tauziehen als prélude der
gewaltsamen militärischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas als Strategiespiel
der beteiligten Länder:
Bismarck konnte für Deutschland mit Distanz agieren, hat die Rolle des proponierten
‘ehrlichen Maklers’ zu erfüllen versucht, seine Neigung zu Rußland und dessen Zaren
nicht unterdrückt, sein Verständnis in bezug auf Bosnien und Hercegovina deutlich
gemacht. Großbritannien, bemüht um Wahrung und Steigerung seiner Position im
23 Zit. n. Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648–1967. New
York: Chelsea House 1967, p. 985.- Zur österr.-ungar. Präsenz im Sandschak von No-
vipazar vgl. Scheer, Tamara: „Minimale Kosten, absolut kein Blut“. Österreich-Ungarns
Präsenz im Sandschak von Novipazar (1879–1908). Frankfurt/M. et al.: P. Lang 2013 (=
Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 5).
24 Taylor, A.J.P.: The Habsburg Monarchy 1809–1918. A History of the Austrian Empire
and Austria-Hungary [1948]. Harmondsworth: Penguin 1990, p. 166; vgl. Sugar, Peter
F.: Industrialization of Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. Seattle: Univ. of Washington Pr.
1963, p. 20ff.
östlichen Mittelmeer, geriet zum härtesten Gegenspieler Rußlands, erwog ein bri-
tisch-türkisches Bündnis, zog geschickt wie heimlich – schon vor dem Kongreß –
Fäden in Richtung seines Zugriffs auf Zypern, unterstützte aber ebenfalls und voran-
gehend die Intentionen Österreich-Ungarns. Frankreich, zurückhaltend operierend,
nahm in Anspruch, die Rechte der Christen im Orient als Schutzmacht zu vertreten,
wahr, hatte noch die offene Fragen seiner Aspirationen auf Tunis mit zu berücksich-
tigen. Italien erwies sich, um seine Machtsphären-Absichten in Richtung Albanien
zu realisieren, als zu wenig vorarbeitend und durchsetzungsfähig. Österreich-Ungarn
machte seine Wünsche in Richtung Bosnien-Hercegovina ebenso umsichtig wie nach-
drücklich deutlich.25
Barbara Jelavich indes fokussiert in ihrem Narrrativ ganz auf Andrássys wenig
triumphale Rückkehr aus Berlin:
Despite these great gains Andrássy did not receive a triumphant welcome home.
Francis Joseph among others did not like the terms of the occupation of Bosnia and
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Der französische Historiker Jean Bérenger schließlich detailliert noch mehr die
Konsequenzen von Andrássys ‘Erfolg’, den er eher als Pyrrhus-Sieg ansieht:
Elle [= l’occupation, CR] provoqua des manifestations en Hongrie. L’opinion suiv
ait avec méfiance la politique russophile d’Andrássy, qui n’était justifiée que par le
maintien du status quo dans les Balkans; le renforcement des petits États balkaniques
et l’occupation de la Bosnie rompaient cet équilibre. Elles heurtaient les sentiments
turcophiles des Hongrois et surtout l’occupation de la Bosnie accroissait le nombre
de Slaves à l’intérieur de la monarchie, tandis que la gauche manifestait son hosti-
lité à une guerre de conquête, qui coûta de nombreuses vies humaines. Les libéraux
autrichiens manifestèrent également leur désaccord à l’égard d’une opération jugée
ruineuse et inutile. Elle contribua à la chute du cabinet libéral Alfred Auersperg car
François-Joseph n’aimait pas que l’on empiétât sur son domaine réservé.27
[…] ein fruchtbares, geordnetes Land, ein Absatzgebiet für unsere Industrie, ein Gebiet
für den Schaffensgeist unserer Unternehmer; die Sicherung eines strategisch unent-
behrlichen Gebietes für die Sicherheit unserer Monarchie gegen Süden vom Meere
und vom Lande her.30
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Während sich die Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosniens und der Her-
zegowina 1878 bei den konsultierten Forscher/inne/n ziemlich konsistent aus-
nimmt, sind die unmittelbaren Beweggründe für diese letzte – und letztlich
fatale – territoriale Expansion der Habsburger Monarchie vor dem Ersten Welt-
krieg weniger eindeutig; üblicherweise werden in der Geschichtsschreibung
drei Motive genannt, hinter denen allesamt ein imperialistischer Bezugsrahmen
sichtbar wird:
1. Strategische Gründe. Hier wird angenommen, dass Österreich-Ungarn den
Bedarf verspürte, sein gefährdetes Kronland Dalmatien durch die militäri-
sche und infrastrukturelle Besetzung des bosnisch-herzegowinischen Hin-
terlands zunächst gegen das Osmanische Reich und später gegen den Pan-
slawismus bzw. serbische Expansionsgelüste abzusichern31 – wozu schon
32 Vgl. Spaits 1907, p. 83; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische
Studie. Wien: Reisser 1909, p. 5.
33 Vgl. Sugar 1963, p. 26; Pinson 1994, p. 119; Malcolm 1996, p. 136.
34 Wertheimer 1913, p. 144.
35 Bérenger 1997, p. 255; vgl. Malcolm 1996, p. 136; Kolm 2001, pp. 18 f., 105 f., 244 ff.
36 Dies wird etwa von Robin Okey 2007, p. 17, bestritten.- Die Behörden Österreich-Un-
garns waren später äußerst zurückhaltend mit Subventionen und verfügten einerseits,
dass die besetzten Gebiete sich von ihrem eigenen Einkünften zu finanzieren hätten (vgl.
dazu etwa Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österr.-ungarischen Epoche
(1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg
1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93, p. 235); auf diese Weise kamen keine großen Staats-
investitionen für die Wirtschaftsentwicklung zustande – außer für den Eisenbahnbau.
Zum Anderen waren weder die neu geschaffene k. u. k. Bergwerksbehörde noch die Bos-
na-Bergbaugesellschaft selbst in der Lage, die örtlichen Bodenschätze konsequent und
umfassend zu erschließen; auch der Informationsfluss mit privaten Investoren funkti-
onierte nicht wirklich. Details bei Sugar 1963, pp. 105 ff., 159 ff.; vgl. weiters Malcolm
1996, p. 141; Wessely, Kurt: Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina.
In: Wandruszka, Adam / Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918.
Wien: ÖAW 1973–1989, vol. 1, pp. 528–566; Lampe, John / Jackson, Marvin: Balkan Eco-
nomic History 1550–1950. From imperial borderlands to developing nation. Blooming-
ton: Indiana Univ. Pr. 1982, pp. 264–322.
37 Abtheilung für Kriegsgeschichte des k. k. Kriegsarchivs: Die Occupation Bosniens und
der Hercegovina durch k. k. Truppen im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen darge-
stellt. Wien: Verlag des k. k. Generalstabes/ W. Seidel 1879, p. 908. Ebenso finden sie auch
in einer Denkschrift von Graf Burián, einem der ehem. k. u. k. Gouverneure des Gebiets,
3. Territoriale Expansion. Diese Argumentation geht davon aus, dass nach den
erlittenen Niederlagen und Gebietseinbußen von 1859 bzw. 1866 und der
Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 die einzig verbleibende Mög-
lichkeit zu einem (kompensatorischen?) Gebietszuwachs für die Habsburger
Monarchie im Südosten des Kontinents lag, d. h. in den Rückzugsgebieten des
niedergehenden Osmanischen Reichs.38 Andere Großmächte nahmen eine
ähnliche Haltung gegenüber dem „kranken Mann Europas“ ein, was von
den meisten Historiker/inne/n gemeinhin mit dem Etikett des Kolonialismus
versehen wird: so etwa die Usurpation von Tunis durch Frankreich 1881 und
von Ägypten durch Großbritannien 1882.39
Allerdings standen auch mögliche finanzielle Nachteile auf der Kostenseite den
geopolitischen Vorteilen einer Okkupation gegenüber. Der austro-amerikani-
sche Historiker Robert A. Kann schreibt dazu:
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In financial sense the acquisition was considered not only no gain but a definite loss
[…]. Occupation was considered the lesser of two evils. It would mean bad business
economically but it might offer some relief against the threat of Balkan nationalism
and Russian-inspired Panslavism.40
Neben einer Zunahme der Ausgaben des k. u. k. Reiches sowie seiner südsla-
wischen Bevölkerung (aus letzterer sollten kroatische Herrschaftsansprüche
im Sinne eines angestrebten „Trialismus“ ebenso erwachsen wie großserbi-
scher Nationalismus41), darf der Faktor nicht unterschätzt werden, dass mit
der Okkupation Bosnien und der Herzegowinas zum ersten Mal in der habs-
burgischen Geschichte eine signifikante muslimische Gemeinschaft Teil der
österreichisch-ungarischen Gesellschaft und Kultur wurde.42 Diese neue Be-
völkerungsgruppe bestand keineswegs aus einigen Konvertiten, sondern um-
fasste die regionalen Eliten: Landbesitzer, osmanische Funktionäre, Kleriker
und die Intelligenzija sowie etliche Kaufleute.43 Durch dieses Setting waren die
in Bosnien-Herzegowina zunehmend ethnisierten religiösen Differenzen eng
Erwähnung; vgl. Burián, Stephan Graf: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im
Kriege. Berlin: Ullstein 1923, p. 223.
38 Vgl. Pinson 1994, p. 87; Sugar 1963, p. 20; Plaschka 2000, vol I, p. 89.
39 Vgl. Hösch 2002, p. 137.
40 Kann, Robert A.: Trends Towards Colonialism in the Habsburg Empire, 1878–1918. The
Case of Bosnia-Herzegovina, 1878–1914. In: Rowney, D.K./ Orchard, G.E. (Hg.): Russian
and Slavonic History. Columbus OH: Slavica Publ. 1977, pp. 164–180, hier p. 168.
41 Vgl. Jelavich 1983, p. 60.
42 Vgl. Pinson 1994, p. 9.
43 Vgl. Donia 1981; Pinson 1994; Neweklowsky, Gerhard: Die bosnisch-herzegowinischen
Muslime. Geschichte, Bräuche, Alltagskultur. Unter Mitarbeit v. Besim Ibišević and Žarko
Bebić. Klagenfurt, Salzburg: Wieser 1996 (= Austrian-Bosnian Relations 1).
mit sozialer Hierarchie verflochten, zumal die Mehrheit der freien Bauern und
abhängigen Landpächter (kmetovi) christlichen Glaubens war, also entweder der
orthodoxen oder der katholischen Kirche angehörten.44 Auf diese Weise waren
alle Eingriffe der österreichisch-ungarischen Behörden in dieses problematisch
spätfeudale Netzwerk religiöser, kultureller und sozialer Differenzen von vorn-
herein heikel.
Auf der anderen Seite war die militärische Invasion Bosnien-Herzegowinas
im Sommer und Herbst 1878 keineswegs jener friedliche „Parademarsch“, den
Außenminister Andrássy der k. u. k. Armee vorausgesagt hatte;45 vielmehr han-
delte es sich um einen blutigen Eroberungsfeldzug, der von osmanischen Trup-
penresten und eilig aufgestellten lokalen Milizen der Bevölkerung heftig be-
kämpft wurde und so eine viel größere Truppenmobilisierung als ursprünglich
geplant nötig machte.46 Erst nach drei Monaten kriegerischen Konflikts, mehre-
ren tausend Toten und zigtausenden Flüchtlingen war die Okkupation zu Ende
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weiterer Folge eine grundlegende Modernisierung des Landes auf ihre Fahnen
schrieb. Federführend, einschneidend und prägend für Bosnien-Herzegowina
war hier vor allem der ungarische Reichsfinanzminister Benjamin von Kállay
(eigentlich Béni Kállay de Nagy-Kálló ), der erste Gouverneur der besetzten Ge-
biete von 1882 bis zu seinem Tod 1903.51 Rückblickend schreibt sein – ebenso
ungarischer – Nachfolger Stephan (István) Graf Burián, 1923:
Die ersten Jahre der Okkupation galten der Erschließung des Landes sowie der Her-
stellung geordneter materieller Verhältnisse und des konfessionellen Friedens. Dann
folgte die Schaffung eines verläßlichen Verwaltungsapparates, eines Straßen- und
Eisenbahnnetzes, geordneter Finanzen, eines geeigneten Schulwesens, Regelung der
komplizierten Grundbesitzverhältnisse auf Grund der bestehenden Rechtsverhält-
nisse, Ausarbeitung eines Katasters, Beginn der rationellen Ausnützung der reichen
Bodenschätze des Landes durch Einrichtung moderner Industriebetriebe.52
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Als eine von vielen Stimmen zum Thema schreibt Burián weiter, die k. u. k.
Verwaltung habe „sich durch ihre Leistungen im Lande zu Ansehen gebracht,
wenngleich sie in den Augen der Bevölkerung immerfort als Fremdherrschaft
galt“.53 Allerdings sei sie nichts anderes als das „Weiterschleppen eines Über-
gangsregimes“ gewesen.54
Das staats- und völkerrechtliche Provisorium der Okkupationszeit ging erst
1908 zuende, als Bosnien und die Herzegowina schließlich von der Habsburger
Monarchie annektiert wurden, was aufgrund der dadurch provozierten interna-
tionalen Spannungen und Proteste55 beinahe dazu führte, dass der große Krieg
von 1914 vorzeitig ausgebrochen wäre. Zugleich nehmen sich die Resultate je-
ner „Friedens- und Kulturmission“ in Bosnien-Herzegowina, die sich die Dop-
pelmonarchie bei der Okkupation 1878 auf ihre Fahnen geschrieben hatte, auch
in dieser Spätphase wenig überzeugend aus. Die politischen Spannungen in den
annektierten Gebieten nahmen als Folge (zivil)gesellschaftlicher Modernisie-
rung eher zu als ab, 1906 kam es etwa zu einem Generalstreik, 1910 zu einer Bau-
ernrevolte, und die Zustände wurden generell mehr und mehr „unhaltbar“.56 So
sind denn auch – ironischerweise, trotz und wegen aller k. u. k. ‘Kulturarbeit’ –
am 28. Juni 1914 jene beiden Pistolenschüsse auf den österreichischen Thronfol-
ger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie, die später zum Auftakt des Ersten
Weltkrieg stilisiert werden sollten, nicht zufällig in der bosnischen Hauptstadt
Sarajevo abgefeuert worden.57
Nach einem Intermezzo von Ausnahmezustand, Kriegsrecht und Krieg brach-
te der Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918 schließlich auch das
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und der Herzegowina. Übers. v. Edmund Rot. Berlin: H. Walther 1909, p. 6) Die Habsbur-
ger Monarchie sei damit „eins von diesen Räubernestern, das immer mehr und mehr die
Herrschaft über hunderttausende ihm völlig fremder Menschen slavischen Stammes an
sich reißt […]“ (ibid., p. 7).
56 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jh. München: C.H.Beck 2010, p. 48.-
Einen gut brauchbaren, detaillierten Gesamtüberblick über die 40 Jahre der österr.-ungar.
Herrschaft gibt Okey 2007.
57 Hier gibt es Kommentatoren, die das Entstehen einer radikalen Schüler- und Studenten-
schaft durch das Bildungssystem des Besatzers auch als kolonialen Zug der Geschichte
Bosniens verstehen, vgl. etwa Okey 2007, p. 136.- Zum Sarajevoer Attentat vgl. auch
Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The ‘Long Shots’ of Sarajevo 1914. Ereignis –
Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur Herrschaft Differenz 22).
58 Vgl. dazu Sirbubalo 2012 und Ruthner 2018, insbes. Teil C.3.
einem Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912, in dem er sich angesichts
der bevorstehenden Niederlage des Osmanischen Reiches in den Balkankriegen
nachdenklich gibt: „[…] die Türken verlieren, was mich dazu bringen könnte, als
ein falscher Prophet nicht nur für Soldaten, sondern für alles den Rückzug zu
predigen (es ist auch ein schwerer Schlag für unsere Kolonien) […]“.59
Auch a posteriori ist immer wieder die Frage gestellt worden, inwieweit sich
die 40 Jahre österreichisch-ungarischer Präsenz in Bosnien-Herzegowina, die
sich im Selbstbild gerne als Erfolgsgeschichte einer selbst auferlegten „Zivili-
sierungs-“ und „Europäisierungs“ mission präsentiert, innerhalb des Paradig-
mas – und Erbes – des europäischen Kolonialismus um 1900 zu sehen ist. In
den letzten 15 Jahren haben nun verschiedene Forscher/innen – nicht nur jene
des Kakanien-revisited-Netzwerks60 – die Übertragbarkeit eines ‘post/koloni-
alen’ Zugangs auf das habsburgische Zentraleuropa diskutiert, gleichsam als
dritten Weg, um den diskursiven Fallen des „Habsburgischen Mythos“61 bzw.
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der mit ihm einhergehenden Multikulti-Nostalgie („Viribus unitis“) und dem na-
tionalistischen Opfer-Narrativ („Völkerkerker“) gleichermaßen auszuweichen.
Dabei dürfte auch, wie dies verschiedentlich bereits in früheren Publikationen
angedacht wurde,62 Bosnien-Herzegowina unter allen Territorien des k. u. k. Im-
periums ein Gebiet sein, das sich einfach als Kolonie im engeren Sinne ansehen
ließe – wobei es bei Behauptungen dieser Art zwischen einer polemischen, einer
kritischen und einer affirmativen Variante zu unterscheiden gilt.
Der Kolonialismus-Vorwurf in Bezug auf die Habsburger Monarchie wurde
bereits im ersten jugoslawischen Staat etwa vom Historiker Vladimir Čorović,
einem bosnisch-serbischen Zeitzeugen der k. u. k. Zustände, erhoben.63 Dieser
auch später wiederholten Kritik wurde jedoch immer wieder – meist wegen
59 Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999
(= Schriften Tagebücher Briefe. Krit. Ausg. hg. von Gerhard Neumann u. a.), p. 192.- Mit
seiner Strafkolonie ist Kafka im Übrigen auch einer der wichtigsten post/kolonialen der
deutschsprachigen Literatur; vgl. Ruthner 2018, Kap. A.0.
60 Vgl. die diversen einschlägigen Beiträge im Webjournal www.kakanien.ac.at.
61 Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966].
Übers. von Madeleine v. Pastory. Wien: Zsolnay 32000; Cole, Laurence: Der Habsbur-
ger-Mythos. In: Brix, Emil et al. (Hg.): Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten.
Wien: Böhlau 2004, pp. 473–504.
62 Vgl. etwa Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien
revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 1); Hárs, Endre / Reber,
Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Ös-
terreich-Ungarn, 1867–1918. Tübingen: Francke 2006 (= Kultur – Herrschaft – Differenz
9); Donia 2015; Ruthner et al. 2015.- Für eine eingehendere Diskussion vgl. Ruthner 2003
bzw. Ruthner 2018, Kap. A.1.
63 Vgl. Čorović, Vladimir: Bosna i Hercegovina. Belgrad: Grafički zavod ‘Makarije’ 1925.
grounds, all of them imposed by force“;66 auf dieser Grundlage weist er die kri-
tische Anwendung dieses Paradigmas auf Bosnien-Herzegowina zurück, auch
wenn seine letztlich eurozentrischen – und habsburg-nostalgischen – Argu-
mente kaum geeignet sind, heutige Leser/innen nach dem postcolonial turn in
den Kulturwissenschaften zu überzeugen. Unter Berufung auf Hechter ist etwa
Robert Donia den umgekehrten Weg gegangen,67 ebenso Robin Okey,68 und in
Pieter Judsons jüngst erschienener „New History“ des Habsburger Reichs wird
Bosnien-Herzegowina „the empire’s lone colony – or protectorate“ genannt –
ohne das dies freilich näher erörtert würde.69
In einem Interview mit der einschlägigen Theoretikerin Gayatri Chakra-
vorty Spivak für ein slawistisches Periodikum, das sich 2003 dem innerkonti-
nentalen (russischen) Kolonialismus in Osteuropa vor, während und nach der
Sowjet-Herrschaft widmete, wird die Proteus-Natur des Phänomens heraus-
gestrichen; auch daraus wäre eine Anregung für die kritische Analyse des bos-
nisch-herzegowinischen k. u. k. Intermezzos zu gewinnen:
‘Colonizer’ and ‘colonized’ can be fairly elastic if you define scrupulously. When an
alien nation-state establishes itself as a ruler, impressing its own laws and system of
education, and re-arranging the mode of production for its own economic benefit, one
can use these terms, I think.70
70 Zit. in Ulbandus [New York] 7 (2003): Empire, Union, Center, Satellite. The Place of
Post-Colonial Theory in Slavic/Central and Eastern European/ (Post-)Soviet Studies,
p. 15.
71 Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley, Los
Angeles, London: Univ. of California Pr. 2005, p. 22.
72 Etwa bei Dedijer et al. 1974, p. 448.
73 Vgl. dazu Vervaet, Stijn: Some Historians from Former Yugoslavia on the Austro-Hunga-
rian Period in Bosnia and Herzegovina (1878–1918). In: Kakanien revisited, www.kaka-
nien.ac.at/beitr/fallstudie/SVervaet1.pdf (2004).
74 Vgl. dazu Okey 2007: 26 ff. et passim.-Dieser Diskurs wurde sogar auch von einigen His-
toriker/innen v. a. österreichischer Provenienz unkritisch wiederholt, etwa wenn Suppan
(1978, p. 128) lakonisch schreibt: „Im wesentlichen bestand eine Kultur- und Missionsauf-
gabe“.
75 Zit. n. Donia 1981, p. 14.
spiel für „the principles of liberal colonial empire across Europe in the second
half of the nineteenth century“.76
Gerade jener quasi-kolonial legitimatorische Diskurs einer österreichisch-un-
garischen mission civilatrice hat nicht nur jugoslawische, sondern auch etliche
westliche Historiker/innen77 dazu gebracht, das Kolonialismus-Paradigma kri-
tisch auch auf die Habsburger Monarchie zu übertragen. Ein frühes Beispiel
dafür ist der Brite A.J.P Taylor, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die k. u. k.
Herrschaft über Bosnien-Herzegowina polemisch bewertet:
The two provinces were the ‘white man’s burden’ [!] of Austria-Hungary. While other
European Powers sought colonies in Africa for the purpose, the Habsburg Monarchy
exported to Bosnia and Hercegovina its surplus intellectual production – administra
tors, road builders, archeologists, ethnografers, and even remittance-men. The two
provinces received all benefits of Imperial rule: ponderous public buildings; model
barracks for the army of occupation; banks, hotels, and cafés; a good water supply for
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the centres of administration and for the country resorts where the administrators
and army officers recovered from the burden of Empire. The real achievement of
Austria-Hungary was not on show: when the Empire fell in 1918, 88 per cent of the
population was still illiterate.78
2016 schreibt Judson in seiner „New History“ des Habsburger Reichs in einer
Passage, die rhetorische Züge wie den Hang zur Aufzählung durchaus mit Tay-
lor teilt, nicht unbedingt aber deren Polemik – und dabei hinter der Kolonie das
Imperium als Konzept nicht aus dem Auge verliert:
At the end of the 1870s […], Austria-Hungary became a colonial power by occupying
a piece of Ottoman territory. The resulting thirty-year occupation of Bosnia-Herzego-
vina provided bureaucrats, ideologists, map makers, technicians of all kinds, teachers,
and priests (among others) an unparalleled opportunity to realize Austria-Hungary’s
new civilizing mission in Europe. At the same time, Austria-Hungary's experience of
occupying Bosnia-Herzegovina created a consensus around the liberal civilizational
76 Judson 2016, p. 329.- Wie wir heute wissen, diente das k. u. k. Experiment u. a. auch als
Vorbild für das amerikanische Engagement auf den Philippinen (vgl. Kolm 2001, p. 238).
77 Vgl. etwa Donia 1981, pp. 12 ff.; Pinson 1994, p. 113; Detrez 2002; Okey 2007; Judson 2015.
78 Taylor 1948/90, p. 166.- In Fortführung seines Gedankengang ließen sich noch weitere
Daten ins Treffen führen: 1908 gab es landesweit in Bosnien lediglich 350 Volksschu-
len für 15 % der Kinder, 12 Gymnasien und keine Universität (Sugar 1963, p. 202). Eine
Bewertung dieser Zahlen ist freilich Ansichtssache; in der Nachfolge Taylors verteidigt
etwa der Oxforder Historiker Sir Noel Malcolm die habsburgische Bildungspolitik mit
den Worten: „[…] no government which [in forty years, C.R.] builds nearly 200 primary
schools, three high schools, a technical school and a teacher-training college can be de-
scribed as utterly negligent in its education policy“ (Malcolm 1996/2002, p. 144). Nichts-
destotrotz dürfte die hohe Analphabetenrate nach dem Ende der Habsburger Herrschaft
durchaus den Fakten entsprechen.
concepts of empire long after the liberal movement itself had faded into political
obscurity.79
Ähnlich wie Taylor äußert sich freilich schon der lothringische Sozialdemokrat
Hermann Wendel, der nach dem Ersten Weltkrieg den neuen jugoslawischen
Staat bereist und ihn als ‘europäischeren’ Rechtsnachfolger der Habsburger Mo-
narchie postkolonial preist: „Das österreichisch-ungarische Bosnien war eine
Kolonie, ein Stück Orient, künstlich von den Wiener Machthabern gehütet; der
südslawische Nationalstaat ist Europa“.80
Man könnte noch etliche weitere Beispiele geben,81 wie oft die „Kolonie“ in
zeitgenössischen Quellen als Leitbegriff für die besetzten Gebiete verwendet
wird: Ein prominentes Beispiel dafür stellt etwa Ferdinand Schmid dar, der ehe-
malige Leiter des Statistischen Zentralamts in Sarajevo, der später, als Professor
in Leipzig, eine akademische Monografie über Bosnien-Herzegowina schreibt
unter Nutzung seines alten Datenmaterials. In diesem Zusammenhang disku-
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tiert er auch die Anwendbarkeit kolonialer Konzepte auf die Habsburger Mo-
narchie:
Man hat in der deutschen und westländischen Literatur viel über den Begriff der
Kolonien gestritten und darunter häufig nur überseeische, vom Mutterlande wirt
schaftlich oder auch staatsrechtlich beherrschte Gebiete verstanden. In diesem Sinne
besitzt Österreich-Ungarn keine Kolonien und in diesem Sinne hat es – wenigstens in
der neueren Zeit – niemals Kolonialpolitik getrieben. Faßt man dagegen den Begriff
der Kolonien etwas weiter, so kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß Bosnien
und die Herzegovina von Österreich-Ungarn als Kolonialgebiete erworben wurden
und solche in der Hauptsache bis heute geblieben sind.82
Hier wird das Kolonialismus-Paradigma freilich nicht als kritischer Term ge-
handhabt, sondern affirmativ, ähnlich wie dies schon beim Berliner Journalisten
Heinrich Renner 1896 der Fall ist – aus dessen Sicht, „[w]as in diesem Lande
geleistet wurde, […] fast beispiellos in der Kolonialgeschichte aller Völker und
Zeiten“ war.83
culturally different, acting the name of a racial (or ethnic) and cultural super-
iority dogmatically affirmed“;
2. „this domination linking radically different civilisations into some form of
relationship“;
3. „a mechanized, industrialized society with a powerful economy, a fast tempo
of life, and a Christian background, imposing itself on a non-industrialized,
‘backward’ society“;
4. the fundamentally antagonistic character of the relationship between the
two societies“ [d. h. der Kolonialmacht/dem Mutterland und der Kolonie,
C.R.];
5. „the need, in maintaining this domination, not only to resort to force, but
also a system of pseudo-justification“ [d. h. z. B. die Supponierung rassischer
Ungleichheit und die mission civilatrice, C.R.].87
D.K. Fieldhouse wiederum hat in seiner Studie zum internationalen Imperialis-
mus als Kolonialismus (1981), die sich als Alternative zu marxistischer Theo-
riebildung versteht, folgende Schwerpunkte herausgearbeitet, um das Phäno-
men zu fassen: die juridische Basis, die essentiellen inneren Widersprüche der
Kolonialherrschaft, schließlich ihre Institutionen und national verschiedenen
88 Vgl. Fieldhouse 1981, p. 16.- Die äußerst problematischen Schlussfolgerungen, die Field-
house als liberaler Apologet des Kolonialismus zog (vgl. ibid., pp. 48 ff.) – nämlich, dass
dieser unumgänglich gewesen wäre und dass ohne diesen sich die Staaten der Dritten
Welt sich noch schlechter entwickelt hätten ‒ bleiben freilich dezidiert aus der folgenden
Argumentation ausgeschlossen.
89 Vgl. ibid., pp. 51–108.
90 Quellennachweise aus Balandier 1951/66 im Lauftext.
91 Balandier spricht hier – in unseren Zusammenhang nicht uninteressant – von einer „Bal-
kanization“ (ibid.).
92 Ivekovic, Rada: Die Spaltung der Vernunft und der postkoloniale Gegenschlag. In: Mül-
ler-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Eigene und andere Fremde. ‘Postkoloniale’
Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia + Kant 2005 (= Reihe Kultur.Wissen-
schaften 8.4), pp. 48–64, hier p. 57f.
93 Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Diskurse des Postkolonialen. In: Mül-
ler-Funk & Wagner 2005, pp. 9–27, hier p. 11f.
94 Zum relativ neuen Forschungsfeld des Osmanischen Reichs als Kolonialmacht vgl. Alb-
recht, Monika: Comparative Postcolonial Studies. East-Central and Southeastern Europe
as a Postcolonial Space. [Unveröff. Vertrag, gehalten auf der Tagung Memory and Post-
colonial Studies: Synergies and New Directions an der University of Nottingham, 10. 06.
2016].
Wien und Budapest eine gewählte gesetzliche Vertretung hatte.100 Ein re-
gionaler Landtag (Sabor) wurde ebenso wie eine Verfassung für die besetz-
ten Gebiete erst 1910 nach deren Annexion eingeführt;101 im Parteienzwist
wurde diese Volksvertretung jedoch rasch dysfunktional und im Zuge des
Ausnahmezustands von 1914 wie auch die meisten anderen k. u. k. Parla-
mente wieder geschlossen.102 Wie Pieter Judson schreibt: „Yet under the
95 Judson 2016, p. 330, schreibt: „The effective transmission of a civilizing mission to Eu-
rope’s East, understood in economic, social, legal, and cultural terms, represented the
culmination of a transformed Austrian imperial idea whose role now officially included
the export of its work beyond its own borders.“
96 Vgl. Fieldhouse 1981, pp. 16 ff.
97 Vgl. Classen, Lothar: Der völkerrechtliche Status von Bosnien-Herzegowina nach dem
Berliner Vertrag vom 13.7.1878. Bern et al.: P. Lang 2004 (= Rechts- und sozialwissen-
schaftl. Reihe 32).
98 Dieser Terminus wird häufig in Bezug auf Bosnien-Herzegowina verwendet, vgl. etwa
Michel, Rudolf: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und der
Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen v. Max Bucherer. Wien, Leipzig: Deutsch-Österreichi-
scher Verlag 1912; Attems, Moriz Graf: Bosnien einst und jetzt. Wien: L.W. Seidel 1913,
p. 32; u. a.- Vgl. dazu auch den Beitrag von Tamara Scheer zum vorl. Sammelband.
99 Vgl. Sugar 1963, p. 26 u. Donia 2015; vgl. auch Burián 1923, p. 226.
100 Ein amerikanischer Historiker hat deshalb in Anlehnung an die Sowjetunion vorgeschla-
gen, von einer bosnischen „satrapy“ zu sprechen; vgl. McCagg, William O.: The Soviet
Union and the Habsburg Empire. Problems of Comparison. In: Rudolph, Richard L./Good,
David F. (Hg.): Nationalism and Empire. The Habsburg Empire and the Soviet Union.
New York: St. Martin’s Pr. 1992, pp. 45–63, hier p. 50f.
101 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die Annexion von Bosnien-Herzegowina und die Probleme bei der
Erlassung des Landesstatutes. In: Südost-Forschungen [München] 68 (2009), pp. 247–297.
102 Vgl. Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. The evolution of its political and legal
institutions. Sarajevo: Magistrat 2006.
6.a Othering of the Other. Während und nach der Invasion wurde die österrei-
chisch-ungarische „Kulturmission“ als diskursives Werkzeug verwendet,
um zu rechtfertigen, dass die Herrschaft weniger demokratisch war als im
Mutterland und die Bosnier/innen dadurch zu Bürger/innen zweiter Klasse
wurden. Um wiederum die österreichisch-ungarische mission civilatrice zu
legitimieren, wurden die in Bosnien-Herzegowina lebenden Menschen im
Rahmen eines Populär-Orientalismus119 als das Fremde imaginiert, das der
Zivilisierung bedarf – wobei man sie genauso gut auch als eine Erweite-
rung von bereits auf dem Gebiet der Monarchie lebenden Volksgruppen
hätte ansehen können.120 Dies schafft eine kulturelle Ökonomie von Stereo-
typen – Ressourcen, die auch in zahlreichen literarischen und nicht lite-
rarischen Texten bearbeitet werden: „Just as imperialists ‘administer’ the
resources of the conquered country, colonialist discourse ‘commodifies’ the
native into a stereotyped object and uses him as a ‘resource’ for colonialist
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fiction“.121
6.b Identitätspolitik / invented traditions. In den mehr als zwanzig Jahren, die
der k.u.k gemeinsame Finanzminister Kállay den besetzten Gebieten vor-
stand, versuchte er ihnen eine aus der mittelalterlichen Geschichte bezoge-
ne gemeinsame ‘bosnische’ Identität (Bošnjaštvo) aufzuerlegen, um dadurch
auf einer symbolischen Gemeinschaftsebene die politischen Partikularbe-
wegungen der Muslime, Orthodoxen und Katholiken zu bekämpfen:122 iden-
tity politics, wie sie auch als Herrschaftsinstrument aus kolonialen Kontex-
119 Vgl. dazu die These eines doppelten bzw. ‘schizophrenen’ österreichischen Orientalis-
mus, der Bosnien als den (reformierbaren) ‘nahen Orient’ und das Osmanische Reich als
wesensfremden, bedrohlichen ‘fernen Orient’ imaginiert, bei Heiss, Johann / Feichtinger,
Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In:
Hodkinson, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History: From Ger-
many to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148–165.
120 Vgl. etwa Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethno-
grafischen Populärliteratur der Habsburger Monarchie. In: Feichtinger et al. 2003, pp.
259–288; Sirbubalo, Lejla: „Wie wir im 78er Jahr unten waren […]!“ Bosnien-Bilder in der
deutschsprachigen Literatur. Würzburg: Könighausen & Neumann 2012 (= Epistemata
745); Ruthner, Clemens: Besetzungen. A Post/Colonial Reading of Austro-Hungarian and
German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In: Ruthner et al. 2015,
pp. 221–242; Ders.: UmgangsFormen. Konstruktionen der bosnischen Fremde(n) in ös-
terreichischen Kolonialtexten um 1900. In: Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens(Hg.):
Nähe und Distanz in der österreichischen Literatur um 1900. Würzburg: Könighausen &
Neumann i.V.; weiters Ruthner 2018.
121 JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Racial
Difference in Colonialist Literature. In: Gates, Henry Louis Jr.: ‘Race’, Writing, and Diffe-
rence. Chicago, London: Chicago Univ. Pr. 1985, pp. 78–106, zit. p. 83.
122 Vgl. Babuna 2015 u.a.
123 „Empire messes with identity“ (Gayatri Spivak, zit. nach Suleri 1997, p. 7).
124 Vgl. Sugar 1963, pp. 26, 30 f.
125 Siehe insbes. Sugar 1963 und Lampe & Jackson 1982.
126 Vgl. Calic 2010, p. 17.
127 Vgl. Mann 2004, p. 17.
128 Stoler & Cooper 1997, p. 19. Zu den Besonderheiten einer Kolonialwirtschaft vgl. wei-
ters – neben den zit. Kategorien Balandiers – die Einleitung zu Alatas 1977.
129 Vgl. den Beitrag von Carl Bethke im vorl. Sammelband.
lich durch die mission civilatrice gezähmt werden sollte, nach Belieben
im Kriegsfall eingesetzt werden. „Die Bosniaken“ wurden auf diese Weise
ganz nach kolonialem Vorbild wie etwa die britischen Gurka-Einheiten
zu Elitetruppen, deren Effizienz sich vor allem im Ersten Weltkrieg an der
italienischen Front 1915–18 gleichsam als self-fulfilling prophecy bewähren
sollte.132
Bei all diesen kolonialen Beschreibungskategorien darf freilich nicht außer Acht
gelassen werden, dass das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisier-
ten ebenso wie das zwischen Kolonie und Mutterland ein dynamisches ist, das
beide Seiten verändert: nicht nur die Peripherie, sondern auch das Zentrum.
Ebenso ist im Rahmen der gesellschaftlichen Transformation in der Kolonie
von einem Wechselspiel aus externen (allochtonen) und internen (autochtonen)
Faktoren „inherent in social structures and subjugated societies“ auszugehen,
die das „crude sociological experiment“ namens Kolonialismus ausmachen.133
Dies nimmt durchaus krisenhafte Züge an, wie Balandier ausgeführt hat,134 und
ist vor allem im Kontext der sich langsam zuspitzenden politischen Verhältnisse
in der Quasi-Kolonie Bosnien-Herzegowina zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die
zu den Schüssen von Sarajevo 1914 führen sollten, von Bedeutung.
5. Vorläufige Conclusio
Versucht man also eine historische Zusammenschau ansonsten unverbundener
politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Daten, ergibt sich wohl ein-
wandfrei die Nähe der österreichisch-ungarischen Landnahme in Bosnien-Her-
zegowina zu Kolonialprojekten jener Zeit. In diesem Zusammenhang dürfte sich
auch eine komparative Perspektive – z. B. der Vergleich mit Britisch-Indien –
als vorteilhaft erweisen, wie sie andernorts bereits in guten Ansätzen geleistet
wurde.135
Allerdings gibt es historisch so etwas wie eine Skala kolonialer Gewalt, an
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deren oberen Ende etwa die belgische Kongo-Kolonie stehen müsste, als sie vor
1908 noch Privateigentum des Königs war und in diesem Rahmen als Mischung
aus Konzentrationslager und Konzern ausgebeutet wurde;136 im direkten Ver-
gleich muss man da dem k. u. k. Kolonialismus in Bosnien-Herzegowina wohl
bescheinigen, in seinen Interventionen eher auf soft power zurückgegriffen zu
haben. (Aus Fairnessgründen empfiehlt sich zudem, die These von den „reluc-
tant colonizers“137 in Bezug auf Österreich-Ungarn einzubeziehen, wonach die
Besetzung und Einverleibung jener territorialen Lücke auf dem westlichen Bal-
kan aufgrund der eingangs erwähnten no-win situation eher einer ungeliebten
Notwendigkeit bzw. strategischen Notlösung denn einem kakanischen Herzens-
wunsch entsprochen hätte.)
Auch wenn man Coopers Warnung vor einer ubiquitären und damit letztlich
beliebigen Anwendung des humanwissenschaftlichen ‘K-Worts’ beherzigt,138
sollte auf jeden Fall aus dieser kleinen Zusammenstellung hervorgegangen sein,
dass das bosnisch-herzegowinische k. u. k. Intermezzo durchaus als eine Art von
Quasi-Kolonialismus betrachtet werden kann,139 als Ersatz für den „Scramble for
Africa“, bei dem die traditionelle Landmacht Österreich-Ungarn – im Gegensatz
zum deutschen Kaiserreich – zu spät kam.140 Die einzige Tatsache, die andere
Der Großteil unserer Autorinnen und Autoren ist sich scheinbar einig: Bos-
nien-Herzegowina zwischen 1878 und 1918 war eine Kolonie. Robert Donia
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stellt daher nicht grundsätzlich die Frage, ob es sich um eine Kolonie handelte,
sondern lediglich, welcher Art sie war. Er bezeichnet sie schließlich als „Proxi-
mate Colony“. Valeria Heuberger verweist darauf, dass es für Österreich-Ungarn
eine Art von „Ersatzkolonie“ gewesen wäre, während nicht nur Anna Babka auf
die Kulturwissenschafterin Heidemarie Uhl verweist, wonach Bosnien-Herze-
gowina ein „quasi-kolonialer Herrschaftskomplex“ gewesen wäre.
Grundsätzlich gehört es zur Aufgabe der Wissenschaftler/innen, komplexe
historische Gebilde und Vorgänge in knappen Begriffen zusammenzufassen,
sie terminologisch quasi dingfest zu machen. Es ist also nicht außergewöhnlich,
dass in einem Sammelband, der die Bezeichnung ‘Kolonie’ bereits im Titel trägt,
sich mehrere Beiträge mit dem Sein und Nicht-Sein des k. u. k. Okkupations-
und späteren Annexionsgebietes als Kolonie befassen. Wenn Bosnien-Herze-
gowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft aber nur quasi eine Kolonie
gewesen ist, gilt es der Frage nachzugehen, was es denn sonst war?
In meinem einführenden Beitrag möchte ich daher versuchen, Antworten da-
rauf zu geben, ob und wann und für wen Bosnien-Herzegowina zwischen 1878
und 1918 ‘etwas’ war oder nicht – ohne allerdings noch einmal die theoretischen
Abhandlungen zu Imperien und Kolonien sowie die wichtigsten Werke zur Ge-
schichte Bosniens und der Herzegowina, wiederzugeben; diese sind ohnehin im
vorangegangenen Beitrag hinlänglich berücksichtigt worden.1 Vielmehr frage
ich vor allem nach zeitgenössischen Zuschreibungen und möchte Quellenarten
und Ideen heranziehen, die bei unseren Autoren und Autorinnen weniger Be-
rücksichtigung finden, um sodann Alternativen oder weitere Argumente für
oder wider den Kolonie-Status anzubieten.
Grundsätzlich gilt es bei der Betrachtung aus der zeitgenössischen Perspek-
tive dreierlei Faktoren nicht aus den Augen zu verlieren: Zeit, Perspektive und
Sprache. Es steht zu erwarten, dass es einen Unterschied machte sowohl bei
der Bevölkerung wie bei den neuen Machthabern, ob es sich um die Zeit kurz
nach dem Okkupationsfeldzug handelt, als Gewalt und Gegengewalt sowie die
Neu- bzw. Fremdherrschaft noch weitaus stärker bei den Handelnden präsent
waren. Die Machtstrukturen wandelten sich eklatant über die Jahre von einer
reinen Militärverwaltung zu mehr Zivilverwaltung unter Einbindung der Be-
völkerung, bis zur Annexion und der darauffolgenden Implementierung einer
quasi parlamentarischen Vertretung in Sarajevo.
Die jeweilige Perspektive aus der eine Zuschreibung erfolgte, ist (nicht nur!)
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im Fall Bosnien-Herzegowina von Belang, wobei dies weit mehr umfasst als die
Sicht der lokalen Bevölkerung und jene Sicht der neuen Machthaber. Die neue
Herrschaft bedeutete und ließ für die nach Religion und sozialer Zugehörigkeit
so heterogene Bevölkerung völlig unterschiedliches erwarten. Das dualistische
Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie – in dem sich ungarische und
österreichische bzw.gemeinsame Institutionen um Macht und Einfluss zank-
ten – hatte gerade auf das gemeinsam verwaltete Gebiet Auswirkungen. Imre
Ress in seinem Beitrag zeigt auf, dass selbst innerhalb der beiden Reichsteile
unterschiedliche Interessen verfolgt wurden. Die multiethnische Zusammen-
setzung des neuen Hegemons mit seinen so unterschiedlichen historischen
Narrativen zum Balkan wirkte sich ebenfalls auf die Zuschreibungen an das
neue Gebiet aus. Zu guter Letzt ist auch die in den Quellen verwendete Sprache
von Belang. Unabhängig von der jeweiligen politischen Aufladung der Begriffe
Reich und Kolonie in derselben Sprache gilt es mit zu berücksichtigen, welche
Begriffe in den anderen Sprachen der Beteiligten Verwendung fanden. Um die-
sen Kommentar nicht ausufern zu lassen, werde ich Beispiele aus der dominan-
ten Sprache der neuen Herrscher analysieren, d. h. aus dem Deutschen.
1. Kolonie
Für Historiker/innen lohnt sich grundsätzlich bei jedem Thema der Blick in
eines der zeitgenössischen Lexika. Obwohl diese in erster Linie in den privaten
Bücherregalen der Mittel- und Oberschicht standen (und verstaubten?), waren
sie doch auch Teil von öffentlichen Bibliotheken in Schulen, Universitäten und
Amtsstuben. Weitverbreite deutschsprachige Lexika im späten 19. und Anfang
des 20. Jahrhunderts, also dem hier relevanten Zeitraum, waren unter anderem
Meyers Konversationslexikon und der Brockhaus. Was also konnte der Zeitge-
nosse in Erfahrung bringen, wenn er oder sie das Wort Kolonie nachschlagen
wollte? Ließ sich bei einer Diskussion die Wortbedeutung auf das Okkupations-
gebiet, wie Bosnien-Herzegowina zumeist von den Behörden genannt wurde2,
bzw. das spätere weitaus kurzlebigere Annexionsgebiet aus unserer heutigen
Perspektive anwenden und taten das die Zeitgenossen?
Die Brockhaus-Ausgabe der 1890er Jahre listet folgende Kriterien und Merk-
male für eine Kolonie auf, wobei der Eintrag relativ umfangreich ist und den
Facettenreichtum des Begriffs offenbart:
K. sind im allgemeinen Niederlassungen oder Ansiedelungen in einem fremden Lande
oder unter einem fremden Volke. Die Niederlassung muß dauernd sein und von einer
größern Anzahl von Angehörigen derselben Nation ausgehen, die sich ihre heimische
Sitte und Sprache bewahren und dadurch, meistens in Verbindung mit einer selbstän-
digen Organisation, unter dem fremden Volke eine gesonderte Stellung einnehmen.3
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Es geht hier also zuallererst um einen Personenkreis und nicht um einen Rechts-
status; die Ansiedler bilden die Kolonie. Der Brockhaus spricht von einer „grö-
ßeren Anzahl derselben Nation“. Aus dem Schriftgut Lajos Thallóczys, im ge-
meinsamen Finanzministerium mit den bosnisch-herzegowinischen Agenden
betraut, geht der Stand der „Ansiedler“ aus dem Jahr 1900 hervor. Insgesamt
handle es sich um 10.706 Personen, die nach Nationalität/Sprache und Religion
aufgeschlüsselt aufgelistet wurden, nicht aber, ob es sich um österreichische
oder ungarische Staatsangehörige handelte. Die Kolonisten machten zum weit-
aus größten Teil „Deutsche“ (4861 „Seelen“) aus. Knapp 4.000 Polen machte die
zweitgrößte Gruppe aus, gefolgt von 700 Ruthenen, 530 Italienern und etwa 520
Tschechen. Die Magyaren nehmen sich sehr bescheiden aus mit „85 Seelen“.4
Interessanterweise sind in dieser Auflistung keine Kroaten, aber auch keine
Serben angeführt. Dabei hätten diese beiden Gruppen schon aufgrund ihrer
vermehrten Hinzuziehung zu k. u. k. Verwaltungsdiensten, ihrer Sprache und
der geografischen Nähe einen beträchtlichen Teil ausmachen müssen. Es lohnt
daher, über die Brockhaus-Phrase „unter einem fremde Volke“ nachzudenken.
Konnten die Bewohnerinnen und Bewohner dieses bis 1908 formell unter Os-
sich auf ein Minimum, auf Güter und einzelne Personen. Bosnien-Herzegowina
hingegen grenzte direkt sowohl an Österreich (Dalmatien) als auch an Ungarn
bzw. Kroatien.
Durch die Einführung des Militärdienstes 1881/82 in Bosnien-Herzegowina
fanden sich schließlich tausende Männer als sog. „Landeskinder“ vom vollende-
ten 20. Lebensjahre an zu dreijährigem Dienst in den Städten der Habsbur-
germonarchie wieder. Sie taten diesen dreijährigen Dienst vor allem in den
Hauptstädten Budapest und Wien und nicht etwa in irgendeinem Provinznest.
Der Schriftsteller und k. u. k. Offizier Robert Michel lernt die Bosniern von den
vielen hunderten Soldaten in Wien kennen und schätzen.6 Er widmete beinahe
alle seine Werke dem Okkupationsgebiet – entweder aus der Perspektive der
Okkupanten oder vielfach aus der Perspektive der Bewohner/innen. Im Brief
des Rekruten Mustajbegović lässt er diesen sagen: „Weißt du, Rezagić [der Korpo-
ral] ist ein Mensch, vor dem ich den allergrößten Respekt habe, einem General
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könnte ich eher den Gehorsam verweigern als ihm. Bei uns zu Hause soll er nur
ein armer Kerl sein, in der Uniform jedoch sieht er aus wie ein Held.“7
Es gab auch keine eklatante Sprachbarriere zwischen den Mutterländern und
Bosnien-Herzegowina, wie dies in den ‘überseeischen’ Kolonien der Fall war.
Mit Ausnahme von geringen dialektalen Unterschieden konnte die Bevölke-
rung Bosnien-Herzegowinas mit dem kakanischen Nachbarn kommunizieren –
anders war dies schon mit den meisten Ansiedlern, wenn diese nur deutsch,
ungarisch, polnisch oder italienisch sprachen. Dennoch, eine wechselseitige
Integration war in diesem Fall weitaus einfacher. Dass diese auch sprachlich
stattfand, also die deutschen Begriffe der Okkupatoren rasch in den lokalen
Sprachgebrauch übernommen wurden, zeigt Nedad Memić in seinem Artikel
auf.
Der Brockhaus aber bot auch Kategorisierungen innerhalb der Kolonien an,
die nach ihrer „Entstehungsursache und wirtschaftlichen Eigenart“ unterschie-
den wurden: „1) Eroberungskolonien. Sie werden begründet durch Eroberung
mit Waffengewalt und sind stets auf die Beherrschung und Ausbeutung des
unterworfenen Volks gerichtet.“ Nach k. u. k. Militärdiktus hatte es sich bei dem
Feldzug im Jahr 1878 um eine kriegsmäßige Operation gehandelt, für den dem-
entsprechend Dekorationen an Offiziere und Soldaten vergeben wurden. Mein
Mitherausgeber Clemens Ruthner zitiert Schriftgut der damals Beteiligten, wo-
nach es „keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, sondern einen harten
Kampf darstellte; angesichts der erlittenen Verluste sei es adäquater, von einer
Eroberung […] zu sprechen.“ Dabei ging es, wie Raymond Detrez in seinem Bei-
trag zu unserem Sammelband anführt, auch um den Drang Österreich-Ungarns,
den europäischen Großmachtstatus aufgrund mangelnder Kolonien nicht zu
verlieren.
Der Brockhaus nennt nun als zweite Art der Kolonie die „Ackerbaukolo-
nie“. Die Definition ist hier weniger interessant als deren Resultat, wonach „in
Anpassung an die klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des neuen
Landes wachsen hier die Kolonisten früher oder später zu einer selbständigen
Nation heran, die sich bald auch politisch vom Mutterlande unabhängig zu ma-
chen sucht.“8 Tatsächlich wuchsen die Ansiedler in diesem Fall zu keiner Na-
tion heran unter Verdrängung der einheimischen Bevölkerung. Sie blieben die
Fremden, die sog. Kuferaši und Schwabas. Zu einer Nation aber sollte gemäß der
Vorstellungen von Teilen der neuen Herrscher die Bevölkerung heranwachsen.
Nach Robin Okey und Imre Ress sollte der lokale „Balkan nationalism“ dadurch
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„gezähmt“ werden, indem Kroaten nicht zu Kroaten werden und Serben nicht
zu Serben, sondern diese gemeinsam mit den Muslimen eine bosnische Nation
bilden sollten.9
Unabhängig davon, ob nach der Brockhaus-Definition Bosnien-Herzegowina
einer Kolonie gleich kam, gilt es zu fragen, ob in den Köpfen der Beteiligten,
ihrem mental mapping, das Okkupationsgebiet als Kolonie angesehen wurde.
In derselben Ausgabe des Brockhaus findet sich unter dem Stichwort „Bos-
nien-Herzegowina“ eine Zuschreibung als Kolonie niemals erwähnt. Der Brock-
haus beendete seine Kolonie-Definition übrigens mit deren „Bedeutung“: „Aller-
dings birgt eine energische Kolonialpolitik bei dem Wetteifer aller Mächte die
Gefahr von polit. Verwicklungen und Kriegen in sich“.10 Unabhängig vom Zwist
zwischen den beiden Reichsteilen, bei dem Anfang des 20. Jahrhunderts fast ein
Krieg greifbar schien, und den nationalen Unabhängigkeitskonzepten, nahm
der Erste Weltkrieg schließlich in der Hauptstadt der ‘Kolonie’ seinen Ausgang.
Zwar findet sich im Brockhaus unter Bosnien-Herzegowina keine Zuschrei-
bung als Kolonie, aber das Wort findet doch Erwähnung: „Ein 1885 mit Welsch-
tirolern unternommener Kolonisationsversuch hatte keinen Erfolg; dagegen
sind spätere gleichartige Unternehmungen mit württemb. und österr. Bauern
und Bauern zu ordnen, ohne durch einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit
die verschiedenen Klassen der Bevölkerung aufzuregen.12
Diese Kolonisierung oder Modernisierung ist jenes Narrativ, das in den zeitge-
nössischen Quellen über Gebühr strapaziert wurde. Franz Baron Nopcsa etwa
schreibt: „In Sarajevo elektrische Tramway, elektrische Beleuchtung und alles
‘fin de siècle’, Straßenpflaster sehr variabel, Makadam, Asphalt, Steinpflaster,
Rollsteine und gar kein Pflaster. […] Moderne Häuser schießen wie Pilze oder
Riesen zwischen den Bretterbuden hervor, diese verschwinden, aber modifi-
zieren sich nicht.“13 Wolfgang Müller-Funk bespricht Ivo Andrićs Brücke über
die Drina, in dem dieser Topos ebenfalls bemüht wird: „eine Karawanserei, die
erst in der Zeit der österreichischen Besatzung endgültig verschwindet und
durch eine Kaserne ersetzt wird, das Hotel der galizischen Jüdin Lottika, die
mit der österreichisch-ungarischen Armee ins Land kommt, Kaffeehäuser und
Geschäfte.“ Der k. u. k. Offizier und Schriftsteller Alexander Roda Roda erkannte
darin – natürlich überspitzt formuliert, aber dennoch nicht ohne Realitӓtsbezug,
wie Quellen und Fotografien aus dieser Zeit deutlich zeigen – eine typische
ӧsterreichische Form der Kolonisierung:
– Wie aber Österreich sich in seiner Kolonie anstellte?
Nun, ihr habt ja östreichische Art im Weltkrieg genügsam gesehen: Wenn die Östrei-
cher eine Stellung genommen hatten, befestigten sie sie nur flüchtig; dann bauten sie
mit ungeheurem Aufwand von Zeit und Menschenarmeen: ein Erholungsheim für
Offiziere; ein Gärtchen davor mit dem Namenszug des Kaisers, zusammengesetzt aus
viel Tausenden von Granatsplittern. Und so verwalteten sie Bosnien: die dringlichsten
Fragen lösten sie nicht, doch schöne Gasthöfe errichteten sie für den Fremdenverkehr,
Rennplätze, Badeorte, Ratspaläste.14
2. Reichsbestandteil
Der Leiter des Landesmuseums in Sarajevo, der aus Böhmen gebürtige Carl
Patsch, griff ebenso wie viele vor und nach ihm das oben genannten Motiv der
Kolonisierung/Modernisierung auf: „Aber nicht allein das aneifernde Vorbild
des obersten Chefs kam dem Museum zustatten, sondern auch die allgemeine
uneigennützige Freude, welche die gesamte, aus allen Völkern der Monarchie
bestehende Beamtenschaft aller Grade an dem Aufblühen des bis dahin ver-
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rischen Wochenschrift Die Muskete ein Sonderheft betitelt mit „Unsere Reichs-
lande“. Es geht ausschließlich um Bosnien-Herzegowina, welches so namentlich
nicht angeführt wurde.18 Dies lässt darauf schließen, dass den Lesenden sofort
klar war, um welches Gebiet es sich handeln musste. Es folgten jede Menge An-
ekdoten und Schwänke aus Bosnien-Herzegowina, garniert mit Stereotypen der
Bevölkerung und der eigenen Verwaltung. Natürlich satirisch ironisch gemeint,
in dem Sinne, was ‘noch alles zu uns dazu gehört’, aber durchaus auch kritisch,
wie sich die „Reichsverwaltung“ ausnimmt – oft unter Beteiligung der Bevölke-
rung. (Die darauf folgenden Sondernummern widmeten sich Wien und Tirol.)
Bosnien-Herzegowina in der Presse als „Unsere Reichslande“ zu bezeichnen
war seit der Okkupation eine gängige Praxis. Während die Sondernummer der
Muskete knapp vor der Annexion erschien, wurde der Begriff ab September 1908
in der Presse umso häufiger verwendet. Die Czernowitzer Allgemeine Zeitung
führte unter dem Titel „Unser Reichsland“ aus:
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Als im Jahre 1878 die österreichischen Truppen […] einmarschiert waren, gewöhnte
man sich bald daran, dieses Gebiet als österreichisches Reichsland zu betrachten und
es erschien immer nur als eine Frage der Zeit und Gelegenheit, dass man dem Kinde
seinen Namen geben würde. Diese Gelegenheit hat sich jetzt ergeben und mit dem
heutigen Tage sind die beiden ehemaligen türkischen Provinzen wirklich österreichi-
sches Reichsland geworden.19
Offizier Rudolf Giay, verweisen darauf. Letzter gibt den Ruf der Menge in der
Moschee im ersten Kriegsjahr 1914 in Bratunac wieder. Der muslimische Pre-
diger, so Giay, sprach zunächst „kroatisch“ und endete mit: „Pfui Srbi, Abzug
Russija und Živio Car Franjo Josip!“.23 Es war aber nicht nur der Kaiser, der
Bosnien-Herzegowina zu einem direkt Wien und dem Monarchen unterste-
henden Teil machte, sondern auch die dort tätigen einflussreichsten Verwal-
tungsbehörden. Im Sprachgebrauch der dualistischen Monarchie waren dies die
nach dem Ausgleich einzig verblieben gemeinsamen Reichs-Institutionen: das
Reichskriegsministerium, das aber später seinen Namen in Kriegsministerium
ändern sollte, sowie das gemeinsame Finanzministerium. Beide Minister waren
lediglich dem Monarchen und den „Delegationen“, wie die regelmäßigen Tref-
fen von Österreichs und Ungarns Regierungsspitzen hießen, verantwortlich.
Österreichische und ungarische Ministerien waren nicht maßgeblich, und noch
eine Besonderheit charakterisierte die Reichsunmittelbarkeit Bosniens und der
Herzegowina: der Armeedienst. Neben der gemeinsamen Armee konnten Ös-
terreicher und Ungarn auch in die Landwehr bzw. Honvéd eingeteilt werden,
nicht so die männliche Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina; sie diente
ausschließlich in der k. u. k. Armee oder in der Reichskriegsmarine. Sie konnte
also nur als kaiserliche und königliche Soldaten dienen, kämpfen und sterben,
nicht aber als österreichische oder ungarische.
Die (Reichs-)Hauptstadt Wien war der Bevölkerung der besetzten Gebiete
weitaus näher als Budapest. Während Budapest im Verlauf der zweiten Hälfte
22 Wittlin, Joseph: Das Salz der Erde. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1969, p. 178.
23 Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv/Nachlasssammlung, Rudolf Giay, B/412, ins-
gesamt 6 Tagebücher (26.7.1914–14.11.1918), Tagebuch I, 26.7.-31.12.1914, 25.12.1914
Bratunac.
des 19. Jahrhundert nicht nur für Magyaren zum Dreh- und Angelpunkt wurde,
wurde Wien für Bosnien-Herzegowina zum faktischen Zentrum ihrer neuen
staatlichen Zugehörigkeit. Scheinbar alles ging von Wien aus, wenn man von ei-
nigen kulturpolitischen ungarischen Maßnahmen absieht. Die Muskete schildert
den durch seine Heimat paradierenden Urlauber in k. u. k. Uniform, dem auf der
Straße ein orthodoxer Priester begegnet. Dieser antwortet ihm wohl auf seine
Prahlerei in Wien zu dienen mit: ‘Ja, in Wien! Da hat mir einmal ein Amtsdiener
guten Tag gesagt!’ ‘Mein, mein Sohn – schneide nicht auf!’24
Gemäß dem Historiker Pieter M. Judson bildeten das Empire bzw. das Reich
weniger der Monarch und seine Bürokraten als vielmehr die Menschen, die
darin lebten, ihre eigenen Interessen verfolgten, es somit formten und letztlich
imaginierten.25 Wenn also Bosnien-Herzegowina doch „unsere Reichslande“
war, wer war in diesem Fall ‘wir’? Für die Österreicher oder besser österreichi-
schen Staatsbürger, dies zeigt die Presse, war es Teil des – zwar fremdartigen –
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Eigenen. Ein Bericht über einen Wiener Hofball im Jahr 1896 moniert nach
namentlicher Auflistung sämtlicher anwesender (Hoch)adeliger inklusive deren
Titel und Nationalität, dass es „schade“ sei, dass „kein einziger bosnischer Beg
an unsere Reichslande erinnert.“26 Die Bukowinaer Post berichtete 1895 über die
erste von einer Frau geleitete Zahnarztpraxis in Österreich-Ungarn: Die Ärztin
tue dies in „unsere[n] Reichslande[n] und die Culturbestrebungen derselben
sind stets des größten allgemeinen Interesses sicher.“27
Wenn Bosnien-Herzegowina also im mental mapping der österreichischen
Staatsbürger „unser Reichsland“ war, wie sieht es mit der Bevölkerung selbst
aus? Partizipierten sie an der Imagination des Reiches? Tatsächlich zeigen unse-
re Autorinnen und Autoren auf, dass die aktive politische Tätigkeit der Be-
völkerung im Steigen begriffen war, sich manche Interessen auch durchsetzen
ließen. Sie formten damit nicht nur Bosnien-Herzegowina, sondern auch das
Reich aktiv mit.
Selbstverständlich war ihre Beteiligung (etwa an gemeinsamen Institutionen)
weitaus geringer als jene der anderen Nationalitäten, aber sie stieg von Jahr zu
Jahr kontinuierlich an. Im Jahr 1905 machten sie – je nach Interpretation – erst
oder bereits 27,5 Prozent der Beamten aus.28 Häufiger wird allerdings auf de-
24 Schönpflug, Fritz: Der Urlauber. In: Die Muskete. Sonderheft: Unsere Reichslande,
4.6.1908, p. 8.
25 Siehe Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge, MA: Harvard
UP 2016.
26 N.N.: Der Hofball. In: Wiener Salonblatt, 19.1.1896, pp. 4–8, hier p. 5.
27 N.N.: Der erste weibliche Zahnarzt in Österreich-Ungarn. In: Bukowinaer Post, 1.10.1895,
p. 3.
28 Vgl. Okey, Robin: Mlada Bosna. The Educational and Cultural Context. In: Cornwall,
Mark (Hg.): Sarajevo 1914. Spark and Impact. London: Bloomsbury Academic Pr. i.V.
die nur jemandem übertragen werden konnte, der als unbedingt loyal galt.30
Die Bevölkerung wurde auch immer mehr zu einem aktiven politischen Fak-
tor, die ihre eigenen – oft unterschiedlichen – Interessen formulierte, publizier-
te, gezielt verfolgte und innerhalb des rechtlichen Rahmens erfolgreich durch-
setzte. Aydin Babuna (am Beispiel der muslimischen Bevölkerung) und Stijn
Vervaet (am Beispiel der serbisch/orthodoxen Zeitschrift Bosanska vila) zeigen
die Neu-Österreicher als aktive politische Akteure. Man könnte also durchaus
vermuten, dass lediglich der Faktor Zeit verhinderte, dass sich Bosnien-Herze-
gowina auch faktisch – nicht nur in der Zuschreibung – von einer Kolonie in ein
Reichsland wandelte, wie dies vor ihm schon andere habsburgische Neuzugänge
getan hatten. Auch so integrale Bestandteile wie Dalmatien und Salzburg fielen
erst spät an die Habsburgermonarchie und kaum jemand hätte diese im späten
19. Jahrhundert mehr als Kolonie oder Neuösterreich bezeichnet.
fassbar ist. Dies mag noch einfacher sein, wenn wir bloß aus einer einzigen Per-
spektive die Quellen betrachten, etwa nur die offiziell publizierten staatlichen
heranziehen bzw. die Benennung der zuständigen Institutionen. Wobei auch be-
reits hier die unterschiedlichen Akteure – gemeinsame Ministerien, Militär und
ungarische Politik – unterschiedliche Interessen vertraten und Schlagwörter
anstrengten und sich diese über den langen Zeitraum auch durchaus wandel-
ten. Noch komplexer wird es, wenn wir versuchen, die einzelnen Perspektiven
der so heterogenen Beteiligten zu erfassen: Die Zugezogenen aus allen Teilen
der Habsburgermonarchie verstanden den Status ihrer neuen Heimat und auch
ihren eigenen sicher anders als die autochthone heterogene Bevölkerung.
Bosnien-Herzegowina war die Summe dieser Zuschreibungen und war es
wieder nicht. Es war eine Irgendwie-Kolonie und gleichzeitig neues Reichsland.
Es war nach Babuna „Niemandsland“, und hätte die k. u. k. Herrschaft länger
gedauert, wären sicherlich noch weitere Zuschreibungen hinzugekommen oder
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„Türkenkriege“
1 Vgl. Südland, L. v. (= Pilar, Ivo): Die südslawische Frage und der Weltkrieg. Übersichtliche
Darstellung des Gesamt-Problems. Wien: Manz 1918, p. 210.
2 Eine deutschsprachige Übersetzung findet sich in: Österreichische Militärische Zeitschrift 1
(1808), pp. 325–345.
3 Vgl. Sosnosky, Theodor von: Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866. Bd. 1. Stutt-
gart: DVA 1913, p. 127f.
4 Vgl. Herre, Franz: Prinz Eugen. Europas heimlicher Herrscher. Bergisch-Gladbach: Bastei
Lübbe 2000, p. 69.
40.000 bosnische Katholiken aus der Umgebung Sarajevos folgten den Truppen
des Prinzen auf österreichisches Gebiet.5
Ob bereits Wallenstein im Jahre 1626 ‒ anlässlich der Verfolgung des pro-
testantischen Heerführers Ernst von Mansfeld nach Bosnien ‒ daran gedacht
hatte, das Gebiet südlich der Save für den Kaiser zu gewinnen, kann heute nicht
mehr mit Sicherheit gesagt werden.6 Unter Kaiser Leopold I. gab es zwar Über-
legungen, das Gebiet zwischen der Adriaküste und den Donaumündungen zu
gewinnen, zu einer praktischen Umsetzung dieser Pläne kam es jedoch nicht.7
Seit dem Frieden von Karlowitz (Sremski Karlovci) im Jahre 1699 wurde die
Inbesitznahme Bosniens ernsthafter in Betracht gezogen und der Friede von
Passarowitz (Požarevac) 1718 brachte der Habsburger Monarchie – neben eini-
gen anderen bisher osmanischen Gebieten – auch den Besitz eines an der Save
gelegenen Teils von Bosnien; dieser ging jedoch im Frieden von Belgrad 1739
wieder verloren.8 Während unter Maria Theresia keine besonderen Anstren-
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5 Vgl. Bauer, Ernest: Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Ver-
waltung in Bosnien-Herzegowina. Wien, München: Herold 1971, p. 33. Dass dieser Ex-
odus wohl auch aus Furcht vor Vergeltung erfolgte, kann angenommen werden; vgl.
Ančić, Mladen: Society, Ethnicity, and Politics in Bosnia-Herzegovina. In: Časopis za suv-
remenu povijest 36/1 (2004), pp. 331–359, p. 338, Anm. 24.
6 Vgl. Novotny, Alexander: Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses
1878. Bd. 1: Österreich, die Türkei und das Balkanproblem im Jahre des Berliner Kongres-
ses (= Veröff. der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 44). Graz: Böhlau 1957,
p. 15.
7 Ibid.
8 Vgl. Sosnosky 1913, p. 128.
9 Unter Orlovs Kommando hatte die russische Marine der osmanischen Flotte im Juli 1770
in der Seeschlacht von Çeşme eine vernichtende Niederlage zugefügt. Siehe dazu u. a.
İsipek, Ali Riza / Oğuz, Aydemir: 1768–1774 Ottoman-Russian Wars. Battle of Cesme
1770. Istanbul: Denizler Kitabevi 2010.
10 Vgl. Roider, Karl A.: Austria’s Eastern Question 1700–1790. Princeton: Princeton Univ. Pr.
1982, p. 131.
Serbien und Bosnien erhalten sollte, während die beiden anderen Mächte ter-
ritoriale Erweiterungen in Deutschland respektive Polen erwarten konnten.11
Vier Jahre später gab Staatskanzler Kaunitz-Rietberg französischen Vertretern
gegenüber an, dass Österreich, falls es Russland bei der Zerschlagung des Os-
manischen Reiches unterstütze, auf den Gewinn von Osmanisch-Dalmatien,
Kroatien, Bosnien, Serbien, der Walachei und der Moldau sowie vielleicht auch
noch anderer Provinzen rechnen könnte, eine derartige Politik für ihn aber
nicht akzeptabel sei.12 Spätestens seit 1774, als das Osmanische Reich im Frie-
densvertrag von Küçük Kaynarca russischen Schiffen das Durchfahrtsrecht
durch die Meerengen und dem Zaren das Protektionsrecht für die orthodoxen
Christen hatte zugestehen müssen,13 erwuchs der Habsburger Monarchie ein
neuer Hauptkonkurrent in der Frage einer möglichen Ausdehnung auf Kos-
ten der Hohen Pforte, wobei aber etwa 1783 auch Überlegungen für ein öster-
reichisch-russisches Bündnis angestellt wurden, von dem sich die Habsburger
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11 Ibid., p. 137.
12 Ibid., p. 153.- Dahinter stand die Befürchtung, dass das außenpolitisch eher passiv agie-
rende Osmanische Reich durch einen solchen Schachzug von einem aggressiver auftre-
tenden, vergrößerten Russland abgelöst werden würde.
13 Vgl. Quataert, Donald: The Ottoman Empire, 1700–1922. Cambridge: Cambridge Univ. Pr.
2000 (= New approaches to European history 17), p. 40.
14 Vgl. Kulenkampff, Angela: Österreich und das Alte Reich. Die Reichspolitik des Staats-
kanzlers Kaunitz unter Maria Theresia und Joseph II. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005,
p. 106f.
15 Vgl. Novotny 1957, p. 16.- Zum Okkupationsfeldzug des Jahres 1878 siehe zuletzt u. a.
Gabriel, Martin: „Wir führen einen Krieg, wo man auf Gnade nicht hoffen darf…“ Irregu-
läre Kriegführung bei der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878. In: Kakanien
revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/MGabriel1.pdf (2010). Der Kampf-
wert christlicher irregulärer Verbände während der Okkupation war äußerst unterschied-
lich: Die Miliz des Franziskanerpaters Ivan Musić bewährte sich bei den Gefechten in der
Herzegowina offenbar, während andere Verbände z. B. im Norden Bosniens in erster Linie
muslimische Zivilisten terrorisierten und ausplünderten (vgl. Bencze, László: The Occu-
pation of Bosnia and Herzegovina in 1878. Boulder: Social Science Monografs 2005 [= War
and Society in East Central Europe 39, Atlantic studies on society in change 126, East
European monografs 680], p. 104; Schreiber, Georg: Des Kaisers Reiterei. Österreichische
Kavallerie in vier Jahrhunderten. Wien: Speidel 1967, p. 266). Die Okkupationstruppen
rell galt schon damals, was österreichische Militärs auch 1878 propagierten: es
müsse „allen Bevölkerungstheilen mit Mißtrauen begegnet werden“.16 Der Ver-
zicht auf eine weitere Expansion auf dem Balkan durch den Frieden von Sistova
(Svištov) 1791 und die Passivität während des serbischen Aufstandes gegen die
Osmanenherrschaft (1804–1813) schwächten Österreichs Stellung als christliche
Schutzmacht enorm, und Eduard Rüffers Behauptung, „[d]ie letzten Sympathien
der Bosnier für Oesterreich, in dem sie früher ihren Befreier sahen, gingen ver-
loren, als sich der weise Metternich weigerte, während des Feldzuges von 1828
den Russen gegen die Türken Hülfe zu leisten,“17 dürfte zumindest im Fall der
orthodoxen Serben nicht ganz unzutreffend sein. Ob die Habsburger Monarchie
Serbien, Bosnien und die Herzegowina zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirk-
lich problemlos (d. h. ohne negative französische oder russische Reaktion) hätte
einnehmen können und die Untätigkeit lediglich daran lag, dass die politische
Führung nach den unerwarteten Misserfolgen des „Türkenkrieges“ 1788–1791
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operierten, wenn es um die Bekämpfung von „Räuberbanden“ ging, 1878 auch gemein-
sam mit bewaffneten muslimischen Milizen, so etwa im Raum Pale: KA Wien AFA 1878
HR 2430 X 28, 2 (Etappen-Kdo. Pale an Kdo. 6. Infanterietruppendivision, 14.10.1878).
16 KA Wien AFA 1878 HR 2431 XIII 49, 29 (V. Armeekorps, Präs. Nr. 22/9 1878, No. 718, 22.
10. 1878).
17 Rüffer, Eduard: Die Balkanhalbinsel und ihre Völker vor der Lösung der orientalischen
Frage. Eine politisch-ethnografisch-militärische Skizze. Bautzen: Schmaler & Pech 1869,
p. 60.
18 Vgl. Parvev, Ivan: „Du, glückliches Österreich, verhandle“. Militär versus Diplomatie
in der habsburgischen Südosteuropa-Politik, 1739–1878. In: Kurz, Marlene et al. (Hg.):
Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des int. Kongresses zum
150-jährigen Bestehen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung Wien, 22.-25. Sept.
2004. Wien: ÖAW 2005 (= Mitteilungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd.
48), pp. 539–550, hier p. 548f.
19 Vgl. Tischler, Ulrike: Die habsburgische Politik gegenüber Serben und Montenegrinern
1791–1822. Förderung oder Vereinnahmung? München: Oldenbourg 2000 (= Südosteuro-
päische Arbeiten 108), p. 98f.
20 Ibid., p. 130.
21 Ibid., p. 99.
22 In seinem zwei Tage vor Beginn des Okkupationsfeldzuges erlassenen Korpsbefehl vom
27. Juli 1878 erwähnte beispielsweise Feldzeugmeister Joseph von Philippovich die zahl-
reichen bosnischen Flüchtlinge, die vor den Gräueltaten in ihrer Heimat Schutz auf dem
Gebiet der Habsburger Monarchie gesucht hätten. Der Korpsbefehl ist u. a. abgedruckt in:
Prager Tagblatt, Nr. 208 v. 29. 7. 1878, p. 2.
23 župa (slaw.): Bezirk, Komitat, alternativ: Pfarrei.
24 Vgl. Koller, Markus: Bosnien an der Schwelle zur Neuzeit. Eine Kulturgeschichte der
Gewalt (1747–1798). München: Oldenbourg 2004 (= Südosteuropäische Arbeiten 121),
p. 108.
25 Ibid.
biet ging, zeigt eine Episode aus dem Jahr 1817: Am 24. Februar wurde das Dorf
Kruškova von der „Bande“ des Hassan Aga aus dem osmanischen kapudanlık27
Ostrožac überfallen, drei Einwohner wurden getötet, sechs Häuser niederge-
brannt, sieben Pferde, 27 Ochsen, 15 Kühe, 99 Schafe und 27 Ziegen geraubt.
Aufgrund einer Beschwerde des österreichischen Konsuls Jacob von Paulich
wurde der kapudan von Ostrožac von seinen Vorgesetzten gerügt und zu Re-
parationszahlungen angehalten. Dieser schickte als Provokation jedoch einige
aus der Monarchie geflüchtete Kriminelle als Parlamentäre an die Grenze und
stimmte erst nach erneuter scharfer Warnung der österreichischen Forderung
zu, Wiedergutmachung (in Form von zwei Rindern) zu leisten.28 Am 2. März
des folgenden Jahres kam es beim Rastellamt29 von Zavalje zu einem Schuss-
wechsel, bei dem zwei österreichische Wachsoldaten und vier Bosnier getötet
sowie 36 weitere Bosnier verwundet wurden, was die Wiener Regierung in
Verlegenheit brachte, da das österreichische Militär in den – rechtlich gesehen
exterritorialen – Rastellämtern zwar als Kontrollinstanz diente, aber über kei-
nerlei Exekutivgewalt verfügte.30
Zwischen 1815 und 1830 verursachten die Überfälle an der Militärgrenze nach
Erhebungen österreichischer Gerichte einen Gesamtschaden von 9 Millionen fl.
26 Vgl. Buchmann, Bertrand Michael: Militär, Diplomatie, Politik. Österreich und Europa
von 1815 bis 1835 Frankfurt/M. et al.: P. Lang 1991 (= Europ. Hochschulschriften 498),
p. 362.
27 kapudanlık (türk.): Kapitanat; Untereinheit der osmanischen Provinzialverwaltung, ge-
leitet von einem Kapitän (türk. kapudan).
28 Vgl. Buchmann 1991, p. 364.
29 Grenzkontrollposten für den Austausch kleinerer Waren.
30 Vgl. Buchmann 1991, p. 366.
erbittertem Kampf (100 Österreicher und 200 Bosnier waren nach Ende der
Gefechte tot, verwundet oder vermisst) zerstörten.36 Dies stellte gewissermaßen
den Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Serie von Gefechten, Überfällen und
Vergeltungsmaßnahmen an der österreichischen Militärgrenze und im nördli-
chen Bosnien dar.
Seit dem Erwerb Dalmatiens, das durch die Beschlüsse des Wiener Kongres-
ses von 1814/1815 an das Kaisertum Österreich gefallen war,37 spielte Bosnien
aber nicht nur aufgrund der ständigen Beunruhigung durch Überfälle, die von
dort ausgingen, eine Rolle, sondern es war zunehmend auch in gesamtstrategi-
schen Überlegungen der politischen und militärischen Führung der Monarchie
präsent: „Bosnia and Hercegovina represented an obvious area for Austrian ex-
pansion into Southeast Europe. Geografically the province formed a wedge that
ran deep into the Habsburg lands, making the hinterland of Dalmatia insecure
from a military and economic standpoint.”38
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36 Ibid.
37 Siehe dazu u. a. Antoljak, Stjepan: Kako je nastala austrijska pokrajina Kraljevina Dalma-
cija. In: Časopis za hrvatsku povijest 1 (1943), pp. 232–239.
38 Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Herzegovina,
1878–1914. New York: Columbia Univ. Pr. 1981, p. 8.
39 Vgl. Gabriel, Karl: Bosnien-Herzegowina 1878. Der Aufbau der Verwaltung unter FZM
Herzog Wilhelm v. Württemberg und dessen Biografie. Frankfurt/M. et al.: P. Lang 2004
(= Europ. Hochschulschriften 973), p. 25.
40 Vgl. Novotny 1957, p. 16.
41 Vgl. Bencze 2005, p. 8.
42 Vgl. Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‚Civilizing‘ Mission in Bos-
nia 1878–1914. London: Oxford Univ. Pr. 2007, p. 5.- An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass
Christen, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Osmanischen Reich migrier-
ten, bei ihrem Übertritt auf das Gebiet der Habsburger Monarchie in einer Form des
in das Kosovo und forderte lautstark ein Ende der Reformen im Landrecht und
Militärwesen, die selbständige Verwaltung Bosniens sowie die Vergabe der Po-
sition des Gouverneurs von Bosnien ausschließlich an einheimische Amtsträger,
bevor osmanische Truppen die Revolte niederschlugen.49
Auch zu Beginn der 1850er Jahre kam es zu schweren Unruhen, die auf ös-
terreichischer Seite Besorgnis auslösten und zur Mobilisierung von Truppen
und Marineeinheiten führten. Osmanische Truppen unter dem Befehl des an
der Militärgrenze geborenen und in türkische Dienste übergetretenen Generals
Michael Latas (Omar Latas Pascha) schlugen den bosnischen Aufstand schließ-
lich auf blutige Weise nieder. 1857 folgten Rebellionen christlicher Bauern
gegen muslimische Gutsherren, die ihre Güter (çiftlikler) auf Kosten der Chris-
ten rücksichtslos ständig erweiterten, indem sie die finanzielle Notlage weiter
Bevölkerungsschichten ausgenutzt und diese zum Verkauf ihres Besitzes (und
damit in die Fronarbeit) gezwungen hatten.50 Natürlich waren keineswegs al-
lein die konservativen Muslime Bosniens für das Scheitern der osmanischen
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49 Vgl. Sel Turhan, Fatma: The Ottoman Empire and the Bosnian Uprising. London, New
York: I. B. Tauris 2014, p. 2; Koller 2004, p. 71.
50 Vgl. Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt:
WBG 1985, p. 232f.
51 Vgl. Riedel, Sabine: Die Erfindung der Balkanvölker. Identitätspolitik zwischen Konflikt
und Integration. Wiesbaden: VS 2005, p. 53.
52 Vgl. Baumann, Robert F. / Gawrych, George W. / Kretchik, Walter E.: Armed Peacekee-
pers in Bosnia. Fort Leavenworth: US Army Combined Forces Combat Studies Institute
Pr. 2004 (= Special Studies), p. 6.- Ebenso wie während der gegen die osmanische Zent-
ralherrschaft gerichteten Aufstände verlief auch der Widerstand im Okkupationsfeldzug
1878 zwar großteils, aber keineswegs ausschließlich entlang religiöser Bruchlinien. We-
der die Unruhen z. B. der 1850er Jahre noch die Kämpfe 1878 sind daher vernünftiger-
weise unter der Perspektive eines „Religionskrieges“ zu verstehen. Zu den Grundlagen
der Gewaltausübung im Islam siehe u. a. Rosiny, Stephan: Der Jihad. Historische und
zeitgenössische Formen islamisch legitimierter Gewalt. In: Werkner, Ines-Jacqueline /
Liedhegener, Antonius (Hg.): Gerechter Krieg, gerechter Frieden. Religionen und frie-
Seine Truppen sollten Anfang März 1853 bei Bihać, Kladuša, Kostajnica und
Novi nach Bosnien eindringen und möglichst rasch Sarajevo besetzen. Als die
Pforte jedoch einer Reihe von österreichischen Forderungen nachgab, die der
Gesandte Christian Graf Leiningen-Westerburg in Form eines Ultimatums in
Konstantinopel übergeben hatte (Räumung Montenegros, Entschädigungszah-
lungen etc.),55 verzichtete die österreichische Seite auf die Durchführung des
Okkupationsfeldzuges.
Feldmarschall Radetzky legte 1856 nochmals eine Denkschrift vor, die sich
mit dem Problem des nicht vorhandenen dalmatinischen Hinterlandes befasste:
Die Südspitze des Kronlandes Dalmatien war aus den Zentralgebieten der Mon-
archie nur per Schiff zu erreichen, da es von den türkischen Adriaenklaven Klek
und Sutorina de facto in drei Teile geteilt wurde;56 es gab keine Eisenbahnver-
bindung und keine für größere Truppenbewegungen geeignete Straße. Dazu ka-
men noch Spannungen um das Gebiet der Bucht von Kotor (Bocche di Cattaro),
auf welches das Fürstentum Montenegro Anspruch erhob. Die relativ schwa-
chen österreichischen Marineverbände in der Adria waren somit im Grunde
die erste und letzte Verteidigungslinie: im Fall einer Niederlage zur See war ein
Angriff auf Dalmatien kaum noch abzuwehren.57 Aufgrund der schweren Ver-
stimmungen des früher von Radetzky als möglicher Partner bei der Aufteilung
des Balkans betrachteten Zarenreiches wies der Feldmarschall nunmehr auf die
Notwendigkeit hin, das Verhältnis sowohl mit Piemont-Sardinien als auch mit
Preußen zu verbessern, um danach die Aufmerksamkeit der Monarchie auf den
Balkan richten zu können:
Ohne noch sich über die dann zu ergreifenden Maßregeln einzulassen, glaube ich
nur bemerken zu müssen, daß Österreich zu keinem Entschluß kommen kann, ehe
es nicht die anstoßenden Zerwürfnisse in Piemont geendet und in Ordnung gebracht
hat, wodurch die italienische Frage ganz und vollkommen als gelöst betrachtet werden
kann. Die zweite Aufgabe ist dann das Einvernehmen mit Preußen und Deutschland
zum Gemeinsinn! Wo dann zur weitern Schlußfassung erst zu übergehen rätlich wird.
Nun erlaube ich mir die Aufmerksamkeit zu leiten auf Servien, was nur hingehalten
werden kann durch Belgrad als das Thor für selbes. Der Besitz von Istrien und Dalma-
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tien muß es Österreich wünschenswert machen, daß es in Besitz von Bosnien gelange,
so wie von Belgrad, um von da sich an den Balkan mit dem rechten Flügel anschlie-
ßen zu können. In dieser Stellung ist der österreichische rechte Flügel Herr von den
Fürstentümern, um wenigstens drohend zu bleiben, so wie vom ganzen Orient […].58
Etwa zur selben Zeit vertraten französische Politiker die Idee der Gründung
einer „slawischen Union“, die, so der österreichische Generalkonsul in Belgrad,
Theodor Radosavljević von Posavina, im April 1857, die Vereinigung Bosniens
und der Herzegowina mit Serbien zum Ziel hatte; dieses Staatsgebilde sollte
danach ein Protektorat Frankreichs darstellen.59 Es war anzunehmen, dass die-
se Pläne innerhalb Serbiens auf Resonanz stoßen würden, einerseits aufgrund
einer territorialen Vergrößerung, andererseits, weil die Proponenten panserbi-
scher Ideen dort in den vorangegangenen Jahrzehnten zunehmend an Einfluss
gewonnen hatten. So vertrat der Sprachreformer Vuk Stefanović Karadžić die
Ansicht, dass der Herzegowina in einer panserbischen Theorie die zentrale Rolle
57 Vgl. Bridge, F. R.: From Sadowa to Sarajevo. The Foreign Policy of Austria-Hungary
1866–1914. Boston: Routledge 2001 (= Foreign Policies of the Great Powers 6), p. 71; Sos-
nosky 1913, p. 135.
58 Die Gedenkschrift Radetzkys vom 30. August 1856 ist abgedruckt bei Sosnosky 1913,
p. 289–291.
59 Vgl. Rumpler, Helmut: „L’union slave“ als Albtraum der österreichischen Politik nach
dem Krimkrieg. Eine Episode der österreichischen Balkanpolitik. In: Domenig, Christian
et al. (Hg.): „Und wenn schon, dann Bischof oder Abt“. Im Gedenken an Günther Hödl
(1941–2005). Klagenfurt: Kärntner Druck- u. Verl.Ges. 2006, pp. 117–130, hier p. 125.
Küste als Basis für die österreichische Marine enorm gestiegen war65 – der Er-
werb des Hinterlandes erschien deshalb umso dringlicher. Man war sich weiters
bewusst, dass Bosnien und die Herzegowina nicht nur strategisch und politisch
von essentieller Bedeutung für Dalmatien waren, sondern dass ein wirtschaftli-
cher Aufschwung dieses verhältnismäßig armen Kronlandes ohne den Erwerb
von zusätzlichem Raum im Inneren der Balkanhalbinsel auch kaum erwartet
werden konnte.
Friedrich Graf Revertera-Salandra, der österreichische Gesandte am russi-
schen Zarenhof in Petersburg, sandte seit November 1866 eine Reihe von Mit-
teilungen nach Wien, in denen er seiner Überzeugung Ausdruck gab, der Zer-
fall des Osmanischen Reiches stehe bevor und Österreich solle diesbezüglich
Absprachen mit dem Zarenreich treffen, seinen Verzicht auf die Donaufürs-
tentümer Moldau und Walachei bekannt geben und so den Grundstein für die
Billigung Russlands zum Erwerb von Bosnien und der Herzegowina legen.66
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65 Vgl. Hünigen, Gisela: Nikolaj Pavlovic Ignat’ev und die russische Balkanpolitik 1875–
1878. Göttingen, Zürich, Frankfurt/M.: Musterschmidt 1968 (= Göttinger Bausteine zur
Geschichtswissenschaft 40), p. 19; Bridge 2001, p. 71.
66 Vgl. Elz, Wolfgang: Die europäischen Großmächte und der Kretische Aufstand 1866–
1867. Stuttgart: Steiner 1988 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa
28), p. 119.
67 Zit. n. ibid., p. 123.
68 Für einen kurzen biografischen Abriss zu Kállay vgl. Gabriel, Martin: Kállay de Nágy-
Kalló, Béni. In: Enzyklopädie des Europäischen Ostens (Online-Lexikon, abrufbar unter:
www.uni-klu.ac.at/eeo).
69 Vgl. Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy, Bd. 1. Stuttgart: DVA 1910, p. 460f.
70 Vgl. Ress, Imre: Versuch einer Nationenbildung um die Jahrhundertwende. Benjámin
Kállays Konzeption der bosnischen Nation. In: Kiss, Endre / Stagl, Justin (Hg.): Nation
und Nationenbildung in Österreich-Ungarn 1848–1938. Prinzipien und Methoden. Wien,
Münster: LIT 2006 (= Soziologie. Forschung und Wissenschaft 21), pp. 59–72, hier p. 62.
Bosniens und der Herzegowina sollte dagegen unter Beibehaltung der osma-
nischen Hoheitsrechte administrativ mit dem serbischen Fürstentum vereinigt
werden, was man wiederum dazu benutzen wollte, um ein feindseliges Klima
zwischen den Kroaten, die Anspruch auf die beiden Provinzen in ihrer Gesamt-
heit angemeldet hatten, und dem vergrößerten Serbien zu erzeugen.71
Graf Gyula Andrássy, als Außenminister der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie einer der Hauptarchitekten der Okkupation von 1878, bezeichnete 1869
in einem Gespräch mit Kállay die Überlassung Bosniens und der Herzegowina
an Serbien überhaupt als Grundlage für die Politik der Monarchie gegenüber
den südslawischen Staaten.72 Als zusätzlichen positiven Nebeneffekt dieser di-
plomatischen Winkelzüge erwartete man sich – speziell in Budapest – auch
eine Abwendung Serbiens von Russland zugunsten der Habsburger Monarchie,
daher auch Robin Okeys Feststellung: „The Bosnian gambit seems to have been
largely a Hungarian one and in its ingenuity and dubious sincerity interesting
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for the vigour with which the fledgeling Hungarian state defended itself from
a sea of perceived enemies.”73
Friedrich Freiherr von Beck-Rzikowsky, der Chef der kaiserlichen Militär-
kanzlei und spätere Generalstabschef der k. u. k. Armee, trat 1869 in einem Me-
morandum wiederum genau jenen territorialen Erweiterungen Serbiens (und
auch Montenegros) entschieden entgegen, auf welche die Planungen Kállays
und anderer Exponenten der österreichisch-ungarischen Außenpolitik abziel-
ten. Beck fürchtete die Entstehung zweier vergrößerter – und dabei an das
russische Zarenreich gebundener – slawischer Staaten an der Südostgrenze der
Monarchie und verlangte neben der Besetzung von Bosnien und der Herzego-
wina auch die gleichzeitige Inbesitznahme des strategisch wichtigen, zwischen
Serbien und Montenegro gelegenen Sandschaks74 von Novi Pazar (türk. Yeni
Pazar),75 was erstens die beiden orthodoxen Fürstentümer geografisch vonein-
ander getrennt und der Monarchie zweitens ein Sprungbrett für mögliche zu-
künftige Expansionsschritte Richtung Südosten gesichert hätte.
Resümee
Eine Betrachtung der Beziehungen der Habsburger Monarchie mit Bosnien und
der Herzegowina als einer Grenzregion des Osmanischen Reiches seit dem spä-
ten 17. Jahrhundert macht deutlich, dass die 1878 bzw. 1908 erfolgte Eingliede-
rung dieser Gebiete nicht allein durch relativ rezente politisch-strategische Ver-
änderungen76 wie die Gründung des deutschen Kaiserreiches, die zunehmende
Bedeutung Russlands als (süd-)osteuropäische Großmacht und die Entstehung
von (mehr oder weniger) unabhängigen staatlichen Entitäten auf der Balkan-
halbinsel erklärt werden kann. Das Interesse an einer Sicherung der Südflanke
der Monarchie ist schon lange vor der Okkupation erkennbar, auch wenn in der
Zeit vor 1878 die Mittel, v. a. aber der politische Wille fehlten, dieses Ziel durch
eine formelle Inbesitznahme Bosniens und der Herzegowina zu realisieren.
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76 Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Okkupation vgl. den folgenden Beitrag von Ray-
mond Detrez.
1 Vgl. den nützlichen Überblick bei Haselsteiner, Horst: Grundzüge der Orientpolitik der
Habsburgermonarchie. Zwischen Kontinuität und Wandel. In: Ders. (Hg.): Bosnien-Herz-
egovina. Orientkrise und Südslavische Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, pp. 9–14.
Verlauf nur noch durch den Sandschak von Novi Pazar – einen langen, schmalen
Korridor zwischen Serbien und Montenegro – mit dem Rest des Osmanischen
Reichs direkt verbunden waren. Auf diese Weise wurden sie aus osmanischer
Sicht extrem anfällig für einen potenziellen habsburgischen Angriff. Für die
Österreicher wiederum war Dalmatien, ein langer und schmaler Landstreifen
zwischen Bosnien-Herzegowina und der Adria, noch schwieriger gegen eine
mögliche osmanische Aggression zu verteidigen.
Nachdem der Wiener Kongress das Chaos der Napoleonischen Kriege be-
endet hatte, wurde die Kooperation zwischen Wien und St. Petersburg wieder
aufgenommen. Beide Reiche waren unter den Mitgliedern der Heiligen Allianz
von 1815, welche die nun wieder herrschenden alten Zustände in Europa schüt-
zen sollte. Während aber Österreich in Anbetracht zunehmender nationaler Un-
ruhe auf seinem Territorium und auf deutschem Boden die Aufrechterhaltung
jenes status quo im und mit dem Osmanischen Reich propagierte, tat Russland
alles, um die Lage weiter zu destabilisieren. Die Heilige Allianz wurde in ihren
Grundfesten erschüttert, als während der Griechenland-Krise von 1821–30 der
österreichische Kanzler Klemens Wenzel Fürst Metternich für Russland interve-
nierte, aber gegen den drohenden Zerfall des Osmanischen Reiches opponierte,
als Serbien in den Konflikt involviert wurde. In Wien indes wurde das russische
Protektorat über die Donau-Fürstentümer, das von 1829 bis 1856 dauerte, als
zusätzliche Bedrohung von Osten her wahrgenommen. Nichtsdestotrotz sti-
pulierte der Vertrag von Münchengrätz im September 1833, dass im Fall einer
weiteren Desintegration des Osmanischen Reiches Österreich und Russland zu-
2 Vgl. Jelavich, Barbara: History of the Balkans. Vol. I. Cambridge: Cambridge Univ. Pr.
1983.
und Konkurrenz mit Russland. Aus der Perspektive der Kooperation betrachtet,
erscheint die bevorstehende Okkupation lediglich als ein Schritt in Richtung
Verwirklichung eines ehrgeizigen imperialistischen oder kolonialistischen Pro-
jekts. Vom Standpunkt der Rivalität mit Russland aus dürfte die habsburgische
Balkan-Politik im 19. Jahrhundert aber sehr wohl auch eine Form der Selbstver-
teidigung gewesen sein, wie österreichisch-ungarische Staatsmänner wieder-
holt behauptet haben.10 Österreich-Ungarn fürchtete, dass Russlands tatsäch-
liche oder vermeintliche Einkreisungspolitik via die Walachei und die Moldau
im Osten eines Tages abgeschlossen sein könnte, wenn der Zar zwischen den
Balkan-Slawen Fuß fassen würde. Auch hier wiederum bot – angesichts der Tat-
sache, dass die Doppelmonarchie keine Chance in einer direkten militärischen
Konfrontation mit Russland sah – die Erhaltung der territorialen Integrität des
Osmanischen Reichs den besten Schutz gegen diesen Alptraum.11
Obwohl in Anbetracht der jüngsten militärischen Niederlagen Kaiser Franz
Joseph durchaus daran interessiert gewesen sein dürfte, sein beschädigtes An-
7 Vgl. Kann, Robert A.: A History of the Habsburg Empire, 1526–1918. Berkeley: Univ. of
California Pr. 1977 [1974], p. 278.
8 Vgl. Stavrianos 2000, p. 399.
9 Rumpler, Helmut (Hg.): Österreichische Geschichte 1804–1914. Bd. 7: Eine Chance für
Mitteleuropa. Hg. von Herwig Wolfram. Wien: Ueberreuter 1997, p. 446.- Vgl. auch die
Diskussion antislawischer und antirussischer Gefühle in Österreich-Ungarn bei Medli-
cott, W. N.: The Congress of Berlin and After. London: Methuen 1938, p. 7ff.
10 Haselsteiner, Horst: Zur Haltung der Donaumonarchie in der orientalischen Frage. In:
Haselsteiner 1996, pp.15–30, zit. p. 29.
11 Medlicott 1938, p. 27, sieht die Habsburger Monarchie am Vorabend des Berliner Kon-
gresses eher von der Angst vor der Einkreisung getrieben als vom Wunsch, neue Territo-
rien zu erwerben.
sehen durch neue Eroberungen wieder herzustellen, gab es doch auch interne
Gründe, die Österreich-Ungarn vor einem militärischen Abenteuer auf dem
Balkan abhielten. Der Hauptfaktor hier war die wachsende Bedrohung durch
den südslawischen Nationalismus. Die habsburgischen Südslawen, die bereits
durch den kroatischen Ausgleich (Nagodba) 1868 eine gewisse Autonomie im
Königreich Ungarn erlangt hatten, bestanden auf der Schaffung einer politi-
schen Entität, die die südslawischen Gebiete Österreichs und Ungarns umfassen
und die gleiche rechtliche Basis wie diese anderen beiden Reichsteile haben
sollte (Trialismus) – eine Lösung, die die fragile (dualistische) Konstruktion
ernsthaft gefährdet hätte.12 Zumal nämlich die neuen Balkangebiete die Anzahl
der Südslawen innerhalb der Monarchie erhöht hätte, lehnte das habsburgische
Establishment, die deutschsprachigen Liberalen ebenso wie die ungarischen
Politiker, dies ab. 1869 wiesen etwa Andrássy (damals noch ungarischer Minis-
terpräsident) und Benjamin von Kállay, der k. u. k. Generalkonsul in Belgrad,
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mancher Hinsicht bevorzugte Russlands alter Alliierter bei der Aufteilung des
osmanischen Balkan sogar, die Partei der Westmächte und speziell Großbritan-
niens zu ergreifen, da er befürchtete, der Zar könnte Hand an den Bosporus
legen. Seit den 1850er Jahren hatte es etliche Projekte seitens der militärischen
Lobby in Wien gegeben, um angrenzende Balkanregionen wie Mazedonien zu
übernehmen, wann immer das Risiko gering war; sie alle erwiesen sich aber als
vage und kurzlebig.16
*
Bis zur Mitte der 1870er Jahre begann freilich die habsburgische Balkan-Politik
der Aufrechterhaltung des status quo abzubröckeln. Als Folge der neuen Zu-
gangsweise, die Außenpolitik mit dem militärischen Potenzial zu koordinieren,
erlangte die Armee-Lobby einen größeren Einfluss.17 Das Militär war bemüht
herauszustreichen, dass die existierende habsburgisch-osmanische Grenze von
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900 Kilometern um 525 Kilometer reduziert werden könnte,18 was die verwund-
bare dalmatinische Küste besser schützen und einen direkten Zugang zu Serbien
und Montenegro sicherstellen würde.19 Außerdem würde die allgegenwärtige
Gefahr lokaler Aufstände, die zu einer potenziellen Gebietserweiterung für Ser-
bien führen könnten – wie sie dies bei der Errichtung des Fürstentums Serbien
1829–30 getan hatten – durch die Oktroyierung einer Friedensordnung in Bos-
nien und der Herzegowina seitens einer habsburgische Administration teilweise
eliminiert werden.20
Zusätzlich zu diesen strategischen Überlegungen gab es auch wirtschaftliche
Gründe für ein geplantes take-over von Bosnien und der Herzegowina. In der
Tat hatte nämlich die Integration dieser Gebiete in die Wirtschaft der Doppel-
monarchie ein solches Ausmaß erreicht, dass ihre politische Einverleibung nur
eine logische Konsequenz war; sie hatten sich de facto in Habsburgs ökonomi-
sches Hinterland verwandelt: Nach dem Handelsabkommen mit dem Osmani-
schen Reich vom 22. Mai 1862 reduzierte die Doppelmonarchie ihre Zolltarife
für Güter aus Bosnien und der Herzegowina, was zur Folge hatte, dass 70–80%
der bosnischen Exporte in die Monarchie (Holz, Getreide, Vieh, Pflaumen und
Sliwowitz) gingen und auch zahlreiche k. u. k. Exporte in die Region (Textilien,
16 Z.B. beim Ausbruch des Krimkriegs; vgl. Kraljačić 1987, p. 19f., und Lampe, John R.: Yu-
goslavia as History. Twice there was a Country. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1996,
p. 65.
17 Vgl. Haselsteiner 1996, p. 16.
18 Kraljačić 1987, p. 34f.
19 Vgl. ibid., p. 34.
20 Vgl. Anderson, M.S.: The Eastern Question, 1774–1923. London: Macmillan 1991 [1966],
p. 180.
Leder und andere Industrieprodukte) ihren Weg über Wien oder Triest nah-
men.21 Es wurde angenommen, dass sich die Bosnien-Exporte verdreifachen
könnten, falls sie ordentlich verwaltet würden. Im Gegenzug waren auch die
dalmatinischen Häfen stark vom Handel mit Bosnien und der Herzegowina ab-
hängig. Besonders nach dem Börsenkrach von 1873 bestanden Wirtschaftskreise
in Wien auf Maßnahmen zur Stimulierung des Handels mit dem ‘Osten’.22 Als
dann jedoch die Aufstände losbrachen, nahm der kommerzielle Output ab. Dies
war ein zusätzlicher Anreiz für Österreich-Ungarn, geeignete Schritte – falls
nötig, auch militärisch – zu setzen, um Frieden und Ordnung in den beiden
Provinzen wieder herzustellen.23
Nach seiner Ernennung zum österreichisch-ungarischen Außenminister war
Andrássy zunehmend geneigt, seine frühere ‘ungarische’ Haltung aufzugeben
und k. u. k. Ansichten anzunehmen.24 Am 29. Januar 1875, während einer Mi-
nisterkonferenz in Wien zum Thema Bosnien-Herzegowina, schwor er ziem-
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lich explizit seiner früheren „Abstinenzpolitik“ ab, indem er von nun an einem
neuen Prinzip anhängen wollte: „Macht geht über Recht“.25 Trotzdem blieb er
als Politiker vorsichtig; wie schon früher bemerkte er:
Turkey is of almost providential utility to Austria. Her existence is essential to our
well-understood interests. She keeps the status quo of the small states and hinders
their aspirations to our advantage. Were there no Turkey, then all these heavy duties
would fall on us.26
unternahm der Kaiser auf Initiative der militärischen Lobby eine Reise durch
Dalmatien, die für großes Aufsehen unter der christlichen Bevölkerung Bos-
niens und der Herzegowina sorgte. Am Ende seines Aufenthalts erklärte er,
dass die Okkupation der beiden Provinzen näher gerückt sei und ordnete die
Bereitschaft seiner Truppen in Dalmatien für eine solche Operation an. Es wird
angenommen, dass diese Reise des Kaisers zum Ausbruch des Aufstands der
herzegowinischen Christen im Juli des selben Jahres beitrug.29 Der unmittel-
bare Anlass war indes der Mord an einem Franziskaner-Pater, den Franz Joseph
in Dalmatien getroffen hatte.30 Bald breitete sich die Revolte auf ganz Bosnien
aus. Die Aufständischen forderten die Abschaffung all ihrer feudalen Verpflich-
tungen und die volle Implementierung des osmanischen Reformprogramms,
das unter dem Namen Tanzimat bekannt wurde. Während Freiwillige aus Ser-
bien und anderen slawischen Gebieten in Scharen herbeiströmten, erklärten die
bosnischen Orthodoxen ihre Loyalität zum Fürstentum Serbien.31 Die brutale
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drássy-Note bzw. die Reformnote bekannt werden sollte. Es forderte von der
Hohen Pforte die Durchführung umfangreicher Landreformen, die von einer
christlich-muslimischen Kommission überwacht werden sollten, gab jedoch
ganz deutlich die Idee einer autonomen Region auf. Konstantinopel stimmte
wiederum großenteils zu, aber die örtlichen Aufständischen ließen sich dadurch
nicht zufrieden stellen.34
Mittlerweile hatten sich die Unruhen bis Bulgarien ausgebreitet, wo im April
1876 ein Aufstand ausbrach. Die Gräueltaten, die die Niederschlagung dieser Re-
volte begleiteten, führten wieder zu großer Entrüstung, nicht nur in Russland,
sondern auch in Großbritannien. Am 30. Mai 1876 gaben die Außenminister
des Dreikaiserbunds das Berliner Memorandum heraus, das die Forderungen der
Andrássy-Note wiederholte und dem Osmanischen Reich mit „geeigneten Maß-
nahmen“ („mesures efficaces“) drohte, sollte es nichts unternehmen. Es wurde
vereinbart, dass im Fall eines Auseinanderbrechens der „Europäischen Türkei“
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40 Vgl. Petrovich, Michael B.: A History of Modern Serbia, 1804–1918. Vol. 2. New York,
London: Harcourt Brace/ Jovanovich 1976, pp. 385–389.
41 Vgl. Anderson 1991, p. 191.
42 Stavrianos 2000, p. 405.
könnte, fügte eine Note hinzu, in der es den Sultan aufforderte, einen Sonder-
gesandten nach St. Petersburg zu schicken, um Entwaffnungsmaßnahmen zu
diskutieren.43 Als am 9. April die Hohe Pforte sich weigerte einzulenken, er-
klärte Russland am 24. d. M. dem Osmanischen Reich den Krieg.
*
46 Anderson 1991, p. 186; Stavrianos 2000, p. 405. Laut Haselsteiner, 1996, p. 28f., betrachtete
der Kaiser die Konvention von Reichstadt als nicht verbindlich. Er war darauf vorbereitet,
sich nur so lange daran zu halten, wie es die Russen täten, und auch dann nur, wenn dies
nicht österreichisch-ungarischen Interessen schaden würde.
47 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 384.
48 Convention secrète entre la Russie et l’Autriche-Hongrie, (Appendix B). Zit. n. Siccama 1950
(n. p.).
49 Anderson 1991, p. 193.
50 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 91.
sich nehmen sollte, denn in Erinnerung daran, was während des Krimkriegs
vorgefallen war, sah Russland Österreich-Ungarns Neutralität als äußerst wich-
tig an. Dies bedeutete freilich nicht, dass St. Petersburg seine Balkan-Ambiti-
onen aufgegeben hätte. Als Ergebnis und Folge der Convention secrete verab-
schiedete sich Russland von seinen Interessen auf dem westlichen Balkan nur
deshalb, um sich ganz auf Bulgarien zu konzentrieren, was am Ende doch eine
viel realistischere Option darstellte.51
Beide Konventionen, sowohl die von Reichstadt als auch jene von Budapest,
zeigen Andrássy als aktiven Teilnehmer in einem diplomatischen Tauziehen,
das darauf abzielte, die Kontrolle über Bosnien und die Herzegowina zu er-
langen; Eduard von Wertheimer nennt vor allem letzteres Abkommen als „den
Kernpunkt seiner [= Andrássys, R.D.] diplomatischen Erfolge.“52 Von Mai 1877
an verhandelte Andrássy auch mit Disraeli, erzielte aber keine Übereinstim-
mung. Österreich-Ungarn würde eine Allianz mit Großbritannien eingehen,
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sollte Russland die Convention secrète entweder durch die Annexion von Ge-
bieten einen großen slawischen Staat schaffen oder Konstantinopel besetzen.
Inzwischen bestand England darauf, österreichisch-ungarische Truppen auf
britischen Marineschiffen zum Bosporus zu bringen.53 Gleichzeitig ermutigte
Andrássy Großbritannien, die türkischen Meerengen militärisch zu verteidigen,
und schlug vor, Österreich-Ungarn könne ganz einfach Russland durch einen
Angriff in dessen Rücken zum Rückzug vom Balkan zwingen.54 In seiner Obst-
ruktion einer etwaigen westlichen Intervention hielt sich Andrássy eigentlich
an das Versprechen gegenüber Russland in der Convention secrète; zugleich hielt
er Großbritannien gleichsam in Reserve für den Fall, dass Russland sein Ver-
sprechen nicht halten würde. Zunächst jedoch verhielt sich Russland loyal ge-
mäß der getroffenen Übereinkunft. Während seiner Verhandlungen mit Serbien
über dessen Beteiligung am Russisch-Türkischen Krieg lehnte St. Petersburg
serbische Forderungen nach Bosnien-Herzegowina als potenzielle Kriegsbeute
ab.55 Wien warnte die Serben davor, in Bosnien und der Herzegowina einzu-
dringen, und ermutigte sie indes dazu, ihre Truppen südwärts in das osmanische
Vilajet Mazedonien zu schicken: in ein Gebiet also, das von Russlands Protegés –
den Bulgaren – beansprucht wurde, obwohl die serbischen Truppen viel nötiger
Bereits im Januar 1878 hatte Kaiser Franz Joseph den russischen Zaren ge-
warnt, dass Europa nicht der Schaffung eines großbulgarischen Staats zu-
stimmen würde und verlangte, eine große internationale Konferenz in Wien
einzuberufen, um die Friedensvereinbarungen mit dem Sultan zu diskutieren.
Er gab zu verstehen, dass, wenn Russland Süd-Bessarabien annektieren sollte,
Österreich-Ungarn auf der Eingliederung Bosnien-Herzegowinas – wie in der
der Convention secrète vereinbart – bestehen würde.60 Während Österreich-Un-
garn einerseits eine Einigung mit Russland suchte, rückte es anderseits näher
an Großbritannien. Es unterstützte zunehmend die ablehnende Haltung des
britischen Außenministers Lord Salisbury für den Vorfrieden von San Stefano;
im Gegenzug unterstützte Großbritannien die österreichisch-ungarischen Ge-
bietsforderungen in Bezug auf Bosnien und die Herzegowina.
*
Anfang März 1878 schmiedete Disraeli, von Andrássy unterstützt, Pläne für
eine Konferenz der Großmächte mit dem Ziel einer territorialen Neuordnung
des Balkan. Die Hohe Pforte war informiert und auch der Zar willigte ein-
gedenk der Kriegsmüdigkeit seines Landes und des katastrophalen Ausgangs
der Krimkrise ein. Die Umrisse des bevorstehenden Abkommens wurden von
den drei wichtigsten der involvierten Parteien – Russland, Österreich-Ungarn
und Großbritannien – noch vor dem Treffen akkordiert. Andrássy forderte
anfänglich die Annexion von Bosnien und der Herzegowina, des Sandschaks
59 Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648–1967. Vol. 2. New
York: Chelsea House 1967, p. 967.
60 Vgl. Siccama 1950, p. 3; Anderson 1991, p. 200.
von Novi Pazar und Teilen der montenegrinischen Küste, aber stimmte am 17.
April (angesichts des russischen Einspruchs) der ausschließlichen Okkupation
Bosnien-Herzegowinas zu.61 Russland und Großbritannien erreichten ein erstes
Einvernehmen am 30. Mai; Großbritannien und Österreich-Ungarn schlossen
ihre Verhandlungen am 6. Juni ab.62
So wurde der Vorfrieden von San Stefano vom März 1878 während des Berli-
ner Kongresses (11.-13. Juli 1878) revidiert. Den Vorsitz übernahm der deutsche
Reichskanzler Otto von Bismarck, der in keinster Weise am Balkan interessiert
war. Seine Hauptsorge galt der Rettung des Dreikaiserbundes durch eine Ver-
söhnung zwischen Russland und Österreich-Ungarn. Österreich-Ungarn war
durch Andrássy vertreten, Russland entsandte Gorčakov und Großbritannien
Lord Salisbury. Karatheodori Pascha – ein Grieche – verhandelte im Namen des
Osmanischen Reichs. Während der ersten sieben Sitzungen wurde vereinbart,
Großbulgarien durch einen viel kleineren bulgarischen Vasallenstaat innerhalb
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Pforte zugestanden, ihr Gesicht zu wahren, indem eine Vereinbarung der Details
der Okkupation auf später vertagt wurde.65 So formulierte der Artikel XXV des
Berliner Vertrags, dass
[t]he Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by
Austria-Hungary. The Government of Austia-Hungary, not desiring to undertake
the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and
Montenegro in a south-easterly direction to the other side of Mitrovitza, the Ottoman
Administration will continue to exercise its functions there. Nevertheless, in order to
assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as freedom and
security of communications, Austria-Hungary reserves the right of keeping garrisons
and having military and commercial roads in the whole of this part of the ancient Vi-
layet of Bosnia. To this end the Governments of Austria-Hungary and Turkey reserve
to themselves to come to an understanding on the details.66
Auf diese Weise kreierte der Vertrag von Berlin eine Reihe von peinlichen Zwei-
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65 Davison, Roderic H.: The Ottoman Empire and the Congress of Berlin. In: Meville/ Schrö-
der 1982, pp. 205–223, hier p. 213.
66 Israel 1967, p. 985.
67 Siccama 1950, p. 9.
68 Vgl. Kraljačić 1987, p. 39: „Dovoljno je samo da ukažemo na č injenicu da se među
narodno pravni odnos Bosne i Hercegovine prema Monarhije sve više pretvara u un-
utrašnji, državno pravni odnos.“
Unter den externen Gründen, die für eine Okkupation sprachen, war zwei-
felsohne der heftige Widerstand der Pforte gegen eine Annexion. Karatheodo-
ri Pascha stimmte der habsburgischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas erst
zu, als Andrássy sie provisorisch nannte und dem Sultan auch weiterhin die
Souveränitätsrechte über das Gebiet zugestand.72 Die provisorische Natur der
Okkupation war freilich trügerisch, da der Vertrag von Berlin keinerlei Fristen
angab; sie war nur dafür gedacht, Karatheodori Pascha noch einmal sein Ge-
sicht wahren zu lassen. Zusätzlich verschleierte sie unter einem internationalen
Mandat die expansionistische Absicht Österreich-Ungarns und ließ sie als eine
humanitäre Intervention erscheinen. Die Habsburger Monarchie fühlte sich of-
fenkundig zu einer moralischen Rechtfertigung für die Okkupation gemüßigt,
wenn sie sich auf das internationale Mandat bezog, auf ihre „Friedens- und
Kulturmission“ und die Notwendigkeit, als europäisches Bollwerk gegen den
eher das Resultat von zögerlichen bis riskanten Reaktionen auf wechselhafte
Gelegenheiten darstellte. Die Doppelmonarchie verfolgte auf dem Balkan eine
Politik, die zwischen kolonialen Ambitionen und innerer Schwäche, ja Zerris-
senheit schwankte, zwischen Zusammenarbeit und Konkurrenz mit Russland,
zwischen imperialistischer Aggression und den Ängsten eines dahintreiben-
den Staatsgefüges, zwischen Zurückhaltung und Entschlossenheit, sich in der
Region zu engagieren – während man im Inneren bemüht war, das wankende
Gleichgewicht zwischen den beiden Reichshälften aufrecht zu erhalten. Das
Resultat dieser ambiguen, aber schlussendlich lohnenden Politik war die Erwer-
bung Bosnien-Herzegowinas, dessen Status – international und innerhalb des
Reiches – unbestimmt war: War es immer noch ein Teil des Osmanischen Reichs
oder schon ein Teil der Habsburger Monarchie? War es ein internationales Pro-
tektorat, eine österreichisch-ungarische Kolonie oder – ab 1910 – eines der
habsburgischen Länder? Sogar die Herrschaft der k.u.k. Institutionen erhielt ein
nützliches Maß an Ambiguität aufrecht in ihrer Vermeidung der Zuschreibung
einer eindeutigen Zugehörigkeit zu einer der beiden Reichshälften – in einem
Staat, in dem fast alles andere entweder österreichisch oder ungarisch war. Die-
ser Wust an Ambiguitäten, der Österreich-Ungarn half, Bosnien-Herzegowina
zu erwerben, half ihm auch, diese Errungenschaft im Angesicht sowohl seiner
Bürger/innen als auch der internationalen Gemeinschaft zu rechtfertigen. Das
dramatischste Paradox dieses Unternehmens – zugebenermaßen das Resultat
von meisterlicher Diplomatie und verfeinertem political engineering – war, dass
1 Vgl. Arató, Endre: Madjarsko javno mnjenje i Bosna i Hercegovina (1875–1878). In:
Petrović, Rade (Hg.): Međunarodni naučni skup povodom 100-godišnjice ustanaka u Bos-
ni i Hercegovini, drugim balkanskim zemljama i istočnoj krizi 1875–1878. godine. Sara-
jevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1977, vol. 2, pp. 49–53; Bencze,
László: Bosznia és Hercegovina okkupációja 1878-ban. Budapest: Akadémiai Kiadó 1987,
Trotz dieser deprimierenden Momente in der Begegnung mit den neu er-
oberten Provinzen wurde die sich im Sommer 1875 entfaltende Auflehnung der
südslawischen Orthodoxen und Katholiken gegen die willkürliche osmanische
Staats- und Sozialordnung von der überwiegend nationalliberal eingestellten
ungarischen Führungsschicht zwar mit Angst, doch mit einem gewissen Ver-
ständnis beobachtet, weil das Streben der christlichen Untertanen nach recht-
licher und nationaler Gleichstellung dem Zeitgeist entsprechend als gerecht
empfunden wurde. In dieser Periode unmittelbar vor der Okkupation wurden
vorwiegend die osmanischen Repressalien gegen die Aufständischen von unga-
rischer Seite angeprangert, und über den Leidensweg der christlichen Flücht-
linge, die in südungarischen Städten wie Temeschwar (Timișoara) und Neu-
satz (Novi Sad) Aufnahme fanden und von den lokalen Behörden materielle
Unterstützung erhielten, teilnahmsvoll berichtet. Eine Zeitlang drückte selbst
die Regierung in Budapest ein Auge zu, als die ungarländischen Serben nicht
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bewohnt und an den freien Institutionen seines Vaterlandes eifriger als mancher
Skythen-Sprössling festhielt, soll mit der Unterstellung des Meuchelmords am Vater-
land nicht beleidigt werden. Dem slawischen eroberungslustigen Element gegenüber
ist das freisinnige slawische Element unser natürlichster Verbündeter. […] Bewilligen
wir und seien wir dafür, dass jede Nation, die mit unseren Landsleuten sprachlich
verwandt ist, ihr Vaterland unter den eigenen historischen Grenzen finden kann, so wird
sie unsere [Nation] nicht untergraben. […] wenn der Serbe ein glückliches Vaterland
unterhalb der Donau besitzt, wird er es nicht mehr im Banat suchen.3
3 Jókai, Mór: A birodalom alkotmányos rendezése magyar felfogás szerint. In: Magyar Sa-
jtó, 11–17. 09. 1862. Zit. n. Ders.: Cikkek és beszédek. Vol. 6, 1861. január 7–1865. június
24. Hg. von József Láng et al. Budapest: Akadémiai Kiadó 1975 (= Jókai Mór Összes Mű-
vei), p. 196f. (Die Übersetzung dieser und anderer ungarischer Zitate erfolgte, so nicht
anders angegeben, durch den Autor.)
4 Vgl. Csukás, István: Irodalmunk nemzetiség szemlélete a szabadságharc után (1848–
1867). In: Acta Historiae Litterarum Hungaricarum 19 (1983), pp. 44–48; Ress, Imre: A
und ihre Einverleibung bis zum Bergrücken des Balkangebirges als dringende
Notwendigkeit. Dies hatte zum Zweck, dem demografischen und territorialen
Übergewicht Ungarns innerhalb der Monarchie durch eine Erhöhung des sla-
wischen Bevölkerungsanteils entgegenzuwirken und dadurch die Entstehung
eines österreichisch-ungarischen Dualismus zu verhindern.6
Nach den gescheiterten früheren französischen Tauschprojekten, die den An-
schluss der benachbarten Gebietsteile des Osmanischen Reiches an das Habs-
burgerreich als Kompensation für das freiwillige Abtreten seiner italienischen
Besitzungen vorsahen, gewann die territoriale Neugestaltung am Balkan im
Laufe der Pazifizierung des kretischen Aufstands 1866–1867 erneut an Aktu-
alität, als Pläne zur administrativen Vereinigung Bosniens und der Herzego-
wina mit dem Fürstentum Serbien – neben der Aufrechterhaltung der Souve-
ränitätsrechte des Sultans – als ein Mittel zur Stabilisierung des Osmanischen
Reiches in der internationalen Diplomatie erwogen wurden.7 Der nach dem
magyar liberálisok és a Szerb Fejedelemség az 1860-as években. In: Németh, G. Béla (Hg.):
Forradalom után – kiegyezés előtt. A magyar polgárosodás az abszolutizmus korában.
Budapest: Gondolat 1988, pp. 496–516.
5 Ress, Imre: A szerb külpolitika és a Habsburg-monarchia dualista átalakulása (1865–
1867). In: Dénes, Iván Zoltán / Gergely, András / Pajkossy, Gábor (Szerk.): A magyar
polgári átalakulás kérdései. Tanulmányok Szabad György 60. születésnapjára. Budapest:
ELTE Bölcsészettudományi Kar 1984. pp. 381–392.
6 Vgl. [Anonym]: Am Wendepunkte der Geschichte Oesterreichs. In: Politik. Politisch-fö-
deralistisches Tagblatt [Prag], 31.08. 1866; Oesterreich und die Völker Oesterreichs nach
dem Kriege im Jahre 1866. In: Politik, 08. 09. 1866; weiters Korunić, Petar: Jugoslavens-
ka ideja u hrvatskoj politici 1866–1868. In: Zbornik Zavoda za povijesne znanosti JAZU
(Zagreb) 11, 1981. pp. 20–22.
7 Vgl. Hoffmann, Georg: Die venezianische Frage zwischen den Feldzügen von 1859 und
1866. Zürich, Leipzig: Leemann 1941 (= Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft
20/2), pp. 37 ff.; Beyrau, Dieter: Russische Orientpolitik und die Entstehung des deut-
schen Kaiserreiches, 1866–1870/71. Wiesbaden: Harrassowitz 1974 (= Veröff. des Osteu-
ropa-Inst. München, Reihe Geschichte 40), pp. 63–72, 92–95.
8 Ress, Imre: Kállay Béni belgrádi diplomáciai működése 1868–1871. [Kandidátusi érte-
kezés kézirata.] Budapest: MTA könyvtára 1993, pp. 84–96; Armour, Ian D.: Apple of
Discord. The ‛Hungarian Factor’ in Austro-Serbian Relations, 1867–1881. West Lafayette:
Purdue Univ. Press 2014,. pp. 36–48.
9 Vgl. Kos, Franz-Josef: Die Politik Österreich-Ungarns während der Orientkrise 1874/75–
1879. Zum Verhältnis von politischer und militärischer Führung. Köln, Wien: Böhlau
1984 (= Dissertationen zur neueren Geschichte 16), pp. 57–62; Beyrau 1974, p. 150f.; Ress
1993, pp. 184–235; Armour 2014, pp. 121–154.
12 Vgl. Diószegi 1999, pp. 260 ff.; Ress, Imre: A magyar Balkán-politika módosulásának indí-
tékai Andrássy külügyminiszteri kinevezése után. In: Erdődy, Gábor / Pók, Attila (Hg.):
Nemzeteken innen és túl. Tanulmányok Diószegi István 70. születésnapjára. Budapest:
Korona 2000, pp. 232–240.
13 Vgl. Arató, Endre: Omladina srpska i madjarsko javno mnenje. In: Milisavac, Živan (Hg.):
Ujedinjena omladina srpska. Zbornik Radova. Novi Sad, Beograd: Matica Srpska, Istorij-
ski Institut 1968, pp. 337–354; Ress 2000, pp. 241 ff.- Die serbische Ujedinjena omladina
srpska (Vereinigte Serbische Jugend) war eine 1866 gegründete lockere Organisation der
Serben aus verschiedenen Ländern, um ihre kulturelle Annäherung zu fördern und das
Volk für die nationale Befreiung und Vereinigung vorzubereiten.
Batthyány, dem Lager des sich zur Abwehr des serbischen Angriffs versammeln-
den osmanischen Heeres einen demonstrativen Besuch ab.15 Nach Beginn der
militärischen Operationen wurde in Ungarn eine permanente Spendenaktion
für die osmanischen Verwundeten gestartet, die auch von dem studentischen
Organisationskomittee mit den jüngsten Erfahrungen der Revolutionszeit, mit
der „mörderischen Undankbarkeit der Serben“ und „der großzügigen Solidarität
der türkischen Brüdernation“ begründete wurde.16 Auch das Frauenkomitee der
Spendenaktion wurde von einer Schlüsselfigur des nationalen Opferkultes 1848
geleitet, der Witwe des Märtyrer-Generals von Arad, János Damjanich.17
Der über die Serben errungene überraschende osmanische Sieg und die Vorzei-
chen der russischen militärischen Intervention ab Herbst 1876 boten viel Anlass zu
gegenseitigen ungarisch-türkischen Sympathiebezeugungen. Der von der ungari-
schen studentischen Jugend dem siegreichen osmanischen Feldherren geschenk-
dert, dass durch die Ende 1876 in Istanbul verkündete Verfassung die liberalen
Bedenken wegen der autokratischen Ordnung des Osmanischen Reiches im
Prinzip zerstreut waren. Die Bedeutung der Veränderung wurde von dem in
italienischer Emigration lebenden, kultisch verehrten Kämpfer des Unabhän-
gigkeitsgedankens, Lajos Kossuth, beglaubigt, der im Geist des europäischen
russophoben Liberalismus den Krieg des Zarismus gegen das Osmanische Reich
als Aggression gegen Konstitutionalismus und Freiheit wertete:
Die Türken haben das Zeichen der Zeit verstanden. Sie haben allen Völkern ihres Rei-
ches, ohne Unterschied der Raße, Sprache, Religion, auf der Basis der Rechtsgleichheit
eine Constitution gegeben. Der Czar aller Reussen hat seine Waffen in die Waagschale
geworfen, damit die Türken die Freiheit nicht sollen verwirklichen können. Denn er
fürchtete, daß, wenn auch der türkische Halbmond die Leuchtkugel der Freiheitssonne
widerspiegelt, der Glanz derselben in die Finsterniß seines eigenen Sklavenreiches
bringen werde, wie der Lichtstrahl der Befreiung des ungarischen Bauern in die Nacht
der russischen Sklaverei eingedrungen ist. Fort mit diesen die Freiheit hindernden
18 Vgl. Siklóssy, László: Műkincseink vándorútja Bécsbe. Budapest: Táltos 1919; Bertényi,
Iván Jr.: Enthusiasm for a Hereditary Enemy. Some Aspects of The Roots of Hungarian
Turkophile Sentiments. In: Hungarian Studies 27 (2013), nr. 2, pp. 215–217; Fodor, Pál:
Hungary between East and West. The Ottoman Turkish Legacy. In: More Modoque. Die
Wurzeln der europäischen Kultur und deren Rezeption im Orient und Okzident. Festschr.
für Miklós Maróth zum 70. Geb. Budapest: Argumentum Kiadó / MTA Bölcsészettudomá-
nyi Kutatóközpont 2013, p. 413f.; Ress, Imre: Kaiserliches und königlich-ungarisches Ar-
chiverbe und die nationalen Geschichtsschreibungen in Wendezeit. In: Kazbunda, Karel:
Kulturní dědictví a mezinárodní právo. Referáty z vědecké konference konané ve dnech
19.-20. dubna 2013 v Jičíně. Semily: Státní oblastní archiv v Litoměřicích – Státní okresní
archiv Semily pro Pekařovu společnost Českého ráje v Turnov ě 2013, pp. 194–203 u. 413 f.
Waffen, die unter dem Titel der Autonomie nach russischen Muster, in russischer
Sprache für die Bulgaren eine Zwangsjacke bereiten.19
Der Aufmarsch des Zarenheeres an der Donau generierte im Sommer 1877 ent-
lang der östlichen Grenze Ungarns eine gesellschaftliche Massenbewegung zur
Verteidigung des konstitutionellen Osmanischen Reichs und zur Bildung eines
ungarisch-türkischen Bollwerks der liberalen Freiheit gegen das absolutisti-
sche Schreckgespenst Russland. Die zaristisch-russische Kriegserklärung hatte
nämlich zum Verdruss der turkophilen ungarischen Elite nicht zu einer anti-
russischen Solidarität der „Freiheitsliebenden“ in Europa geführt. Vielmehr be-
geisterten sich die englischen Liberalen für die nationale Befreiung der Slawen
auf dem Balkan und starteten eine breite gesellschaftliche Protestbewegung zur
Diskreditierung der traditionell türkischfreundlichen Außenpolitik der konser-
vativen Regierung in London. Ihre ungarischen Gesinnungsfreunde übernah-
men deshalb nur ihre politischen Methoden, und versuchten, nach dem Vorbild
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sche Regierung und die ihr nahestehenden Zeitungen von der nachsichtigen
Leitlinie des gemeinsamen Außenministers gegenüber Russland ab. In der stra-
tegischen Gedankenwelt des Grafen Gyula Andrássy, der einst in Konstantino-
pel der Gesandte der unabhängigen ungarischen Regierung von 1849 war, stellte
die russische Gefahr ein dauerhaftes und bestimmendes Element dar. Auch die
Turkophilie war ihm nicht fremd. Als Außenminister machte er sich dennoch
nicht die zum Extremismus neigenden, unrealistischen ungarischen Vorstellun-
gen zu eigen. Weder die europäischen Machtverhältnisse – fehlende deutsche
Unterstützung und Unberechenbarkeit des Verhaltens Englands – noch die in-
neren gesellschaftlichen und nationalen Gegebenheiten der Monarchie – v. a.
die Isoliertheit der Ungarn und Polen mit ihrer radikalen Russenfeindschaft –
waren seiner Meinung nach eine ausreichende Basis, um das russische Vor-
dringen am Balkan gewaltsam zurückzuweisen und das Osmanische Reich mit
militärischen Mitteln zu stabilisieren. Statt der in Ungarn allgemein verbreiteten
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werden, dass die beiden bereits zum Ministerpräsident Andrássy ein vertrautes
Verhältnis gepflegt hatten und bestimmt auch in den orientalischen Krisenjah-
ren über seine außenpolitischen Zielsetzungen gezielt informiert worden wa-
ren. Der früher auch journalistisch tätige Historiker der Türkenzeit in Ungarn
Salamon publizierte seine die Erwerbung von Bosnien und der Herzegowina mit
historischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Argumenten rechtfertigenden
Artikel in der regierungsnahen Zeitung A Hon [Das Vaterland], und kritisierte
die das Osmanische Reich idealisierende Auffassung der ungarischen Öffent-
lichkeit. Die Redakteure und externen Korrespondenten der Zeitung führten
eine regelmäßige Polemik gegen den nüchterne historische Fakten aufzählen-
den Gelehrten, und erklärten im Geiste des klassischen Liberalismus den unga-
rischen historisch-dynastischen Rechtsanspruch auf die Einverleibung Bosniens
und der Herzegowina regelmäßig als „überholten Feudalismus“. Nur auf Grund
des nationalen Naturrechts wurde der dortigen Bevölkerung die Bildung eige-
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24 Vgl. Gergely, András/Veliky, János: A politikai sajtó története 1875–1892. In: Kosáry, Do-
mokos/Németh, G. Béla (Hg.) A magyar sajtó története 1867–1892. Vol. II/2. Budapest:
Akadémia Kiadó 1985, p. 274f.; Salamon, Ferenc: A keleti kérdés bonyodalma és könnyű
oldala. In: A Hon, 31. 07 1876, p. 1–2; Salamon, Ferenc: Tények és következtetések a keleti
kérdésben. In: A Hon, 01. 08. 1876, pp. 1–2; Körösy, Sándor: Nem kell Bosznia! In: A Hon,
08. 08. 1876.
25 In: Kelet Népe, 08. 10. 1875.
26 Vgl. Gergely & Veliky 1985, p. 324f.
27 Vgl. Vasas, Géza: A bosnyák kérdéstől a magyar hivatásgondolatig. Kállay Béni politikusi
pályaíve 1875 és 1883 között. In: Valóság 41 (1998), nr. 8, pp. 71–93.
überzeugt war, dass die dualistische Grundlage der Monarchie und ihre Groß-
machtstellung die ungarische Unterstützung der eingeschlagenen gemeinsamen
Außenpolitik, die aus „machtpolitischem Zwang“ nötige Okkupation Bosni-
en-Herzegowinas inbegriffen, erforderte. Seine in der zugespitzten Phase des
russisch-türkischen Krieges großes Aufsehen erregende Parlamentsrede warf
den ungarischen Parteien ihre fehlende Kenntnis der slawischen und orientali-
schen Welt vor und prangerte die beiden vorherrschenden politischen Dogmen,
die Gleichstellung der slawischen Nationalbewegungen mit dem Panslawismus
und die protürkische außenpolitische Orientierung mit dem unbedingten Ver-
trauen in die osmanischen Bündnisfähigkeit, an. Die in belehrender Manier
und akademischer Art vorgetragenen Erörterungen lieferten die begriffsklä-
rende Unterscheidung von Panslawismus und Panrussismus und beleuchteten
die Unvereinbarkeit der osmanischen Theokratie mit der liberal konstitutio-
nellen Staatsordnung, die das Reich des Sultans zum Verfall verurteilte. Diese
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30 Vgl. Wertheimer, Eduard: Ein ungedrucktes Memorandum Benjamin von Kállays über die
Annexion Bosniens. In: Ungarische Rundschau für historische und soziale Wissenschaften 3
(1914), nr. 2, p. 427.
31 Ibid., pp. 428 f. u. 434.
32 Vgl. Fővárosi Lapok, Januar-Februar 1878, nr. 4, p. 49; Révész, T. Mihály: A gyülekezési
jog magyarországi fejlődéséhez. In: Mezey, Barna (Hg.): Ünnepi Tanulmányok Kovács
Kálmán egyetemi tanár emlékére. Budapest: Gondolat 2005, pp. 105–119, hier p. 114f.
33 Vgl. Pesti Napló, 03. 01. 1878; A bosnyák menekültekről. In: Borsszem Jankó, 28. 04. 1878,
p. 4; Fővárosi Lapok, 18. 07. 1878, p. 799; Schwartz, Michael: Ethnische ‘Säuberungen’ in
der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpo-
litik im 19. und 20. Jh. München: Oldenbourg 2013 (= Quellen und Darstellungen zur
Zeitgeschichte 95), pp. 254–264; Tamás, Ágnes: Nemzetiségek görbe tükörben. 19. századi
nemzetiségi sztereotípiák Magyarországon. Bratislava: Kalligram 2014, pp. 336–339.
der 1848er-Mentalität in Ungarn, der sehr viel gegen den „sauren Apfelbiss“
der Okkupation wetterte, machte indes unter dem Eindruck der nach Süden
marschierenden Armee eine überraschende Kehrtwende:
Aber wenn unsere tapfere Monarchie schon erobern möchte, erobere sie doch auch
Serbien. Bosnien wird ein ekelerregender Buckel an ihrem Körper sein, aber wenn sie
Serbien angliedert, wird sie die Lücken ausgleichen, ihr Körper wird muskulöser und
athletisch. Serbien, zusammen mit Bosnien an das österreichisch-ungarische Reich
gegliedert und gebändigt, wird in Zukunft einen starken Schutzdeich gegen die slawi-
schen Strömungen bilden. […] Also dahin mit diesen zweihundert Tausend Soldaten!
[…] Es wird keine einzige Träne fallen, es wird kein Murren und keine bedrücken-
de Beschwerde geben, sondern wo immer die Fahnen des gegen Serbien ziehenden
Reichsheeres vorbeimarschieren, werden sich die dreifarbigen Flaggen beugen und
ihnen fröhlich zuwinken.36
34 „Erheben wir keine Waffe gegen den Hasen, wenn der Bär auf uns losstürzt”, lautete die
Warnung im von Jókai redigierten regierungsnahen Tagesblatt A Hon v. 06. 03. 1878; vgl.
Hegedüs, Lóránt: Lord Beaconsfield politikai ügynökének jelentései gróf Andrássy Gyula
és Tisza Kálmán politikájáról a keleti válság idejében. In: Századok, Pótfüzet 71 (1937), pp.
579–599.
35 Vgl. Pal 2001, pp. 124 f. u. 130 f.; Magyar Állam, 08. 07. 1878.
36 Mikszáth, Kálmán: Ki ellen? In: Szegedi Napló, 24. 08. 1878. In: Ders.: Cikkek és karcola-
tok. Vol 5: 1878. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó 1966 (= Mikszáth
Kálmán Összes Művei 55), pp. 75 ff.- Vgl. Hajdu, Péter: Hungarian Writers on the Military
Mission of Austria-Hungary in the Balkans. Viceroy Kállay and Good Soldier Tömörké-
ny. In: Hungarian Studies 21 (2007), nr. 1–2, pp. 297–300.
vor, wonach „die ungarische Waffe nicht mit dem Bajonett des tapferen Nizams
aneinanderschlagen wird.“39 Die Turkomanie erfasste auch die ungarischen
Regimenter des Heeres, und die Strophen des beliebten Klapka-Marsches, die
„zum Schutz der Heiligen Freiheit und des süßen Vaterlands“ zur Waffe riefen,
wurden angesichts des bevorstehenden Militäreinsatzes mit folgendem Inhalt
aktualisiert:
Fürs Vaterland wird unser treues Blut vergossen
Der Türke ist ein Freund, wir schwören: wird nicht angefochten.40
37 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok. Bd. 3: 1877. Hg. von Gyula Bisztray. Bud-
apest: Akadémiai Kiadó 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 53), pp. 27–28, 48, 99 f.,
110; Csukás, István: Mikszáth gondolatai a nemzetiségi kérdésről. In: Acta Historiae Lit-
terarum Hungaricarum 20 (1984), pp. 9–12.
38 Vgl. Diószegi 1999, p. 411f.
39 Ellenőr, 28. 06. 1878.
40 Zit. n. Tóth, József: Bosznia-Hercegovina okkupálásának belpolitikai vonatkozásai. Bud-
apest: Phil. Diss. der Loránd-Eötvös-Universität 1971, p. 72.
41 Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Ruthner (Besetzungen I) im vorl. Sammelband.
der Wähler für Maglaj und die Okkupation.42 Nach den Wahlen wurden die am
Ruder gebliebenen Liberalen geschwächt, von prominenten Politikern verlas-
sen und innerlich so tief gespalten, dass die Gesetze über die staatsrechtliche
Stellung und Verwaltung der okkupierten Provinzen im ungarischen Parlament
nur durch die Stimmen der kroatischen Abgeordneten mit minimaler Mehrheit
angenommen wurden.
Um die Regierungspartei vor weiteren Zerreißproben zu bewahren, küm-
merte sich die ungarische Politik eine Zeitlang fast ausschließlich um die Ver-
meidung oder Minimalisierung weiterer finanzieller Belastungen.43 Allein die
literarische Autorität Mór Jókai wagte die Okkupation Bosniens und der Her-
zegowina öffentlich als vorteilhaft hinzustellen und moralisch zu rechtferti-
gen. Anlässlich der silbernen Hochzeit des Herrscherpaares verkündete Jókai
in seinem Vortrag im Wiener Akademischen Leseverein das Erwachen eines
bisher fehlenden Monarchie-Patriotismus als den größten Gewinn „des kleinen
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Feldzugs nach Bosnien“ und bezeichnete die vereinigende Kraft der gemein-
samen Armee für Verhaltensmuster der nationalen Intelligenzschichten. Der
Redner wurde in Wien stürmisch gefeiert, in den meisten ungarischen Zeitun-
gen jedoch scharf verurteilt, und musste nach seiner Heimkehr in Budapest vor
aufgebrachten studentischen Demonstranten mit Polizeigewalt verteidigt wer-
den.44 Diese Affäre ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass die ungarische Öffent-
lichkeit, von den massenhaft besuchten oppositionellen Protestkundgebungen
beeinflusst, weiterhin gegen die Okkupation eingestellt war. Auch die im Herbst
1878 abgehaltenen Trauergottesdienste für die gefallenen Soldaten hatten einen
ausgesprochenen Protestcharakter gegen die schwarz-gelben Militäroperatio-
nen in Bosnien-Herzegowina, mit denen sich die ungarische Bevölkerung nicht
solidarisierte.45
42 Vgl. [Sebők, Zsigmond]: K—e. Jókai fővárosi választásai. In: Új Idők 3 (1897), nr. 3, p. 69.
43 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok 7: 1879. Hg. von József Nacsády. Budapest:
Akadémiai Kiadó, 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 57), p. 131; Kozári, Mónika:
Ghyczy Kálmán naplója az 1878-as boszniai válságról Világtörténet 1996 (tavasz-nyár),
pp. 62–71; Fónagy, Zoltán: Bosznia-Hercegovina integrációja az okkupáció után. Hata-
lompolitika és modernizáció a közös minisztertanácsi jegyzőkönyvek tükrében. In: Törté-
nelmi Szemle 56 (2014), nr. 1, pp. 30 f.
44 Vgl. [Anonym]: Moriz Jokai in Wien. In: Neue Freie Fresse, Abendblatt, 21. 04. 1879, p. 2.;
Jókai bécsi pohárköszöt ője, Fővárosi Lapok, 30. 04. 1879, p. 483; Gángó, Gábor: Jókai Mór
és Rudolf trónörökös barátsága. In: Irodalomtörténet 84 (2003), nr. 3, p. 387.
45 Vgl.Vasárnapi Újság, 29 09. 1878, p. 624; Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok 6: 1879.
január–június. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó 1967 (= Mikszáth
Kálmán Összes Művei 56), p. 235.
bene scheidende Minister legte selbst mit der Bestimmung der fälligen Perso-
nalentscheidungen die Schienen für die künftige Bosnienpolitik und ließ die
aufgrund des dualistischen Gewohnheitsrechts den Ungarn zustehenden zwei
anderen Wiener Schlüsselpositionen, die des Sektionschefs im Außenministe-
rium und des gemeinsamen Finanzministers, mit seinen eigenen Kandidaten
besetzen.
Den Posten eines Sektionschefs am Ballhausplatz erhielt Benjamin v. Kállay,
der damit für die Angelegenheiten des Balkans und Orients verantwortlich wur-
de. In dieser Position spielte er bei der Entstehung der mit Serbien abgeschlos-
senen politischen und wirtschaftlichen Verträge sowie beim Zustandekommen
der Vereinbarung mit dem Patriarchen von Konstantinopel über die Stellung der
bosnisch-herzegowinischen Orthodoxie eine entscheidende Rolle. Zum gemein-
samen Finanzminister wurde 1880 ein prominenter Vertreter der alten Garde
(d. h. der Deák-Partei, die den Ausgleich zustande gebracht hatte), nämlich der
frühere Ministerpräsident József Szlávy ernannt. Der erfahrene Wirtschafts-
fachmann war in den südslawischen Verhältnissen überhaupt nicht bewandert
und erwies sich beim Umbau der Militärherrschaft über Bosnien-Herzegowina
zu einer funktionierenden Zivilverwaltung als überfordert.
Den durch die Einführung des Wehrgesetzes ausgelösten Aufstand in der
Herzegowina nahm die von der liberalen Regierungspartei dominierte ungari-
schen Delegation zum Anlass, mit der Verkürzung der für die Niederwerfung
verlangten zusätzlichen Militärausgaben den eigenen angeschlagenen Partei-
genossen Szlávy zu stürzen. Mit diesem ungewöhnlichen Vorgehen wollte der
Ministerpräsident Kálmán Tisza, seinen gräflichen Kandidaten – dem liberalen
Kultuspolitiker Albin Csáky oder dem Agrarier Pál Széchényi – die Übernahme
des gemeinsamen Finanzministeriums ermöglichen und dadurch eine effektive
46 Vgl. Ress, Imre: A közös minisztériumok szerepe a magyar államéletben 1867–1900. In:
Limes 11 (1998), nr. 1, pp. 25–31; Ders.: Ungarn im gemeinsamen Finanzministerium. In:
Fazekas, István/Újváry, Gábor (Hg.): Kaiser und König. Eine historische Reise. Österreich
und Ungarn 1526–1918. Wien: Collegium Hungaricum 2001, p. 89–93; Goreczky, Tamás:
Kállay Béni és a magyar delegáció az 1880-as években. In: Fons 10 (2007/3), pp. 431–434.
Besetzungen (1)
So sieht die Wiener satirische Wochenzeitschrift Die Bombe vom 28. Juli 1878
(Abb. 2) den Okkupationsfeldzug in Bosnien-Herzegowina, der in jenen Ta-
gen begann: Den österreichisch-ungarischen Oberkommandierenden flankie-
der Text des Berliner Journalisten Heinrich Renner, der fast zwanzig Jahre nach
der Okkupation erscheint, verwendet eine einschlägige Mann-Frau-Metaphorik:
Dem grossen Publikum blieben […] diese Gefilde gänzlich unbekannt; das bosnische
Dornröschen schlief noch den jahrhundertelangen Zauberschlaf und fand seine Auf-
erstehung erst, als die kaiserlichen Truppen die Grenzen überschritten und die neue
Aera einleiteten. Jetzt wurde das Dickicht, das um Dornröschens Schloss wucherte,
gelichtet und nach rastloser und schwerer Arbeit von nicht zwei Jahrzehnten steht
Bosnien bekannt und geachtet vor der Welt.5
1 Zit. nach Sirbubalo, Lejla:“Sie vertrugen sich auch, Allahs Moschee und der Baum meiner
Kindheit”. Georg Brittings Bosnien-Bilder. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.
ac.at/beitrag/fallstudie/LSirbubalo1.pdf (2011), p. 4.
2 Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Feichtinger im vorl. Sammelband, der sich auch auf
die nämliche Karikatur bezieht. Wir danken ihm herzlich dafür, die Illustration beige-
steuert zu haben.
3 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India, Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1992, p. 15ff
4 Vgl. Abb. 1 (p. 77 des vorl. Sammelbands), die den Balkan und die Türkei als homosozi-
al-männlichen Raum imaginiert, der ohne Semantik des Weiblichen auskommt.
5 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen
von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. V.
6 Vgl. dazu Fónagy, Zoltán: Machtpolitik oder Kulturmission? Überlegungen zur Integra-
tion und Modernisierung von Bosnien und Herzegowina nach der Okkupation. Online:
http://www.tankonyvtar.hu (2010); Feichtinger, Johannes: Modernisierung, Zivilisierung,
Kolonisierung als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten
Habsburgermonarchie. In: Dejung, Christof / Lengwiler, Martin (Hg.): Ränder der Moder-
von Europa bzw. einem Habsburger Prinzen aus seinem Koma wachgeküsst
wird (während die obige Titelillustration der Bombe eher eine Vielvölker-Ha-
remsphantasie artikuliert) – ein happier ending?
Das hartnäckige Klischee von Tu Felix Austria Nube (eine wichtige Ingredienz
des habsburgischen Mythos) will es ja auch, dass der österreichische Imperialis-
mus nicht unbedingt als sehr gewalttätig und invasiv gilt, sondern eher für Mul-
tikulturalismus, geschickte Diplomatie und (Heirats-)Politik steht7 – Instrumen-
te, die im Laufe des langen 19. Jahrhunderts freilich immer stumpfer werden,
wie die Situation in Oberitalien und Deutschland 1848 – 1866 zeigt. Ein weiterer
Fall ist die Okkupation Bosnien-Herzegowinas im Sommer und Herbst 1878, wo
die Früchte eines jahrelangen außenpolitischen ‘Antichambrierens’ schließlich
doch durch einen Großeinsatz der k. u. k. Armee eingebracht werden mussten,
der freilich von keinen gastfreien Frauengestalten begrüßt wurde.
In diesem Sinn soll nun im Folgenden der im kulturellen Gedächtnis der sog.
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ne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800–1930). Köln, Weimar, Wien:
Böhlau 2016 (= Peripherien. Neue Beitr. zur Europ. Geschichte 1), pp. 147–181.
7 Vgl. dazu etwa Parvev, Ivan: „Du, glückliches Österreich, verhandle“. Militär versus Dip-
lomatie in der habsburgischen Südosteuropa-Politik, 1739–1878. In: Kurz, Marlene et al.
(Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Wien: ÖAW 2005 (= Mittei-
lungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 48), pp. 539–550.
8 Der Okkupationsfeldzug von 1878 wird auch in der Habsburg-Sekundärliteratur selten
thematisiert. Unter den wenigen Titeln ist die einzige umfassende Arbeit jene von Ben-
cze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878 [ungar. EA 1987]. Hg.
v. Frank N. Schubert. Boulder: Social Science Monografs et al. 2005 (= War and Society
in East Central Europe XXXIX). Vgl. weiters Ströher, Doris: Die Okkupation Bosniens
und der Herzegovina und die öffentliche Meinung Österreich-Ungarns. Wien: Phil. Diss.
(unveröff.) 1949; Gavranović, Berislav (Hg.): Bosna i Hercegovina u doba austrougarske
okupacije 1878. godine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine
1973; Posebna izdanja akademija nauka i umjetnosti BiH [Sarajevo] 43 (1979); Donia, Ro-
bert: The Habsburg Imperial Army in the Occupation of Bosnia and Hercegovina. In:
Király, Béla / Stokes, Gale (Hg.): Insurrections, Wars and the Eastern Crisis in the 1870s.
Boulder, New York: Columbia Univ. Press 1985 (= East European Monografs), pp. 375 –391;
Baer, Fritz H.: Pulverfass Balkan Bosnien-Herzegowina. Teil 2: Weder die Türken noch die
Russen am Westbalkan. Österreich-Ungarn beruhigt als Ordnungsmacht (= Militaria aus-
triaca [Wien] 12 [1993]); Stergar, Rok: Slovenci in vojska, 1867–1914. Slovenski odnos do
vojaških vprašanj od uvedbe dualizma dozačetka 1. svetovne vojne. Ljubljana: Verlag
der Phil. Fak. 2004 (= Historia 9), insbes. pp. 87–141; Schindler, John: Defeating Balkan
Insurgency. The Austro-Hungarian Army in Bosnia-Hercegovina, 1878–82. In: Journal of
Strategic Studies 27(2004), pp. 528–52; Wohnout, Helmut: Die Okkupation Bosnien-Her-
zegowinas 1878. In: Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A.: Des Kaisers Bosniaken.
Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Verl. Militaria –
Ed. Rest 2008, pp. 14–38; Gabriel, Martin: „Wir führen einen Krieg, wo man auf Gnade
hin erfolgte, das die Habsburger Monarchie auf dem Berliner Kongress kurz zu-
vor im Juli verliehen bekam. Die Besetzung Bosnien-Herzegowinas verlief aber
keineswegs reibungslos, wie noch das Titelblatt der Bombe insinuieren möchte,
sondern sie war die blutige Militärintervention einer Großmacht: „Nicht uner-
wähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer der Veteranen im Rückblick, „daß die
Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell euphemistisch Okkupation
genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang9 war, sondern einen harten
Kampf darstellte“; angesichts der erlittenen Verluste sei es adäquater, „von einer
Eroberung […] zu sprechen“.10 Diesen blinden Fleck der post/imperialen memo-
ria wieder einer erneuten Erinnerungsarbeit anheim zu geben, wäre ein Beitrag
zu einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung in Österreich wie auf dem
Westbalkan, die auch die Geschichte kollektiver Gewalt in der Region lange vor
dem Zweiten Weltkrieg mit einbezieht.
Die k. u. k. Invasionsarmee, die unter Führung des kroatischen Feldzeugmeis-
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ters (FZM)11 Joseph Philippovich v. Philippsberg vom Norden her aus Slawonien
(XIII. Armeekorps) und vom Süden her aus Dalmatien unter Feldmarschalleut-
nant Stephan von Jovanović (18. Division) einrückte, musste zwischenzeitlich
stark aufgestockt werden;12 sie war am Schluss ihrer Kampagne zahlenmäßig
in etwa so stark wie das im zweiten Irak-Krieg13 (2003) eingesetzte amerikani-
nicht hoffen darf…“ Irreguläre Kriegführung bei der Okkupation Bosniens und der Her-
zegowina 1878. In: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/MGabriel1.
pdf (2010); Ders.: Die Einnahme Sarajevos am 19. August 1878. Eine Militäraktion im
Grenzbereich von konventioneller und irregulärer Kriegsführung. In: Kakanien Revisited,
http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/mgabriel3.pdf (2011); Ders.: Ambiva-
lent Perceptions. Austria-Hungary, Balkan Muslims, and the“Occupation Campaign“ in
Bosnia and Hercegovina (1878). In: Šistek, František (Hg): Central Europe and Balkan
Muslims. Relations and Representations. New York: Berghahn i.V. [2018/19].
9 Diese Metapher spielt auf eine Aussage an, die immer wieder Julius (Gyula) Andrássy
in den Mund gelegt wurde: „Mit einer Kompagnie, die Regimentsmusik voran“, zitiert
etwa ein anderer Veteran die gefügelten Worte des k. u. k. Außenministers, vgl. Spaits,
Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens und der
Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Trup-
pen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen I), p. 83. Vgl. auch Wert-
heimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Bd. 3. Stuttgart:
DVA 1910–1913, p. 153; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische
Studie. Wien: Reisser 1909, p. 77; sowie Wohnout, 2008, p. 22.
10 Woinovich, Emil v. (FML): In der Herzegowina 1878. Skizzen […]. Wien, Leipzig: C.W.
Stern 1908, p. 2; vgl. etwa auch Fournier 1909, p. 79.- Auch ein späterer Historiker
schreibt lakonisch: „the occupation […] turned into a conquest“ (Pavlowitch, Stevan K.:
A History of the Balkans, 1904–1945. London, New York: Longman 1999, p. 116).
11 Ein Generalsrang in der k. u. k. Armee.
12 Vgl. Bencze 2005, p. 200ff.
13 Diesen Konnex zwischen Okkupation und Irak-Krieg macht auch ein amerikanischer
Historiker; vgl. Sethre, Ian: The Emergence and Influence of National Identities in the Era
tur,25 die v. a. zur Zeit der Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 erschien: ein
Jahr, das zugleich – und nicht ganz zufällig – das 30-jährige Jubiläum der Ok-
kupation markierte.
Was für den Kulturwissenschaftler hier interessant ist, sind nicht unbedingt
nur die vergessenen Ereignisse, Fakten und Zahlen, sondern insbesondere auch
die Narrative der Okkupation und vor allem deren diskursive Legitimierung.26
Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass Bosnien-Herzegowina quasi zwei-
fach besetzt wurde: nicht nur militärisch, sondern auch in einem semantischen
Sinn, als „colonisation de l’imaginaire“,27 indem schon in dieser Phase dem Land
und seinen Leuten spezifische Bedeutungen zugeschrieben wurden, die das poli-
tische Programm der Habsburger Monarchie unterstützten. Dies ist insbesonde-
re in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Identitätspolitiken von Belang: d. h.
die Art und Weise, wie hier österreichisch-ungarische Soldaten mit v. a. musli-
mischen und serbischen Aufständischen in Kontakt kommen – die freilich wie
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viele von ihnen selbst Südslawen sind! –, wie sie diese Erfahrung kategorisieren
und im Rahmen eines vorherrschenden österreichisch-ungarischen Populär-
orientalismus28 bzw. im Rahmen der von ihrem Kriegsherrn formulierten qua-
si-kolonialen mission civilatrice29 narrativ verarbeiten. Zu fragen wäre freilich
25 Vgl. auch die Untersuchung slowenischer Veteranenberichte von 1878 bei Smolej, Tone:
The Image of Bosnia and Herzegovina (1875—1882) in Slovene Literature. In: Blažević,
Zrinka / Brković, Ivana / Dukić, Davor (Hg.): History as a Foreign Country / Geschichte
als ein fremdes Land. Historical Imagery in the South-Eastern Europe/ Historische Bilder
in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2015 (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 11), pp.
147–162.
26 Beispielhafte Analysen gibt es etwa auch im Beitrag von František Šístek im vorliegen-
den Sammelband. - Zum Verhältnis von Ereignis, Narrativ und Gedächtnis vgl. auch die
Beiträge der beiden Herausgeber in Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The
Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016
(= Kultur Herrschaft Differenz 22), pp. 15–56.
27 Vgl. Gruzisnki, Serge: La colonisation de l’imaginaire. Sociétés indigènes et occidentali-
sation dans la Mexique espagnole, XVIIe-XVIIIe siècle. Paris: Gallimard 1988.
28 Eine ausführlich monografische Darstellung der existenten k. u. k. Orientalismen ist z. Zt.
noch ein Desiderat. Erste Ansätze dazu etwa bei Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes:
Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkin-
son, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History: From Germany
to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148–165. Vgl. auch
Gingrich, Andre: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik.
In: Dostal, Walter / Niederle, Helmut A. / Wernhart, Karl R. (Hg.): Wir und die Anderen.
Islam, Literatur und Migration. Wien: WUV 1999, pp. 29–34. Vgl. außerdem den Beitrag
von Johannes Feichtinger im vorl. Sammelband.
29 Zur „civilizing mission“ / „mission civilatrice“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Le-
gitimierung des Kolonialismus s. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivili-
sierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005;
Mann, Michael: „Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral
„Die Diplomaten in Berlin trugen den Völkern Österreichs den Vollzug einer
Kulturmission (?) auf“, schreibt etwa das Laibacher Tagblatt am 30. Juli 1878
auf seiner Titelseite und fügt der bedeutungsschwangeren Kolonialvokabel ein
Fragezeichen in Klammern hinzu. Diese angebliche Erwartungshaltung, „daß
die Donaumacht hier nicht nur Ruhe und Ordnung, sondern auch, daß sie mit
den reichen Mitteln, über die ein hoch zivilisierter Staat verfügt, Kultur schaffen
werde“, formuliert auch August Fournier, freilich retrospektiv.30 Emphatisch
staatspatriotisch heißt es in den Erinnerungen des Leutnants Edmund von Glai-
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and Material Progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism
as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, New Delhi:
Anthem 2004, pp. 1–26; Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea
of Empire in France and West Africa, 1895–1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.-
In unserem Kontext vgl. auch Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg
‘Civilizing Mission’ in Bosnia, 1878–1914. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2007.
30 Fournier 1909, p. 76. Vgl. den Erfolgsdruck, den Wertheimer 1913, p. 143, insinuiert: Das
Ansehen der Monarchie wäre „geschädigt“ worden, wenn die Okupation nicht durchge-
führt worden bzw. gelungen wäre.
31 Glaise-Horstenau, Edmund v.: Tuzla und Doboj. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1909 (= Unsere
Truppen in Bosnien und der Herzegowina. Einzeldarstellungen VI), p. 2.
32 Vgl. Haardt 1878, p. 10.
Einen ähnlichen Wortlaut hat auch die Proklamation Philippovichs an die bos-
nisch-herzegowinische Bevölkerung.35 Sein Tagesbefehl an das k. u. k. Expedi-
tionskorps endet mit einer Ermahnung, die die Reizworte der mission civilatrice
wiederaufnimmt: „Soldaten! Eure Aufgabe, edel und erhaben in ihren Zielen, ist
eine schwere! […] nicht zu einem Siegeszuge, zu harter Arbeit führe ich euch,
verrichtet im Dienste der Humanität und Civilisation!“36 (Es fragt sich freilich,
inwieweit die österreichisch-ungarische Invasion jene humanitäre Krise, gegen
die sie angetreten ist, nicht auch mit erzeugt.)
Aufschlussreich ist auch der im offiziellen Schlussbericht des k. u. k. Kriegs-
archivs zum Okkupationsfeldzug wiedergegebene Aufruf der bosnisch-herze-
gowinischen Aufständischen – eines der wenigen Textzeugnisse der anderen
Seite, das, verfasst vom Stellvertreter des Scheriat-Kadija am 5. August 1878,
offenkundig auch vervielfältigt und in der ganzen Provinz verbreitet worden
sein dürfte:
Brüder in Gott, Religion und Vaterland! Hört die Stimme Eurer Großväter und Ur-
großväter, die euch von den stolzen Bergen der Bosna, welche Eure Ahnen einstens
mit ihrem heiligen Blut erkämpften, zuruft […] Die Schrift Gottes macht es uns zur
33 Haardt schreibt von mehr als 200.000 geflohenen Menschen, für deren Unterhalt die
k. u. k. Regierung 19 Mio. Gulden aufwenden müsse (ibid., p. 7).
34 Zit. n. Laibacher Tagblatt v. 30. 07. 1878, p. 1f.
35 Haardt 1878, p. 16.
36 Zit. n. ibid., p. 19f.
strengsten Pflicht, mit vereinten Kräften unsere Religion, unser Vaterland zu vertei-
digen und den Feind zu vernichten […]37
Hier stellt sich indes die Frage nach der Authentizität jener später von Fein-
deshand edierten und übersetzten Dokumente und deren Wirkung in einem
weitgehend analphabetischen Land – oder ist ihre Funktion in Textsorten wie
dem Generalstabswerk vor allem eine legitimatorische in Bezug auf die von
habsburgischen Truppen ausgeübte Gewalt, indem sie als Kronzeugen für den
„Fanatismus“ vor allem der muslimischen Bevölkerung herhalten müssen? Im
Vor- und Nachfeld der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 wird auch ein
weiteres stehendes Motiv der k. u. k. Autolegitimation und Selbstermächtigung
formuliert – der lange Niedergang des Landes in permanenten Kriegswirren
und türkischer Antimoderne:
Waren es bisher die blutigen Wechselfälle des Krieges, die jeden Versuch von Cultur
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und Civilisation im Keime erstickten, so trug fortan das finstere Joch der muselmän-
nischen Herrschaft das Weitere bei, das Land und seine Bewohner in trauriger mittel-
alterlicher Versumpfung schmachten zu lassen.38
Aus der retrospektiven Sicht über Jahrzehnte weg, aus der die meisten der ana-
lysierten Veteranenberichte verfasst wurden, ist allerdings die k. u. k. mission
civilatrice schon längst eine Erfolgsgeschichte und wird damit erzählerisch so
etwas wie eine self-fulfilling prophecy. Alexander Spaits etwa schreibt:
Bosnien und die Herzegowina, die noch vor kaum 30 Jahren zum klassischen Boden
der Christenmetzeleien und des Raubunwesens gehörten, in denen der Halbmond die
heimischen Herrscher wohl ausgerottet hatte, doch selbst nie zur festen Herrschaft
gelangte, die an Naturschätzen so reichen Länder in heilloser Anarchie verwüsten
ließ – Bosnien und die Herzegowina sind neu erstanden!39
Spaits ist begeistert, wie sehr sich „die okkupierten Gebiete zu einem modernen
Kulturland entwickelt“40 hätten und gerät ins imperialistische Schwärmen: „Zu
rechter Zeit die erforderlichen Kräfte unzersplittert hier im Süden eingesetzt,
hätte die Monarchie ihre Hoheitszeichen bis zum Ägäischen Meer, ja selbst zur
Donaumündung vorschieben können […], und im Besitz von Saloniki, politisch
und wirtschaftlich den ganzen Orient beherrscht!“41
37 Kriegsarchiv (Hg.): Die Occupation Bosniens und der Hercegovina durch k. k. Truppen
im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen dargestellt. Wien: Verl. des k. k. Generalsta-
bes / W. Seidel 1879, p. 866f.
38 Haardt 1878, p. 5.
39 Spaits 1907, p. 1.
40 Ibid.
41 Ibid.
42 Ibid.
43 Holtz, Georg Frh. von (Obst.): Von Brod bis Sarajevo. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (=
Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen II), p. 51.
44 Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, Oxford: Oxford Univ. Pr. 1997;
Jezernik, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers. London:
Saqi / Bosnian Institute 2004.
45 Chaura, Edmund: Obrazky z okupace bosenske. Prag: s.p. 1893, p. 38. Zit. n. der Über-
setzung in Jezernik 2004, p. 139.
46 Eine Grundlage dafür gibt es freilich mit der militärhistorischen Studie von László Benc-
ze 2005, eines Oberstleutnants der ungarischen Volksarmee, die bereits 1987 verfasst
wurde; es wären jedoch abseits der Kriegsgeschichte auch diverse andere (politische,
institutionelle, kulturelle, diskursive etc.) Aspekte noch zu berücksichtigen.
präsentiert werden; diese erscheinen nicht nur deshalb äußerst interessant, weil
sie zwei wichtige Phasen – und auch Rückschläge!47 – des Okkupationsfeldzugs
von 1878 darstellen, sondern auch, weil sie aus heutiger Sicht problematische
Übergriffe thematisieren, die eine Nagelprobe für ebenjene vorgebliche k. u. k.
„Friedens- und Kulturmission“ bedeuten. Damit werfen sie die bis heute viru-
lente Frage nach Menschenrechten in Kriegszeiten auf, vor allem aber: wer auf
einem Schlachtfeld ein regulärer Soldat oder wer ein unlawful combatant ist –
worauf nicht nur die Amerikaner in ihrem „War on Terror“ im frühen 21. Jahr-
hundert großen Wert legten.
47 Weitere militärische Misserfolge ereignen sich Anfang August vor Jajce und noch dra-
matischer bei Tuzla, wo die 20. k. u. k. Infanteriedivision unter Ladislaus Graf Szápáry
auf dem Vormarsch von den Insurgenten in Bedrängnis gebracht wird und sich vorläufig
wieder nach Doboj zurückziehen muss; vgl. Bencze 2005, pp. 164 ff., Plaschka 2000, vol. 1,
p. 97 u. Wohnout 2008, p. 27.
48 Holtz 1907, p. 57.
49 Vgl. Ströher 1949; siehe auch den Beitrag von Imre Ress zum vorl. Sammelband, p. ##.
50 Vgl. Fußnote 40.
51 Ich danke den lieben Kollegen František Šístek (Prag) und Rok Stergar (Ljubljana) für
diesen Hinweis. Vgl. auch Šísteks Beitrag im vorl. Sammelband, p. ##.
52 Vgl. dazu auch Ljuca, Adin: Maglaj. Na tragovima prošlosti. Prag: Općina grada Maglaja
1999.
Dismounting, the hussars returned fire. Some of the insurgents moved from both
sides of the road through the trees to reach the rear of the company, so they could fire
heavily at the soldiers from both sides. Millinković [= der kommandierende Offizier,
C.R.] orderd a retreat but in the confusion, the carts blocked the road.53
Schon die Biegung der Straße an und für sich ist für eine scharfe Gangart ein großes
Hindernis, dazu noch das verendete Tier! Reiter um Reiter stürzt, und in diesem Knäu-
el hinein schmettert das Schnellfeuer der Insurgenten. Hier geht alles in die Brüche!55
mehr Tote als die anderen Autoren und erzählt, man habe „mehrere Huszaren,
die sich in die Wälder gerettet hatten, in äusserst erschöpftem Zustande ange-
troffen, – andere wurden in schrecklichster Weise verstümmelt aufgefunden.“60
Wie Holtz berichtet, seien als Vergeltung dann beim zweiten Angriff auf Maglaj
am 5. August alle Ortsbewohner, die mit Waffen oder Habseligkeiten der Hu-
saren angetroffen worden wären, auf der Stelle erschossen worden.61 Auch der
Biograf von Graf Andrássy, Julius Wertheimer, erwähnt kurz den Zwischenfall
und nennt ihn den „verräterischen Ueberfall“ von Maglaj.62 Im patriotisch-he-
roisierenden Erinnerungsbuch von Julius Beranek aus dem Jahre 1908 hingegen
steht von Gräueltaten und Vergeltung nichts zu lesen; dafür wird dem Husa-
ren-Rittmeister (mit einer intertextuellen Referenz auf Shakespeares Richard
III.?) gleichsam ein narratives Denkmal der Verehrung seiner leadership errich-
tet – gewissermaßen ein Gegenmodell zur Hinterlist der Insurgenten:
Da wird dem Rittmeister das Pferd unter dem Leibe getötet. Zugsführer Alexander
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Varga pariert daraufhin sein Roß, springt ab und überläßt es dem Rittmeister mit den
Worten: ‘Herr Rittmeister, die Eskadron bedarf ihres Kommandeurs, bitte gehorsamst,
hier ist mein Pferd!’63
Beranek erzählt auch von der schnell entstandenen Fama, „die Hauptkolonne
sei bei Maglaj von den Insurgenten vernichtet und Feldzeugmeister Freiherr von
Philippovich gefangen genommen worden. Dieses Gerücht verbreitete sich mit
Blitzesschnelle im ganzen Lande und war Ursache, daß die Insurgenten plötzlich
von allen Seiten bedeutenden Zulauf an raublüsternem Gesindel erhielten.“64
Die Kriminalisierung der Aufständischen kommt nicht von ungefähr. Die
historiografische Darstellung von Bencze, die Wiener Kriegsarchiv-Bestände
auswertet, sieht jene entscheidende Frühphase des Feldzugs in the greater pictu-
re. Der k. u. k. Oberkommandierende Philippovich habe das Debakel von Maglaj
als Vorwand für zweierlei genommen: „Fillipovic used this event to report to the
emperor that peaceful occupation was impossible“;65 in diesem Sinne forderte
60 Ibid., p. 39. Vgl. Spaits 1907, p. 66. Auch Hans Böhm (Hoch die ‘Achter’! Erlebnisse auf
dem Kriegsschauplatze in Bosnien im Jahre 1878. Wien: Selbstverlag 1903) schreibt ganz
im Sinne von Edmund Chaura von Gräueltaten an versprengten Kameraden (p. 8.) und
der Paranoia der Soldaten in der Nacht (p. 11f.).
61 Holtz 1907, p. 70f.
62 Wertheimer 1913, p. 151.
63 Beranek 1908, p. 7.
64 Ibid., p. 7f.
65 Bencze 2005, p. 117 – Holtz 1907, p. 50, zitiert das Generalstabswerk (p. 130): „Durch den
verräterischen Überfall bei Maglaj hat das Kommando des XIII. Korps die zweifellose Ge-
wißheit erlangt, daß der anfänglich friedliche Einmarsch in Bosnien einem bewaffneten
freilich nicht mehr, denn scheinbar durch einen Kommunikationsfehler ist der
Ort zwischenzeitlich am 5. August (s. o.) von einer anderen k. u. k. Einheit ein-
genommen worden. Einige Insurgenten entkommen, andere werden getötet
oder in den Fluss getrieben, wo sie ertrinken:69 „Wer der Kugel und dem Bajonett
entging, wurde in die hochangeschwollene Bosna gedrängt, welche fast alle
verschlang.“70 Wieder andere ergeben sich, aber Benczes Bericht schließt lako-
nisch: „At Filippović’s order, the prisoners were butchered on the spot.“71 In den
nächsten Tagen treffen dann die k. u. k. Truppen bei Žepče auf einen größeren
Sperrriegel des bosnischen Widerstands, als sich ihnen ca. drei- bis viertausend
Insurgenten und zwei reguläre osmanische Bataillone zu einer veritablen Feld-
schlacht in den Weg stellen.72
Dass der „meuchlerische[.] Ueberfall[.]“73 von Maglaj zum Inbegriff des bos-
nisch-herzegowinischen „Banditism“74 wird, steht wie bereits angedeutet in
einem größeren legitimatorischen Zusammenhang, auf den auch Bencze hin-
Widerstande begegnen und die Besitzergreifung des Landes nur auf gewaltsamen Wege
durchzuführen sein werde.“
66 Bencze 2005, p. 117.
67 Ibid.- Holtz 1907, p. 50, schreibt: „Man seufzt unwillkürlich erleichtert auf und sagt: ‘Na
endlich!’ Es erschien auch gleich Tags darauf ein geharnischter Befehl, der besagte: ‘Daß
– ggf – Nizams und Redifs [= reguläre osmanische Truppen und Landwehr, C.R.] zu Ge-
fangenen zu machen, Mustahfiz und Insurgenten jedoch ‘zu vertilgen’ seien!'“
68 Bencze 2005, p. 117.
69 Ibid, p. 120.Vgl. Beranek 1908, p. 10; Haardt 1878, p. 38.
70 Holtz 1907, p. 68.
71 Bencze 2005, p. 120.
72 Vgl. Bencze 2005, p. 121; Spaits 1907, p. 75ff.
73 Haardt 1878, p. 35.
74 Bencze 2005, p. 118.
gewiesen hat: Die Grundannahme der k. u. k. Truppen war nämlich, dass sie
„an armed policing action under the provisions of an agreement signed with
the Porte“ ausführten; dies ermöglichte ihnen speziell nach dem Anlassfall von
Maglaj, eine strikte Trennung zwischen regulären und irregulären Kämpfern
vorzunehmen.75 Dem gegenüber sollte aber die damals gültige Kriegskonven-
tion, die Brüsseler Deklaration von 1874 (Artikel 9–10) festlegen, dass auch irre-
guläre Kämpfer als normale „combattants“ anzusehen seien, wenn sie unter den
Befehlen ihrer eigenen Regierung handeln bzw. ihr Gebiet noch nicht besetzt
ist; wegen der ihrer Meinung nach fehlenden Legitimation des provisorischen
Regierungsrates in Sarajevo wurde dies jedoch von den Invasoren nicht an-
erkannt.76 Der Zwischenfall von Maglaj und andere Rückschläge liefern dann
perfekte Vorwände zu einem harten Vorgehen in diesem „hybriden“ Konflikt,
das die „Insurgenten“ quasi als homines sacri von den Menschenrechten norma-
ler Kriegsgefangener ausschließt und vogelfrei macht.77
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All dies wird noch interessanter durch die Tatsache, dass die Okkupationszeit
in Maglaj auch den historischen Hintergrund für den ersten großen modernen
bosnischen Roman abgibt, nämlich Zeleno busenje [„Grüner Rasen“] von Edhem
Mulabdić, erschienen 1898, also zwanzig Jahre später. Im Zentrum der Fabel
steht eine bittersüße, unglückliche Liebesgeschichte, in der sich die verschiede
nen Lebensstile in der Stadt abbilden. Der Text beschreibt auch, wie sich vor
dem bevorstehenden Einmarsch der österreichisch-ungarischen Truppen in der
Stadt zwei Lager bilden, nämlich diejenigen, die sich von den habsburgischen
„Schwaben“ Neuerungen und eine bessere Zukunft erwarten und jene, die stur
und konservativ an ihrer Heimat so wie bisher festhalten möchten. Es bildet sich
eine Kriegspartei, die lautstark für den Widerstand gegen die Okkupation ein-
tritt und sich im Basar sammelt. Soziale Unterschiede spielen sichtbar eine Rolle,
denn „es waren lauter Bauern, Dienerschaft und Zigeuner. Irgendwann begann
eine Trommel zu dröhnen und Hadschi Seimanga (= der Führer der Kriegspartei,
C.R.) pflanzte die Fahne mitten im Basar auf“.78 Geschildert wird die zunehmen-
de Kriegshysterie, währenddessen die ersten Menschen nach Hause gehen. Als
dann endlich die k. u. k. Kavallerie – scheinbar am 5. August – vor der Stadt
auftaucht, heißt es:
75 Ibid.
76 Ibid.
77 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers.
v. Hubert Thüring. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.
78 Zit. n. der Übersetzung in Braun, Maximilian: Die Anfänge der Europäisierung in der
Literatur der moslimischen Slaven in Bosnien und Herzegowina. Leipzig: Markert & Pet-
ters 1934, p. 94.
Es begann eine allgemeine Panik, ein Schreien und Weinen; alles begann zu rennen
[…]; alles läuft, um sich im Gebüsch zu verstecken, um nicht zugrunde zu gehen, denn
der Feind wird doch sicher alles in Brand stecken. In dieser Aufregung hatte niemand
darauf geachtet, was denn aus dem Heertrupp vor dem Deibeg-Han geworden sei.
Kaum war jene schreckliche Stimme von der Stadt her verklungen – da waren sie auch
schon alle wie eine aufgescheuchte Vogelschar auseinandergespritzt, mitten durch
Mais und Weizen. In einem einzigen Augenblick waren diese Helden verschwunden,
ohne Büchsenschuß und Messerstich, ohne einen Tropfen Blut, ohne auch nur zu
fragen: wohin, warum?79
Bei Mulabdić findet also der Widerstand und dessen Hinterhalt nicht wirklich
statt, die Militanten stammen allesamt aus niederen Volksklassen und rennen
davon, als sie die Stimme des Agitators nicht mehr hören (und so spielt auch
hier leadership wie im zitierten Veteranenbericht eine Rolle). Damit ist freilich
das traumatische Scharmützel aus dem Roman hinausredigiert und über alles
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wächst Gras bzw. der titelgebende grüne Rasen – warum, bleibt die Frage: um
als Autor nicht bei der k.u.k Zensurbehörde Schaden zu nehmen? Oder ein re-
trospektiv opportunistischer Akt dem Besatzer gegenüber? Oder, weil es eben
zum Wesen des Traumas gehört, verdrängt zu sein?
79 Ibid., p. 96.
80 Wertheimer 1913, p. 155.
81 Holtz 1907, p. 185.
82 Beranek 1908, p. 45.
Der ganze äußere Umkreis Sarajevos war stark besetzt. Aber auch im Inneren der
Stadt gestatteten die engen Gassen mit ihren vielen Häusergruppen und einzelnen
in den Erdgeschossen leicht zu verrammelnden Gebäuden, deren kleine Fenster der
Stockwerke und zahlreiche Dachlücken die Abgabe des Feuers nach verschiedenen
Richtungen zuließen, die nachhaltigste Verteidigung. Von der Umfassung der Stadt
vertrieben, warfen sich die Insurgenten meist in die nächsten Häuser, verbarrikadier-
ten alle Eingänge und unterhielten ein vernichtendes Feuer gegen die nachstürmende
Infanterie.83
Wenn man freilich auch hier die vorgeblich authentischen Berichte mit jenem
des Militärhistorikers Bencze vergleicht, so wird klar, dass ein wesentlicher Teil
der Geschichte (im Sinne einer Aposiopese) ausgelassen worden sein dürfte –
die Ermordung der mitkämpfenden Sarajevoer Frauen und Kinder:
A horrible battle took place in the Muslim quarter. The Turkish soldiers, police and
refugees, among them Montenegrins […], residents of Sarajevo, for the most part poor
artisans and merchants – including old people, children, women, and young girls –
defended themselves desparately, firing from the cellars of their burning houses, from
fences, and from the tops of minarets. The soldiers moved forward step by step, […]
mercilessly killing everyone they found on the street; they threw down women who
had fled up into the minarets and dealt with children who had taken arms in the same
way as with the insurgents.85
Haus um Haus mußte erstürmt werden; selbst Weiber beteiligten sich mit fanatischer
Wut am Kampfe und drangen mit Handschar und Pistolen auf die Unsrigen ein, –
Pardon wurde keiner verlangt und keiner gegeben, was eine Waffe trug, wurde rück-
sichtslos niedergemacht.87
In Holtz’ Heimmarsch-Band, der ein Jahr später erscheint, wird noch eine blu-
tige Episode nachgereicht, in der ein k. k. Leutnant mit dem südslawischen Na-
men Imelić bei den Straßenkämpfen in ein Sarajevoer Haus eindringt. Wie die
eben zitierte Formulierung dient auch hier der wiederholt behauptete „Fanatis-
mus“ der muslimischen (und serbischen) Bevölkerung dazu, die drastischen
Maßnahmen gegen sie zu rechtfertigen:
Als das Tor aufgesprengt war, stellten sich ihm ein schwangeres Weib und ein etwa
zehnjähriger Knabe entgegen und feuerten beide ihre Pistolen auf ihn ab. Ihn fehlten
sie, verwundeten aber einen seiner hinter ihm befindlichen Leute. Beide fielen sofort
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unter den Bajonetten und den Kolbenschlägen der empörten Soldaten, welche, da das
Stockwerk noch stark besetzt war und den Insurgenten über die schmale Treppe ohne
große Verluste nicht beizukommen waren, das Haus einfach in Brand steckten und
die Türken ausräucherten.88
Genauso, wie diese Grausamkeit aus dem Trauma der Niederlage von König-
grätz zwölf Jahre zuvor – etliche der Okkupationstruppen waren deren Vetera-
nen! – und dem daraus resultierenden Erfolgsdruck auf die k. u. k. Soldaten zu
erklären sein mag, hat umgekehrt die unterdrückte Erinnerung an die Grausam-
keit der Kämpfe in Bosnien-Herzegowina möglicherweise doch zur Härte des
Vorgehens gegen die serbische Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg mit bei-
getragen. Ein Beispiel dafür wären etwa die Gräueltaten hinter der serbischen
Grenze nahe Šabac um den 15. August 1914 herum; zum Vergleich mit Sarajevo
sei ein unveröffentlichter Augenzeugenbericht darüber anzitiert:
Als wir Bogosavac passierten, lernte ich zum erstenmale die entsetzlichen Greueln des
Krieges kennen. Die zurückgebliebenen Einwohner (nur Greise, Frauen und Kinder)
beschießen unsere Kolonne hinterrücks aus den Häusern, von den Dächern und aus
den Kellern. Um uns in Sicherheit zu wiegen, steckten sie bei unserem Eintreffen
kleine, weiße Fähnchen aus den Fenstern und riefen uns in serbischer Sprache: „Živi-
la austriacka armada“ zu. Das war arge Hinterlist. Schwer mussten es die Bewohner
bühsen, alle Häuser aus denen Schüsse fielen gingen in Flammen auf. Alle Bewohner,
welche beim Schießen betreten worden sind, wurden einerlei ob Greis, Frau oder Kind,
erschossen! Ein entsetzlicher Anblick! Noch heute gruselt es mich, wenn ich an jene
Scene denke! Damals kannte ich ja nicht den Krieg mit allen seinen tieftraurigen Be-
gleiterscheinungen! Aber wir hätten auf der Hut sein sollen, zumal wir doch wussten
[!], mit welchen hasserfüllten, raschesüchtigen Volke es wir zu tun haben.89
ob man die Eroberung einer Provinz von einer Million Einwohnern mit einem Auf-
gebote von 150.000 Mann binnen zwei Monaten, mit einem Verluste von 7.000 Mann
auf dem Schlachtfelde, ohne die zu zählen, welche in den Lazarethen verkamen und
noch verkommen, und nach Ausgabe von 100 Millionen, ob man eine Okkupation,
die das erworbene Land verwüstet und entvölkert hat, welche die übriggebliebene
Bevölkerung erbittert und entfremdet hat, ob man eine solche Occupation eine glor-
reiche nennen kann? (Rufe von links: sehr richtig! Bravo!)92
89 Zanantoni, Eduard: Erinnerungen aus meinem Leben [handschriftl unveröff. Ms, 1922].
Österr. Staatsarchiv (ÖStA/KA/NL, B/6:1).- Ich danke Tamara Scheer für diesen produk-
tiven Hinweis.
90 Hausner, Otto / Dr. Wolski: Oesterreichisch oder Kosakisch? Reden in der Adressdebatte
des österr. Abgeordnetenhauses. Wien: L. Rosner 1878. Für die Interessenslage dieser
beiden Parlamentarier ist aufschlussreich, dass der galizische Abg. Hausner sich selbst
als Polen bezeichnet (ibd., p. 47).
91 Ibid., p. 10.
92 Ibid., p. 36.
93 Bencze 2005, p. 301.
Benczes Befund stimmt nun keineswegs mit dem Bild vom Okkupationsfeldzug
1878 überein, wie es der postimperialen Nachwelt – wenn auch spärlich – über-
mittelt wird; eher schon hat sich Andrássys Bild vom bewaffneten Spaziergang
mit Blasmusik als Beschreibungshülse durchgesetzt, sofern nicht der umfang-
reichste k. u. k. Militäreinsatz von fast fünfzig Jahren (1866–1914) überhaupt
aus der Habsburg-Geschichtsschreibung ausgespart bleibt: selektive Wahrneh-
mung?
Dementsprechend erscheint es erstrebenswert – unter Berücksichtigung des
beschränkten Raumes, der uns hier zur Verfügung steht – die Analyse einiger
zentraler diskursiver Momente der skizzierten Kriegsnarrative in Angriff zu
nehmen und dann einen etwas weiter führenden Ausblick anzudenken.
Zunächst einmal die Erzählstrukturen: In den meisten Militär- und Vetera-
nenberichten werden
• „rechtmäßige“ Okkupation und illegitime „Insurgenz“ einander gegenüber-
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94 Zu diesem Konzept vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. An Essay in
Reading the Archives. In: History and Theory 24.3 (Okt. 1985), pp. 247–272; Brons, Lajos:
Othering, an Analysis. In: Transcience 6.1 (2015), pp. 69–90.
95 Diese stehende Phrase einer Selbstrechtfertigung des Kolonialismus geht auf Rudyard
Kiplings Gedicht The White Man’s Burden von 1899 zurück; online auf Englisch mit deut-
scher Übersetzung unter www.loske.org/html/school/history/c19/burden_full.pdf
Im Kampf wie im Sieg fungiert also die success story der Okkupation als überna-
tionale Klammer in Österreich-Ungarn; hier sei nochmals Julius Beranek zitiert:
Ob die Soldaten Deutsche oder Polen, ob sie Ungarn oder Kroaten, ob sie Tschechen
oder Krainer, ob Steirer oder Tiroler waren: sie alle, alle haben den Beweis erbracht,
daß es in der österreichisch-ungarischen Monarchie kein minderwertiges Volk, keine
minderwertigen Soldaten gibt.100
96 Vgl. JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Ra-
cial Difference in Colonialist Literature. In: Gates, Henry Louis Jr.: ‘Race’, Writing, and
Difference. Chicago, London: Chicago Univ. Pr. 1985, pp. 78–106.
97 Vgl. dazu Preljević & Ruthner 2016.
98 Glaise-Horstenau 1909, p. 4.
99 Zit. n. Beranek 1908, p. 134.
100 Ibid.
• Seit jeher dient die kategorielle Trennung von regulären Soldaten und irre-
gulären Kämpfern / unlawful combattants der Umgehung von internationalen
Konventionen für die Behandlung von Kriegsgefangenen, die es schon 1878
gab.
• Doch wer bestimmt, was völkerrechtlich illegale „Insurgenz“ und was legiti-
me ‘Heimatverteidigung’ ist? Zugunsten der bosnisch-herzegowinischen In-
surgenten ließe sich argumentieren, dass diese immerhin quasi-demokratisch
den Willen eines signifikanten Prozentsatzes der bosnisch-herzegowinischen
Bevölkerung zur Territorialverteidigung exekutiert haben, der zudem noch
vom Aktionskomitee der Aufständischen in Sarajevo sanktioniert worden
war.
• Die Rhetorik der „Insurgenz“ öffnet somit ein militär- und menschenrecht-
liches Vakuum – denn wie lässt sich mit der vorgeblichen „Kulturmission“
vereinbaren, dass sie letztlich nur mit Gewalt durchgesetzt werden kann?
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Werden sich hier der fanatische Insurgent und der das Standrecht handha-
bende Zivilisationssoldat nicht erstaunlich ähnlich? Oder dienen hier die pa-
thetischen „zivilisatorische Werte“ nur als Prätext für Imperialismus? Schon
der Abgeordnete Dr. Wolski hat im österreichischen Reichsrat die rhetorische
Frage gestellt, „ob der Humanität gedient worden wäre durch die Hekatom-
ben von Opfern, die eben in Folge des Einmarsches der Oesterreicher hin-
geschlachtet worden sind.“101
• Der Abgeordnete Wolski ist es auch, der die Dialektik des Kolonialismus
hellsichtig vorausgeahnt hat, die sich gegen die Möchtegern-Kolonisatoren
wenden wird und nicht zuletzt bereits durch die gewaltsam widersprüchliche
Natur der „Kulturmission“ bedingt ist:
Ein Gemeinplatz will es, dass in der Beschreibung eines Krieges a posteriori die
Perspektive der Mächtigen und vor allem die des Siegers den Ausschlag gibt.
Dies gilt damals 1878 in Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina wie heu-
te in den USA und im Irak; was indes einen durchaus überraschen kann, ist die
Ähnlichkeit der beiden Okkupationsdiskurse und ihres zentralen Leitmotivs,
des fanatischen muslimischen Insurgenten, den dieser Diskurs zum alien Other
macht, das vernichtet werden muss, damit der verbleibende Rest der Bevölke-
rung „cultivirt“ werden kann.
Als kleine Ironie der Geschichte kann man freilich anmerken, dass bereits
wenige Jahre nach der Okkupation 1878 die Nachkommen jener bosnisch-her-
zegowinischen Aufständischen der k. u. k. Armee als erstrebenswerte human
resources galten und konskribiert wurden.103 Die daraus entstehenden „Bosnia-
ken“-Infanterieregimenter zählten zu den Elitetruppen der Habsburger Mon-
archie im Ersten Weltkrieg, die für ihre Kampfstärke und Tapferkeit von den
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Nachfolgern jener k. k. Militärs gelobt wurden, die ihre Väter und Großväter
noch als grausame Fanatiker abgetan hatten.104 Bei ihrer schwärmerischen Be-
schreibung105 jedenfalls greifen orientalistische Klischees um sich, welche die ko-
lonial-imperialistische Dimension jener letzten habsburgischen Gebietserwer-
bung einmal mehr als phantasmatischen Raum offen legen; so schreibt etwa der
Autor Rudolf Henz, der ebenso wie der spätere österreichische Bundespräsident
Adolf Schärf im Weltkrieg als Offizier bei einem bosnisch-herzegowinischen In-
fanterie-Regiment diente, in seinem autobiografischen Roman Dennoch Mensch
(1935) retrospektiv über seine südslawischen Soldaten:
Bosniaken, das waren für mich kräftiges Urvolk, Balkan, Moschee und Muezzin, Kis-
met und Todesmut, das war Fez und Pumphose, im Mundwinkel hängende Zigaret-
te, das war Sturmangriff mit Juchzen und Bocksprüngen, war Dolch zwischen den
Zähnen und Erfüllung unmöglicher Befehle, das war wilder und immer tapferer und
treuer als alle anderen, war ein Stück wilder Orientträumerei, Ersatz für viele Reisen
und Indianergeschichten.106
103 Vgl. Šehić, Zijad: Das Militärwesen in Bosnien-Herzegowina 1878–1918. In: Ruthner et al.
2015, pp. 139–153.
104 Zu diesem Thema vgl. Schachinger, Werner: Die Bosniaken kommen. Elitetruppen in
der k. u. k. Armee. Graz: L. Stocker 1994; Neumayer, Christian / Schmidl, Erwin A.: Des
Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien:
Ed. Stefan Rest / Militaria 2008.
105 Vgl. Strigl, Daniela: Schneidige Husaren, brave Bosniaken, feige Tschechen. Nationale
Mythen und Stereotypen in der k. u. k. Armee. In: Hárs, Endre / Reber, Ursula / Ruthner,
Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn,
1867–1918. Tübingen: Francke 2006, pp. 129–144
106 Henz, Rudolf: Dennoch Mensch. Ein Roman von Krieg und Liebe. Salzburg: Pustet 1935,
p. 35.
„Proximate Colony“
Modernisierung
Die österreichisch-ungarische Verwaltung verlieh wiederholt ihrer Hoffnung
Ausdruck, dass Bosnien-Herzegowina eines Tages eine zeitgemäße europäi-
sche Gesellschaft werden würde.6 Ihre Politik hingegen zielte darauf ab, ein
traditionelles Gemeinwesen mit den äußeren Manifestationen einer westlichen
Moderne lediglich zu übertünchen. Die k. u. k. Administratoren sahen sich als
na mussten sie immer wieder die Risiken sozialer Unruhe in Erwägung ziehen,
die sich leicht auch im Mutterland ausbreiten konnte. Weiters sahen sich die
offiziellen k. u. k. Repräsentanten dem heftigen Wiederstand der ungarischen
Agrarlobby ausgesetzt, die von Anfang an gegen das koloniale Abenteuer op-
poniert hatte, da sie um ihre eigene soziale und politische Bedeutung fürchtete.
Die politische Rücksichtnahme auf die Lage im Mutterland verstärkte so die
konservativen Instinkte der kolonialen Bürokratie. In Erfüllung ihrer erklärten
Ziele („to make the people content“ bzw. „retain the ancient traditions of the
land vivified and purified by modern ideas“),8 untermauerte sie die dominante
Stellung traditioneller Eliten und fror so gleichsam die Sozialstrukturen, die
sich als äußerst resistent gegen wirtschaftliche und politische Transformationen
erwiesen, vor Ort ein.
Die k. u. k. Administrationen sahen wenig Chancen, die Bosnier zu gelehrigen
und dankbaren Untertanen zu bekehren, ohne das größte Problem der neuen
Provinz anzusprechen, das immer wieder für Unzufriedenheit sorgte: das qua-
si-feudale Agrarsystem von abhängigen Landpächtern, den sog. Kmeten.9 Die
7 Kállay an Kaiser Franz Joseph, Wien, 03.10. 1895. Zit. n. Hauptmann, Ferdo (Hg.): Borba
Muslimana Bosne i Hercegovine za vjersku vakufsko-mearifsku autonomiju [Der Kampf
der Muslime Bosnien-Herzegowinas um die Autonomie religiöser Stiftungen]. Sarajevo:
Arhiv Socijalisticke Republike Bosne i Hercegovina 1967, p. 62.
8 Interview with Benjamin von Kállay. In: The Daily Chronicle [London], 03. 10. 1895. Zei-
tungsausschnitt in den Papieren von Benjamin Kállay, Faszikel 47, Magyar Országos
Levéltár (Budapest), p. 344, zit. n. Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The
Muslims of Bosnia and Herzegovina, 1878–1914. Boulder, Col.: East European Monografs
1981, p. 14.
9 Vgl. Hauptmann, Ferdo: Privreda i društvo Bosne i Hercegovine u doba austro-ugarske
vladavine (1878–1918) [Wirtschaft und Gesellschaft in Bosnien-Herzegowina während
der Urbanisierung ihrer Kolonie. Sie bediente sich einer kleinen Armee von
Architekten – meist Südslawen oder Tschechen, die in Wien ausgebildet worden
waren –, die die städtischen Zentren Bosniens und der Herzegowina im Stil
zeitgenössischer zentraleuropäischer Innenstädte erneuern sollten.13 Indem sie
Vorlagen von Stadtplanern aus anderen Teilen der Monarchie übernahmen, ad-
aptierten sie die Muster des zeitgenössischen Historismus für die Restrukturie-
rung Bosnien-Herzegowinas. Die Architekten profitierten dabei von der Nähe
der Kaisermetropole Wien zu ihrer Kolonie, was häufige Reisen hin und her ein-
fach machte und eine Wechselwirkung der Einflüsse und Designs bewirkte. Bald
sahen die bosnisch-herzegowinischen Stadtzentren wie andere Provinzstädte in
der Monarchie aus. Immigranten strömten in Scharen herbei – nicht nur vom
Land, sondern auch aus den kroatisch besiedelten Teilen der Monarchie.
Ein wichtiger Teil der regen Bautätigkeit war freilich konservativen Beweg-
gründen geschuldet; so entstanden neue, stattliche Kirchenbauten sogar in den
kleinsten Städten. Die Architekten entwarfen auch monumentale Sakralbau-
der österr.-ungar. Herrschaft]. In: Redžić, Enver (Hg.): Prilozi za istoriju Bosne i Herce-
govine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1987, vol. 2, pp.
99–181.
10 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 499–515; Donia 1981, pp. 25–28. Zur Agrar-Administration vgl.
K. u. k. Gemeinsames Finanzministerium: Bericht über die Verwaltung Bosniens und der
Herzegovina 1906. Vienna: k. k. Hof- & Staatsdruckerei 1906, pp. 53–39.
11 Vgl. Hauptmann 1987, pp. 181–187.
12 Die Ansichten dieser radikalen Schüler und Studenten sind zusammengefasst bei Dedijer,
Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966, pp. 175–234.
13 Vgl. die Illustrationen bei Krzović, Ibrahim: Arhitektura Bosne i Hercegovine, 1878–1918
[Die Architektur Bosnien-Herzegovinas 1878–1918]. Sarajevo: Umjetnička galerija Bosne
i Hercegovine 1987.
ten für die Hauptstadt Sarajevo, um den Status der von der Regierung einge-
setzten religiösen Funktionäre zu untermauern, das Interesse der Bevölkerung
strategisch von säkularen nationalistischen Bewegungen abzulenken und sie
zu Frömmigkeit und Gehorsam zu erziehen.14 Obwohl sie durch die Hügel-
ketten im Umland behindert waren, die Sarajevos Ost-West-Tallage definieren,
schafften es die Architekten und Stadtplaner, die visuelle Bedeutung der Wiener
Ringstraße ohne ihre kreisförmige Anlage zu kopieren: Sie schufen quasi einen
linearen Boulevard in einem bescheidenerem Ausmaß entlang den Flussufern
der Miljacka. Obwohl sie sich bemühten, sich den (Jugend-)Stil des Wiener
Sezessionismus zu eigen zu machen, diktierte ihnen der habsburgische Tradi-
tionalismus, dass öffentliche und religiöse Gebäude dieser Mode abzuschwören
hätten, und so bestimmten historistische Gebäude auch weiterhin das Stadtbild.
Trotz des konservativen Charakters dieses von der Habsburger Monarchie
finanzierten Wandels lässt sich sagen, dass Österreich-Ungarns selbstprokla-
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mierte „Kulturmission“ bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts großenteils er-
folgreich war. Es war aber ein Pyrrhus-Sieg: Die Verbreitung der ‘modernen’
Kultur wirkte sich nachteilig auf das k. u. k. Kolonialprojekt aus. Bessere Kom-
munikation und Infrastruktur beseitigten die Isolation, in der viele Bosnier
und Herzegowiner bis zum Aufkommen eines Straßennetzes, Eisenbahn- und
Telegrafensystems gefangen waren; gesteigerte Mobilität und der Zugang zu
Information schufen Möglichkeiten, sich politisch zu organisieren. So hatten
von 1895 bis zur Implementierung des Ausnahmezustands als Folge der Ermor-
dung von Erzherzog Franz Ferdinand 1914 die k. u. k. Administratoren vielerlei
Formen von Unzufriedenheit zu gewärtigen, deren Zielscheibe zunehmend die
imperiale Fremdherrschaft selbst wurde. Es entwickelten sich vier Formen des
Bürgerprotests:
1. Die serbisch-orthodoxen und muslimischen Mitglieder konservativer sozia-
ler Eliten organisierten sich, um eine größere Autonomie in Bildung und
Religion zu erreichen.15 (Der katholische Klerus engagierte sich nicht in einer
Protestbewegung, sondern führte Kampagnen für Religionsübertritte durch,
die gewisse Züge mit den Initiativen der Muslime und Serben teilten.16)
14 Vgl. Donia, Robert J.: Sarajevo. A Biografy. Ann Arbor: Michigan Univ. Pr. 2006, pp. 67–82.
15 Vgl. Madžar, Božo: Pokret Srba Bosne i Hercegovine za vjersko-prosvjetnu samoupravu
[Die serbische Autonomieewegung für Religion und Bildung in Bosnien-Herzegowina].
Sarajevo: Veselin Masleša 1982, pp. 95–426; Šehić, Nusret: Autonomni pokret Muslimana
za vrijeme austrougarske uprave u Bosni i Hercegovini [Die Autonomiebewegung der
Muslime während der österr.-ungar. Herrschaft in Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Sv-
jetlost 1980, pp. 43–356; Donia 1981, pp. 37–174.
16 Vgl. Grijak, Zoran: Politička djelatnost vrhbosanskog nadbiskupa Josipa Stadlera [Die po-
litischen Aktivitäten des bosnischen Erzbischof Josip Stadler]. Zagreb, Sarajevo: Hrvatski
sich immer mehr als Serben zu sehen, während die Katholiken eine kroatische
Identität annahmen. Wie sich herausstellte, waren ‘die Bosnier’ nicht für kos-
metische kulturelle Neuerungen zu haben; sie orientierten sich lieber an den
Nachbarländern.
Psychologisierung
Im Zentrum des k. u. k. Zugangs zu den neuen kolonialen Untertanen stand
ein tiefgreifender Paternalismus. Die Verwaltung sah sich in loco parentis und
glaubte deshalb, die Einwohner von Bosnien-Herzegowina seien am besten wie
Kinder zu verstehen, zu motivieren und zu diziplinieren. Ihre Haltung korres-
pondierte gut mit dem absolutistischen Geist, der die ersten zwanzig Jahre der
Okkupation unter Kállay dominierte. Ungeachtet seines profunden Einflusses
auf die k. u. k. Politik ging der Paternalismus jedoch Kállays Ankunft voraus
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und setzte sich nach seinem Tod fort. Während des gesamten k. u. k. Intermez-
zos in Bosnien-Herzegowina schienen die österreichisch-ungarischen Behörden
an die ‘Bürde’ zu glauben, die ihnen der Transfer einer inhärent überlegenen
‘Zivilisation’ an eine inhärent inferiore Bevölkerung auferlegte, und weder geo-
grafische Nähe noch geteilte ethnische Zugehörigkeit konnte ihre absichtsvolle
Herablassung mildern. Wie der Anthropologe Joel Halpern treffend bemerkt:
„geografical proximity was accompanied by a sense of remoteness.“18
Der gleichsam instinktive Paternalismus der Behörden war bereits in der
ersten offiziellen Begegnung zwischen den imperialen Besatzern und deren
künftigen bosnisch-herzegowinischen Untertanen im August 1878 spürbar:
Feldzeugmeister Joseph Philippovich (1818–1889), der Befehlshaber des k. u. k.
Okkupationsfeldzugs, wollte die Oberhäupter der großen religiösen Gemein-
schaften in Sarajevo empfangen.19 Er ersuchte Grga Martić, einen Franziska-
ner-Pater, für ihn deren Vertreter auszuwählen, und bestand darauf, die Juden,
Serbisch-Orthodoxen und Muslime getrennt von den Katholiken zu treffen.
Nach einem Eröffnungszeremoniell scholt Philippovich die Oberhäupter der
Orthodoxen und Muslime für ihren Widerstand gegen die habsburgische Ok-
kupation und drohte ihnen mit Vergeltung, sollten sie sich den k. u. k. Streit-
kräften weiterhin widersetzen. Dann empfing er separat Pater Martić und lobte
die Katholiken wärmstens für ihre Loyalität dem neuen Regime gegenüber.
Inzwischen verlangte – und erhielt – ein Adjutant des Feldzeugmeisters von
den Muslimen die Namen der Rädelsführer des militärischen Widerstands in
18 Halpern, Joel: Foreword. In: Jezernik, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of
Western Travellers. London: Saqi 2004, p. 17.
19 Vgl. Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo za vrijeme austrougarske uprave [Sarajevo zur
Zeit der österr.-ungar. Verwaltung]. Sarajevo: Arhiv grada Sarajeva 1969, pp. 13 f.
Sarajevo; sie wurden verhaftet und in den darauf folgenden Tagen exekutiert.20
Während man von einem siegreichen Kommandanten ein hartes Durchgreifen
gegen diejenigen, die seine Soldaten angegriffen, verwundet und getötet hatten,
durchaus erwarten konnte, bot Philippovich zugleich ein erstes Beispiel für
die k. u. k. Bevorzugung der bosnisch-herzegowinischen Katholiken für deren
exemplarisches Verhalten.
Die k. u. k. Behörden rechneten damit, dass diese Bezeugung von Härte und
Zuwendung andere in Bosnien-Herzegowina dazu anhalten würde, den Weg
von Loyalität, Gehorsam und Dankbarkeit zu beschreiten. 1880 schrieb Kállays
Amtsvorgänger als gemeinsamer Finanzminister, Baron Jozsef von Szlávy, die
k. u. k. Administratoren sollten vor Ort „Persönlichkeiten“ einsetzen, „welche
vermöge ihrer Rechtlichkeit, ihrer Bildung, ihres unbescholtenen Lebenswan-
dels und ihrer soziale Stellung zunächst berufen schienen, auf ihre Glaubens-
genossen einer Einfluss auszuüben“.21 Als Aussage über die Absicht der neuen
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20 Vgl. Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo u doba okupacije Bosne 1878 [Sarajevo zur Zeit
der Okkupation Bosniens 1878]. In: Ders.: Izabrana Djela. Vol. 4. Sarajevo: Veselin Mas-
leša 1991, p. 133.
21 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Politische Abteilung, XL. 210, Szlávy an Dahlen, Wien,
24.08.1880.
dere davon abschrecken würden, dem Vorbild des Übeltäters zu folgen. Zuerst
sprachen die k. u. k. Behörden oft eine öffentliche Abmahnung aus, manchmal
gefolgt von einer nominellen Geldstrafe oder einer Suspendierung für einige
Tage. Derartige Gesten waren freilich wenig geeignet, die Betreffenden wirk-
lich abzuschrecken; in etlichen Fällen erweckten sie eher Ressentiments bei
den Glaubensgenossen des Missetäters.22 Gelegentlich gewährte die Verwal-
tung auch Kredite und Konzessionen für ihre bevorzugten Würdenträger, um
sie ihnen im Bedarfsfall – falls sich der Empfänger daneben benahm – wieder
entziehen zu können.
Die tatsächliche Arbeit der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas wurde freilich
von professionellen Bürokraten verrichtet, die aus der Monarchie importiert
worden waren. Die geografische Nähe der Kolonie zum Mutterland bzw. die
ethnischen Überlappungen zwischen beiden hatten für die Doppelmonarchie
den großen Vorteil, dass sie damit über ein großes Reservoir an ausgebildeten
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Beamten verfügte, die ihre Sprache mit den kolonialen Untertanen teilten. Auf
diese Weise konnte das k. u. k. Regime zwei parallele Strukturen aufrechterhal-
ten, nämlich jene zeremonielle Hierarchie von lokalen Würdenträgern und die
importierte Bürokratie. Erst nach der Annexion von 1908 begannen die habs-
burgischen Amtsträger die lokale Bevölkerung in Verantwortungspositionen
einzubeziehen, und dieser Prozess steckte noch in den Kinderschuhen, als der
Erste Weltkrieg ausbrach.
Beamte aus der Monarchie waren indes in jeder Stadt der neuen Kolonie
stationiert und mit der Aufgabe betraut, die lokale Bürokratie zu leiten und
Informationen über alle wichtigen Einwohner zu sammeln. Fast alle von ih-
nen beherrschten die Landessprache. Sie schufen eine Kultur von Informan-
ten, nahmen an Treffen von lokalen Vereinigungen teil und durchforschten das
Gebiet auf Anzeichen von störenden Aktivitäten oder gar staatsfeindlichem
politischem Aktivismus. Ihre Kollegen und Vorgesetzten in Sarajevo sammel-
ten und analysierten diese lokalen Berichte und schickten sie ans Gemeinsame
Finanzministerium in Wien weiter. Kállay brillierte in dieser Form der politi-
schen Überwachung: Die Archive sind heute noch voll mit Berichten, die seine
Aufmerksamkeit erregten und Kommentare provozierten, und einige von ihnen
wurden sogar an den Kaiser zur Einsicht und Stellungnahme weitergeleitet.23
Auf diese Weise waren die Einwohner Bosnien-Herzegowinas von der Mitte
der 1880er Jahre an bis zu Kállays Tod 1903 wohl eine der meist überwachten
22 Die Unzufriedenen sollten später diese Episoden in ihren Kampagnen zitieren, mit denen
sie die öffentliche Erbitterung weiter aufstacheln wollten; sie fügten die Akte kleinlicher
Repressalien den anwachsenden Litaneien von Beschwerden über das Regime hinzu.
23 Das Ausmaß der Überwachung durch die lokalen Behörden ist in den hunderten Doku-
menten evident, die Hauptmann 1967 gesammelt hat.
Populationen der Welt. Die importierten Beamten fungierten zugleich auch als
Kontrollinstanz für die eingesetzten autochthonen Würdenträger, um sicher-
zustellen, dass diese ihre Pflichten in Treue und Dankbarkeit gegenüber der
Monarchie verrichteten.
Dieses System der Überwachung, bestehend aus kleinen Anreizen und sym-
bolischen Bestrafungen, wurde nach Kállays Tod schrittweise außer Kraft ge-
setzt; aber der Paternalismus des k. u. k. Regimes in Bosnien-Herzegowina blieb
und inspirierte auch die Reaktionen auf Studentenbewegungen und Geheim-
organisationen im frühen 20. Jahrhundert. Das paternalistische Credo war, dass
Bildung ein Privileg sei, das von der Verwaltung nach Gutdünken an vielver-
sprechende junge Menschen in der Erwartung verliehen wurde, dass sie die-
sen Gefallen mit Loyalität und Dankbarkeit erwidern würden. Diese Prämisse
wurde freilich durch die geografische Nähe der Bildungsinstitutionen Belgrads,
Zagrebs und Wiens konterkariert, wo Bosnier und Herzegowiner Zugang zu
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Historisierung
Die neue k. u. k. Landesregierung setzte seit den 1800er Jahren alles daran, die
Geschichte der besetzten Gebiete so zu schreiben, dass Land und Leute sich
so stark wie möglich von den umliegenden südslawischen Territorien unter-
schieden. Kállay, selbst Amateurhistoriker und Autor einer Geschichte Serbiens,
leitete persönlich diese Bemühungen in die Wege. 1884 beauftragte er seinen
ehrgeizigen Kollegen und Freund Lajos Thallóczy, eine zweibändige Geschichte
an die populären Mythen von der Herkunft des Bauwerks trägt dieses Bild [Abb.
1] auch den falschen Titel Römerbrücke.28
Kállays meistambitioniertes Projekt in seinem Unterfangen, Bosnien-Herzego-
wina im Sinne Österreich-Ungarns zu historisieren, war freilich die von ihm
finanzierte Einrichtung des Landesmuseum (Zemaljski muzej) in Sarajevo 1884,
dessen Entwicklung er bis zu seinem Tod überwachte. Obwohl diese Institution
den Namen eines Museums trug, kombinierte sie dies mit den Funktionen eines
Archivs, einer Bibliothek und Forschungsstätte sowie eines Sponsors archäo-
logischer Expeditionen. Bewusst nach dem Modell der Hofmuseen in Wien so-
wie des ungarischen Nationalmuseums in Budapest konzipiert, expandierte das
Abb. 3. Mostar, Römerbrücke
27 Jezernik 2004, pp. 190–203, bietet eine gelehrte Erklärung für die Ursprünge dieser Le-
gende im 19. Jh.
28 Diese Abbildung befindet sich in den Special Collections der Harvard Fine Arts Library.
Ökonomisierung
Indem es die einzige Kolonie der Monarchie war, wurde Bosnien-Herzegowi-
na auch die wirtschaftliche Peripherie der beiden rivalisierenden Zentren, von
denen das eine von einer agarischen ungarischen Elite und das andere von
deutschsprachigen Liberalen dominiert war. Beide befanden sich in einem an-
dauernden Konflikt miteinander; sie hatten konkurrierende ökonomische Inte-
ressen und nationale Befindlichkeiten, und viele andere Interessensgruppen in
der Monarchie hatten die Wahl, sich mit der einen Seite zu verbünden, um sich
als Gegner der anderen wiederzufinden. Die rivalisierenden österreichischen
und ungarischen Eliten hofften beide auf ihre Weise, dem Kaiser und dem Ge-
samtstaat ihre bevorzugte Innen- und Außenpolitik aufzubürden. Das imperiale
Zentrum freilich hatte zwar seine eigene Agenda, aber gerade in Bosnien-Herze-
gowina sah die loyale k. u. k. Verwaltung ihre täglichen Amtsgeschäfte häufig
durch jene interne Konkurrenz zwischen den beiden Teilstaaten behindert: In
der komplexen k. u. k. Architektur politischer Entscheidungsfindung hatte die
agarische Fraktion Ungarns den Vorteil, in einer Position zu sein, aus der heraus
29 Die Frühzeit des Museums wird dokumentiert bei Dautbegović, Almaz: Spomenica sto-
godišnjice rada Zemaljskog muzeja Bosne i Hercegovine 1888–1988 [Zum 100-jährigen
Jubliäum des Landesmuseums von Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Zemaljski muzej
Bosne i Hercegovine 1988.
30 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 266 f.
31 Vgl. etwa Wenzel, Marian: Bosanski stil na stećima i metalu [Bosnischer Stil auf Grab-
steinen und Metall]. Sarajevo: Sarajevo Publishing 1999, pp. 21–30, pp. 171–180.
sie die meisten Beschlüsse blockieren konnte. Viele dieser Ungarn hatten von
Anfang an erfolglos der Okkupation opponiert; sie waren indes erfolgreich,
wenn es darum ging, die Aktivitäten der Monarchie in Bosnien-Herzegowina
legal zu hintertreiben.32
Fatalerweise konnten die magyarischen Verhinderer sicherstellen, dass kei-
nerlei finanziellen Mittel aus der Monarchie für Investitionen in Bosnien-Her-
zegowina eingesetzt werden durften. Wie der bosnische Historiker Dževad
Juzbašić gezeigt hat, brachte diese Einschränkung die k. u. k. Landesregierung
dazu, vor allem Grundstoffindustrien zu entwickeln, die dazu dienen sollten,
Einnahmen für die Provinz zu generieren. Obwohl sich die Verwaltung viel-
leicht ohnehin für diesen Wirtschaftszweig entschieden hätte, argumentiert
Juzbašić, dass das geltende Abgabenrecht effektiv alle möglichen Alternativen
eliminiert und die neuen Herrscher dazu veranlasst habe, darauf zu bestehen,
dass die meisten größeren Firmen im Bereich der Tabakindustrie, Holzwirt-
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des Netzwerk von Schulen in der ganzen Provinz zu errichten – blieb unreali-
siert. Dieses eklatante Versagen bedeutete im Rahmen des österreichisch-unga-
rischen Kolonialprojekts, dass die Alphabetisierungsrate in den vierzig Jahren
Fremdherrschaft nur wenig zunahm. Da nur wenige Bosnier und Herzegowzen
lesen und schreiben konnten, mussten Facharbeitskräfte aus der Monarchie im-
portiert werden, um die wenigen Industriearbeitsplätze zu besetzen, die durch
die Entwicklungspläne geschaffen worden waren. Als Kompensation für dieses
Manko des staatlichen Schulsystems erweiterten die muslimischen, kroatischen
und serbischen Bevölkerungsgruppen ihre eigenen Schulnetzwerke – oft mit
Finanzhilfe und Lehrern aus den Nachbarländern.35 Diese Schulen nährten frei-
lich den Nationalismus und produzierten unzufriedene Jugendliche, von denen
einige später gegen die habsburgische Politik im Land protestierten oder gar
aktiven Widerstand leisteten.36
Die wirtschaftliche Abhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vertiefte sich im Lauf
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35 Papić, Mitar: Hrvatsko Školstvo u Bosni i Hercegovini do 1918. godine [Das kroatische
Schulwesen in Bosnien-Herzegowina bis 1918]. Sarajevo: Veselin Masleša 1982, pp. 101–
146; Papić, Mitar: Istorija srpskih škola u Bosni i Hercegovini [Geschichte der serbischen
Schulen in Bosnia-Herzegowina]. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 115–176.
36 Zu den Protesten in Mostar, cf. Donia, Robert J.: Mostar. Epicenter of Bosnian Student
Movements on the Eve of World War I. In: Hercegovina 9 (1997), pp. 264–275.
37 Juzbašić, Dževad: Izvještaj Hermanna von Sautera o odnosima Bosne i Hercegovine i
Monarhije u svjetlu austro-ugarskih ekonomskih suprotnosti [Der Bericht von Hermann
v. Sauter über die Beziehungen Bosnien-Herzegowinas und der Monarchie im Lichte der
österr.-ungar. wirtschaftlichen Gegensätze]. In: Juzbašić 2002, pp. 112–120.
38 Ibid., p. 133.
Fazit
Bosnien-Herzegowina war ein quasi vertrautes Gebiet, als die Habsburger Mona-
chie 1878 ihr internationales Mandat zur Okkupation und Verwaltung des Landes
wahrnahm. Mit den Vorteilen, die ihnen aus der geografischen Nähe bzw. den
Überlappungen mit eigenen größeren Bevölkerungsgruppen erwuchsen, hatten
die kolonialen k. u. k. Administratoren ein besseres Verständnis in Bezug auf Ge-
schichte, Traditionen und Kulturen als jene europäischen Funktionäre, die zur
gleichen Zeit Überseekolonien verwalteten. Diese Vertrautheit und Nähe war
jedoch nicht nur von Vorteil für die Einwohner Bosnien-Herzegowinas. Sie ver-
tiefte sogar noch die Kluft zwischen Kolonialherren und Kolonisierten, vor allem
als die Kolonie ein Faustpfand in jenen Machtkämpfen wurde, die die Monar-
chie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erschütterten. Umgekehrt hatte
jede größere Entscheidung der k. u. k. Verwaltung in Bosnien-Herzegowina auch
Auswirkungen auf das politische Leben in der ganzen Monarchie. Sogar ein Ver-
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walter mit großen Visionen und weitgehender Autonomie wie Kállay legte eine
größere Vorsicht in der Durchsetzung seiner Ideen an den Tag als in einer Über-
seekolonie, so dass die Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der dominanten
politischen Gruppen innerhalb der Monarchie letztlich nur seine konservativen
Instinkte stärkte.
Obwohl sie nach außen hin eine Modernisierung und Liberalisierung der Kolo-
nie befürwortete, begann die Monarchie zunehmend Bosnien-Herzegowina aus-
zubeuten, was dessen koloniale Lage im frühen 20. Jahrhundert verschlimmerte.
Die nahe Kolonie wurde eine Hyperkolonie, die immer mehr vom Mutterland
abhängig wurde, während immer mehr Einwohner ihr Unbehagen über das be-
vormundende Verhalten der Kolonisatoren aus Österreich-Ungarn in Form zu-
nehmend gewalttätiger Proteste ausdrückten.39
1 Der Autor bedankt sich beim Forschungsfonds der Boğaziçi-Universität für die Unter-
stützung (Projekt Nr. 5087).
2 Vgl.z.B. Donia, Robert: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Herce-
govina, 1878–1914. New York: East European Monografs 1981; Pinson, Mark: The Mus-
lims of Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule, 1878–1918. In: Ders. (Hg.):
The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages
to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge: Harvard Univ. Press 1993, pp. 84–128; Do-
nia, Robert J./Fine, John V.A.: Bosnia and Hercegovina. A Tradition Betrayed. New York:
Columbia Univ. Press 1994.
3 In der vorliegenden Studie werden Dokumente aus dem Archiv Bosniens und der Her-
zegowina (Sarajevo), dem Haus-, Hof-und Staatsarchiv (Wien) und aus dem Başbakanlık
Osmanlı Arşivi (Istanbul) zitiert. Die Arbeit stützt sich dabei hauptsächlich auf mein
Buch: Babuna, Aydın: Die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit bes. Be-
rücksichtigung der österreichisch-ungarischen Periode. Frankfurt/M.et al.: P. Lang 1996.
Vgl. auch Babuna, Aydın: Nationalism and the Bosnian Muslims. In: East European Quar-
terly 2 (1999), pp.195–218; Ders: The Berlin Treaty, Bosnian Muslims, and Nationalism.
rausbildung einer Nationalität findet wie die erste durch Konflikte innerhalb
der „Elite“9 statt; die erforderlichen Verhältnisse für beide Transformationen
sind gleich. Dabei ist zu bemerken, dass, obwohl Nationalismus normalerweise
das Produkt einer Entwicklung von der Gemeinschaft zur Nationalität ist, er in
Form von Elitephänomen jederzeit – sogar in der ersten Phase der Mobilisie-
rung der ethnischen Gruppe – auftreten kann.10
In: Yavuz, Hakan/Sluglett, Peter (Hg.): War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of
1877–1878 and the Treaty of Berlin. Salt Lake City: The Univ. of Utah Press 2011, pp.
198–225.
4 „Relative Deprivation“ bezeichnet Frustrationen der Menschen in Bezug auf fehlende
soziale (Aufstiegs-)Möglichkeiten und ihren Wunsch nach einem besseren Lebensstan-
dard. Vgl. Hah, Chong Do/Martin, Jeffrey: Toward a Synthesis of Conflict and Integration
Theories of Nationalism. In: World Politics 3 (1975), pp. 361–386, hier p. 385.
5 Der relativ niedrigere Status der nicht-dominanten Gruppen in den Gesellschaften mit
mehreren ethnischen Gruppen kann zum Anlass für den Nationalismus dieser Gruppen
werden. Vgl. Glazer, Nathan / Moynihan, Daniel L: Introduction. In: Ders. (Hg.): Ethnici-
ty. Theory and Experience. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press 1975, pp. 1–26, hier p. 14
u.17.
6 Brass, Paul R: Ethnicity and Nationalism. Theory and Comparison. New Delhi: Sage 1991,
p. 47.
7 Brass, Paul R: Ethnic Groups and Nationalities. The Formation, Persistence, and Trans-
formation of Ethnic Identities. In: Ders. (Hg.): Ethnic Diversity and Conflict in Eastern
Europa. Santa Barbara et al.: ABC-Clio 1980, p. 8f.
8 Brass 1991, p. 25 u. 23.
9 Einflussreiche Subgruppierungen innerhalb der ethnischen Gruppen oder Klassen, vgl.
ibid., p. 14.
10 Ibid., p. 64f.
11 Ibid., p. 15.
12 Ibid., p. 45f.
13 Ibid., p. 22.
14 Vgl. Brunn, Gerhard / Hroch, Miroslav/ Kappeler, Andreas: Introduction. In: Kappeler,
Andreas (Hg.): The Formation of National Elites. Darmouth: New York Univ. Press 1992,
pp. 1–10, hier p. 9.
15 Brass 1991, pp. 9–75.
16 Zur Bedeutung der Religion und der Sprache für die Identität der ethnischen Gruppe
vgl. Brass, Paul. R: Language, Religion und Politics in North India. New York: Cambridge
Univ. Press 1974.
17 Ruthner, Clemens: Habsburg’s Little Orient. A Post/Colonial Reading of Austrian and
German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In: Kakanien revisited,
http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/Cruthner5.pd (22.06.2008), p. 6.
18 Babuna 1996, p. 23.
19 Ibid., p. 24.
20 Ibid., p. 23f.; vgl. auch Babuna 2011, p. 219.
21 Ibid., p. 316.
22 Zur Bedeutung des kulturellen und religiösen Erbes der ethnischen Gruppen für die Eli-
tenkonflikte vgl. Brass, Paul R.: Elite Competition and Nation-Formation. In: Hutchinson,
John/ Smith, Anthony (Hg.): Nationalism. Oxford: Oxford Univ. Press 1994, pp. 83–89,
hier p. 89.
23 Lockwood, W. G: Living Legacy of the Ottoman Empire. The Serbo-Croatian Speaking
Moslems of Bosnia-Hercegovina. In: Ascher, Abraham / Halasi-Kun, Tibor / Kiraly, Béla
(Hg.): The Mutual Effects of the Islamic and Judeo-Christian Worlds. The East European
Partner. Brooklyn NY: College Press 1979, pp. 209–225, hier p. 209.
24 Babuna 1996, p. 32.
25 Lockwood 1979, p. 213.
26 Hadžić, Osman Nuri: Borba Muslimana za vjersku i vakufsko-mearifsku autonomiju. In:
Stanojević, St. (Hg.): Bosna i Hercegovina pod austro-ugarskom upravom. Beograd: Geča
Kon A. D. 1938, pp. 56–101, hier p. 94f.
27 Inteligencija i naši pokreti. In: Ogledalo 2 (07.061907), p. 1f.; ABH ZMF PrBH 1068/1900.
dass sich die örtlichen Muslime der Religion der Türken zugehörig fühlten.
„Musliman“ (Muslim) und „Turčin“ waren in Bosnien-Herzegowina dement-
sprechend synonyme Ausdrücke.28
Einerseits erzielte die Opposition der lokalen bosnischen Notablen („Ajans“)
unter Führung von Husein Kapetan Gradaščević gegen die Reformversuche des
osmanischen Sultans Mahmud II. einige vorläufige Erfolge. Die Bosnier schlu-
gen die osmanische Armee 1831 im Kosovo und verwalteten die bosnische Pro-
vinz (Eyâlet) für kurze Zeit selbst. Ohne internationale Unterstützung ging ihre
Selbstständigkeit aber schon nach einem Jahr zugrunde und die Ajans wurden
1850/51 von den Osmanen endgültig vernichtet.29
Andererseits hatte Bosnien-Herzegowina schon nach der Niederlage der os-
manischen Armee vor Wien 1683 eine Schlüsselrolle in der Verteidigung des
Reiches übernommen. So erlitten die bosnisch-herzegowinischen Muslime in
den Kriegen gegen Russland, Venedig und Österreich-Ungarn schwere Ver-
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diese Okkupation heftigen Widerstand, und erst nach schweren Kämpfen, die
über zwei Monaten dauerten, gelang der österreichisch-ungarischen Armee
unter Einsatz mindestens von 150.000 Soldaten die Okkupation der Provinz.34
Dieser Widerstand gegen die Okkupation war die Folge einer Volksbewe-
gung.35 Die Zustimmung des Sultans zum Berliner Vertrag löste in Bosnien-Her-
zegowina besonders in den unteren und mittleren Schichten der muslimischen
Bevölkerung heftige Reaktion gegen die osmanische Regierung aus. So wurde
kurz vor dem Beginn des Eroberungsfeldzugs in Sarajevo ein Volkskomitee
(„Narodni odbor“) gegründet, das sich zu einer unabhängigen Organisation ent-
wickelte und paramilitärische Truppen sammelte. Obwohl es von den Muslimen
dominiert wurde, nahmen auch Serben sowie einige Kroaten und Juden an den
Aktivitäten teil. Zu einer Zusammenarbeit zwischen den Muslimen und Serben
kam es auch in anderen Städten wie Banja Luka und Mostar,36 denn die Okku-
pation hatte unter den Widerstandskämpfern verschiedener Religionen bis zu
einem gewissen Grad ein Gemeinsamkeitsgefühl entwickelt.
Der Sultan und die osmanische Regierung hofften insgeheim auf den Erfolg
des Widerstandes, obwohl er auch einen anti-osmanischen Charakter hatte.
Die Hohe Pforte plante ursprünglich, durch diplomatische Manöver die Ok-
37 Bencze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878. New York: Columbia
Univ.Press 2005, p. 90f.
38 Karpat 2004, p. 195.
39 İsmet Pasha wurde mit dem Tod bedroht und gezwungen, bosnische Kleidung zu tragen.
Dieser Vorfall wird vom britischen Konsul in Sarajevo berichtet: FO 424/74 (Freeman an
Salisbury) 53/2, 03. 08 1878; zit. n. Karpat 2004, p. 168.
40 Mandić, Mihodil: Povijest okupacije Bosne i Hercegovina 1878. Zagreb: Matica Hrvatska
1910, p. 32; Donia 1981, p. 31.- Die osmanischen Truppen, die die Befehle ihrer Kom-
mandanten verweigerten und sich den muslimischen Kämpfer anschlossen, hatten die
Strafgefangenen freigelassen und bewaffnet (vgl. Karpat 2004, p. 165). Dadurch wollten
sie den Widerstand gegen die österreichisch-ungarische Armee stärken.
41 Mandić 1910, p. 32.
%.42 Diese Tendenz wurde innerhalb der Gruppe als existenzielle Bedrohung
aufgefasst.43
Nach einem Bericht der Landesregierung, der 1906 veröffentlicht wurde, be-
schränkte sich die Auswanderung zu Beginn auf die ehemaligen osmanischen
Beamten, Funktionäre und einige angesehene Familien.44 Die Einführung des
Wehrgesetzes im Jahre 1881 sollte jedoch unter den Muslimen eine Massenemi-
gration auslösen, die bis zum Jahr 1883 andauerte. Auch der erfolglose Aufstand
des Jahres 1882, an dem die Muslime teilweise beteiligt waren, trug zu dieser
Auswanderungswelle bei.45 In den Jahren 1883–1898 herrschte wieder eine re-
lative Ruhe, aber danach stieg die Zahl der Emigranten wieder im Jahr 1899,
erreichte 1900 einen vorläufigen Höhepunkt und wurde erst 1901 durch Maß-
nahmen der Landesregierung eingedämmt. Die Annexion von Bosnien-Herze-
gowina durch Österreich-Ungarn 1908 löste dann eine weitere Auswanderungs-
welle aus.46
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Es gibt aber keine gesicherten Daten für die muslimische Emigration wäh-
rend der österreichisch-ungarischen Periode, weil die vorhandenen Zahlen nicht
übereinstimmen. Die Landesregierung begann erst nach 1883, die Auswanderer
regelmäßig zu erfassen. Vermutungen, dass ihre Anzahl in der Türkei 300.000
betragen habe, scheinen übertrieben zu sein. Einige Berechnungen deuten eher
darauf hin, dass die Zahl der Auswanderer ungefähr 150.00047 – wenn nicht
sogar weniger – ausmachte.
42 Die Ergebnisse der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 10. Oktober 1910.
Sarajevo: Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. XLII.
43 Babuna 1996, p. 169.
44 Bericht über die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina. Wien: K. u. k. Gemeinsames
Finanzministerium 1906, p. 11.
45 Hadžijahić, Muhamed: Uz prilog Prof. Vojislava Bogičevića. In: Historijski zbornik 3
(1950), pp. 189–192, hier p. 192
46 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü: Bosna-Hersekileilgili Arşiv Belgeleri.
Ankara: Başbakanlık Basımevi 1992, pp. 307–311.
47 Bogičević, Vojislav: Emigracije Muslimana Bosne i Hercegovine u Tursku u doba aus-
tro-ugarske vladavine 1878–1918 god. In: Historijski zbornik 3 (1950), pp. 175–188, hier
p. 182.- Hadžibegović schätzt die Anzahl der muslimischen Auswanderer auf 140.000
(Hadžibegović, Iljas: Nastanak i razvoj socialističkog radničkog pokreta u Bosni i Her-
cegovini do 1919 godine. Sarajevo: Oslobođenje 1990, p. 18). Karpat zufolge lag die An-
zahl der muslimischen Auswanderer in 45 Jahren nicht über 100.000, von denen 10–15%
zurückkehrten (Karpat, Kemal: The Migration of the Bosnian Muslims to the Ottoman
State, 1878–1914. An Account Based on Turkish Sources. In: Koller, Markus/Karpat, Ke-
mal (Hg.): Ottoman Bosnia. A History in Peril. Madison: The Univ. of Wisconsin Press
2004, pp. 121–145, hier p. 140).
auch die Verteilung ihrer Grundstücke und Immobilien an die christliche Be-
völkerung verhindern.49
Nach einiger Überlegung beschloss die osmanische Regierung dann, diploma-
tischen Druck auf Österreich-Ungarn auszuüben, um dessen repressive Haltung
gegenüber den Muslimen in Bosnien-Herzegowina zu beenden.50 Obwohl die
Hohe Pforte offiziell gegen eine massenweise Emigration war, erlaubte man
unter bestimmten Bedingungen einzelnen Personen, in das Osmanische Reich
auszuwandern.51 Nach der Einführung des Wehrgesetzes 1881 schien Konstan-
tinopel (Istanbul) eine noch liberalere Haltung gegenüber der Auswanderung
eingenommen zu haben.52
Die osmanische Regierung und die österreichisch-ungarische Landesre-
gierung beschuldigten jedenfalls einander, die Auswanderung angestiftet zu
haben. Die Emigration der Muslime bildete ein Diskussionsthema auch zwi-
schen bosnisch-herzegowinischen und osmanischen Geistlichen (Ulemas) sowie
unter den osmanischen Bürokraten an der Pforte. Schließlich sollten aber die
Interessen des Osmanischen Reiches die Oberhand gewinnen, wodurch um die
Jahrhundertwende die bosnischen-herzegowinischen Muslime zur Auswande-
rung eher entmutigt wurden. Vor allem der Bericht des osmanischen Konsuls
auf seine militärischen Rechte im Sandschak von Novi Pazar verzichten und
die religiöse Rechte der bosnisch-herzegowinischen Muslime anerkennen.64
Diese Akzeptanz der Annexion seitens des ehemaligen Souveräns löste unter
den Muslimen Verzweiflung aus.65
Während der österreichisch-ungarischen Periode war das Osmanische Reich
nicht nur ein Auswanderungsziel für die bosnisch-herzegowinischen Musli-
me,66 sondern es bestimmte auch die politischen Entwicklungen mit. Aus os-
manischen Dokumenten geht hervor, dass die panislamische Politik der osmani-
schen Regierung besonders in der landesweiten Organisation der muslimischen
Opposition eine Schlüsselrolle spielte.67 So sollten die geheimen Direktiven aus
Istanbul an den Oppositionsführer Ali Džabić (Mufti von Mostar) den Ablauf
der politischen Ereignisse mitbestimmen.68 Es wäre aber falsch, die muslimi-
sche Opposition als ein Nebenprodukt des Panislamismus zu betrachten. Die
69 Ibid.
70 Ömer Pascha regierte zwischen 1850 und 1852. Durch strenge Maßnahmen konsolidierte
er die politische Situation in Bosnien-Herzegowina und veränderte die administrative
Struktur des Landes grundlegend. Osman Pascha regierte zwischen 1861 und 1869; in
seiner langen Amtszeit führte er mehrere Reformen durch. Vgl. dazu Biščević, Vedad: Bo-
sanskina mjesnici osmanskog doba (1463–1878). Sarajevo: Connectum 2006, pp. 422–430.
71 Sugar, Peter: The Industrialization of Bosnia-Hercegovina 1878–1918. Seattle: Univ. of
Washington Press 1963, p. 39.
72 Ibid., p. 62f.
73 Hauptmann, Ferdinand: Die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien und der
Hercegovina 1878–1918. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung. Graz: Inst. für
Geschichte der Univ. Graz 1983, p. 44.
74 Ibid., p. 48.
75 Hadžibegović, Iljas: Bosanskohercegovački gradovi na razmedu 19. i 20. stoljeća. Sara-
jevo: Oslobođenje Publ. 1991, p. 93.
76 Imamović 2003, p. 227f.- Während des Berliner Kongresses betonte Österreich-Ungarn,
dass hinter den Unruhen in Bosnien-Herzegowina die Agrarfrage stünde und dass nur
eine starke und neutrale Macht dieses Problem lösen könne (vgl. ibid.).
Kállay als Gouverneur Bosniens und der Herzegowina hatte Vorbehalte ge-
genüber der Lebensfähigkeit des Islams in der modernen Welt.77 Er sah in einem
gut organisierten Staat einen der wichtigsten Unterschiede zwischen westli-
cher und orientalischer Kultur und wollte deshalb ein Bewusstsein für die neue
Staatlichkeit wecken.78 Auch die österreichisch-ungarische Bürokratie war im
Gegensatz zur osmanischen umfangreicher und stärker; strenge Zentralisierung
war eines ihrer wichtigsten Merkmale.79
Die neue Verwaltung bot aber auch Möglichkeiten für den Aufstieg des
heimischen Bürgertums.80 So spielte die Forderung, dass mehr einheimische
Beamte in die k. u. k. Bürokratie Bosnien-Herzegowinas aufgenommen werden
sollten, eine gewisse Rolle in den muslimischen und serbischen Autonomiebe-
wegungen.81 Seit 1894 beschwerten sich die Muslime, dass die Entlassung der
osmanischen Beamten ein Verstoß gegen die Konvention von Novi Pazar gewe-
sen sei.82 Nichtsdestotrotz sollte die Zahl der muslimischen Beamten, die 1908
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825 betrug, im Laufe der Zeit zunehmen und im Jahre 1914 1.644 erreichen.83
Eines der wichtigsten Merkmale der österreichisch-ungarischen Verwaltung
in Bosnien-Herzegowina war aber die Einführung moderner Wirtschaftsstruk-
turen. Obwohl die Muslime Schwierigkeiten hatten, sich in den neuen Ver-
hältnissen zurechtzufinden,84 war die neue Ökonomie aber nicht stark genug,
um sie von ihren traditionellen Berufen abzubringen.85 Dennoch gab es eini-
ge muslimische Vertreter eines neuen Unternehmergeistes wie den Händler
77 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia,
1878–1914. New York: Oxford Univ. Press 2007, p. 98.
78 Vgl. dazu Kállay, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents.
In: Ungarische Revue 3 (1883), pp. 428–489.
79 Hauptmann 1983, p. 33.
80 Ibid., p. 238.
81 Die Agrarfrage, die Vakuf-Verwaltung und das Unterrichtswesen bildeten die wichtigs-
ten Themen in den Forderungen der Muslime. Im Laufe der Zeit wurde die muslimische
Bewegung „Vakuf-und Mearif-Autonomiebewegung“ genannt. Die serbische Autonomie-
bewegung, die schon im Jahre 1895 begonnen hatte, übte einen gewissen Einfluss auf die
muslimische Bewegung aus. Vgl. Babuna 1996, p 101 f.
82 In ihrer an die Hohe Pforte gerichteten Beschwerde von 1894 beklagten sich die Muslime,
dass fast alle zur Zeit der Okkupation im Amt gewesenen Beamten mit einigen Aus-
nahmen entfernt worden waren. Vgl. Hauptmann, Ferdinand: Borba Muslimana Bosne i
Hercegovine za vjersku i vakufsko-mearifsku autonomiju. Sarajevo: Arhiv Bosne i Her-
cegovine 1967, p. 50f.
83 Hauptmann, Ferdinand: Privreda i društvo Bosne i Hercegovine u doba austro-ugarske
vladavine (1878–1918). In: Redžić, Enver (Hg.): Prilozi za istoriju Bosne i Hercegovine
2. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1987, pp. 99–211, hier
p. 200.
84 Babuna 1996, p. 314.
85 Hauptmann 1987, p. 200.
Kučukalić, der bei der Gründung der ersten einheimischen Sparkasse in Brčko
eine bedeutende Rolle spielte. Allerdings war die im Entstehen begriffene bür-
gerliche Klasse noch nicht in der Lage, bei der Entstehung eines muslimischen
Nationalismus eine führende Rolle zu spielen. Obwohl es unter den Muslimen
einige größere Unternehmer gab, hatten sie keinen großen Einfluss auf die mus-
limische Opposition, wie das beim serbischen Bevölkerungsteil der Fall war.86
In der osmanischen Zeit war freilich auch das Bildungsniveau der Bevölke-
rung sehr niedrig gewesen, insbesondere bei den Muslimen. Trotz der Bemü-
hungen der österreichisch-ungarischen Landesregierung, dem Abhilfe zu schaf-
fen, waren im Jahr 1910 94,65 % der muslimischen Bevölkerung noch immer
Analphabeten, bei den Frauen sogar 99,68 %. Am höchsten war der Prozentsatz
der muslimischen Schreib-und Lesekundigen in Mostar mit 10,36 %.87
86 Hauptmann 1983, p. 245f.- Z. B. die Unternehmer Jeftanović und Vojislav Šola waren zu-
gleich bedeutende Führer der serbischen Oppositionsbewegung.
87 Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. XLVI.- Die Landesregierung
veranstaltete Alphabetisierungskurse, und zahlreichen Landesangehörigen wurde die
Kenntnis des Lesens und Schreibens während ihres Militärdiensts vermittelt. Bis zum
Jahre 1910 gab es jedoch in Bosnien-Herzegowina keine Schulpflicht. Laut dem Bericht
der Landesregierung ist die besonders hohe Anzahl von Analphabeten bei den Muslimen
darauf zurückzuführen, dass diese zumeist keinen regulären Elementarunterricht genos-
sen, sondern hauptsächlich die muslimischen Religionsschulen besuchten (vgl ibid., pp.
XLII, XLV).
88 ABH, ZMF, BH, Pr. No. 542/1891. Zit. n. Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Her-
cegovini (1882–1903). Sarajevo: Veselin Masleša 1987, p. 217.
89 Kruševac 1960, p. 279.
90 Imamović, Mustafa: Pravni položaj i unutrašnji politički razvitak Bosne i Hercegovine od
1878 do 1914. Sarajevo: Svjetlost 1976, p. 71.
bemerkbar. Bei den Kroaten und besonders den Serben war ein entstehendes
eigenes Nationalbewusstsein stark genug, um gegen den Kurs des Bošnjaštvo
Widerstand zu leisten.91
Schon in seinem Memorandum, das er nach dem Aufstand von 1882 für die
Landesregierung vorbereitete, betonte Kállay, dass sich die Nationalitätenpolitik
der Landesregierung hauptsächlich auf die Muslime stützen solle.92 In diesem
Rahmen verschonte die Regierung die muslimischen Grundbesitzer vor der ob-
ligatorischen Abschaffung der Kmetenschaft und befürwortete die fakultative
Ablösung der Landpächter. Nach einer Statistik aus dem Jahr 1910 machten die
Muslime 91,15 % der Grundbesitzer mit Kmeten, 70,62 % der Grundbesitzer ohne
Kmeten und 56, 65 % der Freibauern aus. Die Muslime stellten nur 4,58 % der
Kmeten, während 73,92 % serbisch-orthodox und 21,49 % römisch-katholisch
waren.93 Die Landesregierung wollte also die muslimischen Grundbesitzer als
führendes Element der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft behalten und
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91 Ibid., p. 77.
92 DAB Kabinettskanzlei, Geheime Akten (DAB, KK, GA). Zit n. Kapidžić, Hamdija: Her-
cegovaćki ustanak 1882 godine. Sarajevo: Veselin Masleša 1958, pp. 47 u. 323 ff.; Redžić,
Enver: Bosnische Politik. Kállays These über die bosnische Nation. In: Österreichische
Osthefte 5 (1965), pp. 367–379, hier p. 368.
93 Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. LXVIII.
94 Babuna 1996, p. 221.
95 Kraljačić 1987, p. 207ff.
96 4. Sitzung der 29. Session am 16. 06. 1893. In: Stenografische Sitzungsprotokolle der De-
legation des Reichrathes. Wien: K.und k. Hof- und Staatsdruckerei 1893, p. 200.
97 Ömer Pascha stammte aus der Lika.
der zu Österreich noch zu Ungarn und stellte daher auch keine Abgeordneten
in den Parlamenten. Bosnien-Herzegowina hatte bis 1910 auch keinen eigenen
Landtag. Aus diesen Tatsachen kann man ebenso wie aus der kolonialistischen
Rhetorik in zeitgenössischen deutschen und österreichischen Texten106 ableiten,
dass Bosnien-Herzegowina von Österreich-Ungarn als eine Kolonie behandelt
wurde.107 Zudem wurden während der österreichisch-ungarischen Verwaltung
in Bosnien-Herzegowina 54 Agrarkolonien mit ungefähr zehntausend Einwan-
derern aus der Habsburger Monarchie gegründet. Obwohl die Mehrheit dieser
Kolonisten slawischer Herkunft war, erinnerte die Tatsache, dass sie von außen
kamen, die Bevölkerung daran, dass die Landesregierung eine koloniale Ad-
ministration war.108
Gleichwohl blieb Bosnien-Herzegowina, das nach der Okkupation sukzessive
in das Gefüge der Doppelmonarchie eingegliedert wurde, gemäß dem Berliner
Vertrag immer noch im Souveränitätsbereich des Osmanischen Reiches. Diese
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Tatsache übte wie bereits erwähnt auf die Entwicklung der muslimischen Op-
position einen großen Einfluss aus.109 Neben der unklaren staatsrechtlichen Lage
beeinflusste aber auch die dualistische politische Struktur der Monarchie den
Verlauf der muslimischen Bewegung stark.110
Im Jahre 1879 wurde die Verwaltung von Bosnien-Herzegowina dem gemein-
samen k. k. Finanzminister übertragen. Das Kontrollrecht der Delegationen, wel-
che sich aus österreichischen und ungarischen sowie den gemeinsamen Minis-
tern zusammensetzten,111 über die Verwaltung des Landes war umstritten. Die
gemeinsamen Finanzminister zielten darauf ab, nur dem Gesamtstaat gegenüber
verantwortlich zu sein.112 Die Konkurrenz zwischen den beiden Teilen der Mo-
narchie um Bosnien-Herzegowina ermutigte indes die muslimische Elite, noch
aktiver zu sein. Ihre Beschwerden wurden im ungarischen Parlament diskutiert
und auch die ungarischen Oppositionsparteien vertraten ihre Forderungen.113
Die Landesregierung selbst besaß eine zentralistische Struktur, und der ge-
meinsame Finanzminister hatte die administrative, legislative, exekutive und
106 Zur Analyse dieser Rhetorik vgl. Ruthner 2008, pp. 1–16.
107 Vgl. ibid., p. 6.
108 Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. New York: Macmillan 1994, p. 143.
109 Babuna 2011, p. 198.
110 Babuna 1999, p. 209.
111 Das österreichische Gesetz sah zwei Delegationen vor, die aus je 60 vom österreichischen
und ungarischen Parlament gewählten Mitgliedern bestanden. Da das ungarische Gesetz
dies nicht erwähnte, konnten die Delegationen nie als gemeinsamer Gesetzgeber funk-
tionieren. Vgl. Čupić Amrein, Martha M: Die Opposition gegen die österreichisch-unga-
rische Herrschaft in Bosnien-Hercegovina (1878–1914). Bern et al.: P. Lang 1986, p. 31.
112 Ibid., p. 39.
113 Imamović 1976, p. 138.
sich sogar auf die Muslime, obwohl sie während der Okkupation den Kern des
Widerstandes gebildet hatten. Nichtsdestotrotz bildete die Unterstützung der
gemäßigten Elemente in der muslimischen Bevölkerung einen der wichtigsten
Grundsätze dieser Politik. Als Folge dieser gut durchdachten Strategie der Lan-
desregierung kam es zu einer Zersplitterung der Elite. Ihre Beziehungen zum
Staat und die Konkurrenz zwischen Radikalen und Gemäßigten sollten so die
ethnische und politische Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime
in der k. u. k. Ära prägen.119 Immerhin war die Landesregierung flexibel genug,
mit der muslimischen Elite in den Jahren 1901, 1907 und 1908 Verhandlungen
zu führen, was zur Pazifizierung dieser Opposition führte.120
Die Hodžas und andere religiöse Würdenträger bildeten eine bedeutende Kom-
ponente innerhalb der muslimischen Opposition. Es war jene gesellschaftliche
Schicht, die in den Jahren 1899/1900 für die landesweite Ausbreitung der mus-
limischen Opposition sorgte.125 Die Hodžas aus Mostar und Sarajevo bildeten
den Kern dieser Bewegung, obwohl auch die Grundbesitzer einen bedeutenden
Beitrag leisteten.126
So hatten Fälle von Religionsübertritten vom Islam zum Christentum weit
reichende Auswirkungen in der muslimischen Bevölkerung. Insbesondere die
Konversion des muslimischen Mädchens Fata Osmanović 1899 löste große Un-
ruhe aus und war der Anlass für eine organisierte Oppositionsbewegung gegen
die Landesregierung.127 Nach diesem Ereignis bildeten die zwei rivalisierenden
muslimischen Gruppen aus Mostar unter der Führung von Džabić ein gemeinsa-
große Unruhe unter den Muslimen ausgelöst; jeder Bekehrungsfall wurde als
Bedrohung für die Existenz der Gemeinschaft empfunden. Die Beschwerdefüh-
rer betonten die intensive anti-muslimische Propaganda von Seiten der Kroaten
und warfen der Regierung vor, dass sie dieser Agitation genügend Spielraum
gelassen habe. Sie beklagten sich darüber, dass die muslimische Bevölkerung in
religiöser Hinsicht minderwertig ausgebildet werde, und behaupteten, dass die
gültigen Regeln für Konversionen nicht eingehalten worden seien.131
In diesem Zusammenhang wiesen die Muslime auf die nachlässige Verwal-
tung der Stiftungsvermögen (Vakuf), Begräbnisse, Moscheen und anderer reli-
giöser Institutionen seitens der Landesregierung in Bosnien-Herzegowina hin.
Sie betonten, dass die bestehenden Medressen und Mektebs sowohl quantitativ
als auch qualitativ nicht den Bedürfnissen der muslimischen Bevölkerung ent-
sprächen.132 Ferner beklagten die Beschwerdeführer, dass die Vakuf-Einkünfte
für nicht-religiöse Zwecke verwendet würden. Die damit befassten Beamten133
128 ABH ZMF PrBH 1397/1899: Spisi muhamedanske narodne deputacije iz Hercegovine
1899, pp. 5, 6, 14, 15, 21, 22.
129 Donia 1981, p. 129.
130 Babuna 1996, p. 119.
131 ABH ZMF Pr BH 1670/1900. Nach der Verordnung der Landesregierung über Bekeh-
rungsfälle musste jemand, der seine Religion ändern wollte, volljährig sowie geistig ge-
sund sein und sich von einem Geistlichen beraten lassen (ibd., p. 8).
132 Ibid., p. 15f.- Die Mektebs und Medressen waren die am häufigsten vorkommenden mus-
limischen Schulen.
133 Diese waren regierungsfreundliche Muslime, die von der Landesregierung nominiert
worden waren.
seien nicht nur überbezahlt, sondern auch unqualifiziert, und dies habe die Ver-
nachlässigung der religiösen Erziehung der muslimischen Jugend zur Folge.134
schen Opposition. Viele trieben aber ein doppeltes Spiel148 und hatten geheime
oder offene Kontakte zu der Landesregierung.149
Die Konkurrenz zwischen Gemäßigten und Radikalen um die Führung der
muslimischen Opposition spielte eine entscheidende Rolle in der nationalen
Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime.150 Der radikale Flü-
gel beschuldigte die Landesregierung und die Gemäßigten, die Interessen der
muslimischen Bevölkerung nicht zu schützen. Die Radikalen befürworteten
eine Allianz mit den Serben, während die Großgrundbesitzer151 und reichen
Geschäftsleute152 gegen eine solche Zusammenarbeit waren. Sie meinten, dass
eine derartige Allianz ihre wirtschaftlichen Interessen gefährden würde, da die
Mehrheit der Kmeten Serben waren.153
verloren: So bildeten die Religion im Allgemeinen sowie der Kalif156 und die
Stiftungen die wichtigsten Symbole der Geistlichen. Auch die Sprache der reli-
giösen Texte nahm Symbolwert an, mit deren Hilfe die Geistlichen die Einheit
der muslimischen Gemeinschaft stärken wollten. Mit dieser Symbolik, die eine
zunehmend besondere (subjektive) Bedeutung gewann, bestimmten die Geist-
lichen freilich auch die ‘ethnische’ Grenze der Muslime mit.157
Auch für die Grundbesitzer stellte die Religion ein sehr wichtiges Symbol dar.
Sie nützten es für ihre politischen Ziele und verknüpften ihr Eigentumsrecht
mit der Scharia. Dadurch stellten sie ihre wirtschaftlichen Sorgen erfolgreich als
Problem der ganzen muslimischen Gemeinschaft dar. Die Grundbesitzer brach-
ten aber in ihren Beschwerden nicht nur die Agrarprobleme, sondern auch ihr
Kritik in Bezug auf die religiösen und Vakuf-Angelegenheiten zum Ausdruck.
Auf diese Weise wollten auch sie die muslimische Bevölkerung hinter sich brin-
gen.158
154 Zur Nationalitätenpolitik der Landesregierung vgl. Babuna 1996, pp. 203–224.
155 Juzbašić, Dževad: Jezičko pitanje u austrougarskoj politici u Bosni i Hercegovini pred
prvi svjetski rat. Sarajevo: Svjetlost 1973, p. 9.
156 Der osmanische Sultan war gleichzeitig der Kalif der sunnitischen Muslime. Seine Sym-
bolfunktion wurde auch von den Serben ausgenützt. Vgl. Babuna 1996, p. 184.
157 Ibid., p. 315.
158 Ibid., p. 254.
ineinander aufgegangen, und somit war die Trennung zwischen den Serben,
Kroaten und Muslimen immer doppelter Natur: national und konfessionell.159
Obwohl das Nationalbewusstsein bei den Kroaten und besonders bei den Ser-
ben um die Jahrhundertwende um einiges stärker entwickelt war als bei den
Muslimen, war dieser Unterschied durchaus nicht so drastisch, wie von einigen
Autoren behauptet wird.160 Obwohl die muslimische Opposition unter der ös-
terreichisch-ungarischen Verwaltung keine klare nationale Orientierung hatte,
wäre es aber falsch anzunehmen, dass sie in nationaler Hinsicht keine Bedeu-
tung hatte.161
Anfang des Jahrhunderts war die muslimische Intelligenzija als eine soziale
Schicht im Entstehen begriffen; ihre erste Generation bildete nur eine kleine
Gruppe162 (Im Schuljahr 1903/4 etwa gab es 30 muslimische Studenten an ver-
schiedenen Hochschulen in Zagreb und Wien. Diese Zahl sollte in den fol-
genden Jahren zunehmen.163). Die muslimischen Intellektuellen standen auch
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unter dem Druck der serbischen und kroatischen Nationalbewegungen, die die
muslimische Bevölkerung für ihre Sache gewinnen wollten. So gab es neben
den Intellektuellen, die die Politik des Bošnjaštvo unterstützten, auch diejenigen,
die sich den Serben oder Kroaten zugehörig fühlten. Die pro-serbische oder
pro-kroatische Orientierung der muslimischen Intellektuellen hatte aber einen
marginalen Charakter164 und wurde von der Bevölkerung nicht mit Sympathie
aufgenommen.165 Die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der bosni-
schen Muslime gegen solche Affiliationen war, kann als eine leise Bestätigung
einer eigenen Identität angesehen werden.
Obwohl eine nationale Orientierung (im üblichen Sinn) der Mehrheit der
muslimischen Bevölkerung fremd war, nannten sie ihr Idiom weiterhin Bosnisch
oder „naški jezik“ (unsere Sprache)166 und sich selbst „Turčin“ (Türke).167 Wie
schon erwähnt, wies diese Bezeichnung darauf hin, dass sich die bosnisch-her-
zegowinischen Muslime der Religion der Türken zugehörig fühlten. Außerdem
bezeichneten sich die Muslime in den Memoranden und Beschwerden häufig
168 ABH ZMF Pr BH 825/1901; ABH ZMF Pr BH 1670/1900, pp. 2 ff. et passim.
169 ABH ZMF Pr BH 825/1901, pp. 4 u. 6.
170 Babuna 1996, p. 154.
171 Ibid.
172 Imamović 1991, p. 55.
173 Asketisch-religiöse Gemeinschaften.
174 Babuna, Aydın: The Bosnian Muslims and Albanians. Islam and Nationalism. In: Nationa-
lities Papers 2 (2004), pp. 287–321, hier p. 291.
175 Babuna 2011, p. 218.
176 Babuna 1996, p. 32.
scher Zeit zur Unterscheidung von den Türken diente, nach der Okkupation für
die vornehmlich kulturell gemeinte Abgrenzung von den anderen ethnischen
Gruppen als wenig nützlich.177 Religion diente nun als die wichtigste ‘ethni-
sche’ Grenze zwischen den slawischen nicht-muslimischen Gruppen und den
Muslimen. Außerdem minderte die Tatsache, dass das Konzept des Bošnjaštvo
von der Landesregierung gefördert wurde, seine Popularität, weil die k. u. k. Be-
hörden von der Mehrheit der Bevölkerung als Fremdherrschaft wahrgenommen
wurden. Ferner hatten sie, die Jahrhunderte lang in einem islamischen Reich
gelebt hatten, Angst vor einer allmählichen Assimilierung im Rahmen der ka-
tholischen Donaumonarchie und betonten deshalb ihre religiösen Wurzeln.178
Und schlussendlich war auch das im Entstehen begriffene muslimische Bürger-
tum und die Intelligenzija nicht im Stande, in der muslimischen Bewegung eine
Schlüsselrolle zu spielen und alternative Konzepte anzubieten.179
Obwohl nun die erste Phase der politischen Opposition nur von 1899 bis 1902
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dauerte, stellte sie doch einen Wendepunkt für den im Entstehen begriffenen
muslimischen Nationalismus dar und ebnete den Weg für die erste muslimische
Partei, Muslimanska Narodna Organizacija, welche auch die erste politische Par-
tei in Bosnien-Herzegowina war.180 So war es auch kein Zufall, dass schon im
Jahre 1906 die nationale Orientierung in der muslimischen Presse als eine von
der Religion getrennte Frage behandelt wurde.181
In dieser ersten Phase der Opposition spielten die Probleme der Vakuf-Verwal-
tung und der religiösen Schulen eine zentrale Rolle. Die muslimische Bewegung
wurde sogar damit identifiziert und Vakuf- und Mearif-Autonomiebewegung
genannt.182 Die Muslime interessierten sich auch für die Sprachenproblematik,
die für die nationalistischen Bewegungen ebenfalls von Bedeutung war. Nach
dem Statutenentwurf, den sie 1900 dem gemeinsamen Finanzminister Kállay
unterbreiteten, forderten sie die Benützung der osmanisch-arabischen Schrift
in allen schriftlichen Dokumenten der Vakuf- und Mearif-Körperschaften. Nur
die Korrespondenz mit den Landesbehörden und Sitzungsprotokolle sollten „in
177 Ramet, Pedro: Die Muslime Bosniens als Nation: Kappeler, Andreas/Simon, Gerhard/
Brunner, Georg (Hg.): Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Köln: Markus
1989, pp. 107–117, hier p. 108.
178 Diese Angst wurde von den Muslimen in mehreren Beschwerden auf verschiedene Wei-
sen zum Ausdruck gebracht.
179 Filandra, Šaćir: Bošnjačka politika u XX. stoljeću. Sarajevo: Sejtarija 1998, p. 18f.
180 Babuna 1996, p. 155.
181 „Mi“. In: Musavat 5 (13. 11. 1906), p. 1.
182 Babuna 1996, p. 101 f.
slawischer Schrift“ verfasst werden.183 Damit zielten die Geistlichen auf die Stär-
kung der Einheit der muslimischen Gemeinschaft ab.184
Massenbewegungen können indes ohne eine intensive Kommunikation nicht
entstehen. Im Jahr 1910 waren aber immer noch 94,65 % der muslimischen Be-
völkerung Analphabeten. Aus dieser Tatsache geht hervor, dass nur eine kleine
Gruppe für eine intensive Kommunikation zur Verfügung stand.185 Trotzdem
zeigen Archivdokumente ganz klar, dass es sich nach 1899 um eine Massen-
bewegung handelte. Damit stellt sich die Frage, wie sich die Muslime unter-
einander verständigten? Die Vermutung liegt nahe, dass die Beziehungen zwi-
schen den Muslimen den Charakter eines „personal network“ besaßen,186 das
aus verschiedenen Arten von „non-corporate“-Beziehungen besteht, wie z. B.
Verwandtschaft, persönlichen Freundschaften, Verschwägerung, Arbeitsbezie-
hungen usw. Diese Beziehungen waren aber – parallel zu den Beziehungen der
muslimischen Gemeinschaft zur Außenwelt – Veränderungen ausgesetzt.
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Das Konzept des „personal network“ allein ist jedoch – wie Robert Donia be-
tont187 –, nicht ausreichend, um die landesweite Verbreitung der muslimischen
Bewegung in den Jahren 1899 und 1900 zu erklären, obwohl die Netzwerke
die wichtigste Kommunikationsform der bosnisch-herzegowinischen Muslime
bildeten. Aus unserer Forschung im osmanischen Archiv geht hervor, dass die
damalige panislamische Politik des osmanischen Sultans bei der Verbreitung der
muslimischen Bewegung doch eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ferner war
das „personal network“ nicht nur ein lokales System, sondern reichte bis nach
Istanbul und bildete so einen wichtigen Teil der Beziehungen zwischen den
Muslimen auf dem Balkan und der osmanischen Regierung.188
5. Schlussfolgerungen
Die österreichisch-ungarische Okkupation Bosnien-Herzegowinas markiert den
Beginn der wichtigsten Phase für die nationale Entwicklung der bosnisch-her-
zegowinischen Muslime. Nach der Okkupation büßten sie zunächst ihre domi-
nante politische Position und später auch viele ihrer sozialen und ökonomischen
Privilegien ein. Die Muslime, die für Jahrhunderte lang enge Beziehungen zu
Istanbul hatten, gerieten nun unvermeidlich mit den neuen sozialen Strukturen
in Konflikt. Die Tatsache, dass sie das tragende Element der Nationalitäten-
politik des gemeinsamen Finanzminister Kállay (1882–1903) waren, konnte dies
nicht verhindern.
Während der österreichisch-ungarischen Periode traten die Muslime auch
zum ersten Mal mit politischen Forderungen im modernen Sinn auf. Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts existierten in Bosnien-Herzegowina nicht nur eine
muslimische politische Partei, sondern auch viele Organisationen und Vereine,
die muslimische Bezeichnungen trugen. Diese sollten als eine Grundlage für die
weitere kulturelle und politische Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen
Muslime dienen.
Die Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina gemäß dem Berliner Vertrag noch
immer im Souveränitätsbereich des Osmanischen Reiches blieb – bzw. die un-
gelöste staatsrechtliche Situation dieser Provinz –, ermutigte die muslimische
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Zur Einführung
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Am 5. Juni 1893 begab sich Dr. Justyn Józef Karliński1 (1862–1909) in Gesell-
schaft seiner „ständigen Begleiterin und Assistentin“ (womit er seine Ehefrau
meinte)2 auf den Beginn einer langen Reise, die das Paar von Bosnien-Herze-
gowina über Ägypten bis auf die Arabische Halbinsel, in die Nähe der Heiligen
Stätten des Islam, und anschließend über Istanbul, Bulgarien und Serbien wieder
zurück führen sollte. Karliński, ein in Bosnien stationierter Militär-, Bezirks-
und Amtsarzt, der in Städten wie in dem südwestlich von Sarajevo gelegenen
Konjic[a], in Visoko, nordwestlich von Sarajevo, sowie im nordbosnischen Mag-
laj wirkte, verließ Bosnien zunächst in Richtung Triest[e]. Dort bestiegen er und
seine Frau am 9. Juni ein Schiff nach Alexandria, das sie am 12. Juni erreichten.
Am 20. Juni machten sie sich von Alexandria aus auf den Weg nach Suez, von
wo aus sie per Schiff nach Dschidda [Ğidda], dem eigentlichen Zielort, reisten,
wo sie am 24. Juni ankamen.
Karliński befand sich auf einer medizinischen und gleichermaßen politischen
Mission. Seine Anweisung lautete, eine Gruppe von rund 1203 aus Bosnien
stammenden Mekkapilgern4 nach Beendigung der Pilgerfahrt abzuholen und
sie zurück nach Bosnien zu begleiten, um ihnen bei medizinischen Problemen,
konkret im Fall des Ausbruchs von Infektionskrankheiten wie der gefürchteten
Groß- und Kolonialmächte von besonderer Bedeutung, da die Frage der Pilger-
fahrt [Hadsch/Ḥaǧǧ] nicht nur als eine religiöse Angelegenheit der jeweiligen
muslimischen Bevölkerungsgruppen betrachtet wurde, sondern vielmehr als
wichtiger Aspekt für das öffentliche Gesundheits- und Hygienewesen Europas
galt. Die Pilgerfahrt mit ihren zehntausenden Teilnehmern7 aus aller Welt, aus
Südostasien, Zentralasien, dem indischen Subkontinent und Afrika wurde in
der zeitgenössischen Sichtweise von den europäischen Mächten und den für
die öffentliche Gesundheit Zuständigen geradezu als Brutstätte für Seuchen
gesehen. Der in Paris wirkende Arzt und Choleraexperte Achille Proust (1834–
1903), Vater des Schriftstellers Marcel Proust (1871–1922), erklärte etwa im Jahre
5 Vgl. Harrison, Mark: A Question of Locality. The Identity of Cholera in British India,
1860/1890. In: Arnold, Dacid (Hg.): Warm Climates and Western Medicine: the emergen-
ce of tropical medicine 1500–1900. Amsterdam: Radopi 1996, pp. 133–159 (= Clio Medica
35); Low, Michael Christopher: Empire of the Hajj. Pilgrims, Plagues, and Pan-Islam un-
der British Surveillance,1865–1926. In: International Journal of Middle East Studies 40, no.
2 (May 2008), pp. 269–290, hier p. 277ff.
6 Vgl. Kaser, Karl: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2011, p. 221.
7 Die Oesterreichische Monatsschrift für den Orient nannte in ihrer Nummer. 9 vom
15.9.1878, p. 142, für 1877/78 eine Pilgerzahl von 44.718 Personen; die Mehrheit davon
kam aus den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, d. h. auf dem Seeweg, nach Mekka.
Extra ausgewiesen wurden Pilger, die auf dem Landweg anreisten, deren Anzahl wurde
mit ca. 25.000 beziffert. Da es im Osmanischen Reich keine behördliche Erfassung der
Pilger gab, verweisen Schätzungen auf Pilgerzahlen von mehreren zehntausend Perso-
nen; so etwa wurde für 1814 die Zahl von 70.000 Pilgern genannt (für die folgenden
Jahrzehnte wurden aber auch Zahlen von 25.000–50.000 Pilgern angegeben). Siehe dazu
auch Faroqhi, Suraiya: Herrscher über Mekka. Die Geschichte der Pilgerfahrt. München,
Zürich: Artemis 1990, p. 310.
1865, auf dem Höhepunkt einer massiven Choleraepidemie, die sowohl tausende
Opfer unter den Mekkapilgern forderte als auch in Europa und den USA sich
ausbreitete, dass man mehr zur Verhinderung der Ausbreitung von durch die
Pilger eingeschleppten Krankheiten tun müsse; Europa könne nicht weiterhin
von der „Gnade“ der Mekkapilger abhängen,8 womit der Gesundheitszustand
der Heimkehrenden gemeint war.
Für Dr. Karliński war es 1893 nicht das erste Mal gewesen, dass er nach Bos-
nien heimkehrende Muslime abholte. 1891 als Regimentsarzt in Konjic statio-
niert, war er ausgeschickt worden, um die bosnischen Pilger nach Beendigung
der religiösen Rituale in Dschidda zu treffen, mit ihnen die Quarantänestation
El Tor (auch bekannt als Al Tur) im Westen der Sinaihalbinsel zu durchlaufen
und sie nach Bosnien zurückzubegleiten.9 El Tor war nach Ansicht des 1893
als Leiter der internen Abteilung des Landesspitals nach Sarajevo berufenen
Arztes Géza Kobler (1864–1935), der sich auch maßgeblich der Bekämpfung von
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aus dem Jahre 1870 in den besetzten Gebieten implementiert, wobei auf die
Umsetzung von dessen Bestimmungen in Bosnien besonders geachtet wurde.14
Zur Verbesserung der „Localhygiene“, so der in den 1880er Jahren im Diens-
te der Landesregierung wirkende Sanitätsrat Josef Unterlugauer, wurden 1883
„Local-Sanitäts-Commissionen“ eingerichtet. Diese wurden – im Einvernehmen
mit dem k. u. k. Corpskommando – durch Militärärzte der betreffenden Garnison
verstärkt und sollten darauf achten, dass Straßen, Plätze sowie die Umgebung
der Häuser von Staub und Abfällen gereinigt wurden und kein Tierdung vor
allem in geschlossenen Ortschaften auf den Straßen herumlag. Abortgruben
und Kanäle sollten regelmäßig geleert und Unrat aus Straßengräben geräumt
werden. Brunnen, deren Wasser als gesundheitlich bedenklich galt, hatten ge-
schlossen, solche mit gutem Trinkwasser hingegen rein erhalten zu werden,
und auch im Bereich der Lebens- und Genussmittel sollten Kontrollen für deren
Unbedenklichkeit sorgen und als bedenklich geltende oder gar gesundheits-
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größere Pilgerzahlen stellten, so waren die logistischen Probleme wie der Trans-
port der Pilger sowie Quarantänemaßnahmen doch ähnlich geartet. Hinzu kam
der vielfach sehr ähnliche ‘offizielle’ Blick auf die muslimischen Untertanen
aus kolonialer Perspektive sowie unter den Vorzeichen von Orientalismus und
Exotismus.21
Eine weitere Frage ergibt sich aus der Art und Weise der Handhabung des
Gesundheits-, Sanitäts- und Hygienewesens durch die europäischen Mächte ins-
besondere in Hinblick auf Südosteuropa als ‘Schnittstelle zwischen Orient und
Okzident’ sowie das Osmanische Reich in seiner Gesamtheit. Diese Problematik
nach Mekka, dem sozialen und bildungsmäßigen Hintergrund der Pilger, Ego-Dokumen-
ten von bosnischen Muslimen betreffend die Pilgerfahrt sowie allfälligen politischen/si-
cherheitspolitischen Aspekten aus der Sicht der Landesbehörden nachgegangen werden
soll.- Vgl. auch Kane, Eileen: Odessa as a Hajj Hub, 1890s to 1910s. An NCEEER Working
Paper. Connecticut College. National Council for Eurasian and East European Studies
Research. Seattle: University of Washington 2011, p. 6.
19 Thomas, Martin: Managing the Hajj. Indian Pilgrim Traffic, Public Health and Trans-
portation in Arabia, 1918–1930. In: Otte, T. G./Neilson, Keith (Hg.): Railways and Inter-
national Politics. Paths of Empire, 1848–1945. London: Routledge 2006 (= CASS Series:
Military History and Policy 24), pp. 173–191.
20 Vgl. Low 2008, p. 283f.; Peters, Francis E.: Mecca. A literary history of the Muslim Holy
Land. Princeton: Princeton University Press, 341; Vgl. auch Anonymos: The Powers and
the Porte. Result of A Bedouin Outrage. Reparation Demanded. In: The Argus, 24. 09. 1895.
21 Heiss, Johann: Orientalismus. In: Kreff, Ferdinand/Knoll, Eva Maria/Gingrich, Andre
(Hg.): Lexikon der Globalisierung. Bielefeld: transcript 2011, pp. 319–323; Heiss, Johann:
Orientalismus, Eurozentrismus, Exotismus. Historische Perspektiven zu gegenwärtigen
Problemen. In: Sauer, Birgit/Strasser, Sabine (Hg.): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität
und Feminismus. Wien: Promedia & Südwind 2008 (= Historische Sozialkunde/Internat.
Entwicklung 27), pp. 221–236.
schem Gedankengut, mit dem die Pilger in Berührung kommen und dieses in
ihren Heimatregionen verbreiten könnten.26
Mit der Okkupation im Jahr 1878 erfolgte durch Österreich-Ungarn die Ein-
führung zahlreicher Gesetzes- und Verwaltungsbestimmungen in Bosnien,
die nicht nur in der Landespolitik von Bedeutung waren, sondern durchaus
auch auf den Lebensalltag der Landesbewohnerinnen und -bewohner Einfluss
gewannen. Der Kontext der Organisation und Unterstützung bei der Durch-
führung der Pilgerfahrt ist hier in den größeren Rahmen der zeitgenössischen
Politik der europäischen (Kolonial-)Mächte zu stellen, die im 19. Jahrhundert
gleichfalls mit der Regelung des Pilgerwesens der von ihnen beherrschten mus-
limischen Bevölkerungsgruppen befasst waren. Wenngleich Umfang und Aus-
maß der Pilgerzahlen sich im Vergleich zwischen Bosnien und den Pilgerströ-
men aus der Region des Indischen Ozeans, aus Südostasien und Britisch Indien
drastisch unterschieden – aus Bosnien kamen jeweils einige Dutzend Pilger, aus
der Region des Indischen Ozeans und aus Südostasien hingegen zehntausende
–, so bestanden doch grundsätzliche Ähnlichkeiten, wobei im Zusammenhang
mit der Pilgerfahrt von Muslimen aus Südostasien darauf hingewiesen wird,
dass aus den zunächst individuell durchgeführten Pilgerfahrten im Zeitalter des
Kolonialismus „a state-sponsored enterprise“27 wurde. Für die großen europäi-
schen Kolonialmächte – zu denen Österreich-Ungarn zwar nicht zählte, das aber
Bosnien als „Ersatzkolonie“28 betrachtete – stand das Thema der Pilgerfahrt
nach Mekka und vor allem die Rückkehr der Pilger in ihre Heimatländer, -städte
und -dörfer unter dem zentralen Aspekt der öffentlichen Gesundheitspolitik,
die man in London oder Paris durch die rückkehrenden Pilger, die Seuchen ein-
schleppen könnten, gefährdet sah.
Als weiterer Aspekt ist vor allem für die Pilgerfahrt der Muslime aus dem
Britischen Empire und dem Russischen Reich auf die Befürchtungen der jewei-
ligen Kolonialmacht zu verweisen, dass sich durch die heimkehrenden Pilger
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27 Tagliacozzo 2013, p. 7.
28 Vgl. den Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband.
29 Gingrich, Andre: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik.
In: Dostal, Walter (Hg.): Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Wien:
WUV 1999 (= Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie 9), pp. 29–34; Ders.:
Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier Orien-
talism“ in der Spätzeit der K. u. K. Monarchie. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Schau-
platz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Moritz Csáky zum 70.
Geburtstag gewidmet. Innsbruck, Wien: StudienVerlag 2006, pp. 279–288, hier p. 279.
Die Frage der Pilgerfahrt zur Zeit der imperialen und kolonialen Aufteilung
der Welt im 19. Jahrhundert sowie bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ist
vielschichtig. Sie stellt hinsichtlich ihrer Organisation und ihres Ablaufs, der
vielfach von europäischen (Kolonial-)Mächten wie dem Britischen Empire oder
Russland mehr oder weniger akribisch geregelt war, ein gutes Beispiel für die
zeitgenössische Auffassung gesundheits- und hygienepolitischer Aspekte und
daraus resultierende Handlungsweisen dar. Die Pilgerfahrt wurde nicht bloß
als eine für Angehörige einer bestimmten Religion, des Islam, vorgeschriebene
Verpflichtung betrachtet, vielmehr besaß sie eine außen- und auch gesundheits-
politische Ausrichtung: Außenpolitisch im Hinblick auf das Machtspiel bzw.
30 Vgl. Ruthner, Clemens: Kakaniens kleiner Orient. Post/koloniale Lesarten der Periphe-
rie Bosnien-Herzegowina (1878–1918). In: Hárs, Endre/Müller-Funk, Wolfgang/Reber,
Ursula/Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Ös-
terreich-Ungarn. Tübingen, Basel: A. Francke 2006, pp. 255–284, hier p. 255; weiters den
Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband.
31 Karliński 1891, p. 2105.
politische Kräftemessen zwischen dem Osmanischen Reich, aus dem viele Mek-
kapilger kamen, sowie europäischen Mächten, zu deren Bevölkerungen auch
Muslime zählten, wie seit 1878 auch Österreich-Ungarn.
Die gesundheitspolitische Komponente war eng mit der außenpolitischen
verbunden, wozu beispielsweise die Ausrichtung und Abhaltung internationaler
Sanitätskonferenzen zählte. 1866 fand solch eine Konferenz in İstanbul statt, wo
ein Jahr zuvor, 1865, eine Choleraepidemie an die 30.000 Opfer gefordert hatte.
Gerade das Osmanische Reich wurde häufig wegen mangelnder Vorkehrungen
zur Seuchenprävention angeprangert.32 Dabei hatte Sultan Mahmud II. (1808–
1839) bereits 1838 unter Beiziehung der europäischen Mächte den Hohen Rat
für das Gesundheitswesen (Conseil Supérieur de Santé) gegründet. In Mekka
und Medina wurden auf Veranlassung der osmanischen Sultane und der loka-
len Scherifen Lazarette errichtet und die Trinkwasserversorgung verbessert,
während die europäischen Mächte in El Tor auf der Sinaihalbinsel und der Insel
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Kamran im Roten Meer – außerhalb des Gebiets, das direkt unter osmanischer
Kontrolle stand – Quarantänestationen betrieben. Bei größeren Epidemien wie
dem Ausbruch der Cholera 1893/1894 waren diese Stationen aber zu klein di-
mensioniert und das medizinische Personal überfordert, was zum Tod von zahl-
reichen heimkehrenden Muslimen führte.33
Ein weiterer Aspekt im internationalen Kontext war die Verbesserung und
vor allem Beschleunigung des Reiseverkehrs, wofür das Bestreben nach einem
rascheren Transport der Pilgermassen von und nach Mekka eine Rolle spielte:
„a mass hajj as byproduct of late-nineteenth century European colonization of
Africa, Asia, which brought modern transportation networks to the Muslim
world“.34 Als Folge der verkehrstechnischen Fortschritte im 19. Jahrhundert und
dem Einsatz von Dampfschiffen im Mittelmeer und dem Indischen Ozean, die
die Pilger auf die Arabische Halbinsel brachten, hatte sich die Reisegeschwin-
digkeit stark erhöht und die Reisedauer verkürzt, der Prozess der nach Em-
manuel Le Roy Ladurie „bakteriologischen Vereinheitlichung der Welt“ („the
unification of the globe by disease“35) hatte eingesetzt. Zuvor waren Pilger auf
dem langen Weg nach und von Mekka im Fall einer Erkrankung an Typhus oder
Cholera entweder daran verstorben oder auch genesen, bevor sie wieder ihren
Heimatort erreichten. Die Beschleunigung des Reiseverkehrs konnte nun dazu
32 Dinçkal, Noyan: İstanbul und das Wasser. Zur Geschichte der Wasserversorgung und
Abwasserentsorgung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1966. München: Oldenbourg
2004 (= Südosteurop. Arbeiten 120), p. 163f.
33 Faroqhi 1990, p. 236.
34 Kane 2011, p. 5.
35 Le Roy Ladurie, Emmanuel: A Concept. The Unification of the Globe by Disease. In:
Ders.: The Mind and Method of the Historian. Brighton: Harvester 1983, pp. 28–83.
36 Promitzer 2012, p. 38 .
37 Tagliacozzo, Eric: The Longest Journey. Southeast Asians and the Pilgrimage to Mecca.
Oxford: Oxford University Press 2013, p. 10f.
meinsame Rückkehr sowie die Betreuung durch einen von der Landesregierung
in Sarajevo zur Verfügung gestellten Distrikts- oder Amtsarzt, der die Pilger-
gruppe in Dschidda traf und sie zurückbegleitete. Die Pilger erhielten auch ein
„Merkblatt“, das Informationen über die Hin- und Rückreise enthielt wie auch
zu den Zollbestimmungen hinsichtlich mitgebrachter Waren und Geschenke,
wobei vor dem Erwerb gebrauchter Kleidung als möglichem Krankheitsüber-
träger gewarnt wurde; dazu kamen Hygienehinweise wie die Aufforderung, nur
abgekochtes Wasser zu trinken und beim Verzehr von rohem Obst vorsichtig
zu sein.38
Diese Maßnahmen wurden als notwendig erachtet, da Bosnien, so Ferdinand
Schmid im Kapitel „Die Sanitätspolizei und die öffentliche Hygiene“ in seinem
1914 in Leipzig erschienenen Werk Bosnien und die Herzegovina unter der Ver-
waltung Oesterreich-Ungarns, „seit altersher“ ein Residuum für Infektionskrank-
heiten sei, weshalb die österreichische Verwaltung auch besonders rigoros bei
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deren Prävention vorging. Dies bezog sich nicht nur auf Hygienemaßnahmen in
Bezug auf Mekkapilger aus Bosnien, sondern zeigte sich beispielsweise generell
bei der Umsetzung von gesundheitspolitischen Maßnahmen wie bei dem Gesetz
vom 19. März 1912 betreffend den Impfzwang gegen Blattern.39
ermäßigung erwirkt, damit die Pilger sich unter der Leitung des Pilgerführers
der gleichen Route bedienten und so ihre sanitäre Überwachung leichter durch-
geführt werden konnte; auch andere europäische Mächte kümmerten sich um
den organisierten Transport ihrer Pilger. 1908 beispielsweise wurden vom Rus-
sischen Reich für seine Mekkapilger an die tausend spezielle Waggons 3. Klasse
für die benutzten Bahnstrecken bereitgestellt – so etwa zwischen Taschkent und
Odessa, von wo aus sich viele Muslime aus Russland einschifften. 1909 brachten
eigene „Hedschas-Dampfschiffe“ die Pilger aus Odessa an ihr Ziel, und auch der
jeweilige Scherif von Mekka war an einer Verbesserung der Reisebedingungen
interessiert; bereits in den 1880er Jahren wurden dessen Abgesandte von Mekka
nach Odessa geschickt, um die Pilgergruppen zu koordinieren.41
Doch zurück zu den Pilgern aus Bosnien: 1890 kam es auf der Rückfahrt von
Dschidda zu Verzögerungen in den verschiedenen Quarantänestationen, die zu
durchlaufen waren, beispielsweise auf der Sinaihalbinsel und in Kleinasien, in
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der Umgebung von Smyrna [heute: İzmir], weshalb 1891 auf die Inanspruch-
nahme eines von der Lloyd betriebenen Schiffes verzichtet wurde. Im gleichen
Jahr kam es im Hedschas zum Ausbruch einer Choleraepidemie; daher wurde
ein Arzt von der Landesregierung in Sarajevo zur Abholung der Pilger nach
Dschidda geschickt, der mit ihnen alle Quarantänestationen durchlief und den
Gesundheitszustand der Pilger überwachen, ihnen ärztlich beistehen sowie
Krankheitsfälle sofort der Landesregierung melden sollte. Die Entsendung von
Ärzten wurde in den folgenden Jahren fortgesetzt42 und die eingangs erwähn-
te Reise von Dr. Karliński 1893 zur Abholung der Mekkapilger wurde auch in
einem 1895 in Wien erschienenen Bericht behandelt. In diesem wurde ausführ-
lich die Rückreise der Mekkapilger „unter Überwachung und Begleitung“ eines
Arztes dargelegt sowie die Rolle der zu durchlaufenden Quarantänestationen
auf der Sinaihalbinsel sowie in Kleinasien angesprochen, wo jeweils mehrere
Wochen andauernde Quarantäneaufhalte stattfanden und auch die „Effecten“
der Pilger gründlich desinfiziert wurden.43 Die angesprochene „Überwachung“
der Pilger war aber nicht so einfach zu gewährleisten. Dr. Karlinski berichtete,
dass er sich mit 57 Pilgern am 9. Juli 1893 in Dschidda einschiffte, dass aber trotz
seiner Bemühungen um eine gemeinsame Rückfahrt fünf Tage zuvor elf Pilger
eigenständig die Heimreise angetreten hatten. Ursprünglich hatte Dr. Karliński
120 bosnische Muslime in Dschidda empfangen sollen, doch waren bereits in
Mekka etliche verstorben und auf dem weiteren Heimweg reduzierte sich die
Gruppe durch weitere Todesfälle.44
Am 29. August 1893 wurde in Bosnien die Verfügung erlassen, dass der Ge-
sundheitszustand der Heimkehrer nach dem Eintreffen in ihren Heimatorten
durch einen Arzt oder beim Fehlen eines Arztes durch „anderweitige vertrau-
enswürdige Personen“ untersucht werden sollte;45 unter den heimgekehrten
Pilgern gab es keinen Cholerafall. Eine Komplikation bei diesen Sicherheitsmaß-
nahmen war dadurch gegeben, dass – wie die Kreisbehörde Banjaluka am 20.
September 1893 nach Sarajevo telegrafierte – das Großgepäck einzelner heimge-
kehrter bzw. auf der Reise verstorbener Pilger von Mekka aus noch zum Bestim-
mungsort unterwegs war und daher eine „sanitätspolizeiliche Amtshandlung“
noch nicht möglich war. Daher wurden am 22. September 1893 alle Behörden
angewiesen, die Verfügung zu treffen, dass solches aus Mekka kommendes Ge-
päck „nach vorheriger Abschätzung im Feuer vertilgt, etwa darunter befindliche
werthvollere Gegenstände aber ausgeschieden und vor Zulassung zur Weiter-
beförderung gründlich desinficirt werden.“ Von dieser Verfügung wurden die
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Muslime aus Südrussland und Nordafrika reisten aber trotzdem nach Mekka.
Jahren des 20. Jahrhunderts betrug die Größe der Gruppen um die 100 Perso-
nen: So nahmen 1910 101 Personen an der Pilgerfahrt teil, wobei 96 Muslime
die Pilgerfahrt antraten und fünf Pilger, die seit der Pilgerfahrt des Jahres 1909
oder sogar noch länger im Hedschas gelebt hatten, sich den heimkehrenden
Landsleuten anschlossen.51
Ein Beispiel für die Mühen der Reise trotz verkehrstechnischer Neuerungen
wie der Eröffnung der Hedschasbahn52 im Jahre 1908 war die Pilgerfahrt 1910:
Zwölf Pilger wählten die Hinfahrt nach Mekka mit dem Schiff über Triest nach
Haifa, danach fuhren sie mit der Hedschasbahn weiter Richtung Medina. Die
Rückfahrt führte einen Teil der bosnischen Muslime über Dschidda und die
Quarantänestation El Tor auf der Sinaihalbinsel nach Suez und İstanbul, ein Teil
der Pilger wählte aber die Rückfahrt mit der Hedschasbahn von Medina Rich-
tung Damaskus, was für sie bedingt durch immer wieder auftretende technische
Störungen beträchtliche Unannehmlichkeiten mit sich brachte, etwa gleich zu
Beginn einen zehntägigen Aufenthalt in Medina, dem Ausgangs- bzw. End-
punkt der Hedschasbahn, dazu noch dreißig Tage Wartezeit in Damaskus, dem
zweiten Ausgangs- bzw. Endpunkt. Noch während des Aufenthalts in Dschidda
war die Cholera ausgebrochen, dazu kamen Pestfälle. Sieben bosnische Pilger
verstarben, sechs davon an Cholera oder Dysenterie, einer vermutlich an Tu-
berkulose. Im Jahr 1913, so die österreichischen Berichte, habe sich die sanitäre
Lage im Hedschas, etwa die Versorgung mit gutem Trinkwasser, verbessert. Die
Rücksicht auf Seide oder Sammt mittelst der allein seligmachenden Spritze mit
5proc. Carbolsäurelösung besprengt“53.
Weitere Beschwerden bosnischer Muslime im Hinblick auf die Reise mit der
Hedschasbahn waren, dass sie in offene Waggons mit weit mehr Passagieren als
der jeweils vorgesehenen Anzahl hineingepfercht worden wären. Auf halbem
Weg von Medina nach Damaskus lag eine Quarantänestation: Trat unterwegs
ein Seuchenfall auf, so sollte der Zug zur letzten durchlaufenen Quarantäne-
station bzw. einem Lazarett wieder in Richtung Medina zurückkehren, was auf-
grund technischer Probleme oftmals lange dauerte oder auch gar nicht zustande
kam, da die Bahnverwaltung in einer Umkehr eine „Betriebsstörung“ sah und
den Zug lieber in Richtung Damaskus weiterschickte. Bevor der Zug dann sein
Ziel erreichte, wurde ein Halt eingelegt und die Reisenden medizinisch unter-
sucht, was aber sogar die bosnischen Muslime als „flüchtig“ bezeichneten.54
Zum Abschluss
Die Pilgerfahrt nach Mekka war und ist ein zentrales Element im Glaubensleben
der Muslime weltweit und somit auch für die Muslime und Musliminnen aus
Bosnien-Herzegowina. Für die Kolonialmächte des 19. und 20. Jahrhunderts
bedeutete diese Reise allerdings weit mehr als die Erfüllung einer religiösen
Pflicht ihrer muslimischen Untertanen: Vielmehr standen Aspekte einer sich
im 19. Jahrhundert formierenden und institutionalisierenden öffentlichen Ge-
Dabei war die Zahl der Mekkapilger aus Bosnien im Vergleich zu den Pilger-
strömen aus Asien, Afrika, dem Osmanischen Reich oder auch Russland gering;
sie betrug durchwegs um die 100 bis 200 Personen. Dennoch wurde die Pilger-
fahrt der muslimischen Landesbewohner und -bewohnerinnen von der bosni-
schen Landesregierung und den Landesbehörden nicht nur möglichst akribisch
zu erfassen, sondern auch zu lenken versucht. Die Pilgerfahrt sollte am besten
als Reisegruppe durchgeführt werden, deren Mitglieder beisammen bleiben und
auch gemeinsam die Rückfahrt nach Bosnien antreten sollten. Dennoch kam
es immer wieder vor, daß Pilger erst im darauffolgenden Jahr nach Bosnien
zurückkehrten: Die Kosten der Reise sowie deren Länge und Mühsal ließen es
manchen Pilgern ratsam erscheinen, ihren Aufenthalt in den heiligen Stätten
auszudehnen und sich ihren Aufenthalt durch Handel etwa mit Bekleidung oder
auch das Anbieten von „Reiseleiterdiensten“ für neuankommende, durchaus
nicht nur bosnische Pilger zu finanzieren. Zwar lag ein grundlegender Aspekt
der Pilgerfahrt darin, dass sich nur Muslime, die wohlhabend genug waren und
die ausreichende Versorgung ihrer daheimgebliebenen Familien garantieren
konnten, die Reise antreten durften; doch gab es immer wieder Pilger, deren
finanzielle Mittel in Mekka zur Neige gegangen waren und die deshalb länger
vor Ort blieben, um sich wieder mit etwas Geld für den weiteren Aufenthalt
oder die Heimreise zu versorgen.57
Die Ein- und Ausreise der bosnischen Pilger wäre jedenfalls, so die behörd-
lichen Vorgaben aus Sarajevo, am besten bei von der Landesregierung vorge-
gebenen Grenzstationen zu vollziehen; aber auch hinsichtlich der Reiseroute
von und nach Mekka gab es Empfehlungen von der Landesregierung. Zur Be-
treuung der heimkehrenden Muslime wurde häufig ein in Bosnien tätiger Arzt,
zumeist ein Amts- oder Militärarzt, nach Dschidda geschickt, wo dieser die aus
Mekka eintreffenden bosnischen Muslime empfing, Unterkunft für sie suchte
bzw. vorbereitet hatte und auf deren Gesundheit achten sollte. So war jedenfalls
das administrative procedere vorgesehen, wenngleich aus Randbemerkungen,
beispielsweise aus den Berichten der die Pilger in Dschidda abholenden Ärz-
te hervorgeht, dass in Sarajevo er Amtsstuben entwickelte und dort durchaus
vernünftig klingende Vorgaben sich vor Ort – in einer Quarantänestation in
der Wüste Sinai oder während der Bahnfahrt durch den Balkan, von Istanbul
über Bulgarien und Serbien, wo an jeder der zu überquerenden Grenzen auf
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58 Sayeed, Anna: Women and the Hajj. In: Tagliacozzo, Eric/Toorawa, Shawkat M. (Hg.):
The Hajj. Pilgrimage in Islam. New York: Cambridge Univ. Press 2016, pp. 65–84, hier pp.
74 und 79.
Der Savindan
1 Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf der Dissertation des Autors:
Nationalgeschichte im multikulturellen Raum. Serbische Erinnerungskultur und kon-
kurrierende Geschichtsentwürfe im habsburgischen Bosnien-Herzegowina 1878–1914.
Göttingen: V&R unipress 2019 (= Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas 7).
2 Zur Geschichte dieser Zeitschrift (die deutsche Übersetzung ihres Titels lautet „Die bos-
nische Fee“) sowie als bibliografischer Überblick vgl. Đuričković, Dejan: Bosanska vila,
1885 – 1914. 3 vol. Sarajevo: Svjetlost 1975.
3 Gekochter Weizen, serbokroatisch als koljivo oder panahija bezeichnet. Koliva wird auch
zum orthodoxen Totenmahl gereicht.
unsere gesamte Vergangenheit und zeichnete ein lebhaftes Bild vom Ruhme Dušans,
den fünfhundert Jahren unseres Leids und unserer Knechtschaft sowie unserer Zwie-
tracht – deren Keim bis heute nicht erstickt worden ist. Er legte uns die serbische
Schule als das heiligste Gut ans Herz; in ihr werde dieses Gut [der historischen Tra-
dition, D.D.] bewahrt.
Danach wurden die Namen der Stifter verlesen, deren schöne Zahl auch dieses Jahr
gewachsen ist. Diese Schulfeier wurde mit der Kaiserhymne beendet.
Gruppe schöner serbischer Sängerinnen; sie begeistern uns, unser Verstand stockt,
und das Herz steht still.
Es erklingt das Heilig-Sava-Lied ‚Wir jauchzen auf in Liebe‘, dann die ‚drei serbischen
Lieder‘ und die ‚Batschker Melodien‘, Kompositionen des Dr. Pauč, die der gemischte
Chor sehr harmonisch und gefällig darbrachte. Der Applaus im Publikum fand kein
Ende, insbesondere nach den heiteren Batschker Melodien.
Die Gäste begrüßte der Lehrer und Menschenführer Herr Stevo Kaluđerčić mit einer
schönen Rede, die meisterhaft die geheuchelte Vaterlandsliebe anprangerte, die bei
uns seit einiger Zeit grassiert.
Wie schön es doch wäre, wenn diese Sänger und Sängerinnen diese wunderbare Ge-
meinschaft weiter aufrechterhielten, damit sich auch andere daran erfreuen können,
und sie sich dabei nicht nur auf die Heilig-Sava-Feiern beschränkten.
Wir gingen fehl, wenn wir hier vergäßen, die Verdienste des unermüdlichen Lehrers
Stevo Kaluđerčić zu würdigen, der sich diesmal wie auch in den Vorjahren größte
Mühe bei der Organisation der Feier gab.
Wir müssen noch erwähnen, dass auf dieser Feier alle Oberhäupter des Landes an-
wesend waren: Baron Johann Appel, General der Kavallerie, nebst der Baronin; Herr
Feldmarschall David nebst Gattin und Tochter, dem reizenden Fräulein Julka; der
stellvertretende Landeschef Baron Kutschera; Herr Verwaltungsdirektor Sauerwald
und der russische Konsul Bakunin. Es war uns eine besondere Freude, unter den Gäs-
ten den hervorragenden Mohammedaner und serbischen Schriftsteller Mehmed-beg
Kapetanović zu erblicken.
Soweit wir wissen, wird der Ertrag dieser Feier tausend Gulden übersteigen.5
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Chors aus einheimischen Frauen, Fräulein und Angehörigen der männlichen Jugend
machte einen angenehmen Eindruck auf die Zuhörer und fand verdienten Applaus.
Ebenfalls Lob verdient das gut ausgeführte Lustspiel ‚Am Heiligabend‘. Im zweiten
Teil der Soirée wurde heiter bis 3 Uhr morgens getanzt. Wie wir hören, war der ma-
terielle Gewinn der Besjeda bedeutend.7
Ogriješili bi se, ako bi ovdje zaboravili istaknuti zasluge neumornoga učitelja g. Steve
Kaluđerčića, koji je svake pa i ove godine najviše truda oko besjede uložio.
Valja nam još spomenuti, da su na besjedi bili svi zemaljski glavari: baron Jovan Apel,
đeneral kavalerije sa baronicom; podmaršal g. David, sa suprugom i ćerkom draženom
gospođicom Julkom; zemaljski poglavnik baron Kučera; admin. direktor g. Sauervald i
ruski konzul Bakunin. Bijaše nam vrlo drago kad među gostima spazismo odličnoga Mu-
hamedovca i književnika srpskoga Mehmeda bega Kapetanovića [Hervorhebungen im
Original, D.D.].“
6 Zur Geschichte des Sarajevski list Kruševac, Todor: Bosansko-hercegovački listovi u XIX
veku. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 85–93.
7 Sarajevski list, Nr. 12, 30.01./18.01.1889, p. 2. Im Original:
„Svetkovanje školskog patrona sv. Save zaključilo se priregjenjem ‚besjede‘ s igrankom
u dvorani pozorišta. Besjedu su počestvovali svojim posjetama Njih. Preuzvišenosti pog-
lavar zemlje baron i baronica A p p e l , podmaršal vitez D a v i d sa suprugom i šćeri,
gragj. doglavnik baron K u t s c h e r a i adm. upravitelj vitez S a u e r w a l d . Sve lože i
sjedišta dolje bijahu raspodana, a u mjestu za stojanje i u samoj gostionici bilo je puno
slušalaca i ako manje na broju no o [sic!] lanjskoj besjedi. Program je izveden na opšte za-
dovoljstvo. Učitelj prav. osn. škole g. Kalugjerčić pozdravio je goste podužom besjedom, u
koju je upleo lojalnu ovaciju za Nj. Veličanstvo, što se pozdravilo poklicima i odsviranom
carevkom, koju su svi prisutni stojeći saslušali. Pjevanje mješovitog zbora od domaćih
gospogja, g o s p o g j i c a i članova muške mladeži učinilo je prijatna utiska na slušaoce
i izazvalo zaslušeno pljeskanje. Isto zaslužuje pohvalu i dobro odigrani šaljivi komad ‚Na
badnji dan‘. U drugom dijelu zabave veselo se igralo do 3 sah. pred zoru. Kako čujemo
biće i materijlan dobitak od besjede znatan.“ [Hervorhebungen im Original]
8 Es war dies der seit 1886 amtierende Metropolit Đorđe (Nikolajević) (1807–1896).
9 Zur Genese und Struktur dieser nationalen Meistererzählung und des hier zentralen Ko-
sovomythos im 19. Jahrhundert s. u. a. Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.-21.
Jh. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2007, pp. 97–115; Höpken, Wolfgang: Zwischen natio-
naler Sinnstiftung, Jugoslawismus und „Erinnerungschaos“: Geschichtswissenschaft und
Geschichtskultur in Serbien im 19. und 20. Jahrhundert. In: Lukan, Walter / Trgovčević,
Ljubinka / Vukčević, Dragan (Hg.): Serbien und Montenegro. Raum und Bevölkerung
– Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Gesellschaft – Wirtschaft
– Recht. Wien: LIT 2005 (= Österreichische Osthefte 47 [2005]), pp. 345–391, hier pp.
345–358 sowie Čolović, Ivan: Smrt na Kosovu polju. Istorija kosovskog mita. Belgrad:
Biblioteka XX vek 2016. Zum nationalgeschichtlichen Motiv des Leids, hier bezogen auf
Bosnien, zudem Hajdarpašic, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination
in the Balkans, 1840–1914. Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2015, pp. 52–89.
ausging: So werden die „loyale Ovation für Seine Majestät“, die Jubelrufe der
Anwesenden, die ebenfalls dem Herrscher gelten, sowie das von allen Anwesen-
den stehend begleitete Spielen der Kaiserhymne in den Mittelpunkt des Textes
gerückt. All dies findet in dem Bericht der Bosanska vila über die abendliche
Feier keine Erwähnung.
Obwohl hier über ein und dasselbe Ereignis berichtet wird, scheinen die bei-
den Berichte somit auch aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive
zwei durchaus unterschiedliche Lesarten nahezulegen: Im ersten Bericht stellt
sich die abendliche Feier als eine Veranstaltung dar, mit der sich eine natio-
nale Elite an eine breitere Bevölkerung wandte, um zur Popularisierung und
Internalisierung eines nationalen Geschichtsbildes beizutragen. Ansätzen der
klassischen Nationalismusforschung folgend, wäre die hier beschriebene Feier
zeitlich irgendwo in Phase B des Hroch’schen Phasenmodells einzuordnen.10
Im Lichte jüngerer Arbeiten, die die „kulturelle Produktion“ von Nationalismus
untersuchen, sticht die emphatische Adressierung und gleichzeitige Inpflicht-
nahme des ‘Volkes’ ins Auge, die an anderer Stelle als für den Nationalismus
typischer perpetuierter „innerer Kolonialimus“ beschrieben wurde.11 Der zwei-
te Bericht hingegen lässt die Besjeda als eine Spielart der imperialen Feiern
erscheinen, deren herrschaftsstabilisierende Funktion die neuere Imperienge-
10 Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern
Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen
Gruppen. Prag: Univ. Karlova 1968.
11 Hajdarpašić 2015, p. 4f.; vgl. dazu auch Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The
Habsburg ‘Civilizing Mission ’ in Bosnia, 1878–1914 . Oxford: Oxford Univ. Press 2007, p.
VIII f.
die sprachliche Gestaltung der beiden Texte erahnen: So fällt in der Eingangs-
passage des ersten Berichts die dichte Setzung des Attributs „serbisch“ auf: „ser-
bische Schule“ (zweimal), „serbischer Lehrer“ und in Bezug auf den Heiligen
Sava: der „wohlgefällige[e] serbisch[e] Diener Gottes“.
Vergleiche mit anderen derartigen Berichten in der Bosanska vila und dem Sa-
rajevski list verdeutlichen zudem, dass es sich beim Vermelden der erfolgreichen
Durchführung der Savindanfeier als Nationalfeier ebenso wie bei der Beschrei-
bung von Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser um sprachlich einheit-
lich strukturierte Topoi handelt. In Bezug auf Bosanska vila verweist das ganz
prinzipiell auf Muster in den Rhetoriken nationaler Bewegungen. Dass dabei
die emphatische Beschreibung des nationalen Kampfes und das Herbeischrei-
ben seines Erfolges wenig mit der tatsächlichen Lage vor Ort zu tun hatten,
ja dass die Lautstärke nationaler Propaganda oft in einem antiproportionalen
Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Erfolg stand, hat bereits Pieter Judson für die
ʻSprachgrenzenʼ des habsburgischen Südböhmens und der Steiermark aufzeigen
können.14 Es liegt die Vermutung nahe, dass sich dies bei der Beschreibung von
Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser ähnlich verhalten könnte, wie
sie zum Beispiel in Sarajevski list zu finden sind.
12 Hier grundlegend: Unowsky, Daniel L.: The Pomp and Politics of Patriotism. West Lafa-
yette (Ind.): Purdue Univ. Press 2005. Nicht diesem Paradigma folgend, aber auf breiter
Quellenbasis zu einem bosnischen Beispiel: Šehić, Zijad: Vjerski velikostojnici u BiH pri-
likom posjete cara Franje Josipa 1910. godine. In: Godišnjak Bosnjačke zajednice kulture
‚Preporod‘ 1 (2009), pp. 203–216.
13 Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums, 1740–1918. München:
C.H.Beck 2017, p. 425.
14 Judson, Pieter M.: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Impe-
rial Austria. Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Press 2006.
deutung als „erster serbischer Erzbischof“ betont, doch wurde ihm gegenüber
den übrigen Heiligen der Nemanjiden-Dynastie keine hervorgehobene Rolle
zugeschrieben.17
Dies sollte sich erst im späten 18. Jahrhundert ändern. Auslöser dieser Ent-
wicklung waren die theresianisch-josephinischen Kirchenreformen, die sich
auch auf die orthodoxe Bevölkerung im historischen Südungarn auswirkte. Die
Rationalisierungstendenzen, das Zurückdrängen lokaler Heiligenkulte sowie
die Reduzierung der Zahl der Feiertage führten dazu, dass seitens des Habsbur-
gerstaates die Verehrung von Landespatronen forciert wurde. So wurde analog
zur Entwicklung in den katholischen Ländern der Habsburgermonarchie auch
für die orthodoxen Serben ein Landespatron installiert; der Heilige Sava wurde
nach einem entsprechenden Synodalbeschluss schließlich 1775 „durch Erlass
Maria Theresias als durch ganztätige Arbeitsruhe zu feiernder Patron der Ser-
ben im Habsburgerreich.“18 Die Verehrung anderer Angehöriger der Nemanji-
den-Dynastie trat demgegenüber in den Hintergrund.
16 Vgl. hierzu wie zu dem Folgenden Rohdewald, Stefan: Art. Sava. In: Bahlcke, Joachim /
Ders. / Wünsch, Thomas (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstituti-
on und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Berlin: De Gruyter
2013, pp. 592–598 und Kämpfer, Frank: Art. Sava I. In: Bernath, Mathias / Nehring, Karl
(Hg.): Biografisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Band IV. München: Olden-
bourg 1981, pp. 84–87. Daneben zum Leben Savas und den Ursprüngen seiner Vereh-
rung ausführlich Rohdewald, Stefan: Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren
in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, pp.
95–110.
17 Rohdewald 2014, p. 110ff.
18 Kämpfer 1981, p. 87. Vgl. außerdem Rohdewald 2014, p. 160f.
19 Vgl. dazu, auch mit Hinweis auf abweichende Datierungen in der Literatur, Grunert,
Heiner: Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herze-
gowina 1878–1918. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2016 (=Religiöse Kulturen im
Europa der Neuzeit 8), p. 123.
20 Rohdewald 2014, pp. 162–194.
Dass auch im spätosmanischen Bosnien und der Herzegowina in den neu er-
richteten serbischen Konfessionsschulen der Heilige Sava als Schulpatron ver-
ehrt wurde, geht bereits aus dem eingangs angeführten Bericht der Bosanska
vila hervor. Doch erst in österreichisch-ungarischer Zeit sollte der Savindan die
Gestalt eines nationalen Gedenktages annehmen, der entsprechend inszeniert
wurde.
Eine Schlüsselrolle spielte die Bosanska vila. Es handelte sich hierbei um eine
Kulturzeitschrift, die mit einer dezidiert nationalpolitischen Zielsetzung ge-
gründet wurde, diese angesichts des habsburgischen Zensurregimes aber nur
eingeschränkt offen artikulieren konnte,21 da die Landesregierung die Erteilung
einer Druckkonzession 1885 ausdrücklich an die Bedingung knüpfte, dass „nur
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21 Zur Bosanska vila in dieser Zeit vgl. Đuričković, Dejan: Bosanska vila, 1885–1914. Vol. 1
Sarajevo: Svjetlost 1975, pp. 9–59; Dujmović, Sonja: Između tradicije i modernizacije –
„Bosanska vila” u prvoj godini izlaženja (1886) In: Prilozi Instituta za istoriju u Sarajevu 35
(2006), pp. 45–60; Vervaet, Stijn: Centar i periferija u Austro-Ugarskoj. Dinamika izgrad-
nje nacionalnih identiteta u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine na primjeru
književnih tekstova. Sarajevo: Synopsis 2013, pp. 130–161.
22 So der entsprechende Bericht der Landesregierung an das gemeinsame Finanzministeri-
um in Wien. Abgedruckt in der Quellenedition von Besarović, Risto: Kultura i umjetnost
u Bosni i Hercegovini pod austrogarskom upravom. Sarajevo: Arhiv Bosne i Hercegovine
1968, p. 65. Diese Bestimmung wurde 1887 noch einmal wiederholt und präzisiert, wenn
es in einem Schreiben der Landesregierung an den Redakteur Kašiković heißt: „Politische
und konfessionelle Fragen darf die Bosanska Vila in keiner Form erörtern.“ („Politička i
vjerozakonska pitanja ‚Bos. Vila‘ ne smije raspravljati ni u kakvom obliku.“- ibid., p. 68).
23 Poziv na preplatu. In: Bosanska vila, Nr. 24/1886, pp. 369–370, hier p. 370.
24 Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche
(1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg
1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 86. Vgl. außerdem Okey 2007, p. 83.
wird, wenn wir uns wenigstens einmal im Jahr versammeln und uns einig und brüder-
lich erinnern, wer wir sind und wo wir sind, dann wird sich bei uns auch das serbi-
sche Bewusstsein entwickeln und stärker werden, ohne Furcht, dass es irgendetwas
ersticken könnte.27
Nicht angesprochen werden durften also Fragen, die das sensible Problem der
staatsrechtlichen Stellung Bosnien-Herzegowinas und seines nationalen Cha-
rakters berührten, sowie Themen, die in irgendeiner Form zu einer Belastung
des Verhältnisses zwischen den Konfessionen oder nationalen Gruppen füh-
ren konnten. Dass die Zensur dann doch durchaus penibel gehandhabt wer-
den konnte, zeigen die Maßnahmen der Landesregierung im Jahr 1895, die
vier Grußworte zu Sava-Feiern gänzlich verbot, in 29 Fällen Textstreichungen
durchführte und den Text der Sava-Hymne, von dem es eine große Reihe von
Variationen gab, in 35 Fällen beanstandete.37
In dem bereits genannten Erlass von 1894 ergingen darüber hinaus genaue
Angaben hinsichtlich der Ausschmückung der „Versammlungs- und Festloka-
litäten.“ Aus der Verordnung der Landesregierung geht hervor, „dass ausser
den Bildnissen Ihrer Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät nur
solche bildliche Darstellungen angebracht werden dürfen, welche keinerlei poli-
tische Deutung zulassen und auch sonst zu keinen Bedenken Anlass geben.“38
Welche Darstellungen als bedenkenlos anzusehen seien, müsse im Einzelfall
geprüft werden. Auf keinen Fall zulässig seien:
[Die] Bildnisse fremder, lebender oder erst kürzlich verstorbener Fürstlichkeiten, wel-
che noch im Gedächtnisse der Gegenwart fortleben; ferner bildliche Darstellungen
aus der neueren politischen Geschichte, die entweder nur einem vorübergehenden
politischen Zwecke dienen oder einen unverkennbaren tendenziös gefärbten Zusam-
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gefordert. Zuvor hatte der Redner schon gewürdigt, dass die Landesregierung
nicht nur dem Volk neue Wege zur Bildung eröffne, sondern dass sie auch
Bildung „im Geiste des Volkes und im Geiste unserer Orthodoxie“ („u duhu
narodnom, i u duhu provoslavlja našeg“) ermögliche, wovon allein schon die
Tatsache zeuge, dass am Savindan eine von der Landesregierung finanzierte
Panahija-Verteilung stattfinde.43 Diese Ausführungen des Redners verdeutli-
chen die Intention der Landesregierung bei der Organisation dieser Feier: Es
sollte gezeigt werden, dass dem Wunsch der orthodoxen Bevölkerung nach der
Pflege einer religiösen Erinnerungskultur und damit verbundener liturgischer
Praktiken auch innerhalb der staatlichen Schulen Rechnung getragen wurde,
der orthodoxen Schülerschaft also, anders als die nationalistische serbische
Presse insbesondere außerhalb Bosnien-Herzegowinas raunte, ihre kulturelle
Sonderidentität keinesfalls genommen werden sollte. Gleichzeitig wurde aber
darauf hingewirkt, dass sich diese Sonderidentität mit Loyalität gegenüber der
Monarchie und ihren Vertretern in den Okkupationsgebieten verband, deren
42 Svetosavska svečanost u Sarajevu 1890 god. In: Istočnik, Nr. 1/1890, pp. 39–43, hier p. 43.
Im Original:
„Ne zaboravlajte dobročinstva, koja ste uživali u školama: dobijali ste potpore u novcu
od visoke vlade, dobijali ste besplatne knjige, oprost od školarine, neki i odjeće, slobodne
lijekove i liječenja […]. Tolika je briga i staranje oko vašeg vaspitanja visoke vlade!
Al [sic!] ova briga i staranje visoke vlade potiče iz čiste ljubavi njene prema vami, a
iz očinske blagonaklosti Njegovog carskog i apostoljsko-kraljevskog Veličanstva, našeg
premilostivog gospodara Franje Josipa I. prema ovom narodu, kome želi da ga sretna i
napredna vidi. Za to uskliknimo dječice, i ovom svečanom prilikom iz blagodarne duše
naše Njegovom Veličanstvu: Živio! Živio! Živio!“
43 Ibid.
benevolente Haltung betont wurde. Dies entsprach ganz der Rhetorik einer
imperialen Zivilisierungsmission, in der die habsburgische Okkupationsmacht
die Rolle des Kulturbringers einnahm.
Doch auch dort, wo die Landesregierung nicht positiv auf die Gestaltung der
Feiern Einfluss nehmen konnte, bemühte sie sich um die Durchsetzung einer ihr
genehmen Deutung der Ereignisse. Indirekt konnte dies durch die Subventio-
nierung regierungsnaher Blätter geschehen. Eines solcher in der Ära Kállay ins
Leben gerufenen Zeitungsprojekte war die Zeitung Prosvjeta, die von 1885 bis
1888 erschien, und innerhalb der serbisch-orthodoxen Eliten für die Politik der
Landesregierung werben sollte. Wenn die Prosvjeta zum Beispiel die Besetzung
des Sarajevoer Festkomitees bemängelte oder in bestimmten Fällen die Ausfüh-
rung dieser Feiern kritisierte, dann setzte dies einen Kontrapunkt zu der meist
überschwänglich positiven Berichterstattung in der Bosanska vila.44
Etwas zurückhaltender deutet sich eine derartige Kritik an den politischen
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Die Deutungshoheit über die Savindan-Feiern und die dort ausgesendeten Bot-
schaften blieb also prekär. Diese Prekarität ist der Schlüssel zum Verständnis der
beiden zu Beginn dieses Artikels vorgestellten Berichte in der Bosanska vila und
dem Sarajevski list: Letztlich lesen sich die beiden Texte als Bericht und Gegen-
44 Entsprechend heftig waren die Reaktionen in der Bosanska vila, Nr. 2/1887, p. 46f. u.
Nr. 3/1888, p. 45. Dass Kritik aber nur in einzelnen Fällen geäußert wurde und sich hier-
bei auf die Eliten der serbischen Gemeinde in Sarajevo konzentrierte, zeigen andere Texte
in der Prosvjeta, so ein Bericht über die Feier in Bosanska Gradiška in Prosvjeta Nr. 6,
07.(19.)02.1888, p. 4, der offenbar vom lokalen Festkomitee übernommen wurde.
45 Judson 2017, p. 470.
bericht, die die jeweils erwünschten politischen Botschaften absichern und zu-
gleich die von der Gegenseite ausgesendeten Botschaften unterminieren sollten.
Nun wäre es aber verfehlt, hier vereinfachend eine Dichotomie zwischen der
Berichterstattung der Landesregierung und dem Leitmedium eines kulturell
artikulierten serbischen Nationalismus zu konstruieren. Dass die Lage durchaus
komplexer war, zeigt die Berichterstattung in der orthodoxen Kirchenzeitschrift
Istočnik.46 Dort hieß es über die 1890 in Sarajevo abgehaltenen Feierlichkeiten:
Schon 700 Jahre sind vergangen, seit der Heilige Sava Nemanjić zur Welt gekommen
ist, und wenn auch die frevlerische Hand Sinan Paschas seine heiligen Gebeine auf
dem Vračar in Brand setzte, dann ist die Erinnerung an ihn dennoch nicht vergangen,
sondern sein Name blieb wegen seiner Verdienste um die Kirche und die Schule umso
strahlender und stärker in der Erinnerung des serbischen Volkes.
An diesem Feiertag erklingt aus Tausend und Abertausend Mündern serbischer Kind-
lein das liebreizende Lied: „Wir jauchzen auf in Liebe zum Heiligen Sava“, unserem
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ersten Erzbischof und Aufklärer. Wo immer es eine serbische Kirche und Schule gibt,
in allen Ländern des Serbentums, wo immer es einen wahren orthodoxen Christen
gibt, feiert man den Hl. Sava, feiert man den Tag des großen Schulpatrons. Dies ist
wahrscheinlich der einzige Tag, an dem in den Seelen und Herzen aller Serben und
Serbinnen, jedes kleinen Serben und jeder kleinen Serbin der eine selbe Wunsch, die
eine selbe Hoffnung entsteht…
An diesem Tag atmet das gesamte Serbentum als eine Seele; der eine selbe Wunsch
und die eine selbe Hoffnung umfassen es, und es richtet sowohl in der Kirche als auch
in der Schule das eine selbe Gebet an den großen Patron, den Heiligen Sava, den Sohn
des großen Nemanja, unter dem in einem glücklichen Moment und in einer glück-
lichen Zeit alle serbischen Länder vereint waren…47
Der Text bestätigt zunächst einmal den bisher gewonnenen Eindruck, dass
Berichterstattung der Bedeutungsfestschreibung und damit der Absicherung
einer potentiell prekären Semiose dient. Konkret wird hier ein Soll-Zustand
als Ist-Zustand beschrieben; das Ziel der ausgesendeten Botschaft wird als be-
reits erreicht dargestellt: Alle Serbinnen und Serben feiern den Nationalheiligen
Sava mit denselben Riten und Bräuchen, in derselben Gefühlslage und mit den-
selben Gedanken verbunden, so dass an diesem Tage „das gesamte Serbentum
als eine Seele“ atme, gleichsam also zu einem Körper verschmelze. Hier wie
dort wird das Wunschbild der serbischen Nation als einer von einem gemein-
samen Geschichtsbewusstsein getragenen grenzüberschreitenden Emotions-
gemeinschaft48 entworfen, die sich, wenn es um die Gestaltung der Zukunft
ten Botschaften zeigt, dass beide Prozesse nicht getrennt voneinander betrachtet
werden können. Welche konkreten Folgen dies für Strukturierung politischer
Loyalitäten tatsächlich hatte, bleibt offen, doch deuten sich hier Ambivalenzen
an, die regimedistanzierte Verfechter des serbischen Nationalismus irritiert ha-
ben müssen.
Dass die nationale Lesart und Botschaft der Sava-Feiern schließlich nicht nur
gegenüber der imperialen Macht, sondern dem eigenen ʻVolkʼ gegenüber abge-
sichert werden mussten, zeigt eine genauere Betrachtung der Berichterstattung
der Bosanska vila. Mögen hier auch Erfolgsmeldungen dominieren, so stechen
doch Kritik und Ermahnung ins Auge, wenn Feiern nicht so ausgeführt wurden,
wie die Redakteure der Zeitschrift dies wünschten. Ein in diesem Zusammen-
hang zunehmend artikulierter Kritikpunkt ist Amüsement als Selbstzweck und
Geselligkeit ohne nationale Vorzeichen. Dies verweist auf eine eigensinnige
Aneignung dieser neuen Form der Geselligkeit durch die Lokalbevölkerung. So
hieß es beispielsweise über die Besjeda in Mostar 1888: „Ein jeder ging zufrie-
den, fröhlich, aber auch nüchtern nach Hause. So gab es auch diesmal keinen
einzigen Betrunkenen. […] Die Ordnung war die ganze Nacht lang derart, da
sie jeder, insbesondere aber die Fremden lobten.“49 Wenn dies, wie in anderen
Berichten auch, derart stark betont wurde, so legt dies den Schluss nahe, dass
es sich dabei eben durchaus um keine Selbstverständlichkeit handelte. Ambi-
valent war aber auch die Haltung Fremden gegenüber (bei denen es sich ganz
offenkundig um Repräsentanten der österreichisch-ungarischen Verwaltung
handelte), deren Anerkennung gesucht wurde, denen gegenüber aber zugleich
49 Im Original: „Kući se svak zadovoljan, veseo, ali trijesan povrnuo. […] Red je cijele noći
bio takav, da mu se svak, a osobito strance dive.“ Bosanska vila, Nr. 3/1888, p. 46.
Svetković glichen ganz und gar dem Typus des polnischen Juden […]“51, womit
ein antisemitisches Stereotyp bemüht wurde, das sich auf die Zuwanderung
aschkenazischer Bevölkerung nach der österreichisch-ungarischen Okkupation
1878 bezog. Abweichungen von den Erhabenheitspostulaten bürgerlicher Eli-
ten, die die Evozierung des immer wieder eingeforderten Stolzes auf die eigene
Geschichte obstruierten, wurden also nicht toleriert, ob es sich dabei nun um
betrunkene und rauflustige Bauern oder schlecht geschminkte Laiendarsteller
handelte.
Hier wie an anderen Stellen wird deutlich, dass das Volk selbst zum Objekt
einer national definierten Zivilisierungsmission wurde. Die Werte, die im Zuge
dieser Zivilisierungsmission vermittelt werden sollten, wurden nicht zuletzt
in die Figur des Hl. Savas projiziert: Er steht in den Festreden für unbedingte
Opferbereitschaft für die Nation, aber auch Bildungsaffinität und Arbeitseifer.
Festgeschrieben werden sollte zudem die erinnerungskulturelle Partizipation
der bäuerlichen Bevölkerung und von Repräsentanten der muslimischen Be-
völkerungsgruppe. Verband sich ersteres mit der allgemeinen Vorstellung des
bürgerlichen Nationalismus, die Nation verbinde alle sozialen Gruppen und
kenne keine Klassengegensätze, so gründete letzteres in dem Konzept eines
konfessionsübergreifenden ʻSerbentumsʼ, die auf Vuk Karadžić zurückgeht. Aus-
gangspunkt war dabei die Idee, dass es sich bei allen štokavisch sprechenden
Südslawen, also auch den Muslim(inn)en und Katholik(inn)en Bosnien-Herze-
gowinas, um Angehörige der serbischen Nation handele. Vor diesem Hinter-
grund ist es zu verstehen, warum, wie im Bericht der Bosanska vila zu Be-
ginn dieses Artikels, eine Person wie Mehmed-beg Kapetanović als „serbischer
Schriftsteller“ angesprochen wurde, obwohl er selbst eine solche Bezeichnung
für sich entschieden abgelehnt hätte.52
Wie angekündigt, feierte die serbische Gemeinde am Samstagabend eine Soirée zu-
gunsten der serbischen Schule. Der Saal des Gesellschaftshauses war übervoll von
buntscheckigem Publikum von der Generalsuniform bis hin zur Nationaltracht. Die
Punkte des Programms wurden sehr schön ausgeführt […]. Doch in diesem bunten
Gemenge war am buntesten und exotischsten die Vermischung der Töne des erha-
benen Savaliedes mit dem des Kaisers oder, wie manche sagen, der Nationalhymne.
Allein die Heiliger-Sava-Hymne litt in dieser Vermischung; beim Spielen der Kaiser-
hymne stand die Bürgerschaft brav auf, doch bei der Sava-Hymne blieb dieselbe Bür-
gerschaft sitzen und blickte unbeteiligt in den Saal. Aber ja, die Loyalität!56
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Der Volkszählung von 1910 nach besaßen in Bosnien und Herzegowina 114.591
Personen der ortsanwesenden Zivilbevölkerung keine Landeszugehörigkeit. Die
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meisten von diesen kamen aus Österreich und Ungarn, 1895 lebten in Bosnien
und Herzegowina 70.848 von dort stammende Personen, 1885 waren es erst
27.438 Personen. In der Forschung wird dieser Personenkreis plausibel als Zu-
wanderer identifiziert. Die deutschen Muttersprachler können mit 1910 landes-
weit 22.968 Personen darunter nur eine Minderheit gewesen sein; mehrheitlich
waren diese Menschen serbokroatischer Muttersprache.1 Die Zahl der „Kolo-
nisten“, d. h. der ländlichen Siedler in Bosnien, wird für 1913 mit 13.340 Per-
sonen angegeben: Die meisten Zuwanderer waren also keine Kolonisten, von
den demnach 38 Kolonien hatten zwölf eine polnische und elf eine deutsche
1 Vgl. Die Ergebnisse der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 10. Oktober
1910. Sarajevo: Landesregierung für Bosnien u. d. Hercegovina 1912, pp. XLVIII–LIV;
Hauptresultate der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 22. April 1895.
Sarajevo: Landesregierung für Bosnien u. d. Hercegovina 1896, p. 808; Ortschafts- und
Bevölkerungs-Statistik von Bosnien und der Hercegovina nach dem Volkszählungs-Er-
gebnisse vom 1. Mai 1885. Sarajevo: Landesdruckerei 1886, p. 4f. – Die Angaben zur
Muttersprache wurden bei Volkszählungen erstmals 1910 erhoben, die amtliche Publika-
tion nannte deutsche Muttersprachler Deutsche (ibid., LI), während als Österreicher alle
Einwohner Cisleithaniens galten (ibid., XLIX). 1908 z. B. wurden die Beamten auch der
Volkszugehörigkeit nach u. a. als Deutsche ausgewiesen Izvještaj o upravi Bosne i Herce-
govine 1908. Zagreb: G. i Kr. zajedničko Ministarstvo financija Beč 1909; – 2013 erklärten
sich in Bosnien-Hercegovina 365 Personen als Deutsche und 62 als Österreicher http://
www.popis.gov.ba/popis2013/knjige.php?id=2, 1991 waren es 470 Deutsche und 66 Ös-
terreicher. http://fzs.ba/index.php/popis-stanovnistva/popis-stanovnistva-1991-i-stariji/
Mehrheit.2 Der räumliche Schwerpunkt dabei war die Gemeinde Prnjavor (1885,
d. h. vor Beginn der Kolonisation, zu 83 % von orthodoxen Christen bewohnt).3
bereits 1869. Der Name war vom Hauptspender, dem Kloster Marienstern in
Sachsen übernommen; der Gründer und erste Prior war der Vorarlberger Franz
Pfanner. Dieser war zuvor in Zagreb tätig gewesen und hatte auf einer Pilger-
reise nach Palästina und Ägypten erste „Orienterfahrungen“ gesammelt.6
Tatsächlich ging 1879 die Initiative zur auswärtigen Siedlungsmigration nicht
vom Staat aus, sondern von Pfanner. Bereits unmittelbar nach der Okkupation
veröffentlichte er in den Weckstimmen für das katholische Volk (Wien) den Bei-
trag „Bosnien, ein Land für Ansiedlung“; der Artikel erschien auch in anderen
katholischen Zeitschriften und wurde vom Borromäus-Verein als Broschüre ge-
druckt. Pfanner befasste sich darin teils offen werbend, teils in der Rolle des
„Ratgebers“, mit der Auswanderung nach Bosnien, angeblich wollte er damit auf
Anfragen reagieren, die seit der Einnahme Banja Lukas 1878 bei ihm eingegan-
gen waren. Ein deutsch-nationaler Ton ist dem Text nicht zu entnehmen, eher
im Gegenteil war sein Adressat und Bezugspunkt das „katholische Volk“, dessen
Kirche weder „Grenzpfähle der Sprache, der Nation oder des Regierungssys-
tems“ kenne. Ein missionarisches Motiv oder Bezüge zum Kulturkampf klangen
ebenso wenig an, Pfanner ging es zwar um die Einwanderung von Katholiken,
er stellte aber nur wirtschaftliche Anreize heraus. Das Bild Bosniens als „Bet-
telland“ wies er dabei zurück und erinnerte an dessen reiche mittelalterliche
Geschichte bzw. die Königstadt Jajce, doch strebte er an, „Mustergemeinden
für die bosniakischen Ortschaften“ zu schaffen. 1880 wechselte Pfanner in die
Überseemission nach Südafrika.7
Der Schrift Pfanners folgten 1879 Arbeiterfamilien aus Essen sowie Ka-
tholiken aus dem Rheinland, dem Emsland bzw. Hannover, dem Oldenburger
Münsterland und Schlesien; auch einige Niederländer schlossen sich an. Das
Land kauften die Siedler von einem bosniakischen Grundherren, 1880 folgte
die Gründung des benachbarten Rudolfstal.8 Die Auswanderung nach Bosnien
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7 [Pfanner], Dr. Franz, Prior des Trappistenklosters Maria Stern bei Banja Luka: Bosnien
ein Land für Ansiedlung. In: Weckstimmen für das katholische Volk 9 (1878).
8 Kasumović, Amila: Austrougarska kolonizaciona politika u Bosni i Hercegovini i prvi
njemački doseljenici. In: Bethke, Carl / Kamberović, Husnija / Turkalj, Jasna (Hg.) /
Omerović, Enes (Red.) Die „Deutschen“ in Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Neue
Forschungen und Perspektiven / Zbornik radova. Sarajevo: Inst. za Istoriju u Sarajevu
2015, pp. 75–95; vgl. das „Heimatbuch“ von Schindler, Peter (Hg.): 65 Jahre deutsche Ko-
lonisten in Bosnien. Zwei geschlossene Kolonien Windthorst und Rudolfstal. Politische
Gemeinden [Nova Topola und Aleksandrovac] 1879–1944. Hamburg: Selbstverlag 2007.
9 Westheider, Rolf: Aus dem Emsland nach Bosnien. Die Geschichte einer ungewöhnlichen
Auswanderung und ihre Folgen. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 55 (2009),
pp. 33- 45, hier p. 33f. Die Konstituierungsakte hatten die osmanische Gemeindeordnung
zu berücksichtigen: Arhiv Bosne i Hercegovine (ABiH), Zemaljska Vlada (ZVS), Br. 4000
prim 22.02.1881.
35,3% der Einwohner aus; 10,1% der Einwohner waren deutscher Mutterspra-
che. Eine wichtige Quelle für diese Milieus ist die von 1884–1918 erscheinende
Zeitung Bosnische Post. Der Gründer des Blattes war der aus Zagreb stammende
Stadtarzt Julije Makenec, verheiratet mit Luise Löschner16; die Ersterscheinung
des Blattes fiel zusammen mit dem Bemühen der neuen Landesregierung unter
Freiherr von Appel, den bosnischen Landespatriotismus zu fördern. Es handelte
es sich aber nicht um ein Regierungsblatt, allerdings unterstütze das Außen-
ministerium ab Oktober 1884 die Zeitung durch 100 Abonnements; die Kosten
dafür übernahm wenig später zu 50 % das gemeinsame Finanzministerium.17
Die Berichte zur urbanen Transformation und zur Kommunalpolitik, die An-
zeigen, landeskundlichen Beiträge sowie Veranstaltungshinweise wiesen einen
ausgeprägten Sarajevo-Bezug auf. Das Blatt war explizit säkular; als Zielgruppe
wurde vor allem die lokale Beamten- und Kaufmannschaft definiert.18
In den ersten Ausgaben warnte die Bosnische Post noch vor dem Misslingen
privater Einwanderungen von „Deutschen“, sicher auch angesichts damaliger
Probleme mit der unkontrollierten Niederlassung und Aneignung von Land
durch Immigranten aus der benachbarten Lika.19 Auslöser für die Ansiedlung
wurde jedoch eine Überschwemmungs-Katastrophe in Tirol und Trient im
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Herbst 1883, wovon hunderte Familien betroffen waren: Als Alternative zur
Amerikamigration wurde Betroffenen aus Notstandmitteln des Landes die An-
reise und Inventar zur Niederlassung in Bosnien-Herzegowina angeboten – die
ersten staatlichen Ansiedler waren daher, so Ferdo Hauptmann, Italiener. Von
diesen wurde bei diesem „Versuch“ die eine Gruppe bei Konjic als Kmeten an-
gesiedelt, was zu deren Rückkehr oder Wegzug führte; mehr Erfolg hatte man
hingegen mit 57 Familien (320 Personen), die in Mahovljani nahe bei Wind-
thorst Land als Siedler erhielten.20
16 (1965), pp. 151–171, hier p. 160; vgl.: Ansiedlung von Süd-Tirolern im Okkupations-
gebiet. In: Bosnische Post, 23.03.1884. – 1939 wurden die italienischen Einwohner von
Mahovljani nach Italien „umgesiedelt“.
21 Bethke, Carl: Deutsche „Kolonisten“ in Bosnien. Vorstellungswelten, Ideologie und sozia-
le Praxis in Quellen der evangelischen Kirche. In: Šehić, Zijad (Hg.): Bosna i Hercegovina
u okviru Austro-Ugarske 1878–1918. Sarajevo: Filozofski Fakultet u Sarajevu 2011, pp.
235–266.
22 „eventuelle Heranziehung deutscher Ansiedler“: Seiner Durchlaucht dem Fürsten von
Bismarck. Wien, den 1. September 1888. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R
12915.
23 Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Un-
garns. Leipzig: Veit 1914, p. 247; Mi smo preč iodtugljina. In: Bošnjak, 10.09.1891.
24 Kraljačić 1987, p. 126.
drei Jahren hatte ein Kolonist gar keine Pachtgebühr zu entrichten, allerdings
waren als Voraussetzung Kenntnisse der Landwirtschaft sowie ein Vermögen
von 1200 Kronen nachzuweisen.25 Für Aufsehen sorgte, dass zu den Ersten, die
auf diesem Weg 1894 Land erhielten, Russlanddeutsche Rückwanderer in Vrano-
vac und Prosora gehörten; wie es hieß, „alles evangelische Deutsche, gewesene
deutsche Reichsländer, die ihres Glaubens wegen und ihrer Sprache von dort
verdrängt wurden“.26 Durch Zuzüge aus Galizien, Kroatien und Ungarn soll sich
die Zahl der deutschsprachigen Bauern schließlich bis auf 8.000 erhöht haben.27
Das erst dann einsetzende „Kolonisations“-Programm auf staatliche Initiati-
ve sollte auch der sich damals formierenden „antiloyalen Bewegung“ (mit zu-
nächst vor allem serbischem Hintergrund) entgegentreten; effektiv führte dieser
Schritt allerdings ebenso zur ethnischen Diversifizierung der bis dahin vor allem
deutsch und privat dominierten Siedlermigration – warb doch die Landesregie-
rung dafür gezielt in Zeitungen des strukturschwachen und „übervölkerten“
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Bedeutung und Autorität der von Deutschland aus entsandten und finanzierten
Pastoren noch verstärkte. Ihr Wortführer wurde der Vikar bzw. Pastor von Ban-
ja Luka, Wilhelm Oehler. Als der 1910 gewählte Landtag (Sabor) den deutschen
Schulen die Mittel kürzte, gewann er stattdessen die Unterstützung des Vereins
für das Deutschtum im Ausland (VDA), auch für den von seinem Bruder Albrecht
Oehler gegründeten Genossenschaftsverband, der ebenso deutsche Katholiken
umfasste und 1914 546 Mitglieder hatte.30
Dieser Genossenschaftsverband war angeschlossen an den 1908 gegründe-
ten bürgerlich-deutschnationalen Verein der Deutschen und der Herzegowina,
dessen Zweigstelle in Banja Luka die Oehlers gegründet hatten. Jener ging auf
eine seit 1899 entstandene Tischgesellschaft in Sarajevo zurück, die sich 1902
zunächst als Verein „Deutscher Stammtisch“ konstituiert hatte. Der erste Vor-
sitzende war Georg Grassl, der spätere Vorsitzender des Schwäbisch-Deutschen
Kulturbundes in Jugoslawien. Die Statuten waren an jene des tschechischen
Vereins angelehnt; der Verein führte als Farben Schwarz-Rot-Gold, die Studen-
tenabteilung hieß „Wartburg“. Es gelang ihm auch in den Fabriksiedlungen Fuß
zu fassen, bis 1914 wuchs seine Anhängerzahl von 500 auf landesweit 2000.31
29 Beg Kapetanović, Grado načelnik: Zemjalskoj vladi u Sarajevu. Sarajevo, dne 26. Maj
1898. In: Magistrat Sarajevo über Baugenehmigung Kirchengemeinde, 26.05.1898, ABIH
ZVS Z 6626 1898; Presbyterium der hiesigen evangelischen Kirche mit Einladung zur Ein-
weihung der neuen evangelischen Kirche am 19. November d. J. (ibid., 2/XI 1899 Nr. 162.
942 1899).
30 Bethke 2011, p. 254; Deutsche Kolonien und evangel. Gemeinden in Bosnien: Arbeitsbe-
richt über das Jahr 1914 erstattet von Pfarrer W.J. Oehler, Banja Luka; EZAB 200–1–2014,
passim.
31 Verein der Deutschen in Bosnien und der Hercegowina, Bundesarchiv, R 57 5384; Verein
Deutscher Stammtisch, Bundesarchiv, R 57 5389; siehe auch ABiH, ZVS, 1914, 18–312;
Der „Erfolg“ deutschnationaler Mobilisierung war, wie ein Vergleich mit Slawo-
nien oder Zentralungarn leicht zeigen könnte, erstaunlich, und weder natürlich
noch selbstverständlich. Er dürfte mit der Zunahme ethnischer Spannungen zu
erklären sein32; und verweist auf den einsetzenden Wandel bei imperialen Ein-
wanderergruppen hin auf ein Selbstverständnis als nationale Minderheit.
Bosniakische Perspektiven
Das Bild der „Schwaben“ in den bosniakischen bzw. muslimischen Zeitungen
variierte. Die erste von ihnen in lateinischer Schrift war der von 1891–1910
erscheinende Bošnjak. Dieser vertrat eine landespatriotische und habsburg-lo-
yale Linie. In einer Kontroverse mit einem Belgrader Blatt verteidigte er die
Verpachtung von Land an die Siedler in Franz-Josefsfeld, da, aus der Sicht des
Grundherren, die dortigen Kmeten das Land nicht so fleißig bearbeitet hätten
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vgl. Geiser, Alfred Deutsche Kulturarbeit in Bosnien und Herzegowina. In: Holdegel,
Georg / Jentzsch, Walter (Hg.): Deutsches Schaffen und Ringen im Ausland. Ein Quellen-
lesebuch für Jugend und Volk, für Schule und Haus. Bd. 1: Österreich-Ungarn, Balkan,
Orient. Leipzig: J. Klinkhardt 1916, p. 61.
32 Dies ist ablesbar an entsprechenden Pressekontroversen: Die Fremden. In: Bosnische
Post, 19.5.1907; Unter dem Terrorismus der Čaršija. In: ibid., 10.2.1908; Kuferašen hinaus
aus Bosnien. In: ibid., 26.11.1910; Das Germanisationsgespenst. In: Sarajevoer Tagblatt,
1.9.1909; Serbische Germanophobie. In: ibid., 21.9.1910, vgl. z. B. Prodaja naših šuma. In:
Musavat, 14.6.1911, dagegen suchte sich der Bošnjak von der Fremdenfeindlichkeit der
serbischen Blätter zu distanzieren: Vgl. Mi i stranci. In: Bošnjak, 09.02.1908.
33 I ne stide se! In: Bošnjak, 24.12. 1896; vgl. dazu Kruševac 1978, pp. 236–261; Pejanović
1961, p. 32f.
34 Neumjesno ime. In: Bošnjak, 30.1.1896 – Zenica war seit 1892 ein wichtiger Industrie-
standort.
35 Hier: Općinski izbori u Ljubuško. In: Musavat, 30.01.1908, passim (7x in jener Ausgabe!).
Subsidien erhielt als die einheimischen Juden. Musavat war zum Teil proser-
bisch; einige Artikel und die Titelzeile erschienen auch auf kyrillisch.36
Dagegen lehnten sich, nach Preisgabe der bosniakischen Orientierung durch
Finanzminister Burián, die Loyalisten oder „Fortschrittler“ bzw. die Selbstän-
dige Muslimische Partei an die Kroaten an; im Artikel „Ungarische Invasion“
kritisierte die Zeitung Muslimanska Sloga die Errichtung ungarischer Schulen,
da sich die Öffentlichkeit mit den deutschen Einwanderern ja bereits ohnehin
befassen würde.37 Nicht wegen der Souveränität des Sultans wollte demnach
die Opposition die Schwaben über die Save treiben, sondern um Bosnien-Her-
zegowina an Serbien anzuschließen.38 Noch vor den Balkankriegen führten
die Gegensätze zu den Serben hinsichtlich der Agrarreform zur Fusionierung
der muslimischen Strömungen; die Zeitung der „vereinigten Muslime“ Zeman
drängte einerseits, wie alle Landtagsparteien, auf die Ablösung des Deutschen
als Verwaltungssprache und die verstärkte Rekrutierung von Einheimischen als
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36 Govornar Poslanika Suljage Vajzovic. In: Musavat, 25.3. 1911; vgl. Bethke 2015, p. 159.
37 Magjarska Invazija. In: Muslimanska Sloga, 01.11.1910; Protumagjarske demonstracije.
In: Hrvatski Dnevnik, 20.02.1912; vgl. Balta, Ivan: Julijanska Akcija u Slavoniji. Zagreb:
Društvo mađarskih znanstvenika i umjetnika Hrvatske 2006, p. 203f.
38 Dvije riječi Musavat. In: Muslimanska Sloga, 20.01.1911, sowie ibid., 17.01.1911.
39 Z.B. Kuferaši na pomolu. In: Zeman, 10.09.1912; Ponižavanja muslimana, ibid., 16. 09.
1911.
40 Opet muslimane bojkotiraju. In: Zeman, 29.02.1912; Grunddaten zu Zeman bei Pejanović
1961, p. 77.
41 Festlicher Empfang des deutschen Detachment in Zavidovići. In: Sarajevoer Tagblatt,
02.09.1914; zum Bosnien-Einsatz vgl. BA Militärarchiv Freiburg RM 3 4333 und ibid., 5
2283.
den auch „zündende Ansprachen gehalten, in denen betont wurde, dass die Zeit
gekommen sei, die ‘Švabas’ aus dem Lande zu jagen und dieses serbische Land
zu befreien; alles den Švabas gehörende Vermögen sollte unter die Serben ver-
teilt werden“. Solche und ähnliche Drohungen bereits seit den Balkankriegen42
sind als Hintergrund für die ersten Umsiedlungspläne 1916 zu bedenken; nach-
dem 1914/15 viele Serben aus den Gebieten an der Drina geflohen waren, kam
zuvor jedoch die Idee auf, (kriegsgefangene) Russlanddeutsche anzusiedeln.43
Nach Kriegsende waren die kuferaši Übergriffen ausgesetzt, auch manche Ko-
lonien wurden dabei derart „heimgesucht“, dass es die Bewohner vorzogen,
einstweilen „außerhalb zu kampieren“.44
Bis 1918 war Deutsch die innere Verwaltungssprache in Bosnien und Herze-
gowina – davon zu unterscheiden ist, dass der Anteil der Deutschen bei den
Beamten bereits 1907 nur mehr 12, 44 % ausmachte.45 Die meisten habsbur-
gischen Beamten in Bosnien und Herzegowina waren damals „Slawen“, be-
sonders Kroaten, zunehmend auch Bosniaken, die jahrzehntelang ihren beruf-
lichen Alltag auf Deutsch bewältigten: Oft ungesagt, aber sehr wohl implizit,
richteten sich die Angriffe der Opposition gegen die (deutsch sprechende) Be-
amtenschaft, somit stets auch gegen einen Teil der südslawischen Eliten selbst;
allein ihre lebensweltliche Praxis entzog sich nicht nur den Normierungen der
jugoslawischen Nationalbewegungen, sondern stellte deren zentrale Axiomatik
über die essentiell trennende Bedeutung der Muttersprache überhaupt in Frage.
Allerdings waren die gegenteiligen Erwartungen ebenso selbst Resultate der
Integration in die Strukturen des Habsburgerreiches: Die beschriebene Situ-
42 Bezirksamt Foča: An das Präsidium der Landesegierung in Sarajevo. (Betr.:) Bezirk Foča,
Räumung und sonstige Ereignisse, ABIH ZVS pr. B.H. 1715/1914; Bethke 2011, p. 260.
43 Bethke 2011,p. 262; Hofrat Foglár, Präsidium des k. und k. gemeinsamen Finanzministe-
riums in Angelegenheiten Bosniens und der Hercegowina: Der Landesregierung in Sara-
jevo zur Kenntnis. (Betr.): Deutschrussische Kriegsgefangene, Ansiedlung in BH. Wien,
29.01.1916, ABiH Zajednički Ministarstvo Financije Presidalpr. Bh. 93/1916).
44 Omerović, Enes S.: „Odlazak 'kuferaša'". Iseljavanje stranaca iz Bosne i Hercegovine 1918/
1919. godine, http://konferencija2014.com.ba/wp-content/uploads/Enes-S.-Omerović-
paper.Pdf; Oehler, Albrecht: Der Umsturz in Bosnie. In: Dorotka Ehrenfels, Wilhelm von:
Der schwäbisch-deutsche Kulturbund. I. Typoskript: Die Lage der Deutschen vor und
unmittelbar nach dem Umbruch. Neusatz im Mai 1935, Arhiv Vojvodine Novi Sad 20560,
pp. 20–24.
45 Izvještaj o upravi Bosne i Hercegovine 1907. Zagreb: G. i Kr. zajedničko Ministarstvo
financija Beč 1908, p. 7f.; Kraljačić 1987, p. 440.
ließ stets erkennen, dass jene nicht bzw. von niemandem im Sinne einer wo-
möglich deutschsprachigen ‘Leitkultur’ beherrscht und gesteuert wurde: Die
Arithmetik der Machtverhältnisse auf internationaler Ebene wie innerhalb der
Habsburgermonarchie stand dem entgegen, noch bevor 1905 einer nennens-
werten weiteren Siedlungsmigration überhaupt ein Ende gesetzt wurde. Damit
ist angesprochen, dass das Einwanderungsgeschehen zweitens auch ein Spiegel
der Periodisierung, d. h. jener tief greifenden Zäsuren ist, ohne deren Beachtung
die Geschichte k.u.k-Bosniens nicht zu verstehen und zu deuten ist. Das gilt
für den Neuaufbruch nach dem Aufstand 1882, welcher erst zum verstärkten
Einsatz deutscher und ungarischer statt kroatischer Beamte führte, ebenso, wie
für die staatliche Kolonisation der 1890er: Sollte doch mit dieser auch auf die
sich seinerzeit neu formierende – und dann rasch anwachsende- Oppositions-
bewegung reagiert werden (wobei sie im Effekt die beschleunigte Zuspitzung
der weiteren Entwicklung nur vorantrieb). Auch das Ende der Einwanderung,
oder die politische Differenzierung der deutschsprachigen Öffentlichkeit (ab-
lesbar an den Printmedien), sind im Kontext des steten Wandels der politischen
Rahmenbedingungen zu sehen. Ab 1903 wurden diese bestimmt durch den
Neuen Kurs der Ära Burián, und die damals plötzlich stark veränderte inter-
nationale Situation, unter anderem in Folge des Dynastiewechsels in Serbien;
die Re-Definition der Landessprache als „Serbokroatisch“ statt Bosnisch ist ein
markanter Indikator für den grundlegenden politischer Strategiewechsel jener
46 Leonhard, Jörn / Hirschhausen, Ulrike von: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhun-
dert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009.
47 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg „Civilizing Mission“ in Bosnia,
1878–1914. Oxford: OUP 2007, pp. 58, 145; Bethke 2011, p. 155; Bethke 2015, passim.
48 Lindemann, Kristin: Literatur im Dienste der Modernisierung. Bosnien-Herzegowina im
Kontext des islamischen Aufklärungsdiskurses. Konstanz: Diss. (unveröff.) 2015.
Amtssprache Maurisch?
Von seiten der Landesverwaltung ist nun schon seither manches für die Erhaltung des
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orientalischen Charakterbildes der Stadt geschehen. Vor allem hat die Regierung der
Wiederbelebung des arabischen Stiles ihre Aufmerksamkeit zugewendet […] Der ech-
te einheimische Stil ist das freilich nicht und es ist daher nicht zu verwundern, wenn
sich in neuester Zeit dagegen eine Opposition regt. Man bezeichnet jetzt diese Bauart
als volksfremd und zeitfremd und fordert, daß die Regierung bei ihren Neubauten vor
allem den hergebrachten einheimischen (bosnischen) Stil pflege.2
1 Der vorliegende Aufsatz ist ein vorläufiges Produkt des vom Europäischen Forschungsrat
geförderten Fünfjahresprojekts Islamic Architecture and Orientalizing Style in Habsburg
Bosnia, 1878–1918 (ERC 758099) und profitierte von den Anmerkungen der Projektmit-
arbeiterinnen Caroline Jäger-Klein, Julia Rüdiger und Franziska Niemand.
2 Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungarns.
Leipzig: Veit 1914, p. 748.
3 So etwa in Brčko, Gradiška, Bugojno.
4 Das wichtigste Beispiel eines solchen Baus ist die Scheriatsrichterschule, wiederum in
Sarajevo, gefolgt von der Medrese in Travnik, deren habsburgzeitlicher Neubau durch
den Abriss des osmanischen Vorgängerbaus zugunsten einer Eisenbahntrasse notwendig
geworden war. In Travnik finden sich auch mehrere Moscheen, die nach dem vernichten-
den Feuer von 1903 sichtlich mithilfe von in der Monarchie Ausgebildeten wiedererrich-
tet wurden. Die überkuppelte sog. Vorstadtmoschee ist wohl das monumentalste Beispiel
eines in der österreichisch-ungarischen Verwaltungszeit „erneuerten“ islamisches Kult-
baus.
5 Man denke etwa an das Heeresgeschichtliche Museum und die Zacherlfabrik sowie viele
Synagogenbauten in Wien.
6 Zäh, Alexander: Die orientalisierende Architektur als ein stilistischer Ausdruck des of-
fiziellen Bauprogramms der k. u. k. bosnisch-herzegowinischen Landesregierung 1878–
1918. In: Südost-Forschungen LXXII (2013), pp. 63–97.
7 Es folgt eine Unterteilung nach Funktionstypen (Rathäuser, Medresen, Glaubensschulen,
Moscheen, Synagogen, Badeanlagen, Wohn-, Geschäftshäuser und Hotels) bzw. nachah-
mungsresistenten Einzelfällen (Bahnhof Brod, Scheriatsrichterschule Sarajevo, Gymna-
sium Mostar). Verwendet wurden vorrangig im Internet verfügbare Primär-, Sekundär-
und Bildquellen, darunter die Dissertation von Branka Dimitrijević (für eine wichtige
Veröffentlichung daraus s. auch Fußnote 19) und Artikel des Autors (s. Fußnote 24), je-
doch unter fast vollständiger Negierung der landessprachlichen Literatur. Trotzdem ist
anzuerkennen, dass Zäh deutschlesenden Interessierten erstmals eine umfassende Auf-
stellung und Aufgliederung der wesentlichsten Bauwerke zur Verfügung stellt.
8 Dazu auch Moravánszky, Ákos: Die Sprache der Fassaden. Das Problem des Ausdrucks in
der Architektur der Donaumonarchie 1900–1914. In: Becker, Annette / Steiner, Dietmar /
Wang, Wilfried (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert. Österreich. München: Prestel 1995,
pp. 12–21, hier p. 14: „In den Städten Mitteleuropas war die infrastrukturelle Sprache der
Urbanisierung, eine Art ‘Amtssprache’, die Kommunikation ermöglichte und homogeni-
sierend wirkte. Der Historismus war die Sprache der Kontinuität.“
9 Vgl. dazu etwa Madžar, Božo: Sto godina Vladine zgrade u Sarajevu (1885–1985). In: Glas-
nik društva arhivskih radnika Bosne i Hercegovine 25 (1985), pp. 249–255.- Im oft zitierten,
da online verfügbaren Eintrag zum Bauwerk im Verzeichnis der bosnisch-herzegowini-
schen Denkmalkommission (vgl. kons.gov.ba) ist das Medium fälschlich als Glas društva
arhitekata Bosne i Hercegovine angegeben.
ein Katasterbüro, die Redaktion des Amtsblatts Sarajevski list, die Museums-
gesellschaft und das Oberste Gericht. Alles, wofür die Landesregierung stand
– Gerechtigkeit, Fortschritt, Kultur – war in einem der unzähligen Zimmer zu
finden.
Nun könnte man einwenden, dass der andalusisch-levantinische Neo-Stil ja
eigentlich auch erst nach dem Projekt für das Landesregierungsgebäude An-
wendung fand: nämlich erstmals im Fall der 1888 fertiggestellten, aber seit 1886
geplanten Scheriatsrichterschule, die inhaltlich die Emanzipation einer neuen
wegs aufgefallen.
Zusammengefasst wäre es äußerst schwer zu argumentieren, dass die qua-
si-kolonial agierende Landesregierung den kakanischen Orientstil als Ausdruck
ihrer selbst verstand. Denn für die für ihre öffentliche Wahrnehmung zentralen
Bauprojekte bemühte sie stattdessen konsequent eine im Kernraum des Reichs
weitverbreitete, am abendländischen Kulturerbe orientierte Ästhetik. Diese su-
pranationale Formensprache hatte keine Kompromisse einzugehen. Sie vertrat
keine Partikularitäten.
Wer spricht?
Vergessen werden sollte beim Betonen der „maurischen“ Komponente als lan-
desfremder Aufmachung allerdings auch nicht, dass aus Habsburg-Sicht ja herr-
schaftsideologisch nicht wenig für ein Propagieren dieses islamischen Erbes
gegenüber anderen gesprochen hätte. Im 16. und 17. Jahrhundert stand ein kurz
zuvor den „Mauren“ entrissenes Spanien unter der Herrschaft von Habsburgern.
Auch eine Auseinandersetzung mit dem Geerbten fand statt. Unter Kaiser Karl
V., gleichzeitig König Carlos I. von Kastilien, León und Aragón, wurde die Große
Moschee von Cordoba massiv umgebaut.21 Auf der Alhambra begann er, einen
Palast zu errichten, der als Regierungssitz gedacht war, allerdings nie fertigge-
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stellt wurde. Die achteckige Kapelle im Inneren hätte nach ihrer Überkuppelung
wohl an den Aachener Dom erinnern sollen, in dem er zum römisch-deutschen
Kaiser gekrönt worden war.
Leider gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die Dynastie oder
ihre Anwälte den „maurischen“ Stil aus derartigen Beweggründen proponiert
hätten. Verstanden wurde seine Anwendung in Bosnien eher als „Wiederbe-
lebung des arabischen Stils“,22 also von etwas im Lande vermeintlich bereits
Existentem – wenn schon nicht in tatsächlich gebauter Form,23 dann zumindest
in der Kulturgenetik politisch dominanter Einheimischer.
Die Fremdheit des „maurischen“ Formrepertoires in einem spät- oder post-
osmanischen Zusammenhang sollte ebenfalls nicht überbetont werden. Auch
in Istanbul tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hufeisenbögen
und Alhambra-Motive auf. Auch dort waren sie Teil eines Identitätsfindungs-
prozesses, der erst gegen die Jahrhundertwende eine Schärfung in Form einer
strenghistoristischen neo-osmanischen Stilvariante erfuhr. Das mittelalterliche
Spanien war gleichzeitig zu einer Art gesamtislamischen Erinnerungsort ge-
worden, das Recycling seines Kulturerbes folglich ein konsequentes Weiterden-
21 Ein Teil der Säulenhalle wurde demoliert, um Platz für ein Kirchenschiff zu schaffen. Vgl.
dazu auch Giese, Francine: Bauen und Erhalten in al-Andalus. Bau- und Restaurierungs-
praxis in der Moschee-Kathedrale von Córdoba. Bern et al.: P. Lang 2016, p. 188–195 und
Literaturverweise.
22 Siehe das Eingangszitat. Von einer „Erhaltung und Wiederbelebung des arabischen Sti-
les“ wird auch im Bosnien-Band von Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und
Bild (p. 434) geschrieben.
23 Bosnien, ungleich Spanien oder Ägypten, war niemals Zentrum eines islamischen Staats
und beherbergte folglich niemals einen einer monumentalen Residenz würdigen Souve-
rän.
Dass sich die Wahrnehmung des Stils durch Vertreter des ‘Zentrums’ recht gut
rekonstruieren lässt, habe ich bereits an anderer Stelle belegt.24 Zu wenig deut-
lich gestellt wird hingegen traditionell die Frage seiner Wahrnehmung durch
Vertreter der ‘Peripherie’. In der Literatur wird etwa keine einzige Äußerung
eines zeitgenössischen Einheimischen zitiert, die darüber Aufschluss geben
würde, wie der orientalisierende Stil von bosnischen Muslimen rezipiert wur-
de – obwohl er ja traditionell (und wohl auch zu Recht) als eine Geste in deren
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24 Vgl. Hartmuth, Maximilian: Insufficiently Oriental? An early episode in the study and
preservation of the Ottoman architectural heritage in the Balkans. In: Ders. / Dilsiz, Ayşe
(Hg.): Monuments, Patrons, Contexts. Papers on Ottoman Europe presented to Machiel
Kiel. Leiden: Netherlands Institute for the Near East 2010, pp. 171–84; Ders.: K.(u.)k. colo-
nial? Contextualizing architecture and urbanism in Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In:
Ruthner, Clemens et al. (Hg.:) WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovi-
na, and the Western Balkans, 1878–1918. New York: P. Lang, 2015 (= Austrian Culture
Series), pp. 155–184; Ders.: Between Vienna and Istanbul. Imperial legacies, visual identi-
ties, and "popular" and "high" layers of architectural discourse in/on Sarajevo, c.1900 and
2000. In: Ders. / Sindbaek, Tea (Hg.): Images of imperial legacy. Modern discourses on the
social and cultural impact of Ottoman and Habsburg rule in Southeast Europe. Münster:
LIT 2011, pp. 79–104.
25 Siehe wiederum als Beispiel das Eingangszitat.
26 Man denke etwa an die frühe „Villa Hörmann“ (um 1890) des einstigen Landesmuse-
ums-Direktors oder die Villa des Uhrmachers Karl Langer (1893, heute Botschaft der
Türkei).
licherweise buchstäblich als Ausdruck der Akzeptanz einer von der Landes-
regierung propagierten gesamtbosnischen Identität (bošnjaštvo) zu verstehen,
die die Vereinnahmung der katholischen und orthodoxen Bevölkerung durch
kroatische und serbische Nationalismen abwenden sollte? Die dazugehörige Ge-
schichtstheorie wollte die bosnischen Beg-Familien als Nachfahren zum Islam
konvertierter Feudalherren der vorosmanischen Epoche verstehen – also quasi
als angestammte Adelige eines Bosnien, das sich durch diese Kontinuität seine
Eigenständigkeit von benachbarten Nationen bewahren konnte, und folglich
nicht auf legitime Weise durch diese vereinnahmt.32
Die Wiener Bauindustrie Zeitung klärt die Umstände der Verwendung dieses
Motivs jedenfalls nicht auf. Sie betont nur, dass es sich hierbei um ein „allen
Anforderungen westländischen Komforts entsprechende[s] Einfamilienhaus“
handelt, das „in den Schmuckformen der heimischen [!] Bauweise gehalten“
ist.33 Die Unterschiede zu ebendieser sind natürlich enorm, auch abseits der
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32 Zur offiziösen Geschichtsthese vgl. Thallóczy, Ludwig von: Geschichte In: Kronprinzen-
werk 1901, pp. 179–276.
33 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XVI (1909), nr. 1, pp. 339–342.
34 Aufschlussreich hierzu die Erläuterungen zum Familienwohnhaus des Hamid-aga
Husedjinović in Banjaluka von Josip Vancaš. In: Bautechniker, XXXV (1915), nr. 25,
p. 193f.
nen sich auf beiden Geschossen alle Zimmer auf einen zentralen Verteilerraum,
der auch auf den Planzeichnungen eindeutig als „Divanhana“ gekennzeichnet
ist. Dabei handelt es sich um einen im Türkischen eher als sofa bekannten gro-
ßen und in der Regel repräsentativen Binnenraum, wie er für spätosmanische
Notablenquartiere typisch ist.35 Dessen traditionelle Erweiterung in Richtung
eines durchfensterten Rezesses (türk. şahnişin) findet sich auch hier, ist nach
außen allerdings nicht als Erker, sondern als Loggia artikuliert. Die europä-
isch-orientalisierende Ästhetik der Fassaden täuscht also über ein konservatives
Raumprogramm hinweg.
Mitglieder der Familie gaben bei Huber auch ein Haus in Travnik in Auftrag,
das ebenfalls in der Wiener Bauindustrie Zeitung publiziert wurde.36 Sie besaßen
ein weiteres Haus im „maurischen“ Stil im Sarajevoer Kur- und Vorort Ilidža.37
Mehmed-beg Fadilpašić, ließ sich in Sarajevo um 1910 schließlich ein Haus im
aufkommenden bosnischen „Heimatschutzstil“ (landessprachl.: bosanski slog)
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planen. Das mag anzeigen, dass Identitätsangebote von außen im Kreis dieser
Familie weiterhin bereitwillig aufgenommen wurden.38
Schluss
Die eingangs angeführten Beispiele belegen, dass es im öffentlichen Baupro-
gramm keine konsequente Verwendung einer orientalisierenden Formenspra-
che gab. Vielmehr beschränkt sich die stetige Anwendung des Stils auf Bauten
für die muslimische Gemeinschaft einerseits, und andererseits auf die konkrete
Bauaufgabe ‘Rathaus’. Demgegenüber wurde er für ein breites Spektrum an
Funktionstypen angewandt, aber eben nicht konsequent. Man möchte sagen,
er stand in Bosnien neben mehreren Stilen einfach zu Verfügung. Welche Be-
deutung seine Verwendung hatte, wird in – bislang noch sehr spärlichen – Fall-
studien zu einzelnen Werken geklärt werden müssen. Pauschalurteile haben
sich in diesem Zusammenhang wiederholt als bedingt zielführend erwiesen.
Die anscheinend ausschließliche Verwendung des Stils durch den Staat und
aus der Restmonarchie Gebürtige sowie durch die Stiftungsverwaltung und bos-
nische Muslime, nicht aber durch die Katholiken und Orthodoxen des Landes
für private Projekte, suggeriert allerdings, dass der Stil sehr wohl bestimmte
Konnotationen gehabt haben dürfte; nämlich als Stil der Obrigkeit und ihres
35 Für ein im Balkanraum gut dokumentiertes Beispiel des 19. Jhs. siehe Kojić, Branislav:
Konaci i ćiflik Avzi paše u Bardovcu kod Skoplja. In: Zbornik zǎstite spomenika kulture
4–5 (1954), pp. 223–240.
36 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XVI (1909), nr. 1, pp. 339–342.
37 Erwähnt, aber leider nicht abgebildet oder im Detail besprochen in Krzović 1987, p. 27.
38 Ibid., pp. 228, 245.
Netzwerks. Er kam zwar gleichzeitig mit anderen zur Anwendung, aber eben
nicht außerhalb dieses Bedeutungszusammenhangs.
Die Fallstudie zum Wohnhaus der Fadilpašići am Miljacka-Ufer zeigt uns
schließlich, wie trügerisch eine nur oberflächliche Analyse wichtiger Bauten
sein könnte.39 In einem nach europäischem Geschmack durchorganisierten
Bauwerk verbirgt sich hinter einer Fassade im Stil des europäischen Orienta-
lismus eine Raumstruktur, die darlegt, wie anpassungsfähig und konsensfreu-
dig diese hybride Architektur sein konnte. Sie übersetzte Überliefertes in neue
Bautechniken und Modernitäten. Die maurisch-mamlukische Formensprache
als historisches Missverständnis der bodenständigen Tradition zu bezeichnen,40
verkennt einerseits die Internationalität dieses Stils, ungeachtet seiner dezent-
ralen Bedeutungserlangungen, andererseits die gleichzeitige Popularität dessel-
ben Repertoires in der Hauptstadt jenes Reichs, das für die bosnischen Muslime
weiterhin ein zentraler kultureller Bezugspunkt blieb.41
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Abbildungsteil:
Besetzungen (2)
1 Wieman, Bernard: Bosnisches Tagebuch. Kempten, München: Kösel 1908, p. 91.- Narenta
ist der italienische Name für die Neretva, den wichtigsten Fluss der Herzegowina.
2 Vgl. dazu Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Cen-
tury Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson James et al. (Hg.): Deploying Orientalism
in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Cam-
den House 2013, pp. 148–165.
3 Wieman 1908, p. 214.
In einer anderen, der Okkupation noch zeitnahen Quelle ist indes die Rede
davon, wie dieselbe Stadt wohl seit der Römerzeit bekannt, aber arg von einsti-
ger Größe herabgekommen sei:
Noch vor einigen Jahrzehnten erfreute sich Konjitza eines bedeutenden Handels, heu-
te führt es nur mehr seine Pferdedecken und sein treffliches Obst in jenen flachen
Booten bis Mostar hinunter. Auch seine Einwohnerschaft ist auf ungefähr 1500 See-
len zusammengeschmolzen, meist Türken und kaum 50 Katholiken und auch an den
Gebäuden sieht man bereits den Verfall, besonders am linken Ufer, im eigentlichen
türkischen Stadttheil.4
Dieses Zitat entstammt einem umfänglichen Reisebericht, den János von Asbóth
( 1845–1911), Sektionsrat im österreichisch-ungarischen Außenministerium und
Abgeordneter zum Budapester Parlament, 1888 veröffentlicht hat. Dabei han-
delt es sich um eine in mehrere Sprachen übersetzte Auftragsarbeit für seinen
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4 Asbóth, Johann [János] von: Bosnien und die Herzegowina. Reisebilder und Skizzen.
Wien: A. Hölder 1888, p. 238.
5 Vgl. dazu den Beitrag von Robert Donia zum vorliegenden Sammelband (S. 147).
6 Vgl. Ruthner, Clemens: Besetzungen. A Post/Colonial Reading of Austro-Hungari-
an and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In: Ders. et
al. (Hg.): WechselWirkungen. Austro-Hungary, Bosnia-Herzegovina and the Wes-
tern Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series
24), pp. 221–242; Ders.: UmgangsFormen. Konstruktionen der bosnischen Fremde(n)
in österr. Kolonialtexten um 1900. In: Preljević, Vahidin et al. (Hg.): Nähe und Dis-
tanz in der Wiener Jahrhundertwende. Würzburg: Königshausen & Neumann i.V.
Vgl. auch Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethno-
grafischen Populärliteratur der Habsburger Monarchie. In: Csáky, Moritz et al. (Hg.):
Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck:
Studienverlag 2003, pp. 259–288; Smolej, Tone: The Image of Bosnia and Herzegovina
(1875—1882) in Slovene Literature. In: Blažević, Zrinka / Brković, Ivana / Dukić, Davor
(Hg.): History as a Foreign Country / Geschichte als ein fremdes Land. Historical Imagery
in the South-Eastern Europe/Historische Bilder in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2015,
pp. 147–162; Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur
imperialen österreichischen Literatur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (der vorl.
Beitrag ist leicht verändert Kap. C.2. dieser Monografie entnommen); Teller, Katalin: „Der
heißblütige Dalmatiner“. Reiseschriftsteller/innen in Dalmatien und Bosnien-Hercegovi-
na vom Ende des 19. bis zum frühen 20. Jh. In: Dies. / Millner, Alexandra (Hg.): Trans-
differenz und Transkulturalität. Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen
Österreich-Ungarns. Bielefeld: transcript 2018, pp. 361–378; Šístek, František: Under the
Slavic Crescent. Representations of Bosnian Muslims in Czech literature, travelogues and
1908 erschien, dem Jahr der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die Habs-
burger-Monarchie:
Konjica ist ein malerisches türkisches Nest: Moscheen, Minaretts, Basare, Mangel an
Reinlichkeit. Ueber eine aus mächtigen Quadern gefügte alte Türkenbrücke fuhren
wir in die Stadt ein.
,Ui jegerl, a Auto aus Wien!‘ klang es da. Ein Deutschmeister war es aus der dort la-
gernden Garnison, der offenbar aus der Nummer unseren Heimatsort erkannt hatte.10
Wohl wird Konjic hier ebenfalls als pittoresk konstruiert; die „fremde schö-
ne Stadt“ des Deutschen Wieman wird aber aus österreichischer Perspektive
zum „Nest“. Daneben kommt noch ein wichtiger propagandistischer Topos von
memoirs, 1878–1918. In: Ders. (Hg): Central Europe and Balkan Muslims. Relations and
Representations. New York: Berghahn i.V. [2018/19]; weiters Šísteks folgenden Beitrag im
vorl. Sammelband. Vgl. außerdem Justnik, Herbert / Floch, Veronika (Hg.): Gestellt. Foto-
grafie als Werkzeug in der Habsburgermonarchie [Ausstellungskatalog]. Wien: Österr.
Museum für Volkskunde 2014.
7 Die untersuchten Texte verwenden meist die alte Schreibweise mit einem –a am Ende.
8 Preindlsberger-Mrazović, Milena: Bosnisches Skizzenbuch. Landschafts- und Kultur-Bil-
der aus Bosnien und der Hercegovina. Illustr. von Ludwig Hans Fischer. Dresden, Leipzig:
E. Pierson 1900, p. 258.
9 Interessanter wäre in der Tat eine diachrone Analyse von imagines der Hauptstadt Sara-
jevo gewesen, das sich in den österreichischen und reichsdeutschen Texten vom Kriegs-
schauplatz 1878 zum Musterbeispiel einer mehr oder weniger gelungenen Synthese aus
Orient und Okzident um 1900 entwickelt. Da dies aus Platzgründen hier kaum zu leisten
wäre, wurde auf die Stadt und Region Konjic zurückgegriffen, zumal dort eine ähnliche
diskursive Entwicklung festzustellen ist.
10 Filius [pseud.]: Eine Automobilreise durch Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien.
Reiseschilderung für Automobilisten mit 63 Abbildungen. Wien: Beck [1908], p. 56.
Einmal mehr wird hier klar, dass es den ‘Orient’ in zeitgenössischen westlichen
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Diskursen nicht nur immer als Plural stark divergierender Vorstellungen gibt,12
sondern auch als ambivalentes Kippbild im Auge des Betrachtenden, das wie bei
jedem othering in der abenteuerlichen Zirkelbewegung zwischen blutdürstigem
,Barbaren‘ und ,edlem Wilden‘, zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen
Angst und Begehren gefangen scheint.13
Die Anverwandlung und Eingemeindung des Fremden ins Heimische wird
indes auch im folgenden Textzitat aus dem Jahr 1896 thematisiert, wofür ebenso
das Motiv der Gastronomie strategisch eingesetzt wird:
Es haben sich in diesem einst durch den Fanatismus seiner Bevölkerung berüchtigten
Orte eine Menge Fremde niedergelassen und mehrere Gasthäuser (,Elephant‘, ,König
von Ungarn‘, ,Kaiser von Oesterreich‘ und besonders die Bahnhofsrestauration) bieten
eine ganz gute Verpflegung. Als ich im Jahre 1885 einmal in Konjica übernachte-
te, genoss das Gasthaus ,zum Kaiser von Oesterreich‘ durch seine dicke Wirtin, die
14 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen
von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. 230.
15 Vgl. exemplarisch etwa McClintock, Anne: Imperial Leather. London, New York: Rout-
ledge 1995; Stoler, Ann Laura: Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the In-
timate in Colonial Rule. Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Press 2002,
2
2010.
16 [Anonym]: Oesterreich-Ungarn. Leipzig: Baedeker 281910, p. 407.
17 Preindlsberger-Mrazović 1900, p. 257.
betont „das freundliche Aussehen des Ortes“ und seine „Holzindustrie“.18 Die
neue koloniale Infrastruktur wird in ihrer Darstellung zum zivilen Pazifizie-
rungsprojekt, das die Gewalttätigkeit und den Niedergang früherer (türkischer)
Zeiten beseitigt:
Und was der Türkei in jahrhundertelangen, blutigen Kämpfen nicht gelang, die fron-
dierende Hercegovina sich völlig zu unterwerfen, das gelang den modernen Kultur-
mitteln leicht. Es giebt keine Verkehrshindernisse mehr. [ ] Aus den halsstarrigen
Hajducken sind harmlose Eisenbahn-Passagiere geworden, aus den scheu gemiedenen
hercegovinischen Bergen ein modernes Touristengebiet.19
Doch die Region war eben nicht immer so friedlich, domestiziert und multikul-
turell, wie sich auch der Berliner Journalist Heinrich Renner in einem histori-
schen Rückgriff noch einmal hinzuzufügen beeilt:
Die erhoffte Ruhe trat nicht ein, und es währte nicht lange, so war die ganze Her-
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cegovina und mit ihr Konjica in der Gewalt der Türken. An die Stelle der christli-
chen Unduldsamkeit trat der mohammedanische Fanatismus. Aus den Wäldern und
Schluchten kamen die gehetzten Bogumilen zum Vorschein, sie wurden Islamiten und
erlangten die leitenden Stellungen. […] In Konjica war es auch, wo die zur Zeit der
Insurrektion von 1878 aus Sarajevo ausgewiesenen Oesterreicher mit dem General-
konsul Wassitsch in der Nacht aufgehalten und mit der Niedermetzelung bedroht
wurden.20
Neben dem Verweis auf den Aufstand gegen die Okkupation von 1878 kommt
eines der meiststrapazierten regionalen Narrative als spekulatives Erklärungs-
modell ins Spiel: die Bogumilen, eine manichäische christliche Sekte, die in
vortürkischen Zeiten religiös verfolgt wurde und die hier – nach der erfolgten
Zwangskonversion – als historische Folie für den besonderen islamischen Fun-
damentalismus der Einwohner von Konjic verantwortlich gemacht wird (wäh-
rend sie in anderen Texten als Beweisführung der unterschwellig christlichen
Haltung der Bevölkerung und einer dadurch vereinfachten neuerlichen Mission
instrumentalisiert wird).21
18 Ibid.
19 Ibid., p. 261.
20 Renner 1896, p. 231.
21 Zu den Bogumilen vgl. etwa Asbóth 1888, pp. 23–118; Fine, John: The Bosnian Church.
A New Interpretation. Boulder: East European Quarterly / New York: Columbia Univ.
Press 1975; Džaja, Srećko M.: Bogomilen. In: Hösch, Edgar / Nehring, Karl / Sundhaus-
sen, Holm (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. München: Oldenbourg 2004;
Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. Evolution of its Political and Legal Institu-
tions. Sarajevo: Magistrat 2006, p. 76ff.
Wie auch immer, die neue Haut der ‘Zivilisation’, die über die grausame Ge-
schichte wächst, scheint mitunter dünn, d. h. man muss ihr zuarbeiten; dennoch
ist der Besitzerstolz unüberhörbar. Quasi als Kontrollmenge zum Sicherheits-
und Gastronomie-Diskurs der bereits erwähnten Texte sei auch noch Renners
Beschreibung des nahe gelegenen Ortes Jablanica zitiert:
Eine Kaserne beherbergt den bewaffneten Schutz, doch er ist bei der Bevölkerung
nicht mehr nöthig. […] Als ich vor langen Jahren nach Jablanica kam, sah es hier ganz
anders aus; in einem Han fand ich türkisches Unterkommen mit sehr viel Ungeziefer.
1885 traf ich ein grosses Truppenlager. Eine Kärntnerin hielt ein Gasthaus […]. 1894
hatte sich aus den provisorischen Fortschritten der dauernde entwickelt. Jablanica ist
ein Luftkurort ersten Ranges, und in vieler Hinsicht wird man an schweizerische und
Tiroler Sommerfrischen in den Hochalpen erinnert.22
In Texten wie diesem – aber auch den anderen erwähnten – wird also fast
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Die Folgen des Kulturkontakts und -transfers sind wie angedeutet Synkretismen
aller Art (die andere Autor/inn/en24 bei aller Freude über den Zivilisationspro-
zess wiederum den Verlust der autochtonen Exotik beklagen lassen – die klas-
sische Ambivalenz kolonialer Reiseliteratur). Als etwa der Militär Alfred Trendl
22 Ibid, p. 238.
23 [Anonym]: Dalmatien. Ein modernes Reiseziel. Wien: G. Gruber 1908, p. 24.
24 Vgl. etwa Preindlsberger-Mrazović 1900, p. 2 (über Sarajevo): „Fast enttäuscht merkt
dies der Fremde, der sich von dem ersten Schritte in Bosnien bereits die Sensation des
Fremden, Aussergewöhnlichen versprach. In den hohen, eleganten Räumen des mau-
risch-byzantinischen Bahnhofgebäudes, das den neuen bosnischen Baustyl repräsentiert,
der abendländischen Komfort in morgenländischer Art ausdrücken soll, umflutet vom
Auerlichte und dem gewohnten Bahnhoftreiben, wird man kaum durch mehr als verein-
zelt auftauchende orientalische Gewänder an den Osten gemahnt.“
kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Konjic kommt, koexistieren die kulturellen
Medien des Abend- wie des Morgenlandes, der Moderne und Vormoderne schon
augenscheinlich gut neben- und miteinander:
Was soll ich noch erzählen von so manchem lustigen Vorfall in Konjica, wo wir oft
in türk. Kaffeehäuser sassen und Wiener Lieder sangen bis der Muezzin von einem
benachbarten Minarett die Gläubigen zum Gebet rief, dann schwieg der Gesang und
auch das Grammofon wurde abgestellt.25
Den oft formulierten Topos der ‘Zivilisierung durch Eisenbahnbau’ wird übri-
gens auch nach dem Ersten Weltkrieg noch der prinzipiell kritische deutsche
Sozialdemokrat Hermann Wendel auf seiner Reise durch Jugoslawien wieder-
holen. Wiewohl er prinzipiell Bosnien-Herzegowina als ehemalige „Kolonie“
sieht, „ein Stück Orient, künstlich von den Wiener Machthabern gehütet“,26 ist
Konjic doch auch so etwas wie eine Zivilisationsschwelle geworden, welche die
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25 Trendl, Alfred: Meine Erinnerungen vom September 1911 bis November 1916. Wien: Pri-
vatbesitz [maschinschriftl. Abschrift durch den Autor von vier Kriegstagebüchern, un-
veröff.], s.p.- Ich danke Tamara Scheer für die Zugänglichmachung dieser Quelle.
26 Wendel, Hermann: Von Belgrad bis Bucari. Eine unphilosophische Reise durch Westser-
bien, Bosnien, Hercegovina Montenegro und Dalmatien. Frankfurt/M.: Societäts-Druck-
erei 1922, p. 58.
27 Ibid., p. 61.
28 Bernhard, Veronika: Österreicher im Orient. Eine Bestandsaufnahme österreichischer
Reiseliteratur im 19. Jh. Wien: Holzhausen 1996, p. 93.
29 Zu diesen Begriffen s. Jameson, Frederick: Das politische Unbewußte. Literatur als Sym-
bol sozialen Handelns . Übers. von Ursula Bauer et al. Reinbek: Rowohlt 1988 (= rowohlt
enzyklopädie) bzw. Castoriadis, Constantin: L’institution imaginaire de la société. Paris:
Seuil 1975, p. 203.
30 Zit. n. Jamme, Christoph: Gibt es eine Wissenschaft des Fremden? Zur aktuellen Theo-
riedebatte zwischen Philosophie und Ethnologie. In: Därmann, Iris / Jamme, Christoph
(Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, pp.
183–208, hier p. 186.
Nach der Okkupation von 1878 waren von den drei großen ethnoreligiösen Ge-
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1 Vgl. Ljuca, Adin: Turci a Švábové, nebo slovanští bratři? Český pohled na bosenské mus-
limy v letech 1878–1918. In: Moravcová, Mirjam / Svoboda, David / Šístek, František
Das tschechische Lesepublikum war sich der Existenz von Muslimen auf dem
Balkan schon vor 1878 bewusst; deren Darstellung lässt sich grob in mehrere
Gruppen einteilen:
Die tiefste Schicht war wohl mit dem kulturellen Gedächtnis der habsbur-
gisch-osmanischen Konflikte in der Frühneuzeit verbunden. So hatte im süd-
östlichen Mähren, nicht weit von den ungarischen Gebieten, die von den Türken
vor der Belagerung Wiens 1683 kontrolliert waren, die Erinnerung an osma-
nische Einfälle zahlreiche Spuren in der Folklore hinterlassen. Die Figur des
„Türken“ (ununterscheidbar von jener des Muslims) war in lokalen Sagen und
Volksliedern immer noch die Personifikation eines fremden, barbarischen und
mörderischen Eindringlings: Bilder und Narrative, die als klassische Beispiele
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5 Žáček, Václav et al.: Češi a Jihoslované v minulosti. Od nejstarších dob do roku 1918.
Prag: Academia 1975, p. 376.
6 Vgl. Sobotková, Hana: The Image of Balkan Muslims in Czech and French Journals
around 1900. In: Ellis, Steven G. / Klusáková, Luďa (Hg.): Imagining Frontiers, Contesting
Identities. Pisa: Edizioni Plus / Pisa Univ. Press, pp. 339–351, hier p. 342.
7 Vgl. ibid., p. 349.
8 Vgl. dazu Šístek, František: Naša braća na jugu. Češke predstave o Crnoj Gori i Crno-
gorcima, 1830–2006. Cetinje, Podgorica: Matica crnogorska 2009, p. 74f.; Ders.: Junáci,
horalé a lenoši. Obraz Černé Hory a Černohorců v české společnosti 1830–2006. Prag:
Historický ústav 2011[a], p. 77f.
nen wie Haremssklavinnen oder die Entführung einer Christin durch türkische
bashibozuks thematisieren.10 Andere Maler, wie etwa Čermáks Schüler Josef
Huttary (1841–1890), der mit seinem Lehrer einige Zeit am Balkan verbrachte,
stellte die Südslawen noch bis zur Jahrhundertwende auf eine ähnliche orienta-
listische Weise dar. In den letzten Jahren der osmanischen Herrschaft schließlich
malte und zeichnete František Bohumír Zvěřina (1835–1908) attraktive Szenen
aus Bosnien-Herzegowina und anderen Regionen des Westbalkan für die tsche-
chische und deutschsprachige Presse, die realistische Motive von seinen Reisen
mit wilden Fantasien mischen.11
In der Zeit unmittelbar vor der Okkupation von 1878 verfolgte die tschechische
Öffentlichkeit intensiv und enthusiastisch den Aufstand in der Herzegowina
von 1875/76 und die diversen militärischen Konflikte mit dem Osmanischen
Reich von 1876–1878 auf der Balkanhalbinsel, die immer „Türken“ (Muslime)
als Kriegspartei inkludierten. Zahlreiche tschechische Freiwillige schlossen sich
den christlichen Aufständischen an, während Korrespondenten über die Ereig-
nisse in tschechischen Zeitungen berichteten, allen voran die jungen Schriftstel-
ler Bohumil Havlasa (1852–1877)12 und Josef Holeček (1854–1929). Holeček war
der einzige ausländische Journalist, der vom Feldzug der Montenegriner in der
9 Vgl. Neruda, Jan: Obrazy z ciziny. Prag: Československý spisovatel 1950 [1868], p. 281.
10 Siehe dazu Černý, Vratislav / Mokrý, František V. / Náprstek, Váša: Život a dílo Jarosla-
va Čermáka. Prag: Výtvarný odbor Umělecké besedy 1930; Soukupová, Věra: Jaroslav
Čermák. Prag: Odeon 1981; Borozan, Vjera: Černá Hora a Černohorci optikou obrazů
Jaroslava Čermáka. In: Moravcová, Svoboda & Šístek 2006, pp. 162–183.
11 Vgl. Dlábková, Markéta / Chrobák, Ondřej (Hg.): František Bohumír Zvěřina, 1835–1908.
Iglau: Oblastní galerie Vysočiny 2008.
12 Vgl. Havlasa, Bohumil: Divokou Hercegovinou. Prag: Ústřední legio-nakladatelství 1928.
Folge der Kriege und anderer traumatischer Ereignisse in der zweiten Hälfte der
1870er Jahre, welche die tschechische Öffentlichkeit genau verfolgte – negative
Bilder der Balkan-Muslime unmittelbar vor der Okkupation von 1878 vor.
13 Vgl. Šístek, František: Češki pisac i novinar Josef Holeček. Kritički pogled na aus-
tro-ugarsku okupaciju Bosne i Hercegovine. In: Šehić et al. (Hg.): Bosna i Hercegovina u
okviru Austro-Ugarske. Sarajevo: Sarajevski univerzitet 2011[b], pp. 333–348, hier p. 336.
14 Vgl. Šístek 2009, pp. 81–112; Šístek 2011a, pp. 84–110.
15 Holeček, Josef: Bosna a Hercegovina za okupace. Prag: s.p. 1901.
zen. Ebenso bedeutete die Okkupation in den Augen einiger Industrieller eine
Chance auf eine künftige Expansion der tschechischen Wirtschaft in Richtung
Südosteuropa.16
Die Bilder Bosnien-Herzegowinas und seiner muslimischen Bevölkerung in
tschechischer Literatur, in Reiseberichten und Memoiren präsentieren sich zur
Zeit des Eroberungsfeldzugs 1878 aber viel dunkler, blutiger und verstörender
als in späteren Texten aus der „goldenen Ära“ der habsburgischen mission civi-
lisatrice zur Jahrhundertwende. De facto können wir auch eine eigene Gruppe
von Quellen unterscheiden, die nicht die Okkupation selbst, sondern die darauf
folgende gewaltsame Durchsetzung der neuen Ordnung bis in die erste Hälfte
der 1880er Jahre thematisieren. Die Texte dieser Periode wurden meist von di-
rekten Beobachtern verfasst, die als Militärangehörige aktiv an der Okkupation
teilgenommen hatten. Der bewaffnete Widerstand gegen den k. u. k. Einmarsch,
die Unterdrückung der lokalen Bevölkerung durch die Besatzungstruppen sowie
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vertraute Bild vom „grausamen Türken“.18 Abgesehen von der Folter und Er-
mordung ihrer Kriegsgefangenen behauptet Lemminger, die Insurgenten hätten
außerdem noch deren Leichen verstümmelt, um die Invasoren abzuschrecken.19
An einem bestimmten Punkt weigert er sich sogar, auf Einzelheiten einzugehen
– zu brutal seien die Details der psychologischen Kriegsführung; dennoch seien
diese unsäglichen Grausamkeiten von „Menschen verübt worden, die immer
noch ihren Platz im zivilisierten Europa hätten“.20 Hier liegt die Schlussfolge-
rung nahe, obwohl sie nicht ausgesprochen wird: Menschen, die einer europäi-
schen Armee mit so viel Barbarentum Widerstand leisten, verdienen es nicht,
zu Europa zu gehören. In dieser Argumentation hallen radikale antiosmanische
und -islamische Diskurse nach, wonach die Muslime als potenziell uneuropäi-
sche Fremde vom Kontinent zu vertreiben seien. Aus dieser Perspektive erschei-
nen also die De-Osmanisierung und De-Islamisierung als notwendige Schritte
hin zu einer „höheren“, „zivilisierten“, „europäischen“ Ordnung.
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Ein anderer Autor wiederum, Ignát Hořica (1859–1902), zeigt in seinen auto-
biografischen Texten, die 1909 postum in einem Band als „Traurige und lusti-
ge Geschichten aus Bosnien und der Herzegowina“ publiziert wurden,21 mehr
Aufmerksamkeit und Empathie für die örtliche Bevölkerung. Er hatte in der
Frühphase mehrere Jahre im Okkupationsgebiet zugebracht und war der Lan-
dessprache mächtig; 1884 verließ er die Armee und arbeitete als Journalist und
Autor. Als Vertreter der Jungtschechischen Partei (Mladočeši) wurde er 1897 als
Abgeordneter ins österreichische Parlament (den Reichsrat) und 1901 in den
Böhmischen Landtag gewählt.
Hořica versuchte, auf der Basis seiner persönlichen Erlebnisse einen ehrli-
chen Bericht von der „Pazifizierung“ und Einführung der „neuen Ordnung“ zu
geben. In den meisten seiner Erzählungen versucht er die Gefühle, Denkweisen
und Handlungen der Insurgenten ebenso wie der unzufriedenen Bevölkerung
zu verstehen. Das Buch ist freilich aus einer offen zwiespältigen Position heraus
geschrieben: Als Angehöriger der k. u. k. Armee fühlt sich der Erzähler zu Soli-
darität und Freundschaft seinen mitteleuropäischen Kameraden gegenüber ver-
pflichtet. Als überzeugter Slawophiler engagiert sich Hořica aber auch vor Ort,
um freundliche Beziehungen mit der örtlichen Bevölkerung aufzubauen. Seine
Texte sind dann von der schmerzhaften Erkenntnis gezeichnet, dass er bei aller
bemühten slawischen Solidarität von den Autochthonen in erster Linie als frem-
18 Vgl. Muršič, Rajko: On Symbolic Othering. „The Turk“ as a Threatening Other. In: Jezer-
nik 2010, pp. 17–26.
19 Vgl. Lemminger 1884, p. 160f.
20 Ibid., p. 161. [Alle Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen vom Verf. bzw. dem
Übers. dieses Beitrags.]
21 Hořica, Ignát: Smutné i veselé z Bosny a Hercegoviny. Prag: J. Otto 1909.
der Soldat wahrgenommen wurde. Sehr zum Missfallen vieler Tschechen ten-
dierten die Muslime und Orthodoxen Bosnien-Herzegowinas außerdem dazu,
jeden Angehörigen der Streitkräfte und der Administration einfach als Švabo
[„Schwabe“] zu bezeichnen, ein umgangssprachlicher südslawischer Terminus
für einen ‘Deutschen’, der sukzessive pejorative Konnotationen angenommen
hatte. Hořica musste also wiederholt zur Kenntnis nehmen, dass seine hohen
Ideale slawischer ‘Verwandtschaft’ und Solidarität nicht in den Denkweisen
und praktischen Alltagserfahrungen der Bosnier und Herzegowiner – mit ihren
spezifischen religiösen, lokalen und sozialen Antagonismen – einen positiven
Widerhall fanden.
Die Bosnier, einschließlich der Muslime, werden von Hořica aber generell
als Menschen mit einem hohen Ethos dargestellt. In einer Bosňácká morálka
[Bosniakische Moral] betitelten Geschichte, die in der Stadt Zenica im Februar
1879 spielt, erscheinen Bosnier als Menschen, die nicht nur nicht stehlen, son-
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22 Ibid., p. 15.
Enkel. Ohne schnelles Eingreifen ihrer Offiziere hätten sie auch noch in blin-
der Wut eine Gruppe wehrloser Kriegsgefangener massakriert.23 Folgt man
Hořica, so wurden gefangen genommene Muslime misshandelt und gefoltert,
zu langen Märschen gezwungen und es wurde ihnen auch Nahrung und Wasser
verweigert: „Der Krieg ungleicher Feinde ist schrecklicher und grausamer als
ein Krieg zwischen solchen auf gleichem Kulturniveau. Es gab Fanatismus und
Grausamkeit auf der einen Seite und wütende Vergeltung und Grausamkeit auf
der anderen.“24
Die Unmöglichkeit, das kulturell Trennende und die Feindseligkeit zwischen
den Besatzern und der lokalen Bevölkerung zu überwinden, bildet auch das
Herzstück einer tragischen Liebesgeschichte, die in Maglaj während der ersten
Monate der Okkupation spielt. Guřík, ein tschechischer Offizier der k. u. k. Ar-
mee, beauftragt, den Kontakt mit Vertretern der örtlichen Muslime herzustellen,
verliebt sich in eine verheiratete Frau, Fatica, und schleicht in ihr Haus, wann
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immer ihr Mann nicht zugegen ist. Nachdem ihre Verwandten dies heraus-
gefunden haben, machen sie keinerlei Anstalten, Guřík zu bestrafen, der die
mächtige Armee eines siegreichen Reichs von Ungläubigen repräsentiert. Fatica
indes wird dafür verantwortlich gemacht, das Tabu gebrochen zu haben, und
verschwindet. Eine Woche später wird die verstümmelte Leiche einer jungen
Frau von einer Militärpatrouille im Bosna-Fluss treibend gefunden, „ihre Zun-
ge, ihre Brüste und ihre Arme an den Ellbogen abgeschnitten“. Fatica ist somit
offenkundig das Opfer eines Verbrechens geworden, das man heute als ‘Ehren-
mord’ bezeichnen würde. Ihr untröstlicher tschechischer Geliebter stirbt nur
wenige Monate später, nachdem er eine kalte Nacht an ihrem Grab am Fluss-
ufer verbracht hat. Die wahren Schuldigen werden freilich weder ausgeforscht
und bestraft, noch wird wegen mangelnder Kooperation des örtlichen muktar
[Bürgermeister] von Maglaj die Identität des Opfers verifiziert.25
Im tschechischen Kollektivgedächtnis indes haben sich interessanterweise zwei
ziemlich bekannte Spuren der Okkupation und „Befriedung“ Bosnien-Herzego-
winas erhalten: ein Wort und ein Lied. Wie bereits erwähnt, gerieten die k. u. k.
Truppen (genauer gesagt: das 7. Husarenregiment, in dem auch etliche Männer
aus den Ländern der böhmischen Krone dienten) auf ihrem Vormarsch am 3.
August 1878 bei Maglaj in einen blutigen Hinterhalt, bei dem dutzende Militär-
angehörige ihr Leben verloren.26 Mit den Worten der Prager Zeitung Světozor
vom 23. August: „In Maglaj wurde zum ersten Mal das Blut österreichischer
23 Ibid., p. 45.
24 Ibid., p. 47.
25 Ibid., p. 113.
26 Vgl. dazu auch den Beitrag von Clemens Ruthner (Besetzungen 1) im vorl. Sammelband.
Soldaten vergossen. Es war hier, wo klar wurde, dass aus einer friedlichen Be-
setzung, die jedermanns fester Wunsch gewesen war, blutige Eroberung werden
musste.“27 Die Details dieses überraschend heftigen Gefechts mit muslimischen
Aufständischen wurden schnell von Zeitungen, aber auch den betroffenen Teil-
nehmern verbreitet. Dadurch wurde auch der Name der bosnischen Stadt idio-
matisch eingemeindet: Das Substantiv maglajz (abgeleitet von Maglaj) ist heute
immer noch in der tschechischen (und slowakischen) Umgangssprache geläufig.
Es bezeichnet etwas Schlampiges, Unordentliches, Chaotisches, manchmal auch
etwas Anrüchiges oder Ekelhaftes.28 Obwohl der historische Kontext längst ver-
loren gegangen ist, kennt und benützt fast jeder dieses Wort, ohne zu wissen,
dass es aus einer blutigen Begegnung zwischen (teilweise tschechischen) k. u. k.
Soldaten und bosnischen Muslimen im Sommer 1878 hervorgegangen ist.
Das Hercegovina-Lied bezieht sich, wie schon sein Titel nahelegt, auf den
Aufstand in jener Region von 1881, der ebenso von habsburgischen Truppen
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Hercegovina war ursprünglich ein Militärlied. Laut dem Historiker Pavel Mücke
war es unter tschechischen Soldaten im Ersten Weltkrieg berühmt-berüchtigt
und blieb auch nach der Auflösung der Habsburger Monarchie populär. Herce-
govina / Für den Kaiser war aber auch ein Lieblingslied tschechoslowakischer
Piloten in der britischen Royal Air Force während des Zweiten Weltkriegs und
wurde bald auch von britischen Soldaten gesungen, die ihre Freizeit mit ihnen
verbracht hatten.30 In der kommunistischen Tschechoslowakei wiederum konn-
te das Absingen jenes „reaktionären Pro-Habsburg-Liedes“ während des Mili-
tärdienstes strenge Strafen nach sich ziehen. Nichtsdestotrotz hat Hercegovina
das turbulente 20. Jahrhundert überlebt und kann auch heute noch ziemlich oft
in Kneipen und bei diversen Festivitäten gehört werden.
Bis vor kurzem wurde das Lied in erster Linie freilich als witziges und nost-
algisches Relikt der ‘guten alten Zeit’ wahrgenommen. Das pejorative Bild der
„Mohammedaner“ wurde im kollektiven Gedächtnis mehr oder weniger dekon-
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In den 1880er und 1890er Jahren ließ sich neben Soldaten auch eine wachsende
Zahl tschechischer Verwaltungsbeamter, Polizisten, Ingenieure, Lehrer, Ärz-
te, Unternehmer, Musiker, Handwerker und Arbeiter in Bosnien-Herzegowina
nieder. Der Zensus von 1910 zählte 7.095 Tschechen, die hier lebten (d. h. zirka
32 Hladký, Ladislav et al.: Vztahy Čechů s národy a zeměmi jihovýchodní Evropy. Prag:
Historický ústav 2010, p. 79.
33 Ibid., p. 83.
34 Dyk, Emanuel / Hájek, Max / König, František: Dvacet let práce kulturní. Cesta Bosnou a
Hercegovinou. Pilsen: J. Císař 1899, p. 17.
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts stand freilich das nationale Bewusst-
sein jener „Mohammedaner“ noch an seinem Anfang. Allerdings intensivier-
ten die vielfältigen Modernisierungsbemühungen unter habsburgischer Herr-
schaft die Kontakte der Muslime mit den anderen bosnisch-herzegowinischen
Gemeinschaften. Ihre angeblich konservative Grundeinstellung änderte sich;
immer mehr muslimische Kinder besuchten öffentliche Schulen und auch die
muslimischen Frauen unternahmen Versuche, aus ihrer sozialen Isolation aus-
zubrechen. Dyk, Hájek und König schreiben:
Slawischer Geist und slawisches Blut können nicht geleugnet werden. Trotz der Tat-
sache, dass sie über mehrere Jahrhunderte gläubige ‘Türken’ gewesen sind, wachen
sie daraus auf wie aus einem Zauberschlaf und beginnen sich mit ihrem Stamm zu
identifizieren. Das sind erst bescheidene Anfänge. Aber die Versuche der bosnischen
Mohammedaner, ihre nationale Farblosigkeit [národní bezbarvost] loszuwerden, wer-
den jedes Jahr mehr offenbar.35
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Ähnlich wie andere tschechische Autoren nehmen Dyk, Hájek und König eine
Verbindung zwischen religiöser Konversion und dem Wechsel der nationalen
Identität an: „Die Kontakte zwischen Christen und Mohammedanern sind heute
ohne Beschränkung, ja sogar freundlich geworden. Die Zeit, da die Frage sich
stellen wird, ob es nicht besser wäre, wenn die Mohammedaner in den Schoß
der christlichen Kirche zurückkehrten, ist vielleicht nicht allzu weit entfernt.“36
Obwohl sie nicht in der Lage sind, zwingende Beweise zu erbringen, die ihre
Vision einer bevorstehenden (Re-)Christianisierung der bosnisch-herzegowini-
schen Muslime erhärten würden, konzentrieren sich die Autoren auf die Frage,
welcher Kirche und Ethnizität sie in Zukunft wohl angehören sollten. Dyk, Há-
jek and König gehen so weit, zu argumentieren, dass die Muslime eine größere
Affinität zu den katholischen Kroaten als zu den orthodoxen Serben hätten:
Jüngst waren die Orthodoxen die größten Feinde der Türken, ob sie nun an der Drina
oder in den wilden Gebirgstälern Montenegros kämpften, Mann gegen Mann. Natür-
lich gab es auch viel Blutvergießen während der Okkupation, aber das wurde von
Ausländern getan, von den ‘Švabos’, nicht den Kroaten. Das Familiengedächtnis, das
die jüngsten Stammesfeindseligkeiten bewahrt, ist den Orthodoxen gegenüber vor-
eingenommen, nicht aber gegenüber den Kroaten.37
Als dominante Religion des Habsburger Reichs und seiner politischen Eliten
erfreute sich der Katholizismus ebenso eines höheren Prestiges. Deshalb wür-
35 Ibid., p. 15f.
36 Ibid., p. 17.
37 Ibid.
den auch die Muslime „die früher der herrschenden Schicht angehörten, be-
vorzugen, der Konfession beizutreten, welche die Mehrheit in unserem Reich
repräsentiert.“38
Die Tatsache, dass die bosnisch-herzegowinischen Muslime nach der Okku-
pation zur lateinischen Schrift wechselten, wird als zusätzlicher Beweis ihrer
pro-katholischen Haltung zitiert. Dyk, Hájek and König geben aber zu, dass es
noch zu früh sei vorherzusagen, ob die bosnisch-herzegowinischen Muslime
schlussendlich Serben oder Kroaten werden wollten:
Trotzdem, ungeachtet des Ausgangs, können die Slawen hier nur gewinnen. Ob die
Mohammedaner nun Serben oder Kroaten werden, in jedem Falle wird dies die Wie-
derauferstehung eines toten Zweiges des slawischen Baums bedeuten. […] Wir heißen
die Tatsache willkommen, dass sich die Mohammedaner an die Kroaten angenähert
haben, was auch die Tür zu ihrer Konversion zum Katholizismus öffnet, den Glauben,
dem auch wir anhängen.39
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Ideen wie diese, die von den drei tschechischen Abegeordneten formuliert wer-
den, sind in der Frühphase der österreichisch-ungarischen Okkupation kein
Einzelfall: „To most Europeans, the Bosnian Muslims appeared doomed, as a
lagoon cut off from the receding tide of a shrivelling Ottoman sea“, formuliert
dies der britische Historiker Robin Okey.40 Ihm zufolge war nicht einmal der am
längsten von allen dienende Gouverneur Kállay, der immer wieder von seinen
Kritikern beschuldigt wurde, die Muslime zu bevorzugen, immun gegen der-
artige Überlegungen: „Kállay himself had reservations about Islam´s viability
in the modern world“;41 privat schloss er deshalb die Möglichkeit einer Massen-
konversion zum Christentum nicht völlig aus.42
Zehn Jahre später veröffentlichte der Geograf, Naturforscher und spätere tsche-
choslowakische Diplomat Jiří V. Daneš (1880–1928) eine weitere Zusammen-
schau von Bosnien-Herzegowinas aktuellen Problemen. Sein Buch ist über-
wiegend das Werk eines Gelehrten, der sich mit Geografie, demografischem
Wandel, Bevölkerungsdichte, Migration, Wirtschaft und anderen Themen aus-
einandersetzt. Daneš unterstreicht die vielfache und weitreichende Transforma-
tion der besetzten Gebiete unter habsburgischer Herrschaft. Er muss zugeben,
dass die Landesregierung in ihren Versuchen, Reformen durchzuführen und
38 Ibid.
39 Ibid., p. 18.
40 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Misison’ in Bosnia,
1878–1918. Oxford, New York: Oxford Univ. Press 2007, p. 92.
41 Ibid., p. 98.
42 Vgl. ibid.
Anders als Dyk, Hájek und König zehn Jahre zuvor gibt sich Daneš keinen Fan-
tasien und Spekulationen über eine mögliche Massenkonversion der Muslime
hin. Der Geograf interpretiert sogar den alten Topos des muslimischen ‘Fanatis-
mus’ positiv um: „Die Mohammedaner (muhammedáni) sind berühmt für die
Unverdorbenheit und Aufrichtigkeit ihres Charakters. Ihr religiöser Fanatismus
stellt einen Anker gegen die Verderbnis dar, die von der europäischen Kultur (z
kulturní Evropy) ausgeht.“45 Auch ein anderer Dauerbrenner aus dem Repertoire
der orientalistischen Klischees – der Topos der türkischen bzw. muslimischen
‘Dekadenz’ und ‘Degeneration’ – fehlt hier nicht; er ist jedoch exklusiv der
Darstellung der muslimischen Eliten Bosnien-Herzegowinas vorbehalten, ins-
besondere der alten Aristokratie, „die es häufig liebt, sich der vom Koran ver-
46 Ibid.
47 Ibid.
48 Vgl. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Bosnien und Hercegovi-
na. Wien: Verlag der k. k.- Hof- und Staatsduckerei 1901, p. 4.
49 Vgl. etwa Zavadil, Antonín: Obrázky z Bosny. Trappisti, Turci, Židé, Cikáni. Prag: J. Pelcl
1911.
Gemäß der Inschrift auf seinem Grabstein war Ludvík Kuba (1865–1956) ein
„tschechischer Maler und slawischer Musikologe“. Auf der Gedenkplakette an
seinem Geburtshaus in der mittelböhmischen Stadt Poděbrady wird der „Na-
tionalkünstler Dr. phil. h. c. Ludvík Kuba“ charakterisiert als „Maler, Musiker,
Schriftsteller und Forscher auf dem Gebiet der slawischen Ethnografie“. Auf
jeden Fall war dieser veritable Renaissancemensch mit einem langen und pro-
duktiven Leben gesegnet und zweifelsohne einer der interessantesten Persön-
lichkeiten, die mit ihrem wissenschaftlichen und künstlerischen Werk zur Ent-
wicklung tschechischer Vorstellungen in Bezug auf die Südslawen, den Balkan
und die gesamte „slawische Welt“ beitrug.
In Erweiterung seines ursprünglichen Interessenschwerpunkts auf dem Ge-
biet der Musik(wissenschaft) studierte Kuba Malerei in Prag, Paris und Mün-
chen. Zwischen den 1880er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg unternahm er
eine Reihe von Studienreisen auf dem Balkan, sowie in Mittel- und Osteuropa.
Bosnien-Herzegowina besucht er erstmals in den frühen 1890er Jahren mit der
primären Absicht, dort Volkslieder zu sammeln. Neben dieser Kompilations-
arbeit, für die er von einem tschechischen Übersetzer begleitet wurde, verfasste
Kuba auch das Musik-Kapitel für den 1901 erschienenen Bosnien-Band des er-
wähnten „Kronprinzenwerks“.50
Kuba bezeichnet die Muslime Bosnien-Herzegowinas zumeist als „Türken“.
Dabei war er sich wohl bewusst, dass dies kein korrekter ethnischer Termi-
50 Kuba, Ludwig [sic]: Gesang und Musik. In: Die österr.-ungar. Monarchie in Wort und Bild
1901, pp. 376–390.
nus war, sondern dass dessen Benutzung allein durch seine Geläufigkeit bei
den autochthonen Bevölkerungsgruppen – und nicht zuletzt bei den Muslimen
selbst – legitimiert war.51
Anders als die meisten tschechischen Autoren betont Kuba aber auch die
sog. Bogumilen-These bei seiner Darstellung der bosnisch-herzegowinischen
Muslime: Die stark bogumilisch beeinflusste Bosnische Kirche, die von den Ka-
tholiken jener Zeit als Häretiker angesehen wurde, war im spätmittelalterlichen
Königreich Bosnien sehr präsent. Laut Kuba hätten die Bogumilen und ihre
Nachfahren, die nach der osmanischen Eroberung meist zum Islam übertra-
ten, einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung einer spezifischen Identität
(vyhraněná osobitost) bei Land und Leuten gehabt: „Ein Drittel der Einwohner
– die reichsten und gebildetsten – konvertierten 1463 zum Islam, was nur ihre
Religion, nicht aber ihre Nationalität betraf.“52
Damit sah Kuba die muslimische Kultur und Religion in erster Linie nicht als
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ausländisches Implantat an; für ihn war vielmehr die Existenz einer spezifisch
bosnisch-muslimischen Gesellschaft und Kultur das natürliche Produkt einer
langen Entwicklung, die bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden konnte. Als
Resultat ihrer Konversion habe es die bosnisch-herzegowinische Aristokratie
geschafft, einen hohen Grad an Unabhängigkeit zu bewahren. Trotz ihrer viel-
fach bemerkten Loyalität zum Sultan und Islam hätten die örtlichen Muslime
gleichzeitig einen starken Regionalpatriotismus innerhalb des Osmanischen
Reichs kultiviert.
Kuba offeriert dieses deutlich positive Bild der Muslime insbesondere in sei-
nen Texten, die sich dem Ursprung und der Geschichte der Stadt Sarajevo wid-
men. Der Islam sei mit Gleichheit und Toleranz assoziiert worden; er habe zi-
vilisatorischen Fortschritt bedeutet, symbolisiert durch neue Brücken, Straßen,
Wasserleitungen und öffentliche Bäder, Besistans und Hans. Dementsprechend
beschreibt Kuba das osmanische Sarajevo nicht als finsteren und barbarischen
Ort, sondern als eine Stadt mit einem hoch entwickelten Sinn für Schönheit und
Ästhetik, für ethische und philantropische Werte.
Um während seiner Forschungsreisen weniger Aufmerksamkeit zu erregen,
war Kuba gewohnt, die örtliche slawische Kopfbedeckung auch selbst zu tragen;
für Bosnien-Herzegowina wählte er den Fez:
Ich entschied mich für den Fez, der in Bosnien die Köpfe von Katholiken, Orthodoxen
und Muslimen gleichermaßen bedeckt. Es gab mir das Aussehen eines ‘Türken’ und
manchmal, da ich Brillen trug, wurde ich für einen türkischen Arzt gehalten. […]
51 Kuba, Ludvík: Čtení o Bosně a Hercegovině. Cesty a studie z roků 1893–1896. Prag:
Družstevní práce 1937, p. 103.
52 Ibid., p. 60.
Unter den örtlichen Bedingungen sah ich meine Entscheidung für den Fez als golde-
nen Mittelweg an, zumal nur die Orthodoxen und Katholiken einander hassten, aber
beiderseits gute Beziehungen zu den Türken unterhielten.53
Trotzdem brachte dieses going native auch Probleme und unliebsame Erfah-
rungen mit sich, „zuallererst seitens des westeuropäischen Elements“ (u našeho
západoevropského živlu);54 wie Kuba nämlich bald feststellen musste, ermög-
lichte ihm das Tragen örtlicher Kopfbedeckungen eine Erfahrung aus erster
Hand, was es bedeutete, ein ‘Eingeborener’ in einem besetzten Land zu sein.
So behandelten ihn vor allem Mitglieder der Intelligenzija aus anderen Teilen
der Habsburger Monarchie – jener Gesellschaftsschicht also, der Kuba selbst
angehörte – mit spezieller Ruppigkeit. Von den Türstehern und Dienern in den
neuen Hotels ‘europäischen’ Stils bis hin zu den Beamten der Administration:
so ziemlich jeder Neuankömmling in nur jeder denkbaren sozialen Position in
Bosnien-Herzegowina sah offenkundig in ihm einen Bürger zweiter Klasse, oder
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Auf seinen Reisen durch Bosnien-Herzegowina mit einem Fez auf dem Kopf
bemerkte Kuba nun, wie die meisten Neuankömmlinge, die sich in den be-
setzten Gebieten niederließen, automatisch fest und firm an die Überlegenheit
ihrer eigenen Kultur und Lebensart glaubten. Im Gegensatz dazu war Kuba ein
überzeugter Kulturrelativist, der die Idee einer Hierarchie der Kulturen und
Zivilisationen zurückwies: Sitten, Gebräuche und Haltungen, die zunächst selt-
sam, ja lächerlich wirkten, seien üblicherweise funktional und bedeutungsvoll
innerhalb der Kultur, aus der sie entsprängen, meint Kuba, der das Beispiel
muslimischer Ladenbesitzer aus Travnik verwendet, um dies zu illustrieren: Auf
den ersten Blick würden die unbeweglichen und stillen Geschäftsleute nämlich
lethargisch und faul erscheinen; auch die Reiseliteratur jener Zeit wiederholte
in der Tat immer wieder das Klischee vom „mohammedanischen Ladenbesitzer,
der wie ein Buddha inmitten seiner Waren“ säße. Ihre Immobilität und Reser-
viertheit sei aber, wie Kuba behauptet, kein Produkt „orientalischer Faulheit“. Es
53 Ibid., p. 102.
54 Ibid.
55 Ibid., p. 103.
sei die türkische Kultur mit ihrer Wertschätzung für Ruhe und Zurückhaltung,
die den Gebrauch unnötiger Worte und Gebärden verbieten würde. Anstelle von
Faulheit und Degeneration entdeckt Kuba in dieser Stille und Gemütsruhe also
eine beeindruckende Würde.56
Mitte der 1890er Jahre entschied sich Kuba schließlich, für eine längere Zeit
ganz nach Mostar zu ziehen. Zuvor hatte er seine meisten Energien auf syste-
matische Reisen durch die ‘slawische Welt’ verwendet, um dort Volkslieder zu
sammeln sowie Skizzen und Aufzeichnungen anzufertigen. In Mostar lebte er
von 1895–96 mit seiner Frau, diesmal mit dem Ziel, seine Fertigkeiten und Repu-
tation als Maler weiter zu entwickeln; sein Vermieter und die meisten Nachbarn
waren Muslime. War schon Bosnien-Herzegowina generell „das malerischste
Land auf dem Balkan“, so war Mostar und seine Umgebung jetzt für ihn die
malerischste Gegend innerhalb dessen. Wie er sich später erinnerte, empfand er
die herzegowinische Landschaft und ihre Bewohner so, also ob sie geradewegs
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aus einem von Čermáks montenegrinischen Ölgemälden aus den 1860er und
70er Jahren entstiegen seien.57 In Mostar sah alles und jeder „monumental“ aus,
egal ob es sich um um Serben, „Türken“ oder Kroaten handelte.58
Trotz der Tatsache, dass Kuba Würde bei allen Einwohnern dieser Ecke der
Herzegowina vorgefunden haben wollte, verband er doch die noblen Werte
und Qualitäten, die er besonders bewunderte, mit den Muslimen. Der hohe
Grad an Würde und Moral, die er an ihnen wahrnahm, war, wie er glaubte, ein
direktes Resultat der einfachen, aber weisen Lehren des Islam. So schrieb Kuba
mit Zuvorkommenheit und Empathie über die Mitglieder der Oberschichten als
„die würdevollen Effendis: Begs, Agas, Hodschas und Hadschis“, aber auch über
die Mittelschicht und die armen Muslime, wie den selbstbewussten und stillen
Bettler von Mostar, „der an einer Straßenecke stand und einer römischen Sta-
tue ähnelte“.59 Im Kapitel Vznešený pohřeb [Ein sublimes Begräbnis] aus seiner
Sammlung von Reiseberichten und anderen Schriften zu Bosnien-Herzegowina
erinnert sich der Maler an die Beerdigung des Mufti von Sarajevo, der während
seines Besuchs in Mostar verstorben war; Beschreibungen der muslimischen
Haltung dem Tod und Schicksal gegenüber ebenso wie die Totenbräuche schie-
nen für ihn die für den Islam charakteristischen Hauptgedanken und Tugenden
ergreifend zu demonstrieren. Kuba fand muslimische Begräbnisse und Friedhöfe
schön, tröstlich und würdevoll, indem sie die Gemeinschaft festigten und den
Trauernden den Weg zurück in den Alltag ebneten.60
Kuba stand mit seiner Bewunderung nicht allein da, denn die Mehrheit der
tschechischen Autoren, die zu jener Zeit über Bosnien-Herzegowina schrieben,
drückte ihre slawophilen Sympathien aus; dies wurde üblicherweise begleitet
von kritischen Bemerkungen über die habsburgische Politik in den besetzten
Gebieten. Dennoch konnten nur wenige Tschechen seiner Generation mit Kubas
Wissen aus erster Hand über die slawischen Völker und deren Länder mithal-
ten. Trotz dieser Qualifikationen und seiner Kritik an den negativen Aspekten
der Okkupation sind seine Darstellungen Bosnien-Herzegowinas mitunter eine
Echokammer des habsburgischen mainstream-Diskurses über die historische
Identität des Territoriums, wie ihn z. B. das repräsentative Kronzprinzenwerk
verkörperte, an dem er ja auch mitgearbeitet hatte. Die Bilder der Muslime, wie
man sie in seinen Texten und bildlichen Darstellungen finden kann, gehören
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ginalmanuskript, das noch immer im Familienbesitz ist, seit damals nicht mehr
für Forscher einsehbar.62
Anders als die meisten tschechischen Autoren, die über Bosnien-Herzego-
wina schrieben, war Valoušek kein slawophiler Intellektueller. Seine Narra-
tion hält sich an die Fakten und ist frei von nationalistischer ebenso wie von
poetischer Exaltation, aber reich an Details und voll von Beobachtungen, Ge-
schichten und Anekdoten. Jahrelang verbrachte Valoušek einen Großteil seiner
Dienstzeit bei jedem Wetter im Freien und unterhielt für seine Berufsausübung
gute Alltagskontakte sowohl mit den Serben als auch den örtlichen Muslimen.
Obwohl er letztere auch „Türken“ nennt, wie es damals üblich war, unterschei-
det er sie doch von den „echten“, „asiatischen“ Türken, deren Sprache er vom
Imam Nurudin Hajdarbašić in Čelebići lernte, um mit den osmanischen Militärs
auf der anderen Seite der Grenze kommunizieren zu können. Während er aber
die bosnischen Muslime meist mit Sympathie darstellt – und wiederholt wie
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die meisten tschechischen Autoren der Zeit ihre „slawische Identität“ heraus-
streicht –, porträtiert er die „asiatischen“, Türkisch sprechenden Soldaten, die
ihren Dienst an der Peripherie des Osmanischen Reichs verrichteten, als grau-
sam, wild und habgierig. Dies beeinflusst freilich nicht seine prinzipiell positive
Einstellung dem Islam gegenüber, etwa wenn er den Propheten Mohammed
einen „für seine Zeit sehr weisen, vernünftigen, praktisch denkenden und klu-
gen Mann“ nennt.63 Trotz seines Lobs für die Lehren des Koran blieb Valoušek
aber zutiefst kritisch, wenn es um die Ungleichheit muslimischer Frauen im
bosnisch-herzegowinischen Alltag geht:
Es hat mich immer gestört, dass, wann immer ich im Dienst einen Türken traf und
er auf einem Pferd ritt, seine Ehefrau, auch wenn er ganz jung war, zu Fuß hinterher
hoppelte. Die Türken nehmen keine Rücksicht auf ihre Frauen, sie behandeln sie wie
Sklaven und missbrauchen sie. Auch die Orthodoxen sind nicht sehr galant zu ihren
Frauen, die alles, auch die schwerste Arbeit, mit ihnen gemeinsam machen müssen.
Trotzdem, wenn ein Orthodoxer irgendwo hinmusste und nur ein Pferd hatte, war es
immer die Frau, die ritt, und der Mann ging hintendrein.64
Wenn er hier ähnlich Erfahrungen wiedergibt, wie man sie auch in den Briefen,
Artikeln und Memoiren jener tschechischen Ärztinnen finden kann, die in Bos-
nien-Herzegowina vornehmlich Muslimas behandelten,65 so schließt Valoušek,
62 Vgl. Ljuca, Adin: František Valoušek – sudionik i svjedok zbivanja u istočnoj Bosni u
vrijeme aneksione krize. In: Šehić et al. 2011, pp. 349–355, hier p. 350f.
63 Valoušek 1998, p. 13.
64 Ibid., p. 85.
65 Vgl. Nečas, Ctibor: Mezi muslimkami: Působení úředních lékařek v Bosně a Hercegovině
v letech 1892 – 1918. Brünn: Masarykova univerzita 1992.
dass diese die meisten ihrer Erwachsenenjahre in den Häusern ihrer Familie
eingekerkert, d. h. in finsteren Räumen ohne viel Sonnenlicht leben mussten,
geknechtet erst von ihren Eltern und dann von ihren Ehemännern: „Bevor sie
zwanzig werden, schauen sie gut aus, ja sind sogar schön, aber dann altern sie
sehr schnell. Im Alter von 30 bis 40 sehen sie bereits wie alte Damen aus. Sie
sterben relativ früh. Viele Eltern verheiraten sie schon, wenn sie zwölf sind.“66
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die vergleichsweise konservativere
Haltung muslimischer Männer gegenüber den Frauen ihrer Familie, die sie dem
Blick fremder Besucher entziehen und zu Hause einsperren, zu einem Standard-
motiv in Reiseberichten – was die Muslime von den anderen ethno-religiösen
Gemeinschaften Bosnien-Herzegowinas unterschied, mit denen sie sonst viel
von ihrem Lebensstil, ihren Bräuchen und Werten teilten. So riet etwa Ferdi-
nand Velc (1864–1920), der Autor des ersten tschechischen Reiseführers für Bos-
nien-Herzegowina, den Touristen, „die alten lokalen Bräuche zu respektieren
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und sich des Spotts zu enthalten".67 Beim Betreten eines „türkischen“ Hauses
solle man erst an die Tür klopfen, warten, bis das männliche Familienoberhaupt
öffne, ihm den Grund des Besuchs erklären und den Frauen genug Zeit geben,
sich zu verstecken.68 Bei František Valoušek hingegen werden die bosnisch-her-
zegowinischen Muslimas nicht nur als passive Opfer religiöser Unterdrückung
und patriarchalischer Mentalität dargestellt, sondern auch als intelligente Men-
schen, die sich sehr wohl ihrer Situation bewusst sind, sich nach Veränderung
sehnen und manchmal sogar aktiv für mehr Gleichheit kämpfen. Dies wird an
Valoušeks Erinnerung am Fall einer Frau ersichtlich, die ihren tyrannischen
Ehemann und dessen neue Lieblingsfrau im Schlaf tötet und dann etliche Meilen
im Tiefschnee wandert, um sich in der nächsten Polizeistation zu stellen und ein
Geständnis abzulegen.69 Trotz der grausigen Details sympathisiert der tschechi-
sche Gendarm in seinen Memorien offen mit dieser Frau, die ihr Schicksal in die
eigenen Hände genommen hatte.
Valoušeks Wahrnehmungen aus dem muslimischen Alltag im rauen östlichen
Grenzland Bosniens ist relativ frei vom üblichen Exotismus, poetischer Über-
treibung und den orientalistischen Assoziationen, denen man oft in den Texte
von Autoren begegnet, die sich auf die größeren, modernen Städte mit ihrem
attraktiven osmanischen Architekturerbe konzentrieren. Ein eindrucksvolles
Beispiel dieser anderen Perspektivik ist die Art und Weise, wie Valoušek über
Tod und Begräbnisrituale schreibt: Wird die muslimische Sepulkralkultur in den
Reiseberichten von Ludvík Kuba ebenso wie bei anderen Autoren üblicherweise
als würdige rites de passage beschrieben, sind vom Standpunkt des Gendarmen
indes die in Ostbosnien praktizierten Beerdigungen eher problematisch als ro-
mantisch. Gemäß den traditionellen Bräuchen wären nämlich die muslimischen
Gräber im Vergleich zu den christlichen einfach nicht tief genug. Deshalb sei es
auf dem Land, wie sich Valoušek in seinen Memoiren erinnert, ein Leichtes für
Füchse und andere wilde Tiere, die frischen Leichen wieder auszugraben. Es sei
ein schrecklicher Anblick und auch ein unangenehmes Erlebnis für die Nase,
wenn man auf einem muslimischen Landfriedhof auf halb verweste, halb aufge-
fressene Leichname stoße, die aus dem Erdreich ragen. Nicht zuletzt bedeutetet
aber die Fortführung dieser traditionellen Praktiken auch zusätzliche Arbeit
für den überbeanspruchten Polizisten, der jedes Mal dafür sorgen musste, dass
sich die Dorfbewohner doch dieses delikaten Hygieneproblems annahmen.70
Valoušek blieb empfänglich für die kleinen Unterschiede zwischen Musli-
men und Christen im täglichen Leben, wenn auch immer von der Warte eines
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70 Ibid., p. 30.
71 Ibid., p. 32.
72 Ibid., p. 33.
73 Ibid.
Ganz Bosnien und seine Menschen stellen ein großes Mysterium dar. Es gibt wahr-
scheinlich kein anderes Volk in Europa, das so primitiv und mit so wenig Ansprüchen
gelebt hat, und trotzdem sind die Menschen in Bosnien glücklich, zufrieden, frohge-
mut, gesund und schaffen es, ein hohes Alter zu erreichen.74
Schluss
Die tschechischen Darstellungen der Muslime Bosnien-Herzegowinas sind in
den vier Jahrzehnten habsburgischer Herrschaft ziemlich reichhaltig und di-
vers. In der jüngsten Forschungsliteratur wird allgemein angenommen, dass
die Formation und Transformation dieser Bilder die generelle Intensivierung
der Kontakte, die schrittweise Verbesserung der gegenseitigen und das wach-
sende Vertrauen zwischen Tschechen und den bosnisch-herzegowinischen Mus-
limen widerspiegle. Aus der dieser Perspektive betrachtet, hätte es die öster-
reichisch-ungarische Okkupation der Gebiete auf dem Westbalkan den beiden
slawischen Völkern, die vorher kaum Kontakte und Wissen voneinander gehabt
hatten, ermöglicht, miteinander bekannt zu werden. Nachdem sie sich plötzlich
nach 1878 mehr oder weniger im selben Staat wiedergefunden hätten, so geht
die Geschichte, hätten beide Seiten ihre gegenseitigen Vorurteile aufgegeben. In
Bezug auf die wechselseitige Wahrnehmung seien die „Türken“ und „Schwaben“
der ersten Zeit durch die geteilte Erfahrung, unter ein und demselben impe-
rialen ‘Dach’ zu leben, diskursiv in „slawische Brüder“ verwandelt worden.75
74 Ibid, p. 41.
75 Vgl. Ljuca 2006 u. Hladký 2010.- Auch Edin Hajdarpašićs Konzept des „(br)other“ – eine
ambigue Figur, die weder ein Feind noch ein Verbündeter ist, aber potenziell beides wer-
den kann – das primär in Zusammenhang mit kroatischen und serbischen Diskurse über
die bosnisch-herzegowinischen Muslime entwickelt wurde, verdient hier wegen seiner
Ähnlichkeit mit den tschechischen Darstellungen erwähnt zu werden; vgl. Hajdarpašić,
Diese Hypothese kann sicher auf die Tschechen angewandt werden, die mehr
oder weniger permanent in Bosnien-Herzegowina lebten. Allerdings hatten
auch viele Tschechen, die über jene Muslime schrieben, keinerlei persönlichen
Erfahrungen mit ihnen, die aus einem tatsächlichen Zusammenleben stammten.
Stattdessen scheint es, als ob die realen Kontakte zwischen Tschechen und den
örtlichen Muslimen bis zum Ersten Weltkrieg ziemlich limitiert gewesen wären.
Das simple historische Faktum, neben einander im selben Staat zu leben und
ähnliche Erfahrungen gemacht zu machen, genügt nicht, um die Transforma-
tion des Diskurses von einer vorherrschend negativen hin zu einer weitgehend
neutralen oder sogar positiven Position zu erklären.
Bei näherem Hinsehen ist es nicht immer möglich, geradewegs von einer
‘Evolution’ des ursprünglichen Bildes eines bedrohlichen, kulturell wie religiös
nicht-europäischen Anderen hin zu einem „slawischen Bruder“ und potenziel-
len Verbündeten im gemeinsamen Kampf aller slawischen Völker gegen die
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Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840–1914.
Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2015, p. 16f.
76 Vgl. Ljuca 2006, p. 134.
Nach Said
Das Titelbild der Bombe vom 28. Juli 1878 (s. o., p. 123, Abb. 1) visualisiert die Ok-
kupation Bosnien-Herzegowinas 1878, wie sie die satirische Wiener Wochen-
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zeitschrift sich und ihrer Leserschaft vorstellte: Den Weg des habsburgischen
Truppenkommandanten, Feldzeugmeister Joseph Philippovich von Philipps-
berg, und seiner Armee säumen drei halbnackte Frauengestalten, von denen
eine noch den Gesichtsschleier trägt. Die Karikatur1 zeigt, wie die besetzten
Gebiete von Anfang an orientalisiert wurden, damit sie nach dem Ende des
Feldzugs ‘zivilisiert’ werden konnten; es geht hier also auch um eine geistige
bzw. epistemologische Inbesitznahme.
Hundert Jahre nach der Okkupation Bosnien-Herzegowinas konzipierte der
vergleichende Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem bahnbrechenden
Buch2 Orientalism als wirklichkeitskonstituierenden Diskurs der repräsentier-
ten Differenz. Der vorliegende Beitrag versucht, den dort nicht behandelten
Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie zu charakterisieren; dabei
wird gezeigt, wie durch die Analyse sozialer Praktiken, die für Said noch keine
Rolle spielen, das Phänomen in neuem Licht erscheint. Der Blick richtet sich
auf drei Aspekte: (1) auf den Orientalismus, der im Zusammenhang mit der
Okkupation des alten osmanischen Vilâyet Bosna – der Provinzen Bosnien und
Herzegowina – durch habsburgische Truppen entwickelt wurde; (2) auf Wand-
lungsprozesse in den Orientkonstruktionen, die eine spezifische Form sichtbar
werden lassen, die als k.u.k. Orientalismus bezeichnet wird; (3) auf einen Orien-
1 Zeichner war der bekannte Budapester bzw. Wiener Karikaturist László von Frecskay
(1844–1916).
2 Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London, Henley: Rout-
ledge & Kegan Pau 1978 (Penguin 1995, 2003). Im vorl. Beitrag wird nach der deutschen
Ausgabe zitiert: Orientalismus. Übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt/M.: S. Fischer
2009.
die aktive, Asien die passive Rolle zugeschrieben. Das wesentliche Merkmal,
das Said zufolge den Orientalismus kennzeichnet, ist das konstruierte Bild vom
Orientalen, der nicht fähig ist, sich zu vertreten; denn der Orient würde, so Said,
gewiss selbst für sich sprechen […], wenn er nur könnte; da er dies aber nicht könne,
müssten westliche Sachwalter ihm diese Aufgabe wohl oder übel abnehmen. Wie
Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte feststellte, ,Sie können sich nicht
vertreten, sie müssen vertreten werden.‘7
3 Varisco, Daniel Martin: Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle, London: Univ.
of Washington Press 2007 (= Publications on the Near East); vgl. Schnepel, Burkhard
/ Brands, Gunnar / Schönig, Hanne (Hg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus. Ge-
schichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld: transcript 2011 (= Postcolonial Studies
6).
4 Osterhammel, Jürgen: Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens
bei Tzvetan Todorov und Edward Said. In: Ders.: Geschichtswissenschaft jenseits des
Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen:
V & R 2001 (= Krit. Studien zur Geschichtswissenschaft 147), pp. 240–265, hier p. 255.
5 Osterhammel, Jürgen: Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Ein Rückblick.
In: asien afrika lateinamerika 25 (1997), pp. 597–607, hier p. 599f. Saids „orientalistischer
Diskurs“, so stellt Osterhammel fest, sei „unhistorisch und statisch“, „innere Veränderun-
gen dieses Diskurses werden wenig beachtet“ (ibid., 602).
6 Said 2009, p. 12; vgl. Heiss, Johann: Orientalismus. In: Lexikon der Globalisierung. Hg. v.
Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll und Andre Gingrich. Bielefeld: transcript 2011, pp. 319–
323, hier p. 319.
7 Said 2009, p. 32.
für Said nicht der Rede wert, so dass ihm Kritiker wie der Sozialanthropologe
Michael Richardson schon 1990 „manifesten Idealismus“ vorwarfen. Stein des
Anstoßes war zum einen die Ausblendung der Funktionen, die Orientreprä-
sentationen, „a specific ideological construction“, erfüllten: „Such an ideology
has determined nothing, however, it is just a dangerous illusion to believe that
it ever has done. […] We need to understand how such representations have
functioned in practice“.8 Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass Said
durch seinen Orientalismusbegriff, der auf einer „ontologischen und epistemo-
logischen Unterscheidung“9 zwischen Okzident und Orient beruht, zwangs-
läufig den Blick auf Reziprozitäten verstellte. Michael Richardson bezichtigte
Said, jene Differenz, die er dekonstruiert, alternativlos zu behaupten: „Said may
be accused of engaging in a power relationship similar to the one he accuses the
orientalists of constructing. In denying the possibility of reciprocity between
subject and object, Said effectively makes it impossible for the object to develop
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alternative models.“10
Die Gefahr dieses Orientbegriffs liegt auf der Hand: Werden kulturelle Diffe-
renzen behauptet statt analysiert und dabei die Untersuchungen auf asymmet-
rische Repräsentationen beschränkt, Praktiken der Differenzkonstruktion aber
ausgeblendet, so droht das Konzept des Orientalismus wieder jener Polarisie-
rung Vorschub zu leisten, die Said vor 40 Jahren durch eine Diskursanalyse in
kritisch-polemischer Absicht zu dekonstruieren versuchte.
Edward Said hat in Orientalism freilich die orientalistischen Diskurse in
Deutschland und in Österreich-Ungarn ausgespart. Diese Lücke wurde seither
durch Arbeiten zum deutschen Orientalismus,11 zur Habsburgermonarchie12
8 Richardson, Michael: Enough Said. In: Macfie, Alexander Lyon (Hg.): Orientalism. A Rea-
der. New York: NYU Press 2000, pp. 208–216, hier p. 216 [Original in: Anthropology Today
6 (1990), pp. 16–19].
9 Said 2009, p. 11.
10 Richardson 2000, p. 208.
11 Marchand, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and
Scholarship (Publications of the German Historical Institute). Cambridge: Cambridge
Univ. Press 2009; Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-mor-
genländischer Imagination im 19. Jh. Berlin, New York: De Gruyter 2005 (= Quellen und
Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35); Salaymeh, Lena / Schwartz, Yossef
/ Shabar, Galili (Hg.): Der Orient. Imaginationen in deutscher Sprache (= Tel Aviver Jahr-
buch für Deutsche Geschichte [Göttingen] 45 [2017]); Hodkinson, James / Walker, John /
Mazumdar, Shaswati / Feichtinger, Johannes (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and
History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester (NY): Camden House
2013.
12 Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Distant Neighbors. Uses of Orientalism in the Late
Nineteenth-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson 2013, pp. 148–165; Dies.:
Orient als Metapher. Wie Österreichs Osten vor, während und nach dem Ersten Welt-
krieg vorgestellt wurde. In: Haider-Wilson, Barbara / Graf, Maximilian (Hg.): Orient &
Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten. Wien: Neue Welt
2016, pp. 53–77; Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing Missions
in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civilizing Mis-
sion. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35–48; Lemon, Robert:
Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle. Rochester
(NY): Camden House 2011 (= Studies in German literature, linguistics, and culture).
13 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular
Culture in Central Europe. In: Baskar, Bojan / Brumen, Borut (Hg.): Mediterranean Eth-
nological Summer School, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Ljubljana: Inštitut za multikult-
urne raziskave 1998 (= MESp. vol. II), pp. 99–127; Ders.: Grenzmythen des Orientalismus.
Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas. In: Mayr-Oehring,
Erika / Doppler, Elke (Hg.): Orientalische Reise. Malerei und Exotik im späten 19. Jh.
[Ausstellugskatalog]. Wien: WienMuseum 2003, pp. 110–129; Ders.: The Nearby Fron-
tier. Structural Analyses of Myths of Orientalism. In: Diogenes 60 (2015), nr. 2, pp. 60–66;
Ders.: Orientalismus. In: Ders. / Uhl, Heidemarie (Hg.): Habsburg neu denken. Vielfalt
und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte. Wien, Köln,
Weimar: Böhlau 2016, pp. 156–162; Fragner, Bert G.: Wir im Orient – der Orient in uns.
In: Haider-Wilson & Graf 2016, pp. 37–52.
14 Vgl. auch Feichtinger, Johannes: Komplexer k. u. k. Orientalismus. Akteure, Institutionen,
Diskurse im 19. und 20. Jh. in Österreich. In: Born, Robert / Lemmen, Sarah (Hg.): Orien-
talismen in Mitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis
zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld: transcript 2014, pp. 31–63.
15 Schon unter Zeitgenossen war in Bezug auf Bosnien-Herzegowina von einer Kolonie
Österreich-Ungarns die Rede. Auch Historiker/innen bewerten das Verhältnis als ein
Als der Berliner Kongress 1878 Österreich-Ungarn das Mandat erteilte, die os-
manischen Provinzen Bosnien und Herzegowina zu besetzen bzw. zu verwalten,
und die habsburgische Armee im benachbarten Vilajet Bosna einmarschierte, er-
öffnete sich für die Habsburgermonarchie, die zuvor aus Italien (1859) und dem
Deutschen Bund (1866) verdrängt worden war, ein neuer Schauplatz imperialer
Machtpolitik. Die Arbeiten von Robin Okey, Robert Donia und Bojan Aleksov
zeigen,16 dass Bosnien-Herzegowina von der habsburgischen Zivilverwaltung,
angeführt vom Finanzminister Benjamin von Kállay, als Missionsland aufge-
fasst wurde. Sie legen den Schluss nahe, dass mit der Okkupation zumindest
drei politisch-strategische Ziele verfolgt wurden, nämlich (1) die Stabilisierung
und gleichzeitige Erneuerung der lokalen Gesellschaft durch (2) die Verbrei-
tung westlicher Zivilisation und (3) die Verhinderung eines Aufkommens von
Sprachnationalismen.17 Zweifelsohne erlaubte das „koloniale Experiment“18
die Demonstration der Vorzüge des integrativen habsburgischen Staatsnationa-
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koloniales, beurteilen aber die Form des Kolonialismus differenziert. Sie sprechen von
einer „proximate colony“ (Donia) oder einer „semi“- beziehungsweise „quasi“-colony
(Detrez) und bezeichnen das Mandatsgebiet als Objekt einer „colonial governmentality“
(Aleksov); vgl. Reichspost, 29.07.1908, p. 1; Aleksov, Bojan: Habsburg’s ,Colonial Experi-
ment‘. In: Brunnbauer, Ulf et al. (Hg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und
Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhausen zum 65. Geb. München:
Oldenbourg 2007, pp. 201–216; Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzego-
vina under Austro-Hungarian Rule. In: Kakanien revisited, www.kakanien-revisited.at/
beitr/fallstudie/ RDonia1.pdf (2007); Detrez, Raymond: Colonialism in the Balkans. His-
toric Realities and Contemporary Perceptions. Online: Kakanien revisited (2002); Kolm,
Evelyn: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus. Frank-
furt/M. et al.: P. Lang 2001 (= EHS S III: 900), p. 235–253; Scheer, Tamara: A Micro-His-
torical Experience in the late Ottoman Balkans. The Case of Austria-Hungary in Sanjak
Novi-Pazar (1879–1908). In: Yavuz, M. Hakan / Blumi, Isa (Hg.): War and Nationalism.
The Balkan Wars, 1912–1913, and their Sociopolitical Implications. Salt Lake City: The
University of Utah Press 2013, pp. 197–229.
16 Donia 2015; Aleksov 2007; Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Ci-
vilizing Mission’ in Bosnia, 1878–1914. Oxford: Oxford Univ. Press 2007.
17 Vgl. Okey 2007, p. 28.
18 Aleksov 2007, pp. 205–211.
19 Vgl. Okey 2007, pp. 57 u. 253.
20 Donia 2007, p. 4.
Im Jahr 2003 zog Said etwa in einem Artikel in der London Review of Books
dessen beiden Funktionen in Betracht: die Vorstellung einer „imperial divide“,
mit der die kolonialistische Strategie der Differenzkonstruktion verbunden war;
sowie die Anerkennung von „shared experiences“,25 durch die Said 25 Jahre
nach Veröffentlichung von Orientalism den civilizing subjects eine Stimme gab.
„Shared experiences“ sind aber auch ein Merkmal des habsburgischen Orienta-
lismus; hier ermächtigen sie zur Zivilisierungsmission. So argumentierten zeit-
genössische politische Kommentatoren, dass aufgrund geteilter Erfahrungen,
d. h. sprachlich-kultureller, konfessioneller und ideeller Ähnlichkeiten zwischen
Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn die klare Trennlinie („imperial
divide“) zwischen osmanischer Unzivilisiertheit und habsburgisch-zentraleuro-
päischer Zivilisation überwunden werden könne. Bosnien erschien den damali-
21 Dazu ausführlich Okey 2007, pp. VII–XII, 26–29, 251–258; Donia 2007, p. 3; Hajdarpasic,
Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840–1914.
Ithaca (NY): Cornell Univ. Press 2015, pp. 161–198; zur konfessionellen Gliederung der
Bevölkerung vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungari-
schen Epoche (1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. Mün-
chen: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 39.
22 Okey 2007, p. 253.
23 Vgl. Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918. München: C.H.
Beck 2017, p. 423f.
24 Vgl. Fillafer, Franz L.: Österreichislam. In: Feichtinger & Uhl 2016, pp. 163–170; Feichtin-
ger, Johannes / Heiss, Johann: Konjunkturen einer verflochtenen Geschichte. Islam und
Türken in Österreich. In: Shakir, Amena / Galib Stanfel, Gernot / Weinberger, Martin M.
(Hg.): Ostarrichislam. Fragmente achthundertjähriger gemeinsamer Geschichte. Wien:
Al Hamra 2012, pp. 68–76.
25 Said, Edward: Always on the Top. In: London Review of Books 25.6 (20. 03. 2003), http://
www.lrb.co.uk/v25/n06/edward-said/always-on-top.
gen Publizisten zwar als andersartig und rückständig, zugleich jedoch aufgrund
von „shared experiences“ als zivilisierungsfähig. Hier ließ sich von den Ähnlich-
keiten der Auftrag zur Zivilisierungsmission ableiten.
Geprägt wurde dieser Diskurs von dem einflussreichen katholisch-konserva-
tiven und slawophilen Wiener Politiker, Publizisten, Historiker und Präsidenten
der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale,
Joseph Alexander von Helfert (1820–1910). In seinem Buch Bosnisches (1879)
heißt es: „Es waren blühende Länder, im Fortschritt begriffen wie irgend ein
anderes in jenem Jahrhundert, ehe sie von der Eroberung halbwilder Asiaten
überfluthet worden“ und „unter die Herrschaft des Halbmondes kamen“.26 Al-
lerdings hätten die Osmanen in Bosnien-Herzegowina „durch die ganze Zeit
der Türkenherrschaft“ „niemals Wurzel geschlagen“, sodass die Slawen ihre
„unverdorbene Ursprünglichkeit“ „selbständig unabhängig und unvermischt
von fremdartigen Elementen zu erhalten gewusst“ hätten.27 Helfert gab darin
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seines Ideenkreises“ mit jenen.35 Seine Sprache, „obwohl etwas mit türkischen
Ausdrücken untermischt“, bewertete Helfert als „eine der wohllautendsten der
slavischen Race“.36 Helfert bezeichnete auch „das Land als ein durchaus Slawi-
sches“, als ein „einem und demselben Slawenstamme, dem serbisch-kroatischen
angehöriges“.37 Alles befände sich „da in einer Art Urzustand“, der hinreichend
Anlass gebe zu einer vorsichtigen, „in nichts aufdringlichen“ Zivilisierung.38
Das durch „bisherige Miswirtschaft“ erzeugte Chaos müsse wieder in Ordnung
gebracht werden: „Der Oesterreicher hat hier das Werk des Römers wieder auf-
zunehmen“, schrieb Helfert, und er müsse „wirthschaftlich, verkehrlich und ge-
sellschaftlich“ „einer neuen schöpferischen und gefälligeren Ordnung der Dinge
eine Stätte bereiten“.39
Diese Argumentation erlaubte Helfert nicht nur jene klare Trennlinie zwi-
schen dem zivilisierten Habsburg und dem nicht-zivilisierten Bosnien zu zie-
hen, die Said zufolge Voraussetzung für den Kolonialismus ist, sondern auch
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35 Ibid. p. 259.
36 Ibid., pp. 259 u. 16.
37 Ibid., p. 240.
38 Ibid., pp. 17 u. 285.
39 Ibid., pp. 273 u. 21.
40 Vgl. Feichtinger, Johannes: Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung als Argument.
Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten Habsburgermonarchie. In:
Dejung, Christof / Lengwiler, Martin (Hg.): Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf
die europäische Geschichte (1800–1930) . Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016 (= Periphe-
rien. Neue Beiträge zur Europäischen Geschichte 1), pp. 147–181.
41 Franzos, Karl Emil: Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa. Stuttgart: Bonz
& Comp. 1888; vgl. Corbea-Hoisie, Andrei: Halb-Asien. In: Feichtinger & Uhl 2016, pp.
73–81.
42 Kállay, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents. In: Unga-
rische Revue [Budapest] Juni 1883, p. 11.
dieser Machtposition leitete er den Auftrag zur Zivilisierung Bosniens und der
Herzegowina ab:
Nicht ewig kann der Orient in starrer Abgeschlossenheit verharren. […] Voranzu-
schreiten in diesem großen geistigen Kampfe, den Ausgleich der tausendjährigen
Gegensätze zweier Welten zu versuchen, ist eine schwere, aber schöne und dankbare
Aufgabe. […] Und unser ist, wenn wir es wollen, die Führerrolle in der Lösung dieser
Aufgabe.46
43 Scala, Rudolf von: Über die wichtigsten Beziehungen des Orients zum Occidente in Mit-
telalter und Neuzeit, Vortrag gehalten im Orientalischen Museum am 26. Jänner 1887.
Wien: Verlag des Orientalischen Museums. Reisser & Werthner 1887, p. 5.
44 Kállay 1883, p. 3.
45 Ibid., p. 3f.
46 Ibid., p. 52f.
47 Habsburg, Rudolf von: Politische Denkschrift 1886. Skizzen aus der Österreichischen
Politik der letzten Jahre. In: Ders.: „Majestät, ich warne Sie …“. Geheime und private
Schriften. Hg. von Brigitte Hamann. München: Piper 21998, pp. 143–177, hier p. 159.
48 Helfert 1879, p. 172.
verschiedenen Türkei und dem slawischen Orient sowie zwischen diesem und
Europa, noch einen äußeren, abgespaltenen nicht-europäischen Orient, der aus
seiner Sicht keinesfalls zivilisierungsfähig war. Damit schuf er sich in Wien
viele Feinde. Denn viele entdeckten gerade im Osmanischen Reich, wo sich so
vieles noch – wie es damals hieß – in „verwahrlostem Zustand“ befand,54 ein
Hoffnungsgebiet für den Handel, das durch Zivilisierungsmissionen erschlossen
werden musste. Als Drehscheibe wurde 1874 in Wien das Orientalische Museum
gegründet und die Oesterreichische Monatsschrift für den Orient veröffentlicht
(sie erschien bis 1918).55 Arthur von Scala, der Museumsdirektor, verlieh dem
Zivilisierungsauftrag in der ersten Nummer der Zeitschrift beredt Ausdruck:
„Oesterreich’s Mission als Träger europäischer Cultur und Sitte nach dem be-
nachbarten Osten schwebt uns vor Augen.“56 In Helferts Augen verkannten
diese „Turkophilen“ allerdings den wahren Charakter der Türken, nämlich ihr
„Taming Balkan Nationalism“, wie es Robin Okey nannte, war für konservati-
ve und liberale Akteure die Voraussetzung, sich als imperialer Machtfaktor zu
behaupten und einer künftigen Annexion den Weg zu bereiten. Im Rückblick
auf die Geschichte Habsburg-Zentraleuropas zeigt sich auch noch eine andere
Form des Orientalismus, der noch nicht gebührend Rechnung getragen wurde:
Sie wird im Folgenden skizziert.
K.u.k. Orientalismus
Die „Schlüsselprozedur des orientalistischen Monologs“ Said’scher Spielart
sieht Osterhammel in der „Konstruktion von Differenzen“,58 zwischen Okzi-
dent und Orient, uns und den anderen. Osterhammel zufolge sind es „binäre
Oppositionen“, „Gegensatzpaare“, die den „orientalistischen Diskurs“, wie ihn
Said analysierte, kennzeichnen.59 Zu fragen bleibt, ob diese methodologische
Voraussetzung hilfreich ist, das Phänomen des Orientalismus vollständig zu
erfassen. Said hatte einen mächtigen, auf die klassischen Kolonialmächte sich
beziehenden Diskurs im Auge, den er auf der Basis literarischer Zeugnisse ana-
lysierte. Noch nicht im Auge hatte er als Literaturwissenschaftler orientalische
Praktiken.
57 Helfert, Joseph Alexander von: Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Sieges
von 1683. Vortrag gehalten am 2. September 1883 in der Festversammlung des katho-
lisch-politischen Casinos der inneren Stadt Wien: F. Eipeldauer & Comp. 1883, p. 28–31;
vgl. Healy, Maureen: 1883 Vienna in the Turkish Mirror. In: Austrian History Yearbook 40
(2009), pp. 101–113, hier p. 111ff.
58 Osterhammel 2001, p. 253.
59 Ibid., p. 252.
Wenn aber heute die Konstruktion oder Dekonstruktion von kulturellen Dif-
ferenzen untersucht wird, wird das Hauptaugenmerk verstärkt auf Praktiken
gelegt. Wenn ich also von k. u. k. Orientalismus spreche, meine ich die Summe,
die sich aus diversen orientalistischen Praktiken in der späten Habsburgermo-
narchie und jenen Differenzkonstruktionen ergibt, die dem Said’schen Orien-
talismus analog erscheinen. Anzuführen ist (wie gezeigt) der zum Zweck der
Kolonisierung und Annexion geführte zivilisatorische Missionsdiskurs, der auf
der Ziehung kultureller Grenzen beruht. Bemerkenswert ist es aber, dass andere
habsburgische Akteure zur gleichen Zeit kulturelle Differenzen zu verringern
versuchten und die Verflechtungen zwischen Europa und der islamischen Welt
neu in den Blick rückten. Sie zeigten, dass die Trennung der Welt in Ost und
West Konjunkturen und Rezessionen unterlag. Auch sie verfolgten einen poli-
tischen Zweck, sei es die Delegitimation des liberalen Imperialismus oder – wie
zu zeigen sein wird – die Europäisierung des Orients.
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491–501; Ders.: Die Anfänge der Orientalischen Akademie. In: Rathkolb, Oliver (Hg.): 250
Jahre. Von der Orientalischen zur Diplomatischen Akademie in Wien. Innsbruck et al.:
Studienverlag 2004, pp. 47–64.
63 Hammer-Purgstall, Joseph Frhr. von: Vortrag über die Vielsprachigkeit, gehalten an der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 29. Mai 1852. In: Die Feierliche
Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien: k. k. Hof- und Staatsdru-
ckerei 1852, p. 99.
64 Anonymus, Siebenter internationaler Orientalisten=Congreß. In: Wiener Abendpost,
27.09.1886, pp. 1–4, hier p. 1.
65 Ibid., p. 3.
66 Ibid., p. 2.
Der Orient ward zuerst durch die Ueberheblichkeit der europäischen Waffen unter
den Einfluß der westlichen Kultur gebracht, große Länderstrecken geriethen unter
unmittelbare europäische Herrschaft. […] Überall dringen die Sprachen und Sitten des
Westens vor, bedrohen sogar zum Theile die einheimische althergebrachte Cultur und
drängen sich ihr oft mit ganz ungerechtfertigter Ueberhebung auf.67
literarische Qualitäten davor nicht erkannt bzw. geschätzt worden waren.69 Zwi-
schen 1809 und 1818 veröffentlichte er die Zeitschrift Fundgruben des Orients (6
Bände), in der er Wissenschaftler aus Ost und West zu Wort kommen ließ: „Was
dieser [Zeitschrift] aber vor allen andern bisher bestandenen Zeitschriften eine
unterscheidende Eigentümlichkeit erteilen soll, ist die vielfältige unmittelbare
Berührung mit dem Orient, welche uns durch die Korrespondenz unserer dor-
tigen Freunde verschafft wird.“70 In den 1921 verfassten Bemerkungen erinnerte
Hugo von Hofmannsthal seine Leser, dass von Wien aus, „von Hammer-Purgs-
tall und seinen ‚Fundgruben des Orients‘ […] der Anstoß aus[ging], der Goethes
Orientalismus entfachte“,71 und – so sei hinzugefügt – diesem den Anstoß zum
West-östlichen Divan (1819) gab.
Hammer-Purgstalls Schüler Aloys Sprenger (1813–1893) erwarb sich im Auf-
trag der British East India Company außerordentliche Verdienste als Vorstand
des Delhi College, als er durch Übersetzung westlicher Lehrbücher und durch
die Veröffentlichung von Zeitschriften die Sprache Urdu zur Wissenschafts-
67 Ibid.
68 Ibid.
69 Vgl. Loop, Jan: Divine Poetry? Early Modern European Orientalists on the Beauty of the
Koran. In: Church History and Religious Culture 89 (2009), nr. 4, pp. 455–488.
70 Hammer(-Purgstall), Joseph: Mines de l’Orient, exploitées par une Société d’amateurs,
Vienne [mit den gleichrangigem arabischen und deutschen Titel Makhzan al-Kunuz
al-Mashriqiyya / Fundgruben des Orients]: Vienne: Antoine Schmid 1809, p. III.
71 Hofmannsthal, Hugo von: Bemerkungen. In: Ders.: Reden und Aufsätze II 1914–1924.
Frankfurt/M.: Fischer 1979, pp. 473–477, hier p. 474f.; Goethe, Johann Wolfgang von:
West-Östlicher Divan. Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Öst-
lichen Divans. In: Ders.: Ges. Werke. Hamburger Ausgabe, Bd 2. München: dtv 2000, pp.
126–268, hier p. 253f.
sprache Indiens aufwertete. Als Sammler von ca. 2000 indischen Handschrif-
ten, die er katalogisierte und nach Europa verfrachtete (Bibliotheca Orientalis
Sprengeriana), stellte er sich selbst als Vermittler dar, der durch seine private
Bibliothek islamischer Literatur Studierende dabei unterstützte, die „narrow
limits of European prejudices“ zu überschreiten und den Blick zu öffnen „to that
connection between the East and West, which is inevitable and is proceeding in
much more rapid strides than it is usually supposed.“72
Der Wiener Orientalist mährischer Herkunft Alois Musil (1868–1944), ein
Kusin des Autors Robert Musil, war als Priester und Forschungsreisender dem
Ursprung des Monotheismus auf der Spur und verbrachte die Zeit zwischen
1908 und 1915 als Co-Stammesführer der nordarabischen Rwala Beduinen.
Sheikh Musa al-Ruweili, wie er liebevoll von der lokalen Bevölkerung genannt
wurde, studierte den Gegenwartsislam der Beduinen und stellte dabei zahlreiche
Ähnlichkeiten zum Christentum fest, worauf er die Geschichte friedvoller Ko-
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existenz zurückführte.73
Obwohl reisende Orientalisten wie Musil um die Verbesserung des Verständ-
nisses des Islam in Europa bemüht waren, wurde die Welt des Islam auch in
Wien gleichsam zu einem Experimentierfeld für die Konstruktion von kulturel-
len Unterschieden. Diese Differenzkonstruktionen wurden aber gleichfalls in
Wien kritisch dekonstruiert. So stellte 1918 der Wiener Orientalist und Geograf
Hans von Mžik (1876–1961) die Frage: „Was ist Orient?“, um festzustellen: „ein
sehr schwankender Begriff – muß man zunächst antworten“.74 Das erstaunli-
che Ergebnis seiner Untersuchung, die er 60 Jahre vor Said durchgeführt hatte,
lautete, dass die Konstatierung eines „,Wesens‘ des Orients“, sei es „ethnisch“,
„rassisch“ oder „kulturell“, bloße „Konstruktionen, nicht Analysen“ wären.75 Im
Unterschied zu und 60 Jahre vor Said erkannte Mžik im Konzept Orient einen
jener „geschichtlichen Begriffe“, die „als Willensakte, bewußte oder unbewuß-
te, aufzufassen [wären], die ihrerseits wieder aus Absichten, Wünschen, Be-
fürchtungen usw.“ hervorgingen.76 Mžik zufolge lag „also in jedem historischen
Begriffe ein volitives oder – populär gesagt – ein Zweckmoment“, das er in
der Verwendung des Orientbegriffs „geradezu [als] ein programmatisches Mo-
ment“ erkannte, geprägt durch den „Machtwillen des Subjekts“.77 Der Zweck des
Orientbegriffs war für Mžik ein „historisch-politischer“, „dessen Inhalt sich seit
dem Mittelalter in dem Gegensatze Islam – Christentum, Türkenreich – Europa
erschöpfte“.78
Mžiks Botschaft lautete, dass ein wesensverschiedener Orient dann konstru-
iert wurde, wenn diese Verschiedenheit eine politische Funktion erfüllte; wenn
nicht, war davon keine Rede. Der Orient war eine jener „Konstruktionen“, mit
denen seiner Ansicht nach der „feste Grund der Tatsachen verlassen und der
Boden des Dogmas oder emotioneller Betrachtungen“ betreten werde; für Mžik
brachte der Orientbegriff daher „kein Mehr an Erkenntnis“ ein.79
Zu dieser bemerkenswerten Erkenntnis kam Mžik, da sich das Forschungs-In-
stitut für Osten und Orient in Wien ab 1916 zur Aufgabe gemacht hatte, Europa
zu verschieben, nicht in den feindlichen Osten – Russland –, sondern in den
befreundeten Orient – das Osmanische Reich. Der neue Orientbegriff fasste
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insbesondere die Türkei als essenziellen Bestandteil Europas auf. Die Europäi-
sierung des befreundeten Orients setzte allerdings die Aufweichung zentraler
Unterscheidungskriterien wie der Religion voraus. In diesem Sinne betonte
der Wiener Orientalist Rudolf Geyer (1861–1929) in seinem Vortrag Die Zu-
kunftsfrage des Islam im Jahr 1916, dass „der gesamte Gedankeninhalt des Islam
keineswegs verschieden von jenem des Christentums“ sei.80 Den Islam cha-
rakterisierte er als die Form, „in welcher das Christentum in Gesamt-Arabien
Eingang gefunden hat.“81 In einer „Gesellschaftskarte des Orients von Erwin
Hanslik“, einem Wiener Anthropogeografen, „ausgeführt vom k. u. k. Militär-
geografischen Institute“, scheint ein „Europäisch-orientalisches Gesellschafts-
gebiet“ auf.82 Anno 1914 war die Türkei demnach ein Teil Europas – eine für
viele heute wieder undenkbare Vorstellung.
Im Zuge der geistigen Mobilmachung des Ersten Weltkriegs wurde der Orient
also von Wissenschaftlern neu konstruiert und geläufige kulturelle Unterschei-
dungskriterien eine Zeitlang weggeredet. Mžik mochte diese „Konstruktionen“
und Praktiken vor Augen haben, als er im Orientbegriff „ein Zweckmoment“ er-
77 Ibid., p. 203f.
78 Ibid., p. 199f.
79 Ibid., p. 208.
80 Geyer, Rudolf: Die Zukunftsfrage des Islam. 7. und 8. Vollsitzung am 24. und 31. Mai 1916.
In: Berichte des Forschungs-Institutes für Osten und Orient 1 (1917), p. 7–10, hier p. 8.
81 Ibid.
82 Als Heft 1 der von Erwin Hanslik und Edmund Küttler hg. Reihe „Schriften des Instituts“
erschien von Hanslik verfasst „Der nahe Orient, Indien und Ostasien. Kulturstudien mit
einer Kulturkarte des Orients“ Wien [1914] als „Sonderabdruck aus der Österreichischen
Monatsschrift für den Orient, Jahrgang 1914, Nr. 3–6“. Die „Kulturkarte“ trägt den Titel
„Gesellschaftskarte“.
habe, worin es aber auch eine Trennlinie gezogen habe. Der Orient sei für das
Abendland all das, was es selbst nicht sei, obwohl das Abendland im Orient
das suchen müsse, was seine ursprüngliche Wahrheit darstelle. Die Geschichte
dieser großen Trennung oder partage während der Entwicklung des Abendlan-
des müssten wir schreiben, so Foucault, und in ihrer Kontinuität und in ihrem
Wechsel verfolgen.87 Said beschränkte sich aber in Orientalism auf die De-
konstruktion diskursiver Repräsentationen des Orients, für deren Eingrenzung
auch er eine Trennlinie zwischen Ost und West zog. Wer sich wozu ihren/seinen
Orient konstruierte und zu welchem Zweck, war für Said kein Erkenntnisziel.
Die Trennlinie wurde vorausgesetzt, um den Gegenstand der Untersuchung ab-
zugrenzen, nämlich die westliche Repräsentation des Orientalen, der sich nicht
vertreten konnte und somit vertreten werden musste.
Im letzten halben Jahrhundert haben sich mit den kulturwissenschaftlichen
turns die Analyseperspektiven verschoben: Das Studium der Repräsentation
ist zwar noch hoch im Kurs, zunehmend wird aber Akteurinnen und Akteu-
ren, Praktiken, Artefakten und Austauschbeziehungen neue Aufmerksamkeit
geschenkt. In diesem Zusammenhang werden diskursive Repräsentationen
rückgebunden an die Erzeugungsverhältnisse und an Zweckgebundenheit und
Funktionalität. Machtrelationen werden als unumgängliche Voraussetzung be-
bring out the inextricably enmeshed nature of cultures across the world, the commo-
nalities on which intercultural contact is constructed and ways people or groups of
people cross cultural barriers.88
88 Kapil, Raj: Go-Betweens, Travelers and Cultural Translators. In: Lightman, Bernard (Hg.):
A Companion to the History of Science. Oxford 2016, pp. 39–57; vgl. Ders.: Beyond Post-
colonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science. In: Isis
104 (2013), pp. 337–347.
In seinem am 21. März 1917 gegebenen „Jahresbericht für das Jahr [1916]“ muss-
te der langjährige Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, der Me-
diziner und Anthropologe Carl Toldt, vom Tod des alten Kaisers Franz Joseph,
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von den Friedensbemühungen des neuen Herrschers Karl, vor allem aber vom
Fortgang des Krieges und den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf
die von ihm geleitete wissenschaftliche Gesellschaft berichten. Toldt kam dabei
wortgewaltig und vorwurfsvoll gleichermaßen auf die Kriegsziele der Entente
zu sprechen, die einen „ehrenvollen Frieden“ verhindern und mit ihrer Beto-
nung des „Nationalitätenprinzips“ die „dauernde Entkräftung Deutschlands“,
die „Zerstückelung der österreichisch-ungarischen Monarchie“ und die „Ver-
treibung der Osmanen aus Europa“ beabsichtigen würden.
Die „Vertreibung der Osmanen aus Europa“ – dies war gerade mit dem von
Toldt in seiner Rede angestrengten Blick auf die eigenen Verbündeten ein er-
staunliches Argument, das eine komplexe, im konkreten Fall wohl verbindend
gedachte, in historischer Perspektive aber doch auch trennende Geschichte in
Erinnerung rief. Es war dies die konflikthafte – und schließlich mit zum Krieg
führende – Geschichte zuerst der Besetzung, dann der Annexion von Bosni-
en-Herzegowina im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.
Mit dem Verweis auf Bosnien-Herzegowina meinte Toldt freilich nicht den
österreichisch-ungarischen Beitrag zur „Vertreibung der Osmanen aus Europa“,
sondern er zielte auf die dort von der Habsburgermonarchie seit Jahrzehnten
vorangetriebene „erfolgreiche Kulturarbeit“ ab und lieferte so in seiner Rede
eine wissenschaftlich legitimierte – sozusagen anti-nationale Begründung –
für den so herbei gesehnten Sieg und damit für den Fortbestand der multi-na-
tionalen Habsburgermonarchie.1 Diese „erfolgreiche Kulturarbeit“ wiederum,
so argumentierte Carl Toldt in seiner Jahresbilanz weiter, hinge eng mit den
1 Toldt, Karl: Jahresbericht für Jahr [1916]. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesell-
schaft in Wien XXXXVII (1917), pp. [16–22].
2 Csáky, Moritz: Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage. In: Alter-
matt, Urs (Hg.): Nation, Ethnizität und die nationale Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau
1996, pp. 44–64.
3 Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. München: C.H. Beck 2017,
p. 349ff.
4 Gingrich, Andre: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion
des „frontier orientalism“ in der Spätzeit der k. u. k. Monarchie. In: Feichtinger, Johannes
et al. (Hg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Inns-
bruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2006, pp. 279–288.
5 Vgl. dazu zusammenfassend Johler, Reinhard: Das Ethnische als Forschungskonzept. Die
österreichische Volkskunde im europäischen Vergleich. In: Beitl, Klaus / Bockhorn, Olaf
(Hg.): Ethnologia Europaea. Plenarvorträge. Wien: Verl. des Inst. für Volkskunde 1996,
pp. 69–101.
6 Stagl, Justin: Ethnologie und Vielvölkerstaat. In: Rupp-Eisenreich, Britta / Stagl, Justin
(Hg.): Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und ver-
wandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918. Wien: Böhlau 1994, pp. 22–27.
7 Dazu im Überblick Gingrich, Andre: The German Speaking Countries. In: Barth, Fredrik
/ Gingrich, Andre / Parkin, Robert / Silverman, Sydel: One Discipline, Four Ways. British,
German, French, and American Anthropology. Chicago, London: Univ. of Chicago Press
2005, pp. 62–153.
8 Dieser Beitrag geht zurück auf den Projektbereich E „Kriegserfahrungen in Humanwis-
senschaften“ des Tübinger SFB 473 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der
Neuzeit“ (2005–2008). Ich habe dort mehrere Projekte zu „Kriegserfahrung und Generie-
rung einer Wissenschaft (Volkskunde)“ geleitet. Das Projekt „Balkan-Expeditionen und
österreichische Volkskunde“ ist von Christian Marchetti bearbeitet und mit einer Publi-
kation abgeschlossen worden. Vgl. Marchetti, Christian: Balkanexpedition. Die Kriegs-
erfahrung der österreichischen Volkskunde – eine historisch-ethnografische Erkundung.
Tübingen: TVV 2013.
13 Vgl. dazu Pusman, Karl: Die „Wissenschaften vom Menschen“ auf Wiener Boden (1870–
1959). Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die anthropolog. Disziplinen im
Fokus von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts- und Verdrängungspolitik. Wien,
Berlin: LIT Verlag 2008, p. 105ff.
14 Heger, Franz: Die Entwicklung der ethnografischen Forschung in den Jahren 1848–1899.
In: Mittheilungen der Kais. Königl. Geografischen Gesellschaft in Wien XLI (1898), pp. 71–
82.
15 Vgl. etwa Truhelka, Ćiro: Die Ethnografie auf der Millenniums-Ausstellung. I. Bosnische
Abteilung. In: Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn 5 (1896), pp. 49–53.
16 Brunnbauer, Ulf / Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Ditzingen: Reclam 2018,
p. 167.
17 Vgl. dazu ausführlich: Marchetti, Christian: „Frontier Ethnografy“. Zur colonial situation
der österreichischen Volkskunde auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg. In: Ruthner, Cle-
mens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegowina, and the
Western Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015, pp. 363–381.
18 Calic, Marie-Janine: Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. München 2016, p. 398.
19 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C.H.Beck
2010, p. 398ff.; Suppan, Arnold: Zur Frage eines österreichisch-ungarischen Imperialis-
mus in Südosteuropa. Regierungspolitik und öffentliche Meinung um die Annexion Bos-
niens und der Herzegowina. In: Wandruschka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie
und die südslawische Frage. Wien: Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften 1978,
pp. 103–129.
Balkan beunruhigt wird, vor allem Österreich, das berufen ist, die Südslawen kennen
und verstehen zu lernen. ‚Man höre den Guslaren und seine Lieder‘, sagt Krauss, dann
wird man den Südslawen verstehen. Ich möchte hinzufügen: Und wenn unsere Poli-
tiker die Südslawen verstünden, würden sie mit ihnen auch leichter auskommen.23
Der von Winternitz angesprochene Begriff „Volkskunde“ hat sich in den 1890er
Jahren – nicht zuletzt durch die Mitte des Jahrzehnts erfolgte Gründung des
Vereins, der Zeitschrift und des Museums für österreichische Volkskunde – durch-
gesetzt und dabei die im österreichischen Monarchieteil lange gebräuchliche
„Ethnografie“ abgelöst. Dort war der Terminus Ethnografie zum einen mit der
österreichischen Statistik und der 1857 erschienenen, zweibändigen „Ethnogra-
fie der Oesterreichischen Monarchie“24 von Karl Freiherr von Czoernig verbun-
den. Diese bildete die Vorlage für eine historisch orientierte, völkerbeschreiben-
de Zugangsweise, die von den sich ethnografisch gerierenden Fächern Slawistik
und Germanistik an den österreichischen Universitäten fortgeschrieben wur-
de.25 Zum anderen aber meinte Ethnografie auch in Österreich die außereuropäi-
sche Völkerkunde, wie sie etwa von dem an der Wiener Universität lehrenden
Sprachwissenschaftler Friedrich Müller bekannt gemacht wurde: Er hatte 1868
den ethnografischen Berichtsband zur österreichischen Novara-Weltumseglung
verfasst26 und 1873 sein Standardwerk zur „Allgemeinen Ethnografie“ veröffent-
licht.27
Die damit angedeutete, schrittweise vollzogene Trennung von Volks- und
Völkerkunde mag mit einer Beobachtung erklärt werden, die vom amerika-
nischen Kulturanthropologen George W. Stocking gemacht worden ist. Er
hat argumentiert, dass im „Empire-Building-Prozess“ befindliche Staaten wie
Frankreich, England, Spanien oder Italien im ausgehenden 19. Jahrhundert eine
auf das außereuropäisch ‘Fremde’ zielende Anthropologie entwickelt hätten.
Dagegen hätten die nord- und mitteleuropäischen „Nation-Building-Staaten“
(also etwa Deutschland, Schweden, Serbien, etc.) eine auf das jeweilig konkret
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archie und der benachbarten Balkenländer gelegt wurde,29 und sie konnte sich
auch im Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen, als es galt, die „besetzten Balkan-
länder“ zu erforschen. Denn es gelang – so Christian Marchetti bilanzierend
– „dem Volkskundemuseum im Krieg“ mit inhaltlicher Begründung, die „Reprä-
sentationshoheit über die Balkangebiete vor dem Hofmuseum“ durchzusetzen.30
Bojan Baskar hat der hier als Subtradition ausgemachten österreichischen
Volkskunde eine weitere Variante hinzugefügt und damit Stocking im Ansatz
korrigiert: „Small Ethnologies“, wie etwa die slowenische, würden in „supra-
national Empires“ nicht zwangsläufig einen nationalen Weg wählen, sondern
zuweilen selbst imperial agieren. So konnten auch „kleine Ethnologien“ eigene,
eben „kleine Kolonialismen“ entwickeln.31
Habsburg colonial
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29 Ranzmeier, Irene: Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Eta-
blierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien, 1870–1930. Wien, Köln,
Weimar: Böhlau 2013, p. 73f.
30 Marchetti, Christian: Wiener Ethnografen im Ersten Weltkrieg. In: Mitt. der Anthropolog.
Ges. in Wien 136/137 (2006/2007), pp. 241–259.
31 Baskar, Bojan: Small National Ethnologies and Supranational Empires. The Case of the
Habsburg Monarchy. In: Nic Craith, Máiréd / Kockel, Ullrich / Johler, Reinhard (Hg.):
Everyday Culture in Europe. Approaches and Methodologies. Aldershot: Burlington
2008, pp. 69–80.
32 Zum Begriff vgl. Simonek, Stefan: Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Lite-
raturtheorie aus slawistischer Sicht. In: Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky,
Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Inns-
bruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2003, pp. 129–140, hier p. 131.
33 Verdery, Katherine: Internal Colonialism in Austria-Hungary. In: Ethnic and Racial Stu-
dies 2 (1979), pp. 378–399.
Der von Edward Said 1978 geprägte Begriff des „Orientalismus“ kann hier
vorausgesetzt werden: Er beinhaltet die in den westlichen Zentren im 18. und
19. Jahrhundert von Intellektuellen geschaffene und mit Macht durchgesetz-
te Vorstellung, dass Orient und Okzident voneinander scharf getrennte und
nicht kompatible Welten – mit anderen Worten: höchst konträre, wenngleich
imaginäre Anti-Welten – sind.37 Dieses Orientalismus-Konzept ist 1997 von
Maria Todorova auf den „Balkanismus“ übertragen und modifiziert worden.
Auch dieser ist zunächst im Westen von Intellektuellen kreiert, dann allerdings
am Balkan auch selbst übernommen worden. Wichtiger aber sind andere Unter-
scheidungen: Todorova versteht den „Balkanismus“ nicht als Sub-Kategorie des
„Orientalismus“, sondern als etwas Originäres. Denn Balkan bedeutet für sie
nicht Opposition, sondern Ambiguität; er ist nicht imaginierte „Anti-Welt“, son-
dern innerhalb Europas konkrete „Brücke“ und „Übergang“, bezieht er sich doch
gleichzeitig auch auf die imperial-kolonialistische Unterwerfung des Balkans
durch das nahe Osmanenreich. Kurz: Balkanismus ist dadurch kulturell als „the
Other within“, als der „unvollständig Andere“ konstruiert worden.38
34 Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnografischen Po-
pularliteratur der Habsburgermonarchie. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 259–275.
35 Ruthner, Clemens: ‚K.u.k. Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Ver-
such einer weiteren Klärung. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 111–128, hier p. 115.
36 Ruthner, Clemens: Kakaniens kleiner Orient. Post/koloniale Lesarten der Peripherie Bos-
nien-Herzegowina (1878–1918). In: Hárs, Endre/Müller-Funk, Wolfgang/Reber, Ursula
(Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen:
A. Francke Verlag 2006, pp. 255–283, hier p. 268.
37 Edward Said: Orientalism. New York: Pantheon Books 1978.
38 Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford Univ. Press 1997.
Der von Andre Gingrich geprägte Begriff „frontier orientalism“ schließt in-
haltlich genau an diesem Punkt der „Grenz-Nähe“ zum Orient an, stellt dieser
doch ein spezifisches Muster der europäischen Auseinandersetzung eben mit
diesem Orient dar. In Europa, so Gingrich, bestehen erstens Staaten wie Frank-
reich und England, die in der islamischen Welt in Übersee einen bedeutenden
Einfluss ausübten, zweitens Länder wie etwa die Habsburgermonarchie, die
einen gewissen kolonialen Einfluss in den Gebieten der islamischen Peripherie
ausübten, und drittens Staaten, die überhaupt keine kolonialen Beziehungen mit
der islamischen Welt hatten. Viertens gibt es auch solche Länder vornehmlich
am Balkan, die selbst als Kolonien Teil eines islamischen Reiches waren.
Zur zweiten Gruppe gehören nach Gingrich Österreich-Ungarn, aber auch
Spanien und bis zu einem gewissen Grad zudem Russland. Diese Länder waren
zwar nie klassische Kolonialmächte in islamisch besiedelten Übersee-Gebie-
ten, übten aber über längere Zeit an ihren Peripherien eine mehr oder minder
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39 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular
Culture in Central Europe. In: Baskar, Bojan (Hg.): Mediterranean Ethnological Summer
School. Ljubljana: Institut za Multikulturne Raziskave 1996, pp. 99–127.
40 Vgl. Donias Beitrag zum vorl. Sammelband.
schen Wien und Sarajevo – eine Distanz, die durch den schnell einsetzenden
Eisenbahnbau noch weiter verkürzt worden ist – hätte zwischen „colony“ und
„colonizer“ eine höchst ambivalente „colonial situation“ geschaffen. Denn zum
einen sei Bosnien-Herzegowina den Habsburgern bereits einigermaßen bekannt
gewesen, als diese es 1878 besetzt hatten. Dies und der Umstand, dass Serben
und Kroaten beiderseits der Grenze siedelten, hätte zudem zu einem besseren
Verstehen der Menschen vor Ort geführt, als dies in den klassisch kolonialen
Überseegebieten möglich gewesen wäre. Doch was damit auf den ersten Blick
ein Vorteil schien, sollte sich in Folge schnell als unüberbrückbarer Nachteil
erweisen, bezog doch die Monarchie sofort die multi-ethnische Bevölkerung
ihrer neuen „Kolonie“ in die heftig schwelenden europäischen Konflikte des
endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit ein.41
Die Nähe Bosnien-Herzegowinas und die erwähnte Konstruktion des ‘guten
Bosniers’ boten aber direkte Anknüpfungspunkte für die österreichisch-unga-
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rische Herrschaft und eröffneten der neu eingerichteten Verwaltung die Mög-
lichkeit, ökonomische Ziele mit kulturellen Maßnahmen zu verbinden und so
auch die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. So sollte etwa die Förderung
der Industrie durch eine schnelle Reform der lokalen Hausindustrien erreicht
werden. Benjámin von Kállay, der als gemeinsamer Finanzminister das Okkupa-
tionsgebiet verwaltete, setzte bereits 1882 die dafür notwendigen Maßnahmen,
in dem er drei Institutionen in Sarajevo gründen ließ: das Bosnisch-hercegovini-
sche Landesmuseum, die Fachschulen für Kunstgewerbe in Sarajevo sowie ein
Büro zur Wiedererweckung und Entwicklung des bosnisch-hercegewowinischen
Kunstgewerbes. Diana Reynolds Cordileone hat deswegen zu Recht von einem
kolonialistischen „exhibitionary complex“ gesprochen, da diese eng mit dem
Zentrum Wien verbundenen Institutionen eine spezifische Rolle in der Peri-
pherie zugeschrieben bekommen hätten: „In Wien übten die Österreicher ihre
Position als Großmacht mit einer Art von künstlerischem Kolonialismus aus. In
Sarajevo wurde der neue Bosnier als Zögling der Monarchie (in künstlerischem
wie in politischem Sinne) erzogen.“42
Die österreichische Ethnografie bzw. Volkskunde war über die Sammlung,
Erforschung und Ausstellung von Volkskunst und Tracht in vielfältiger Weise
in diesen kunstgewerblichen „exhibitionary complex“ integriert. Kein Wunder
daher, dass ihre disziplinäre Institutionalisierung mit der Okkupation von Bos-
nien und der Herzegowina so eng verbunden war. Ihr anfängliches Profil sollte
sie jedenfalls in dieser heftig umkämpften, gleichzeitig ausgesprochen diversen
Region erhalten, in der für sie ‘Fremdes’ mit ‘Eigenem’ in bislang unbekannter
Weise vermischt war. Ihr weiteres Geschick hing daher tatsächlich mit dem
weiteren Geschehen in Bosnien und der Herzegowina zusammen.
Bericht leitete er mit überraschend kritischen Worten ein: Die „Literatur über
Bosnien“ sei zwar „gerade in den letzten Jahren in ganz abenteuerlicher Weise
angewachsen“, doch wären die „Bücher über dieses interessante Land“ oft nicht
durch einen Besuch vor Ort, sondern von Wien aus mit „Scheere und Kleister“
verfasst – also abgeschrieben – worden.43
Damit beschrieb von Luschan eine gängige Publikationspraxis, benannte da-
bei aber auch Gründe für die bis dahin eher bescheidene Bilanz ethnografischer
Forschungen in Bosnien-Herzegowina – und darüber hinaus in der ganzen Mo-
narchie. Denn auch die Anthropologische Gesellschaft in Wien – sie war am 13.
Februar 1870 zur Förderung von Anthropologie, Urgeschichte und eben der Eth-
nografie gegründet worden – sah diese junge Disziplin in ihren eigenen Reihen
inhaltlich nur schwach verankert und auch in den Mittheilungen der Anthropolo-
gischen Gesellschaft in Wien waren in den ersten zehn Jahren ihres Erscheinens
nur vereinzelt einschlägige Aufsätze (etwa des Völkerkundlers Felix Philipp
Kanitz) erschienen. Es fehlte an geeigneten Autoren – und nicht am Bedarf des
Vielvölkerstaates.44 Kein Wunder daher, dass in der am 8. Februar abgehaltenen
Jahresversammlung dieser Mangel mit drastischen Worten beklagt wurde. Es
sei zu bedauern, „dass die Culturzustände der Völker Oesterreichs noch immer
keinen Beobachter in unserem Kreise gefunden haben, und dass ihr sowohl an
sich, als auch für die Erkenntnis der Vergangenheit so wichtiger Besitz volks-
thümlicher Kunst und Gewerbe-Erzeugnisse noch immer keine Stätte findet,
43 Much, M.: Bericht über die Versammlung österreichischer Anthropologen und Urge-
schichtsforscher am 28. und 29. Juli 1879 zu Laibach. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in
Wien X (1880), pp. 104–114.
44 Ranzmeier 2013, p. 73ff.
wo er dauernd der Zukunft erhalten würde, obwohl ihn jeder Tag unserer in
vollständigem Umschwung begriffenen Zeit auf das Empfindlichste schmälert.“45
Es war kein Geringerer als der aus einem alten österreichischen Adelsge-
schlecht stammende und 1882 zum Präsidenten gewählte Ferdinand Freiherr
von Andrian-Werburg, der, begründet durch seine Mitgliedschaft im „Redacti-
ons-Comité“ des Kronprinzenwerks, zum entscheidenden Förderer der Ethno-
grafie wurde. Andrian-Werburg hatte in Wien Geologie studiert, war daraufhin
an der k.k. geologischen Reichsanstalt beschäftigt und war, wie es in der 1914 von
Leopold von Schroeder zu dessen Tod verfassten „Gedenkrede“ heißt, 1879 „über
direkte Initiative Sr. Majestät des Kaisers in das Reichsministerium berufen und
mit der Organisation des gesamten Berg- und Forstwesens im Okkupationsge-
biet betraut“ worden. Das „Zusammenwachsen von Bosnien und der Herzego-
wina mit Oesterreich“ lag ihm, so schreibt von Schroeder weiter, so am Herzen,
dass er zur „naturwissenschaftlichen und ethnografischen Durchforschung des
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Balkanforscher Felix Philipp Kanitz49 sowie der 1882 in Wien promovierte Phi-
lologe und Folklorist Friedrich S. Krauss – tatsächlich einschlägig ausgebildet
und tätig waren.50
Wirklich aktiv wurde in der Ethnografischen Commission aber nur die „Sub-
commission für österreichische Ethnografie“, die am 13. Mai 1884 „nach ein-
gehender Debatte“ die „Drucklegung und Versendung der von Dr. Friedr. S.
KRAUSS verfassten ‚Fragebögen über die Ethnografie der Südslaven‘“ beschlos-
sen hatte.51 Krauss sollte mit seinen langen Reiseberichten, seinen vielen Vor-
trägen und seinen zahlreichen Veröffentlichungen über die „Ethnografie der
südslavischen Länder“ die, wie sie 1885 bezeichnet wurde, „Sub-Commission
für österreichische Ethnografie“ fast vollkommen bestimmen. Die darüberhi-
nausgehenden Pläne von größeren „ethnografischen Arbeiten in Österreich“
dagegen kamen, trotz des 1885 vollzogenen Obmannwechsels, aber nur zaghaft
in die Gänge.52
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49 Zu Kanitz vgl. Johler, Reinhard: Die ‚kleinen‘ Ethnologien und das ‚neue‘ Europa oder:
Perspektiven eines bulgarisch-österreichischen Wissenschaftskontaktes. In: Beitl, Klaus
/ Johler, Reinhard (Hg.): Europäische Ethnologie an der Wende. Perspektiven – Aufga-
ben – Kooperationen. Bulgarisch-österreichisches Kolloquium. Kittsee: Ethnografisches
Museum 2000, pp. 47–64.
50 Jahresversammlung am 12. Februar 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV
(1884), pp. [17]-[21].
51 Ausschusssitzung am 13. Mai 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p.
[68].
52 Jahresversammlung am 13. Jänner 1885. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XV (1885),
p. [7].
53 Jahresversammlung am 14. Februar 1888. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVIII
(1888), p. [21]-[29].
54 Jahres-Versammlung am 8. März 1892. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXII (1892),
p. [27].
Friedrich S. Krauss
Im Jahr 1884 sind von Friedrich S. Krauss in zwei Bänden die „zum großen
Teil aus ungedruckten Quellen“ stammenden Sagen und Märchen der Südslaven
herausgegeben worden. Dem ersten Band war, wie der Autor in dem seinem
universitären Lehrer Friedrich Müller gewidmeten Vorwort des zweiten Ban-
des mit Stolz erläuterte, ein großer Erfolg beschieden gewesen. Er war so gut
wie ausverkauft – und Krauss scheute sich daher angesichts des im selben Jahr
in den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien erschienenen
Aufsatzes Die südslavischen Hexensagen auch nicht, in einen überschwängli-
chen, programmatischen Ton zu verfallen, der recht treffend die folgenden Jah-
re – Krauss‘ unbändiger Elan ebenso, wie heftige inhaltliche und persönliche
Konflikte, in die er verwickelt war – vorwegnahm. Krauss, der sich als „Mann
der Wissenschaft“ sah, wandte sich zum einen – und mit besonderem Blick auf
seine „südslavischen Brüder“ – gegen jede wie auch immer geartete „nationale
Tendenz“. Zum anderen aber musste er „vom ethnografisch-anthropologischen
Standpunkte aus“ gegen heftige Kritik etwa des äusserst renommierten Wiener
Slawisten Vratolsav Jagić sein neues Forschungsfeld und seinen methodischen
Zugang begründen. Krauss sah die „Überlieferung der Volksliteratur“ auf der
gleichen Stufe wie die „höfische Kunstliteratur“ angesiedelt und versprach, ers-
tere „dem Volke getreu nachempfunden und nacherzählt“ wieder zu geben. Die
damit eng miteinander verbundene „Slavische Cultur und Literaturgeschichte“
versuchte er gleichzeitig wortgewaltig als „Gegenstand“ an der Wiener Univer-
sität zu etablieren. Seine dafür gegebene Begründung führt direkt nach Bosnien
und Herzegowina. Es lohnt sich daher, seiner Argumentation genau zu folgen:
Bei der Occupation Bosniens büßten zehntausend58 österreichische Söhne diesen
Irrtum mit ihrem Leben. Hundert Million Gulden wurden dem Staatsschatz entrissen.
Land und Leute von Bosnien waren zur Zeit der Occupation den Österreichern weni-
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ger bekannt als Tonking. Durch Waffengewalt kann wohl ein Land erobert und zeit-
weilig in Zaum gehalten werden, in dauernden Besitz kann man es nur dann behalten,
wenn man die Interessen der neuen Mitbürger zu den eigenen zu machen versteht.
Wo besteht an einer deutschen Universität in Österreich ein Lehrstuhl für slavische
Literatur und Culturgeschichte? Nirgends. Wider ihren eigenen Willen sehen sich die
Südslaven Rußland in die Arme gedrängt. Und Rußland weiß diesen Vorteil gut auszu-
beuten. Die besten Kräfte werden unserem Staatswesen entzogen. Wenn man sich bei
uns nicht bei Zeiten aufrafft, so wird es mit den südslavischen Provinzen nicht anders
ergehen, als es uns mit unseren ehemaligen Errungenschaften in Italien ergangen ist.59
1884 war es für Krauss aber trotzdem ein wichtiger Schritt, dass in der Wiener
Anthropologischen Gesellschaft eine „Heimstätte österreichischer Ethnografie“
geschaffen worden war, die „zugleich das südslavische Volksthum gebührend“
würdigte60 und ihm selber nach Jahren der Unsicherheit erstmals berufliche
Perspektiven als Forscher eröffnete.
Friedrich S. Krauss war 1859 im slawonischen Požega als Sohn eines jüdi-
schen Kaufmanns und Bauernwirtes geboren worden. Die Zugehörigkeit zum
mosaischen Glauben und die ärmliche Herkunft aus der Provinz haben ihn,
wie Bernd-Jürgen Warneken überzeugend argumentiert hat, gleich mehrfach
marginalisiert – und sein weiteres Leben in Wien nachhaltig geprägt.61 Krauss
58 Diese Zahl ist deutlich zu hoch gegriffen, Vgl. den Beitrag von Clemens Ruthner zum
vorl. Sammelband (Besetzungen I)
59 Krauss 1885, p. XLI.
60 Krauss Friedrich S.: Sagen und Märchen der Südslaven. Zum großen Teil aus ungedruck-
ten Quellen. Leipzig: W. Friedrich 1884, pp. VII–LII.
61 Warneken, Bernd-Jürgen: Negative Assimilation. Der Volkskundler und Ethnologe Fried-
rich Salomo Krauss. In: Raphael, Freddy (Hg.): „…das Flüstern eines leisen Wehens…“ Bei-
träge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Konstanz: UVK 2001, pp. 149–170.
62 Ausschusssitzung am 8. Mai 1883. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XIII (1883),
p. 148.
63 Krauss, Friedrich S.: Ueber seine Reise in Bosnien und der Hercegowina. In: Mitt. der
Anthropolog. Ges. in Wien XV (1885), pp. 84–87.
64 Jahresbericht am 9. Februar 1886. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVI (1886), p.
[17]f.
Trotz dieser positiven Meldung aber war dem Fragebogen – er gehörte freilich
zu den ersten in der Anthropologie überhaupt – kein großer Erfolg beschieden.
Dies lag ein Stück weit in dessen Konzeption begründet. In der Ausschuss-
sitzung der Anthropologischen Gesellschaft in Wien am 13. Mai 1884 wurde der
von der Subcommission für österreichische Ethnografie eingereichte Antrag auf
Drucklegung und Versendung der von „Dr. FRIEDR. S. KRAUSS verfassten ‚Fra-
gebögen über die Ethnografie der Südslaven‘“ nach eingehender Debatte ange-
nommen.66 Der Fragebogen umfasste 740 umfangreiche Fragen, die neunzehn
Themenbereiche – von der Sprache über den Volksglauben bis hin zur Haus-
gemeinschaft reichend – abdeckten. Nicht alle Fragen, so gestand Krauss zu,
müssten beantwortet werden, aber alle Mitteilungen würden zu regelmäßig ver-
öffentlichten Berichten führen. Bei Bedarf könne der Fragebogen unentgeltlich
in kroatisch-serbischer Sprache zugesandt werden. Krauss bat daher – bevor es
zu spät sei – „die intelligenten Kreise des slavischen Südens unsere rein wissen-
schaftlichen Bestrebungen für die Erweiterung der Kenntnis des südslavischen
Volksthums ehestens und bereitwilligst“ um Unterstützung.67
Der Misserfolg mit dem Fragebogen leitete für Krauss eine Phase erheblicher
persönlicher wie auch wissenschaftlicher Rückschläge ein. 1887 scheiterte sein
Versuch einer kumulativen Habilitation – und damit der angestrebten Erlan-
65 Jahresversammlung am 8. Februar 1887. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVII
(1887), p. [10]f.
66 Ausschusssitzung am 13. Mai 1884. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p.
[68].
67 Krauss, Friedrich S.: Ethnografische Fragebögen der Anthropologischen Gesellschaft in
Wien. 1: Die Südslaven. Wien: Hölder 1884.
gung einer venia legendi für das „Fach der slavischen Literatur mit bes. Hervor-
hebung der Volksliteraturen“ – an der Universität Wien. Er machte dafür eine
philologisch dominierte und mit „chrowotischen Akademikern“ unter Führung
von Vratoslav Jagić besetzte Kommission verantwortlich. Da Krauss mit dem
Selbstmord von Kronprinz Rudolf einen bedeutenden Förderer und mit dem
krankheitsbedingten, langsamen Ausscheiden von Friedrich Müller aus dem
Vorstand der Anthropologischen Gesellschaft seinen wichtigsten Mentor verlor,
entschied er sich nach heftig geführten inhaltlichen Debatten 1889 zum Austritt.
Seine wissenschaftlichen Interessen veränderten sich zunehmend in Richtung
einer ethnologischen Sexualwissenschaft, sein „südslavisches“ Forschungsfeld
sollte aber ein Leben lang dasselbe bleiben.68
1893 sollte Friedrich S. Krauss in seiner eigenen, 1890 gegründeten Zeitschrift
Am Ur-Quell eine pessimistische Prognose für die Zukunft seiner Disziplin gege-
ben: „Geben wir uns keiner Selbsttäuschung hin, sondern gestehen wir es offen
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und unumwunden ein, dass Volkskunde noch gegenwärtig in Europa eine der
unpopulärsten und am wenigsten beachteten Wissenschaften ist.“69 Dies aber
sollte sich schnell mit einem Wissenschaftler ändern, der gleichfalls Mitglied
der Anthropologischen Gesellschaft in Wien – nicht aber in deren Ethnografischen
Commission – war: Michael Haberlandt.
68 Zur Biografie siehe Burt, Raymond L.: Friedrich Salomon Krauss (1859–1938). Selbstzeug-
nisse und Materialien zur Bibliografie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers
mit einem Nachlassverzeichnis. Wien: Verlag der ÖAW 1983.
69 Krauss, Friedrich S.: Rezension der Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn 1893. In: Am
Urquell 4 (1893), pp. 151–152.
70 Krauss, Friedrich S.: Rezension von M. Haberlandt: Ueber tulapurusha der Inder. In: Am
Ur-Quell 1 (1890), p. 35.
71 Vgl. zu Michael Haberlandt und zu den genannten Gründungen Nikitsch, Herbert: Auf
der Bühne früher Wissenschaft. Aus der Geschichte des Vereins für Volkskunde (1894–
1945). Wien: Selbstverl. des Vereins für Volkskunde 2006.
sie sich – wie pragmatisch nach der Jahrhundertwende verstärkt realisiert – als
Wiener „Vermittlungsstelle“ zwischen den „nationalen Betriebsstellen der hei-
mischen Volkskunden“72 positionieren, und drittens konnte sie, wie zu Beginn
in Angriff genommen, eine über-nationale, den cisleithanischen Landesteil ab-
bildende Disziplin werden, die ihre durchaus hegemonialen Zielsetzungen in
den entfernteren Kronländern, noch mehr aber in der okkupierten Peripherie
von Bosnien-Herzegowina mit einer eigenen „bosnischen Volkskunde“ durch-
zusetzen versuchte.
In seiner 1895 zum 25-jährigen Bestand der Anthropologischen Gesellschaft
in Wien gehaltenen Rede hatte deren Präsident Ferdinand von Andrian-Wer-
burg die Gründung eines eigenständigen Vereins für österreichische Volkskunde
zwar mit anerkennenden Worten begrüßt, deren Initiatoren aber mit auf den
Weg gegeben, „dass die österreichische Volkskunde den Zusammenhang mit
der allgemeinen Ethnografie, welcher die Grundlage ihrer Entwicklung bietet,
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niemals verlieren möge.“73 Gemeint war damit die weitere Anbindung an die
Anthropologische Gesellschaft zum einen und die Fortführung der in der Ethno-
grafischen Commission begonnenen Forschungen zum anderen. „Die Volkskun-
de“, so hat Michael Haberlandt auf diese Mahnung geantwortet, sei zwar eine
„junge Wissenschaft“, doch „durch das Zutreten der Ethnografie gefestigt und
ausgebildet“. Ihre Methoden gehörten noch „vielfach verfeinert und verbessert“,
aber im Moment fehle es in der „volkskundlichen Schulung“ vor allem an „kun-
digen Beobachtern“ – und zwar auf dem „volkskundlichen Gebiet in Bosnien“
ebenso „wie andernwärts auch“.74 An einer Weiterführung dieser Forschungen
aber ließ Haberlandt keinen Zweifel. Diese sollten gemeinsam mit den Kollegen
in Sarajevo als „bosnische Volkskunde“ bzw. von Wien aus als „Volkskunde des
Occupationsgebietes“ betrieben und somit die „vergleichende Richtung“ der ös-
terreichischen Volkskunde gestärkt werden.75 Michael Haberlandt hatte dafür in
seiner „Vorerinnerung“ im zweiten Jahrgang seiner Zeitschrift für österreichische
Volkskunde 1896 die Richtung vorgegeben:
Die Volkskunde des Occupationsgebietes, auch in wissenschaftlicher, wie in ökono-
mischer Beziehung des Hinterlandes von Dalmatien, fügt sich neu in den Rahmen
unserer Aufgaben ein. Das südslawische Volksthum, welches sich in verschiedenen
Färbungen von dem Friaulanischen Gebirge bis über den Balkan erstreckt, schließt die
72 Haberlandt, Michael: Der Verein für österreichische Volkskunde. 1894–1904. In: Zeit-
schrift für österreichische Volkskunde 10 (1904), pp. 177–181.
73 Festrede des Präsidenten Ferdinand Freiherr v. Andrian-Werburg. In: Mitt. der Anthropo-
log. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [17–24].
74 Ibid.
75 Haberlandt, Michael: Rezension Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der
Herzegowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2 (1896), pp. 117–127.
Im selben Jahrgang der Zeitschrift für österreichische Volkskunde war eine Ab-
bildung der Aladža-Moschee in Foča zu sehen. Trotzdem sollte es aber in der
Folge schwer fallen, die gemachten Ankündigungen für eine „Volkskunde des
Occupationsgebietes“ in die Tat um zu setzten. Was aber auffällt, ist eine deutli-
che Verschiebung: Konzentrierten sich die Forschungen von Friedrich S. Krauss
noch auf die Sammlung mündlicher Überlieferungen der „Südslaven“, so war die
österreichische Volkskunde ab Mitte der 1890er Jahre mehr an Objekten – und
damit an einer stärkeren Integration von Bosnien-Herzegowina in die mate-
rielle Repräsentation der österreichisch-ungarischen Monarchie – im Wiener
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76 Haberlandt, Michael: Vorerinnerung. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 2 (1896), pp.1–2.
77 Vgl. dazu mit Blick auf die materielle Kultur Marchetti, Christian: Von hybriden Pflügen
und kultureller Neugestaltung. Volkskunde und Kolonialismus im Habsburgerreich. In:
Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 9 (2009), nr. 2, pp. 98–118.
78 Haberlandt, Michael: Der Verein für österreichische Volkskunde. 1894–1904. In: Zeit-
schrift für österr. Volkskunde 10 (1904), pp. 177–181.
79 Haberlandt, Michael: Rezension von Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und
der Herzegowina, 6. Bd., Wien 1899. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), pp.
38–39.
80 Meringer, Rudolf: Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien zum Hausrath.
Wien: C. Gerold's Söhne 1901. Vgl. dazu auch die 1902 erschienene Rezension von Micha-
el Haberlandt in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde.
81 Murko, Matthias: Zur Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Südslawen. In: Mitt.
der Anthropolog. Ges. in Wien XXXV (1905), pp. 308–330.
82 Zu Schneeweis zusammenfassend vgl. Johler, Reinhard Johler: Einbegleitung. Wissen-
schaftsbeziehungen. In: Čapo Žmegač, Jasna / Johler, Reinhard / Kalapoš, Sanja / Nikitsch,
Herbert (Hg.): Kroatische Volkskunde/Ethnologie in den Neunzigern. Ein Reader. Wien:
Selbstverl. des Inst. für Volkskunde 2001, pp. 9–27.
83 Schinnerer, Luise: Einiges über die bosnisch-herzegowinischen Strick- und Häkelarbei-
ten. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 4 (1898), pp. 13–18.
84 Lilek, Emanuel (Emilian): Familien- und Volksleben in Bosnien und der Herzegowina. In:
Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), pp. 23–30, 164–172, 202–225.
jene Eindrücke zusammen, die er von 1892 bis 1893 als Bezirksarzt in Kotor-Va-
roš gesammelt hatte.85
Zu den wenigen Ausnahmen gehörte im Umfeld der österreichischen Volks-
kunde die 1863 im kroatischen Bjelovar geborene Journalistin und Schriftstel-
lerin Milena Preindlsberger-Mrazović: Sie war eine doppelte Ausnahme – sie
war Frau und sie war landes- und sprachkundig. Preindlsberger-Mrazović war
nämlich mit ihrer Familie unmittelbar nach der Okkupation nach Sarajevo ge-
kommen. Dort arbeitete sie als Lehrerin und veröffentlichte etwa in der Bosni-
schen Post. Ihr Interesse aber galt der Ethnografie. Preindlsberger-Mrazović wird
zum Gründerkreis des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums gezählt. 1889
wurde sie als eine der ersten Frauen überhaupt als Mitglied in die Anthropologi-
sche Gesellschaft in Wien aufgenommen und hielt im Februar 1896 im Verein für
österreichische Volkskunde in Wien einen Vortrag über Bosnien-Herzegowina.86
Ihr 1900 erschienenes Bosnisches Skizzenbuch87 wurde daher von Michael Ha-
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Eben diese Kenntnis konnte Haberlandt aber bei den meisten seiner Autoren
nicht voraussetzen. Und zudem verlagerte sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr-
hunderts das Fachinteresse von Bosnien-Herzegowina zunehmend in Richtung
oberer Adria-Raum89 bzw. – politisch bedingt – nach Albanien. Und dies trotz
der 1908 erfolgten „Annexion der Occupationsländer“, die die „Aufgabe“ der
österreichischen Volkskunde in einer intensiv fortgesetzten „Ethnografie“ und
85 Udziela, Maryan: Ein Beitrag zur Volksthierkunde. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 8
(1902), pp. 105–118.
86 https://en.wikipedia.org/wiki/Milena_Mrazović.
87 Milena Preindlsberger-Mrazović: Bosnisches Skizzenbuch. Landschafts- und Culturbilder
aus Bosnien und der Herzegowina. Illustrirt von Ludwig Hans Fischer. Dresden: E. Pier-
son 1900.
88 Haberlandt, Michael: Rezension von Preindlsberger-Mrazović: Bosnisches Skizzenbuch.
In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), p. 255.
89 Johler, Reinhard: A local construction – or: What have the Alps to do with a global rea-
ding of the Mediterranean. In: Narodna Umjetnost. Croatian Journal of Ethnology and
Folklore 36 (1999), pp. 87–102.
90 Tätigkeitsbericht des Museums für österreichische Volkskunde für das Jahr 1909. In: Zeit-
schrift für österr. Volkskunde 16 (1910), pp. 65–77.
91 Curčić, Vejsil: Rezente Pfahlbauten von Donja Dolina in Bosnien. Wien: Gerold 1913.
92 Jahresbericht aus dem Verein für Volkskunde für das Jahr 1913. In: Zeitschrift für österr.
Volkskunde 20 (1914), pp. 63–68.
93 Hörmann, Constantin: Zur Geschichte des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums.
In: Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der Hercegowina 1 (1893), pp. 3–23.
geistigem Wohlstande gegeben, wie es sonst noch keinem Volke sonst zutheil ward.
Es erscheint als ein Zug vornehmster Dankbarkeit, dass das Land durch seine er-
leuchtete Regierung bereits dahin geführt wird, dem Westen als Abschlagzahlung für
die empfangenen culturellen Werthe ein durch einen Stab überaus eifriger Gelehrter
frisch erschürftes wissenschaftliches Material darzubieten.94
Damit war ein – wenn man will: kolonialer – Deutungsrahmen vorgegeben, der
bis zum Beginn des Weltkriegs von Seiten der österreichischen Forscher nicht
mehr hinterfragt wurde. Österreichische Volkskundler, wie der Ko-Gründer des
Vereins und des Museums für österreichische Volkskunde Wilhelm Hein, fügten
dem neben der vielbeschworenen Vielfalt der „ethnografischen Verhältnisse der
Bevölkerung“ noch die „seltene Gelegenheit“ hinzu, in Bosnien-Herzegowina
„altherbrachte Sitten und Gewohnheiten bis in die frühesten Zeiten verfolgen
und in ihrer Reinheit studiren zu können“.95 Und eben diese spezifische Ver-
knüpfung von eigener, in kurzer Zeit im Bosnisch-hercegowinischen Landesmuse-
um vollbrachter Zivilisationsleistung mit der exotisch-bunten Rückständigkeit
des umgebenden Okkupationsgebietes sollte auch die Wahrnehmungsfolie für
die in den 1890er Jahren gehäuft stattfindenden Besuche verschiedener wis-
senschaftlicher Gesellschaften in Sarajevo bilden. So fand dort vom 15. bis 21.
August 1894 eine „Archäologen- und Anthropologen-Versammlung“ statt. Die
Teilnehmer besuchten nach ihrer Ankunft gleich das Landesmuseum, lobten die
„mächtig anwachsenden Sammlungen“ sowie die hohe Qualität der am Museum
94 Szombathy, Josef: Rezension der Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und der
Hercegowina, 1. Bd., 1893, 2.Bd. 1894. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXIII (1893),
pp. 226–230.
95 Ibid., p. 230.
herausgegebenen Schriften und sahen dies als Ergebnis der großen „Thatkraft
der Forscher“ – und als eindeutiger Beweis dafür, was „wir während der 15
Jahre unserer Occupation in dem Lande gethan haben“.96 Denn die geschaffenen
„modernen Einrichtungen“ stünden für alle Teilnehmer im deutlichen Gegen-
satz zum später besuchten „Fest al la turca“.97
Recht ähnlich war auch der Verlauf der vom 2. bis zum 7. September 1895
nach Sarajevo führenden „Excursion der Anthropologischen Gesellschaft nach
Bosnien und der Hercegowina“, an der neben Michael Haberlandt, Franz Heger
und dem Prähistoriker Matthäus Much auch der berühmte deutsche Anthropo-
loge Rudolf Virchow teilnahm. Man besuchte in der Umgebung einen Bogu-
milen-Friedhof und wohnte der Vorführung eines Kolo-Tanzes bei. In Sarajevo
zeigte eine Stadtbesichtigung den Teilnehmern die „Sitten und Gewohnheiten
des Orients“. Und wiederum war das Bosnisch-hercegowinische Landesmuseum
nicht nur Beleg für die „Fürsorge einer weisen Regierung“, sondern auch der
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Beweis für das milde „Scepter eines grossen Culturstaates“. Franz Heger, von
dem dieser Bericht stammt, fügte hinzu, dass das Museum „das ureigenste
Werk des Reichs-Finanzministers v. KALLAY“ sei, „der demselben eine ganz
modern-wissenschaftliche Grundlage gab und zu dessen Lieblingsschöpfungen
es auch zählt.“98
Volkskundler, wie Michael Haberlandt, beklagten zwar im ersten Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts immer wieder, dass ihr Fach im Bosnisch-hercegowinische
Landesmuseum und den dort herausgegebenen Schriftenreihen nur ein „beschei-
denes, aber wohl ausgefülltes Plätzchen eingeräumt“ bekommen hätte99, aber sie
lobten gleichzeitig den von Benjámin v. Kállay initiierten und von der Monar-
chie vorangetriebenen „Wandel der Dinge“ – im Okkupationsgebiet und ab 1908
im annektierten Reichsland.100 Der Grund dafür war einfach: Der gemeinsame
Finanzminister hatte 1882, wie bereits erwähnt, Strategien entworfen, um Bos-
nien-Herzegowina zu modernisieren. Zu diesen zählten neben mehreren schar-
fen Verboten auch die angestrebte Schaffung einer gemeinsamen bosnischen
Landesidentität, die die Loyalität der serbischen, kroatischen und muslimischen
Bevölkerung sichern sollte. Eine Maßnahme dafür war, wie Diana Reynolds
Cordileone aufgezeigt hat, die kunstgewerbliche Schaffung eines verbinden-
den „bosnischen Stils“, der zwischen den Fachschulen und Museen in Wien
und Sarajevo erfunden werden sollte.101 Eine andere, aber durchaus ähnliche
Maßnahme war die von Wien aus geplante Etablierung einer über-nationalen
und über-konfessionellen „bosnischen Volkskunde“. Diese erschien den Wiener
Volkskundlern nämlich – so wie sie Bosnien-Herzegowina als Verkleinerung
des cisleithnischen Landesteils sahen – wie eine Miniatur der österreichischen
Volkskunde.
So wie die politischen Bemühungen für die Herstellung eines bosnischen
Landesbewusstseins scheiterten und auch die Erfindung eines „bosnischen Stils“
keinen Erfolg hatte, gelang es auch der österreichischen Volkskunde nicht, eine
„bosnische Volkskunde“ dauerhaft in Sarajevo zu etablieren. Die Gründe für
ihr Scheitern ähnelten dabei jenen, die den zeitgleich in Tirol unternommenen
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101 Reynolds, Diana: Die österreichische Synthese. Metropole, Peripherie und die kunst-
gewerblichen Fachschulen des Museums. In: Noever, Peter (Hg.): Kunst und Industrie.
Wien: Hatje Cantz, pp. 203–217.- Vgl. dazu auch den Beitrag von Maximilian Hartmuth
im vorl. Sammelband.
102 Haberlandt, Michael: Tätigkeitsbericht des k. k. Museums für österreichische Volkskunde
für das Jahr 1914. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 21–22 (1915–16), pp. 26–30.
verlauf auf dem Balkan eröffnete und ihr Untersuchungsfeld auf die von der
k. u. k. Armee besetzten Balkanländer erweitert hatte.103 Deren „wissenschaft-
liche Erforschung“ sah man ganz in der Tradition jener „Pflege der Volkskunde
und Volkskunst der Okkupationsgebiete“, wie sie „seit Dezennien“ von Verein
und Museum betrieben worden war.104 Dabei kam dem Sohn von Michael Ha-
berlandt, dem 1889 geborenen, 1911 promovierten und 1914 an der Universität
Wien habilitierten Arthur Haberlandt eine besonders große Bedeutung zu. Er
sollte von diesen Forschungen so nachhaltig geprägt werden, dass er sein gan-
zes Leben ein „intensives Verhältnis vor allem zur slawischen Volkswelt“ haben
sollte.105
Arthur Haberlandt war als Kriegsfreiwilliger an der Balkanfront zweimal
leicht verwundet worden, bekam dann aber – unterstützt von seinem Vater – die
Gelegenheit, sich an wissenschaftlichen Unternehmungen am Balkan beteiligen
zu können. Die wohl wichtigste war die 1916 vom k. k. Ministerium für Kul-
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tus und Unterricht initiierte und von der kaiserl. Akademie der Wissenschaften
in Wien entsandte „kunsthistorisch-archäologisch-ethnografisch-linguistische
Balkanexpedition nach den von den österreichisch-ungarischen Truppen be-
setzten Gebieten des südöstlichen Kriegsschauplatzes: Montenegro, Albanien
und Serbien.“ An dieser dreimonatigen „Expedition“ nahmen neben Haberlandt
auch Linguisten, Archäologen, Slawisten und Kunsthistoriker teil. Der Ertrag
dieser interdisziplinären Erhebungen – für die Volkskunde waren dies vor allem
fotografische und künstlerische Dokumentationen, Objekte und anthropologi-
sche Messungen – war entsprechend der gestellten „Aufgabe der Expedition in
ethnografischer Hinsicht“ vorgegeben:
eine Orientierung über die wichtigsten Bevölkerungsverschiebungen während des
Krieges zu erlangen; Vorarbeiten zur Anfertigung einer einwandfreien, die gegen-
wärtigen Verhältnisse wiedergebenden ethnografischen Karte, beziehungsweise
Kontrollierung des vorhandenen ethnografischen Kartenmaterials, besonders für die
serbisch-montenegrinisch-albanischen Grenzgebiete; Feststellung der Stammesbezie-
hungen und Blutracheverhältnisse; Orientierung über bedrohte volkskünstlerische
Denkmäler und entwicklungsfähige Hausindustrien.106
103 Zur Rolle der Volkskunde bzw. Anthropologie im Ersten Weltkrieg vgl. Johler, Reinhard /
Marchetti, Christian / Scheer, Monique (Hg.): Doing Anthropology in Wartime and War
Zones. World War I and the Cultural Sciences in Europa. Bielefeld: transcript 2010.
104 Zur wissenschaftlichen Erforschung der besetzten Balkanländergebiete. In: Zeitschrift für
österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 91–92.
105 Schmidt, Leopold: Arthur Haberlandt zum Gedächtnis. Nachruf und Bibliografie. In: Ös-
terr. Zeitschrift für Volkskunde XVII/67 (1964), pp. 217–271.
106 Österreichische Balkanexpedition. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 21–22 (1915–16),
p. 176.
ganisation und die Durchführung der „Balkanexpedition“, waren doch die betei-
ligten Forscher vom Kriegsdienst freigestellt worden. Gleichzeitig nutzten diese
in vielfältiger Weise während ihrer Erhebungen militärische Einrichtungen und
versuchten dabei, mit ihren Ergebnissen gleichzeitig auch den Militärs nützlich
zu sein. Dies zeigt sich etwa in einer an das Wissenschaftliche Komitee des k. u. k.
Kriegsminsteriums gerichteten „Denkschrift“ in der die für das Kriegsgeschehen
am dringlichsten scheinenden volkskundlichen Aufgaben aufgezählt wurden:
Namentlich wird auch auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, die gewonne-
nen ethnografischen und geografischen Erfahrungen zur Verbreitung eines grösseren
Wissens über die Ländergebiete unter allen Gebildeten auszuwerten, und zwar 1.
durch Aufnahme kurzer Aufsätze über Land und Leute auf der Balkanhalbinsel in die
Lehrbücher der militärischen Schulen; 2. Herstellung von Kinematogrammen und
Lichtbildern für Unterrichtszwecke; 3. Verbreitung kleiner lesbarer Leitfäden über
Land und Leute zum Gebrauch für Offiziere und Verwaltungsbeamte.110
Solche Intentionen einer „praktischen Volkskunde“ sind von Direktor des Mu-
seums für österreichische Volkskunde, Michael Haberlandt noch weiter verstärkt
107 Ausstellung von Volksarbeiten aus den Balkanländern. In: Zeitschrift für österr. Volkskun-
de XXI-XXII (1915–16), pp. 201–202.
108 Volkskundliche Ausstellung des Kaiser Karl-Museums aus den besetzten Balkangebieten.
In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 24 (1918), pp. 52–53.
109 Marchetti, Christian: Mobilisierung und Disziplinierung. Volkskunde und Balkanexpe-
dition im 1. Weltkrieg. In: Johler, Reinhard / Matter, Max / Zinn-Thomas, Sabine (Hg.):
Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung.
Münster et al.: Waxmann 2011, pp. 418–424.
110 Zur wissenschaftlichen Erforschung der besetzten Balkanländergebiete. In: Zeitschrift für
österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 91–92.
Noch während des Krieges hatte Arthur Haberlandt nicht nur erste „Berichte“
seiner „ethnografischen Arbeiten im Rahmen der historisch-ethnografischen
Balkanexpedition“112, sondern 1917 in Buchform auch bereits seine „Kultur-
wissenschaftlichen Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und
Serbien“113 veröffentlicht. 1919 ließ er die „Volkskunst der Balkanländer in ihren
Grundlagen erläutert“114 folgen. Von gleicher wissenschaftlicher Betriebsamkeit
war auch sein Vater Michael Haberlandt geprägt. Er publizierte 1920 sein Buch
Die Völker Europas und des Orients.115
Diese Veröffentlichungen sind noch ganz im Kontext einer, trotz des Krieges
im Aufschwung befindlichen österreichischen Volkskunde zu verstehen. Das
lange in einem Provisorium existierende Museum für österreichische Volkskunde
konnte 1917 in das Palais Schönborn übersiedeln und hatte gleichzeitig die Er-
laubnis bekommen, sich Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde zu
111 Haberlandt, Michael: Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme. Heraus-
gegeben von der Österreichischen Waffenbrüderlichen Vereinigung. Wien et al.: Fromme
1918.
112 Haberlandt, Arthur: Bericht über die ethnografischen Arbeiten im Rahmen der histo-
risch-ethnografischen Balkanexpedition. In: Mitteilungen der Geografischen Gesellschaft
in Wien LIX (1916), pp. 736–742.
113 Haberlandt, Arthur: Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro,
Albanien und Serbien. Wien: Verein für öster. Volkskunde 1917.
114 Haberlandt, Arthur: Volkskunst der Balkanländer in ihren Grundlagen erläutert. Wien:
Schroll 1919.
115 Haberlandt, Michael: Die Völker Europas und des Orients. Leipzig, Wien: Bibliografi-
sches Institut 1920.
nennen.116 Kein Wunder daher, dass man sich angesichts des ersehnten Sieges
erhoffte, die eigene „Balkan-Abteilung“ zu einer „kulturwissenschaftlichen Zen-
trale für alle Balkanländer und deren Bevölkerung sich beziehenden Aktionen
und Arbeiten“ machen zu können.117
Die Kriegsniederlage und der Untergang der Habsburgermonarchie haben
diesen Träumen ein schnelles Ende bereitet. „Der große Angriff nach dem Süd-
osten“, so hat der Doyen der österreichischen Volkskunde Leopold Schmidt in
seiner 1960 veröffentlichten Geschichte des Österreichischen Museums für Volks-
kunde festgehalten, „musste Stückwerk bleiben“ und war ebenso „utopisch“ wie
das mit der Ethnografischen Commission118 begonnene Wiener Bemühen um eine
„europäische Völkerkunde“.119 Paradoxerweise hat die österreichische Volks-
kunde ihre universitäre Etablierung auch erst unter nationalstaatlicher Flagge
in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts als „deutsche Volkskunde“
gefunden. Erst dadurch hat sie sich von der internationalen anthropologischen
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116 Haberlandt, Michael: Das Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde. In: Zeit-
schrift für österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 1–6.
117 Tätigkeitsbericht des K. k. Kaiser Karl-Museums für österreichische Volkskunde für das
Verwaltungsjahr 1917. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde (24) 1918, pp. 57–68.
118 Schmidt, Leopold: Das österreichische Museum für Volkskunde. Werden und Wesen
eines Wiener Museums. Wien: Bergland 1960.
119 Vgl. dazu im Kontext europäischer Museumsentwicklung: Johler, Reinhard: The Inven-
tion of the Multicultural Museum in the Late Nineteenth Century: Ethnografy and the
Presentation of Cultural Diversity in Central Europe. In: Austrian History Yearbook XLVI
(2015), pp. 1–17.
120 Gingrich, Andre: Science, Race, and Empire. Ethnografy in Vienna before 1918. In: East
Central Europe 43 (2016), pp. 41–63.
121 Vgl. dazu auch: Marchetti, Christian: Kriegserfahrung und museale Sedimente. Das Mu-
seum für österreichische Volkskunde. In: Kott, Christina / Savoy, Bénédicte (Hg.): Mars
und Museum. Europäische Museen im Ersten Weltkrieg. Köln, Weimar, Wien: Böhlau
2016, pp. 69–82.
122 Führer durch das Museum für Volkskunde. Wien: Eigenverlag 1921.
123 Haberlandt, Arthur: Führer durch das Museum für Volkskunde. Wien: Eigenverlag 1930.
1. Einführung
Die österreichisch-ungarische Epoche in Bosnien-Herzegowina dauerte relativ
kurz. In nur 40 Jahren (1878–1918) erlebte aber das ganze Land einen starken
Emanzipationsprozess, dessen Folgen auch fast hundert Jahre danach in vielen
Lebensbereichen dieses Balkanstaates sichtbar sind. Die österreichisch-unga-
rische Verwaltung hat das Aussehen vieler bosnisch-herzegowinischer Städte
nicht nur nachhaltig verändert, sie hat auch eine für die damalige Zeit fort-
schrittliche mitteleuropäische Lebensweise in die vormals von den Osmanen
regierten Provinzen Bosnien und die Herzegowina gebracht. Es wäre an dieser
Stelle schier unmöglich, alle Reformen zu erwähnen, welche die k. u. k. Adminis-
tration in Bosnien-Herzegowina durchführte, um das Land in den Apparat der
Donaumonarchie einzugliedern: Straßen wurden nummeriert, die Verwaltung
neu organisiert, das erste staatliche Schulsystem des Landes errichtet und Glau-
bensgemeinschaften reformiert. All das geschah parallel zur Industrialisierung
des Landes. Obwohl der administrative Status Bosnien-Herzegowinas bis zur
Annexion 1908 unklar war und die Donaumonarchie relativ wenig tat, um die
politische Situation im Lande nachhaltig zu konsolidieren, wurde Bosnien-Her-
zegowina unmittelbar nach der Okkupation in die k. u. k. Zollverwaltung ein-
gegliedert; in der neuformierten Administration fanden aber fast ausschließ-
lich nur Beamte einen Platz, die aus anderen Teilen der Donaumonarchie nach
Bosnien-Herzegowina zuzogen.1 Beide Provinzen wurden schließlich zu einem
„Reichsland“ erklärt und direkt dem österreichisch-ungarischen gemeinsamen
Finanzministerium unterstellt.
1 Für einen kompakten Überblick über die Geschichte Bosniens unter k. u. k. Verwaltung
vgl. Malcolm, Noel: Geschichte Bosniens. Frankfurt/M.: Fischer 1996, hier p. 170.
2 Ibid.
3 Siehe Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche
(1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg
1994, p. 76.
4 Die Entstehung dieses Beitrags ist ebenfalls dem Landesmuseum Bosnien-Herzegowinas
in Sarajevo zu verdanken, das in seiner bestandsreichen Bibliothek auch jene Ausgabe
der Zeitung Bosnische Post aufbewahrt, die als Quelle für die sprachliche Analyse heran-
gezogen wurde. Deshalb ist dieser Aufsatz auch dieser wertvollen Institution gewidmet,
die seit der Unterzeichnung des Daytoner Abkommens immer wieder um ihre Existenz
bangen muss.
• Schließlich spricht man von einer vierten Phase nach 1914, die sich durch
eine serbenfeindliche Haltung auszeichnete – die kyrillische Schrift wurde
verboten, die Sprachbezeichnung blieb aber weiterhin „Serbo-Kroatisch“.
Trotz der gespannten sprachpolitischen Lage zur k. u. k. Zeit in Bosnien-Herze-
gowina hat die damalige Landesregierung einige zukunftsweisende Beschlüsse
gefasst. So entschied sie sich im Jahre 1883 offiziell für die Einführung der pho-
nologischen Rechtschreibung nach dem Prinzip Vuk Karadžićs. Es wurde eine
Kommission aus Vertretern aller drei Konfessionen ins Leben gerufen, die sich
um die Sprache in den Schulbüchern kümmern sollte. Nach den Empfehlun-
gen dieses Gremiums wurde auch die besagte erste bosnische Grammatik von
Vuletić verfasst. Somit ist diese Grammatik eines der ersten modernen Sprach-
handbücher, die im sog. „Süddialekt“ („Južno narječje“) geschrieben wurde, also
im Neustokawischen als Basis der späteren serbokroatischen/kroatoserbischen
Sprache bzw. des heutigen Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und
Serbischen.13
Parallel zur Diskussion um den Status der Landessprache, deren Benennung
und die Sprachpolitik im Allgemeinen befand sich die Sprache in Bosnien-Her-
zegowina einer starken Internationalisierung ihres Wortschatzes ausgesetzt.
Mit der Etablierung der neuen k. u. k. Verwaltung, zahlreichen Reformen und
nicht zuletzt mit der Einführung eines westlich geprägten Lebensstils wurden
Idioms nicht mächtig waren.14 Was den Parteienverkehr betraf, so wurde die
Verwendung der Amtssprache(n) nicht systematisch geregelt, sondern durch
entsprechende Erlässe in der Justiz, im Gerichts- sowie im Schulwesen separat
definiert. Seit Anbeginn wurde mit der lokalen Bevölkerung in der Landesspra-
che kommuniziert; Anträge konnten aber außer in der Landessprache auch auf
Deutsch, Ungarisch und Türkisch gestellt werden.15 Außerdem mussten alle
Gerichtsbeamten des Deutschen mächtig sein.
Eine gewisse Verfestigung des Deutschen als Amtssprache trat nach dem
Rücktritt der Okkupationsverwaltung General Philippovichs bzw. nach der
Übernahme des Gemeinsamen Finanzministeriums durch Benjamin Kállay ein.
Im provisorischen Regierungsstatut vom 16. Februar 1879 wurde festgelegt, dass
die Amtskommunikation der Landesregierung mit den Magistraten in den Städ-
ten auf „Serbo-Kroatisch“, mit Bezirken und höheren Verwaltungsebenen aber
auf Deutsch zu vollziehen wäre.16 Dazu war Deutsch seit 1881 die Amtssprache
des inneren Gerichtsverkehrs und die Dienstsprache in der k. u. k. Armee. So
musste die Korrespondenz sämtlicher Verwaltungsebenen mit dem Militär auf
Deutsch geführt werden. Die Kommunikation der bosnischen Landesregierung
14 Vgl. Juzbašić, Dževad: Jezička politika austrougarske uprave i nacionalni odnosi u Bosni
i Hercegovini [Die Sprachpolitik der österreichisch-ungarischen Verwaltung und natio-
nale Beziehungen in Bosnien-Herzegowina]. In: Ders.: Politika i privreda u Bosni i Her-
cegovini pod austrougarskom upravom [Politik und Wirtschaft in Bosnien-Herzegowina
unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung]. Sarajevo: Akademija nauka i umjet-
nosti Bosne i Hercegovine 2002 (= Odjeljenje društvenih nauka 35), p. 386.
15 Ibid., p. 390.
16 Vgl. ibid., p. 392.
mit anderen Ministerien aus der Monarchie verlief ebenfalls auf Deutsch (außer
mit Dalmatien).17
17 Ibid., p. 393.
18 Džaja 1994, p. 94.
3.2. Orthografie
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Hinsichtlich der Orthografie weisen die Wörter eine breite Vielfalt auf. Das ist
auf mehrere Gründe zurückzuführen: Wie bereits festgestellt wurde, hat man
in den ersten Jahren der k. u. k. Herrschaft die reformierte phonologische Recht-
schreibung nur bedingt angewendet – in Bosnien-Herzegowina spürte man
auch Einflüsse einer etymologischen Schreibung, die damals in Kroatien im Ge-
brauch war. Andererseits war zur damaligen Zeit die phonologische Schreibung
unter kroatischen Sprachwissenschaftlern ebenfalls auf dem Vormarsch, was
erklärt, warum jene Schreibweise nur bei einer äußerst geringen Anzahl der
Wörter festzustellen ist. Zudem führte die Übernahme fremdsprachlicher und
internationaler Lexik (insbesondere aus dem Deutschen bzw. über das Deutsche
als Vermittlersprache) zu einer gewissen Verunsicherung bei der Schreibung
bzw. zur Übernahme der Fremdschreibung (insbesondere aus dem Deutschen).
Interessanterweise werden alle angeführten Wörter großgeschrieben und nicht
– wie es bei einer Aufzählung üblich ist – mit Komma, sondern mit Punkt von-
einander getrennt. Die Großschreibung könnte unter Umständen darauf hin-
deuten, dass der Listenverfasser unter einem starken Einfluss des Deutschen
stand, zumal auch manche Wörter in der Liste ohne jegliche Adaption aus dem
Deutschen übernommen wurden. Dementsprechend lässt sich das Material or-
thografisch in folgende Gruppen einteilen:
1. Phonologische Orthografie: Die reformierte Rechtschreibung Vuk
Karadžićs findet bei den meisten Wörtern ihre Anwendung, z. B.: Aneksija.
Apsolutizam. Audijencija. Culag. Eksproprijacija. Fantazija. Ferdehter. Fertik.
Filozofija. Foršus. Justicija. Konferencija. Konzorcija. Policija. Specijalitet. Ženi-
ja usw.
3.3. Etymologie
Hinsichtlich der Etymologie entstammen die meisten Wörter dem Lateinischen
bzw. Griechischen, eine gewisse Anzahl sind auch französischer oder deutscher
Herkunft. Was aber aufgrund der Schreibung bzw. der Morphologie sichtbar
ist, ist die Rolle des Deutschen – bzw. des österreichischen Deutsch – als Ver-
mittlersprache, die man auch im administrativen Bereich beobachten kann. Der
Wortschatz der k. u. k. Beamtensprache verfügte im Vergleich zum damaligen
reichsdeutschen administrativen Wortschatz über mehr Lexeme lateinischer
Herkunft, weil der Wiener Hof – im Unterschied zum Berliner Hof – sogar
bis zum Ersten Weltkrieg Latein als offizielle Briefsprache beibehielt.20 Diese
Charakteristik der österreichischen Verwaltungssprache ist bis heute erhalten
geblieben.
Im Folgenden werden die Lexeme samt Herkunftsangaben – gruppiert nach
Herkunftssprachen – angeführt. Als Quelle für die Etymologie wird das Fremd-
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20 Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das
Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter 1995, p. 179.
21 Vgl. Anić, Vladimir/Goldstein, Ivo: Rječnik stranih riječi [Fremdwörterbuch]. Zagreb:
Novi Liber 1999.
22 Vgl. DUDEN Universalwörterbuch. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim et al.: Bi-
bliografisches Institut & Brockhaus 42001.
binatio), Komunikacija, Koncept (dt. Konzept > lat. conceptus), Koncesija (dt.
Konzession < lat. concessio), Konferencija (dt. Konferenz < lat. conferentia),
Konfuzija, Konstitucija, Konvencija, Konzistorium, Konzorcija, Koresponden-
cija, Kultura, Liberacija, Licitacija, Likvidacija, Limitacija, Literatura, Magis-
trat (dt. Magistrat < lat. magistratus), Material (dt. Material < lat. materiale),
Memorandum (dt. Memorandum < lat. memorandus), Mobilizacija, Okupacija
(dt. Okkupation), Opozicija, Organizacija (dt. Organisation < lat. organisatio),
Original (dt. Original < lat. originalis), Pensija (dt. Pension < fr. pension < lat.
pensio), Preparandija (dt. Präparandschule < lat. praeparandus), President (dt.
Präsident < praesidens), Presidium, (dt. Präsidium < lat. praesidium), Privilegi-
ja, Procedura (dt. Prozedur < fr. procedure < lat. procedere), Profesor, Profit (dt.
Profit < fr. profit < lat. profectus), Proklamacija, Propaganda (dt. Propaganda <
lat. Congregatio de propaganda fide), Protekcija, Provizorium (dt. Provisorium
< lat. provisum), Reforma, Rekurirati (dt. rekurrieren < lat. recurrere), Restau-
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racija, Resultat (dt. Resultat < fr. résultat < lat. resultatum), Revizija, Sekretär
(dt. Sekretär < lat. secretarius), Servus (dt. servus < lat. servus), Situacija, Statut,
Stipendija, Student (dt. Student < lat. studens), Špekulacija (dt. Spekulation
< lat. speculatio), Teritorium, Transport (dt. Transport < fr. transport < lat.
transportare), Tribuna, Triumpf (dt. Trumpf und Triumph < fr. triumphus),
Ultimatum (dt. Ultimatum < lat. ultimus).
2. Aus dem Griechischen: Akademija (lat. academia < griech. akadḕmeia),
Amnestija, Analizacija, Anarhija, Arhiva (dt. Archiv < griech. arkheȋon), Ar-
hitekt (dt. Architekt < lat. architectus < griech. arkhitéktón), Aristokracija,
Autonomija, Bomba (span. bomba < lat. bombus < griech. bómbos), Demokra-
cija, Despotizam (dt. Despotismus < griech. despótēs) Dinastija, Ekonomija,
Fantazija, Filozofija, Gimnazija, Idea, Karakter, Monarhija, Policija (dt. Polizei
< fr. police < lat. politia < griech. politeía), Simpatija, Skandal (dt. Skandal <
lat. scandalum < griech. skándalon).
3. Aus dem Französischen: Adresa, Arsenal, Artiljerija, Birokracija, Civilizaci-
ja (dt. Zivilisation < fr. civilisation), Debata (dt. Debatte < fr. débat), Deložirati
(dt. delogieren < fr. déloger), Demoliranje, Diplomacija, Eksproprijacija (dt. Ex-
propriation < fr. expropriation), Garancija, Inžinir, Komunist (dt. Kommunist
< fr. communiste), Kondukter (dt. Kondukteur < fr. conducteur), Kvita (dt. quitt
< fr. quitte), Lojalitet (dt. Loyalität < fr. loyal), Profit, Remiza (dt. Remise < fr.
remise), Rezerva (dt. Reserve, fr. réserve), Režija (dt. Regie < fr. régie), Šef (dt.
Chef < fr. chef), Tratuar, Ženija (dt. Genie < fr. génie)
4. Aus dem Deutschen: Asentirung, Atentat, Culag, Diurnist, Fakelzug, Fertik,
Festzug, Feudalizam (dt. Feudalismus < lat. feud < ahd. feod), Foršus, Germa-
nizam, Hofrat, Intendanzija, Kanalizacija, Kancelist, Knabenpensionat, Konce-
pist, Konzert (dt. Konzert < ital. concerto), Lieferacija, Natirlih, Nihilist, Paušal,
23 Für diese Analyse wurde folgendes Wörterbuch der bosnischen Sprache benutzt: Čedić,
Ibrahim/Kršo, Aida/Kadić, Safet/Hajdarević, Hadžem/Valjevac, Naila: Rječnik bosanskog
jezika [Wörterbuch der bosnischen Sprache]. Sarajevo: Institut za jezik 2007.
24 Stevanović, Mihajlo (Hg.): Rečnik srpskohrvatskog književnog jezika [Wörterbuch der
serbokroatischen Literatursprache]. Novi Sad, Zagreb: Matica Srpska/Matica Hrvatska
1967–1976 (Nachdr. 1990).
4. Schlussfolgerung
Die österreichisch-ungarische Epoche in der Geschichte Bosnien-Herzegowinas
brachte neben einer starken Urbanisierung und Industrialisierung des Landes
einen starken kulturellen Wandel mit sich, der sich auch in der Landessprache
niederschlug. Mit der Annäherung des Landes an die mitteleuropäische Kul-
tur und den Lebensstil kamen zahlreiche neue Wörter ins einheimische Idiom
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– ein wesentlicher Teil der Neologismen entfiel auf den sog. zivilisatorischen
Wortschatz, da insbesondere auf die Administration. Wie unsere Liste von 183
Wörtern aus einem Artikel der Tageszeitung Bosnische Post zeigt, zählen viele
dieser Neologismen zu den sog. Internationalismen (Latinismen, Gräzismen),
die meistens über die deutsche Sprache ins Bosnische kamen; ein kleinerer Teil
davon sind französischer oder deutscher Herkunft. Die meisten dieser Wörter
wurden bereits in der reformierten phonologischen Schreibung Vuk Karadžićs
ins Bosnische übernommen, bei einem kleineren Teil behielt der Listenverfasser
die etymologische oder sogar Fremdschreibung (aus dem Deutschen) bei. Ein
Großteil der angeführten Lexeme ist bis heute ein fester Bestandteil des bosni-
schen Wortschatzes geblieben.
Abkürzungsverzeichnis:
ahd. – Althochdeutsch
arab. – Arabisch
dt. – Deutsch
fr. – Französisch
griech. – Griechisch
ital. – Italienisch
lat. – Lateinisch
Als Idee kommt Kultur an vier historischen Krisenpunkten zur Geltung: wenn sie die
einzige sichtbare Alternative zu einer degenerierten Gesellschaft wird; wenn es so
aussieht, daß Kultur als Kunst und gutes Leben ohne tiefgreifenden sozialen Wandel
nicht mehr möglich ist; wenn sie die Begriffe vorgibt, nach denen eine Gruppe oder
ein Volk die politische Emanzipation erstrebt; und wenn eine imperalistische Macht
gezwungen ist, mit der Lebensweise der von ihr Unterjochten zurechtzukommen.
Die zwei letztgenannten Punkte dürften es gewesen sein, die die Idee der Kultur zum
vorrangigen Thema des 20. Jahrhunderts gemacht haben.1
Unser moderner Kulturbegriff, so bringt es Terry Eagleton auf den Punkt, wurde
seit der Moderne entscheidend von Nationalismus und Kolonialismus und einer
imperialen Anthropologie geprägt. Genau diese Momente findet man in ihrer
Zuspitzung, wie auch in ihrer inneren Widersprüchlichkeit, in bosnisch-herze-
gowinischen Kultur-Diskursen der habsburgischen Zeit (vor allem in der Lite-
ratur, wie auch in der Kunst, in der Linguistik, Wissenschaft und natürlich in
politischen Redeweisen); dieser Konflikt zwischen Nation und Imperium, der
nach Eagleton das 20. Jahrhundert dominieren wird, erfährt seine symbolische
Verkörperung und Narrativierung in den Schüssen des Gavrilo Princip vom 28.
Juni 1914.2
1 Eagleton, Terry: Was ist Kultur? München: C.H. Beck 2009, p. 39f.
2 Vgl dazu Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914.
Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016.
Die Entstehung der modernen bosnischen Literatur ist ein Ergebnis der
imperialen Konstellation. Um die Jahrhundertwende, also während der öster-
reichisch-ungarischen Besatzungszeit, konstituiert sich zum ersten Mal ein
Literaturbetrieb, es erscheinen Zeitschriften mit regelmäßigen literarischen
Beiträgen, Anthologien und Bücher werden veröffentlicht.3 Zum ersten Mal
treten auch Schriftsteller als selbständige bürgerliche Individualitäten auf, die
sich immer mehr von der Geistlichkeit als bis dato führender intellektueller
Schicht ablösen. Die Epoche 1878–1918 erscheint in vielerlei Hinsicht eine der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.4 Einerseits bedeutet sie einen deutlichen
Säkularisierungsschub in Kultursphären, und trotzdem gehört nach wie vor
der dominante Anteil der schriftstellerischen Produktion etwa dem Bereich der
religiösen Erbauungsliteratur an, was freilich damit zu tun hat, dass zu osma-
nischer Zeit der Bildungsbereich fast vollständig im Zuständigkeitsbereich der
Religionsgemeinschaften lag.5 Erst mit der österrechisch-ungarischen Verwal-
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tung bilden sich Voraussetzungen für die Entstehung neuer kultureller Eliten,
die zwar nicht alle völlig unabhängig vom Klerus agieren, deren Tätigkeitsfeld
nun aber im weiteren Sinne durchaus als ein säkulares anzusehen ist. So wird
erst in dem neuen staatspolitischen Rahmen ein Interesse an der Volkskultur
geweckt und erst hier bilden sich nationalpolitische Diskurse ab, in denen die
Kultur von zentraler Bedeutung wird. Diese Tendenzen gibt es vereinzelt auch
in der Spätphase des Osmanischen Reichs, z. B. bei dem Franziskaner Ivan Fran-
jo Jukić, oder sie machen sich in den kulturpolitischen Einflüsse aus Serbien
oder dem südslawischen Teil der Donaumonarchie bemerkbar; doch erst nach
der Okkupation werden diese Bemühungen systematisch und konkret. Neben
dem späten volksaufklärerischen literarischen Diskurs (etwa bei Mehmed-beg
Kapetanović-Ljubušak)6 meldet sich auch schon die hochsensible individualis-
nen Literatur in diesem Land mit dem nation building, also dem Kampf eines
Teils der intellektuellen Eliten gegen die österreichisch-ungarische Monarchie
und um die Bildung einer politischen Identität, in eins fällt. Darin, wie noch zu
zeigen sein wird, spielt die Kultur – und insbesondere Literatur und Sprache –
eine zentrale Rolle. Dabei ist die Lage keineswegs überschaubar: es bilden sich
einerseits spezifische Diskurse, die den Anspruch erheben, jeweils die Interes-
sen einer ethnoreligiösen Gruppe (serbisch-orthodox, katholisch-kroatisch und
bosnisch-muslimisch) oder einer Schicht innerhalb dieser Gruppe repräsentie-
ren wollen; andererseits sind auch gesamtbosnische wie auch transreligiöse
jugoslawische oder protojugoslawische Positionen vertreten. Vereinzelt melden
sich in dieser Gemengelage auch sozialistische Stimmen. Gemeinsam ist ihnen
allen, dass sie 'die Kultur' als entscheidende identitätsstiftende Kategorie ein-
setzen. Vor allem Literatur wird darin zu einem Medium der nationalen Eman-
zipation. Das ästhetische Bewusstsein ist in diesem Sinne in den meisten Fällen
vom Nationalbewusstsein kaum zu trennen. Literatur, Kultur und ihre Diskurse
werden damit zu einer Waffe im Kampf um die nationalpolitischen Ziele, zum
privilegierten Medium des politisch Imaginären.
tismus und Heimatliebe als seine Beweggründe an; gleichzeitig kritisiert er bosnische
Muslime, die ihre Kinder nicht auf neue Schulen (vor allem Gymnasien) schicken wollen
und sogar Land auswandern; vgl. Kapetanović -Ljubušak, Mehmed-beg: Narodno Blago.
Sarajevo: Sejtarija 1997, p. 9f. Er ist dabei nicht der einzige, der nationalen Patriotismus
mit Kaisertreue zu verbinden versucht.
Nun bleibt die politische Imagination der intellektuellen Eliten in Bosnien zwi-
schen 1878 und 1918 – wie auf der anderen Seite auch die Kultur- und Identi-
tätspolitik der österreichisch-ungarischen Verwaltung – keineswegs konstant,
sondern durchläuft mehrere Phasen. Grob lassen sich insgesamt fünf unter-
scheiden: die Anfangsphase zwischen 1878 und 1882, dann die zwar strenge,
aber zugleich kulturpolitisch fruchtbarste Regierungszeit Benjamin Kállays von
1882 bis 1903, die Periode bis zur Annexion 1908, die durch eine Liberalisierung
gekennzeichnet ist, dann die Zeit bis zum Attentat von Sarajevo und schließ-
lich die Kriegszeit. Während die Konstitutionsphase der Okkupationsherrschaft
zwar von raschen infrastrukturellen Veränderungen begleitet wurde (Bau der
Straßen und Eisenbahnstrecken), war sie kulturpolitisch von einem eher rigi-
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7 Schweiger-Lerchenfeld, Amand Frhr. von: Bosnien, das Land und seine Bewohner. Ge-
schichtlich, geografisch, ethnografisch un social-politisch. Wien: L.C. Zamarski 1878.
p. 145f.
8 Ibid.
9 Ibid.
Bosnien und der Herzegowina in den 400 Jahren vernachlässigt, verdorben und
verwahrlost worden ist, nicht in einem Tag, einer Woche oder in einem Monat
berichtigen und nachholen kann.“10
Solche Töne werden seit Anfang der achziger Jahre seltener. Zwar bleibt das
Zivilisierungsparadigma als Leitlinie der österreichischen Kulturpolitik in Kraft,
und auch das Narrativ von den dunklen vier Jahrhunderten taucht gelegentlich
auf. Doch die militante kolonialistische Rhetorik wird gemildert, so dass sich
die Einschätzung des ungarischen Historikers, Ethnologen und Gesandten der
k. u. k. Regierung Adolf Strausz11 einige Jahre später wie eine Selbstkritik liest:
Aber gerade die rasche äussere Veränderung, der stürmische Fortschritt ist es, welcher
die ernsteste Erwägung erheischt. Ist dieser Fortschritt nicht blos ein äußerlicher, ist
er wirklich in das innere Leben des Volkes eingedrungen? Ist er wahr und natürlich
oder nur ein bunter Blüthenstaub, den ein leichter Wind fortwehen kann, als wäre er
niemals dagewesen?12
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Denn, um das Innere der „Leute“ zu erreichen, kann man, so Strausz, nicht
einfach nur Verordnungen erlassen, will man „das in geistiger Finsternis da-
hinvegetierende Volk auf den Pfad der Civilisation und des Fortschritts“13
bringen. Vielmehr muss sich die Herrschschaftsmethode an die Gegebenhei-
ten anpassen: „Man darf dort nicht nach fremden Mustern regieren, wo man
gegen alles Fremde unsagbaren Hass empfindet.“ Strausz empfiehlt sogar eine
Schritt-für-Schritt-Methode, sogar eine taktische Orientalisierung der österrei-
chisch-ungarischen Politik, um das langfristige Ziel einer inneren Eroberung
zu erreichen: „Nicht der Occident, sondern der Orient muss der Regierung die
leitenden Principien bieten, denn es gilt den letzteren mit der Civilisation zu
verbinden Wenn die Regierung im orientalischen Geiste geleitet wird, wird
man sie nicht als eine fremde, sondern als eine nationale ansehen“14. Strausz
setzt sich hier für soft power ein, die sich dann in der kulturpolitischen Praxis
10 Anonym: „Jošt malo strpljenja!“ In: BHN 03 vom 08.09.1918, p. 1.- In derselben Ausgabe
im Feuilleton wird in einem Text, der halb Humoreske und halb politisches Pamphlet ist,
unter dem Titel „Turci u Zagrebu!“ gegen die bösen Türken gewettert, die die Masse zum
Aufstand gegen die Besatzung aufgewiegelt hätten, und nun viele dabei gestorben sind,
„statt in einer besseren Zukunft als Mitbürger des kroatischen Volkes zu leben“ (ibid.).
11 Paládi – Kovács, Attila: István Györffy – der ungarische Forscher in der Dobrudscha und
in Kleinasien. In: Grenzüberschreitungen. Traditionen und Identitäten in Südosteuropa.
Festschrift für Gabriella Schubert. Hg. von Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid und
Gerhard Ressel. Wiesbaden: Harrasowitz, pp. 439–446, hier p. 439.
12 Strausz, Adolf: Bosnien. Land und Leute. Historisch-ethnografisch-geografische Schilde-
rung.Wien: Gerold 1884, p. iv.
13 Ibid., p. v.
14 Ibid., p. vf.
15 Anonym: Die Lage der Mohammedaner in Bosnien. Von einem Ungarn. Wien: Adolf
Holzhausen 1900, p. 5.
16 Ibid.
17 Ibid.
18 Ibid., p. 6.
Diese Methode mag einen machtpolitischen Hintergrund gehabt haben, doch sie
hat ganz konkrete kulturpolitische Fakten geschaffen, die sich von ihrer ange-
nommenen ursprünglichen Intention emanzipiert haben und entscheidend zur
Ausdifferenzierung und sogar zur Autonomisierung der Kultursphären beige-
tragen haben. Diese Ausdifferenzierung hat weit über die österreichisch-ungari-
sche Periode das Kultur- und Wissenschaftsleben des Landes geprägt und stellt
bis heute ihre eigentliche Grundlage dar. Die Gründung zahlreicher Einrich-
tungen, insbesondere des Landesmuseums, die Förderung der ethnologischen
Studien, die Tätigkeit von wichtigen Kulturträgern wie Konstantin Hörmann
und Lajos Thallóczy19 etc. stecken den Rahmen ab, in dem selbst die autonomen
nationalen Kulturvereine wie die serbische Prosvjeta (1902), der bosnisch-mus-
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limische Gajret (1903), der kroatische Napredak (1902) und die jüdische La Be-
nevolencia (schon 1892) entstehen und eine rege Tätigkeit entfalten konnten.20
Es entstehen auch Literatur- und Kulturzeitschriften, die durchaus ein breites
Spektrum poetischer und politischer Optionen bieten, die gemäßigt serbischen
Bosanska vila (Sarajevo)21 und Zora (Mostar)22, die sich vor allem für kulturelle
Autonomie einsetzen, ebenso wie der bosnisch-muslimische Behar (Sarajevo)23
und später eher kulturislamische Biser (Sarajevo)24, der nationalbosniakische
19 Zu Letzterem vgl. die komplexe Würdigung in einem von der bosnischen Akademie der
Wissenschaften herausgebrachten Sammelband von Juzbašić, Dževad / Ress, Imre (Hg.):
Lajos Thallóczy, der Historiker und Politiker. Die Entdeckung der Vergangenheit von
Bosnien-Herzegowina und die moderne Geschichtswissenschaft, Sarajevo/Budapest:
ANU BiH 2010.
20 Siehe dazu exemplarisch Kemura, Ibrahim: Uloga „Gajreta“ u društvenom životu Musli-
mana Bosne i Hercegovine. Sarajevo: Svjetlost 1986.
21 Zur Entstehung und Entwicklung der Vila siehe die ausführliche Monografie von
Đuričković, Dejan: Bosanska vila. Književnoistorijska studija. Sarajevo: Svjetlost 1975.
22 Um die kurzlebige Zora versammelten sich die wichtigsten Mostarer Autoren, insbeson-
dere Svetozar Ćorović, der vielleicht wichtigste bosnisch-herzegowinische Prosaist der
Jahrhundertwende, der sensible Spätromantiker Aleksa Šantić und der formstrenge Mo-
dernist Jovan Dučić. Vgl. dazu Lešić 1991, pp. 381–406.
23 Zur komplexen und grundlegenden Rolle des Behar, einer Zeitschrift, die wie die Vila
nach 1990 wiederbelebt wurde, vgl. die Studie von Rizvić, Muhsin: Behar. Književnohis-
torijska monografija. Sarajevo: Svjetlost 2000. Zur Entwicklung in den anderen Künsten,
z. B. in der Malerei, vgl. Mladenović, Ljubica: Građansko slikarstvo u Bosni i Hercegovini
u XIX vijeku. Sarajevo: Veselin Masleša 1982.
24 Zu den vielen Paradoxien auf den ersten Blick gehört der Umstand, dass die „panis-
lamische“ Kulturzeitschrift von Musa Ćazim Ćatić, einem der wichtigsten Dichter der
Dekadenz, der berüchtigt für seine Alkoholexzesse war, geleitet wurde; zur Rolle der
Zeitschrift vgl. Tomić-Kovač 1991, pp. 399–419.
und offen proösterrreichische Bošnjak (Sarajevo)25, der auch von der Landes-
regierung massiv unterstützt wurde, und in der späteren Phase die radikal anti-
österreichische Otadžbina des bosnisch-serbischen Autors und Volkstribuns
Petar Kočićs26, von dem im letzten Abschnitt ausführlicher die Rede sein wird,
und noch viele mehr.27 Dabei verdient ein Periodikum einen besonderen Ex-
kurs, da es offenbar als Versuch, den ethnonationalen Projekten von oben eine
Alternative entgegenzusetzen, und die Kultursphäre wie auch die Diskurse des
Eigenen – also die Politik der Identität – den Händen des Nationalismus zu
entreißen: selbstverständlich nicht aus irgendwelchen idealistischen Vorstellun-
gen, sondern aus machtpolitischem Kalkül heraus. Es handelt sich hierbei um
Nada [„Hoffnung“], die wahrscheinlich seriöseste und jedenfalls bestredigierte
bosnisch-herzegowinische Literatur- und Kulturzeitschrift der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts.
Die treibende Kraft hinter der Gründung war Konstantin (Kosta) Hörmann,
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25 Zum Bošnjak s. Tomić-Kovač 1991, pp. 217–232; Lešić 1991, pp. 323–341.
26 Vulin, Miodrag M.: Kočićeva Otadžbina I–II. Sarajevo: Svjetlost 1991.
27 Zur Pressevielfalt in der Zeit zwischen 1878 und 1918 siehe Pejanović, Đorđe: Bibliogra-
fija š tampe u Bosni i Hercegovini 1850–1941. Sarajevo: Veselin Masle š a 1961, pp. 16–91.
28 Jergović, Miljenko: Kosta Hörmann – svemogući kušeraš, https://www.jergovic.com/aj-
felov-most/kosta-hormann-svemoguci-kuferas/, 30.11.2015.
29 Hörmann, Kosta: Narodne pjesme Muslimana u Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Svjetlost
1976.
30 Diese kulturausgleichende Technik wird später die im Zweiten Weltkrieg gegründete
und bis heute tonangebende bosnische Tageszeitung Oslobođenje übernehmen.
des Jahrgangs 1903 hielt die Redaktion fest, dass in Ermangelung des Interesses
unter den Abonnenten die kyrillische Ausgabe eingestellt werde, was schon als
erstes Signal für den Entzug der politischen Unterstützung gedeutet werden
könnte. Mit dem Tod Benjamin Kállays, der für politische Rückendeckung sorg-
te, wird auch die Zeitschrift – wie es offiziell hieß – aus finanziellen Gründen
eingestellt.31
Schon ein oberflächlicher Blick auf die Zeitschrift verrät, wie sich Nada be-
müht, ihre ambitionierten Forderungen zu erfüllen: Unter den regelmäßigen
Mitarbeitern finden sich Vertreter aller vier bosnisch-herzegowinischen Kon-
fessionen: von den muslimisch-bosniakischen Schriftstellern wirken dabei die
prominentesten Autoren wie Safvet-Beg Bašagić, Mehmedbeg Kapetanović-
Ljubušak und Edhem Mulabdić mit; unter serbisch-orthodoxen finden sich so-
wohl die schon erwähnte Aleksa Šantić als auch Jovan Dučić oder Svetozar
Ćorović, und von den kroatisch-katholischen Autoren Josip Milaković, aber
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31 Zum Hintergrund und zur Entstehung des Nada-Projekts vgl. Ćorić, Boris: Nada. Književ-
noistorijska monografija 1895–1903. Sarajevo: Svjetlost 1978.
Monarchie verfolgt. Doch diese politische Botschaft wird nie explizit; sie steckt
allein schon in der Bestrebung, einen Kultur- und Kunstbegriff jenseits von
ethnonationalen Separatismen zu schaffen, auch sogar jenseits von Politik. Es
geht um einen kospomolitischen, „neutralen Boden“ und damit mittelbar um
eine Autonomie der ästhetischen Sphäre.32
Nada hat ein Bosniertum und ein gegennationalistisches Jugoslawentum im
öffentlichen kulturellen Diskurs zu etablieren versucht, das gleichzeitig die ös-
terreichisch-ungarische Monarchie als eigenen staatlichen Rahmen anerkannte.
Dieses Experiment weist auf die später Franz Ferdinand zugeschriebenen Pläne
einer stärkeren Berücksichtigung und Integration der südslawischen Kompo-
nente in die staatliche Struktur voraus. Dieser habsburgische kulturelle Jugos-
lawismus ist ein interessantes Projekt, doch bekanntlich nur eine Fußnote der
Geschichte geworden, trotz des hohen Ansehens, das Nada in intellektuellen
Kreisen genoss. Die nationalistisch-separatistischen Tendenzen nahmen dann
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endgültig nach 1908 eindeutig überhand ebenso wie die Radikalisierung in der
jungbosnischen Bewegung. So wurde Nada nach 1918 als Regimeprojekt der
Schaffung einer „künstlichen“ bosnischen Nation belächelt und als solche vom
letztlich siegreichen Nationalismus verworfen.
Ein ungewöhnlicher und äußerst wichtiger Nebeneffekt des Projekts besteht
jedoch darin, dass Nada einen modernen, d. h. autonomistischen Literatur- und
Kulturbegriff durchsetzt. Das ist ein sehr bemerkenswertes Paradoxon, dass
ausgerechnet das tendenziell eher konservative Okkupationsregime die offens-
te und liberalste Kulturzeitschrift des Landes ins Leben gerufen hat, d. h. eine
liberale Kulturpolitik betreibt, die vor avantgardistischen Tendenzen keines-
wegs zurückschreckt, sondern diese auch noch fördert, oder vielmehr erst im
kulturellen Bewusstsein etabliert.
Die These von der kulturellen Kolonialisierung muss also angesichts des-
sen wenigstens kritisch ergänzt werden. Das Projekt der Nada jedenfalls setzt
auf das Gegenteil der kulturellen Fremdbestimmung: die intensive Pflege des
Eigenen wie auch eine Entideologisierung der kulturellen Sphäre. Dass dies
vor allem bedeutete, die Trennung von Kultur und Nationalstaatprojekten vo-
ranzutreiben, entsprach wiederum der Rahmenidee einer überkonfessionellen
Monarchie. Es ist eigentlich bis heute nicht ganz gelungen (bis auf wenige Pha-
sen in der jugoslawischen Literatur der 1970-er Jahre), das südslawische ästhe-
tische Feld von nationalistischer Agitation zu befreien bzw. wieder autonom
32 Siehe dazu den Aufsatz von Aida Gavrić, der zum ersten Mal einen entideologisierten
Blick auf die Zeitschrift wagt: Kosmopolitizam kao vid ispoljavanja višestrukog/sloje-
vitog identiteta pod imperijom u časopisu Nada (1895–1903). In: Sarajevske sveske 51
(2017), http://www.sveske.ba/bs/content/kosmopolitizam-kao-vid-ispoljavanja-visestru-
kogslojevitog-identiteta-pod-imperijom-u-casopis.
Art) gebunden werden – auf beiden Seiten der imperialen Konstellation. In of-
fensichtlicher Anlehnung an Hegels Herr-Knecht-Dialektik sieht Frantz Fanon
das Verhältnis von kolonisiertem Subjekt und kolonialistischer Macht als eine
Dynamik des Imaginären, in der der kolonisierte Intellektuelle davon träumt, an
die Stelle des Kolonialherrn zu treten.34 Sobald er sich selbst als den Kolonisier-
ten erkannt hat, strebt er danach, sich zu befreien, indem er die Machtverhält-
nisse umkehrt: Das kolonisierte Subjekt wird zu einem solchen, erst indem es
sich als solches erkennt. Kolonisierung gibt es demnach nicht an sich, sondern
nur insoweit man dieser bewusst ist und sie als solche imaginiert. Daraus folgt,
dass eine koloniale Konstellation keineswegs nur auf das äußere Verhältnis be-
schränkt werden kann, sondern sich, sozusagen, innerlich fortzeugt. Mit ande-
ren Worten: die Befreiung, d. h. die Umkehrung des ursprünglichen Machtver-
hältnisses, könnte durchaus zu einer neuen Kolonisierung führen. Es ist derselbe
imaginäre Raum der (Kultur)Herrschaft, der ständig befreit und erobert wird. Es
gilt ebenso hier an die Anfangsüberlegungen anzuknüpfen, dass es bei diesen
Motiven der „Besetzung“ und „Befreiung“ auf allen Seiten um ein othering, und
damit auch um eigene Identitätszuschreibungen und -codierungen geht. Dabei
zeigt sich, dass diese beiden Momente ständig ineinander übergehen und ein-
ander konterkarieren. Denn die Rhetorik der Befreiung von der vermeintlichen
33 Vgl. die zahlreichen Arbeiten auf der Forschungsplattform Kakanien revisited und die
Sammelbände der Reihe Kultur – Herrschaft – Differenz im Francke-Verlag, insbes. die
Beiträge von Clemens Ruthner. Siehe dazu v. a. seine neueste Monografie: Habsburgs
Dark Contintent. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und
Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018.
34 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Frankfurt/M:
Suhrkamp 1981, S. 51.
zegowinischen Landtag (Sabor), der dort mitunter für Tumulte sorgte.37 Er ist
der repräsentativste Fall eines Autors, der die Literatur konsequent als eine
nationale Praxis versteht, die in erster Linie dazu dient, eigene Volksgenossen
zur Freiheit zu führen. Jovan Dučić wird sein Werk als die „patriotischste Lite-
ratur in unserer Schriftlichkeit“ bezeichnen, die, so setzt der Dichter noch eine
nietzscheanische Wendung dazu, mit „Blut und Gift“ geschrieben würde.38
Kočićs bekanntestes und bedeutendes Werk ist das satirische Drama Der
Dachs vor dem Gerichtshof [Jazavac pred sudom, 1902]39, in dem das Rechts-
system der Landesregierung einer kritisch-ironischen Betrachtung unterzogen
wird. Die Hauptfigur David Štrbac, ein scheinbar naiver und ungebildeter ser-
bischer Bauer, bringt einen absurden Rechtsfall vor das Gericht: Er kommt zum
Gericht und bringt einen Dachs mit, den er verklagt, sein Korn aufgefressen zu
haben. Auf die Nachfrage des Richters, warum er den Dachs nicht sofort an Ort
und Stelle getötet hätte, erklärt Štrbac, er wisse nicht, was er nun tun dürfe und
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was nicht, er kenne sich in Gesetzen nicht mehr aus, was eine Anspielung da-
rauf ist, dass die Rechtslage durch österreichisch-ungarische Bürokratisierung
und Paragrafisierung unübersichtlich geworden war. Was dann folgt, verwan-
delt sich immer mehr in einen Prozess gegen das k. u. k. Rechtssystem selbst. Die
eigentliche außertextuelle Referenz ist die prekäre Lage des serbischen Bauern,
37 Es sei aus dem folgenden Zeitungsbericht zitiert „Die Serben warfen den Moslims Illoya-
lität vor, und als diese dagegen protestierten, warf der serbische Abgeordnete Professor
Petar Kocic den Pultdeckel gegen den moslemischen Abgeordneten Mustaj-Beg Mute-
velic, der ihn glücklicherweise nicht traf, sondern an ihm vorbeit in das Fenster schlug.“
(Neues Wiener Tageblatt v. 02.02.1911, p. 5)
38 Dučić, Jovan: Petar Kočić. In: Bosanska vila 7/8 (1911), pp. 97–101, hier p. 98.- Auch die
jungbosnischen Autoren erkl ärten Kočić zu ihrem Vordenker und großen Vorbild. Der
einflussreiche Ideologe der jungbosnischen Bewegung, Vladimir Gaćinović, schreibt
schon 1907, dass Kočić zu den wenigen gehöre, die die „zitternde und bangende Volkssele
entdeckt haben, alle Schmerzen und Regungen des Volks in der Masse“ (Gaćinović, Vla-
dimir: Pripovijetke Petra Kočića. In: Palavestra, Predrag (Hg.): Književnost Mlade Bosne
II. Sarajevo: Svjetlost 1965, pp. 253–256, hier p. 256. Vom selben Autor hei ßt es ein Jahr
später: „Das Werk Petar Kočićs ist für mich die kräftigste Satire unserer Generation. Es
hat Farbe, Sarkasmus, Schmerz und Herz. Es ist volle Seele unserer Rasse, die aus jeder
Ader dieses Werks hervorsprießt.“ (Gaćinović, Vladimir: Petar Kočić kao satiričar. In: Pa-
lavestra 1965, pp. 257–258, hier p. 258). Auch von Jovo Varagić gibt es auch einen hymni-
schen Artikel von 1914 (wiederabgedr. in Palavestra 1965, pp. 225–228). Dennoch gibt es
auch differenziertere Beitr äge. So wird in einer Notiz in der Bosanska vila neben allem
Lob auch kritisch angemerkt, dass das Werk noch unausgewogen sei und dass manchmal
die „Tendenz zu sehr hervorlugt“ (M., D. (Mostar): Naš književni rad. In: Bosanska vila
9/1907, p. 138.
39 Kočić, Petar: Jazavac pred sudom. In: Ders.: Sabrana djela. Knjiga 1. Sarajevo: Svjetlost
1967, pp. 171–199.
das Ergebnis eines ungerechten Systems, das darüber hinaus ein wesentlich
volksfremdes ist.
Einen Hintergrund bildet die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Landesregie-
rung, die anachronistische Agrar- und Kmetenfrage zu lösen. Ein sekundäres,
wenn auch ganz wichtiges Thema ist in diesem Stück wie auch im thematisch
verwandten Werk Sudanije die künstliche und unverständliche Sprache der
neuen Bürokratie, deren Vertreter zum großen Teil nach Bosnien aus anderen
slawischen Ländern der Donaumonarchie gekommen sind. Der Text oder viel-
mehr seine Hauptfigur ist in manchen intellektuellen proserbischen Kreisen
paradigmatisch geworden: ein einfacher Bauer, der über eine natürliche Intel-
ligenz verfügt,40 bezwingt mit seiner primordialen Logik eine moderne fremde
Rechtsordnung und legt ihre Absurditäten bloß. Es handelt sich eindeutig um
einen antikolonialen Gestus, zugleich aber auch um eine Modernitäts- und Zivi-
lisationskritik und einen Ausdruck der Sehnsucht nach vormodernen einfachen
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Verhältnissen. 41
40 Siehe dazu Moravčevich, Nicholas: The Village Story in Serbian Literature. The Peasant
in the Prose of Petar Kočić. In: The Slavic and East European Journal 21.4 (Winter 1977),
pp. 506–516.
41 Zur Modernekritik als antikolonialer Figur in der bosnisch-herzegowinischen Literatur
und auch bei Kočić siehe die sehr aufschlussreiche Studie von Vervaet, Stijn: " Naš car
ima za svašta zakon ". Kolonijalna modernost i nacionalni identitet u bosanskohercegova
č koj književnosti austrougarskog razdoblja. In: Slavistična revija 57.3 (2009), pp. 467–481.
42 Kočić, Petar: O lirici Đure Jakšića. In: Ders. Sabrana djela. Knjiga 2. Sarajevo: Svjetlost
1967, pp. 167–174.- Alle weiteren Quellennachweise zu diesem Werk erfolgen nach dieser
Ausgabe im Lauftext.
erklingt, als visionär aus der Tiefe des Kollektivs kommend dargestellt. Er ist
„schon immer seinem Volk treu gewesen“ (ibid.), und steigert sich damit zum
mythischen epischen Sänger, indem der komplexe Individualismus der Roman-
tik aufgehoben wird. Er wird damit zum Medium der heiligen Wahrheit des
Volkes. Am Ende des Essays skizziert er eine utopische Vision der Befreiung:
Es kommt vielleicht eine Zeit, mein Dichter und Märtyrer, in der für meinen und
deinen Märtyrer, den bosnischen Bauern […], die schöneren Tage kommen werden,
wenn jeder Flecken seiner Erde auch tatsächlich sein eigen sein wird. Und nun schlaf,
du lichtvollle und edle Inkarnation der höchsten Empfindungen der menschlichen und
serbischen Seele. (p. 174)
In einem anderen Aufsatz, den er 1907 in der von ihm selbst gegründeten Zeit-
schrift Otadžbina ["Vaterland"] veröffentlicht, räsoniert Kočić über die Rolle der
Dichter unter kolonialen Bedingungen. Zunächst stellt er fest, dass“wir schon
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seit dreißig Jahren unter einem strengen und gnadenlosen absolutistischen Re-
gime leben.”43“In diesem langen und finsteren Zeitabschnitt”, sagt er weiter,
habe das Volk große Übel erdulden müssen.
Die Volksseele und der Volkskörper erlitten viele Verfolgungen und Ungerechtigkei-
ten, lechzend und stöhnend in seiner unerhörten Betrübnis und Ohnmacht wie kaum
ein anderes Volk. Die Schreie […] der zertretenen und verletzten Volksseele und des
männlichen Stolzes erfüllten mit ihren zitternden und unschönen Lauten […] unser
Land und unsere Luft. (p. 211)
Der Dichter ist der Heiler, der Heilende, der die Befreiung als Erlösung bringen
soll. Das Bild noch einmal gesteigert, und der Dichter wird zum Messias:“Trotz
allem, erwarten wir sehnlichst und voller Wünsche den großen Dichter, wir
erwarten seine vollen und lauten Worte, auf dass das Horn von Jericho durch
43 Kočić, Petar: Naša poezija pod apsolutizmom. In: Kočić 1967, vol. 2, pp. 211–215.
44 Zu den typischen Figuren des balkanischen Nationalismus, insbesondere zum Motiv der
verletzten Volksseele, siehe Hajdarpašić, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political
Imagination in the Balkans, 1840–1914. Ithaca, New York: Cornell University Press 2015.
dieses geschundene Land ertöne, und erstorbene und vereiste Gefühle in unse-
rer Brust entflamme. Er wird kommen, er muss kommen!” (ibid.)
In diesen Worten lassen sich unschwer vertraute Figuren und Wendungen der
europäischen Romantik, aber auch des Dichterkultes im europäischen Ästheti-
zismus wiederfinden – also gerade jener Bewegung, gegen welche sich das lite-
raturkritische Engagement Kočićs richtet. Die Dichterberufung, die ästhetisierte
Messias-Erwartung, das Anbrechen eines Goldenen Zeitalters sind Topoi, derer
sich auch beispielsweise Hölderlin oder Novalis bedient haben.45 Doch es gibt
einen bemerkenswerten Unterschied: Während in der europäischen Romantik
das Schicksal der Menschheit als Bezugsrahmen diente, haben wir es hier mit
der Eingrenzung des Pathos auf das jeweils eigene Volk zu tun. Wo dieser Kon-
text gegeben ist, kann die Freiheit nicht die Freiheit der ganzen Welt meinen,
sondern nur eine nationale. Das Phantasma der“fremdländischen Macht”, die
ständig “wertvolle Eigenschaften der eigenen Seele” zu bedrohen oder letztlich
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zu ersticken im Begriff ist, wird zum Motor der Befreiung, die – wie schon ge-
sagt – zugleich auch Rückeroberung des Herrschaftsraums ist. Die Austreibung
des Fremden aus dem Raum des Eigenen wird zum wichtigsten Inzentiv des
anstehenden Freiheitskampfes.
45 Vgl. Mähl, Hans Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien
zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen
Voraussetzungen. Heidelberg: C. Winter 1965.
46 Kočić, Petar: Za srpski jezik. In: Kočić 1967, vol. 2, S. 242–251.
spüren.“ ( p. 248) Eine tiefe Trauer empfindet der Autor, der auch hier wie sonst
im Plural, im Namen eines Kollektivs spricht, angesichts der „Profanierung und
Entheiligung unserer großen und gewaltigen Sprache“, die vor allem in der
Volksdichtung, in den Epen, mit ihrer „kristallenen Reinheit“ und „natürlicher
Frische“ glänzt, und die die Gemeinschaft „ermutigt, auf dem Lebensweg nicht
aufzugeben“ (ibid.). Dieses „Sprachmonster“ schufen dem Autor zufolge einer-
seits die Fremden, vor allem Vertreter anderer slawischen Gruppen, darunter
vor allem Polen und Tschechen, die nach Bosnien-Herzegowina als Beamte
gekommen sind, andererseits aber auch „unsere Leute“, die dieses „Monstrum“
als Standardsprache angenommen hätten. Darin kritisiert Kočić vor allem die
kroatische Variante, die seiner Meinung nach „unter dem Einfluss der deutschen
Kanzleisprache“ (p. 243) entstanden sei.47 Auch hier kommen die gewohnten
Vorstellungen von Reinheit, Natur- und Lebensnähe zum Zuge, durch welche
sich im Gegensatz zur Künstlichkeit dieses Idioms die (serbische) Volksspra-
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che auszeichne. Das vorgestellte Eigene wird dadurch mit dem Prädikat der
Authentizität ausgezeichnet, welche es vor fremder Kolonisierung zu retten
oder wenigstens zu restaurieren gilt. Doch auch hier zeigt sich die Tücke der
Befreiungsrhetorik in der kolonialen Konstellation: Die eigene Freiheit wird
erkauft durch die Knechtschaft der Anderen.
Der Sturz eines Imperiums ruft nationale Miniimperialismen auf den Plan.
Denn dass Kočić seine eigene Sprache als serbisch bezeichnet, ist natürlich noch
keine imperiale Rhetorik, doch sein Vorschlag die serbische Sprache und die
kyrillische Schrift als die einzige offizielle Sprache einzuführen, kann nur als
die Negation der konkurrierenden Bezeichnungen „Kroatisch“, und „Bosnisch“
verstanden werden. Doch er bleibt dabei nicht stehen, sondern spricht bestimm-
ten Mundarten, wie dem Kajkavischen und Čakavischen sowie der kroatischen
Variante des Schtokavischen überhaupt das Recht ab, eine Volkssprache zu sein.
So heißt es wörtlich in einem späteren Artikel:
Wir wollten […] in erster Linie darauf aufmerksam machen, dass unsere wohklin-
gende und gottgegebene Sprache bedroht wird vom deutschen Geist – Gott weiß, ob
es überhaupt der deutsche ist -, der sich in das arme und trockene Kajkavische und
Čakavische eingeschlichen hatte, aus denen sich wiederum das falsche und nicht ori-
ginelle Schtokavische, das Kroatisch genannt wird, ergeben hat. Dieses […] ist auch
die Amts- und Unterrichtssprache in unserem Land geworden. […] Man muss dem ein
Ende setzen, auf welche Art und Weise auch immer!48
47 Zu den Sprachtransfers in der k. u. k. Ära vgl. den Beitrag von Nedad Memić zum vorl.
Sammelband.
48 Kočić, Petar: Jedna korisna ustanova. In: Kočić 1967, vol. 2, pp. 216–220.
Wir sehen, dass trotz der Berufung auf das Volkstümliche, auf die Einheit der
einheimischen Bevölkerung, die im Widerstand gegen die Fremdherrschaft ins
Feld geführt wird, die als konkurrierend empfundenen volkstümlichen Ele-
mente als unecht und dem authentischen Zentrum nicht zugehörig diffamiert
werden. Dieselbe Strategie wendet Kočić auch in Bezug auf die Kanonisierung
der einheimischen Literatur an: Projekte von Kapetanović-Ljubušak und Josip
Milaković, in denen das Serbische nicht als das Zentrum des Eigenen positio-
niert wird, werden ebenfalls abgelehnt.49
Mit Homi Bhabha könnten wir in diesem Zusammenhang von einem internen
Imperialismus sprechen.50 Das kolonisierte Subjekt trägt die koloniale Kons-
tellation nach innen, wo gerade eine neue Hierarchie gebildet wird. Dieselbe
Struktur bedeutet aber keineswegs dieselbe Semantik. Während der ‘fremd-
ländische’ österreichisch-ungarische Imperialismus den Ort der Macht mit den
Codes der ‘Zivilisierung’ und ‘Pazifisierung’ belegt, und zunehmend, wie wir in
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ausgewählten Texten gesehen haben, in diesem Rahmen gerade auf die Hetero-
genität als identitätsstiftendes Motiv zurückgreift, wird in den einheimischen
Phantasmen der Befreiung der imaginierte Ort dieser Freiheit um die Achse
der jeweiligen reinen „Volkseele“ hierarchisch eingerichtet. Je näher man dem
Zentrum dieser Achse ist, desto größer das Recht, frei zu sein.
49 Siehe den Text Bošnjakluk und die Polemik mit Milaković in Kočić 1967, vol. 2, pp. 175–
202 u. 226–231.
50 Vgl. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London, New York: Routledge 2004, pp. ix-
xxxi.
Serbischer Okzidentalismus?
1. Einleitung
Im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen die Ursachen sowie die spe-
zifischen Merkmale des Anti-Habsburg-Diskurses, der zur Zeit der österrei-
chisch-ungarischen Okkupation und Annexion von Bosnien-Herzegowina ent-
stand (1878–1918). In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, die mit der
Besetzung einhergehenden kolonialen Verhältnisse zu berücksichtigen. Zeit-
historiker haben Österreich-Ungarn auf der Grundlage der Postcolonial Studies
als Pseudo-Kolonialreich beschrieben, das zwar nicht über Überseegebiete ver-
fügte, dafür aber bestimmte Teile seines Gebietes in Zentral- und Südosteuropa
als interne Kolonien behandelte.1 So bezeichnete etwa der amerikanische His-
toriker Robert Donia Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer
Herrschaft als proximate colony.2 Kulturwissenschaftler wie unter anderen
Clemens Ruthner zeigten wiederum einen klar ausgeprägten Kolonialdiskurs
als wichtiges Charakteristikum der österreichisch-ungarischen Herrschaft in
Bosnien-Herzegowina auf, der das Land als abgelegenen und exotischen Ort
1 Für einen detaillierten Überblick der Debatte, die auf Plattformen wie Kakanien revisi-
ted sowie in verschiedenen Buchpublikationen geführt wurde, siehe Ruthner, Clemens:
K. u. K. ‚Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren
Klärung. In: Kakanien Revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner3.pdf
[29.01.2003] sowie Ruthner, Clemens: Habsburgs 'Dark Continent'. Postkoloniale Lektü-
ren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018.
2 Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungari-
an Rule. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/rdonia1.pdf
[11.09.2007].
imaginiert, der durch das Habsburger Reich noch zivilisiert werden muss.3 Diese
Darstellung stimmt großteils mit dem Orientalismus-Diskurs überein, wie ihn
Edward Said in seiner grundlegenden Studie analysierte.4
Während dem österreichisch-ungarischen Kolonialdiskurs in Bosnien-Her-
zegowina bereits ausführliche und grundlegende Studien gewidmet wurden,5
fanden die (diskursiven) Reaktionen auf die k. u. k. Herrschaft in Bosnien-Her-
zegowina selbst bislang kaum Beachtung. Wie ich zeigen werde, erweist sich
der Anti-Habsburg-Diskurs in den meisten Fällen als durchdrungen mit Okzi-
dentalismen, d. h. es handelt sich über weite Strecken um einen anti-westlichen
Diskurs.6 Ich werde im Folgenden daher untersuchen, auf welch unterschied-
liche Art und Weise sich okzidental(istisch)e Vorstellungen in Bosnien-Herze-
gowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft manifestierten und dabei
sowohl auf die ersten serbisch-bosnischen Literatur- und Kulturzeitschriften
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eingehen als auch Schriften der Mitglieder des Jungen Bosnien (Mlada Bosna)
berücksichtigen. In meinen Ausführungen wird deutlich werden, dass im Fall
Bosnien-Herzegowinas der anti-westliche Diskurs in hohem Maße von der Art
und Weise der k. u. k. Herrschaft und deren kolonialen Charakteristika bestimmt
bzw. vielmehr provoziert wurde.
Wie Ian Buruma und Avishai Margalit ausführen, lässt sich Okzidentalismus in
der Regel als Reaktion einer traditionsgebundenen, monotheistischen Gesell-
schaft auf westliche Modernität verstehen.7 Dieser Befund trifft zweifellos auf
die ersten kulturellen und literarischen Zeitschriften in Bosnien-Herzegowina
zu, in denen sich zugleich eine erste Welle anti-westlicher Rhetorik findet. Wäh-
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etwa der Zensor über Kočićs Drama Jazavac pred sudom (von dem noch die
Rede sein wird10), dass etliche Passagen durchaus als „antiösterreichisch“ inter-
pretiert werden könnten. Trotzdem kommt er zum Schluss, dass die Grundlage
für rechtliche Schritte zu gering und der Autor nicht für die Aussagen seiner
fiktiven Figuren zu belangen sei. Anstelle dessen verbieten die Behörden einfach
eine Aufführung des Stücks in Bosnien-Herzegowina.11
Die meisten dieser Literaturzeitschriften dienten allerdings unterschiedlichen
nationalen Ideologien, d. h. die Kurzgeschichten, Gedichte und anderen publi-
zierten Texte hatten vor allem eine moralisch-didaktische Funktion.12 In der
ersten Literaturzeitschrift, die unter dem Titel Bosanska vila [‚Bosnische Fee‘]
erschien, versuchten bosnisch-serbische Intellektuelle die Massen für die von
ihnen vertretene nationale Sache zu gewinnen.13 Dies traf insbesondere auf
die Frühphase ihrer Publikation von 1886 bis 1904/05 zu. In der Folge wandte
sich der Fokus der Zeitschrift eher ästhetischen Fragen der Literatur zu. An den
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lich. Was dieser Parasit ‚Zivilisation‘ [civilizaciona nalepa] angerichtet hat, ist weit
schlimmer als die Gewalt und Brutalität eines ausländischen Feindes.14
Es wird sehr schnell deutlich, dass Österreich-Ungarn als der Westen wahr-
genommen wird oder zumindest als Importeur (oder Träger) von Modernität.
In einer weiteren Kurzgeschichte, die neue Formen von Zeitvertreib wie „Pick-
nicks, Bälle, Tanzschulen und andere Unterhaltungen“ kommentiert, seufzt der
Erzähler schließlich: „Wo sind die guten Zeiten geblieben, als wir nichts von
diesem schwäbischen Müßiggang wussten!“15
Die Zeitung Bosnische Post veröffentlichte 1889 eine Liste von Neologismen,
die in Bosnien erst während der Herrschaft der Habsburger, die zu dem Zeit-
punkt zehn Jahre gedauert hatte, Teil der Alltagssprache geworden waren – in-
teressanterweise befindet sich auch Zivilisation unter den neu geprägten Wör-
tern.16 De facto übernahm die Bosnische Post diesen Text von der kroatischen
Zeitung Obzor, die ihn einige Tage zuvor publiziert hatte.17 Die mit 186 Einträ-
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14 Eröffnungstext in der ersten Bosanska vila 1/1885, Nr. 1, p. 2: „Vi ste dakle na putu da se
‚civilizirate‘, da postanete ljudi od ‚svijeta‘. Nitko nema ništa protivu toga, već se mora
radovati tome iz sveg srca. Samo neka ta ‚civilizacija‘ [sic] ne dođe kod vas s repom na-
prijed. To bi bilo grdno zlo. Što učini takova ‚civilizacijona‘ [sic] nalepa, mnogo je crnje i
gore od tuđinske sile i obijesti.“ [alle Hervorh. St.V.]
15 Bosanska Vila 2 (1887), Nr. 24, p. 371: „Dođe vrijeme piknika, balova, tancšula i dru-
gijeh zabava […] Kamo ono sretno doba, kada za ove bresposlice švapske ne znados-
mo!“ Zoran Konstantinović hat darauf hingewiesen, dass das Wort Schwabe/schwäbisch
(Švaba/švapski) als abwertende Bezeichnung nicht nur für Deutsche und Österreicher
verwendet wurde, sondern auch für Serben oder Kroaten der Habsburger Monarchie:
Konstantinović, Zoran: ‚Nemac‘ und ‚Švaba‘ in der serbischen Literatur. In: Schubert, Ga-
briella / Dahmen, Wolfgang (Hg.): Bilder vom Eigenen und Fremden aus dem Donau-Bal-
kan-Raum. München: Südosteuropa-Gesellschaft 2003, pp. 169–178, insbes. p. 170f.
16 Bosnische Post, 09.01.1889, Nr. 2, p. 2.
17 Obzor, 01.01.1889, Nr. 1, p. 1.
18 Ibid. [Hervorh. St.V.]- Nedad Memić beschäftigt sich in seinem Beitrag zum vorl. Sammel-
band ausführlich mit diesem Themenbereich.
Was die heutige Mode betrifft, so fehlen mir die Worte, mein Bruder. Wenn ich unsere
Frauen in diesen Lumpen und Fetzen und Putzlappen sehe – ich habe keine Ahnung
wie man all diese teuflischen Dinge nennt – statt in unserer schönen traditionellen
Kleidung, und wenn sie auf ihren Köpfen diese Hüte und komplette Heuhaufen tragen
statt die serbischen Flechten, die in unseren Liedern besungen werden, dann gerät
meine Seele in Unruhe und ich habe keine anderen Worte als: Schäme Dich im Ange-
sicht Gottes und ehrenvoller Leute! Es ist eine Schande für Deine serbische Religion
und die Milch Deiner serbischen Mutter, dass Du das reine serbische Blut besudelt
hast!20
In den Beiträgen der frühen Bosanska vila stand der serbische Nationalismus
zumeist in enger Verbindung mit traditionellen patriarchalen Werten, die deren
Autoren in der ‚authentischen‘, ‚reinen‘ Dorfkultur verkörpert sahen. Solcher-
weise erhielt alles Bekannte, Traditionelle und Serbische ‚von uns‘ eine positive
Bewertung, während alles Neue, Unbekannte und Fremde/‚Schwäbische‘ nega-
tiv beschrieben bzw. sogar als ‚Schande‘ bezeichnet wurde. Konsequenterweise
wurden daher in erster Linie die Fremden beschuldigt, die Mode und die guten
Sitten der bis dahin ehrenvollen serbischen Frauen zu verderben. Allerdings
konnten sich offensichtlich auch Männer nicht den negativen Seiten moderner
Zivilisation entziehen:
Ich bitte Dich also, zeige mir einen einzigen unserer serbischen Brüder, der, nach der
Arbeit, wenn er sein Geschäft abgeschlossen hat, sofort nach Hause geht. Ich gebe
Dir einen Pfennig, wenn Du einen einzigen für mich findest. Alles ist abartig – ich
meine, alles ist zivilisiert. Jeder, der ein wenig Rückgrat zu haben glaubt, geht direkt in
ein Gasthaus, danach zum Billard, danach zu seiner Kartenrunde oder spielt Domino,
und ein wenig später besucht er sogar noch andere Etablissements. Du weißt sehr gut,
welche Orte ich meine.21
Die Autoren der frühen Bosanska vila warnten ihre Leser nicht nur vor den
negativen Seiten der Moderne, sondern betonten zudem, dass die Leser tradi-
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tionelle, sogenannte orthodox serbische Werte bewahren sollten. Dies ist ein
Anliegen, das in erster Linie die familiäre und gesellschaftliche Position von
Frauen betrifft, obwohl im folgenden Ausschnitt aus der Bosanska Vila vor allem
der pater familias direkt angesprochen wird:
Vor allem erziehe Deine Töchter zu guten Frauen und Müttern. Auch wenn es lächer-
lich anmutet, so sage ich Dir: Gnade dem Volk, das keine richtigen Frauen hat. […]
Achtet auf Eure Frauen, damit sie nicht sündigen – es ist grauenhaft, wenn eine Frau
keine Frau ist. Es gibt genügend Beispiele in der zivilisierten Welt – in der Gesellschaft,
in der Familie, überall wo zwei Frauen zusammenkommen. Es ist ein Unheil, das das
Leben und den Frieden einer Familie zerstört, Bekannte und Freunde zum Streiten
anstiftet, die Gemeinde und den Staat vernichtet.22
Es ist bemerkenswert, dass die Frau hier nicht nur als Hüterin traditioneller
Werte und als Stütze der Familie vorgestellt wird, sondern dass ihre Stellung
letztlich über Sein oder Nicht-Sein des Staates entscheidet. Darüber hinaus wird
deutlich, dass vor allem Frauen die Neigung zugeschrieben wird, besonders
anfällig für bestimmte moralisch verwerfliche Seiten der neuen Zivilisation zu
21 Bosanska vila 1 (1886), Nr. 13, p. 194: „A deder ti sad upri prstom u brata Srbina, koji
ćeti, kad dućan zatvori i posao ostavi pravo kući. Evo ti groš ako mi ga nađeš. Sve se to
izopačilo, hoću reći, civiliziralo. Ko je malo pojačih leđa taj ide pravo u kafanu, pa u bili-
jar, karte i domine, a malo poslije i po drugim mjestima. Ti već znaš gdje.“
22 Bosanska vila 1 (1886), Nr. 1, p. 2 [Hervorh. St.V.]: „I to učite u prvom redu vaše šć eri, da
budu dobre žene i prave matere. Jer, ma koliko da će izgledati smiješno, ja ću vam reći:
teško narodu koji nema pravih žena. […] Čuvajte dakle vaše žene, da negrješe dušu, –
strašno je kad žena – nije žena! A toga ima dosta međ civilizovanim svijetom – u društvu,
u porodici gdje god stanu dvije žene zajedno. To je zlo, koje ruši porodični život i mir;
koje zavađa rođake i prijatelje; koje ruši opštinu i – državu.“
sein. Dazu zählt die Mode ebenso wie neue Umgangsformen mit dem anderen
Geschlecht bzw. ganz allgemein Sitten, die nicht nur in Mädchenpensionaten,
sondern auch von populären Romanen vermittelt worden seien. Diese Auffas-
sung wird auch von einem der prominentesten Autoren der Bosanska vila ver-
treten, nämlich von Hadži Savo Kosanović, der unter dem Pseudonym ”Neter
de” publizierte.23 Kosanović wurde der erste bosnische Metropolit, nachdem
er 1882 seinem phanariotischen Vorgänger, dem Griechen Mtimos, nachgefolgt
war. Er war eine bekannte öffentliche Persönlichkeit und insbesondere unter
der orthodoxen Bevölkerung populär.24 Er verfasste unter anderem eine Ge-
schichte über ein bosnisches Mädchen, das ein Verhältnis mit einem österrei-
chischen Offizier hat. Obwohl die Moral der Geschichte keinerlei Zweifel offen
lässt – flirte nicht mit Ausländern –, fühlte sich der Autor dennoch bemüßigt,
den folgenden Kommentar über den schlechten Einfluss moderner Erziehung
auf die Sitten junger Mädchen hinzuzufügen:
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Es ist kein Vergnügen, ein Dutzend alter, mittelalterlicher Romane zu lesen, in denen
der unglückliche Liebhaber durch Feuer und Wasser gehen muss, bis er endlich in die
Arme irgendeiner Rosinante oder Dulcinea fällt. Alles Heimatliche ist natürlich nicht
gut genug – weder die Art, einer den Hof zu machen, noch die anderen Bräuche; die
einheimischen Burschen sind zu grob, aber ein Offizier – oh, das ist etwas anderes,
weil er mit den Frauen zu reden und sie zu unterhalten versteht.25
An den angeführten Beispielen fällt also auf, dass der anti-westliche Diskurs
in hohem Maß via den Körper und die Sitten der Frauen argumentiert. Zusam-
menfassend kann festgestellt werden, dass der Okzidentalismus in den frühen
bosnisch-serbische Literaturzeitschriften als Reaktion gegen die Urbanisierung
und Modernisierung entstand, die als Bedrohung traditioneller Werte und Sitten
erfahren wurden.
26 Skarić, Savo: Izabrana djela. Zembilj, šala i maskara. (Hg. von Dejan Đuričković) Sara-
jevo: Svjetlost 1982, p. 163 [erstmals veröffentlicht in Srpska riječ 1908, Nr. 9]: „Kuferaš je
svaki onaj, koji je došao sa koferom u Bosnu, živi od ovoga naroda, a želi mu nešto drugo,
nego što narod sam sebi želi. Onaj čovjek, opet, koji u idealima ovoga naroda nalazi i
svoje ideale, nije kuferaš niti može biti, pa ma on bio čak iz Čina i Mačina.“
27 Als Haiduken (auch Hajduken, Haiducken, Heiducken) wurden im südosteuropäischen
Raum Straßenräuber und Briganten bezeichnet, die seit dem späten 16. Jahrhundert (als
eine Art Sozialbanditentums [social bandits], um Hobsbawms zutreffenden Ausdruck zu
leihen) gegen die osmanische Herrschaft kämpften. In der Balkanepik und in der ro-
mantischen Literatur erscheinen sie als Rebellen und Freiheitskämpfer, de facto raubten
sie aber nicht nur Vertreter der osmanischen Herrschaft, sondern auch lokale Händler
und Reisende aus. Vgl. Hösch, Edgar et al. (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas.
Wien: Böhlau 2004, p. 269f.
des zwanzigsten Jahrhunderts ‚frei‘. Die Arbeiterklasse, die zuvor wie Aschenputtel
zu Hause saß, geht jetzt – Gott sei gedankt – in Amerika an die frische Luft. Unsere
Wälder, in denen bis dahin wilde Wölfe und Haiduken lebten, werden jetzt von zah-
men ausländischen Arbeitern [škutori] [der Firmen, S.V.] Steinbeis28 und Ortlieb29
bewohnt. Es lebe die Landesregierung!30
Skarić teilte offensichtlich die politischen Ansichten der Zeitschrift Srpska riječ.
In seinen Beiträgen lassen sich grundsätzlich drei Stereotype unterscheiden,
die auch für den Grundton der Zeitschrift charakteristisch sind. Lešić zufolge
können diese wie folgt zusammengefasst werden: 1) Der Katholizismus wird als
Brücke zur permanenten Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die österrei-
chisch-ungarische Monarchie gesehen; aus diesem Grund sind Erzbischof Josip
Stadler und andere kuferaši bzw. ‚Kulturträger‘ aus Kroatien die bevorzugten
Angriffsziele von Skarićs erbitterten Satiren. 2) Bosnische Muslime stellen eine
einzigartige ethnische Gruppe dar, mit denen die Serben eine Gemeinschaft
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bilden sollten; diese Haltung findet sich in Skarićs Angriffen auf die Zeitung
Bošnjak sowie auf den erfolgreichen Unternehmer Ademaga Mešić, der mehrere
muslimische Zeitungen besaß. 3) Das Hauptziel der oppositionellen Kräfte in
Bosnien-Herzegowina sollte darin bestehen, sich im Rahmen der Autonomie-
bewegung in Bezug auf Religion und Bildung für gleiche Bürgerrechte einzu-
setzen. Auf diesen Beweggrund lässt sich schließlich Skarićs Kritik an Bildungs-
instanzen und Zensur zurückführen.31 Bemerkenswerterweise erörtert Skarić
jedoch nicht Fragen der Landreform oder der Bauernrechte, aber auch an der
Arbeiterklasse zeigt er kein besonderes Interesse; dennoch wäre es verfehlt,
ihn als glühenden Befürworter der serbischen nationalen Sache zu betrachten.
Ähnlich wie die Autoren der frühen Bosanska vila lehnt Skarić alle Neuerun-
gen ab, die seine Sarajevoer Mitbürger/innen von den österreichischen Beset-
28 Bosnische Forstindustrie A/G Otto Steinbeis, Eigentümer der Eisenbahn von Ribnik nach
Knin, von der das Holz zum dalmatinischen Hafen von Šibenik transportiert wurde.
29 Eissler und Ortlieb waren große Holzunternehmen mit Sitz in Zavidović .
30 Skarić 1982, p. 163: „Evo se navršilo ravno igrmi dokuz sene [29. godine], kako je u Bosnu
unišo prvi kufer i kako je postala uzrječica Dume[r] Bošnjak.[…] Naše su stare žene i dje-
vojke prije okupacije pištale u groznim okovima od ogrlica počelica sa rušpama, talirima
i cvancikama, a sada su na ponos dvadesetog vijeka, postale ‚slobodne‘. Radna snaga
narodna, koja je prije ko ćućumisla čuvala kućne pragove, sad fala Bogu ide na promjenu
vazduha u Ameriku. Gore naše, koje su do sada skrivale bijesnog vuka i hajduka, sad skri-
vaju pitome Štajnbajsove i Ortlibove škutore. […] Šifio zemaljska vlada!“ (Hier sei noch
darauf hingewiesen, dass Skarić – wie auch Kočić – häufig die von Deutschsprachigen
in der Regel eher stimmlos ausgesprochenen, aber im Serbo-Kroatischen stimmhaften
Konsonanten ž und v karikiert darstellt: z. B. ‚šifio‘ statt dem korrekten ‚živio‘.)
31 Lešić, Zdenko: Pripovjedačka Bosna. Bd. II: Pripovjedači do 1918. Sarajevo: Institut za
književnost / Svjetlost 1991, p. 188f.
32 Skarić 1982, p. 68f.: „udate žene namiguju na tuđe muževe, a oženjeni ljudi na tuđežene“;
„gdje uopće teku razlozi za razvod braka.“
33 Skarić 1982, p. 70: „Ženskadijo [sic], čuvaj onaj stari dobri glas, kojega je Sarajevo uvijek
imalo radi svojih djevojaka i njihove vrednoće, tedaruća i čistine.“
34 Kočić, Petar: Sabrana djela. 3 Bände. Sarajevo, Belgrad: Svjetlost, Prosveta 1967, vol. I,
p. 40: „E, jes’, Grac mu se rekne, vatra ga sagorela!“
35 Zu Kočić siehe auch den Beitrag von Vahidin PreljeviĆ im vorl. Sammelband.
der kolonialen Verwaltung zum Ausdruck gebracht werden kann, die zwar ra-
tional, aber unmenschlich ist.38
In einer anderen Geschichte, Vukov gaj (‚Vuks Hain‘, 1910), beschreibt Kočić
den Konflikt zwischen Gesetz und menschlichen Gefühlen als Konfrontation
zwischen (bosnischen) geistigen Werten und Naturverbundenheit einerseits
und (österreichisch-ungarischer) materialistischer Habsucht andererseits. Eine
Schlüsselrolle in dieser Geschichte spielt ein Hain, den der titelgebende Prota-
gonist Vuk seit seiner Kindheit gepflegt hat. Es handelt sich wiederum um einen
Ort, „der allen und niemandem“39 gehört. Der Erzähler betont Vuks innige Na-
turverbundenheit: „er liebte diese Buchen und Ahornbäume, als wären sie seine
Verwandten, er sprach mit ihnen wie mit seinem Bruder oder seiner Schwester“
und ihr Flüstern „wiegte ihn in Träume und machte ihn trunken vor Freude“.40
Die Dorfbewohner achten Vuks Liebe für den Hain und behandeln diesen wie
ein Allerheiligstes.41 Doch dann verkauft der Spahi den kleinen Wald an ein aus-
ländisches Holzunternehmen, das die Bäume abholzen und verkaufen will. Der
Protest der Dorfbewohner gipfelt in einem Aufruhr und endet in einer Schlacht
mit der Polizei, die die Holzfäller – Tagelöhner, die für die Arbeit, die keiner der
Einheimischen machen wollte, angestellt wurden – zu beschützen versucht. Der
Erzähler fasst die Situation kurz wie folgt zusammen: „Die eine Seite führte das
Gesetz ins Feld, die andere Gott und seine Wahrheit.“42 Allerdings wird schnell
deutlich, welche Seite den Streit gewinnt: Vuk und einige andere Dorfbewohner
sterben in der Auseinandersetzung, und der Wald wird schlussendlich abge-
holzt. Das Welt- und Lebensverständnis von Kolonisatoren und Kolonisierten
stehen einander diametral gegenüber, der Erzähler sympathisiert jedoch deut-
lich mit Letzteren.
42 Ibid., p. 61: „Prva se strana poziva na zakon, a druga na ime boga i božju pravdu.“
43 Vgl. Buruma & Margalit 2004, insbes. pp. 49–73.
44 Zit. n. Čerović, Božidar: Bosanski omladinci i Sarajevski atentat. Sarajevo: Trgovačka
štamparija 1930, p. 16: „ili u životu mreti, ili u smrti živeti“.
Russland), begannen einige von ihnen ein Attentat auf den Thronfolger Ös-
terreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, zu planen und am 28. Juni 1914
auszuführen.
Vor allem Gaćinović stellte Žerajić als Helden und als Vorbild für die ‚Jungen
Bosnier‘ dar. In einem Žerajić gewidmeten Text mit dem Titel „An die zukünf-
tige Generation“ (Onima koji dolaze) präsentiert Gaćinović die letzten Worte
Žerajićs in pathetischem Stil als dessen Testament bzw. als heiliges Testament,
das er für seine revolutionären Brüder hinterlassen habe:
Die Jugend jener Völker, die noch nicht aufgewacht sind, so sprach er begeistert,
müssen ein großes Herz haben, […] und ihre ganze Arbeit muss zutiefst dem Leben
[unserer] Rasse zugetan sein […]. Aufgerichtet durch ihre Ideen, heiter und bebend
wie die erste Frühlingssonne, sollte die Jugend ihre Seele und ihr Blut den Gefallenen
und Hungrigen geben. Wie Christus sollten sie ihnen mit Liebe begegnen – selbst
wenn die härtesten und grimmigsten Kräfte gegen sie wüten. […] Wir, die Jüngsten,
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Gaćinović zufolge betrachtete Žerajić „die Lage des Serbentums als große
Schande. Einer gewalttätigen Kraft ausgesetzt, hatte er den Zusammenbruch der
serbischen Rasse gefühlt. Er träumte von einem großen Ereignis, das unser gan-
zes Blut versammeln und die Grundlagen für ein neues Leben legen würde. […]
Er war überzeugt, dass die Jugend zu großen Opfern bereit sein sollte.“46 Auch
der spätere jugoslawische Diplomat und Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić,
der damals Mitglied des ‚Jungen Bosnien‘ war, verhehlte seine Begeisterung für
den Attentatsversuch an Slavko Cuvaj zumindest in seinem Tagebucheintrag
vom 8. Juni 1912 nicht:
Heute verübte Jukić einen Mordanschlag auf Cuvaj. Wie großartig ist es doch, wenn
sich die geheimen Fäden der Verschwörung und Revolution zusammenziehen! Wie
glücklich erahne ich die Tage der großen Arbeit! Lang mögen sie leben, die auf den
Bürgersteigen sterben, im Schießpulver und ohnmächtig vor Wut, krank von der ge-
meinsamen Schande. Lang mögen sie leben, die im Geheimen, schweigsam in dunklen
45 Gaćinović, Vladimir: Ogledi i pisma. (H. von Todor Kruševac) Sarajevo: Svjetlost 1956,
p. 66f.: „Omladina neprobuđenih naroda, govorio je oduševljeno, mora imati široko srce
[…]. Ceo njen rad mora biti u dubokom slaganju sa životom [naše] rase. Uzdignuti svo-
jom idejom, vedri i treperavi kao proletnje sunce, mladi moraju davati duše i krvi izglad-
nelim i palim. Kao Hristos moraju imati velike ljubavi prema njima, -- pa makar se na nju
odgovaralo najgrubljim i najsvirepijim životnim silama. […] Mi, najmlađi, moramo početi
stvarati novu istoriju.“
46 Ibid., p. 68f.: „U stanju srpstva video [je] mnogo sramote. Osećao je da se lomi srce srpske
rase, i da to propadanje biva pred brutalnom silom. Sanjao je o jednom velikom događaju
koji će prikupiti svu našu krv i postaviti temelje novom životu. […] [Verovao je] da se
omladina mora spremiti na velike žrtve.“
Kammern, eine Rebellion planen und sich immer neue Listen ausdenken. Ich bin nicht
einer von ihnen. Aber mögen auch sie leben.47
Der Erfolg Serbiens in den Balkan-Kriegen ermutigte die Mitglieder des ‚Jun-
gen Bosnien‘, ihren Kampf um die ‚Befreiung des Volkes‘ aus der Herrschaft
der Habsburger weiterzuführen, wie der folgende Ausschnitt eines Briefes von
Borivoje Jevtić verdeutlicht:
Wir hatten den Balkan-Krieg nötig, um wieder nüchtern zu werden, um an die tat-
sächliche Stärke unserer Streitkräfte zu glauben. Denn es war eine Zeit gemeinsamer
Erschöpfung, als sogar unser größter nationaler Optimist ohne Hoffnung in die Zu-
kunft blickte. […] Sie schlugen uns und wir hielten uns ruhig. Für uns hatten sie die
beleidigendsten und beschämendsten Worte, die ein Herr zu seinem Sklaven sagen
kann. Und jene, die gekommen waren, um sich von unserem Brot zu ernähren und
sich an den Früchten unserer Arbeit zu erfreuen, die wir unter Blut und Schweiß
vollbrachten, sie ließen sich nicht einmal dazu herab, Mitleid mit uns zu haben oder
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uns anzulächeln mit dem verächtlichen Lächeln der Überlegenen. Nicht einmal ein
verächtliches Lächeln schenkten sie uns!48
Das Zitat verdeutlicht nicht nur die zentrale Rolle, die die Balkankriege bei
der Herausbildung des heroischen Okzidentalismus bei den ‚Jungen Bosniern‘
spielten; aus dem Zitat spricht zudem ein tiefsitzendes Ressentiment, das Jevtić
(nicht zufällig im Geist Nietzsches, dessen Schriften die Jungbosnier lasen und
übersetzten)49 als das Verhältnis von Herr und Knecht (Österreicher-Bosnier/
bosnische Serben) darstellt und damit den Gegensatz zwischen Kolonisatoren
und Kolonisierten dezidiert hervorhebt. In den Texten der ‚Jungen Bosnier‘ be-
kommt dieses auf Oppositionen beruhende Herrschaftsverhältnis eine nationale
Färbung: Sie rufen die (bosnisch-)serbische Jugend zur ‚geistigen Revolution‘
gegen ein ‚antinationales Regime‘ auf, und fordern von ihr zugleich die Bereit-
47 Tagebuch, 08.06.1912, zit. n. Čerović 1930, p. 253f.: „Danas je Jukić počinio atentat na
Cuvaja. Kako je lepo, da se zatežu konci dela i bune. Kako radosno slutim dane velikih
dela. Neka žive oni, koji umiru po trotoarima onesvešteni od srd ž be i baruta, bolni od
sramote zajedničke. Neka žive oni, koji povučeni, ćutljivi u mračnim sobama spremaju
bunu i smišljaju uvek nove varke. A ja to nisam. A neka žive i oni.“
48 Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne. Sarajevo: Svjetlost 1965. Vol. II: Hresto-
matija, p. 16f.: „Potreban je bio balkanski rat da nas rastrezni, da nas uveri u stvarnu moć
naše snage. Jer je bilo u nas jedno vreme kad je duhovima zavladala sveopšta klonulost,
kad su naše najjače nacionalne optimiste gledale mračno u budućnost. […] Tukli su nas i
mi smo ćutali. Imali su za nas najpogrdnije, najsramotnije što možereć i gospodar robo-
vima. I oni, koji su došli da se hrane našim hlebom i uživaju plodove koje smo mi stekli
krvlju svojom i znojem svojim, nisu se udostojili da se na nas sažale i osmehnu prezirnim
osmehom nadmoćnoga! Ni jednim prezirnim osmehom!“ (EA 1913 unter dem Titel Ideje
i dela in der Zeitschrift Srpska omladina.)
49 Palavestra 1965, vol. I, pp. 200, 202, 209, 216.
schaft, für diesen nationalen Kampf Opfer zu bringen. Der nationale Heroismus
des ‚Jungen Bosnien‘ impliziert demzufolge deutlich eine märtyrerhafte Grund-
haltung.
5. Schlussbemerkung
Die anti-westliche Rhetorik in serbisch-bosnischen Literaturzeitschriften wäh-
rend der österreichisch-ungarischen Zeit der Besetzung tauchte ursprünglich
als konservative Reaktion gegen die Folgen der beschleunigten Urbanisierung
und Industrialisierung des Landes auf. Zunächst stellte diese Rhetorik einen
fruchtbaren Boden für die Stereotypisierung des (habsburgischen) Anderen dar
und generierte solcherweise ein diskursives Bollwerk für den serbischen Natio-
nalismus in Bosnien-Herzegowina. Schlussendlich – und das ist die Ironie der
Geschichte – fungierte der Okzidentalismus aber als einflussreicher Gegenpol
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1 Dieser Text ist eine stark überarbeitete Fassung von Babka, Anna: „Das war ein Stück
Orient“. Raum & Geschlecht in Robert Michels Die Verhüllte. In: Müller-Funk, Wolfgang/
Bobinac, Marijan (Hg.): Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion
des südosteuropäischen Raums und ihr deutschsprachiger Kontext. Tübingen: Francke
2008, pp. 121–132.
2 Ruthner, Clemens: Habsburgs ‚Dark Continent‘. Postkoloniale Lektüren zur österreichi-
schen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018, p. 37.
3 Uhl, Heidemarie: Zwischen ‘Habsburgischem Mythos’ und (Post-)Kolonialismus. Zent-
raleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne. In: Kakani-
en Revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/HUhl1.pdf (2002), p. 2, eingesehen
am 04.04.2018. Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.(U.)K. Postcolonial’? Für eine Lesart
der österreichischen (und benachbarter) Literatur/en. In: Kakanien revisited, http://www.
kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner1.pdf (2001), sowie Müller-Funk, Wolfgang/Plener,
Peter/Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der
österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft –
Differenz 1).
4 Ruthner 2018, p. 37.
5 Michel, Robert: Die Verhüllte. Novellen. Berlin: Fischer 1907, pp. 9–40.- Die hier ana-
lysierte Novelle Die Verhüllte ist Teil der Novellensamnlung gleichen Namens und wird
nachfolgend mit Seitenzahl im Lauftext zitiert.
6 Vgl. Concetti, Riccardo: Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen
Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens 2018, sowie das Symposium Robert Michel,
Offizier & Autor (1876–1957), 17.-18. November 2017, Musej Hercegovine, Mostar, Bos-
nien-Herzogewina, organisiert von Ibrahim Dizdar, Vahidin Preljević und Clemens Ru-
thner.
7 Concetti, Riccardo: Muslimische Landschaften. Hugo von Hofmannsthals Auseinander-
setzung mit der Prosa Robert Michels. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/
beitr/fallstudie/RConcetti1.pdf (2002), p. 5. Concetti unternimmt eine historische Kon-
textualisierung sowohl des Autors als auch der Novellensammlung selbst und erarbeitet
zugleich biografische Bezüge zwischen dem Autor und der literarischen Szene seiner
Zeit.
sicht, die, wie es Andrea Polaschegg herausarbeitet, die Forschung seit dem
Erscheinen von Orientalism prägt und die sich in „der Rede vom Orient als west-
licher Erfindung und Imagination, als Fiktion oder Konstruktion durch Titel
und Einleitungen der einschlägigen Studien“8 niederschlägt). Der Orient wurde
ja, wie Said argumentiert, nicht orientalisch vorgefunden, sondern orientalisch
gemacht, d. h. orientalisiert.9
Jener Diskurs über den Orient ist nun besonders durch den Ort seiner Pro-
duktion gekennzeichnet. Dieser Ort ist in erster Linie ein Text des Westens im
Westen, er ist, mit Said gesprochen, eine Idee, die eine Geschichte hat, eine
Denktradition; er umschließt Vorstellungen und Bilder sowie ein Vokabular,
das ihm Realität und Präsenz im und aus dem Westen hervorgehend verliehen
hat.10 Said spricht hier eine wirklichkeitserzeugende Bilder- und Gedankenwelt
an sowie ein spezifisches Vokabular, aufgehoben im (literarischen) Text. Dieser
kann als Ort der Herstellung sowohl des Orients als auch des Okzidents gelten.11
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Das Diktum des vom Westen im Westen gemachten Orients deutet koloniale
Machtverhältnisse als einseitige und führt zu einem der wesentlichen Kritik-
punkte Homi Bhabhas an Said. Bhabha geht mit Foucault davon aus, dass Macht
als ‘unsichtbare’ Disziplinarmacht nicht in eine einzige Richtung wirkt. Sie geht
von multiplen, miteinander verknüpften Machtzentren aus, die alle gesellschaft-
lichen Beziehungen – den Gesellschaftskörper und den Körper des Individuums
– durchdringen, diskursiv konstituieren und zugleich kontrollieren. Nach Bhab-
ha befinden sich „Subjekte […] durch die symbolische Dezentrierung multipler
Machtrelationen, die sowohl als Stützpunkte als auch als Zielscheibe oder als
Widerpart fungieren, immer in disproportionaler Nähe zu einer Position von
8 Ibid., p. 16.
9 Said, Edward W.: Orientalism. New York: Pantheon Books 1978, p. 6.- Was nicht bedeu-
tet, dass der Orient ausschließlich eine Idee ist und dass es keinerlei Referenzpunkte zu
einer ‘Realität’ des Orients geben könne. Doch, wie es Said formuliert, „the phenomenon
of Orientalism as I study it here deals principally, not with a correspondence between
Orientalism and Orient, but with the internal consistency of Orientalism and its ideas
about the Orient (the East as career) despite or beyond any correspondence, or lack the-
reof, with a ‘real’ Orient.“ (ibid., p. 5) Das heißt, dass Said den Diskurs über den Orient
am Konstruierten festmacht, an den Ideen über den Orient und nicht an seiner schieren
Existenz.
10 Vgl. ibid., p. 5.
11 Bereits Frantz Fanon hat in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde Europa als Produkt
des modernen Kolonialismus bezeichnet (vgl. Kossek, Brigitte: Post/koloniale Diskurse
und die De/Kolonialisierung von Identitäten. In: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Dia-
spora. Out of Africa – into new worlds. Münster: LIT 2003, pp. 91–112., hier p. 95; vgl.
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, p. 83: „Europa
ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt.“).
12 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen.
Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, p. 106.
13 Ibid.
14 Said 1978, p. 207.
15 Bhabha 2000, p. 106.
16 Ibid., p. 106.
Der Ort der Identifizierung, der Äußerungsraum des Subjekts also, ist, wie Bhab-
ha sich auf Lacan beziehend schreibt, „ein Raum der Spaltung“, ein hybrider
Raum, ein Raum, der zur Vorbedingung wird für die Artikulation kultureller
Differenz.19 Und Bhabha argumentiert:
Erst wenn wir verstehen, dass sämtliche kulturelle Aussagen und Systeme in diesem
widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen
wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit
oder ‘Reinheit' von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empi-
risch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrie-
ren.20
Die beiden jungen Männer, der eine Student, dem die Welt des Militärs nicht
geläufig ist, der andere ein erfahrener Soldat, lehren einander die jeweilige
Muttersprache und stellen Überlegungen über den Orient an – dies besonders
motiviert durch die Präsenz der muslimischen Soldaten aus Bosnien-Herzego-
wina, die in Wien stationiert sind.23 „Den jungen Rêvignies interessierten meine
bosnischen Soldaten. Er sagte, dass er sie früher nie so lange und von so nahe
hätte betrachten können, und er versuchte bei jedem Einzelnen Zug um Zug
das Orientalische seines Ausdrucks zu erklären“ (p. 11). Das Orientalische wird
vom Ich-Erzähler nicht wirklich beschrieben, die „großen roten Hände“ werden
es wohl nicht sein und auch nicht die „Verlegenheit“ der Soldaten angesichts
dieser unverblümten Musterung (ibid.). Aber die „großen roten Hände“ stehen
im Gegensatz zur hellhäutigen Schönheit von Rêvignies, der als hegemonialer
Beobachter fungiert, vorerst, wohlgemerkt. Der Dunkelhäutige, der ‘Andere’,
kann hier zu Beginn zugleich als Objekt der Neugier wie auch des Verlangens
oder auch der Träumereien Rêvignies gedeutet werden – wie sein Name, dieser
Anklang an das französische Verb rêver, auch deutlich suggeriert.
Die „staunende Neugier“ liegt, folgt man dem Ich-Erzähler, dann aber auch
auf Seiten der sogenannten Orientalen, der in der Fremde stationierten bos-
21 Pratt, Marie Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London, New
York: Routledge 1992, p. 4.
22 Magister, Karl-Heinz / Riese, Ute: Eine kleine Genealogie des Begriffs ‘postkolonial’. In:
Drexler, Peter / Schnoor, Rainer (Hg.): Against the Grain/Gegen den Strich gelesen. Stu-
dies in English and American Literature and Literary Theory. Festschrift für Wolfgang
Wicht. Berlin: trafo 2004, pp. 261–281, hier p. 277.
23 Wenn der Ich-Erzähler von ‚seinen‘ bosnischen Soldaten spricht, hat er wohl einen höhe-
ren militärischen Rang, der jedoch nicht spezifiziert wird. Nach seiner Versetzung nach
Mostar wird er als Kommandant bezeichnet.
ins Spiel kommen, die eine postkoloniale Leseweise zulassen. Eingeleitet wird
dieses Ereignis dadurch, dass Rêvignies in Anbetracht der sich vor den bei-
den Männern ausbreitenden, überwältigenden Wiener Szenerie, die Hand des
Ich-Erzählers ergreift – eine Geste, die zugleich die homoerotischen Fantasien
der Erzählerfigur konnotiert:
Da erfasste Rêvignies plötzlich meine Hand; und ich verstand gleich: Die Sonne zeigte
eben noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand.
Zu beiden Seiten dieser Kuppel ragten, schlanken Minaretten gleich, hohe Fabrik-
schlote. Diese Moschee beherrschte mit ihrer Pracht das ganze Bild. Der übrige Ho-
rizont zeichnete sich nur in undeutlichen Umrissen, die der Einbildungskraft weiten
Spielraum ließen, und die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem abendlichen
Meer zu entsteigen schien. In der Nähe das Neugebäude mit den runden Türmen
störte durchaus nicht und noch weniger störten die Soldaten im Fez. Das war ein
Stück Orient. (p. 12)
Diese Sequenz gerät zu einem fast plakativen postkolonialen Moment des Tex-
tes. Hier ereignet sich die Orientalisierung des Okzidentalen, der Text entwirft
einen neuen Raum, in dem ein Zusammenspiel zwischen Identität und Alterität,
Zentrum und Peripherie evoziert wird. Dieser neue Raum kann nun thesenhaft
über den ‘dritten Raum der Äußerung’24, die zentrale Denkfigur Homi Bhabhas,
beschrieben werden. Nach Endre Hars entwirft dieser Bhabasche Zwischenraum
die
Vorstellung eines Ortes, eines Raums, der sich zwischen den Extremen, den Fest-
gestelltheiten, zwischen den zwei Seiten einer Grenze befindet – mit der Örtlichkeit
Der beschriebene Ort befindet sich tatsächlich, wenn man so will, zwischen
zwei Seiten einer Grenze. Der innere Kolonialismus ist damit angesprochen,
die Grenzziehungen, Überschneidungen und Zwischenräume innerhalb einer
vermeintlichen Entität, wie sie die Habsburgermonarchie darstellt. Die Fabrik
wird zur Moschee; sie befindet sich nicht im umschwärmten Orient, der doch
eigentlich Teil des Habsburgerreichs ist, nicht an der Peripherie, sondern mitten
im Zentrum, in Wien! Vielleicht wird die Schaffung des Orts in der Phantasie
der beiden Protagonisten auch erst durch die Präsenz der sogenannten orientali-
schen Soldaten möglich, denn noch weniger als das Neugebäude mit den runden
Türmen ‚störten‘, so sagt es der Text, die Soldaten im Fez. Im Gegenteil – der
Fez als orientalische Markierung wird erst im Zusammenhang mit der phantas-
tischen Hervorbringung der Moschee erwähnt. Diese Hervorbringung, dieser
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25 Hárs, Endre: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches
Engagement. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf
(2002), p. 2, eingesehen am 04.04.2018 .
26 Birk, Hanne / Neumann, Birgit: Postkoloniale Erzähltheorie. In: Nünning, Ansgar (Hg.):
Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, pp. 115–152, hier p. 127.
anschauungen, dabei nicht nur zwischen der Welt des Christentums und der
islamischen Welt, sondern auch zwischen den katholischen Kroaten und ortho-
doxen Serben.27
Mostar selbst möchte ich entlang einer Denkfigur Bhabhas und in Anleh-
nung an Heidegger als „Brücke“ lesen, „die sammelt als der überschwingende
Übergang“28, oder als „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“,
als kulturelles „Treppenhaus“29, als Ort, so suggeriert es der Text Michels ein-
dringlich, in dem auch der Tür oder der Schwelle ein gewichtiges Moment, eine
bedeutsame Markierung in der Hervorbringung und im gleichzeitigen Entzug
des Orientalischen beikommt. Gleich auf dem ersten Weg, wenn der Ich-Erzäh-
ler und sein Gast gemeinsam durch die Stadt gehen und der Ich-Erzähler sei-
ne Freude daran hat, „wie Rêvignies alle Besonderheiten dieser merkwürdigen
Stadt und ihrer Menschen sah“ (p. 14), spielt das Tor beziehungsweise die Tür
eine wichtige Rolle. Was Rêvignies sieht (und der Schein wird ihn mehrfach
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getrogen haben), ist eine „Türkin“30, die neben einem Haustor steht, darauf
wartend, dass die Gasse, in der eben noch Schafe und Pferde ihr den Weg ver-
stellt hatten,31 wieder frei werden würde. In einem schreckhaften Moment
tat sie mit beiden Armen eine rasche Bewegung gegen das scheuende Pferd, durch
welche sich ihr Mantel für einige Augenblicke weit öffnete. Aber Rêvignies war die
kurze Enthüllung nicht entgangen; und wäre die Türkin nicht gleich in dem Tore ver-
schwunden, so hätte er wohl getrachtet, noch einmal unter diesen hässlichen Mantel
zu sehn. Jung war sie und schön; ihre Haut war so weiß und durchsichtig, wie sie
wohl nur in der Verschlossenheit des Harems gedeihen kann. Aber auch ihr Gewand
war schön; das Bruststück war mit leuchtenden Seiden bestickt und von Gold durch-
wirkt. (p. 17)
Der Körper der „Türkin“ selbst wird nur kurz sichtbar, der Mantel, das Tor
zu ihrer Schönheit, öffnet sich für einen Augenblick. Die Enthüllung währt
nicht lange, die orientalische, die „verwahrte Frau“, wie es Rêvignies gleich an-
schließend ausdrückt, also der geheimnisvolle Teil des Orients, dem in dieser
Beschreibung qua Körperlichkeit Merkmale zukommen, wie sie Rêvignies selbst
charakterisieren, nämlich die weiße, gleichsam durchsichtige Haut, ist nicht
feststellbar und verschwindet gleich wieder in dem Tor. Stereotype Merkmale
der ‚Orientalin‘, wie sie oft über die Zuschreibung der dünkleren oder dunklen
Hautfarbe erzeugt werden, erscheinen im Text konterkariert, um sich auf andere
Weise wieder zu manifestieren. Nach diesem Ereignis etwa sprechen die beiden
Freunde „nur mehr über die mohammedanischen Frauen“. Rêvignies reflektiert
dabei die Art und Weise, „wie die Frau bei den Mohammedanern gehalten wird“
(p. 17). Er, der diese Art selbst immer als rückständig betrachtet habe, habe je-
doch auch einsehen müssen, „dass durch eine Änderung dieser Sitte der Orient
stark einbüßen müsse an Poesie“ (ibid.):
Nicht weil der Mohammedaner die Frau als tiefer stehend, als eine Art Sklavin ansieht
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oder als nicht tüchtig genug, es mit dem Leben aufzunehmen, sperrt er sie ein, und
auch nicht aus niedriger Eifersucht; sondern er verwahrt sie in seinem Harem mit
der Sorgfalt und unter dem Schutze, wie man das Kostbarste seines irdischen Besitzes
bewahren muß. (p. 18)
Rêvignies vergleicht nun das Werden der mohammedanischen Frau mit dem
Heranreifen einer Perle in einer Muschel, die dann „die eigenste und wert-
vollste Offenbarung des Orients sein [mag]“ (p. 18). Er kommt zu dem Schluss,
dass „durch den vollständigen Besitz einer solchen Frau [einem] alle tiefsten
Geheimnisse des Orients wie mit Zauberschlüsseln mit einem Mal erschlossen
werden [müssten]“ (ibid.). Die Ausführungen Rêvignies erscheinen auf den ers-
ten Blick als kolonial-hegemonial im klassischen Sinne und könnten mit Spivak
als worlding beschrieben werden, also als ein Prozess, in dem der koloniale
Raum erzeugt und in die Welt gesetzt wird als Text, der aus der Perspektive
der Kolonialmacht geschrieben ist.32 Worlding kann demnach als eine Art von
Schrift oder auch ‘Inschrift’ des imperialen Diskurses in den kolonialen Raum
betrachtet werden, hinter dem keine originären Tatbestände, authentische oder
außerdiskursive Wahrheiten stehen – wie eben die ‘wahre orientalische Frau’,
der ‘richtige’ Orient etc. Doch in Michels Text werden die Schlüssel nicht sper-
ren, die Türen fallen immer wieder zu, weder der Orient noch die Frau(en)
werden sich Rêvignies erschließen. Das Auslöschen und Überschreiben der Ge-
schichte und Stimmen von kolonialisierten beziehungsweise subalternen (weib-
32 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. In: Barker, Francis (Hg.): Europe
and its Others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. Col-
chester: Univ. of Essex 1985, hier p. 128.
lichen) Subjekten gelingt nicht, oder gelingt nicht zur Gänze oder wird immer
wieder konterkariert durch den Entzug, der, im Sinne einer kontrapunktischen
Lektüre nach Said, als widerständige Geschichte, als Gegenstimme gelesen wer-
den kann. Said schreibt:
Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen zu lesen,
sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolita-
nen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im
Vergleich mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert.33
Kurz nach der Szene also, die den Besitz der Frau mit Zauberschlüsseln in Zu-
sammenhang bringt, die den Orient buchstäblich entschlüsseln könnten, bricht
die Erzählung gleichsam entzwei. Die beiden Männer trennen sich, weil der
Ich-Erzähler den Wachdienst antreten muss, während der andere, Rêvignies,
auf Entdeckungsreise geht.
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33 Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der
Macht. Frankfurt/M.: Fischer 1994, p. 92.
„Türkin“ entführt habe, dass schreckliche Dinge passiert seien und er abreisen
habe müssen, sich jedoch bald wieder melden würde, um die Verwirrungen auf-
zuklären. Der Ich-Erzähler erhält über einen längeren Zeitraum hinweg jedoch
keinen weiteren Brief von Rêvignies und beginnt sich die Geschichte, die ihm
durch Rêvignies vorenthalten wurde, selbst zusammenzureimen, sie gänzlich
und bis in die kleinsten Einzelheiten zu erfinden. Die erzählte Figur, Rêvignies,
wird durchgängig im semantischen Feld der (Tür-)Schwelle lokalisiert und ver-
bleibt damit in einer Schwellensituation, einem Schwellenraum. Der Orient, das
Orientalische ist immer schon dabei, sich zu ver- und enthüllen, sich zu offen-
baren und gleichzeitig zu entziehen:
Weiterhin fand Rêvignies einen jungen Menschen, der vor einer Haustür stand und
sich gegen die schmalgeöffnete Türspalte presste. Rêvignies schlich langsam näher,
um besser sehen zu können. Er kam gerade nahe genug, dass er beobachten konnte,
wie eine Hand in der Türspalte zurückgezogen wurde, während sich die Tür voll-
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kommen schloß. Erst glaubte er, dass seine Nähe bemerkt worden sei; aber der junge
Bursch drehte sich gar nicht um, sondern sprach mit flüsternden Worten, aus denen es
wie Flehen und Beschwören klang, gegen die verschlossene Tür. […] Endlich tat sich
die Tür wieder ein wenig auf und das Mädchen streckte einen Finger hervor, den der
junge Türke inbrünstig zwischen die Hände nahm, und nach einigem Flehen bekam
er die ganze Hand. (p. 27)
Was hier ‘gegeben’ wird, d. h. was der junge Mann bekommt, ist dürftig und
volatil. Rêvignies beobachtet bei dieser Szene, was er selbst begehrt und was
ihm auch selbst bereits widerfahren ist. Beide, er selbst und der junge Orientale,
bleiben ausgeschlossen, beide Männer stehen vor der Tür, das Geheimnis des
Orients ist weiblich und hält sich im Verborgenen. Später, auf der Suche nach
einem Arzt, tritt Rêvignies in ein Haus ein, öffnet eine Türe und erblickt, auf
einem Teppich sitzend, drei Frauen, „liegend und hockend, die ihr Gesicht gleich
in den Händen verbargen“ (p. 35). Seinen Rückzug begleiten die Männer des
Hauses mit vielen Flüchen, das Tor wird hinter ihm zugestoßen (p. 36). Türen
öffnen und schließen sich, die Vertreibung und der Ausschluss zeigen sich als
konstitutiv für die Geschichte, das ‘Weibliche’, das von Rêvignies als Schlüssel
zum Orient bezeichnet wird, gerät zum Schwellenraum beziehungsweise zum
Wechselspiel zwischen Verhüllung und Enthüllung, auch in Bezug auf die Ein-
deutigkeit des Geschlechts. Selbst dieses erschließt sich Rêvignies nicht immer,
sieht er doch „einige Schritte vor sich eine dunkle Gestalt über die Gasse hu-
schen. Es war so finster in der Gasse, dass er nicht zu unterscheiden vermochte,
ob es ein Mann oder eine Frau sei.“ (p. 30) In seinem Verlangen nach Erleben
(ibid.) erkennt er im Schein einer Laterne eine Gestalt, von der er glaubt, dass
sie eine „Türkin“ sei. Beim Näherhinsehen glaubt er zu erkennen, „dass sie den
Schlitz des Mantels ein wenig öffne“ (p. 31). Er versucht, sein Verlangen zu be-
kämpfen, doch
[a]ls sich aber der lange Mantel noch weiter geöffnet hatte, ließ der Widerstand […]
gleich nach und mit einem Sprunge war er dicht an ihr. Ohne an die Gefahr zu denken,
der er sich wohl durch eine solche Handlung aussetzte, riß er den Mantel auseinander
und presste sie an sich. (p. 32)
orientalisierten bosnischen Frau, die, wie der Text dann ironischer Weise endet,
gar keine Mohammedanerin war. Die vermeintlich Anderen werden zu seiner
Projektionsfläche, werden „zum Träger [von] Gedanken und Wünsche[n]“34,
werden allererst als das Andere erzeugt. Die rassistische Stereotypisierung be-
ruht ganz grundsätzlich, so Brigitte Kossek mit Frantz Fanon und Homi Bhabha,
auf der Verleugnung und Verschiebung von (verbotenen, verachteten) sexuellen Fan-
tasien auf den ‘Anderen’. […] Der/die ‘Andere’ ist nicht bloß als Kehrseite des Selbst
aufzufassen, sondern als ein abgespaltener Teil eines gespaltenen Subjekts, das eige-
nes Begehren und Verachtung verleugnet, in den Anderen verschiebt und an diesem
beherrscht.35
Die rassistische Stereotypisierung, die sowohl auf Ähnlichkeiten, als auch auf
Differenzen beruht, bezieht weitere subjektkonstitutive Faktoren, wie Sexuali-
tät, Gender etc. mit ein. Das so konstruierte Subjekt wird zum ambivalenten und
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34 Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, p. 120.
35 Kossek 2003, p. 107.
36 Ibid.
37 Bhabha 2000, p. 120.
ist selbst gespalten und entfremdet. Das vom Erzähler aufgeschriebene Erlebte
gerät gleichsam zu einer Szenerie der Fantasie und des Verlangens. Das Erlebte
erscheint – Traumsequenzen gleich – in einer sich gegenseitig konstituierenden
Beziehung an der Schnittstelle zwischen latentem und manifestem Orientalis-
mus angesiedelt und zwischen Begehren und Verachten oszillierend. Die ver-
meintlich kolonisierte Orientalin, die im Text an der Schnittstelle von sexueller
und ethnischer Differenz inszeniert und aufgeführt wird, also im Sinne des
Orientalismus nach Said im Text gemacht wird, spiegelt das Andere im Eigenen
und vice versa. Sie führt so die Reziprozität und gegenseitige Durchdringung
dieser Kategorien vor Augen, gleich wie die multiplen und ambivalenten Be-
ziehungen und Richtungen von Macht. ‘Das Stück Orient’ befindet sich immer
schon zwischen zwei Seiten einer Grenze, ver- und enthüllt, als Schwellenraum
denkbar.
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I. K. u. k. „künstlerische Kolonialpolitik“
Am 11. August 1918 würdigte das Neue Wiener Journal Robert Michel (1876–
1957) – den aus Böhmen stammenden k. u. k. „Dichter-Offizier“1 – mit einem ihm
gewidmeten Porträt:2 Nie zuvor war ihm das Glück beschert worden, dermaßen
die Aufmerksamkeit der Wiener Presse auf sich zu ziehen, obwohl er seit der
Jahrhundertwende literarisch tätig war und sich in Fachkreisen einigermaßen
einen Namen gemacht hatte. Der Anlass, der ihn aus den kleineren Zirkeln der
Literaturfreunde plötzlich an die Öffentlichkeit brachte, war seine Ernennung
– neben Hermann Bahr – zum Vertreter des Hoftheater-Generalintendanten
Leopold von Andrian.3 Dass diese prominente Anstellung von besonders kurzer
Dauer war, versteht sich von selbst, wenn man die Situation bedenkt, d. h. den
unmittelbar bevorstehenden Novemberumsturz. Auch war diese Karrierephase
von sonst keiner großen Bedeutung; sie ist hier nur im Zusammenhang mit
diesem Zeitungsartikel erwähnt, dem ein besonders bezeichnender Passus ent-
nommen wird:
[Robert Michel] war viele Jahre in Bosnien und aus dem karstig-steinigen Erdreich
ist für Michel ein reiches, unendlich dankbares künstlerisches Schaffen erblüht. Die
karge Landschaft wurde für ihn zu einem fruchtreichen Ackerboden dichterischer
1 Zu diesem Begriff vgl. Danzer, Carl M.: Ein neuer Dichter-Offizier. Die Verhüllte. Novel-
len von Robert Michel. […]. In: Danzer’s Armee-Zeitung, 20. 06. 1907, p. 10; Zoff, Otto:
Drei Dichter in Kaisers Rock. In: Der Merker 2 (1910/11), p. 418.
2 Dietrichstein, Egon: Robert Michel. Ein Porträt. In: Neues Wiener Journal, 11. 08. 1918,
p. 6.
3 Vgl. Concetti, Riccardo: Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen
Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens 2018, p. 96f.
Aussaat. Man kann wohl sagen, daß er dieses Land eigentlich entdeckte und durch
seine Schilderungen mit Romantik füllte.4
Dieser knappen Beschreibung kommt eine doppelte Bedeutung zu: Zum Einen
wird hier Michel zum wegweisenden Schriftsteller gekürt, der quasi als Erster
das Sujet Bosnien-Herzegowina zum Thema der modernen deutschsprachigen
Literatur tauglich gemacht habe:5 Diesem Aspekt wird der erste Teil dieses
Beitrages gewidmet sein, wobei die psychologischen, kulturellen und medialen
Koordinaten Erwähnung finden, an denen sich Michel bei seinen persönlichen
Bosnien-Erlebnissen orientiert hat. Zum Anderen verweist die Boden-Meta-
phorik, die in der zitierten Passage heraufbeschworen wird, auf jene literatur-
geschichtliche Rezeptionsschablone, die letztendlich Michel ermöglichte, seine
zuerst durchaus k. u. k.-treue Poetik im Laufe der 1930-er und 40-er Jahre völ-
kisch-nationalistisch zu übertünchen, wobei sich Michel geschickt zuerst der
austrofaschistischen Österreich-Ideologie, dann dem nationalsozialistischen
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4 Ibid.
5 Dieser Originalitätsanspruch ist nicht ganz begründet. Zumindest sind zwei Autorinnen
zu nennen, die sich vor ihm ebenfalls südslawischen bzw. bosnischen Stoffen gewidmet
hatten: Mara (Marie) Čop-Marlet und Milena (Preindlsberger-)Mrazović. Vgl. Matl, Josef:
Südslawische Studien. München: Oldenbourg 1965, p. 394f., und Frindt, Andrea: Über-
nationale Haltung und Vermittlung slawischer Landschaft und Kultur im Werk Robert
Michels (1876–1957). Berlin: Magisterarbeit [unpubl.] 1996, p. 39; Stančić, Mirjana: Ver-
schüttete Literatur: Die deutschsprachige Dichtung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugo-
slawien von 1800 bis 1945. Wien: Böhlau 2013, pp. 121–133.
6 Vgl. Hahnl, Hans Heinz: Hofräte, Revoluzzer, Hungerleider. Vierzig verschollene öster-
reichische Literaten. Wien: Atelier 1990, pp. 152–157.
7 Werk- und Lebenschroniken existieren bereits, vgl. Delle Cave, Ferruccio: Robert Mi-
chel. Eine monografische Studie. Innsbruck: Phil. Diss. 1978, pp. 142–176; Džambo, Jozo:
Ein Dichter in des Kaisers Rock. Robert Michel (1876–1957). München: Adalbert Stifter
Verein 1993; Concetti, Riccardo: Einleitung. In: Hofmannsthal, Hugo v./Michel, Robert:
Briefe. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 13 (2005), pp. 11–167, hier pp. 11–29.
Im Alter von noch nicht ganz 20 Jahren lernte er in der Habsburger Hauptstadt
den bereits erwähnten Leopold von Andrian kennen, dessen impressionistische
Novelle Der Garten der Erkenntnis (1895) zu den repräsentativsten Werken der
Wiener Moderne zählt. Durch ihn kam Michel mit den profiliertesten Vertretern
der neuen Literatur in Verbindung, allen voran mit Hugo von Hofmannsthal,
der ihn in das Berliner Verlagshaus S. Fischer einführte, aber auch mit Hermann
Bahr, Arthur Schnitzler und Felix Salten. Diese Begegnungen wirkten auf den
jungen Michel höchst stimulierend und regten ihn zum Schreiben an. Seine
allererste Kurzgeschichte, Osmanbegović, erschien 1898 in Bahrs Zeitschrift Die
Zeit: Wie schon der Titel andeutet, spiegelt sie die Erfahrungen des Autors
als Leutnant eines bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments wider und
bringt seine ganze Faszination für die ihm fremde Kultur der Balkan-Muslime
zum Ausdruck.8 Als Michel im gleichen Jahr nach Mostar versetzt wurde, wo
er zuerst bis 1901 blieb, ließ er sich erst recht auf eine Welt ein, die ihm wie ein
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8 Vgl. Concetti, Riccardo: Der gerettete Orient. Zu Robert Michels Novellensammlung ‘Die
Verhüllte’. In: Müller-Funk, Wolfgang/ Birgit Wagner (Hg.): Eigene und andere Fremde.
„Postkoloniale“ Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia+Kant 2005, pp. 195–206.
9 Michel, Robert: Geleitwort zu einem neuen Buch [08. 03. 1948], S. 3 [unveröffentl.]. In:
Österreichisches Literaturarchiv (im Folgenden: ÖLA), Konvolut 125/W407 Lit.
10 Michel, Robert: Bittschrift an den Kaiser vom 02. 06. 1903. In: Concetti 2018, p. 43f. Es
handelt sich dabei um den Antrag auf Bewilligung zur Heirat, den Offiziere von der mili-
tärischen Behörde einzuholen verpflichtet waren.
zurücktransferiert worden war und nun in Innsbruck und dann in Wien dien-
te, wirksame Unterstützung in der Ethnografie und in deren Studien über die
bosnische Volksdichtung. Bei der neuen Poetik, an der Michel arbeitet, kommt
dem visuellen Moment größere Bedeutung zu: An die Stelle der stets frustrier-
ten persönlichen Kontaktaufnahme mit dem fremden Menschen tritt nunmehr
das Bild, das für eine richtige (und schmerzfreie) Wahrnehmung jener Essenz
des Landes sorgt. In einer Welt, die zusehends von den neuen Technologien
der visuellen Reproduzierbarkeit (Fotografie und später Film) bestimmt wird,
sucht das moderne Subjekt einen neuen Zufluchtsort in der Phänomenologie
der Bilder. Denn gerade jene von modernen Abstraktionstechniken erzeugten
visuellen Produkte täuschen eine Objektivität vor, die – anders als die moderne
Literatur oder die Philosophie – ein einheitliches, unmittelbares Verständnis
der Wirklichkeit verspricht. Aber wohlgemerkt: Michels neue Poetik der Bilder,
obwohl sie eine radikale Kehrt- und Abwendung von der „Nervenkunst“13 der
früheren Werke darstellt, ist nicht als Rückzugsmaßnahme zu deuten; sie muss
vielmehr als Reaktion auf neue mediale und kulturelle Bedingungen gelesen
werden. Dieser neuen Einstellung entstammen nämlich zwei Bücher, Mostar aus
dem Jahr 1909 und das spätere Fahrten in den Reichslanden (1912), die geo-eth-
11 Für eine ausführliche Lektüre dieser Texte, in denen Michel übrigens viele Topoi der exo-
tischen Konsumliteratur seiner Zeit kritisch verwertet, vgl. Concetti 2005.- Siehe auch
den vorangegangenen Beitrag von Anna Babka im vorl. Sammelband.
12 Vgl. Mach, Ernst: Antimetaphysische Vorbemerkungen. In: Wunberg, Gotthart (Hg.): Die
Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Reclam
1981, pp. 137–145, hier p. 142.
13 Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhun-
dertwende. Frankfurt/M.: Europ. Verl.-Anst. 1983.
Buch schlägt er dezidiert den Weg der Mythologisierung ein, den die verträumte
Atmosphäre der Lithografien Max Bucherers aus Fahrten in den Reichslanden
bereits vorweggenommen hatte. Besonders beeindruckt, dass der Text inhaltlich
aus der Zusammenstellung und erzählerischen Kontextualisierung all jener In-
formationen über Folklore, Bräuche und Sitten der bosnisch-herzegowinischen
Muslime besteht, die Michel seinen gelehrten Quellen entnahm. Darunter sind
zu erwähnen: Anton Hangis’ Studien16 und die Wissenschaftlichen Mitteilungen
aus Bosnien und der Herzegowina, das Organ des Sarajevoer Landesmuseums.
Von großer Bedeutung ist ferner Kosta Hörmanns Volksliedsammlung,17 der
Michel wesentliche Anregungen für den Hergang und die Charakteristik der
Hauptfigur entnimmt. Diese Texte stellen aus philologischer Sicht natürlich
sehr wichtige Quellen dar, ihre zentrale Bedeutung ist hiermit jedoch nicht
ausgeschöpft. Denn sie signalisieren darüber hinaus, dass Michels Produktion
„orientalistisch“ nicht nur der Thematik oder der Atmosphäre wegen ist, son-
14 Michel, Robert: Mostar. Mit fotografischen Aufnahmen von Wilhelm Wiener. Prag: C.
Bellmann 1909; Ders.: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und
der Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen von Max Bucherer. Wien, Leipzig: Deutsch-Ös-
terreichischer Verl. 1912.- Vgl. dazu: Concetti, Riccardo: Halbmond über der Narenta im
medialen Wandel. Robert Michels Produktion zwischen Roman und Film. In: Ruthner,
Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the
Western Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015, pp. 263–282.
15 Im Juni 1915 erhielt Michel den mit 1.000 Mark dotierten Kleist-Preis.
16 Hangi, Anton: Die Moslim’s in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Ge-
bräuche. Sarajevo: Kajon 1907.
17 Hörmann, Kosta (Hg.): Narodne pjesne Muhamedovaca u Bosni i Hercegovini. 2 Bde.
Sarajevo: Zemaljska štamparija 1888/89.
dern gerade in dem von Edward W. Said18 ersonnenen spezifischen Sinn: weil sie
direktes und indirektes Produkt jener politischen und kulturellen Institutionen
des modernen Staates sind, dem Bosnien-Herzegowina zwangsweise (aber nicht
nur zu seinem Nachteil) einverleibt wurde.
Noch ein weiterer Aspekt soll herausgestellt werden: Als Monumente der
Folklore und des Lokalkolorits kommt allen Werken Michels aus dieser Zeit
die Funktion eines virtuellen Museums zu. Dies zeigt sich auch am Beispiel der
Spielfilme, Die Wila der Narenta und Der Schatzgräber von Blagaj, die Michel
im Auftrag des Armeeoberkommandos noch im Juni 1918 in der Herzegowina
drehte.19 Sie kombinieren Folkloristisches mit Erzählerischem und gleichen
dem Genre des documentaire romancé, das Georges Méliès mit seinen auf Tahiti
und Neuseeland gedrehten Streifen eingeführt hatte.20
Mit seinem Musealisierungs- (und mitunter auch Verkitschungs-)programm
behauptete Michel, jenem Verfall der alten Bräuche entgegenzuwirken, dem der
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Einbruch der Modernität Vorschub geleistet hatte. Bereits 1909 hatte Michel in
seinem Mostar-Buch die modernen Bauten (das Bahngebäude, die Magazine, Ka-
sernen, Schulen, das Hotel Narenta usw.), die zur Zeit der Okkupation errichtet
worden waren, wegen der roten Ziegeldächer als „völlig stillos, so ganz euro-
päisch“21 kritisiert, weil sie wie ein Dorn im Auge zu den traditionellen grauen
Steindächern der übrigen Häuser, Moscheen und Friedhöfe kontrastierten. In
der Nachkriegszeit mehrten sich seine Sorgen um den Erhalt der traditionellen
Sitten, und er schrieb:
Ähnlich zerstörend wirkt sich die Wirtschaftsnot, oder besser gesagt die Härte und
Nüchternheit der Nachkriegszeit, auch auf anderen Gebieten aus. Man könnte ein
Buch ausfüllen mit Beispielen von diesem langsamen Abbröckeln, das sich aus dem
ständigen Kampf des Alten mit dem Neuen ergibt, der ja hier noch dazu ein Kampf
des Orients mit dem Okzident ist.22
18 Said, Edward W.: Orientalismus. Übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt/M.: Fischer
2009.
19 Vgl. Concetti, Riccardo: Von Feen und Schatzgräbern. Über die Filmversuche Robert Mi-
chels. In: Stifter-Jahrbuch 22 (2008), pp. 153–172; kroatische Übersetzung in: Hrvatski
Filmski Ljetopis 52 (2007), pp. 55–64.
20 Vgl. de Brigard, Emilie: The History of Ethnografic Film. In: Hockings, Paul (Hrsg.): Prin-
ciples of Visual Anthropology. Berlin, New York: Mouton de Gruyter 32003, pp. 13–43,
hier p. 18f.
21 Michel 1909, p. 7.- Wohl handelt sich bei dieser Kritik um Gemeinplätze, die auch bei
anderen Autoren, die sich mit Bosnien-Herzegowina befasst haben, aufzufinden sind,
vgl. Džambo, Joso: Bosna i Hercegovina u njemačkim tekstovima. Imagološka skica. In:
Forum Bosnae 18 (2002), pp. 149–198.
22 Michel, Robert: Die bosnische Königsstadt. In: Neue Freie Presse, 03. 08. 1934, p. 1.
Literatur, Fotografie und Film hatten mithin die Aufgabe, pittoreske Bilder zu er-
zeugen, die, an ein Publikum von großstädtischen Touristen gerichtet, einerseits
deren Reiselust in das Randgebiet Bosnien hervorrufen sollten.23 Andererseits,
so Michels Hoffnung, hätten sie für die Bosnier/innen als Zeitzeugen dienen
sollen, die ihr Bewusstsein (sprich: eine Politik) für die Erhaltung des kulturellen
Erbes entgegen des notgedrungen Modernisierungsdrangs initiieren konnte. In
einer (wohl) unveröffentlichten Schrift aus dem Jahr 1946, die allem Anschein
nach als Einleitung zur Neuauflage des Sammelbandes Halbmond über der Na-
renta24 geschrieben wurde – bringt dies Michel auf den Punkt:
Es steht mir nicht zu, mich zum Richter über all diese Wandlungen und ihre Ursachen
aufzuwerfen und eine Entwicklung zu bedauern, die vielleicht unausbleiblich war.
Meines Amtes ist nur, die große Harmonie von Landschaft, den menschlichen Sied-
lungen und den eigenartigen Einwohnern und ihrer Schicksale von einst aufzuzeigen.
[…] Auch dieses Buch möge zur Erhaltung alles schönen Alten und der Eigenart des
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Landes auf seine Weise beitragen. Wenn es deutschen Lesern und Reisenden das Ver-
ständnis für diese merkwürdige südslawisch-orientalische Welt erleichtert und ihre
Freude daran den Einheimischen erkennbar wird, dürfte dies ihr Selbstbewußtsein
und die eigene Schätzung ihres wunderbaren Erbes steigern.25
23 Noch in einem späten Zeitungsartikel aus dem Jahr 1941 schreibt Michel: „Jugoslawien
ist für jeden Entdeckungsfreudigen ein Paradies“ (Michel, Robert: Grenzscheide zwi-
schen Westen und Orient. Streifzug durch Jugoslawien – Im Land der bäuerlichen Hel-
den. In: Hannoverscher Anzeiger, 22./23. 03. 1941, s. p. Als Zeitungsausschnitt überliefert
in: ÖLA, Konvolut 125/S598).
24 Michel, Robert: Halbmond über der Narenta. Erzählungen aus Bosnien und der Herzego-
wina. Wien: Wiener Verl. 1947.
25 Michel 1948, p. 11.
Der Querschnitt, den der heimische Dichter und bekannte Schriftsteller Robert Michel
geschaffen hat, läßt die Taten des Prinzen und seiner Tage wieder lebendig werden.
Vor dem inneren Auge des Hörers ziehen in abwechslungsreicher Fülle die Bilder aus
der ruhmreichen Vergangenheit des Vaterlandes vorüber, für die der Name Eugen von
Savoyen von tiefer, gleichnishafter Bedeutung wurde.31
Die Prägnanz des Textes liegt allerdings nicht darin, sondern vielmehr in dem
kontemporären Zeitbezug: Denn das Hörspiel, das im Jahr der Machtübernah-
me Hitlers in Deutschland verfasst wurde, fällt in eine Zeit, als sich Österreich
gegen verstärkte Annexionspläne zur Wehr setzen musste und der nunmehr
ausgerufene Ständestaat, der um seine Existenzberechtigung rang, einer na-
tionalen Mythologie bedurfte. In dieser Konstellation spielte Michel quasi den
Hofdichter, der auf den Wunsch der Machthaber einen patriotischen Text lie-
ferte, mit dem sich der Ständestaat gegen äußere und innere Feinde zur Wehr
26 Michels erste Bekanntschaft mit dem Medium Radio datiert einige Jahre zuvor, als er im
Oktober 1928 eine Radio-Tournée machte, bei der er aus seinen Geschichten von Insekten
(Berlin: S. Fischer 1911) las. Vgl. Michel, R.: Mein erster Rundfunk. In: Tages-Post (Linz),
08. 05. 1929, p. 1.
27 Vgl. Michel, R.: Mein Weg als Dramatiker. [Unveröffentlichtes Typoskript zu einem am
17. 5. 1946 abgehaltenen Vortrag am Zentralinstitut für Theaterwissenschaft im Kainzsaal
der Wiener Hofburg]. In: ÖLA, 125, W403 Lit, p. 26.
28 Vgl. Zeitungsnotizen in: Radio Wien, 06. 10. 1933, p. 8, und 13. 10. 1933, p. 20.
29 Vgl. ÖLA, Konvolut 125/W427/1 bis W427-Beil. Lit.
30 Vgl. Höck, Michaela: Medienpolitik im „Ständestaat“ oder die politische Einflußnahme
auf die Österreichische Radioverkehrs A.G. (RAVAG). Wien: Dipl. Arb. der Univ. Wien
2003 (unveröff.), p. 140.
31 Anonym: Eugen von Savoyen. Aufführung am Samstag, 14. Oktober. In: Radio Wien,
06.10.1933, p. 6.
setzen wollte. Vor allem die Figur Prinz Eugens lässt sich unschwer als Gegen-
entwurf zu Hitler lesen: Der Protagonist ist zwar selbstbewusst und souverän,
aber gleichzeitig humorvoll und volksnah. Er ist keineswegs blutrünstig, viel-
mehr bestraft er jeglichen martialischen Übereifer. Er ist zwar Feldmarschall,
aber kein Führer, sondern einfach „der erste Soldat des Kaisers“ und „auch sein
mutigster Soldat“.32 Das Ideal, das sein Tun bei der Kriegsführung beflügelt,
drückt Michels Prinz Eugen wie folgt aus:
Ich stehe jetzt schon eine Stunde vor dieser Wandkarte Europas und der Stern an
der Mündung der Save, der Belgrad bedeutet, brennt mir in die Augen. Tiefer denn
je prägt sich mir die Überzeugung ein, daß die Eroberung dieser Stadt ein wichtiger
Schlußstein zu dem Bau sein wird, an dem ich seit Jahrzehnten arbeite. Hier unten
gegen den Balkan müssen wir eine sichere Basis haben; dann steht der Bau der Mo-
narchie endlich fest. […] ein Österreich, groß und mächtig, gut in sich geschlossen,
das sehe ich dahier an der Donau von Passau bis Belgrad. Schau dir nur an, wie ein
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Hier, durch die Metapher des Körpers („ein merkwürdiges sitzendes Lebewe-
sen“) wird Österreich als neuer body politic statuiert, wobei die moderne Vor-
stellung nicht auf biblisch-typologischem Denken, sondern auf biologistischem
Gedankengut fußt, das den unentwirrbaren Konnex zwischen Staat, Kultur und
Land geltend macht. Obwohl man es hier mit der „katholisch-nationale[n] Va-
riante der ‘Reichsidee’“34 zu tun hat, zeigt sich anhand dieser Metaphorik, in-
32 Michel, Robert: Eugen vor Belgrad [Unveröffentl. Hörspiel]. In: ÖLA, Konvolut 125/
W427/1 bis W427-Beil. Lit, p. 34.
33 Michel, R.: Aus der Novelle ‘Eugen von Belgrad’ (nach den Studien zu einem bereits auf-
geführten Hörspiel, als Novelle noch nicht veröffentlicht). In: Bekenntnisbuch österrei-
chischer Dichter. Hg. v. Bund deutscher Schriftsteller Österreichs. Wien: Krystall-Verlag
1938, pp. 71–72.
34 Müller, Karl: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Ös-
terreichs seit den 30er Jahren. Salzburg: O. Müller 1990, p. 300.
wiefern sie der völkischen Ideologie nah war. Auch wird etwas verständlicher
werden, warum ihre Vertreter im Zuge der politischen Zuspitzung in das mag-
netische Anziehungsfeld des Nationalsozialismus gerieten.
Ähnlich erging es nämlich einem der prominentesten Schriftsteller im Stän-
destaat, dem sich Michel, wie der Briefwechsel attestiert,35 in den 1930er und
40er Jahren besonders verbunden fühlte: Gemeint ist Max Mell, der „vor als
auch nach 1938 und nach 1945 zum deutschsprachigen Dichter-Establishment“36
gehörte. Es bleibe dahingestellt, inwieweit Mells Positionen angesichts der poli-
tischen damaligen Entwicklung einen Einfluss auf das opportunistische, lieb-
äugelnde Verhältnis Michels zum Nationalsozialismus hatten. Fest steht jedoch,
dass, obwohl Michel nie NS-Parteimitglied war,37 er seinen Namen oft unter den-
jenigen der Sympathisanten drucken ließ, sich an manch verfänglicher kulturel-
ler Aktion beteiligte, während des Kriegs bei völkischen Wiener Verlagen wie
dem A. Luser-Verlag oder dem Zsolnay-Verlag publizierte und stets versuchte,
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sich gegenüber den braunen Machthabern, wie wir zum Schluss sehen werden,
als sozusagen integrierter Intellektueller auszuweisen.38
Diese Entwicklung soll an einem Beispiel nachgezeichnet werden, das nur
scheinbar von Bosnien-Herzegowina wegbringt, und in Wirklichkeit die Am-
bivalenz und politische Verworrenheit dieses geschichtlichen Augenblicks in
vollem Umfang verdeutlicht. Am 23. Juli 1938 ergeht ein Brief der Düsseldorfer
Nachrichten an Michel, in dem nach Max Mells „künstlerische[r] Zuverlässig-
keit unter den neuen Verhältnissen“ gefragt wird.39 Warum man Michels Be-
ratung in solcher Angelegenheit wünscht, erklärt sich daraus, dass er schon
seit 1933 eine Firma betrieb, die RO-MI, die zwischen Autoren und Zeitschrif-
ten vermittelte und darauf spezialisiert war, Feuilletons in der reichsdeutschen
Presse unterzubringen. Mit dieser Agentur übernahm Michel das Geschäft Cä-
cilie Tandlers, die schon seit den 20er Jahren in diesem Bereich tätig war, als
Jüdin aber nicht länger mit Deutschland hätte arbeiten können.40 Nach Mi-
35 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/B407/1 bis B407/29 Lit, sowie 125/B88/1 bis B88/43 Lit.
36 Müller 1990, p. 287.
37 Vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, ehem. Berlin Document Center, Reichsschrift-
tumskammer (im Folgenden RSK), Michel, Robert, 24. 02. 1876.
38 Bei seiner Aufnahme in die RSK wurde von Max Stebich, dem damaligen österreichi-
schen Landesleiter der RSK, am 15. 11. 1938 folgende Bescheinigung ausgestellt: „Er hat
sich immer im nationalsozialistischen Sinne, wenn auch nur illegal und im kleineren
Kreise, betätigt“ (ibid.).
39 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/B407/1 bis B407/29 Lit.
40 Cäcilie Tandler, geb. Pinker, *17.09.1893, Wien – †25.04.1946, Wien (ich danke Peter Mi-
chael Braunwarth für die vollständigen Geburt- und Sterbedaten).- Vgl. Concetti, Riccar-
do: Der Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Robert Michel 1898–1929.
Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2. Wien: Phil. Diss. der Univ. Wien 2003, p. 364.
Die zentralen kulturpolitischen Ereignisse, auf die Michel hier hinweist und
die zu einer kulturellen Gleichschaltung Österreichs noch vor dem sogenann-
ten Anschluss führten, sind hinlänglich von Gerhard Renner, Klaus Amann
und anderen42 rekonstruiert worden, weshalb hier nicht auf sie eingegangen
werden soll. Zu hinterfragen wäre aber, was denn Michel mit seinem „wir“
wirklich meinte: Ob er tatsächlich eine aktive Rolle bei den nachgezeichneten
Entwicklungen spielte, oder ob er sich eine solche Rolle nur aus taktischen
Überlegungen heraus zuschreibt, soll hier dahingestellt bleiben. Tatsache ist,
dass sowohl Michel als auch Mell sich 1938 an einer berühmt-berüchtigten Pub-
likation beteiligten, mit welcher der oben erwähnte Bund der deutschen Schrift-
steller Österreichs den (fatalen) Augenblick feierte, da „Österreich durch die
Tat des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler heimgekehrt in das Deutsche
Reich“43 ist: Es handelt sich um das berüchtigte Bekenntnisbuch österreichischer
Dichter. Was Michels eigenen Beitrag angeht, so besteht die Pointe darin, dass
der von ihm eingereichte Probetext ein Auszug aus der novellistischen Fassung
von Eugen vor Belgrad ist, und zwar der Auszug, der den oben zitierten Traum
Prinz Eugens beinhaltet. Die durch den Feldmarschall proklamierte, zuerst aus-
trofaschistisch gefärbte, also quasi ‘aktualisierte’ altösterreichische Staatsidee
wird nun braun übermalt und nationalsozialistisch dekliniert, da im Grunde ge-
nommen beide Ideologien um die Errichtung eines Großreiches unter der Füh-
rung des Deutschtums wetteiferten und sich auf dieselben historischen Figuren
berufen konnten. Was in unserem Kontext aber als das Wichtigste erscheint,
ist, dass Michel diese Doppelbödigkeit der politischen Repräsentation in Kauf
nimmt: Die politische Aussagekraft seines Textes war so beschaffen, dass sie in
Deutschland auf eine Weise, in Österreich aber als ihr Gegenteil gelesen werden
konnte. Er nutzt diese Zweideutigkeit aus, um nach beiden Seiten hin gut dazu-
stehen. Er sprach bewusst mit der Doppelzüngigkeit der Höflinge.
Diese Haltung findet sich in dem letzten brisanten Dokument wieder, das hier
vorgestellt werden soll. Am 26. April 1939 schreibt Michel an den S. Fischer Ver-
lag – den Verlag seiner literarischen Anfänge, der nunmehr von Peter Suhrkamp
geleitet wurde – und trägt diesem seinen Plan vor, seine belletristischen Arbei-
ten mit bosnisch-herzegowinischem Sujet in einen Sammelband zu vereinen:
Die immer stärker ausgreifenden Interessen nach dem Südosten reifen in einer Art
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aus, dass sich von selbst der Gedanke aufdrängt, ob es nicht geboten wäre, mein Werk,
das sich auf Bosnien und die Herzegowina bezieht, gesammelt herauszustellen. Ihrem
literarischen Werte nach und ebenso ihrer Wahrhaftigkeit wegen und ihrer Echtheit
und Vollständigkeit in der Widerspiegelung alles Landschaftlichen und Volkhaften
jener Länder würden es meine epischen Arbeiten an sich verdienen, gesammelt für
die Zukunft erhalten zu werden. Hierzu kommt noch der Vorzug, dass sie so ziemlich
einzig dastehen in der deutschen Literatur auf diesem Gebiet.
Und nun wäre durch die politische Entwicklung wohl für Jahrzehnte lang das allge-
meine Interesse des deutschen Publikums für eine solche Lektüre gesichert. Da könnte
sich also wohl der Verlag, der die Entwicklung dieser meiner dichterischen Durch-
dringung jenes merkwürdigen slawisch-orientalischen Milieus glücklich gefördert
hat, dazu entschliessen, diese schöne Verlagstat zu vollführen. Geschäftlich wäre es
kaum ein Risiko, da sich so ein Sammelwerk als ein dichterischer Baedeker für alle
Reisenden in jenen Ländern einbürgern könnte, und wenn das Werk auch nicht ganz
in die gegenwärtige Linie des Verlages passen sollte, so wäre die Herausgabe doch
aus den angeführten Gründen berechtigt. Bei genauerer Prüfung des Materials würde
sich aber auch herausstellen, dass meine Art der Darstellung den Forderungen der
deutschen Gegenwart durchaus gerecht wird.44
Wie man sieht, schlägt hier Michel larmoyant alle möglichen Töne an, um seine
Bitte vorzutragen und dabei eine positive Resonanz zu erzeugen: Er verweist
stolz auf die literarische Bedeutung seiner Werke und unterstreicht deren Ein-
maligkeit. Er attestiert ihnen Wirtschaftlichkeit, indem er sie als touristische
Ratgeber ausgibt. Im Anschluss an die Zeitungstitel, die anlässlich des Staats-
besuchs des jugoslawischen Außenministers Aleksander Cincar-Marković die
Dieses unheilvolle Zeitzeugnis wirft ein schiefes Licht auf Michels gesamtes
Schaffen: Denn dass er gerade seine besten Arbeiten über Bosnien-Herzegowi-
na dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda anbietet und dabei den
unmöglichen Spagat versucht, die Ideale der Völkerverständigung mit jenen der
militärischen Eroberungen zu verbinden, bringt auf besonders schroffe Weise
die ideologischen Verstrickungen zu Tage, die seiner ganzen Poetik zu Grunde
liegen. Denn de facto legt hier Michel den Konnex bloß, der die literarische
Aufwertung der Kultur fremder Völker mit der Gewalt des Krieges verbindet,
auf die letztendlich – zumal im Falle eines Offiziers – der Kontakt der österrei-
chischen mit der bosnischen Kultur zurückzuführen ist. Dabei erscheint Michels
eigene auktoriale Rolle als Instanz, die mit dem Rekurs auf verschiedene Medien
für die „Echtheit und Vollständigkeit in der Widerspiegelung alles Landschaft-
lichen und Volkhaften jener Länder“49 bürgen soll, wesentlich verfänglicher, als
man sonst gemeint hätte.
48 Als Beilage zum Brief Michels an Suhrkamp vom 21.06.1939 erhalten, in: Deutsches Lite-
raturarchiv Marbach, A: S. Fischer [Hervorh. vom Verf.]. Der Antwortbrief vom Reichs-
ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, datiert vom 02. 08. 1939: „Zu Ihrem
Schreiben betreffend das Schrifttum über fremdvölkische Themen, wird Ihnen mitgeteilt,
daß gerade der deutsche Verleger bekannt dafür ist, daß er für die Verbreitung der Kennt-
nis fremder Völker und Staaten sich zu allen Zeiten eingesetzt hat. Die Bereitschaft des
deutschen Verlegers ist auch heute auf diesem Gebiete nicht geringer geworden. Wenn
Sie mit Ihrem Werk bei einzelnen Verlegern auf eine geringe Aufnahmefähigkeit, ja sogar
auf Widerstände gestossen sind, so gilt dies nicht für die Mehrzahl der deutschen Ver-
lage. / Sie werden gebeten, zu Ihrem Schreiben einzelne konkrete Angaben zu machen. //
Im Auftrag gez. Schlecht.“ In: ÖLA, Konvolut 125/B264 Lit.
49 Vgl. Brief vom 26. 04. 1939 an den S. Fischer Verlag. In: ÖLA, Konvolut 125/B207 Lit.
1 Bereits zwanzig Jahre später hatte sich eine Begriffsverschiebung vollzogen: Bis heute
versteht man unter ‘Bosniaken’ die muslimische Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas.
Um Verwechslungen vorzubeugen, wird in diesem Aufsatz der Begriff nur für die bos-
nisch-herzegownischen Soldaten bis 1918 verwendet.
2 Vgl. Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A. (Hg.): Des Kaisers Bosniaken. Die bos-
nisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Militaria 2008, pp. 95 u.
128.
3 Vgl. Wohnout, Helmut: Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878. In: Neumayer &
Schmidl 2008, pp. 14–39, hier pp. 23 u. 26 f.
4 Vgl. Zaugg, Franziska / Młynarczyk, Jacek Andrzej (Hg.): Ost- und Südosteuropäer in
der Waffen-SS. Kulturelle Aspekte und historischer Kontext. Sonderausg. der Zeitschrift
für Geschichtswissenschaft 7/8 (2017); Dies.: Albanische Muslime in der Waffen-SS. Von
„Großalbanien“ zur Division „Skanderbeg“. Paderborn: Schöningh 2016.
5 Ausführlich zu den wichtigsten Figuren in der Zusammenarbeit mit den deutschen Be-
satzern und in Zusammenhang mit den Rekrutierungen bosnischer Muslime in die Waf-
fen-SS vgl. Motadel, David: Islam and the Nazi Germany’s War. Cambridge, MA: Harvard
Univ. Press 2014, pp. 200–207; Hoare, Marko Attila: The Bosnian Muslims in the Second
World War. A History. New York: Oxford Univ. Press 2014; Bougarel, Xavier: Islam, a
,Convenient Religion‘? The Case of the 13th SS Division Handschar. In: Bougarel, Xavier
/ Branche, Raphaëlle / Drieu, Cloé (Hg.): Combatants of Muslim Origin in European Arm-
ies in the Twentieth Century. Far from Jihad. London et al.: Bloomsbury Academic 2017,
pp. 137–159.
6 Vgl. beispielsweise Mitrovi ć, Andrej: Serbia’s Great War 1914–1918. London: Hurst &
Co. 2007; Gumz, Jonathan E.: The Ressurection and Collapse of Empire in Habsburg Ser-
bia, 1914–1918. New York: Cambridge Univ. Press 2009.
7 Vgl. Scheer, Tamara: A Reason to Break the Hague Convention? The Habsburg Occupa-
tion Policy toward Balkan Muslims in World War I. In: Yavuz, Hakan M./ Ahmad, Feroz
(Hg.): War and Collapse. World War I in the Ottoman State. Salt Lake City: Univ. of Utah
Press 2016, pp. 1008–1022. Vgl. auch Neumayer & Schmidl 2008, pp. 95 f. u. 99.
Muslimen feststellen, die im Zweiten Weltkrieg für die deutsche Waffen-SS an-
geworben wurden.
1943 schreibt der bosnische SS-Brigadeführer Nedim Salihbegović in seinem
„Bericht zur Lage“ im NDH8-Staat, dass die Deutschen bei der slawischen
Bevölkerung vor dem Balkanfeldzug 1941 eine besonders hohe Sympathie ge-
nossen hätten:
Die [slawische] Bevölkerung nach dem Anschluss Österreichs war der Meinung, dass
Deutschland auch das geschichtliche Erbe Österreichs angetreten und somit die Ver-
pflichtungen gegen loyale österreichische Untertanen aus dem [Ersten] Weltkrieg
übernommen hätte. Aus dieser Überzeugung sehnte die Bevölkerung den Einzug der
deutschen Truppen herbei.9
Mohamedaner, die im Allgemeinen von Cetniks [sic] und Ustaschas [sic] be-
kämpft wurden, gehen z.T. zwangsläufig zu den Freiw[illigen] Verbänden der SS
oder den Partisanen, um nicht weiterhin von Ustaschas, Cetniks und Partisanen
gemordet zu werden.“13
Diesen Umstand versuchten die Nationalsozialisten nun, indem sie sich als
Erben der Donaumonarchie ausgaben, für ihre Zwecke auszunutzen: Hermann
Neubacher, „Sonderbeauftragter Südost“ des Dritten Reiches schrieb nachträg-
lich, dass sich Adolf Hitler auf dem Balkan für eine „positive Muselmanen-
politik“ aussprach und „damit in die Fußstapfen des Wiener Ballhausplatzes14
[trat], dessen Politik im okkupierten Bosnien-Herzegowina von peinlicher
Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit der islamischen Welt diktiert war“.15
In der Tat war die habsburgische Politik vom Grundsatz geprägt, die musli-
mischen Eliten nicht zu verärgern.16 Bereits bei der Okkupation 1878 prokla-
mierte Franz Joseph I.: „Eure Gesetze und Einrichtungen sollen nicht willkürlich
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umgestoßen, Eure Sitten und Gebräuche sollen geschont werden.“17 Bereits vor
der Einführung der Wehrpflicht 1881/82 hatte sich das Reichskriegsministerium
bei anderen europäischen Armeen über den Umgang mit Muslimen informiert.
Zu den bestehenden Regelungen und Vorschriften für die Behandlung von Sol-
daten traten spezifische für die „eingereihten Mohammedaner“; diese betrafen
vor allem Gebetszeiten, Feiertage und Ernährungsgewohnheiten. Obwohl die
Einführung der Wehrpflicht zuerst einen militärischen Aufstand zur Folge hatte,
änderte sich das Verhältnis zwischen Muslimen und ihren österreichisch-un-
garischen militärischen Vorgesetzten rasch: Bereits in den letzten Jahren des
ausgehenden 19. Jahrhunderts galt letzteren die Verlässlichkeit muslimischer
Bosniaken als besonders hoch.18
Dass das oben genannte kaiserliche Versprechen wie auch die spezifischen
Vorschriften für Muslime zumindest teilweise umgesetzt und auf religiöse Sitten
der Soldaten Rücksicht genommen wurde, davon zeugen nicht nur die positiven
Erinnerungen ehemaliger k. u. k. Bosniaken, sondern auch die Nachahmungs-
versuche der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. SS-Gruppenführer und
Generalleutnant der Waffen-SS Artur Phleps wollte unbedingt an diese Traditio-
13 Schreiben von SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Ernst Fick an Himmler,
16.3.1944. BArchB, NS 19/2601, Bl. 82.
14 Dies war der Sitz des k. u. k. Außenministeriums gewesen.
15 Neubacher, Hermann: Sonderauftrag Südost 1940–1945. Bericht eines fliegenden Diplo-
maten. Göttingen: Musterschmidt 1956, p. 33.
16 Vgl. Neumayer & Schmidl 2008, p. 96.
17 Die Proclamation. In: Sammlung I (1880), p. 3f, entnommen der Wiener Zeitung Nr. 172
vom 28.07.1878, zit. n. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-un-
garischen Epoche (1878–1918). München: Oldenbourg 1994, p. 58.
18 Vgl. Neumayer & Schmidl 2008, pp. 99 u.103.
nen anknüpfen, denn: „Der Muselmane erinnert sich mit größter Achtung und
Dankbarkeit der Verwaltung im alten Okkupationsgebiet der österreichisch-un-
garischen Monarchie. Was in Bosnien und der Herzegowina geschaffen wurde,
das mit Kultur und Zivilisation in Zusammenhang steht, ist das Verdienst dieser
Verwaltung.“19 Selbst Himmler wusste, dass diese Verbindung aufrecht erhalten
werden musste, wollte man das bestehende positive Image für eigene Zwecke
nutzen. Am 13. Februar 1943 befahl er, dass die neu aufzustellende 13. Waf-
fen-Gebirgs-Division der SS (später Division „Handschar“20 genannt) „tunlichst
aus Bosniaken mohamedanischer Religion zu bestehen“ habe. Weiter beauftrag-
te er Phleps damit, „den Bosniaken im Rahmen unserer Division die alten Rech-
te, die diese in der österreichisch-ungarischen Armee hatten, verbindlich [zu]
zusagen, freie Religionsausübung, Tragen des Fez“.21 Bereits 1942 umschrieb
H. Hollmatz das später von Himmler angestrebte Vorgehen mit folgenden Wor-
ten: „Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich bereits das alte Österreich durch
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seits rührte die positive Grundhaltung gegenüber den Invasoren auch von den
Erinnerungen an die österreichisch-ungarische Armee vor und während dem
Ersten Weltkrieg: Zahlreiche ehemalige Bosniaken waren von der österreichi-
schen Militärdisziplin noch zwanzig Jahre später überzeugt. So beschreibt etwa
der „Kriegsberichter“ Willibald Kollegger, ein gebürtiger Österreicher, solche
Sympathien gegenüber den ‘Deutschen’ anhand einer Begegnung in Boga in
den Bergen Nordalbaniens an der Grenze zu Montenegro Anfang der 1940er
Jahre: „Hier oben treffen wir den Bruder eines albanischen Ministers, der hoch-
erfreut ist, einen Deutschen zu treffen. Als er erfährt, dass sein Deutscher dem
ehemaligen Österreich entstammt, kennt seine Begeisterung keine Grenzen
mehr. ,Ja, die Österreicher, die haben wir in guter Erinnerung‘, sagt er in ge-
brochenem Deutsch, das er noch aus der Weltkriegszeit her beherrscht, als die
k. u. k. Armeen die Hälfte Albaniens besetzt hielten.“25
Persönliche Erinnerungen an die eigene Zeit in der österreichisch-ungari-
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schen Armee oder an deren Präsenz waren also mit ausschlaggebend für den
Umgang mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg. Zvonimir Bern-
wald etwa, der in der 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS diente, war durch die
Erinnerungen seines Vaters geprägt worden, denn dieser habe „im Ersten Welt-
krieg, zusammen mit vielen Kroaten, Serben und Muslimen, in der k. u. k. Armee
gedient. Wir Kinder haben uns oft seine und seiner Kameraden Erlebnisse von
der russischen Front an der Dobrudscha und vom italienischen Kriegsschau-
platz an der Piave 1918 angehört, die er zusammen mit einem Serben und einem
Kroaten in der feuchtfröhlichen Weinrunde erzählte.“26
ausführlich Elsie, Robert: Der Kanun. Das albanische Gewohnheitsrecht nach dem so-
genannten Kanun des Lekë Dukagjini. Berlin: OEZ 2014.
25 Kollegger, Willibald: Albaniens Wiedergeburt. Wien: Wiener Verlagsgesellschaft 1942,
p. 38.
26 Bernwald, Zvonimir: Muslime in der Waffen-SS. Erinnerungen an die bosnische Division
Handžar (1943–1945). Graz: Ares 2012, p. 15.
fehlshaber vor 20 Jahren [gemeint sind die Bosniaken in der k. u. k. Armee, F.Z.]
stets loyal; weshalb sollten sie das heute nicht auch sein?“27 Und Muslime, die
in faschistischer Uniform patrouillierten, erinnerten den Österreicher Kollegger
an „deutsche Werte“ wie „tadellose Ordnung“ und „soldatische[n] Geist“.28
In seinen Memoiren hält Hermann Neubacher,“Sonderbeauftragter Südost”
im Dritten Reich, die Tatsache fest, dass sowohl die deutsche Wehrmacht als
auch die Verbände der Waffen-SS von vielen Südosteuropäern mit der österrei-
chisch-ungarischen Armee aus dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht
wurden.29 Die personellen Verflechtungen zwischen Bosniern und Österrei-
chern bzw. Ungarn, die in beiden Waffenverbänden, zuerst in der österreichi-
schen Armee und später in der Waffen-SS dienten, waren zahlreich. Ein an-
schauliches Beispiel ist der Kommandeur des Pionier-Bataillons der bosnischen
Waffen-SS-Division, SS-Hauptsturmführer Oskar Kirchbaum, der sowohl in der
k. u. k.-Armee als auch in der jugoslawischen Armee der Zwischenkriegszeit
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27 Ibid., p. 132.
28 Kollegger 2012, p. 57f.
29 Vgl. Neubacher 1956, p. 108.
30 Auch bei den Namen dieser Divisionen versuchten die Nationalsozialisten, Verbindun-
gen zu Geschichte und Tradition herzustellen: “Kama” bezeichnet, wie „Handžar“, einen
traditionellen Dolch, “Skanderbeg” ist der Namen des albanischen Nationalhelden Iskan-
der Beg, und mit “Prinz Eugen” versuchten die Vertreter des Dritten Reiches einen Bezug
zu Prinz Eugen Franz von Savoyen-Carignan herzustellen, der mit kaiserlich österreichi-
schen Truppen die Festung Belgrad 1717 von den Osmanen erobert hatte.
tigen Amt.31 Dieses Vorgehen zeigt, dass die Nationalsozialisten Wert darauf
legten, eine Kontinuität zu Österreich-Ungarn aufrechtzuerhalten und so das
Vertrauen der Bosnier (und Albaner) zu gewinnen.
Schlussbetrachtungen
Letztlich war die Gewalterfahrung, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte,
noch um vieles brutaler als jene des Ersten Weltkriegs – wenn sich kriegeri-
sche Gewalt überhaupt in solchen Skalen messen lässt. Bernwald beschreibt die
daraus resultierende Erfahrung und Erinnerung der in die Kriegshandlungen
Österreich-Ungarns im Ersten und des Dritten Reichs im Zweiten Weltkrieg
involvierten Bosnier und Kroaten folgendermaßen: „Was war der Unterschiede
zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg? Der Erste Weltkrieg be-
stand, bezogen auf die russische Front, gemäß den Erzählungen und aus der
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31 Vgl. ibid., p. 107. Vgl. auch Kasmi, Marenglen: Deutsche Besatzung in Albanien. Potsdam:
ZMSBw 2013, p. 13.
32 Bernwald 2012, p. 15.
33 So meldete Horst Wagner im Oktober 1944„Zersetzungserscheinungen“ in der Bosnia-
ken-Division (Leiter Referatsgruppe Inland II Horst Wagner an Gesandtschaft Budapest,
6.10.1944. PAAA Inland IIg R100998). Die Überreste der Division „Hand ž ar“ sollten auf-
gelöst, die Werbung eingestellt werden; vgl. Gesandter Kasche an AA, 27.10.1944. PAAA
Inland IIg R100998, H297359.
Vorbemerkung
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Ivo Andrić (1892–1975), der Nobelpreisträger, Humanist und Diplomat, der kein
serbischer Nationalist im Sinne von Slobodan Milošević gewesen ist, sondern
mit den in seinem Roman Na Drini Ćuprija entfalteten Narrativen ein zukünfti-
ges Jugoslawien antizipieren wollte,1 entzweit heute die Völker des ehemaligen
südslawischen Staates. Während ihn vor allem die Serben als einen der Ihren
feiern, soll die Lektüre seines bekanntesten Romans in bosnisch-muslimischen
Schulen wenigstens zeitweise untersagt worden sein. Das muss nicht mit dem
Autor und seinen heute historisch gewordenen Intentionen zusammenhängen,
sondern hat ganz offenkundig damit zu tun, dass die Stadt Višegrad, die Stadt
an der Drina-Brücke, infolge der Vertreibungen der ansässigen muslimischen
Bevölkerung heute beinahe eine rein serbische Stadt ist. Mittlerweile wurde
ein neuer Stadtteil auf Betreiben des Filmregisseurs Emir Kusturica Andrićgrad
benannt.2
1 Kodrić, Sanjin: „Überschwang und Martyrium“. Das Attentat von Sarajevo und seine Re-
flexionen im literarischen Werk von Ivo Andrić. In: Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens
(Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen:
Francke 2016 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 22), pp. 405–422.
2 Vgl. http://www.andricgrad.com.
Raum, der durch die Zeit gefüllt und konkret wird.3 Unabhängig voneinander
sind beide entweder unermesslich oder leer. Der russische Theoretiker gibt auch
Beispiele für prominente Chronotopoi, die das Genre und die narrative Struktur
prägen: den Weg und die Straße, die Schwelle und damit verbundene Phäno-
mene (Treppe, Vorzimmer, Korridor), die Provinzstadt, den Platz, das Schloss.4
Andere ließen sich hinzufügen: die moderne Großstadt, das Haus und eben die
Brücke. Nicht wenige, wenn auch nicht alle dieser Chronotopoi sind passager;
in ihnen obwaltet die Bewegung im Raum, während Schloss und Haus stationär
sind und ihre Dynamik dem Umstand verdanken, dass sie zugleich Orte der Er-
innerung sind, deren Vektor in die Vergangenheit weist.
Die Brücke, die in Andrićs Roman mehr ist als ein Thema, ist zweifelsohne
ein solch passagerer Ort. Mit der Straße hat sie gemein, dass sie ein Unterwegs
von einem zum anderen Ort impliziert; sie führt tiefer in das Osmanische Reich
hinein. Vornehmlich aber ist sie eine Schwelle, ein Übergang von einem Raum
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zum anderen, der durch eine Grenze markiert ist, hier einen Fluss, die Drina,
den sie überwindet; zugleich bestätigt sie gleichsam die Trennung von zwei
Räumen, denen im Roman von Andrić eine soziale und symbolische Bedeutung
zukommt.5 Das wird ganz zu Anfang des Romans von ihrem Chronisten auch
betont, wenn es heißt, dass die christlichen Kinder, die auf dem linken Dri-
na-Ufer geboren sind, schon in den ersten Tagen ihres Lebens über die Brücke
zur Taufe in die Kirche gebracht werden. Auf der rechten Seite der Drina be-
findet sich also das Zentrum der Stadt und damit neben der Moschee auch die
christliche, orthodoxe Kirche. So spiegelt sich, wie in allen vormodernen Raum-
ordnungen, der soziale und symbolische Raum im Territorium, lässt diesen als
gleichsam objektiv erscheinen.
Georg Simmel hat in seiner essayistischen Miniatur Brücke und Tür die pa-
thetische Ambivalenz der Brücke als eine „spezifisch menschliche Leistung“ des
Wegebaus beschrieben:
Im Bau der Brücke gewinnt diese Leistung ihren Höhepunkt. Hier scheint nicht nur
der passive Widerstand des räumlichen Auseinander, sondern der aktive einer be-
sonderen Konfiguration sich dem menschlichen Verbindungswillen entgegenzustel-
3 Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik.
Übers. von Michael Dewey. Frankfurt/M.: Fischer 1989, p. 8.
4 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Tübingen: Francke/UTB 22010, pp. 311–331.
5 Vgl. Previšić, Boris: ‚Broken Imperial Narratives’ als Raumstruktur. Ivo Andrić und Jo-
seph Roth. In: Babka, Anna / Finzi, Daniela / Ruthner, Clemens (Hg.): Die Lust an der Kul-
tur/Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk. Wien: Turia +
Kant 2012, pp. 450–461.
len. Dieses Hindernis überwindend, symbolisiert die Brücke die Ausbreitung unserer
Willenssphäre über den Raum.6
Was aber die Besonderheit der Brücke ausmacht, ist, dass man sie nicht nur wie
jede Schwelle, wie jede Raumöffnung so schnell wie möglich passiert, sondern
sich auch auf ihr aufhält, was der serbokroatische Titel Na Drini Ćuprija [auf
der Drina-Brücke] akzentuiert. Man verweilt nämlich auf dieser Brücke, diesem
Weltwunder des Osmanischen Reiches, weil – wie die genaue Beschreibung
erläutert – die Brücke in der Mitte eine platz- und terrassenartige Weitung
hat, die Kapija. Diese bildet eine eigentümliche zweite Mitte der Doppelstadt,
einen öffentlichen Ort, auf dem Kinder spielen, Menschen Kaffee trinken und
miteinander sprechen, aber auch öffentlich hingerichtet werden. Viel mehr als
die vergleichweise abseitige Strudlhofstiege in Heimito von Doderers gleichna-
migem Wien-Roman ist die Brücke die Bühne des Lebens einer Stadt, das es im
Hinblick auf das hintergründige Thema, die Geschichte Bosniens von 1516 bis
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1914, verhandelt. Rhetorisch gesprochen hat die Brücke, das eigentliche Zent-
rum der kleinen Stadt Višegrad, eine metaphorische und eine metonymische,
genauer: synonymische Bedeutung. Sie steht als Metapher für das Verhältnis
der Ethnien in der Region, sie ist aber auch eine Welt im Kleinen, die Teil der
großen Welt ist.
Im Roman finden sich, der Brücke zugeordnet, noch weitere Chronotopoi:
der Clan, eine Karawanserei, die erst in der Zeit der österreichischen Besatzung
endgültig verschwindet und durch eine Kaserne ersetzt wird, das Hotel der ga-
lizischen Jüdin Lottika, die mit der österreichisch-ungarischen Armee ins Land
kommt, Kaffeehäuser und Geschäfte. Aber die Brücke, die zugleich ein Platz ist,
steht zweifelsohne im Zentrum des Geschehens. Der Originaltitel, der ein altes,
aus dem Türkischen stammendes Wort für Brücke (ćuprija) statt des geläufigen
(most) bewendet, macht von Anfang an die ethnische Zugehörigkeit der Brücke
sinnfällig.7
Die Besonderheit dieses zugleich historischen Romans besteht nicht zuletzt
darin, dass der Chronotopos hier zum eigentlichen Helden wird, wobei Erzähler
und Autor diesem Helden durchaus ambivalent gegenüberstehen. Nach einem
klassischen Modell wird die Geschichte einer Epoche mit dem menschlichen
Leben in Analogie gebracht, so auch die Brücke, die metaphorisch und meto-
6 Simmel, Georg: Brücke und Tür. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12: Aufsätze und Abhand-
lungen 1908–1918 I. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, p. 56.
7 Vgl. hierzu Bergman, Gun: Turkisms in Ivo Andrićs Na Drini Ćuprija Examined from the
Points of View of Literary Style and Cultural History. Uppsala: Aktiebolag/Acta Univer-
sitatis Upsaliensis 1969, p. 21. Mit Berufung auf Vladam Nedić meint Bergman, der Titel
des Romans stamme von einem muslimischen Volkslied; „Veće hajde gradu Višegradu,/
Da se gradi na Drini Ćuprija./ Osta danas na Drini Ćuprija/ Osta danas, osta dovijeka.“
Das erste Bild einer Brücke, dem es bestimmt war, verwirklicht zu werden, leuchtete,
natürlich noch völlig unbestimmt und nebelhaft, in der Phantasie eines zehnjährigen
Jungen aus dem benachbarten Dorfe Sokolowitschi an einem Morgen des Jahres 1516
auf, als man ihn auf dem Wege von seinem Dorf zum fernen, strahlenden und frucht-
baren Stambul dort vorüberführte.8
Dieser Kinderzug nach Istanbul ist ein kollektives Opfer, eine militärisch er-
zwungene Maßnahme, eine „festgesetzte Zahl christlicher Kinder für den Blut-
zoll, den Adschami-Oglan“, einzusammeln, wie es im Roman (p. 22/21) heißt.
Das muslimische Herrschaftssystem schreibt sich durch die Zwangsbeschnei-
dung kleiner Christen und ihre Trennung von ihrem realen und symbolischen
Raum in die Körper der Untertanen ein, denn dieser Akt an den nach Istanbul
pilgernden Kinder ist nichts als die Unterwerfung unter ein symbolisches Ge-
setz, das hier das Stigma des Fremden und Inhumanen trägt. Die Beschneidung
bildet imaginär wie real eine Trennungslinie zwischen den Ethnien; die Kastra-
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tion der christlichen Kinder spiegelt die Schmach der marginalisierten Kultur
wider.
Aber dieser beschnittene, seinem symbolischen Raum gewaltsame entrissene
Mensch, wird, in einer augenfälligen Kehrwendung, zu einem großen Staats-
mann, zum Schwiegersohn des Sultans. Als Mechmet Pascha Sokoli wird er
zum Erbauer eben jener Brücke oder genauer zu jenem Politiker, der in seiner
Heimat ein Denkmal nicht nur der osmanischen Herrschaft errichten lässt, son-
dern auch ein Erinnerungswerk für seine Landsleute setzt. Aber damit wird er
als Held dieser Geschichte vollends ambivalent, denn man weiß nicht, wer der
Vater der Brücke ist, ein Muslim oder ein Christ. So verherrlicht die Brücke in
der Gestalt des christlichen Bauernbuben, der zum islamischen Würdenträger
aufsteigt, beide Seiten: man weiß nicht, wem sie gehört. Man kann sie mehrfach
deuten: auch als eine klammheimliche Rache, als einen Kassiber des muslimi-
schen Würdenträgers, der insgeheim ein kleiner serbischer Bub geblieben ist.
Insofern kann seine Tat im Sinne einer blutigen Machterhaltung, aber auch im
Sinn eines verschwiegenen Gründungsmythos gelesen werden, eben unter den
extremen Bedingungen einer brutalen ‘orientalischen’ Fremdherrschaft.
Die Brücke trennt und verbindet die widerstrebenden Teile auf eine asymmet-
rische, machtförmige Weise. Wie die Topografie von Stadt und Brücke illustriert,
markiert die kulturelle und religiöse Differenz auch eine soziale. „Türken“ – so
werden die muslimischen Bewohner der Stadt im Roman durchgängig genannt
8 Andrić, Ivo: Die Brücke über die Drina. Übers. von Ernst J. Jonas. Frankfurt/M.: Suhr-
kamp 1962, p. 20 / bzw. Ders.: Na Drini Ćuprija. Belgrad: Prosveta 1963, p. 19.- Im Folgen-
den werden die Seitennachweise für beide Ausgaben in dieser Reihenfolge im Lauftext
angegeben.
vom serbischen Helden weist metakritisch auf die Intensität der Erinnerung
und damit des Erinnerten. Sie gleichen sich aber darin, dass sie Opfernarrative
darstellen. Dies kulminiert in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen
dem grausamen Brückenbauer Abidaga und dem einfachen Bauern Radislaw,
der, lange unbemerkt, zusammen mit Freunden den Brückenbau in der Nacht
zerstört. Er wird auf dem Plateau der Brücke öffentlich gepfählt und stunden-
lang gequält. „Türken auf der Brücke… wie Hunde sollt ihr verrecken… wie
Hunde umkommen…!“ (p. 57/49) Auf den Tod des Märtyrers folgt als Gottes-
gericht tiefer Frost, der jeden Weiterbau an der Brücke zunächst verhindert.
Die Geschichte der Opfer, die dieser Bau fordert, beginnt mit dem Blutzoll
des späteren Mechmet Pascha und findet ihre Fortsetzung in der Fronarbeit der
christlichen Bevölkerung Višegrads und der Hinrichtung des widerständigen
Radislaw. Sie endet mit der Ermordung desjenigen, der die Brücke in seinem
Kopf erbaut hatte: Mehmet Pascha. Mit dem Bau der Brücke ist indes ein kol-
lektives Trauma beschrieben, das zwar in den folgenden Kapiteln beiseite ge-
schoben, aber anscheinend nicht vergessen ist.
So ist die Brücke Teil einer Herrschaftsgeschichte, die auf der symbolischen
Ebene von der Islamisierung begleitet ist und die doch auch eine utopische Di-
mension, wie sie in der Brückenfunktion symbolisch enthalten, hat. So steht im
Hintergrund der Geschichte der Brücke stets auch ein Kampf zwischen Serben
und Türken, der im 19. Jahrhundert wieder entflammt.
Der Chronist der Brücke ist auch insofern ambivalent, als er zuweilen im
Hinblick auf die Bevölkerung der Stadt an der Brücke, deren Namen nur ge-
legentlich genannt wird, die erste Person Plural – „wir“, die „Unsrigen“ – ver-
wendet und vornehmlich im im letzten Teil des opus magnum doch offen lässt,
inwieweit er die als „Türken“ bezeichnete Bevölkerung der Stadt in dieses mit
einbezieht. Es ist wohl kein Zufall, dass im letzten – achten – Kapitel des ersten
Teils, die Geschichte einer stolzen und vornehmen muslimischen Frau erzählt
wird, die sich lieber von der Kapija aus in die Drina stürzt als die Ehefrau eines
ungeliebten Mannes zu werden: Die Geschichte der schönen Fata wird als Teil
des kollektiven Gedächtnisses beschrieben.
Habsburg imperial/kolonial
Im zweiten Teil des Romans verändert sich die narrative Matrix, die auch die
Geschichte von Opfern und Tätern ist, schlagartig. Wenn die beiden islamischen
Würdenträger, Mullah Ibrahim und der Muderis Hussein Effendi, der Pope Ni-
kola und der Rabbiner David Levy auf der Kapija 1878 die Ankunft des k. u. k.
Heeres erwarten, so geschieht dies schon im Geist einer resignativen Einmütig-
keit. Nach dem Gespräch mit dem österreichischen Obersten befinden sie alle:
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Die territoriale Kolonialmacht eint die bislang zerstrittenen Lager, wenn auch
nicht – auch nicht im Roman – auf Dauer:
Überall sind bei allen Furcht. Die einrückenden Schwaben fürchten einen Hinterhalt.
Die Türken fürchten sich vor den Schwaben, die Serben vor Schwaben und Türken.
Die Juden fürchten sich vor allem und jedem, denn besonders in Kriegszeiten ist jeder
stärker als sie. (p. 153/130)
Aber immerhin erwächst aus dieser neuen Situation – der Besetzung durch
eine ganz andere Macht – die Möglichkeit der Verständigung, wie sie in diesem
frühen ökumenischen Gespräch zutage tritt und auf ein jugoslawisches Ge-
meinschaftsnarrativ verweist, das ideologisch verschieden besetzt werden kann,
liberal und marxistisch.
Mit außereuropäischen kritischen Kolonialisierungsnarrativen gemeinsam
hat dieser Teil, dass er die Besatzungszeit als Triumph einer fremden techni-
schen, von den Bewohnern unverstandenen Zivilisation beschreibt, die Stra-
ßenbeleuchtung, Straßenreinigung oder Hausnummerierung einführt und vor
allem Schule und Bildung fördert. Die ökonomische Situation wird zwiespäl-
tig beschrieben, im Sinne eines steigenden Wohlstandes, aber auch steigender
Steuern und Preise. Das Bild der neuen Fremdherrscher wird dabei durchaus
differenziert gezeichnet; die Bandbreite reicht von Überheblichkeit bis Gut-
mütigkeit. In der Figur der jüdisch-galizischen Hoteldirektorin Lottika hat der
Chronist sogar eine sympathische Figur der fremden Macht geschaffen.9 Viele
der neuen Errungenschaften, die vor allem von der muslimischen Oberschicht
beargwöhnt werden, werden vom Chronisten auch aus einem imperialistischen
Kalkül erklärt, nämlich die neuen Untertanen zu integrieren und zu kontrollie-
ren. Mit der Besatzungsmacht kommen andere Völker in die Stadt, die durch die
Okkupation multikulturell wird. Vereinfacht gesprochen, kann man sagen, dass
die muslimische Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, eher zivilisatori-
schen Ungehorsam übt, die serbische Bevölkerung indes zunehmend nationalen
Widerstand leistet.
Im dritten Teil, der mit der Annexionserklärung Kaiser Franz Josephs 1908
beginnt, verschärfen sich die Gegensätze nach allen Richtungen: Während die
muslimische Bevölkerung an ihren alten Privilegien festhalten möchte und sich
mit der österreichisch-ungarischen Herrschaft arrangiert hat, streben die gut
ausgebildeten serbischen jungen Leute, die außerhalb Bosniens studieren, zu
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neuen politischen Ufern, die vom Gegensatz von Sozialismus und Nationalis-
mus geprägt sind. Es ist ein burgenländisch/westungarisch-serbischer Student,
Tomas Galus, der seinem muslimischen Gegenüber Fechim Bachtijarewitsch ein
neues nationales Befreiungsnarrativ10 verkündet, in dem die Nationsbildung
das beinahe messianische Versprechen der Wende zum ganz Anderen in sich
trägt:
,Du wirst sehen, Fechim’, versicherte der hingerissene Galus seinem Freunde, als sei
das eine Angelegenheit dieser Nacht oder des morgigen Tages, ‚du wirst sehen, wir
gründen einen Staat, der der wertvollste Beitrag zum Fortschritt der Menschheit sein
wird, in dem jede Mühe gesegnet, jedes Opfer heilig, jeder Gedanke eigenwüchsig,
getragen durch unsere Sprache und jedes Werk mit dem Siegel unseres Namens ge-
zeichnet sein wird. Dann werden wir Werke schaffen, die das Ergebnis unserer freien
Arbeit und Ausdruck unseres Rassengenius sein werden, Werke, denen gegenüber
alles, was in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft geleistet wurde, wie kleinliche
Spielerei erscheinen wird. Wir werden breitere Flüsse und tiefere Abgründe überbrü-
cken. Wir werden neue, größere und bessere Brücken bauen, und sie werden nicht
fremde Zentren mit unterjochten Provinzen, sondern unsere Gebiete untereinander
und unseren Staat mit der ganzen übrigen Welt verbinden.’ (p. 315f./ 268)
muslimischen Welt und der Drina-Brücke kein Drama, sondern ganz im Gegen-
teil Zeichen einer neuen Zeit. Die nationale Revolution wird so die Schmach der
Geburt, die mit dem Bau der Brücke untrennbar verbunden ist, tilgen. Der sym-
bolische Tod der Brücke ist aber auch Teil eines nach-hegelianisch gedachten
Geschichtsprozesses. In diesem Sinn wird sie durch den Roman „aufgehoben“:
Die große steinerne Brücke, die nach der Absicht und der frommen Entscheidung des
Wesirs aus Sokolowitschi wie eines der Kettenglieder des Reiches die beiden Teile
der Türkei verbinden und ‚zu seinem Seelenheil’ den Übergang zwischen Westen
und Osten erleichtern sollte, war nun wirklich von Ost wie von West gleichermaßen
abgeschnitten und wie ein gestrandetes Schiff oder eine verödete heilige Stätte sich
selbst überlassen. Mehr als drei Jahrhunderte hatte sie alles ausgehalten und überlebt
und unverändert getreu ihre Aufgabe erfüllt, aber die Bedürfnisse der Menschen hat-
ten sich gewandelt und die Dinge verändert; jetzt war ihre eigene Aufgabe ihr untreu
geworden. Ihrer Größe, Festigkeit und Schönheit nach hätten noch jahrhundertelang
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Heere über sie hinwegziehen und Karawanen sich auf ihr aneinanderreihen kön-
nen, aber im ewigen und unvorausschaubaren Spiel der menschlichen Beziehungen
war nun plötzlich die Stiftung des Wesirs verworfen und wie durch Zauber aus dem
Hauptstrom des Lebens herausgerissen. Die heutige Bedeutung der Brücke entsprach
in nichts ihrem ewig jungen Aussehen und ihren riesenhaften und doch harmonischen
Ausmaßen. (p. 292/249)
Nachsatz
Der Roman endet 1914, obschon er erst 1945 beendet wurde.11 Die Zeit, von der
aus der Chronist erzählt, wird nicht abgelichtet. Die dreißig Jahre dazwischen
sind ausgespart, und es ist nicht müßig, sich die Frage zu stellen, warum diese
Auslassung erfolgte, die immerhin das Scheitern der von Tomas formulierten
Utopie eines neuen serbisch geführten Nationalstaates am Balkan, die Verbre-
chen neuer Besatzer – der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten – und
einen blutigen Bürgerkrieg umfasst. Aber vielleicht lebte der von Andrić ge-
schaffene Mythos von der Brücke an der Drina, der nach 1945 durch den Par-
tisanenmythos Titos überlagert wurde, gerade von diesen Auslassungen. Zeit-
weilig kann auch gemeinsames Vergessen – oder vielmehr: Schweigen – einen
Zusammenhalt gewähren. Das Vergessen ist ein paradoxer und zugleich unver-
zichtbarer Aspekt des Erzählens: das gilt übrigens für Andrić wie für Doderer.
Andrićs Roman verkörpert, aus der Autor- und der Erzählerperspektive be-
trachtet, einen humanen, gemäßigt-liberalen Nationalismus des Rinascimento,
der zeitweilig mit Titos Sozialismus kompatibel gewesen ist. Dass für die musli-
mische Bevölkerung die narrative Matrix von Andrić´ Roman heute inakzepta-
bel erscheint, mag, gerade literarisch, als provokant und undankbar erscheinen,
ist aber letztendlich mit Blick auf die große Erzählung des Romans durchaus
verständlich. Denn in der Geschichte, die 1914 endet und danach wieder be-
ginnt, ist für sie eigentlich kein Platz vorgesehen, außer einem Anschluss, der
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1 Zitiert wird nach Bachmann, Ingeborg: Drei Wege am See. In: „Todesarten“-Projekt. Kri-
tische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Gött-
sche. Bd. 4: Der ‘Simultan’-Band und andere späte Erzählungen. München, Zürich: Piper
1995. Im Folgenden im Lauftext mit der Sigle TP 4 angegeben.
2 Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheim-
nisses. München: dtv 2003, p. 398.
3 „Paris wirkt wie ein überdimensioniertes Wien und New York wie eine Potenzierung von
Paris.“ (Reitani, Luigi: „Heimkehr nach Galicien“. Heimat im Werk Ingeborg Bachmanns.
In: Agnese, Barbara/ Pichl, Robert (Hg.): Topografie einer Künstlerpersönlichkeit. Neue
Annäherungen an das Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg: Königshausen & Neu-
mann 2009, pp. 31–46, zit. p. 40.)
4 Vgl. Améry, Jean: Trotta kehrt zurück. Über Ingeborg Bachmanns Novellenband „Simul-
tan“. In: Die Weltwoche 45/40, 8. November 1972. Vgl. Weigel 2003, p. 331; vgl. auch Höller,
Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek: Rowohlt 1999, p. 161. „Der Tag, an dem Jean Améry
in Salzburg den Freitod wählte, war der 17. Oktober 1978, genau der fünfte Todestag
Ingeborg Bachmanns.“
8 Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft. Roman. Berlin: Verl. der Nation 1990, p. 6. Im Folgen-
den im Text mit der Sigle KG nachgewiesen.
nicht einfach eine Gegengeschichte, sondern beruft sich auf die genauen Ver-
wandtschaftsverhältnisse bei Joseph Roth. Dort ist der Vater des Ich-Erzählers
„ein Rebell und ein Patriot“, der eine slowenische Partei zu gründen beginnt
und Österreich-Ungarn reformieren will: „Er träumte von einer Monarchie der
Österreicher, Ungarn und Slawen“ (KG, p. 6f.). Die trialistische Neuordnung, der
sich auch Thronfolger Franz Ferdinand verschreibt und dennoch (wohl absur-
derweise und aus Ahnungslosigkeit) dem Attentat in Sarajevo zum Opfer fällt,
scheint die Lösung des gordischen Knoten darzustellen.
Damit setzt die Erzählerin von Bachmanns opus ultimum die Vision Joseph
Roths fort, an welche der Autor selbst nach dem Niedergang der Monarchie
nicht mehr zu glauben vermochte, welche aber seine Figuren in direkten Reden
formulieren. Zentral sind die Äußerungen des polnischen Grafen Chojnicki,
welcher den Zusammenhalt des Reiches über die Peripherie definiert. Es seien
„die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus
Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Ma-
ronibrater aus Mostar, die Gott erhalte singen“ (KG, p. 16). Dagegen würde die
deutschsprachige Bevölkerung „die Wacht am Rhein“ intonieren. Was Joseph
Roth angesichts des Anschlusses Österreichs Chojnicki sagen lässt – „Österreich
wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehen […]“ (ibid.)10 – entspricht der
Folie, auf der die Erzählung Ingeborg Bachmanns operiert.
9 Der Journalist Mühlbauer entspricht in seiner Funktion dem fast gleichnamigen Journa-
listen Mühlhofer, welcher in Malina den Erzähler interviewt. Vgl. Bachmann, Ingeborg:
Werke III: Todesarten. Malina und unvollendete Romane. Hg. von Christine Koschel, Inge
von Weidenbaum und Clemens Münster. München, Zürich: Piper 1978, p. 90.
10 Interessanterweise lassen sich alle idealisierten Peripherieorte im slawischen Raum und
davon mehr als die Hälfte im südslawischen Raum lokalisieren.
Entscheidend ist nicht die nostalgische Rückwendung, sondern das neue Le-
bensgefühl, welches der Pariser Trotta Elisabeth vermittelt. In ihrer Kindheits-
landschaft, „auf dem Höhenweg Nummer. 1“, erinnert sie sich an die „große
Liebe, die unfaßlichste, schwierigste zugleich, von Mißverständnissen, Streiten,
Aneinandervorbeisprechen, Mißtrauen belastet“ (TP 4, p. 383). Die topografi-
sche Erkundung korreliert so in erster Linie – wie das die Wegbezeichnung sug-
geriert – mit der zentralen und zugleich komplizierten Figur Trotta, welche „sie
zum Bewußtsein vieler Dinge brachte, seiner Herkunft wegen“ (TP 4, p. 383).
Doch der Erinnerungsort induziert gerade nicht ein neues oder zumindest neu
codiertes Heimatgefühl und eine neue Verortung. Die Liebe zu Trotta, zum aus
„Anschluss-Österreich Exilierten“11, macht sie selber, zuvor „eine Abenteuerin“
der großen Welt und der Welt der Großen, zur „Exilierte[n]“ (TP 4, p. 383f.).
Mit dieser Fremderfahrung koinzidiert die Familiengeschichte Elisabeths,
der Matreis. Ihr Vater ist nur noch „ein Relikt“ im neuen Österreich, ihr Bru-
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der geht dank seiner Heirat in England „noch sicherer in […] Distanz“: „[W]
as sie zu Fremden machte überall, war ihre Empfindlichkeit, weil sie von der
Peripherie kamen und daher ihr Geist, ihr Fühlen und Handeln hoffnungs-
los diesem Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung gehörten […]“ (TP 4,
p. 366f.). Was aber in Bezug auf Trotta verbalisiert wird, bleibt bei der nächsten
Liebe, bei „ihrer ganz großen Liebe“, zu Manes aus Zlotogrod, zum „falsche[n]
Franzose[n]“ (TP 4, p. 407ff.) unartikuliert: „[E]s bleibt ihm verborgen, wie ihr
Abschied von Trotta und ihre Auferstehung durch ihn und ein Wort wie Zlo-
togrod ineinandergegriffen hatten.“ (TP 4, p. 412) Der ironisierende Rückgriff
auf den Trotta-Nachfolger Manes und damit auf den Juden Manes Reisinger,
den Fiaker Joseph Roths, bleibt in seinem ungelösten Affekt symptomatisch
für die ganze Erzählung, welche das jüdische Thema, das in der intertextuellen
Vorlage omnipräsent ist, ansonsten systematisch ausklammert. Die trialistische
Topografierung Wiens, Galiziens und Sloweniens in Form der „drei Wege“ der
Erzählung wird um „dieses Land“, „die nördliche Schwester Sloweniens“12, um
das „biblische Land“ „Galicien“13 gekappt.
Der Blick der Erzählerin nach Süden impliziert somit immer auch jenen nach
Norden bzw. in den „fernen Osten der Monarchie“;14 der intertextuelle Bezug
ist somit nur als Übernahme einer ihr bereits eingezeichneten Topografie samt
ihrer Stereotypen zu verstehen. Wenn Elisabeth „auf den See“ schaut, „der diesig
unten lag und über die Karawanken hinüber, wo gradewegs in der Verlängerung
einmal Sipolje gewesen sein mußte“, welche gemäß dem Pariser Trotta „so ver-
flucht gesund seien“ (TP 4, p. 391), dann geht es weniger um ein Slowenien, das
„im Unterschied zu dem es umgebenden Nationen mit keiner aufdringlichen
Hypothek von Geschichte, Kultur und Tradition belastet sei“,15 als vielmehr um
einen gedoppelten Bezugsrahmen, einerseits um Joseph Roths Figur des Vetters
Joseph Branco (vgl. KG, p. 12), welche quasi eine Generation später nochmals
in der Schlusspassage der Erzählerin auftaucht, andererseits um den unterge-
gangenen Ort Sipolje, der wie Zlotogrod „nicht mehr existiert“ (KG, p. 24) und
schon bei Roth unter „imaginärer Ort“ zu rubrifizieren ist.16
Der nostalgische Blick auf das „Dreiländereck“, „wo es noch Bauern und Jäger
gab“, romantisiert nicht; die ‚Unvernunft‘ der Monarchie, wo selbst „die Revo-
lutionäre […] ganz erschrocken gewesen [seien], wie es dann dieses verhaßte,
aber mehr noch geliebte Riesenreich nicht mehr gab“, induziert vielmehr „ihre
Moral“, welche aus der südöstlichen Peripherie kommt (vgl. TP 4, p. 417). Das
Land der Gegenwart „Jugoslawien“ (TP 4, p. 404) verklärt die Erzählerin im
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Unterschied zu Peter Handkes Figuren gerade nicht; obwohl es nur marginal er-
scheint, so tritt es nicht das imperiale habsburgische Erbe an. Wenn von „Moral“
die Sprache ist, dann geht es um eine verdeckte Hypothek – die in den bisheri-
gen Forschungsarbeiten zu dieser Erzählung noch nicht formuliert worden ist.
Sie lässt sich zwar an die intertextuelle Verbindung zu Joseph Roth anschließen,
erweitert aber den Komplex erheblich. „Auf dem Höhenweg 1 kam sie wieder
zur Zillhöhe […], schaute kurz auf den See hinunter, aber dann hinüber zu
den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien,
Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt […].“ Der Erinne-
rungsakt selber ist in eine iterative Struktur der Wanderungen am Kindheitsort
einerseits und der Suche nach dem nostalgischen Ort andererseits eingebunden.
Doch dazwischen erweitert sich der Blick vom Sichtbaren, vom „See“ und von
den „Karawanken“, zum Unsichtbaren, zu den südslawischen Provinzen Öster-
reich-Ungarns, zunächst zum cisleithanischen „Krain“, dann zum transleithani-
schen „Slawonien“ und „Kroatien“ und schließlich zum gemeinsam von Wien
und Budapest verwalteten „Bosnien“. Die Trennung vom Pariser Trotta schreibt
sich in die „Geistersätze […] von dort unten, aus dem Süden“ ein.
Im Erinnern imaginiert sich nochmals das Verschwinden, dessen Reste an den
Vater geknüpft sind, denn seine Hochzeitsreise führt ihn „durch das Rosental
und über den Loiblpass nach Bled“, und „[s]eine letzte Reise hatte er allein und
nach Sarajevo gemacht mit siebzig Jahren“ (TP 4, p. 414). In der Textstufe II
führt die Hochzeitsreise noch unverdächtig „zu Fuß durch die Wachau“, wobei
15 Šlibar, Neva: Das Eigene in der Erfindung des Fremden. Spiegelgeschichten. Rezeptions-
geschichten. In: Brandtner, Andreas / Michler, Werner (Hg.): Zur Geschichte der österrei-
chisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Wien: Turia + Kant 1998, pp. 367–387, p. 379.
16 Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. München: Beck 1989, p. 60.
die nicht zureichend waren, obwohl er viele kannte“ (TP 3, p. 323). Offenbar
interessiert Herrn Matrei in erster Linie das für ihn und die ganze Doppelmo-
narchie traumatische Attentat auf Franz Ferdinand am 28. Juni 1914. So erfährt
die Imagination der Erzählerin durch den Vater einen konkreten Beweggrund.
Die Sehnsucht scheint zwar klar in eine Richtung zu zielen, aber in ihrer
Aussagekraft dennoch vage zu bleiben und ein Bild stereotypisierter südslawi-
scher Figuren als Resultat einer (post)kolonialen Imagination zu perpetuieren.
Im kritischsten und kulturalistisch wohl avanciertesten Beitrag zum Todesar-
ten-Projekt ordnet Zorana Gluscevic sämtliche Personen aus dem jugoslawi-
schen Bereich in eine Reihe ein, welche nur so von Primitivität strotze: von
Franza über Mihailovics und Sascha bis hin zu Branco Trotta. „The majority of
South Slavs […] are depersonalized, dislocated, postcolonial subjects.“18 Das
Urteil über Ingeborg Bachmann selbst fällt entsprechend hart aus: „Thus while
Bachmann did attempt to challenge gender roles, she nevertheless reinforced
racial, and national ones.“19 So richtig die Beobachtung auch sein mag, so falsch
liegt die Analyse in ihrer Schlussfolgerung. Denn in ihrer berechtigten Brisanz
unterschlägt sie geflissentlich, aus welcher Perspektive die Figuren beschrieben
werden und in welchem funktionalen Zusammenhang eines übergeordneten
Narrativs (der bei Ingeborg Bachmann nicht gerade leicht zu bestimmen ist) sie
stehen könnten.
Damit wird der südslawische Aspekt der Erzählung Drei Wege zum See ohne
den intratextuellen Bezug zur ausgelagerten und Fragment gebliebenen Bin-
nenerzählung um Elisabeth Mihailovics (Gier) nicht zur Gänze verständlich.
Elisabeth Matrei begegnet auf dem Rückweg von einer ihrer Wanderungen Eli-
sabeth Mihailovics mit einem jungen Mann, „der angezogen war wie ein Förster,
etwas primitiv aussah“ (TP 4, p. 392) – eine typische Stereotypisierung, die aber
gerade nicht auf das Konto Ingeborg Bachmanns verbucht werden darf – und
erfährt wenige Tage darauf aus der Lokalpresse vom „Eifersuchtsdrama auf
[der] Millionärsvilla“, bei dem Bertold Rapatz, „einer der drei reichsten Männer
Österreichs, wenn nicht der reichste“, „seine [dritte] Frau [Elisabeth Mihailo-
vics] und irgendeinen slowenischen Forstgehilfen […] und sich selber“ erschießt
(TP 4, p. 449f.).20 Dieser Vorfall wirkt in der Erzählung Drei Wege zum See ledig-
lich handlungsmotivierend, insofern Elisabeth Matrei darauf beschließt, schleu-
nigst wieder aus Klagenfurt abzureisen. Dennoch fällt ihr beispielsweise auf,
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dass Rapatz als „Schutzwall gegen Neugierige“ „fast nur Slowenen [und] einige
Kroaten“ angestellt hat (TP 4, p. 454). Entscheidend ist aber, dass sie gegen die
Medienberichterstattung Sturm läuft – was ihr Vater wiederum nicht nach-
vollziehen kann: „[U]nsere brave Gendarmerie wird nie herausfinden, was da
wirklich los war, denn es stimmt alles nicht, was die sich in ihren beschränkten
Hirnen zusammenreimen, da stimmt überhaupt nichts“ (TP 4, p. 452). Dieser
Zornausbruch wird aber nicht weiter begründet, bleibt völlig in der Luft hängen
und lässt sich höchstens in den allgemeinen Kontext der Medienkritik einord-
nen. Doch das ist nicht das Gelbe vom Ei. Vielmehr ertönt an dieser Stelle eine
Stimme, welche an die Gegenwelt im Traumkapitel von Malina erinnert, an
das vielsprachige Nein, welches einen Akt der letzten Verzweiflung darstellt.21
Andeutungsweise klärt sich der Sachverhalt im Fragment Gier, dessen Ver-
öffentlichung bereits geplant war.22 Obwohl davon auszugehen ist, dass die
überlieferte Version eine Fassung ‚vorletzter Hand‘ darstellt, ist die Erzählung
schon so weit fortgeschritten, dass zwar nicht aus der logischen Abfolge der
äußeren Handlung, sondern vielmehr „in der Zusammenschau der scheinbar
20 Es ist davon auszugehen, dass die Anfänge der Erzählung Drei Wege zum See „in einem
engeren motivischen Zusammenhang mit der anderen ‚Kärntner‘ Erzählung Gier“ steht
(vgl. TP 4, p. 594).
21 Bachmann, Werke III, p. 176.
22 Ingeborg Bachmann stellt die endgültige Ausarbeitung dieser Erzählung noch zurück,
da sie von einer Aufnahme in den Simultan-Band absieht. Noch anfangs 1973 gibt es
Verhandlungen mit dem Suhrkamp-Verlag für eine Einzelveröffentlichung. Vgl. Pichl,
Robert: Editorische Notiz. In: Höller, Hans (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon
seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks.
Mit der Erstveröffentlichung des Erzählfragments Gier. Wien, München: Löcker 1982, pp.
63–69, hier p. 63.
disparatesten Ereignisse“ einer inneren Handlung die Bluttat von Rapatz er-
klärbar wird.23 Der Fragment-Charakter unterstreicht in dem Fall eine Lektüre-
haltung, welche sich nicht primär auf eine handlungsorientierte und handlungs-
motivierende Sequenzierung als vielmehr auf eine ars combinatoria stützt, bei
der die einzelnen Mosaiksteinchen ein gewisses Bild der historischen Realität
durchscheinen lassen.
In Gier ist die Protagonistin Elisabeth Mihailovics; offenbar wird hier Eli-
sabeth Matrei ‚slawisiert‘ bzw. in der Werkabfolge vom Fragment zur fertig-
gestellten Erzählung Drei Wege zum See ‚deslawisiert‘. Elisabeth Mihailovics
ist eingebunden in eine Dreiecksgeschichte zwischen dem habgierigen, reichen
und skrupellosen Rapatz, der sich neben Frauen und Alkohol fast nur für die
Jagd interessiert, und dem Gastarbeiter Sascha aus Montenegro. Offenbar steht
hinter dieser Umschreibung des jugoslawischen Kontrahenten vom sloweni-
schen „Jaslo soundso“ – aus der Perspektive Elisabeth Matreis in Drei Wege zum
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23 Vgl. ibid., p. 65. Der Herausgeber des Fragments beruft sich bei dieser Argumentation auf
die Vorrede zum Fall Franza, wo zu lesen ist: „Die wirklichen Schauplätze, die inwendi-
gen, von den äußern mühsam überdeckt, finden woanders statt.“ (Bachmann: Werke III,
p. 342)
24 Maschinenschriftl. Entwurf der Verlagsanzeige für den Suhrkamp-Prospekt mit Korrek-
turen fremder Hand abgebildet bei Höller 1982, p. 60.
Bibliothek wiederfindet.25 Mit anderen Worten: Die Autorin war sehr wohl in-
formiert über die kolonialen Zustände in Bosnien-Herzegowina während der
Okkupation, aber auch nach der Annexion durch Österreich-Ungarn.
So akribisch genau die historische Abhandlung von Dedijer die Ereignisse um
das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand in den Blick nimmt, so um-
fassend kontextualisiert sie diese innerhalb der neu gegründeten südslawischen
Bewegungen, allen voran natürlich der Mlada Bosna, welche sich – und auch
das scheint der Autorin nicht entgangen zu sein – unter anderem für die Gleich-
stellung und Emanzipation der Frauen einsetzt. Alle Parameter der Binnenkolo-
nialherrschaft gelangen ungeschönt und manchmal vielleicht auch übertrieben
zur Darstellung – so der Eroberungskrieg, bei dem während über dreier Monate
200.000 Soldaten eingesetzt wurden, da man nach dem Berliner Kongress 1878
unerwartet auf Widerstand insbesondere der einfachen Bevölkerung gestoßen
war; dabei die Anwendung von brutaler Gewalt, z. B. die Auslöschung ganzer
Ortschaften; die Unterdrückung von Aufständen vor allem seitens der Serben
und Muslime im Jahre 1881 und 1882 in der Herzegowina, Südbosnien und in
Süddalmatien; das konsequente ethnische Divide et impera; die systematische
Repression gegen die wenigen Intellektuellen, welcher noch stark in der eigenen
Scholle verwurzelt sind; eine erschreckend hohe Analphabetenrate noch im
Jahre 1910; die einseitige Infrastruktur, welche vor allem für militärische und
25 Dedijer, Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966. Erwähnt im
Kommentarteil: TP 4, p. 630. Von diesem Buch gibt es auch eine deutsche Übersetzung:
Die Zeitbombe – Sarajewo. Übers. von Tibor Simányi. Wien, Frankfurt, Zürich: Europa
1967. Der Historiker Vladimir Dedijer (1914–1990) ist vor allem darum so umstritten,
weil er in seinem Buch The Yugoslav Auschwitz (1987) die Anzahl der in Jasenovac um-
gekommenen Serben nach heutigen Erkenntnissen deutlich zu hoch angesetzt hat.
wirtschaftliche Zwecke bestimmt ist zur Verteidigung der Südostgrenze und zur
Erschließung von Rohstoffen wie Eisen und Holz.26 Letztlich handelt es sich
bei der Aufzählung um Faktoren einer kolonialistischen Einverleibung, welche
den Nährboden für den Attentäter Gavrilo Princip bilden.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die heftige Reaktion Elisabeths auf die
falsche Zuordnung Trottas durch den Journalisten oder das Aufbegehren gegen
das vermeintliche Eifersuchtsdrama um Rapatz. Die andere Geschichte impli-
ziert somit explizit keinen Habsburgermythos, wie man aus der Anlehnung an
Roths Vorlage vermuten könnte, sondern um eine komplexe Unterdrückungsge-
schichte, welche den Frauen weitere Opfer hinzufügt. Die Erzählung ist weder
positiv noch negativ zu werten, wie sich das beispielsweise im Vergleich mit der
Verfilmung von Michael Haneke aus dem Jahre 1976 anbieten würde. Der Film
konzentriert sich auf den Pariser Trotta und hebt seine Strukturparallele zum
Vater hervor, wie die Elisabeth übergeordnete Erzählinstanz verlauten lässt:
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„Beide hatten die Zukunft nicht akzeptiert, weil sie nicht einmal wussten, was
sie an der sogenannten Zukunft hatten, wie sie in die geraten waren, und worauf
sie hätten hoffen sollen.“27
Im Film erhält der gemeinsame Ausflug der Erzählerin mit dem Vater an
den See durch die langsamen Einstellungen großes Gewicht; dagegen fällt die
letzte Begegnung mit dem Vetter Trottas, mit Branco, am Wiener Flughafen ab:
„die traurig süße Abschiedsbegegnung einer wieder einmal versäumten Lie-
be“.28 Die filmische Perspektive, die über der personalen Erzählinstanz steht,
verstärkt die Eigenreflexion der Hauptprotagonistin Elisabeth und somit ihre
Krise. Daraus kann man aber nicht rückschließen, dass „Elisabeth Matrei in
der Erzählung durch ihre Vergangenheitsbewältigung einen neuen identitäts-
stiftenden Weg finden kann“.29 Dazu sind die einzelnen Handlungsmomente
am Schluss der Erzählung zu heterogen und zu vielschichtig angelegt. Kann der
Pariser Trotta Elisabeth Matrei noch vom Plan abbringen, als Fotojournalistin in
Algerien tätig zu sein, so gelingt dasselbe in der Schlusssequenz nach der Rück-
kehr der Protagonistin nach Paris und nach der Begegnung mit Branco Trotta
ihrem gegenwärtigen Liebhaber Philippe, der sowieso abspringt, nicht mehr. Sie
nimmt den mörderischen Auftrag Andrés an, vom Vietnamkrieg zu berichten.
Die „Selbstfindung“ in einer dichterischen Sprache, mit der die Vergangenheit
verarbeitet werden könnte, ist ebenso trügerisch.
rama historischer Gewalt“32 nicht mehr explizit und exklusiv dem Vater über-
antwortet wird; insofern sind in der letzten Erzählung Ingeborg Bachmanns
versöhnliche Töne zu vernehmen. Die Kontinuität von Machtstrukturen über
die großen Zäsuren der jüngeren Geschichte Österreichs 1918 und 1938 hinweg
lagern sich zwar in anderen Motiven und Figuren an, doch scheint der Vater
von Elisabeth Matrei – im Unterschied zum Pariser Trotta – durch seine Un-
kenntnis in dieselben eingebunden zu sein. Gerade darum sind auch die „drei
Wege“ – abgesehen von ihrer topografischen Signatur in der „Wanderkarte für
das Kreuzberglgebiet“ – historisch nicht eindeutig zu lokalisieren, auch wenn
beispielsweise schon vorgeschlagen worden ist, die drei Wege stünden für die
drei politischen Systeme von realsozialistischem Ostblock, westlichem Kapita-
lismus und dem durch das Tito-Jugoslawien initiierte Projekt der Blockfreien.33
Es könnte einer Überlegung wert sein – die zwar um einiges komplexer, aber
der Erzählung wohl angemessener ausfallen würde, da sie nicht nur allegorisch
wäre – die drei Frauengestalten mit demselben Vornamen für drei verschiedene
Optionen, mit der Vergangenheit umzugehen, einzusetzen. Dazu gibt es eine
Schlüsselstelle, an welcher nach der Begegnung mit Elisabeth Mihailovics die
drei Frauen in Verbindung gebracht werden:
Bevor sie [= Elisabeth Matrei, B.P.] einschlief, dachte sie noch, daß es etwas viel war,
jetzt noch eine Elisabeth zu treffen, sie war schon verstört gewesen, als Liz [die Frau
ihres Bruders Robert] auf dem Registry Office mit vollem Namen genannt wurde, Eli-
zabeth Anne Catherine, mit einem Familiennamen dazu, den Elisabeth sofort wieder
vergessen durfte, weil sie ihn vorher nicht gewußt hatte und er jetzt keine Rolle mehr
spielt, für die neue Frau Matrei (TP 4, p. 393f.).
Der eine Weg (derjenige von Liz) wäre der Weg des Ignorierens und Verges-
sens, der zweite Weg (von Elisabeth Matrei) der Weg der ‚Verstörung‘ und des
Vermittelns, und der dritte Weg (von Elisabeth Mihailovics) der Weg des ah-
nungslosen Opfers. Alle Wege brechen ab, man gelangt auf keinem zum See;
gerade die topografische Bruchstelle, welche durch den Eingriff der Moderne,
durch den Bau der Autobahn in Kärnten, entsteht, ermöglicht gleichzeitig die
mnemonische Sehnsuchtsrichtung über die Karawanken hinweg ins ‚Neunte
Land‘. Die topografische Ausrichtung der modernen Verkehrsmittel steht ihr
diametral entgegen. Klagenfurt ist „angeschlossen […] an das internationale
Eisenbahnnetz und Flugnetz mit je einem Zug und einem Flugzeug, mit dem
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man, aus unerfindlichen Gründen, über Frankfurt nach London fliegen konnte.
Zwischen Kärnten und England bestanden keine Beziehungen, es hätte welche
nach dem Süden und Osten gebraucht […]“ (TP 4, p. 426).
Damit schreibt sich die letzte Erzählung Ingeborg Bachmanns in eine „nicht
offizielle, ins Unbewußte verdrängte Geschichtsschreibung“, in eine „verstören-
de Wiederkehr der ausgelöschten Geschichte“ ein.34 Die zufällige Begegnung an
einem ‚Nicht-Ort‘ (Marc Augé), dem Flughafen Wien, mit Branco Trotta – sie
auf der Rückkehr nach Paris, er auf Reise nach Moskau –, das Nicht-Verbalisie-
ren ihrer „Hingabe“ bildet ein kleines (Zeit-)Fenster zu jener Utopie historischer
Versöhnung, die in der Erzählung möglich wird. Branco Trotta stellt die einzige
Figur dar, welche das „Vordergrundgeschehen“ in Klagenfurt und die verschie-
denen „Erinnerungsebenen“ biografischer und historischer Natur in Verbindung
bringt, und ermöglicht, „in der Verfremdung selbst heimisch zu werden“, indem
die Geschichte als schwebende Parabel mit offenem Schluss endet.35 In der Text-
stufe IV und V heisst es noch, dass für diese Begegnung nur „das Wort ‚nichts
ist geschehen‘ das richtige sein konnte, denn sie würde Branco nie wiedersehen,
und sie würde dorthin gehen, wohin sie nicht gehen wollte, denn unter ihrem
Kopfpolster lag der kleine Zettel, eine Flaschenpost, die nach soviel Jahren von
ihr gefunden worden war.“ (TP 4, p. 467) So wird das ungesprochene Wort in
Form des Zettels von Branco Trotta, worauf „Ich liebe Sie. Ich habe Sie immer
36 Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien
Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke III. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986,
p. 186.
gen, um z.T. von dort den Blick in die Gegenwart zu richten, liegt der Fokus der
folgenden Überlegungen auf dem heutigen Staat. Immer wieder wird sowohl
von wissenschaftlicher als auch von journalistischer oder politischer Seite kon-
statiert, dass diese Gegenwart trotz einiger zentraler Fortschritte seit der Unter-
zeichnung des ‘Allgemeinen Rahmenabkommens von Dayton für einen Frieden
in Bosnien und Herzegowina’ im Jahr 1995 auch heute noch durch prekäre
politische Strukturen sowie durch eine prekäre ökonomische und soziale Lage
geprägt ist. Bosnien-Herzegowina ist bis zum heutigen Tag ein Problem, sowohl
für die Internationale Gemeinschaft als auch für die Menschen im Lande selbst.
In regelmäßigen Abständen werden von wissenschaftlicher Seite ‘ernüchternde
Bilanzen’ publiziert und von Seiten der internationalen Politik Sorgen ob der
schwierigen Situation in Bosnien-Herzegowina bekundet. Der Fokus der fol-
genden Ausführungen liegt nicht auf einer solchen Bilanzierung. Im Zentrum
der folgenden Überlegungen steht vielmehr die Frage nach den Besonderheiten
der Identitätskonstruktionen in der bosnisch-herzegowinischen Nachkriegszeit.
Auch hier stellt sich jedoch ganz wesentlich die Frage nach der Rolle der
‘Internationalen Gemeinschaft’ sowie der internationalen Öffentlichkeit als
einer außenstehenden ‘dritten’ Partei, die zwar vergleichsweise unbeteiligt er-
scheint, doch de facto mit ihren eigenen Wahrheiten interveniert. Es ist davon
auszugehen, dass die Selbst-Bilder in der Region sowie die damit im Zusammen-
hang stehenden ethnischen oder nationalen Grenzziehungen stark durch die
an die Menschen von außen herangetragenen Fremdbilder beeinflusst werden.
Dies zeigte sich bereits während der österreichisch-ungarischen Herrschaft.
Für den vorliegenden Kontext wichtig erscheint vor allem, dass der Blick der
‘westlichen’ Welt auf den gesamten Südosten Europas – damals wie heute – we-
sentlich durch eine post/koloniale Verzerrung geprägt wurde und wird, welche
die bulgarische Historikerin Maria Todorova in Anlehnung an Edward Saids
„Orientalismus“ (1978) als „Balkanismus“ bezeichnet:
By the beginning of the twentieth century Europe had added to its repertoire of
Schimpfwörter or disparagements, a new one which turned out to be more persistent
than others with centuries old traditions. ‘Balkanization’ not only had come to denote
the parcelization of large and viable political units but also had become a synonym for
a reversion to the tribal, the backward, the primitive, the barbarian.1
1 Todorova Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford University Press 2009, p. 3.
2 Rathberger, Andreas: Balkanbilder. Vorstellungen und Klischees über den Balkan in der
Habsburgermonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: http://www.kakanien-
revisited.at/beitr/fallstudie/ARathberger1.pdf v. 07.04.2009, p. 7; Ruthner, Clemens:
K. u. k. ‚Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren
Klärung. In: http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/CRuthner3.pdf v. 29.01.2003
sowie Uhl, Heidemarie: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialimus.
Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne. In:
http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/HUhl1.pdf v. 19.05.2002.
3 Wenig hilfreich sind in diesem Zusammenhang, wie Slavoj Žižek zu Recht bemerkt, bei-
spielsweise die Filme des international erfolgreichen serbischen Regisseurs Emir Kustu-
rica. Seines Erachtens verstärkt Kusturica „the innocent gaze of liberal and democratic
Europe on the Balkans – this gaze in which the Balkans appear as a kind of exotic spec-
tacle that should either be tamed or quarantined; the place where the progress of history
is suspended and where one is caught in the circular repetitive movement of savage
passions.“ (Žižek, Slavoj: Underground, or Ethnic Cleansing as a Continuation of Poetry
by Other Means. In: InterCommunication 18 [1996], p. 4)
auf der einen Seite und das ‘unvollkommene Eigene’ auf der anderen. Es kann
plausibel angenommen werden, dass dieses stigmatisierende (Fremd‑)Bild4
die Identitätskonstruktion der Menschen in der Region auf die eine oder andere
Weise beeinflusst, dass die Betroffenen dieses Bild entweder annehmen und ihr
Verhalten diesem Bild entsprechend anpassen;5 oder aber, dass es ihnen ge-
lingt, dieses Bild abzuwehren, indem sie etwa jenen, die ihnen die Bestätigung
eines positiven Selbstbildes verweigern, durch Delegitimierung – beispielsweise
durch moralische Disqualifikation – die Definitionsmacht entziehen.6 Eine
weitere potentielle Strategie besteht wohl darin, dass die Menschen diese pe-
jorative Balkanvorstellung zwar übernehmen, sich jedoch weigern, sich selbst
zum Balkan zu zählen. Diesen Abwehrmechanismus bringt der Philosoph Slavoj
Žižek treffend zum Ausdruck:
If you ask, ‘Where do the Balkans begin?’ you will always be told that they begin
down there, towards the south-east. For Serbs, they begin in Kosovo or in Bosnia whe-
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Das Augenmerk soll nun im Folgenden auf die Frage gerichtet werden, wie die
Akteure auch vor diesem Hintergrund eines verzerrten Fremdbildes ihr (ethni-
sches) ‘Selbstbild’ und damit aber auch das Bild der (ethnisch) jeweils Anderen
im ‘Nachkrieg’ gestalten und mit welchen Schwierigkeiten diese Konstruktions-
prozesse verbunden sind.8 Diese Frage ergibt sich m. E. notwendigerweise,
meiner Individualität. […] Ich habe jedoch keine Wahl, jetzt nicht mehr. Ich denke
niemand hat eine Wahl.9
Der Nationalismus auf dem Balkan seit Mitte der 1980er Jahre hatte, so Michael
Ignatieff, zur Folge, „daß es am Ende keinem Bewohner des Balkans mehr mög-
lich war, sich von der Fiktion einer ‘reinen’ ethnischen Identität frei zu ma-
chen“.10 Diese Reduktion der eigenen Identität auf die ethnische Zugehörigkeit
ist verbunden mit einer hierarchisierenden Unterscheidung zwischen ‘Uns’ und
‘den Anderen’, gekennzeichnet durch abwertende Zuschreibungen gegenüber
der ethnischen Fremdgruppe und aufwertenden Zuschreibungen gegenüber der
Eigengruppe.11 Das eigene ‘Gruppencharisma’ wird, um es mit Norbert Elias
auszudrücken, der fremden ‘Gruppenschande’ gegenübergestellt.12 Die Reduk-
tion der Identität auf die ethische Zugehörigkeit sowie die damit verbundene
wertgeladene Definition der Grenzen zur je anderen ethnischen Gruppe, d. h.
die hierarchisierende ethnische ingroup-outgroup-Differenzierung, sind charak-
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teristisch für die ethnische Mobilisierung im Vorfeld des Krieges sowie während
der kriegerischen Auseinandersetzungen.
Nach Beendigung des gewaltsamen Konfliktes, d. h. im konkreten Fall nach
dem Friedensabkommen von Dayton mit dem daran anschließenden Prozess
der Neuorganisation Bosnien-Herzegowinas, werden die Akteure nun aber mit
einer neuen Situation konfrontiert, welche von ihnen eine neue Definition der
Situation abverlangt. Diese neue Situationsdefinition wird aus zwei Gründen
erforderlich: Die hierarchisierende Ethnizität wird einerseits im Lichte ‘von
außen’ herangetragener normativer Standards delegitimiert bzw. gerät unter
‘neuen’ Legitimierungszwang – hier stellt sich vor allem die Frage nach der Rol-
le der Internationalen Gemeinschaft als einer ‘dritten Partei’. Andererseits ste-
hen diese hierarchisierenden ethnischen ingroup-outgroup-Differenzierungen
einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess – jenseits der ethnischen
Vergemeinschaftung – entgegen. Das Dilemma zeigt sich, wie der Historiker
9 Drakulić, Slavenka: Sterben in Kroatien. Vom Krieg mitten in Europa. Reinbek: Rowohlt
1992, p. 84ff.
10 Ignatieff, Michael: Reisen in den neuen Nationalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996,
p. 33.
11 Der Fall Bosnien-Herzegowina kann dabei, wie Ignatieff zu Recht feststellt, als ein her-
vorragendes Beispiel dafür gesehen werden, was Sigmund Freud als den „Narzissmus des
kleinen Unterschieds“ bezeichnet hat: „Freud hat einmal gesagt, je kleiner der wirkliche
Unterschied zwischen zwei Völkern sei, desto größer und bedrohlicher werde er sich in
ihrer Vorstellung ausnehmen […]. Daraus folgt, daß Feinde einander brauchen, um sich
daran zu erinnern, wer sie eigentlich sind. Demnach ist ein Kroate jemand, der kein Serbe
ist. Ein Serbe ist jemand, der kein Kroate ist. Ohne gegenseitigen Haß gäbe es kein klar
definiertes nationales Ich, das man verstehen und anbeten könnte.“ (Ignatieff 1996, p. 28)
12 Elias/Scotson 1990, p. 16ff.
Wolfgang Höpken aufzeigt, zentral bei der Frage nach dem Umgang mit der
Vergangenheit:
[…] vor allem der Umstand, dass – anders als im deutschen Beispiel – Opfer und
Täter auch nach den Erfahrungen von Massengewalt weiterhin eine gemeinsame
Staatlichkeit teilen müssen, beschwört erinnerungskulturelle und gedächtnispoliti-
sche Dilemmata herauf, die es innerhalb der einzelnen ethnischen Gruppen und erst
recht zwischen ihnen bislang verhindert haben, zu einem konstruktiven Vergangen-
heitsdiskurs zu gelangen […]. Jede ethnische Gruppe bezieht ihre Identität ganz aus
ihrer jeweiligen Perspektive der Vergangenheit, kaum jedoch aus einer Berufung auf
eine gemeinsame Geschichte ihres formal noch gemeinsamen Staates.13
gen werden, dass hier eine strukturelle Spannung vorliegt, insofern die in einem
Deutungsangebot als legitim institutionalisierten Handlungsgründe in einem
anderen Deutungsangebot (bzw. Deutungsgebot) als illegitim institutionalisiert
sind.
Die Spannung von Legitimierung und Delegitimierung hierarchisierender
ethnischer Differenzierung kann auch umschrieben werden als Spannung
zwischen einer Deutung von ethnischer Zugehörigkeit als Dimension sozia-
ler Ungleichwertigkeit und der Deutung von Ethnizität als Dimension sozialer
Unterschiedlichkeit. Die Deutung von Ethnizität als Dimension sozialer Unter-
schiedlichkeit ist nicht per se als problematisch zu betrachten. Doch kategoriale
Unterschiede, wie etwa Ethnizität oder Religion, bergen die Gefahr, hierarchi-
sierend ausgelegt zu werden.14 In diesem Fall wird dann die Unterschiedlichkeit
zur Ungleichwertigkeit. Und diese Deutung von Ethnizität hat desintegrative
Folgen, steht also einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess entgegen.
Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty erklären diese desintegrative Wirkung
so genannter ‘kategorialer Klassifizierungen’ unter Rückgriff auf die Konflikt-
theorie von Georg Simmel:
13 Höpken, Wolfgang: Innere Befriedung durch Aufarbeitung von Diktatur und Bürger-
kriegen? Probleme und Perspektiven im ehemaligen Jugoslawien. In: Kenkmann, Alfons/
Zimmer, Hasko (Hg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als
internationales Problem – Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Essen:
Klartext 2006, pp. 153–191, hier p. 173f.
14 Neckel, Sighard/Sutterlüty, Ferdinand: Negative Klassifikationen und die symbolische
Ordnung sozialer Ungleichheit. In: Neckel, Sighard/Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Mitten-
drin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext. Wiesbaden: VS Ver-
lag für Sozialwissenschaften 2008, pp. 15–98, hier p. 19f.
send lässt sich also festhalten, dass das Deutungsangebot der hierarchisierenden
ethnischen ingroup-outgroup-Differenzierung (Ungleichwertigkeit) sowie das
Deutungsangebot der wertneutralen ethnischen Grenzziehung (Unterschied-
lichkeit) trotz ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander bestehen und zumin-
dest potentiell aufgrund dessen zu strukturellen ‘Brüchen’ oder ‘Verletzungen’
in Identitätsbildungsprozessen führen können.
Exemplarisch lässt sich diese Spannung am Beispiel des Umgangs mit Kriegs-
verbrechen verdeutlichen. Dieser Umgang gestaltet sich insofern als schwierig,
als einige, als ‘nationale Helden’ gefeierte Mitglieder der ethnischen Eigen-
gruppe in der Nachkriegssituation als ‘Verbrecher’, als ‘Schuldige’ klassifiziert
wurden. So etwa vom International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia
(ICTY): ‘Hag’ – so die gängige Abkürzung, nicht nur für die niederländische
Stadt Den Haag, sondern gleich auch für das dort ansässige Kriegsverbrecher-
tribunal – ist bis vor kurzem in Serbien, Kroatien sowie Bosnien-Herzegowina
allgegenwärtig und mit einem emotionalen Gehalt verbunden gewesen, der
manchen Außenstehenden verwundern mag. Die Thematik findet auch in der
so genannten ‘patriotischen’ Populärkultur ihren Niederschlag, so etwa in den
Texten des kroatischen Sängers Miroslav Škoro:
15 Ibid., p. 20f. Vgl. Simmel, Georg: Der Streit. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über
die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 [EA 1908], pp. 284–
382.
Sie richten über mich / weil ich das Meine liebe / am meisten liebe und weil ich es
verteidigt habe, mein Allerliebstes. / Sie richten über mich / die Feinde, meine Liebe /
doch sie wissen nicht, dass die Wahrheit ein tiefes Wasser ist.16
Dieses Sude mi betitelte Lied, in dem Škoros Freund Marko Perković alias „Thom-
pson“17 einen Gastauftritt hat, widmeten seine Fans dem ehemals in Den Haag
inhaftierten kroatischen General Ante Gotovina. Erkennbar ist eine ausgeprägte
Identifizierung mit den Helden, die zu Verbrechern werden: „Sude mi“, d. h. „sie
richten über mich“, weil ich Kroate/Serbe/Bosniake bin. „Der Widerstand gegen
das Tribunal“, so Drakulić, „wurde zum Maßstab des Patriotismus“.18 Dort wur-
de, so die verbreitete Annahme, nicht über Individuen gerichtet, sondern über
das ganze jeweilige Volk, wie auch in den folgenden Zeilen eines offensichtlich
ironisch gebrochenen Liedes von Škoro sehr deutlich wird:
Hag ist unsere letzte Chance / Von wegen München, Wien oder Prag / Volk, macht
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euch bereit, denn die Kutsche fährt ab, die uns alle bringt nach Hag.19
Die eingangs formulierte Frage, wie Individuen im Kontext des Nachkriegs ihr
Selbstbild und damit auch das Bild der jeweils anderen konstruieren, kann nun
unter Berücksichtigung der erfolgten Ausführungen spezifiziert werden: Es
geht um die Erforschung des Prozesses der Konstruktion des ‘Selbst’ und des
‘Anderen’ im Kontext der strukturellen Spannung von gleichzeitiger Legitimie-
rung und Delegitimierung hierarchisierender ethnischer Differenzierung. Eine
Antwort auf diese Frage kann letztlich nur eine empirische Analyse bringen, die
auf eine Rekonstruktion der Prozesse angelegt ist, durch die soziale Wirklichkeit
in ihrer sinnhaften Strukturierung hergestellt wird. Im Zentrum zu stehen hat
16 „Sude mi / Zato što svoje volim / Volim najviše što sam branio moje najdraže / Sude mi /
Dušmani moja ljube / Ali ne znaju da je istina voda duboka.“
17 Škoro verbindet eine enge Freundschaft mit dem umstrittenen Sänger Marko Perković,
bekannt unter dem Namen „Thompson“. Perković gerät international immer wieder auf-
grund nationalistischer Tendenzen in seinen Texten in die Kritik. Und doch gelingt es
ihm, weltweit ganze Stadien zu füllen – soweit die Konzerte genehmigt werden. Von mit
seiner Musik sympathisierenden Kroaten wird Thompson immer nur als „heimatliebend“
beschrieben.
18 Drakulić, Slavenka: „Wenn Helden zu Mördern werden“. Spiegel v. 02. Juli 2005. Online
unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,350151,00.html [Stand: 29.05.2009]
19 „Hag je naša posljedna šanca / Ma kakvi Munchen, Beč ili Prag / Spremi se narode jer
diližansa / Kreće što vozi sve nas za Hag“.
20 Mijić 2014
21 Vgl. z. B. Oevermann, Ulrich/Allert, Tilman/Konau, Elisabeth/Krambeck, Jürgen: Die
Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische
Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative
Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler 1979, pp. 352–434.
22 Das Deutungsmusterkonzept wurde von dem Frankfurter Soziologen Oevermann in
die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt und seit Mitte der
1970er Jahre auf verschiedenste Weise aufgegriffen, modifiziert und erweitert. Vgl. Oe-
vermann, Ulrich: Kommentar zu Christine Plaß und Michael Schetsche: „Grundzüge
einer wissenssoziologischen Theorie sozialer Deutungsmuster“. In: Sozialer Sinn (2001)
Heft 3, pp. 537–546, hier p. 536.
23 D.h. aber auch, dass Deutungsmuster typischerweise nicht explizit abgefragt werden
können; es handle sich vielmehr, so Oevermann, um ein „tacit knowledge“, um ein
„schweigendes Wissen“. Vgl. Oevermann, Ulrich: Die Struktur sozialer Deutungsmuster
– Versuch einer Aktualisierung. In: Sozialer Sinn (2001) Heft 1, pp. 35–81, hier p. 41.
24 Solche Einzeldeutungen sind dann (idealerweise) sowohl mit den bis dahin gemachten
Erfahrungen als auch mit den Deutungen des Kollektivs, dem die AkteurInnen angehö-
ren, vereinbar.
zur Debatte stehenden Deutungsmuster zu bewältigen gilt, lässt sich mit einer
ebenso simplen wie komplexen Frage umreißen: Wer bin ich? Es ist die Frage
nach der Konstitution des Selbst. Dass es sich bei dieser Frage um eine ‘soziale’
Problematik handelt, liegt in dem hier vertretenen Verständnis von Identität be-
gründet: Ihm zufolge ist Identität per se als sozial zu verstehen. Die Vorstellung
der Identitätsbildung über Vergesellschaftungprozesse geht unter anderem auf
den Chicagoer Sozialpsychologen George Herbert Mead zurück:29 Die Identität
konstruiert und rekonstruiert sich im ständigen Prozess der Abarbeitung am
Sozialen, d. h. im Prozess der permanenten Wechselwirkung von Gesellschaft-
lichem und Individuellem. Ihren systematischen Niederschlag findet diese so-
25 Vgl. Oevermann, Ulrich: Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern. In:
Sozialer Sinn (2001), Heft 1, pp. 3–33, hier p. 22.
26 Vgl. Oevermann 2002, p. 44.
27 Meuser, Michael/Sackmann, Reinhold: Zur Einführung. Deutungsmusteransatz und em-
pirische Wissenssoziologie. In: Dies. (Hrsg.): Analysen sozialer Deutungsmuster. Bei-
träge zur empirischen Wissenssoziologie. Pfaffenweiler: Centaurus 1992, pp. 9–37, hier
p. 20ff.
28 Oevermann 2001, pp. 20 f.- Darin liegt nun aber auch die Tatsache begründet, dass sich
gesellschaftliche Umbruchssituationen oder Krisenkonstellationen, in denen typischer-
weise von einer Modifikationen sozialer Deutungsmuster auszugehen ist, besonders
zu einer Deutungsmusteranalyse eignen, denn hier ist auf Seiten der AkteurInnen eine
erhöhte Reflexivität notwendig, die eine zumindest zeitweise Manifestierung von Deu-
tungsmustern mit sich bringt; vgl. Meuser/Sackmann 1992, p. 20f.
29 Mead, George Herbert: Mind, Self and Society. Chicago: The University Press 1934. Vgl.
auch Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday
1956; Strauss, Anselm L.: Mirrors and Masks. The Search for Identity. San Francisco: The
Sociology Press 1959.
In dieser Identifikation mit der jeweiligen ethnischen Gruppe liegt die potentiel-
le Verletzlichkeit der Identität durch die Infragestellung des ‘Gruppencharisma’
begründet. Die Identifikation mit den ‘Kriegshelden’, um nochmals auf das oben
angeführte Beispiel zurückzugreifen, bringt es mit sich, dass die Infragestellung
ihres Status’ als Held, Auswirkungen auf das individuelle ‘Selbstbild’ hat und
das ‘Selbstideal’ erschüttert, so wie es das ‘Wir-Ideal’ erschüttert. Dieser hier
formulierten Annahme der Verletzlichkeit der Identität liegt kein statisch-es-
sentialistisches Identitätsverständnis zugrunde. Identität soll, wie oben bereits
ausgeführt, als ständiger Prozess der Abarbeitung am Gesellschaftlichen ver-
standen werden, und insofern unterliegt auch die Identität einer permanenten
Veränderung. Nichtsdestotrotz ist die Identität nicht beliebig formbar. Unter be-
stimmten Umständen kann es zu Brüchen sowie emotionalen Verletzungen der
an die individuelle Biografie gekoppelten Identität kommen. Der Frage, unter
welchen Umständen es zu solchen ‘Brüchen’ kommen kann und ob diese Um-
stände im Nachkriegs-Bosnien-Herzegowina potentiell gegeben sind, soll im
34 Barth, Fredrik (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture
Difference. Oslo: Universitetsforlaget/ Scandinavian Univ. Press 1969.
35 Elias/Scotson 1990, p. 44.
Folgenden nachgegangen werden. Hierfür wird der Blick auf die problematische
‘objektive Wirklichkeit’ der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft sowie den
Prozess der Internalisierung dieser Wirklichkeit im Rahmen von Sozialisations-
prozessen gerichtet.
Oben wurde Identität als ein soziales Produkt bezeichnet. Identität, respektive
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37 Ibid., p. 143.
38 Ibid., p. 141 [Hervorhebung A.M.].
39 Ibid., p. 168.
40 Ibid., p. 172f.
41 Ibid., p. 168.
42 Ibid., p. 183.
[…] Nach einer so kurzen Zeit, es vergingen keine paar Monate, nachdem der Krieg
aufhörte, fingen wir an, zueinander zu gehen. […] Als sei nichts gewesen […] Als hätte
dieses Loch nie existiert. Als hätten die Linien nie existiert. (Interview 1, Zeile 81 ff.)
Darüber hinaus wird der Krieg regelmäßig als nicht von Menschen gemacht,
sondern als ein übermenschliches, die Menschen vernichtendes und verfeinden-
des Phänomen beschrieben:
Als Tito starb, als Jugoslawien zerfiel, […] kam dieser verdammte Krieg, welcher an-
gerichtet hat, was er angerichtet hat: uns alle verfeindet. (Interview 2, Zeile 11 ff.)
Der Krieg tritt in der Gestalt eines vom Handeln menschlicher Subjekte un-
abhängigen Geschehens auf, ähnlich einer Naturkatastrophe, oder gar als aktiv
handelnd – quasi als Subjekt. Die Konsequenz dieser Perspektive ist, dass der
Krieg letztlich nicht zum Objekt ethischer Überlegungen gemacht werden kann
und menschliches Handeln von jeder Verantwortung befreit wird. Die Funktion
dieses Deutungsmusters in Bezug auf den hier verhandelten Fall ist evident:
Indem man den Krieg personifiziert, geht man einerseits selbst in Distanz zum
Geschehenen und schützt damit sein Wir-Ideal. Gleichzeitig bietet man diese
Möglichkeit auch dem Gegenüber an. Dahinter verbirgt sich sehr wahrschein-
lich der kleinste gemeinsame pan-ethnische Nenner, denn die Subjektivierung
des Krieges erleichtert es, die unmittelbare Kriegsvergangenheit vom Gegen-
wartshorizont abzukoppeln, um an eine genuin positiv bewertete Vorvergan-
genheit – der gemeinsamen jugoslawischen Lebenswirklichkeit mitsamt ihrer
43 Ibid., p. 172.
Antwort: Ja, ja, mehrheitlich ja. Aber es sind auch viele Muslime zurückgekehrt. Etwas
weniger Kroaten, weil die Kroaten haben sich an anderen Orten niedergelassen. (3)
Wissen sie, wenn jemand 10–15 Jahre irgendwo lebt, findet er sich dort zurecht und
44 An diesem Beispiel wird nun aber auch sehr deutlich, dass unterschiedliche Strategien,
die Spannung aufzulösen, wahrscheinlich auch von biografischen Daten abhängig sind.
So wird sich etwa die Jugo-Nostalgie vor allem innerhalb der Generation identifizieren
lassen, die in den 1960er und 1970er Jahren primär sozialisiert wurden, oder eben auch
bei Kindern aus ‘gemischten’ Ehen.
will später gar nicht zurückkommen. Aber das Eigentum wurde zurückgegeben. Alles.
Sarajewo ist, sagen wir mal, eine ethnisch gesäuberte muslimische Stadt. Tuzla genau-
so. Zenica genauso. (2) Von daher…Prijedor ist (.) vor allem Serben sind dort. Doch
auch dorthin sind viele Muslime zurückgekehrt. (Interview 3; Zeile 94 ff.)
Hier wird durch den Interviewten die moralische Überlegenheit seiner ingroup
– in diesem Fall der Serben – sowie das amoralisch Verhalten der outgroup –
hier vor allem der Bosniaken – sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Ist auf
der einen Seite die Rede davon, dass „hier“, also in Banja Luka und in Prijedor
(beide Städte liegen in der sog. Republika Srpska), vor allem Serben leben, und
dass es dem freien Willen der Anderen obliegt, ob sie zurückkehren oder nicht,
spricht er andererseits im Zusammenhang mit den Städten Sarajevo, Tuzla und
Zenica von „ethnisch gesäuberten muslimischen Städten“. Konfrontiert mit dem
sozial-historischen Kontext ist es vor allem im Hinblick auf Sarajevo, das von
1992 bis 1996 von serbischen Truppen belagert wurde, doch recht befremdlich,
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Fazit
Einleitend wurde dargelegt, dass das ‘westliche’ Bild vom ewig gestrigen Balkan
sehr wahrscheinlich auch Konsequenzen hinsichtlich der Selbstwahrnehmung
der Menschen vor Ort zeitigt. Angesichts der Ergebnisse der hermeneutischen
Analyse kann abschließend plausibel angenommen werden, dass die Selbstvikti-
misierung auch ein Resultat dieser Fremdbilder ist: „[D]ie Protagonisten werden
nicht ernst genommen. Das heisst, sie werden nur ernst genommen, wenn sie
die Rolle von hilflosen Opfern spielen, die der Westen dann rettet“, so etwa Sla-
voj Žižek (2010) in einem Interview mit der NZZ.46 In den vergangenen Jahren
wird darüber hinaus vor allem von Seiten populistisch argumentierender westli-
cher PolitikerInnen auch vor einer zunehmenden Islamisierung Bosnien-Herze-
gowinas und dem Einfluss islamischer Staaten auf das Land gewarnt. Vor allem
in Österreich wird das Deutungsmuster einer drohenden islamischen Gefahr
auf dem Balkan gerne mobilisiert: Heute wie damals vor einem Jahrhundert
tritt ‘der Westen’ als ‘Helfer in der Not’ in Erscheinung und trägt damit nicht
nur zu einer Stabilisierung der Selbst-Viktimisierung und der gegenwärtigen
Verhältnisse bei sondern auch zu einem anhaltend verzerrten Balkanbild – cha-
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46 Ernst, Andreas: „Der Balkan verschwindet.“ Gespräch mit Slavoj ŽiŽek. In: NZZ, 22.11.2010,
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/der-balkan-verschwindet-1.8447698. –
Die Wirkung dieser Fremdbilder geht vermutlich noch sehr viel weiter. Das Struktur-
muster der Selbstviktimisierung reproduziert sich zwar über das gesamte Datenmaterial
hinweg; der kontrastierende Vergleich der Interviews offenbart jedoch auch ethnisch
spezifische Ausprägungen dieser Selbstviktimisierung. Es liegt sehr nahe, davon auszu-
gehen, dass sich die jeweilige Erscheinungsform der Selbstviktimisierung, d. h. die Art
und Weise der Argumentation und der Legitimation des eigenen Opferstatus’, der Tat-
sache verdankt, mit welchem Fremdbild sich die Akteure jeweils konfrontiert sehen. Die
internationalen Akteure – sowohl die politischen Akteure als auch die internationale
Öffentlichkeit – halten nicht alle am Krieg Beteiligten oder vom Krieg Betroffenen glei-
chermaßen für Opfer. Vielmehr unterscheiden auch sie zwischen jenen, die den Krieg
und die damit verbundenen Verbrechen primär zu verantworten haben, und jenen, die
den Gräueltaten der anderen zum Opfer gefallen sind. Diese Differenzierung verläuft
dabei nicht selten pauschalisierend entlang ethnischer Grenzziehungen. Vgl. dazu Mijić
2014, pp. 405–414.
nach Dayton als Ausgangspunkt für einige kritische Betrachtungen über das
neue ethnonationale (Macht-)Narrativ und seine realpolitische Begleitung in
Form von Ethnopolitik genommen.
verbessern konnten.
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts organisierten sich die Juden und die beiden
christlichen Kirchen in Form von milets (religiöse Gemeinschaften mit weitge-
hender Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches). Damit zeigte sich die
bosnische Gesellschaft das erste Mal in ihrer Geschichte als ethnisch-religiös
‘vergemeinschaftet’: milets agierten in vielen Bereichen unabhängig von der
staatlichen Macht und konnten eigene Formen der Verwaltung für die Mitglie-
der der eigenen Gemeinschaft entwickeln. Durch sie kommt es auch zu einer bis
ins 20. Jahrhundert wirksamen Aufteilung bestimmter Stadtteile oder Gewerbe
nach ethno-religiösen Grundsätzen.
Gleichzeitig – und dies ist eines der zentralen Elemente für das Verständnis
der Widersprüchlichkeit der nationalen Verhältnisse – wird hier das Element
des komšiluk zum ersten Mal relevant: In diesem Begriff, das mit dem Konzept
gutnachbarschaftlicher Beziehungen nur annähernd charakterisiert werden
kann, offenbart sich die ganze Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Ver-
hältnisses zwischen den drei Gemeinschaften. Komšiluk stammt aus dem Türki-
schen und steht für ‘Nachbarschaft’, bedeutet aber in Bosnien-Herzegowina viel
mehr, nämlich jenes System, mit dem die Kohabitation zwischen unterschied-
lichen ethno-religiösen Gemeinschaften geregelt wurde. In der Darstellung von
Xavier Bougarel heißt es:
Dieses Miteinander-Leben manifestiert sich im Kern in der gegenseitigen Hilfe im all-
täglichen Leben und in der Arbeit, in den gegenseitigen Einladungen zu den religiösen
Feiern und durch freundschaftliche Zusammenkünfte während der Familienfeiern. In
diesen drei Bereichen unterliegt das System des Miteinander-Lebens strengen Regeln
der Achtung und der Reziprozität. Komšiluk symbolisiert oft der gezuckerte Kaffee,
den der Nachbar aus Fildzan (Porzellantassen ohne Henkel) am gemeinsamen Tisch
trinkt.2
Komšiluk als ein im Alltag und abseits der staatlich geregelten Beziehungen
der ethno-religiösen Gemeinschaften funktionierendes System produzierte in
seiner Praxis während der osmanischen Herrschaft einen hierarchischen und
nicht-territorialen Pluralismus, der zur harmonischen, friedlichen und stabilen
Ausgestaltung der Alltagsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Gemein-
schaften führte. Gerade in der Stärke des komšiluk-Systems im Bereich der All-
tagsbeziehungen liegt auch seine Fragilität und sein „Ausgeliefertsein“ an die
Ebene des Politischen begründet. Dazu Bougarel:
Diese alltägliche Bestätigung des stabilen und friedfertigen Charakters der zwischen-
nationalen Beziehungen funktioniert so lange, so lange der Staat in der Lage ist, mit
seiner Politik diesen stabilen und friedfertigen Charakter zu garantieren. Hört der
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Staat auf dies zu tun, oder sobald er Gemeinschaften gegeneinander positioniert, ver-
schiebt das auch das System des komšiluk – der Suche nach der Sicherheit durch
Reziprozität und Frieden – Richtung Verbrechen, Richtung Suche nach Sicherheit
durch Vertreibung und Krieg. Und gerade das zeigen die zwischennationalen Akte der
Gewalt, die seit dem 18. Jahrhundert beinahe regelmäßig die Agrarkrisen oder fremde
Invasionen nach Bosnien und Herzegowina begleiten.3
2 Bugarel, Ksavije: Bosna. Anatomija rata. Beograd: Fabrika knjiga 2004, p. 32f.; im Orig.:
Bougarel, Xavier: Bosnie. Anatomie d’un conflit. Paris: La Découvert 1996, p. 118f., alle
Zit. übers. v. V.D.- Vgl. auch Bringe, Tone: Being Muslim the Bosnian Way. Identity and
Community in a Central Bosnian Village. Princeton: Princeton Univ. Press 1995.
3 Bugarel 2004, p. 123.
4 Vgl. Allcock, John: Explaining Yugoslavia. London: Hurst 2000, p. 330.
auch damals sehr stark durch mythologische Elemente, u. a. durch die Beru-
fung auf die Schlacht am Amselfeld (Kosovo Polje) begleitet. Die Bestimmung
der osmanischen Zeit als einer Ära der Unterdrückung, der Diskriminierung
und der Bedrohung der eigenen Nation, gegen die man stets ankämpfen muss-
te, sollte dann seitens der Serben im 20. Jahrhundert nahtlos in die Sicht der
bosnisch-herzegowinischen Muslime als der Nachkommen des Osmanischen
Reiches und als „Türken“ übergehen. Vor allem im serbischen und kroatischen
Ethnonationalismus der 1980er und 1990er Jahre kommt es zur starken diskur-
siven Verwendung des antitürkischen Topos und folglich zu einer bewussten
Gleichsetzung der Bosniaken mit den Türken als auch zur Propagierung einer
angeblichen neuerlichen Bedrohung der katholischen und orthodoxen Bevöl-
kerung durch Muslime und den Islam.
Das 19. Jahrhundert ist auch aus einem anderen strukturellen Grund von
großer Bedeutung. Branka Magas bringt das Dilemma auf den Punkt: „Bosnia in
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5 Magas, Branka: On Bosnianness. In: Nations and Nationalism 9 (2003), nr. 1, p. 19–23.
6 Redžić, Enver: Prilozi o nacionalnom pitanju. Sarajevo: Svjetlost 1963, p. 80.
lanceakt. Man vermittelte zwischen Katholiken, die sich bevorzugt und in einer
besseren Position als die anderen beiden Konfessionen fühlten, und Orthodo-
xen, deren Skepsis gegenüber der k. u. k. Monarchie stark war und nie subs-
tantiell schwinden sollte. Der zwischen 1882 und 1903 für Bosnien zuständige
österreichisch-ungarische Finanzminister Benjamin v. Kállay richtete vor dem
Hintergrund jenes starken kroatischen und serbischen Einflusses auf die natio-
nale Frage seine ganze Politik auf die Stärkung einer eigenen, einigenden bosni-
schen Nationalität, die er in Form eines integralen Bosniakentums konzipierte:
Dieses hätte aus allen drei ethnischen Gemeinschaften eine neue, vierte Nation
schaffen sollen, die die zahlreichen antagonistischen Elemente zwischen Serben,
Kroaten und Muslimen in einem gemeinsamen Rahmen auflösen hätte sollen.10
Die nationalistischen Bewegungen in Serbien und Kroatien waren aber zu die-
sem Zeitpunkt zu stark, und die Zeitspanne der Herrschaft von Kállay zu knapp,
um die Wende von konfessionellen und ethnischen Identitätsmustern hin zu
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10 Ibid.
11 Vgl. Malcolm 1996, p. 175.
als auch auf die katholischen Kroaten. Deswegen leben die Bosniaken den Großteil
ihrer nationalen Bedürfnisse durch ihr Glaubensbekenntnis aus, und Versammlungen
auf Grund des Glaubens waren auch die einzigen, die zu Beginn des Jahrhunderts
möglich waren.13
ren Wurzeln schlagen. Historisch betrachtet war aber die Zeit Österreich-Un-
garns in Bosnien-Herzegowina jene Phase, in der der maßgeblichste Versuch
einer von Außen mitgesteuerten staatlichen und über- oder transethnischen
Identitätsbildung erfolgte.
Bei der Planung und späteren Gründung des ersten jugoslawischen Staates wur-
den die Vorstellungen der bosnisch-herzegowinischen Gemeinschaften nur am
Rande berücksichtigt. Während sich die meisten orthodoxen und auch katholi-
schen Vertreter den Vorstellungen ihrer politischen Anführer aus Serbien und
Kroatien anschlossen, waren die Muslime in Bezug auf ihre Vorstellungen von
der zukünftigen Ordnung des Raumes gespalten. Eine Gruppe rund um Šefik
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spielen; eine starke und von Kroatien und Serbien nicht in Frage gestellte bzw.
herausgeforderte nationale Identität konnten sie nicht ausbilden.16
Die muslimische JMO unter Spaho kämpfte für die Erhaltung der regiona-
len und administrativen Identität Bosnien-Herzegowinas. Sie hatte dabei auch
einen gewissen Erfolg, den sie allerdings mit der Unterstützung der zentralis-
tischen Verfassung des Jahres 1921 bezahlen musste. Die historischen Grenzen
Bosnien-Herzegowinas blieben jedoch bei der damaligen Reorganisierung des
jugoslawischen Territoriums in 33 Provinzen (Oblasti) größtenteils erhalten. Die
sechs bosnisch-herzegowinischen Oblasti entsprachen den sechs Kreisen der
österreichisch-ungarischen Aufteilung, so dass „Bosnien als einziges der kons-
tituierenden Elemente Jugoslawiens auf diese Weise seine Identität erhielt“.17
Allerdings blieb diese Identität nur auf territoriale Grenzen beschränkt; auf der
politischen Ebene wurden die Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina durch
die Dynamik des sich verstärkenden Gegensatzes zwischen den beiden großen
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20 Vgl. Hoare, Marco Attila: The History of Bosnia. From the Middle Ages to the Present
Day London: Saqi 2007, p. 202f.
21 Vgl. ibid., pp. 205–212; außerdem Ekmečić Fadil: Bosna. Kratka popularna povijest sa
prilozima. Paris: Librairie Ekmecic 1994, p. 68ff.
22 Vgl. Hoare 2007, pp. 235–242; dazu auch Leksikon YU-mitologije. Hg. v. Slađana
Novakoviću. Željko Serdarević. Beograd, Zagreb: Rende/Postscriptum 2005.
für die bosnische Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg war enorm; sie
strahlt bis in die Gegenwart hinein. Der Tag der ZAVNOBIH-Sitzung, der 25.
November, wird auch heute noch als Staatsfeiertag in Bosnien-Herzegowina
begangen, wird aber vor allem von Bosniaken und jenen Bürgern und Bürgerin-
nen gefeiert, die sich dem dominanten national(istisch)en Diskurs verweigern.
Die Ereignisse der 1990er Jahre, ein exklusiver und sich stark an Serbien und
Kroatien anlehnender Ethnonationalismus sowohl bei den bosnisch-herzego-
winischen Serben als auch bei den Kroaten haben dazu beigetragen, dass diese
den Bezug zur gemeinsamen staatlichen Geschichte und folglich auch zu diesen
Feiertag negieren. In der Republika Srpska (RS) wird ein eigener Nationalfeier-
tag gefeiert, während der überwiegende Teil der bosnisch-herzegowinischen
Kroaten den kroatischen Nationalfeiertag begeht. In beiden Fällen distanziert
man sich damit – unterschiedlich stark, wohl am vehementesten in der kroa-
tischen Politik – von bestimmten Elementen des sozialistischen Jugoslawiens,
während man gleichzeitig – v. a. auf der serbischen Seite – andere Elemente aus
der Tradition des antifaschistischen Kampfes der Partisanen hervorhebt und
feiert. Im ZAVNOBIH-Beschluss wird explizit die gleiche Teilhabe aller Völker
und Minderheiten am Staat formuliert, womit diesem Dokument ein – damals
natürlich sozialistisch geprägter – Kern des multiethnischen und bürgerlichen
Bosnien-Herzegowinas und damit auch einer möglichen übernationalen Staat-
lichkeit begründet wurde. Diese Interpretation ist auch heute v. a. bei Vertretern
Ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges vollzog sich auch der langsame, aber
stete Prozess der in der sozialistischen Ideologie begründeten „Befreiung“ der
Nationen von ihren ethno-kulturellen Elementen. Für die Sozialisten war der
Abschied von kulturell bestimmten Nationen ein wichtiger Schritt im Prozess
des Aufbaus einer solidarischen und übernationalen Arbeitergesellschaft. Dies
war nach Mappes-Niediek „der Preis für die Anerkennung, die die Nationen
im Kommunismus erfuhren. Alles, was über die grundlegenden Markierungen
der Nationalität hinausging: Sprache, Schrift, Namen, wurde unterdrückt. Die
Religion wurde aus dem öffentlichen Leben ferngehalten“.27 Ein Prozess der
Säkularisierung setzte ein, der – v. a. in urbanen Gebieten – in den 1960er und
1970er Jahren zur Herausbildung einer breiten säkularen Schicht von Bürgern
führen sollte, die sich selbst jenseits ihrer ursprünglichen nationalen Identität
als Jugoslawen und Bosnier deklarierten. Jedenfalls versuchte das sozialistische
Regime aus ideologischen Gründen, eine nicht transparente und offene, aber im
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Ein Teil der Bemühungen um die Stabilisierung und Verbesserung der im Zwei-
ten Weltkrieg eskalierten interethnischen Beziehungen und damit um die Lö-
sung der „nationalen Frage“ war sicherlich auch die Politik des jugoslawischen
Regimes, mit der die Emanzipationsprozesse jener Völker unterstützt wurden,
die im 19. Jahrhundert im Gegensatz zu Kroaten oder Serben keinen so intensi-
ven Prozess der nationalen Integration durchlaufen hatten. Der Jugoslawismus
wurde in dieser Zeit zur ideologischen – und sicherlich stark dogmatischen
– Formel, unter der v. a. die kleineren jugoslawischen Völker wie Mazedonier,
27 Mappes-Niediek, Norbert: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus
lernen kann. Berlin: Links 2006, p. 154.
28 Anđelić 2003, p. 18f.
Mit den Verfassungsänderungen des Jahres 1974 wurden Muslime auch ver-
fassungsrechtlich als eine der drei konstitutiven Nationen in Bosnien-Herze-
gowina anerkannt. Die neue Verfassung der „Sozialistischen Föderativen Re-
29 Melčić, Dunja: Jugoslawismus und sein Ende. In: Dies.: Der Jugoslawien-Krieg. Hand-
buch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Opladen, Wiesbaden: Westdt. Verlag
2
2008, pp. 208–227.
30 Vgl. dazu Zgodić, Esad: Ideja bosanske nacije i druge teme. Sarajevo: Zalihica 2008.
31 Vgl. Malcolm 1996, p. 229ff.
32 Vgl. Imamović 1997, pp. 562–569, Filandra 1998, p. 229ff.
33 Zit.n. Filandra 1998, p. 237 [Übers. V.D.].
publik Bosnien und Herzegowina“ aus dem Jahr 1974 bringt also das erste Mal
die Erwähnung der Muslime, Serben und Kroaten als staatstragende Völker im
Haupttext und nicht nur in der Präambel der Verfassung. So heißt es in Artikel 1:
The Socialist Republic of Bosnia-Hercegovina is a socialist democratic state and so-
cialist self-managing democratic union of working people and citizens, nations of
Bosnia-Hercegovina – Muslims, Serbs and Croats, members of other nations and na-
tionalities who live in it, based on the government and the self-management of the
working class and all working people and on the sovereignty and equality of the
nations of Bosnia-Hercegovina and the members of other nations and nationalities
who live in it.34
Die Anerkennung der Muslime als „Nation“ hatte durchaus Einfluss auf die
anderen beiden bosnischen Volksgruppen. Aus der Sicht kroatischer und ser-
bischer Nationalisten war die Anerkennung der muslimischen Nation in den
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1960er Jahren nämlich ein direkter Angriff auf ihre Vormachtstellung in Bosnien
und auch im jugoslawischen Staatenbund. Francine Friedman stellt diesbezüg-
lich fest:
I argue, however, that official recognition of the Bosnian Muslims made them vulnera-
ble to Serb and Croat pressures, because neither group would accept the Bosnian Mus-
lims as anything more than a religious entity – certainly not as a national entity.35
Dieser Druck der serbischen und der kroatischen Seite war aber kein konstanter
und in allen Punkten aggressiver. Die bosnischen Muslime konnten durchaus
ab den 1960er Jahren – selbstverständlich immer nur im Rahmen des Bundes
der Kommunisten Jugoslawiens – an ihrer politischen und gesellschaftlichen
Verankerung als wichtiges Subjekt der jugoslawischen Föderation arbeiten und
zu einem wichtigen politischen Faktor innerhalb Jugoslawiens werden. Auf
Grund der paritätischen Aufteilung der wichtigsten Posten auf Republiks- und
Staatsebene bekleideten eine ganze Reihe muslimischer Politiker wie Hamdija
Pozderac oder Raif Dizdarević hochrangige Positionen in Staat und Partei. Auch
in Kunst, Kultur und im intellektuellen Leben nahm Bosnien-Herzegowina mit
der Hauptstadt Sarajevo eine wichtige Rolle innerhalb Jugoslawiens ein. Nicht
zuletzt die Vergabe der olympischen Spiele 1984 an Sarajevo brachte einen zu-
sätzlichen Impuls für die Entwicklung des Landes und damit indirekt auch für
die bosnischen Muslime. Die Stärkung des nationalen Bewusstseins der bos-
nischen Muslime und ihre gestiegenen politischen und kulturellen Ansprüche
wurden jedoch in Teilen der serbischen und kroatischen nationalen Elite nicht
immer mit Wohlwollen betrachtet. Durch die Stärkung der Muslime ergaben
sich auch in der Frage der Ausbalancierung des ethnischen Gleichgewichts, die
zu einem wichtigen Teil durch die Verteilung der Posten in Staat und Partei auf
der Grundlage eines ethnischen Schlüssels erfolgte, neue und durchaus konflikt-
hafte Herausforderungen.36
Ab den 1970er Jahren veränderte sich der Charakter der jugoslawischen und
damit auch der bosnischen Staatlichkeit als eines Spiegelbilds der neuen jugo-
slawischen Verhältnisse deutlich. Der Grund war aber nicht nur die Anerken-
nung der Muslime als Nation, sondern vielmehr die Tatsache, dass die viel-
fachen politischen und zunehmend auch wirtschaftlichen Unzufriedenheiten
aller Nationen vom Streben nach größerer nationaler Autonomie wie von einem
Löschpapier aufgesogen wurden. Der kroatische Nationalismus, der seinen Hö-
hepunkt im sog. „Kroatischen Frühling“ des Jahres 1971 fand, die ständigen
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Die Lage in Bosnien-Herzegowina war aber auch in dieser Hinsicht noch eine
Spur komplexer und widersprüchlicher. Als einzige Republik, die drei konstituti-
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ve Völker besaß, wurde es in Folge der Anerkennung und der politischen Eman-
zipation der Muslime zu einem Land, in dem die tagtägliche Austarierung des
nationalen Gleichgewichts in allen Institutionen der Republik besonders subtil
und schwierig war. Die Politik, die sich nach dem sog. und in Bosnien-Herze-
gowina so oft in Debatten paraphrasierten „nationalen Schlüssel“ strukturierte,
führte durchaus zu politischen Kämpfen und Rivalitäten, die nicht zuletzt auch
innerhalb des bosnisch-herzegowinsichen Zentralkomitees sichtbar waren.
Auch der Einfluss der nationalen Institutionen aus Serbien und Kroatien (z. B.
durch die Serbische Akademie der Wissenschaften oder die Matica Hrvatska)
und der religiösen Instanzen (hier auch der islamischen Gemeinschaft in Bos-
nien, die immer selbstbewusster auftrat) wurde in den 1970er Jahren stärker.
Auf der anderen Seite gab es jedoch v. a. in urbanen Zentren und innerhalb der
gebildeteren Schichten der Bevölkerung ein ausgeprägtes überethnisches und
überkonfessionelles Bewusstsein als Bosnier.39 In diesem Umfeld kam es auch
zu einem überproportional hohen Anteil an sog. Mischehen, die innerhalb der
urbanen Schichten bzw. der sog. „sozialistischen Arbeitsklasse“ ein weit ver-
breitetes Phänomen waren.
Am Beispiel der Mischehen wird auch ein Konflikt zwischen zwei Grundprin-
zipien der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft sichtbar, nämlich zwischen
dem Konzept des bereits diskutierten komšiluk und des građanstvo (Bürgerlich-
keit). Das Konzept der Mischehe kollidierte direkt mit dem System des komšiluk,
bei dem statt der persönlichen und intimen Nähe wie im Falle der Mischehen
die räumliche Nähe zwischen den Mitgliedern der jeweils anderen ethnischen
im Rahmen des jugoslawischen Staates nicht gelösten nationalen Frage und ihre
Instrumentalisierung für politische Zwecke vertiefte jedenfalls die Krise und
beschleunigte den Zerfall des Staates.
Auch in Bosnien-Herzegowina verstärkten sich in der Spätphase des sozialis-
tischen Jugoslawiens die nationalistischen Tendenzen, die sich zunächst einmal
in stärkeren Tendenzen der muslimischen religiösen Emanzipation und einem
verstärkten „antimuslimischen serbischen Nationalismus“ äußerten.43 Unter
dem Vorwand des notwendigen Schutzes der Nationen vor der Durchdringung
mit (negativen) religiösen Elementen und des Beharrens auf säkularen nationa-
len Identitäten versuchte die politische Führung der Republik, diese Tendenzen
zu unterbinden. Ein Höhepunkt beim Vorgehen gegen muslimische Aktivisten
war der Prozess gegen 13 Männer rund um Alija Izetbegović, die – so der dama-
lige Vorsitzende des Präsidium des bosnischen Zentralkomitees Hamdija Poz-
derac – wegen „de facto Forderungen nach einem ethnisch reinen Bosnien und
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of Yugoslavia from the Death of Tito to the Fall of Milosevic. Boulder: Westview Press
4
2002 sowie auch Little, Allan / Silber, Laura: Bruderkrieg. Der Kampf um Titos Erbe.
Graz, Wien: Styria 1995.
43 Malcolm 1996, p. 240.
44 Vgl. Filandra 1998, p. 325; Filandra schildert in seinem Buch ausführlich diesen Prozess,
seinen Verlauf und Folgen (ibid., pp. 325–347).
45 Malcolm 1996, p. 241.
46 Vgl. Izetbegović, Alija: Islamska deklaracija. Sarajevo: Oko 1990.
res Mitglied des ersten bosnischen Präsidiums nach 1990, Fikret Abdić, enorme
Popularität genoss, hatte enorme Folgen. Viele Muslime waren überzeugt, dass
der Skandal von Belgrad aus organisiert war, um einige der prominentesten
bosnisch-muslimischen Politiker, v. a. Hamdija Pozderac, zu Fall zu bringen.
Pozderac trat von seinen Ämtern zurück und die überwiegend muslimische Be-
völkerung in der gesamten Nordwestregion litt danach sehr stark unter Folgen
einer sich verstärkenden Wirtschaftskrise.
Die Agrokomerc-Affäre und ihre Folgen führten zur Diskreditierung des So-
zialismus-Gedankens und der bosnischen sozialistischen Elite. Solange jedoch
die politische Führung der Kommunisten im Großen und Ganzen geschlossen
gegen die nationalistischen Tendenzen auftrat, konnten die ersten kleineren
interethnischen Zwischenfälle ab 1987 Bosnien noch nicht wesentlich destabi-
lisieren. In einer Umfrage aus dem Jahr 1988 konnte sogar eine hohe positive
Einstellung in Bezug auf den Jugoslawismus, der in Bosnien ein Symbol für
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47 Lt. Anđelić 2003, p. 73, hatten von 35 % der Befragten in Bosnien, die sich als Jugoslawen
verstanden, 86,2% eine sehr positive Einstellung zum Jugoslawismus. Eine ähnlich posi-
tive Einstellung hatten auch jene, die sich als Serben bzw. Kroaten deklarierten (79,6%)
oder als Muslime (83,9%)
48 Vgl. ibid.
rantieren, konnte man von einem mehr oder weniger harmonischen und gut
ausbalancierten zwischenethnischen Umgang sprechen. Sobald aber der Staat
schwächer wurde und der politische Kampf um Ressourcen aller Arten sich ver-
stärkte (und das Politische also begann, die Ebene des Alltags zu bestimmen),
geriet das subtil austarierte Modell ins Wanken und verkehrte sich in seinen
Gegensatz. Die ehemals im komšiluk-Konzept garantierte Sicherheit im Alltag
wurde jetzt in der – mitunter auch gewalttätigen – Konkurrenz zu den jeweils
anderen gesucht.50
Generell betrachtet waren die Ambivalenzen der unterschiedlichen Lebens-
formen sowie die gegenseitige Verwebung und Beeinflussung der scheinbar
unvereinbaren Gesellschaftsentwürfe in Bosnien und Herzegowina dafür ver-
antwortlich, dass man sowohl Formen des toleranten und das Ethnische trans-
zendierenden Lebens – wie z. B. v. a. in den Fällen der sog. Mischehen – vorfin-
den konnte, als auch Formen der Skepsis und gewisser Distanz zu den ethnisch
jeweils Anderen. Dieses Misstrauen wurde auch durch die Erinnerungen an
Verbrechen des Zweiten Weltkrieges bzw. in den jeweiligen und aus Serbien und
Kroatien stark forcierten Geschichtsnarrativen, die stets historische Differenzen
betonten, genährt. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kam es unter
den Bedingungen der allgemeinen Krise und der verstärkten politisch-nationa-
listischen Konkurrenz zwischen einzelnen jugoslawischen Republiken schließ-
lich zu schrittweisen Veränderungen der inneren Struktur der bosnisch-her-
49 Als ein weiteres Merkmal gab es eben auch die bereits beschriebenen Ansätze des
građanstvo, die sich aber angesichts der Stärke der ersten beiden Merkmale nur im gerin-
geren Ausmaß innerhalb der urbanen und fortschrittlichen Schichten etablieren konn-
ten. Vgl. Bugarel 2003, p. 125ff.
50 Vgl. ibid.
Der Krieg von 1992 bis 1995 markierte jenes Ereignis in der modernen Ge-
schichte Bosnien-Herzegowinas, das bis heute als absoluter Bezugspunkt für
die Aufrechterhaltung des Ethnonationalismus und damit der jeweiligen Eth-
nostaatlichkeit dient. Die Frage nach der Erinnerung an den Krieg im ex-jugo-
slawischen Gebiet und insbesondere in Bosnien lässt sich nicht von der Er-
innerung an den Zweiten Weltkrieg und die interethnische Gewalt in diesem
Zeitraum loslösen, ebenso wenig von der Erinnerung an die in der Zeit des
Tito-Jugoslawien unter ideologischen Vorzeichnen betriebenen Auseinander-
setzung mit der Vergangenheit und einer jegliche ethnischen Unterschiede ver-
wischenden Identitätspolitik. So konnten die nationalistischen Parteien zu Be-
ginn der 1990er Jahre in ihrer Erinnerungs- und Identitätskonstruktionspolitik
nahtlos an nicht-thematisierte Dimensionen der Tito-Ära anschließen bzw. mit
Verweis auf diese Unterlassungen der Tito-Zeit in ihren Geschichtsversionen
in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg „wühlen“ und sich jeweils als Opfer dar-
stellen. In dieser Darstellung sahen sich die Kroaten als Opfer der serbischen
Hegemonialpolitik, die Serben als Opfer des kroatischen faschistischen Staates
NDH und die Bosniaken als Opfer der beiden aggressiven Großstaatsprojekte
in der Nachbarschaft. Vom Opferstatus des Zweiten Weltkrieges über die Opfer
der Unterdrückung durch das Tito-Regime bis hin zum Opferstatus im Kontext
der „neuen Demokratie“, der sich aus der unmittelbaren Bedrohung durch die
jeweils anderen ableitete, war kein weiter Weg zu den Kriegen und zum heute
vorherrschenden exklusiven Anspruch auf die ethnonationale Selbstständigkeit
und damit auf die Gestaltung der Geschichte, der eigenen Denkmäler, auf das
Stilisieren von Kriegsverbrechern zu Helden, v. a. aber auch auf die exklusive
Beherrschung des eigenen ‘reinen’ nationalen Territoriums. All diese Prozesse
wurden und werden auf der Ebene der Alltagswelt begleitet und in unterschied-
lichen Facetten widergespiegelt.51 „Offizielle“ Narrative werden dabei von per-
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51 Bougarel, Xavier / Helms, Elissa / Duijzings, Ger (Hg.): The New Bosnian Mosaic. Identi-
ties, Memories and Moral Claims in a Post-War-Society. Aldershot: Ashgate 2007, p. 24f.
52 Ibid., p. 21.
53 Das Thema des ethnisierten Unterrichts wird in der bosnischen Öffentlichkeit immer
wieder diskutiert.
54 Vgl. Jansen, Stef: Remembering with a Difference. Clashing Memories of Bosnian Con-
flict in Everyday Life. In: Bougarel/Helms/Duijzings 2007, pp. 167–193.
55 Vgl. Zgodić, Esad: Politika fantazije. O ratu protiv Bosne i Herecegovine. Sarajevo: DES
Sarajevo 2005.
56 Vgl. Brubaker 2006.
57 Mujkić, Asim: „Zatvorenikova dilema“ i njene implikacije u etnopolitici Bosne i Hercego-
vine. In: Godišnjak [Sarajevo] 2007, pp. 31–44.
Angst als eines integralen Bestandteils des ethnischen Prinzips beschrieb Ivan
Lovrenović noch 2004 wie folgt:
Die Angst ist der primäre Reflex, der die politischen Beziehungen zwischen den drei
ethnischen Gemeinden in Bosnien-Herzegowina bestimmt, und zwar in jenem Aus-
maß, in dem das die drei regierenden nationalen Parteien einen solchen Charakter der
zwischenethnischen Beziehungen festgelegt haben. Angst, tiefes Misstrauen, Unfähig-
keit für die Öffnung gegenüber einer anders gearteten Zukunft, geschweige denn vor
einer gemeinsamen Zukunft! Würde man diesen Zustand analytisch und begrifflich
korrekter bezeichnen wollen, könnte man fast sagen, dass diesbezüglich der Krieg
noch nicht beendet wurde, sondern nur in latenter Form sich in die Mimikry-Formen
des kollektiven politischen Verhaltens, der Aspirationen, der Ängste, Fantasien etc.
verwandelt hat.58
An diesem Muster hat sich bis heute nichts geändert. Lovrenović präzisiert
auch, dass es bei den drei großen ethnischen Gruppen Unterschiede in der Aus-
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prägung der Angst gibt. So haben die bosnischen Serben v. a. die Angst vor der
Auflösung der RS, die sie als den letzten Schutz vor unitaristischen Tendenzen
und damit einer Dominanz der Bosniaken betrachten. Die bosniakische Angst
geht auf den Krieg und seine Ergebnisse zurück und besteht darin, dass die Bos-
niaken neuerlich Opfer der Kroaten und Serben werden könnten. Die Kroaten
hingegen fürchten sich davor, von den beiden größeren ethnischen Gruppen
innerhalb Bosniens unterdrückt zu werden und setzen alles daran, diese Angst
durch die offensive Politik der Stärkung der kroatischen Identität und durch den
Kampf um die Errichtung einer dritten Entität zu überwinden.59
Vor dem Hintergrund einer solchen ‘Angst-Landschaft’, die aus der Furcht der
einen ethnischen Gruppe vor der Bedrohung durch die jeweils andere besteht
und bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit und Relevanz eingebüßt hat, sind
die Chancen für die Stärkung einer Gesamtstaatlichkeit, die Abschwächung des
Ethnonationalismus sowie für die Verbesserung der interethischen Beziehun-
gen gering. Eine Normalisierung müsste in diesem Sinne auch bedeuten, dass
die Angst als gestalterisches Prinzip der Politik in Post-Dayton-Bosnien-Herz-
egowina verschwinden müsste. Mit ihrem Verschwinden und damit verbunden
einer Normalisierung des Politischen könnte die Macht der oben erwähnten
Daytoner „interpretativen Matrix“ reduziert werden.60 Die Normalisierung je-
doch scheint zum Hauptfeind der ethnonationalen politischen Eliten geworden
zu sein. Ein ’normales’ Bosnien würde sie des Ethnischen als der zentralen
Mobilisierungs- und Legitimierungsstrategie berauben.
bosniakische Stadt,64 Mostar auch lange nach dem Ende des Krieges eine geteilte
Stadt zwischen Kroaten und Bosniaken.
Die Folgen der beschriebenen Ethnoterritorialisierung für die grundsätzliche
Begründung der bosnischen Staatlichkeit sind abseits der Formalisierung der
territorialen Autonomie der ethnischen Kollektive in Kantonen und Entitäten
enorm. Die Spirale der Entfernung der einzelnen ethnischen Gruppen voneinan-
der, die sich schon in den späten 1980er Jahren stark zu drehen begann und die
ihren Höhepunkt im Wahnsinn des Krieges erreichte, wurde also durch Dayton
und nach Dayton fortgesetzt. Mit der ethno-politisch forcierten Entfernung der
einzelnen Völker Bosniens voneinander wurde das Fundament einer gemein-
samen Staatlichkeit weggerissen. Durch die Perpetuierung des krisenhaften
Zustandes in Post-Dayton-Bosnien wurde der Raum für die uneingeschränkte
Dominanz des Ethnonationalen als einer erprobten und in Augen ethnonatio-
naler Eliten äußerst effizienten Herrschaftstechnik geschaffen.
Und hier liegt der Kern des heutigen Problems in Bosnien und Herzegowina:
Die drei exklusiven ethnonationalen Konzepte der Serben, Kroaten und Bosnia-
ken schließen einander aus; die drei Völker sind aber gleichzeitig gezwungen,
zumindest formal im Rahmen eines gemeinsamen und von der internationalen
65 Vgl. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1998, p. 99.
Verantwortung den Wählern gegenüber hauptsächlich auf den Schutz vor der
Bedrohung der eigenen Ethnie und der „vitalen nationalen Interessen“ der eige-
nen Volksgruppe.
Die Mehrheit der politischen Repräsentanten der drei bosnischen Volksgrup-
pen vertreten sie in diesem Punkt de facto gleich, in dem sie das Ethnische
benutzen, um die Legitimität für das eigene Handeln und für die demokrati-
sche Vertretung herzustellen. Politik und damit auch der Staat, in dem diese
praktiziert wird, werden dadurch zu einem ethnopolitisierten Marktplatz für
die Realisierung eigener Interessen, wodurch sich die Funktion des Staates als
eines dem Bürger dienenden Rahmens für die normale Führung des Lebens
auflöst. Der mittlerweile verselbstständigte Daytoner Ethnonationalismus hat
sich zu einer Kraft entwickelt, die es seinen Akteuren einfach macht, es als
Herrschaftsmittel einzusetzen. Laut Nerzuk Ćurak wird damit ein politisches
System aufrechterhalten, der den Schlechtesten die Zugehörigkeit zur Elite des
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Landes ermöglicht, die den Staat führt. Diese „Schlechtesten“ besitzen natürlich
ein immanentes Interesse an der Aufrechterhaltung des Krisenzustandes und an
weiterer Politisierung der ethnischen Unterschiede, die als probates Mittel zur
Prolongierung ihrer Macht eingesetzt wird.66
Die schwierige Lage der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina, die weiter-
hin an niedrigem Lebensstandard, hoher Armut und hohen Arbeitslosenzahlen
leidet, vor allem aber am permanenten status quo ohne positive Zukunftsvi-
sionen verzweifelt, wird dadurch prolongiert. Der Staat nach Dayton ist also
nicht bzw. kaum in der Lage, seine Funktion als Garant der Stabilität und jene
Instanz wahrzunehmen, die für die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen
Güter und Ressourcen sorgen könnte und müsste. Das Versagen der staatli-
chen „Output-Leistungen“ im Sicherheitsbereich, im Bereich des Schutzes der
nationalen Rechte und der Minderheiten sowie eben im Bereich der gerechten
Verteilung der ohnehin knapp vorhandenen sozialen und ökonomischen Gü-
ter, tragen dazu bei, dass das Vertrauen der Bürger in die Politik und damit in
weiterer Folge in das Demokratiemodell schon lange schwindet und in politi-
sche Apathie umschlägt. Die fortdauernde Krise der bosnischen Staatlichkeit
nährt das Misstrauen, verstärkt die allgemeine Verunsicherung und etabliert
eine Form des ahistorischen Ur-Misstrauens als eines Kernelements der Dayto-
ner-Ethnostaatlichkeit, gewissermaßen als conditio-sine-qua-non der bosnischen
Nachkriegsstaatlichkeit. Eine direkte Folge davon ist massive Abwanderung
vor allem junger Menschen, die damit auch eine unmissverständliche Botschaft
aussenden, dass die Form des Politischen und des Gesellschaftlichen dem Land
die Luft zum Atmen nimmt.
66 Ćurak, Nerzuk: Obnova bosanskih utopija. Sarajevo, Zagreb: Synopsis 2006, p. 83f.
rung. Demokratie erfordert eine Form der Wir-Sie-Unterscheidung, die mit der An-
erkennung des für die moderne Demokratie konstitutiven Pluralismus vereinbar ist.68
Und weiter:
Wollen wir einerseits die Dauerhaftigkeit der antagonistischen Dimension des Kon-
flikts anerkennen, andererseits die Möglichkeit ihrer ‚Zähmung’ zulassen, so müssen
wir eine dritte Beziehungsform in Aussicht nehmen. Für diese Form habe ich die Be-
zeichnung ‚Agonismus’ vorgeschlagen. Während der Antagonismus eine Wir-Sie-Be-
ziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen,
ist der Agonismus eine Wir—Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die
Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, dass es für den
Konflikt keine rationale Lösung ist.69
Was aber, wenn aus den Antagonismen mittlerweile schon seit nahezu drei
Jahrzehnten – wie in Bosnien-Herzegowina – keine produktiven Impulse für die
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Gesellschaft entstehen und die „gemeinsame Basis“ von Tag zu Tag schwächer
wird? Eine Antagonismen bearbeitende und transzendierende Form der agonis-
tischen Politik braucht eine Basis. Fehlt diese Basis, eben das Gemeinsame, oder
wurde sie gewalttätig geraubt und mutwillig zerstört, wird die Wiederbelebung
eines normalen Gemeinwesens schwer. In einer solchen Situation braucht es
eines radikalen Denkens abseits der bereits angetretenen Pfade, das in der Lage
ist, deutlich die Grenzen der in Post-Dayton-Bosnien mittlerweile verfestigten
Denkschemata der lokalen ethnonationalen „Eliten“ aufzuzeigen. Die schein-
bare Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit dieser von verantwortungslosen
politischen Eliten dominierten nationalistisch-egoistisch-pervertierten perma-
nenten Gegenwart Bosniens-Herzegowinas ist es, die es anzugreifen und dis-
kursiv und ideologisch und dann auch und vor allem real zu dekonstruieren gilt.
Diese Dekonstruktionshoffnung trägt natürlich auch einen utopischen Kern in
sich. Dazu Slavoj Žižek:
In ihrem innersten Kern hat Utopie nichts mit der Vorstellung von einer unmög-
lichen idealen Gesellschaft zu tun; charakteristisch für die Utopie ist vielmehr die (so
wörtlich) Konstruktion eines utopischen Raumes, eines gesellschaftlichen Raumes
außerhalb der existierenden Para-mater, der Parameter dessen, was im bestehenden
gesellschaftlichen Universum ‚möglich’ scheint. ‚Utopisch’ ist eine Geste, die die Ko-
ordination des Möglichen verändert. […] (U)topie (hat) nichts mit dem vom wirklichen
Leben abstrahierenden Traum von einer idealen Gesellschaft zu tun: ‚Utopie’ ist eine
Sache von höchster Dringlichkeit, etwas, in das wir um unseres Überlebens willen
68 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Version, Frankfurt/M.:
Suhrkamp 2007, p. 22.
69 Ibid.
hineingestoßen werden, wenn es nicht mehr möglich ist, innerhalb der Parameter des
‚Möglichen’ weiterzumachen.70
Nun stellt sich die Frage, ob die neuen sozialen Protestformen, deren Zeugen wir
im Februar 2014 in Bosnien geworden sind, das Potenzial zur Veränderung der
Parameter des Möglichen und zur Entwicklung einer neuen produktiven Form
der agonistischen Politik haben? Dass in Bosnien im Februar 2014 den unver-
antwortlichen Politikern lautstark mitgeteilt wird, dass man politische Miss-
stände nicht mehr dulden wird, dass man gegen elitendominierte und korrupte
formaldemokratische Regime auf die Straße geht und zahlreiche Missstände
beim Namen nennt und dagegen ankämpft, ist jedenfalls ein (kleiner) Teil des
Erwachsenwerdens der Gesellschaft. Dass man die in der Regel nicht selbst ver-
schuldete soziale Misere nicht mehr einfach akzeptieren will, gehört auch zum
Prozess der demokratiepolitischen Emanzipation.
Bosnien-Herzegowina durchläuft einen langwierigen Prozess der demokra-
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70 Žižek, Slavoj: Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005,
p. 198f.
1.
Habsburg hatte keine Kolonien im üblichen Sinne, es war kein Imperium mit
Provinzen. – Was aber wäre das überhaupt: keine Provinz, keine Kolonie? Be-
bautes, bestelltes Land ist eine Kolonie, von lat. colere, spätestens bei Nennung
der Stammformen erkennt auch der Nicht-Lateiner, dass das mit Kultur zu tun
hat, „colo, coluī, cultum“. Das tut der „agrumcolens, der Landmann“, damit be-
fasst, zu „pflegen, […] bauen, bebauen, bearbeiten“, aber auch zu „bewohnen, […]
hausen, sich bleibend auf(zu)halten“ und jenen „Ort häufig (zu) besuchen“, womit
man ins Residieren gelangt. Das tut dann nicht mehr der Landmann, allenfalls
praktiziert man das vom Landtmann aus, dem 1873 gegründeten Café im Palais
Lieben-Auspitz. Kolonialisierung betrifft jedenfalls alles, was „physisch od. geistig
(zu) pflegen“2 ist.
Das Problem, das sich so herauskristallisiert, ist, dass Kolonie gerade dort ist,
wovon ausgehend eine Kolonie normalerweise gegründet worden wäre. Mit der
Provinz – von pro und vincere – wird es nicht besser, Siegesbeute bedeutet das,
„Wirkungskreis“3 meint es abstrakter. Jeder beanspruchte und einer Ordnung
unterworfene Raum ist dies indes aufgrund einer wie immer subtilen Operation
1 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. von
Heinz Stolpe. Berlin, Weimar: Aufbau 1965, vol. 2, p. 57.
2 Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quel-
len zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitä-
ten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. Darmstadt: WBG 81998,
vol. 1, p. 1278.
3 Ibid., vol. 2, p. 2045.
von Macht; es gilt für jede terra cognita bald, dass sie einigermaßen exklusiv
Wirkungskreis meine: „Nulle terre sans seigneur”4…
Also ist schon zum Beispiel ein Imperium selbst provinziell? Alternativ wäre
die Provinz oder Kolonie – wenn nämlich nicht das Weltreich, das als Summe
seiner von ihm nicht zu trennenden und also begrifflich nahezu inexistenten
Provinzen/Kolonien existiert – gar nicht: Die Provinz, die (noch) nicht integriert
ist, die also ihrer Ressourcen wegen gehalten ist, aber nicht Teil des Ganzen,
die nicht von jener Kultur ist, sondern entweder von einer anderen oder diffus
Natur, ist nicht errungen, sondern, wie sich in den Postcolonial Studies zeigt, mit
Widerstand und Widerstreit verknüpft – und verknüpft geblieben.
Diese Alternative billigt nicht, wer Kolonien und/oder Provinzen zu haben
vermeint und/oder beansprucht. Und so wird aufgrund der Begriffslogik das
Zentrum von dem heimgesucht, was es organisiert, von eben jenen Provinzen
und Kolonien also, die das nicht sind, sondern sich dem Zentrum gegenüber
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verändern, wie sie das Zentrum verändern: hin zum Knotenpunkt, wenn es
denn eines Bildes bedarf.5
Paul Gilroy schreibt über diesen Effekt:
This shift generates a view of the colony as rather more than an extractive commer-
cial operation. No longer merely a settlement, an adventure, an opportunity, […] and
a space of death, it can be recognized as a laboratory, a location for experiment and
innovation that transformed the exercise of governmental powers at home and con-
figured the institutionalization of imperial knowledge.6
2.
Das überspringt schon einen Schritt, aber da wird es – vielleicht – enden. Statt-
dessen sei gefragt, was die Architekturen ausdrücken, womit eine Provinz sicht-
bar zu dieser wird, wie also ein Stil beides fixiert: dass Kolonie nicht Zentrum,
aber auch nicht nicht-integriert ist. Dabei sind es zunächst Architekturen, die
den Besatzungsposten dienen. Extra mures sind diese, aber als Teil der mures,
als Vorposten derselben.
Sie sind dabei zugleich ein Bild der Integrität, und zwar außerhalb des Impe-
riums, aber dann doch dieses dort, wo es nicht ist, realisierend. Sie wiederholen
4 Im Hof, Ulrich: Das Europa der Aufklärung. München: Beck 1993 (Europa bauen), p. 63.
5 „kein Zentrum, […] sondern eher einen Knotenpunkt” – Serres, Michel et al.: Elemente
einer Geschichte der Wissenschaften. Hg. von Michel Serres, übers. v. Horst Brühmann.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (=stw 1355), p. 607.
6 Gilroy, Paul: Postcolonial Melancholia. New York: Columbia Univ. Press 2005 (= Wellek
Library Lectures), p. 43.
dabei strukturell, was Kultur aber auch da ist, wo sie beginnt oder beginne/
begonnen habe: Kolonie ist, wie angedeutet wurde, zunächst das Zentrum, näm-
lich sich selbst kolonialisierend.
Das Zentrum setzt sich in der Kolonie wie sich so selbst, wie das absolute Ich
Fichtes, das gerade in seiner Absolutheit noch bloß nichts ist – vom „blossen
Seyn[.]“7 schreibt Fichte –, während alles, was (etwa: ausgedehnt) ist, bedingt
ist.
Die Art und Weise dieses Sich-Versicherns und Absicherns dessen, was das
sei, was da kolonialisiere, lernt und übt es gerade da immer wieder: im Kakanien
zu attestierenden Bewusstsein, dass es nichts gibt, was sich ausdehnte und was
das Einverleibte einer Assimilation unterziehen könnte, von dieser Neigung zum
Diskursivem abgesehen. Dieses dann geschulte Bewusstsein mag mehr denn der
Umstand, dass Wien und das Kernland als melting pot nahe einem Limes in sich
heterogen längst war,8 dazu beigetragen haben, dass und wie Wien immer schon
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an den Fronten, an denen es sich wörtlich definiert, war und sich demgemäß zur
Quasi-Kolonialmacht entwickelte: Die Art und Weise dieses Sich-Versicherns
und Absicherns dessen, was das sei, was da kolonialisiere, lernt und übt es da
immer wieder – an den Fronten, an denen es sich wörtlich definiert. Die Grenze
wird zu dem, was „Zukunftsprojekt“ vielleicht nur als „abgrenzungsschwaches“
ist,9 wie man den Worten Koschorkes entlang sagen kann.
Als diese Grenzziehung ist sie im Herzen dessen, was sich ausgedehnt habe;
Schnitzlers Leutnant Gustl formuliert dies in einer Passage, aus der die Titel-
worte dieses Essays stammen, über Österreich und seine Kolonien:
Der Burghof. Wer ist denn heut’ auf Wach’? – Die Bosniaken – schau’n gut aus – der
Oberstleutnant hat neulich g’sagt: Wie wir im 78er Jahr unten waren, hätt’ keiner
geglaubt, daß uns die einmal so parieren werden!10
7 Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke. Hg. von I[mmanuel] H[ermann von] Fichte.
Bd. 1–8. Berlin: Veit & Comp. 1845–46, vol. 1, p. 96.
8 Kraus‘ Auflistung der sich deutsch wähnenden Österreicher „Popelak, Jnderka, Molinek,
Honsik, Haluschka, Budischowski, Konetschni, Dobrawski, Miklaucic, Horak, Jelinek,
Janota, Kudielka, Machatsch, Wawra, Prochaska, Machatschek und Viskozil“, der „Wort-
führer[n] des Alldeutschthums in Untersteiermark [:] Rakusch, Kokoschinegg, Stepisch-
negg, Kovatschitsch, Jessenko, Jabornegg, Ambrositsch, Mravlag, Besgorschak, Pod-
gorschegg, Scheligo, Pollanetz“ sowie der „Parteigänger[n] der Slovenisch-Nationalen
in Untersteiermark [:] Einspieler, Rauch, Kaisersberger, Fischer, Lippoldt, Mayer, Sittig,
Plapper, Schürzer, Rossmann, Blachmann, Sprachmann, Schuster, Rosenstein, Kramer,
Jahn“ ist bekannt – Kraus, Karl: Die Fackel. Nr 1 (April 1899) –Nr 922 (Februar 1936) in
39 Bänden + Supplementband. Fotomechanischer Nachdruck im Originalformat, hg. von
Heinrich Fischer. München: Kösel 1968–76, Nr 85, 16.11.1901, p. 11
9 Koschorke, Albrecht: Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013. Berlin: Suhr-
kamp 2015, p. 224.
10 Schnitzler, Arthur: Die Dramatischen Werke. Frankfurt/M.: S. Fischer 1962, vol. 2, p. 362.
Das Zentrum der Macht wird von jenen gehütet, derer sie sich bemächtigte,
das setzt sich bis in das Subjekt (etwa Gustl) fort; der Kolonialisierte, zumal der
kolonialisierte Städter, gleiche dem Wiener, dies besagt der kurze Abschnitt. Der
Wiener ist umgekehrt der Kakanier, der denen gleiche, als Teil des Geflechts,
das statt eines Zentrums viele Knotenpunkte miteinander verbindet, von denen
keiner die Stupidität einer Identität oder des Identitären hätte, wie das heute von
dessen Verfechtern geheißen wird.
Kakanien verbindet Verbundene, konjunktivisch und konnektibel, deren Hy-
bridität das ist, was, wenn es das gäbe, Zentrum wäre; „der Hybrid, so minoritär
er auch sein mag, (hat) eine zentrale […] Funktion“11, schreibt Müller-Funk,
über das Wort zentral könnte man da streiten oder es ironisieren, nicht im
Landtmann, sondern im fast zentralen Café Dezentral (im zweiten Wiener Ge-
meindebezirk) oder im leicht dezentralen Café Central, nämlich dem in Baden
bei Wien.
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3.
Insofern meint der Begriff Kolonialmacht, daß ein Land sich zu universalisieren
und zu ironisieren vermag, eines durch das andere, nicht von abstrakter Größe
träumt, sondern seine Provinzialität versteht und darum ihr nicht aufsitzt: ein
„coquettish way“12 der Provinzialität, wenn man so möchte. Von jener Ironie ist
auch die Einladung zur Partizipation an die Kolonien, die dies so oder so nicht
blieben, wo sie dies blieben; die Kolonie ist begriffslogisch ja unmöglich.
Diese Ironie wird ironisch beantwortet, im Wissen darum, daß die Macht, die
sich so performiert, die einzige ist, aber nur als ironische:
Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und
der nur noch im Liede lebt, hat vor kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der
Priester vor dem Altare verliest. […]
So verfährt also das Volk mit den vergangenen, die gegenwärtigen Herrscher aber
mischt es unter die Toten. Kommt einmal, einmal in einem Menschenalter, ein kaiser-
licher Beamter, der die Provinz bereist, zufällig in unser Dorf, stellt im Namen der
Regierenden irgendwelche Forderungen, prüft die Steuerlisten, wohnt dem Schul-
unterricht bei, befragt den Priester über unser Tun und Treiben, und faßt dann alles,
ehe er in seine Sänfte steigt, in langen Ermahnungen an die herbeigetriebene Gemein-
de zusammen, dann geht ein Lächeln über alle Gesichter, einer blickt verstohlen zum
11 Müller-Funk, Wolfgang: Ein neues progressives Subjekt in der Welt? Anmerkungen zum
Diskurs über den Hybriden. In: wespennest 145 (2007/1), pp. 80–83, hier p. 81.
12 Hainz, Martin A.: In hoc Signo [Pro]vinces. Out-Sourcing the Hearts of Empires, the Case
of Chernivtsi (Czernowitz, Cernauti). In: Kakanien revisited, www.kakanien-revisited.at/
beitr/fallstudie/MHainz2.pdf(2008), pp. 1–4, hier p. 1.
andern und beugt sich zu den Kindern hinab, um sich vom Beamten nicht beobachten
zu lassen. Wie, denkt man, er spricht von einem Toten wie von einem Lebendigen, die-
ser Kaiser ist doch schon längst gestorben, die Dynastie ausgelöscht, der Herr Beamte
macht sich über uns lustig, aber wir tun so, als ob wir es nicht merkten, um ihn nicht
zu kränken. Ernstlich gehorchen aber werden wir nur unserem gegenwärtigen Herrn,
denn alles andere wäre Versündigung.13
Diese Passage aus Kafkas Nachlaß zeigt den Gehorsam Kakaniens. Dessen Bür-
ger sind eingeladen zur Erlösung qua Ironisierung und Zivilisierung, etwa Habs-
burgisierung; „wer immer strebend sich bemüht, den können wir besteuern“14,
so lautet das Motto eines solchen Projekts vielleicht.
Es geht um Universalien, worin das Imperium Kakanien das, was ihm entge-
gensteht, eher sich als solches inkorporiert, als es frontal anzugehen.Dies wäre
in einer anderen Weise als der ironischen provinziell: „Provinz gegen Provinz“,15
wie es bei Suttner heißt.
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4.
Zugleich ist genau das, was die böse Seite des Verbindlichen ist – die Knoten
(statt des Zentrums, das nur im Kursiven fortbesteht), die das Imperium kons-
tituieren, sind …
… erstens solche, die zwar die Provinzen und das Zentrum einander anglei-
chen, aber nicht zwingend die Provinzen einander, die folglich disparat sind, wo
die Vermittlung, die das Zentrum leistet, durch dieses ausbleibt, und …
… zweitens in dieser Funktion auf weiteren Ebenen zu finden, siehe Kraus:
Es sei nur noch erwähnt, dass man auch in Bosnien das österreichische Princip der
Ausspielung einer Nationalität gegen die andere in Anwendung brachte und sogar
eine dritte schaffen wollte. Die Verwirrung wird immer ärger. 16
Die Schlamperei des Umgänglichen ist also genauer höchst präzise, präziser
jedenfalls als „die Exzesse kolonialer Gewaltherrschaft“17, die es gleichwohl
13 Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod. Frankfurt/M.: S. Fischer 1950 ff., vol.
8, p. 60.
14 Vogl, Joseph: Mittler und Lenker. Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders. (Hg.): Poeto-
logien des Wissens um 1800. München: Fink 1999, pp. 145–161, hier p. 160.
15 Suttner, Bertha von: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Dresden, Leipzig: E. Pier-
son‘s Verlag 1892, vol. 1, p. 71.
16 Kraus, Karl: Die Fackel, 1 Nr. 22 (Nov. 1899), p. 7.
17 Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur österreichi-
schen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur
– Herrschaft – Differenz 23), p. 22.
auch gibt, quasi als das, was Kolonie und Kolonialmacht immer mitdefiniert:
bis ins erwähnte Subjekt, das im Falle Gustls fast Selbstmord begeht, im Falle
von Spiel im Morgengrauen aber tatsächlich: „Schlafen lassen. Bis ich von selber
aufwach’.“18
Im Subjekt ist sozusagen das Unerträgliche des Kolonialisierens, das Monst-
röse noch des Unterhandelns mikrologisch lesbar gegeben: „Das Monster erhebt
sich auf Geheiß des ‘Selbst’ […] des Textes in der und durch die Apostrophe, das
Monster ist das ‘Selbst’.“19
Kakanien ist nicht gemütlich und die Rede vom zum Beispiel „bosnische(n)
Paradies“20 – in Kraus‘ Fackel – hat einen Haken, verlässlich: paradiesisch
nimmt sich etwas auf Kosten von irgendwem und hier derer, die dort leben, aus.
Der Knoten bedarf seiner „bestimmte(n) Clientel, die nur auf ihn angewiesen
ist“,21 so schreibt Kraus andernorts – gleichfalls über kakanische Mißstände in
Bosnien-Herzegowina.
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5.
Zurück zu den Begrifflichkeiten und ihrer Logik. Kolonie und Provinz sind alles
und nichts. Kakanien hat dieses alles/nichts und ist also wie jede avancierte
Kolonialmacht diese nur …
… „als (Pseudo-) Kolonialmacht“, …
… als „so etwas wie eine Kolonialmacht“ oder …
… als „zwar keine Kolonialmacht“, aber durch die „kulturellen Formatierun-
gen“23 dem ähnlich, was eine wäre… wenn es, so würde ich das fortzusetzen
vorschlagen, eine Kolonialmacht denn gäbe.
6.
Abschließend seien daraus sieben Sätze abgeleitet:
§1: Wenn es Kultur gibt, kolonialisiert sie, …
§2: … und zwar sich und/oder das, was sie/ihr Ort sei, …
§3: … und potentiell alles.
§4: Kolonien, die integriert werden, sind diese Kultur, also keine Kolonien,
aber …
§5: … Kolonien, die nicht integriert werden, sind auch keine Kolonien.
§6: Kakanien kolonialisierte (darum) ironisch.
§7: Austriae Est Irritare Orbi Universo.
Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina
1 Anm. der Hg.: Diese Literaturliste wurde aus den Beiträgen des vorl. Sammelbands kom-
piliert. Evidente Lücken wurden nach Rücksprache mit den Kolleg(inn)en gefüllt; wir
danken Catherine Horel (Paris), Imre Ress (Budapest) und František Šístek (Prag) für ihre
Mithilfe.
BABUNA, Aydın: Nationalism and the Bosnian Muslims. In: East European Quarterly
[Boulder] 2 (1999), pp. 195–218.
BABUNA, Aydın: The Bosnian Muslims and Albanians. Islam and Nationalism. In:
Nationalities Papers [London] 2 (2004), pp. 287–321.
BABUNA, Aydın: The Berlin Treaty, Bosnian Muslims, and Nationalism. In: Yavuz, Ha-
kan/Sluglett, Peter (Hg.): War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of 1877–1878
and the Treaty of Berlin. Salt Lake City: The Univ. of Utah Press 2011, pp. 198–225.
BABUNA, Aydın: The Story of Bošnjaštvo. In: Ruthner et al., op. cit. (2015), pp.
123–138.
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