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KULTUR – HERRSCHAFT – DIFFERENZ 24

Clemens Ruthner / Tamara Scheer (Hrsg.)

Bosnien-Herzegowina
und Österreich-Ungarn,
1878–1918
Lizenziert für UB_Wien am 20.03.2023 um 17:57 Uhr

Annäherungen an eine Kolonie

Copyright (c) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG


Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn, 1878–1918
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KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ

Herausgegeben von
Milka Car, Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk,
Klaus R. Scherpe und Andrea Seidler

Band 24 • 2018

Kultur – Herrschaft – Differenz ist eine peer-reviewed Reihe


(double-blind).
Lizenziert für UB_Wien am 20.03.2023 um 17:57 Uhr

Kultur – Herrschaft – Differenz is a double-blind


peer-reviewed series.

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Clemens Ruthner/Tamara Scheer (Hrsg.)

Bosnien-Herzegowina und
Österreich-Ungarn, 1878–1918
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Annäherungen an eine Kolonie

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Umschlagabbildung: Kaiserbesuch, Brücke von Mostar (© Österreichische
Nationalbibliothek)

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.

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© 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG


Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

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E-Mail: info@narr.de

CPI books GmbH, Leck

ISSN 1862-2518
ISBN 978-3-7720-8604-5

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Inhalt 5

Inhalt

Vorwort der Herausgeber........................................................................................ 9

INTRO

Clemens Ruthner
Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie. Eine Einführung......................... 15
Tamara Scheer
„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“. Zu begrifflichen
Zuschreibungen Bosnien-Herzegowinas im österreichisch-ungarischen
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Staatsverband, 1878–1918..................................................................................... 45

VORGESCHICHTEN

Martin Gabriel
Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone zwischen
Habsburg und Hoher Pforte, 1688–1869............................................................ 61
Raymond Detrez
Zurückhaltung und Entschlossenheit. Zur Vorgeschichte der k. u. k.
Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878......................................................... 77
Imre Ress
„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“. Die Haltung
Ungarns zu Bosnien-Herzegowina bis zur Ära Kállay................................... 99

ÜBERNAHMEN

Clemens Ruthner
Besetzungen (1). Die Invasoren und Insurgenten des
Okkupationsfeldzugs 1878 im kulturellen Gedächtnis................................. 123
Robert J. Donia
„Proximate Colony“. Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-
ungarischer Herrschaft........................................................................................ 147
Aydın Babuna
Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr
Nationalismus........................................................................................................ 163

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6 Inhalt

Valeria Heuberger
Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina
unter österreichisch-ungarischer Herrschaft (1878–1914).......................... 193
Dennis Dierks
Der Savindan. Zur Konstruktion eines nationalen Gedenktages im
imperialen Kontext des habsburgischen Bosnien-Herzegowina............... 211
Carl Bethke
Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina.
Überblick mit ‘bosniakischen’ Perspektiven.................................................. 237
Maximilian Hartmuth
Amtssprache Maurisch? Zum Problem der Interpretation des
orientalisierenden Baustils im habsburgischen Bosnien-Herzegowina... 251
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ABBILDER

Clemens Ruthner
Besetzungen (2). Anverwandlung der Orte, Neuformatierung der
Fremde(n)................................................................................................................ 269
František Šístek
Der slawische Halbmond
Tschechische Darstellungen bosnisch-herzegowinischer Muslime in
Literatur, Reiseberichten und Memoiren (1878–1918).................................. 279
Johannes Feichtinger
Nach Said. Der k. u. k. Orientalismus, seine Akteure, Praktiken und
Diskurse................................................................................................................... 307
Reinhard Johler
Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Institutionalisierung
der österreichischen Volkskunde als Wissenschaft...................................... 325
Nedad Memić
„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“. Zur
Internationalisierung des bosnischen Wortschatzes nach der k. u. k.
Okkupation............................................................................................................. 359
Vahidin Preljević
„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“. Literatur, Kultur und
Widersprüche der imperialen Konstellation im habsburgischen
Bosnien-Herzegowina um 1900......................................................................... 373

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Inhalt7

Stijn Vervaet
Serbischer Okzidentalismus? Anti-westliche Rhetorik in Bosnien-
Herzegowina während der österreichisch-ungarischen Besatzung.......... 391
Anna Babka
„Das war ein Stück Orient“. (Post-)koloniale Ambivalenzen und
Fantasien in Robert Michels Die Verhüllte....................................................... 407
Riccardo Concetti
Robert Michel, oder: Wie die literarische Entdeckung Bosniens-
Herzegowinas weder zu Ruhm noch zu politischer Hellsicht führen
kann.......................................................................................................................... 423

NACHWIRKUNGEN

Franziska Zaugg
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„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“. Erinnerungen bosnischer


Waffen–SS–Soldaten an die österreichisch-ungarische Herrschaft
im Ersten Weltkrieg.............................................................................................. 441
Wolfgang Müller-Funk
Auf der Drinabrücke. Die Geschichte eines Chronotopos.......................... 449
Boris Previšić
Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion.
Ingeborg Bachmanns Aufarbeitung des (post)imperialen
südslawischen Erbes in Drei Wege zum See.................................................... 459
Ana Mijić
Das ‘Wir’ im ‘Ich’. Zum Problem der Identitätskonstruktion im
Bosnien-Herzegowina der Gegenwart............................................................. 475
Vedran Džihić
Ethnonationalismus in der longue durée? Vermessungen der
historischen und aktuellen Widersprüche Bosnien-Herzegowinas.......... 495

EPILOG

Martin A. Hainz
„Schau‘n gut aus“. Skizze zur Begriffslogik von Kolonie und Provinz....... 531

Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina 1878–1918.......................... 539

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Vorwort der Herausgeber9

Vorwort der Herausgeber

2018 jähren sich neben anderen Eckdaten der europäischen Geschichte wie
1918, 1938 oder 1968 auch drei einschneidende Ereignisse für Bosnien-Herze-
gowina: Nachdem der sog. Berliner Kongress der kontinentalen Großmächte
im Juli 1878 das Mandat dazu erteilt hatte, wurde die damals osmanische Pro-
vinz (Vilâyet-i Bosna) noch im selben Sommer und Herbst von österreichisch-­
ungarischen Truppen besetzt. 1908 annektierte dann die Habsburger Monarchie
Bosnien und die Herzegowina und löste damit eine schwerwiegende internati-
onale Krise aus. Im Herbst 1918 endete schließlich die k. u. k. Herrschaft in der
Region mit dem Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs und
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der Gründung des SHS-Staates: das spätere (erste) Jugoslawien.


Es mag symptomatisch erscheinen, dass diese Jahrestage schon 2008 in Öster-
reich und Ungarn, aber auch international kaum beachtet worden sind.1 2018
zierten zwar grüne Plakate mit der Jahreszahl 1878 etliche Bus-Haltestellen in
Graz; sie erinnern aber nicht etwa an den Okkupationfeldzug (dem noch ein
historisches Denkmal in der Radetzkystraße gewidmet ist), sondern an die ers-
ten Straßenbahnen der Stadt: Signifikant für das größere Vergessen, dem sich
das heute zumindest auf dem Papier unabhängige Bosnien-Herzegowina aufs
Neue ausgesetzt sieht, nachdem das zerfallende zweite Jugoslawien durch sei-
ne blutigen Bürgerkriege der 1990er Jahre kurz und jäh ins sen­sationalistische
Rampenlicht der Medien-Weltöffentlichkeit gerückt war.
Das darauf folgende Stillschweigen zu durchbrechen und die habsburgische
Vorgeschichte zum kurzen 20. Jahrhundert in der Region wieder historio­grafisch
und kulturwissenschaftlich ans Licht zu bringen, hat sich der vorl­iegen­de Sam-
melband vorgenommen. Unter Rekurs auf Ansätze der kritischen Kolonial-
geschichtsschreibung und der Post/Colonial Studies soll transdisziplinär nach
der österreichisch-ungarischen Involvierung in die Zeitläufte der bosnischen-­
herzegowinischen Geschichte gefragt und speziell die Folgen dieser Interven­
tion als kleine und große Paradigmenwechsel auf beiden Seiten aufgezeigt wer-
den: WechselWirkungen2 in politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und
religiöser Hinsicht, aber auch als Interaktion zwischen dem Gestern und Heute.

1 Abgesehen von zwei Tagungen in Wien (ÖAW, Dez. 2008) und Sarajevo (Filozofski
­Fakultät, April 2009), die von Autoren des vorliegenden Sammelbandes mit initiiert wor-
den sind und so gewissermßen die Keimzelle für die vorliegende Publikation darstellen.
2 Dies ist auch der Titel eines in den USA veröffentlichten Sammelbands, als dessen
deutschsprachige Fortsetzung sich der vorliegende versteht: Ruthner, Clemens / ­Reynolds

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10 Vorwort der Herausgeber

Hervorgegangen ist jener ‘post/koloniale’ Zugang zur späten Habsburger


Monarchie seit rund zwanzig Jahren aus der Forschungsarbeit und Interaktion
zweier Teams,3 des ehem. SFB Moderne an der Universität Graz4 rund um den
Historiker Moritz Csáky und des losen internationalen Netzwerks Kakanien
revisited, das sich rund um die gleichnamige Internet-Platform5 an der Univer-
sität Wien und Wissenschaftler/innen wie Wolfgang Müller-Funk, Waltraud
Heindl und anderen formierte, von denen auch etliche im vorliegenden Band
vertreten sind. Mit ihnen hat sich eine Sichtweise konstituiert und verfeinert,
die sich ebenso als Alternative zur Multikulti-Nostalgie des „Habsburgischen
Mythos“ (Claudio Magris) wie zu den Opfer-Narrativen nationalistischer Ge-
schichtsschreibung versteht: gleichsam als dritter Weg, der diese Denkfallen
überspringt.
Ganz in diesem Sinne geht auch unser Buch vor. Hier werden zunächst die
„Vorgeschichten“ der Besetzung rekonstruiert, ebenso wie der Okkupationsfeld-
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zug von 1878 selbst, der den größten k. u. k. Militäreinsatz zwischen der Schlacht
von Königgrätz (1866) und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914) darstellt.
Gefragt wurde bereits im „Intro“ betitelten Anfang des Sammelbandes nach der
Anschlussfähigkeit des Paradigmas der Kolonie, des Kolonialismus bzw. des Ori-
entalismus für die besetzten Gebiete. Die historische wie theoretische Auseinan-
dersetzung mit diesen Begriffen soll die Leser(innen) in die Lage versetzen, die
Aussagekräftigkeit der folgenden Fallstudien zu beurteilen, die sich in drei Ab-
schnitte gliedern: Darin werden die Auswirkungen der Okkupation sowohl im
politischen bzw. sozialen Feld („Übernahmen“ wie etwa in der Administration,
der Siedlungs- und Religionspolitik etc.) als auch im symbolisch-ästhetischen
Raum („Abbilder“) beschrieben – wobei der kolonialen Formatierung des Frem-
den in kulturellen Repräsentationen (Literatur, Volkskunde, Architektur und
anderen Medien), wie insgesamt der k. u. k. Identitätspolitik und den einheimi-

Cordileone, Diana / Reber, Ursula / Detrez, Raymond (Hg.): WechselWirkungen. Aust-


ria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878–1918. New York: P.
Lang 2015 (= Austrian Culture Series 24). In diesem Rahmen erschienen auch die hier
wiedergegebenen Beiträge von Raymond Detrez und Robert Donia zum ersten Mal (auf
Englisch); wir danken dem Verlag für die freundliche Gewährung der Übersetzungs- und
Wiederabdrucksrechte.
3 Vgl. etwa die beiden initialen Publikationen: Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter /
Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österrei-
chisch-ungarischen Monarchie. Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft –
Differenz 1); Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg
postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: StudienVerlag
2003.
4 Später aufgegangen im Institut für Kulturwissenschaft und Theatergeschichte der Öster-
reichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
5 Siehe online unter www.kakanien.ac.at.

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Vorwort der Herausgeber11

schen Reaktionen darauf besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im letzten Teil


unseres Sammelbands schließlich wird nach den „Nachwirkungen“ des vierzig
Jahre langen österreichisch-ungarischen Intermezzos in Bosnien-Herzegowina
bis zum heutigen Tag gefragt – also der longue durée in Denkformen und Prakti­
ken im ehemaligen „Reichsland“, das sich nach dem traumatischen Krieg von
1992–95 aufs Neue in der Situation eines (EU-)Schutzgebiets wiedergefunden
hat: Habsburgs ‘Dark Continent’?6
Wir freuen uns jedenfalls, dass wir für die Bearbeitung dieser Themen in-
ternationale Expert(inn)en ­– aus den sog. Nachfolgestaaten der Habsburger
Monarchie, aber auch weit darüber hinaus – gewinnen konnten; ihnen allen
möchten wir an dieser Stelle unseren herzlichen Dank sowohl für ihren wert-
vollen Beiträge als auch für ihre Geduld aussprechen. Weiters möchten wir Mag.
Martin Pammer, dem österreichischen Botschafter in Sarajevo, für sein großes
Engagement danken,7 wie generell dem Außenamt (BMEiA) in Wien und der
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ÖKV Sarajevo für die Subvention und den Vertrauensvorschuss in Hinblick auf
die Relevanz unseres Unterfangens. Komplementär dazu sei allen Leser(inne)n
eine anregende Lektüre gewünscht und der Hoffnung auf Feedback, ja auf Fort-
setzung dieser Diskussionen Aus­druck verliehen: Viele der hier vorgebrachten
Gedanken und Fallbeispiele verstehen sich als erste Skizzen und Denkanstöße,
in denen vermutlich noch das Potenzial für etliche Detailstudien (Forschungs-
projekte, Monografien, Dissertationen o. ä.) steckt.
Wien/Graz, im Sommer 2018

6 Vgl. Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur impe-
rialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018
(= Herrschaft – Kultur – Differenz 23).- Dieser Monografie sind auch die (überarbeiteten)
Beiträge von Clemens Ruthner zu diesem Sammelband entnommen.
7 Der von ihm initiierten und mitorganisierten Tagung Naša Bosna – Bečka škola vom
21. April 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo verdanken wir
mehrere Beiträge zum vorliegenden Sammelband.

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INTRO
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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie15

Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie

Eine Einführung

Clemens Ruthner (Dublin/Ljubljana)

Riesige, undurchdringliche Wälder, Flüsse in breiten Tälern, Almen mit eckigen,


strohbedeckten Bauernhäusern, leise plätschernde Springbrunnen in den Vorhöfen
der Moscheen mit ihren schlanken Minaretten, kühn projektierte Brücken in gewalti-
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gen Bögen über grünklare Flüsse, trotzige Burgen und Klöster mit dem mattgoldenen
Glanz ihrer Heiligenbilder – ein Stückchen Orient im Gebirge und in der Nachbar-
schaft des Mittelmeers – das ist Bosnien-Herzegowina, kaum eine Halbtagsreise von
Mitteleuropa entfernt!
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren dies unwahrscheinlich rückständige und
verwahrloste Provinzen, selbst dem Türkischen Reiche entfremdet und irgendwie
unheimlich. Trotzdem wurden die Österreicher, als sie 1878 als Okkupanten kamen,
keineswegs gut, sondern mit Mißtrauen empfangen. Dieses Mißtrauen wurde jedoch
im Laufe der nächsten 40 Jahre abgebaut. Der Monarchie gelang es, durch eine vor-
bildliche Administration[,] korrektes und gerechtes Verhalten und viel Geduld sowie
durch technische Leistungen das Vertrauen der Bosnier immer mehr zu gewinnen.
Es war ein weiter Weg, der von den ehemaligen Insurgenten zu den treuesten Regi-
mentern der k. u. k. Armee führte – er dauerte nur 40 Jahre, aber er war in seiner Art
wunderbar. Als es 1918 zum endgültigen Zusammenbruch kam, der zur chaotischen
Nachkriegslage führte, wurde von den Bosniern oftmals der österreichischen Ver-
waltung mit leiser Wehmut gedacht, weil sie Recht und Ordnung garantiert hatte.1

Gleichsam in nuce fasst der Klappentext zu Ernests Bauers faktenreichem Buch


Zwischen Halbmond und Doppeladler (1971) das gängige österreichische Populär-
narrativ von der habsburgischen Besetzung (1878), Verwaltung und Annexion
(1908) sowie dem Verlust Bosnien-Herzegowinas (1918) zusammen. Bauer listet
hier nicht nur die gängigen topografischen, architektonischen und kulturellen
Stereotypen auf, sondern führt in Folge noch andere narrative Operationen aus:
Nicht nur werden die Herzegowiner/innen aus dem Bild herausredigiert – es
passiert ihnen nur allzu häufig, dass sie unter den Bosnier/inne/n subsumiert

1 Bauer, Ernest: Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Verwal-


tung in Bosnien-Herzegowina. Wien: Herold 1971, Umschlag.

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16 Clemens Ruthner

werden –, sondern auch die Ungarn als imperiale Partner der österreichischen
Besatzung sind verschwunden. Vergessen wird ebenso, dass viele Soldaten, die
Bosnien-Herzegowina 1878 besetzten, selber Südslawen waren. Dafür wird die
Erfolgsgeschichte erzählt, wie aus rückständiger Wildnis ‘Zivilisation’ wird –
so sehr, dass die neuen bosnischen Untertanen förmlich betrübt sind, als ihre
Besatzer sie wieder verlassen.
Hier wird offenkundig die postimperiale Trauerarbeit jener, die der Herr-
schaft verlustig gegangen sind, auf die Beherrschten rückprojiziert, ganz im
Sinne von Svetlana Boyms Definition, wonach Nostalgie „a longing for a home
that no longer exists or has never existed“ sei, „yet the moment we try to repair
‘longing’ with a particular ‘belonging’.“2 Heute ist dieses Narrativ freilich auch
in Bosnien-Herzegowina durchaus anschlussfähig, gibt es doch dort die Flos-
kel der Großeltern-Generation vom Švabo babo, dem netten „schwäbischen“ (=
‘deutschen’) Väterchen – Kaiser Franz Joseph? –, dem all die schönen k. u. k.
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Gebäude, Bahnlinien, Straßen usw. im Land zu verdanken seien.


Bei dieser Familienaufstellung sei aber daran erinnert, was die früh ver-
storbene amerikanische Germanistin Susanne Zantop in ihrer stimulierenden
Arbeit zu Conquest, Family and Nation in Precolonial Germany, 1770–1880 über
die Konstruktion von Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Zen-
trum und Peripherie in den Narrativen der europäischen Imperien formuliert
hat: jene „Kolonialfantasien“ seien häufig „stories of sexual conquest and sur-
render, love and blissful domestic relations between colonizer and colonized,
set in colonial territory, stories that made the strange familiar, and the familiar
‘familial’.“3 Ähnlich meint Sara Suleri in ihrem Buch The Rhetoric of English India
(1997), koloniales Schreiben dekodiere „the colonized territory through the con-
ventions of romance, reorganizing the materiality of colonialism into a narrative
of perpetual longing and perpetual loss.“4 Damit erschließt sich einer kritischen
Lektüre letztlich wohl auch die Nähe von Bauers naivem Narrativ zu kolonia-
len Denkmustern und Diskursen; die Frage ist, ob diese aus der untersuchten
Epoche von 1878–1918 stammen oder nachträglich hinzugefügt worden sind.
Als Konsequenz der sog. Postcolonial Studies ist nun in den Geschichts- und
Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte oft diskutiert worden, ob jener
moderne europäische Kolonialismus als globales Phänomen des 19. und 20. Jahr-
hunderts besser als Herrschaftskultur oder in Begriffen einer politischen Öko-

2 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001, p. 13.
3 Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Ger-
many, 1770–1870. Durham, London: Duke University Press 1997, p. 4, vgl. auch p. 2.
4 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India. Chicago: University of Chicago Press 1992,
p. 10.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie17

nomie zu beschreiben sei.5 Mit den Worten der prominenten Kolonialhistoriker


Laura Ann Stoler und Frederick Cooper:
To some, colonies were a domain of exploitation where European powers could extract
land, labor, and produce in ways that were becoming economically less feasible and
politically impossible at home. […] To others, colonies have marked a place beyond the
inhibitions of the increasingly bourgeois cultures of Europe. […] Still other analyses
have looked at colonies as laboratories of modernity, where missionaries, educators,
and doctors could carry out experiments in social engineering without confronting
the popular resistances and bourgeois rigidities of European society at home […].
Finally, a flood of recent scholars has located in the colonies the Other against whom
the very idea of Europeanness was expressed […].6

Für welche Herangehensweise man sich auch entscheiden mag, handelt es sich
beim historischen Kolonialismus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg um eine
der sichtbarsten Auswirkungen eines zeitgenössischen Imperialismus kapita-
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listischer Prägung, der der Welt bis heute zwei Gesichter zeigt(e):7 Zum einen
steht er für militärische Eroberung und Fremdherrschaft über Menschen ande-
rer Ethnien bzw. Hautfarben, für Ungleichheit, Ausbeutung und paternalistische
Identitätspolitiken im Zeichen der „Zivilisation“, aufoktroyiert auf der Basis la-
tent oder manifest rassistischer Diskurse, die einen ‘faulen’, zurückgebliebenen
Eingeborenen8 beschwören, den es zu zähmen und erziehen gilt. Zum anderen
brachte der Kolonialismus aber auch moderne Infrastruktur und Öffentlichkeit,

5 Vgl. etwa Stoler, Ann Laura / Cooper, Frederick: Between Metropole and Colony. Ret-
hinking a Research Agenda. In: diess. (Hg.): Tensions of Empire. Colonial Cultures in a
Bourgeois World. Berkeley: U of California Pr. 1997, pp. 1–56, hier p. 4 u. 16.
6 Ibid., p. 5.
7 Zur Kolonialismus-Definition in Hinblick auf eine Abgrenzung von bzw. Kontextuali-
sierung mit dem Imperialismus-Begriff vgl. Balandier, Georges: The Colonial Situation.
A Theoretical Approach [1951]. In: Wallerstein, Immanuel (Hg.): Social Change. The Co-
lonial Situation. New York: Wiley 1966, pp. 34–81, hier p. 39 u.ff.; Arendt, Hannah: Ele-
mente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt/M.: EVA 1955, z. B. p. 309ff.; Said,
Edward: Culture and Imperialism. New York: Knopf 1993. London et al.: Vintage/ Ran-
dom House 1994; Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen.
München: C.H. Beck 1995, 32001 (= Wissen in der BR 2002), p. 26ff.; Reinhard, Wolfgang:
Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart: Kröner 1996, 22008 (= KTG 475), p. 1;
Hodder-Williams, Richard: Colonialism. Political Aspects. In: Smelser, Neil J. / Baltes,
Paul B. (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Vol. 4.
Amsterdam et al.: Elsevier 2001, pp. 2237–2240, hier p. 2237; Young, Robert J.C.: Empire,
Colony, Postcolony. Chichester: Wiley Blackwell 2015, p. 59ff.
8 Vgl. etwa Alatas, Syed Hussein: The Myth of the Lazy Native. A Study of the Malays,
Filipinos and Javanese from the 16th to the 20th century and its function in the ideology
of colonial capitalism. London: F. Cass 1977.

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18 Clemens Ruthner

neue Produkte und Lebensstile ebenso wie Pressewesen,9 Bildungs- und Rechts-
systeme, was für viele Kolonien den ersten Schritt in eine Zivilgesellschaft dar-
stellte und es jenen „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon10) paradoxerweise
ermöglichte, schlussendlich die Kolonialherrschaft gewaltsam oder auch fried-
lich abzuschütteln.
Man könnte hier in Anlehnung an die Begrifflichkeit Horkheimers und Ador-
nos11 von einer doppelten ‘Dialektik des Kolonialismus’ sprechen,12 in der einer-
seits das vorgebliche Aufklärungs- und Reformprojekt der mission cilvilatrice13
(Rudyard Kiplings „White Man’s Burden“14) in Unterdrückung und langwierige
Verwüstung der späteren Dritten Welt ausgeartet ist, dies aber andererseits
nicht nur eine Selbstentfremdung dieser Regionen nach sich zieht, sondern auch
einen wichtigen Schritt in Richtung Modernisierung und Dekolonialisierung
darstellt.
Wie im Folgenden behauptet werden soll, zeigte die Habsburger Monarchie
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1878–1918 Bosnien-Herzegowina beide Seiten dieses kolonialistischen15 Janus-

9 Zur gesellschaftlichen Dynamik, die mit der Einführung bzw. Duldung ‘eingeborener’
Massenmedien – der Schaffung von „bürgerlicher Öffentlichkeit (Habermas) – ausgelöst
wird und letztendlich zur Dekolonisation beiträgt, vgl. etwa Kalpagam, Uma: Colonial
Governmentality and the Public Sphere in India. In: Journal of Historical Sociology 15
(2002), nr. 1, pp. 35–58.
10 Vgl. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde [1961]. Vorwort von Jean-Paul Sartre.
Übers. von Traugott König. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, 142014 (= st 668).
11 Vgl. Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente [1947]. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verl. 1988 (= FW 7404).
12 Dies geschieht freilich unter einem anderen Vorzeichen als bei Fieldhouse, D.K.: Colonia-
lism 1870–1945. An Introduction. London: Weidenfeld & Nicolson 1981. Dieser schreibt:
„Ultimately the twin forces of imperial disillusionism and moral concern and colonial
resentment and ambition fused to generate decolonization. This was the dialectic of co-
lonialism as an historical phenomenon. In its beginnings was its end.“ (ibid., p. 49)
13 Zur „civilizing mission“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Legitimierung des Ko-
lonialismus vgl. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivilisierungsmissio-
nen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005; Mann, Michael:
„Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral and Material
progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism as Civilizing
Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, Neu-Delhi: Anthem 2004,
pp. 1–26. Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea of Empire in
France and West Africa, 1895–1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.- In Bezug auf
Österreich-Ungarn vgl. Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing
Missions in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civili-
zing Mission. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35–48.
14 Eine online-Fassung von Kiplings gleichnamigem Gedicht von 1899 findet sich in eng-
lischer und deutscher Sprache etwa unter www.loske.org/html/school/history/c19/­
burden_full.pdf
15 Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.u.k.Kolonialismus’ als Befund, Befindlichkeit und
Metapher. Versuch einer weiteren Klärung. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Habs-

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie19

kopfes (gleichsam das „österreichische Antlitz in allen Formen“ ,16 um mit Karl
Kraus zu sprechen). Dies soll nun in Form eines historischen Abrisses näher
ausgeführt werden, an den analytische Überlegungen anschließen.

1. Zur Vorgeschichte der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878


Die Motive, warum genau Österreich-Ungarn den halbherzigen Anschluss Bos-
niens und der Herzegowina ans eigene Staatsgefüge plante und durchführte,
werden bis heute disktiert und sind wohl zwischen den Zeilen der mantrahaft
wiederholten k. u. k. „Friedens- und Kulturmission auf dem Balkan“ zu finden –
dies umso mehr, als sich einem historischen Rückblick beide Optionen – ‘take it
or leave it (to the Serbs)’ – als potenziell gleich katastrophal darbieten. Man tut
wohl gut daran, auch hier mit Eric Hobsbawm das „Age of Empire“ in Europa
als signifikante politische Handlungsfolie anzusehen, wie dies zum Beispiel die
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Historiker Arnold Suppan, Evelyn Kolb oder Robin Okey getan haben.17 Auch
sonst weicht in der kanonisierten Geschichtsschreibung des späten 20. und frü-
hen 21. Jahrhunderts das Narrativ von der Vorgeschichte der Okkupation 1878
nicht wesentlich von den Leitlinien ab, die die renommierte Balkanhistorikerin
Barbara Jelavich und andere Forscher/innen vorgezeichnet haben:18
1875 brach auf dem Gebiet der „Europäischen Türkei“ – wie der Balkan da-
mals häufig genannt wurde – eine Revolte gegen die osmanische Herrschaft
aus; sie begann als Protest von unzufriedenen herzegowinischen Landpächtern

burg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck: Studienver-


lag 2003, pp. 111–128; online in: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/
CRuthner3.pdf[2003]; bzw. Ders.: Habsburgs ‘Dark Continent ’. Postkoloniale Lektüren
zur imperialen österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke
2018 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 23), Kap. A1.
16 Kraus, Karl: Nachruf. In: Die Fackel, Nr. 501–507 v. 25.01.1919, pp. 1–120, hier p. 116 u.ff.
17 Vgl. Sup­pan, Arnold: Zur Frage eines öster­reichisch-ungarischen Imperialis­mus in
Südost­euro­pa. In: Wan­druszka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie und die süd­
slawische Frage von 1848 bis 1918. Texte des ersten öster­reichisch-jugoslawischen His-
torikertreffens Gösing 1976. Wien: Verl. der ÖAW 1978, pp. 103–131; Kolm, Evelyn: Die
Am­bi­tio­nen Österreich-Ungarns im Zeital­ter des Hochimperialismus. Frankfurt/M. et al.:
P. Lang 2001 (= EHHS 3: 900); Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg
‘Civili­zing Mission’ in Bosnia, 1878–1914. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2007, p. 220.
18 Vgl. Jelavich, Barbara: The Habsburg Empire in European Affairs, 1814–1918. Chica-
go: McNally 1969 (European History Series), pp. 115 ff.; Dedijer, Vladimir/ Bozić, Ivan/
Ćirković, Sima/ Ekmečić, Milorad: History of Yugoslavia. Hg. v. Marie Long­year, übers.
v. Kordija Kveder. New York et al.: McGraw-Hill 1974, pp. 393 ff.; Bérenger, Jean: L’Au-
triche-Hongrie 1815–1918. Paris: A. Colin 1994; pp. 115 ff.; Hösch, Edgar: Geschichte der
Balkanländer von der Frühzeit bis zur Gegenwart. Munich: C.H. Beck 2002, pp. 129 ff.;
u. a. Vgl. auch die Beiträge von Raymond Detrez und Martin Gabriel zum vorliegenden
Sammelband.

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20 Clemens Ruthner

gegen ihre muslimischen Grundherren, der rasch eskalierte, eine große Zahl
von Opfern forderte und eine Flüchtlingswelle auslöste. Bald unterstützten
Serbien und Montenegro den Aufstand, der sich bis 1876 bis Bulgarien ausbrei-
tete. Ungeachtet der Tatsache, dass osmanische Truppen in den entbrennen-
den Kämpfen schlußendlich siegreich blieben, ging der Konflikt auch mit einer
innenpolitischen Krise der Hohen Pforte selbst einher, die einen mehrfachen
Führungswechsel – sogar in Form eines Staatsstreichs – bewirkte.19
In Anbetracht der zunehmenden Instabilität des „kranken Manns am Bospo-
rus“ und ehrgeizig imperialistischer russischer Pläne gab die Habsburger Mo-
narchie die Tradition ihrer Balkanpolitik seit den Staatskanzlern Kaunitz und
Metternich auf, die sich mit den Worten Mark Pinsons wie folgt beschreiben
lässt: „(1) to keep Russian presence and influence to a minimum and (2) to
maintain the status quo with the Ottoman adminis­tration“.20 Es gibt Anzeichen
für eine expansionistische Neuorientierung der österreichisch-ungarischen
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„Orientpolitik“, die scheinbar nicht nur in Wiener Militär- und Hofkreisen um


sich griff, sondern auch mit der Person eines key player verbunden ist, nämlich
dem gemeinsamen Außenminister, Graf Gyula (Julius) Andrássy (1823–1890).21
1877, während des Russisch-Türkischen Kriegs, der eine weitere Folge des
Konflikts von 1875/76 war, erklärte Österreich-Ungarn seine Bereitschaft zu
einer wohlwollenden Neutralität gegenüber dem Zarenreich; als Gegenleistung
boten die Russen Bosnien-Herzegowina der Habsburger Monarchie an.22 Diese
Vereinbarung fand freilich nicht am 3. März 1878 Eingang in den Friedensver-
trag von San Stefano. Da jedoch die dort getroffenen Abmachungen zur territo-
rialen Neuorganisation der Region (z. B. das Entstehen eines großbulgarischen
Staates) die europäischen Großmächte nicht wirklich befriedigten, wurde für
13. Juni des selben Jahres der Kongress von Berlin einberufen, der die Frage der
Balkan-Grenzziehungen aufs Neue diskutieren sollte. Eines der bedeutendsten
Resultate dieser Verhandlungen war, dass das Osmanische Reich die Verwaltung

19 Vgl. Jelavich 1969, pp. 115–120.


20 Pinson, Mark: The Mus­lims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Deve­lop­ment from the
Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge MA: Harvard Univ. Pr. 1994,
p. 86.
21 Vgl. etwa Kos, Franz-Josef: Ein Plan österreichischer Militärs zur Erwerbung Bosniens
und der Herzegowina (1869). In: Österreichische Osthefte 34 (1992), pp. 36–53; Haselstei-
ner, Horst: Bosnien-Herzegowina: Orientkrise und die südslawische Frage. Wien, Köln,
Weimar: Böhlau 1996 (= IDM Book Series 3), pp. 9–30; Kolm 2001, p. 105f.; außerdem
Wert­heimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Vol. III. Stutt-
gart: DVA 1913.
22 Dedijer et al. 1974, p. 396; Hösch 2002, pp. 132 ff.; Haselsteiner 1996, pp. 15 ff.; Jelavich,
Barbara: History of the Balkans. 2 vol. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1983, p. 59; Do-
nia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Hercegovina,
1878–1918. New York: Columbia Univ. Pr. 1981, pp. 8 ff.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie21

Bosniens und der Herzegowina auf Antrag des britischen Unterhändler Lord
Salisbury an Österreich-Ungarn abtreten musste. Artikel 25 des Berliner Ver-
trags formulierte am 13. Juli 1878:
The Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by
Austria-Hungary. The Government of Austria-Hungary, not desiring to under­take
the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and
Monte­negro in a south-easterly direction to the other side of Mitro­vit­za, accepts the
Ottoman Ad­mi­nistration will continue to exercise its functions there. Never­the­less,
in order to assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as free-
dom and se­curity of communications, Austria-Hungary re­serves the right of keeping
garrisons and having military and commercial roads in the whole of this part of the
ancient Vilayet of Bosnia. To this end the Govern­ments of Austria-Hungary and Tur-
key reserve to themselves to come to an under­standing on the details.23

Dies ist das vage und vorläufige Verhandlungsergebnis von Berlin, das sich
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vor allem konkreter Zeitvorgaben über die Dauer der Fremdadministration


Bosnien-Herzegowinas, aber auch jeder Angabe über künftige Konsequenzen
enthält. Im charakteristisch launigen Stil des britischen Habsburg-Historikers
A.J.P. Taylor liest sich diese für den österreichisch-ungarischen Außenminister
aporetische no-win situation wie folgt:
Russia had constantly pressed them on Austria-Hungary, to tempt her into setting
the example of partition. For this reason Andrássy had tried to avoid the offer; on the
other hand, he [= Andrássy, CR] could still less afford their union with the Slav state
of Serbia. At the Congress of Berlin he squared the circle.24

Richard Georg Plaschka beschreibt das diplomatische Tauziehen als prélude der
gewaltsamen militärischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas als Strategiespiel
der beteiligten Länder:
Bismarck konnte für Deutschland mit Distanz agieren, hat die Rolle des proponierten
‘ehrlichen Maklers’ zu erfüllen versucht, seine Neigung zu Rußland und dessen Zaren
nicht unterdrückt, sein Verständnis in bezug auf Bosnien und Hercegovina deutlich
gemacht. Großbritannien, bemüht um Wahrung und Steigerung seiner Position im

23 Zit. n. Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648–1967. New
York: Chelsea House 1967, p. 985.- Zur österr.-ungar. Präsenz im Sandschak von No-
vipazar vgl. Scheer, Tamara: „Minimale Kosten, absolut kein Blut“. Österreich-Ungarns
Präsenz im Sandschak von Novipazar (1879–1908). Frankfurt/M. et al.: P. Lang 2013 (=
Neue Forschungen zur ostmittel- und südosteuropäischen Geschichte 5).
24 Taylor, A.J.P.: The Habsburg Monarchy 1809–1918. A History of the Austrian Empire
and Austria-Hungary [1948]. Harmondsworth: Penguin 1990, p. 166; vgl. Sugar, Peter
F.: Industriali­zation of Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. Seattle: Univ. of Washington Pr.
1963, p. 20ff.

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22 Clemens Ruthner

östlichen Mittelmeer, geriet zum härtesten Gegenspieler Rußlands, erwog ein bri-
tisch-türkisches Bündnis, zog geschickt wie heimlich – schon vor dem Kongreß –
Fäden in Richtung seines Zugriffs auf Zypern, unterstützte aber ebenfalls und voran-
gehend die Intentionen Österreich-Ungarns. Frankreich, zurückhaltend operierend,
nahm in Anspruch, die Rechte der Christen im Orient als Schutzmacht zu vertreten,
wahr, hatte noch die offene Fragen seiner Aspirationen auf Tunis mit zu berücksich-
tigen. Italien erwies sich, um seine Machtsphären-Absichten in Richtung Albanien
zu realisieren, als zu wenig vorarbeitend und durchsetzungsfähig. Österreich-Ungarn
machte seine Wünsche in Richtung Bosnien-Hercegovina ebenso umsichtig wie nach-
drücklich deutlich.25

Barbara Jelavich indes fokussiert in ihrem Narrrativ ganz auf Andrássys wenig
triumphale Rückkehr aus Berlin:
Despite these great gains Andrássy did not receive a triumphant welcome home.
Francis Joseph among others did not like the terms of the occupation of Bosnia and
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Hercegovina. He would have preferred a direct annexation. In contrast, the Magyar


leaders were displeased with the acquisition of more Slavic peoples in the Em­pire.26

Der französische Historiker Jean Bérenger schließlich detailliert noch mehr die
Konsequenzen von An­d­rássys ‘Erfolg’, den er eher als Pyrrhus-Sieg ansieht:
Elle [= l’occupation, CR] provoqua des manifestations en Hongrie. L’opinion suiv­
ait avec méfiance la politique russo­phile d’Andrássy, qui n’était justifiée que par le
maintien du status quo dans les Balkans; le renforcement des petits États bal­ka­niques
et l’occupation de la Bosnie rompaient cet équilibre. Elles heurtaient les senti­­ments
turcophiles des Hongrois et surtout l’occupation de la Bosnie accroissait le nombre
de Slaves à l’intérieur de la monarchie, tandis que la gauche manifestait son hosti-
lité à une guerre de conquête, qui coûta de nombreuses vies humaines. Les libér­aux
autri­chiens manifestèrent également leur désaccord à l’égard d’une opéra­tion jugée
ruineuse et inutile. Elle contribua à la chute du cabinet libéral Alfred Auersperg car
François-Joseph n’aimait pas que l’on empiétât sur son domaine ré­servé.27

Diese anzitierten Textbeispiele könnten in einer von Hayden White28 beeinfluss-


ten Meta-Optik illustrieren, wie das historiografische Narrativ zur Vorgeschich-

25 Plaschka, Richard Georg: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle militärischer Aufleh-


nung im 19. und 20. Jahrhundert. 2 Bde. Wien, Köln, Graz: Böhlau 2000 (= Studien zu
Politik und Verwaltung 60/I+II), vol 1, p. 88.
26 Jelavich 1969, p. 122.- Zur Haltung Ungarns vgl. auch den Beitrag von Imre Ress zum
vorl. Sammelband.
27 Bérenger 1994, p. 117.
28 Vgl. White, Hayden: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Eu-
rope. Baltimore et al.: Johns Hopkins University Press 1973 [dt.: Metahistory: Die histo-
rische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Fischer 1991]; Ders.:

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie23

te der Okkupation Bosniens und Herzegowina 1878 zwischen Personifikation


(Andrássy als glo­bal player) und Metonymie (die Staaten bzw. die politischen
‘Kräfte’) oszilliert. In seinen grundlegenden Zügen ist das Narrativ freilich ent-
weder identisch bei den meisten konsultierten Historiker/inne/n oder zumin-
dest kompatibel mit den existierenden anderen Versionen.29

2. Gründe, Bosnien-Herzegowina (nicht) zu besetzen, und die


Entwicklung des Gebiets von 1878–1914

[…] ein fruchtbares, geordnetes Land, ein Absatzgebiet für unsere Industrie, ein Gebiet
für den Schaffensgeist unserer Unternehmer; die Sicherung eines strategisch unent-
behrlichen Gebietes für die Sicherheit unserer Monarchie gegen Süden vom Meere
und vom Lande her.30
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Während sich die Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosniens und der Her-
zegowina 1878 bei den konsultierten Forscher/inne/n ziemlich konsistent aus-
nimmt, sind die unmittelbaren Beweggründe für diese letzte – und letztlich
fatale – territoriale Expansion der Habsburger Monarchie vor dem Ersten Welt-
krieg weniger eindeutig; üblicherweise werden in der Geschichtsschreibung
drei Motive genannt, hinter denen allesamt ein imperialistischer Bezugsrahmen
sichtbar wird:
1. Strategische Gründe. Hier wird angenommen, dass Österreich-Ungarn den
Bedarf verspürte, sein gefährdetes Kronland Dalmatien durch die militäri-
sche und infrastrukturelle Besetzung des bosnisch-herzegowinischen Hin-
terlands zunächst gegen das Osmanische Reich und später gegen den Pan-
slawismus bzw. serbische Expansionsgelüste abzusichern31 – wozu schon

Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: Johns Hopkins University


Press 1978 [dt.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie
des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett Cotta 1991].
29 Vgl. auch den Beitrag von Raymond Detrez zum vorl. Sammelband.
30 Spaits, Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens
und der Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Illustriert von Otto Gstöttnek. Wien,
Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Ein-
zeldarstellungen I), p. 94.
31 Vgl. Sugar 1963, pp. 20 ff.; Jelavich 1983, p. 59; Haselsteiner 1996, pp. 16 ff. Malcolm, Noel:
Bosnia. A Short History. New York: NYU Pr. 1994; Pan Macmillan 1996, 2002, p. 136; De-
trez, Raymond: Reluctance and Determination. The Prelude to the Austro-Hungarian Oc-
cupation of Bosnia-Herzegovina in 1878. In: Ruthner, Clemens et al. (Hg.):WechselWir-
kungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878–1918.
New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41), pp. 21–40, hier p. 22.

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24 Clemens Ruthner

Feldmarschall Radetzky 1856 und Admiral Tegetthoff 1869 geraten hatten.32


Diese Motivation erwies sich jedoch durch die bereits damals absehbare Tat-
sache geschwächt, dass ein slawischer Bevölkerungszuwachs von mehr als
einer Million Menschen die bereits existierenden ethnischen Spannungen
im Habsburger Reich nur verstärken würde.33 (Überliefert sind hier etwa die
geflügelten Worte des ungarischen Ministerpräsidenten Kálmán Tisza, man
müsse „zwischen den beiden Übeln das kleinere wählen“.34)
2. Wirtschaftliche Gründe. Bosnien-Herzegowina beherbergt(e) große Lager-
stätten an Kohle, Eisenerz und anderen Metallen (deren Ausbeutung erst
in Titos zweitem Jugoslawien in Angriff genommen werden sollte). Dieser
Reichtum an Bodenschätzen brachte Historiker wie Bérenger35 dazu, gewisse
ökonomische Interessen hinter Österreich-Ungarns Invasionsplänen anzu-
nehmen. In Anbetracht der zur Verfügung stehenden Quellen ist es jedoch
generell schwierig festzustellen, inwiefern dieses Motiv – zusammen mit
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der Gewinnung eines neuen Absatzmarktes – 1878 tatsächlich eine große


Rolle spielte.36 Andererseits werden die „Naturschätze“ des Landes in den
Schlussbemerkungen zum Operationsbericht des Okkupationsfeldzugs ex-
plizit erwähnt.37

32 Vgl. Spaits 1907, p. 83; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische
Studie. Wien: Reisser 1909, p. 5.
33 Vgl. Sugar 1963, p. 26; Pinson 1994, p. 119; Malcolm 1996, p. 136.
34 Wertheimer 1913, p. 144.
35 Bérenger 1997, p. 255; vgl. Malcolm 1996, p. 136; Kolm 2001, pp. 18 f., 105 f., 244 ff.
36 Dies wird etwa von Robin Okey 2007, p. 17, bestritten.- Die Behörden Österreich-Un-
garns waren später äußerst zurückhaltend mit Subventionen und verfügten einerseits,
dass die besetzten Gebiete sich von ihrem eigenen Einkünften zu finanzieren hätten (vgl.
dazu etwa Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österr.-ungarischen Epoche
(1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg
1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93, p. 235); auf diese Weise kamen keine großen Staats-
investitionen für die Wirtschaftsentwicklung zustande – außer für den Eisenbahnbau.
Zum Anderen waren weder die neu geschaffene k. u. k. Bergwerksbehörde noch die Bos-
na-Bergbaugesellschaft selbst in der Lage, die örtlichen Bodenschätze konsequent und
umfassend zu erschließen; auch der Informationsfluss mit privaten Investoren funkti-
onierte nicht wirklich. Details bei Sugar 1963, pp. 105 ff., 159 ff.; vgl. weiters Malcolm
1996, p. 141; Wessely, Kurt: Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina.
In: Wandruszka, Adam / Urbanitsch, Peter (Hg.): Die Habs­burger­monarchie 1848–1918.
Wien: ÖAW 1973–1989, vol. 1, pp. 528–566; Lampe, John / Jackson, Marvin: Balkan Eco-
nomic History 1550–1950. From imperial borderlands to developing nation. Blooming-
ton: Indiana Univ. Pr. 1982, pp. 264–322.
37 Abtheilung für Kriegsgeschichte des k. k. Kriegsarchivs: Die Occupation Bosniens und
der Hercegovina durch k. k. Truppen im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen darge-
stellt. Wien: Verlag des k. k. Generalstabes/ W. Seidel 1879, p. 908. Ebenso finden sie auch
in einer Denkschrift von Graf Burián, einem der ehem. k. u. k. Gouverneure des Gebiets,

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie25

3. Territoriale Expansion. Diese Argumentation geht davon aus, dass nach den
erlittenen Niederlagen und Gebietseinbußen von 1859 bzw. 1866 und der
Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 die einzig verbleibende Mög-
lichkeit zu einem (kompensatorischen?) Gebietszuwachs für die Habsburger
Monarchie im Südosten des Kontinents lag, d. h. in den Rückzugsgebieten des
niedergehenden Osmanischen Reichs.38 Andere Großmächte nahmen eine
ähnliche Haltung gegenüber dem „kranken Mann Europas“ ein, was von
den meisten Historiker/inne/n gemeinhin mit dem Etikett des Kolonialismus
versehen wird: so etwa die Usurpation von Tunis durch Frankreich 1881 und
von Ägypten durch Großbritannien 1882.39
Allerdings standen auch mögliche finanzielle Nachteile auf der Kostenseite den
geopolitischen Vorteilen einer Okkupation gegenüber. Der austro-amerikani-
sche Historiker Robert A. Kann schreibt dazu:
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In financial sense the acquisition was considered not only no gain but a definite loss
[…]. Occupation was considered the lesser of two evils. It would mean bad busi­ness
economically but it might offer some relief against the threat of Balkan nationalism
and Russian-inspired Panslavism.40

Neben einer Zunahme der Ausgaben des k. u. k. Reiches sowie seiner südsla-
wischen Bevölkerung (aus letzterer sollten kroatische Herrschaftsansprüche
im Sinne eines angestrebten „Trialismus“ ebenso erwachsen wie großserbi-
scher Nationalismus41), darf der Faktor nicht unterschätzt werden, dass mit
der Okkupation Bosnien und der Herzegowinas zum ersten Mal in der habs-
burgischen Geschichte eine signifikante muslimische Gemeinschaft Teil der
österreichisch-ungarischen Gesellschaft und Kultur wurde.42 Diese neue Be-
völkerungsgruppe bestand keineswegs aus einigen Konvertiten, sondern um-
fasste die regionalen Eliten: Landbesitzer, osmanische Funktionäre, Kleriker
und die Intelligenzija sowie etliche Kaufleute.43 Durch dieses Setting waren die
in Bosnien-Herzegowina zunehmend ethnisierten religiösen Differenzen eng

Erwähnung; vgl. Burián, Stephan Graf: Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im
Kriege. Berlin: Ullstein 1923, p. 223.
38 Vgl. Pinson 1994, p. 87; Sugar 1963, p. 20; Plaschka 2000, vol I, p. 89.
39 Vgl. Hösch 2002, p. 137.
40 Kann, Robert A.: Trends To­wards Colonialism in the Habsburg Empire, 1878–1918. The
Case of Bosnia-Herze­govina, 1878–1914. In: Rowney, D.K./ Orchard, G.E. (Hg.): Russian
and Slavonic Hi­story. Columbus OH: Sla­vica Pub­l. 1977, pp. 164–180, hier p. 168.
41 Vgl. Jelavich 1983, p. 60.
42 Vgl. Pinson 1994, p. 9.
43 Vgl. Donia 1981; Pinson 1994; Neweklowsky, Gerhard: Die bosnisch-herzegowinischen
Mus­li­me. Geschichte, Bräuche, Alltagskultur. Unter Mitarbeit v. Besim Ibišević and Žarko
Bebić. Klagenfurt, Salzburg: Wieser 1996 (= Austrian-Bosnian Relations 1).

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26 Clemens Ruthner

mit sozialer Hierarchie verflochten, zumal die Mehrheit der freien Bauern und
abhängigen Landpächter (kmetovi) christlichen Glaubens war, also entweder der
orthodoxen oder der katholischen Kirche angehörten.44 Auf diese Weise waren
alle Eingriffe der österreichisch-ungarischen Behörden in dieses problematisch
spätfeudale Netzwerk religiöser, kultureller und sozialer Differenzen von vorn-
herein heikel.
Auf der anderen Seite war die militärische Invasion Bosnien-Herzegowinas
im Sommer und Herbst 1878 keineswegs jener friedliche „Parademarsch“, den
Außenminister Andrássy der k. u. k. Armee vorausgesagt hatte;45 vielmehr han-
delte es sich um einen blutigen Eroberungsfeldzug, der von osmanischen Trup-
penresten und eilig aufgestellten lokalen Milizen der Bevölkerung heftig be-
kämpft wurde und so eine viel größere Truppenmobilisierung als ursprünglich
geplant nötig machte.46 Erst nach drei Monaten kriegerischen Konflikts, mehre-
ren tausend Toten und zigtausenden Flüchtlingen war die Okkupation zu Ende
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(von ihr wird im Folgenden noch im Detail die Rede sein47).


Nach dem Schweigen der Waffen sollte jedenfalls die k. u. k. „Friedens- und
Kulturmission“, von der am Berliner Kongress die Rede war, in Angriff genom-
men werden. Der Kommandant der Invasionstruppen, Feldzeugmeister Phi-
lippovich von Philippsberg, wurde Ende Oktober 1878 (wegen seiner großen
Feindseligkeit den bosnischen Muslimen gegenüber) abgesetzt und durch einen
seiner Unterführer, den Herzog von Württemberg, ersetzt.48 Nachdem 1881 die
Besatzungsmacht noch einmal durch Aufstände in der Herzegowina in Bedräng-
nis gekommen war,49 wurde 1882 anstelle der Militärverwaltung eine Ziviladmi-
nistration via das k. u. k. Gemeinsame Finanzministerium eingesetzt,50 die sich in

44 Vgl. Pinson 1994, p. 117f.


45 Vgl. Wertheimer 1913, p. 153.- „Nicht unerwähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer
der Veteranen im Rückblick, „daß die Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell
euphemistisch Okkupation genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, son-
dern einen harten Kampf darstellte“; es sei wohl wegen der erlittenen Verluste adäquater,
„von einer Eroberung […] zu sprechen“ (Woinovich, Emil v.: In der Herzegowina 1878.
Skizzen, zusammengestellt von FML E. v. W. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1908, p. 2).
46 Pavlowitch, Stevan K.: A History of the Balkans, 1904–1945. London, New York: Long-
man 1999, p. 116.- Militärische Details dazu finden sich u. a. in Militaria Austriaca 12
(1993), dem militärhistorischen Periodikum des österreichischen Bundesheeres.
47 Vgl. meinen Beitrag Besetzungen (1) zum vorl. Sammelband, der eben diesen Okkupa-
tionsfeldzug zum Gegenstand hat.
48 Vgl. Wertheimer 1913, p. 101f.
49 Vgl. dazu z. B. Jelavich, Charles: The Revolt in Bosnia-Hercegovina, 1881–82. In: Slavonic
and East European Review [London] 31 (1953), pp. 420–436; Kapidžić, Hamdija: Der Auf-
stand in der Hercegovina im Jahre 1882. Graz: Historisches Inst. der Univ. 1972 (= Zur
Kunde Südosteuropas, Bd. 1/2).
50 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die österreichische Okkupationsverwaltung in Bosnien-Herze-
gowina. Einige Aspeket der Beziehungen zwischen den Militär- und Zivilbehörden. In:

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie27

weiterer Folge eine grundlegende Modernisierung des Landes auf ihre Fahnen
schrieb. Federführend, einschneidend und prägend für Bosnien-Herzegowina
war hier vor allem der ungarische Reichsfinanzminister Benjamin von Kállay
(eigentlich Béni Kállay de Nagy-Kálló ), der erste Gouverneur der besetzten Ge-
biete von 1882 bis zu seinem Tod 1903.51 Rückblickend schreibt sein – ebenso
ungarischer – Nachfolger Stephan (István) Graf Burián, 1923:
Die ersten Jahre der Okkupation galten der Erschließung des Landes sowie der Her-
stellung geordneter materieller Verhältnisse und des konfessionellen Friedens. Dann
folgte die Schaffung eines verläßlichen Verwaltungsapparates, eines Straßen- und
Eisenbahnnetzes, geordneter Finanzen, eines geeigneten Schulwesens, Regelung der
komplizierten Grundbesitzverhältnisse auf Grund der bestehenden Rechtsverhält-
nisse, Ausarbeitung eines Katasters, Beginn der rationellen Ausnützung der reichen
Bodenschätze des Landes durch Einrichtung moderner Industriebetriebe.52
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Als eine von vielen Stimmen zum Thema schreibt Burián weiter, die k. u. k.
Verwaltung habe „sich durch ihre Leistungen im Lande zu Ansehen gebracht,
wenngleich sie in den Augen der Bevölkerung immerfort als Fremdherrschaft
galt“.53 Allerdings sei sie nichts anderes als das „Weiterschleppen eines Über-
gangsregimes“ gewesen.54
Das staats- und völkerrechtliche Provisorium der Okkupationszeit ging erst
1908 zuende, als Bosnien und die Herzegowina schließlich von der Habsburger
Monarchie annektiert wurden, was aufgrund der dadurch provozierten interna-
tionalen Spannungen und Proteste55 beinahe dazu führte, dass der große Krieg

Priloga [Sarajevo] 34 (2005), pp. 81–112.


51 Zu Kállays Regime bzw. zur österr.-ungar. Herrschaft im Allgemeinen vgl. etwa Donia,
Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule.
In: Kakanien revisited, http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/ RDonia1.pdf
(2007). Reprint in: In: Ruthner, Clemens et al., 2015 pp. 67–82; Babuna, Aydin: The Story
of Bošnjaštvo. In: ibid., pp. 123–128; Sethre, Ian: The Emergence and Influence of Natio-
nal Identities in the Era of Moderni­zation. Nation-Building in Bosnia and Herzegovi-
na, 1878–1914. In: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/ISethre1.pdf
(2004). Reprint in Ruthner et al. 2015, pp. 41–66; Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u
Bosni i Hercegovini, 1882–1903. Sarajevo: Veselin Masleša 1987 ‒ Donias Beitrag ist auch
im vorl. Sammelband abgedruckt.
52 Burián 1923, p. 219.
53 Ibid., p. 220.
54 Ibid., p. 221.
55 Leo Tolstoi etwa klagt den Imperialismus der Annexion mit folgenden Worten an: „Die
österreichische Regierung hat beschlossen, die Völker Bosniens und der Herzegowina,
die bis zur letzten Zeit Österreichs Oberherrschaft noch nicht in vollem Maße anerkann-
ten, als ihre Untertanen zu erklären, mit anderen Worten, sie nahm sich das Recht, ohne
die Einwilligung dieser Völker, über die Erzeugnisse und über das Leben von einigen
hunderttausend Menschen zu verfügen.“ (Tolstoi, Leo [Lev] N.: Die Annexion Bosniens

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28 Clemens Ruthner

von 1914 vorzeitig ausgebrochen wäre. Zugleich nehmen sich die Resultate je-
ner „Friedens- und Kulturmission“ in Bosnien-Herzegowina, die sich die Dop-
pelmonarchie bei der Okkupation 1878 auf ihre Fahnen geschrieben hatte, auch
in dieser Spätphase wenig überzeugend aus. Die politischen Spannungen in den
annektierten Gebieten nahmen als Folge (zivil)gesellschaftlicher Modernisie-
rung eher zu als ab, 1906 kam es etwa zu einem Generalstreik, 1910 zu einer Bau-
ernrevolte, und die Zustände wurden generell mehr und mehr „unhaltbar“.56 So
sind denn auch – ironischerweise, trotz und wegen aller k. u. k. ‘­Kulturarbeit’ –
am 28. Juni 1914 jene beiden Pistolenschüsse auf den österreichischen Thronfol-
ger Franz-Ferdinand und seine Frau Sophie, die später zum Auftakt des Ersten
Weltkrieg stilisiert werden sollten, nicht zufällig in der bosnischen Hauptstadt
Sarajevo abgefeuert worden.57
Nach einem Intermezzo von Ausnahmezustand, Kriegsrecht und Krieg brach-
te der Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918 schließlich auch das
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Ende der habsburgischen Herrschaft über Bosnien-Herzegowina mit sich; ­dieses


wurde in den neu gegründeten südslawischen Staates der Serben, Kroaten und
Slowenen („SHS“) eingegliedert, der sich später Jugoslawien nennen sollte,
und – nach einem zweiten Anlauf 1945–1991 – selbst zu den untergegangenen
Vielvölkerstaaten Europas zählt.

3. ‘K. u. k. colonial’: zeitgenössische und heutige Zuschreibungen


Das habsburgische Intermezzo in Bosnien-Herzegowina 1878–1918 hat in der
imperial-österreichischen Literatur jener Zeit erstaunlich wenig Niederschlag
gefunden – ungeachtet der großen Exotik der neuen Gebiete, die die Reisebe-
richte immer wieder hervorheben.58 Dennoch ist auch in den wenigen Texten
literarischer Autoren, in denen Bosnien-Herzegowina überhaupt vorkommt,
ein gewisser kolonialer Ton nicht überhörbar. So schreibt etwa Franz Kafka in

und der Herzegowina. Übers. v. Edmund Rot. Berlin: H. Walther 1909, p. 6) Die Habsbur-
ger Monarchie sei damit „eins von diesen Räubernestern, das immer mehr und mehr die
Herrschaft über hunderttausende ihm völlig fremder Menschen slavischen Stammes an
sich reißt […]“ (ibid., p. 7).
56 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jh. München: C.H.Beck 2010, p. 48.-
Einen gut brauchbaren, detaillierten Gesamtüberblick über die 40 Jahre der österr.-ungar.
Herrschaft gibt Okey 2007.
57 Hier gibt es Kommentatoren, die das Entstehen einer radikalen Schüler- und Studenten-
schaft durch das Bildungssystem des Besatzers auch als kolonialen Zug der Geschichte
Bosniens verstehen, vgl. etwa Okey 2007, p. 136.- Zum Sarajevoer Attentat vgl. auch
Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The ‘Long Shots’ of Sarajevo 1914. Ereignis –
Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016 (= Kultur Herrschaft Differenz 22).
58 Vgl. dazu Sirbubalo 2012 und Ruthner 2018, insbes. Teil C.3.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie29

einem Brief an Felice Bauer vom 27. Oktober 1912, in dem er sich angesichts
der bevorstehenden Niederlage des Osmanischen Reiches in den Balkankriegen
nachdenklich gibt: „[…] die Türken verlieren, was mich dazu bringen könnte, als
ein falscher Prophet nicht nur für Soldaten, sondern für alles den Rückzug zu
predigen (es ist auch ein schwerer Schlag für unsere Kolonien) […]“.59
Auch a posteriori ist immer wieder die Frage gestellt worden, inwieweit sich
die 40 Jahre österreichisch-ungarischer Präsenz in Bosnien-Herzegowina, die
sich im Selbstbild gerne als Erfolgsgeschichte einer selbst auferlegten „Zivili-
sierungs-“ und „Europäisierungs“ mission präsentiert, innerhalb des Paradig-
mas – und Erbes – des europäischen Kolonialismus um 1900 zu sehen ist. In
den letzten 15 Jahren haben nun verschiedene Forscher/innen – nicht nur jene
des ­Kakanien-revisited-Netzwerks60 – die Übertragbarkeit eines ‘post/koloni-
alen’ Zugangs auf das habsburgische Zentraleuropa diskutiert, gleichsam als
dritten Weg, um den diskursiven Fallen des „Habsburgischen Mythos“61 bzw.
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der mit ihm einhergehenden Multikulti-Nostalgie („Viribus unitis“) und dem na-
tionalistischen Opfer-Narrativ („Völkerkerker“) gleichermaßen auszuweichen.
Dabei dürfte auch, wie dies verschiedentlich bereits in früheren Publikationen
angedacht wurde,62 Bosnien-Herzegowina unter allen Territorien des k. u. k. Im-
periums ein Gebiet sein, das sich einfach als Kolonie im engeren Sinne ansehen
ließe – wobei es bei Behauptungen dieser Art zwischen einer polemischen, einer
kritischen und einer affirmativen Variante zu unterscheiden gilt.
Der Kolonialismus-Vorwurf in Bezug auf die Habsburger Monarchie wurde
bereits im ersten jugoslawischen Staat etwa vom Historiker Vladimir Čorović,
einem bosnisch-serbischen Zeitzeugen der k. u. k. Zustände, erhoben.63 Dieser
auch später wiederholten Kritik wurde jedoch immer wieder – meist wegen

59 Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999
(= Schriften Tagebücher Briefe. Krit. Ausg. hg. von Gerhard Neumann u. a.), p. 192.- Mit
seiner Strafkolonie ist Kafka im Übrigen auch einer der wichtigsten post/kolonialen der
deutschsprachigen Literatur; vgl. Ruthner 2018, Kap. A.0.
60 Vgl. die diversen einschlägigen Beiträge im Webjournal www.kakanien.ac.at.
61 Vgl. Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur [1966].
Übers. von Madeleine v. Pastory. Wien: Zsolnay 32000; Cole, Laurence: Der Habsbur-
ger-Mythos. In: Brix, Emil et al. (Hg.): Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten.
Wien: Böhlau 2004, pp. 473–504.
62 Vgl. etwa Müller-Funk, Wolfgang / Plener, Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien
revisited. Das Fremde und das Eigene (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Tübingen, Basel: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 1); Hárs, Endre / Reber,
Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Ös-
terreich-Ungarn, 1867–1918. Tübingen: Francke 2006 (= Kultur – Herrschaft – Differenz
9); Donia 2015; Ruthner et al. 2015.- Für eine eingehendere Diskussion vgl. Ruthner 2003
bzw. Ruthner 2018, Kap. A.1.
63 Vgl. Čorović, Vladimir: Bosna i Hercegovina. Belgrad: Grafički zavod ‘Makarije’ 1925.

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30 Clemens Ruthner

ihrer ideologischen Grundierung – widersprochen, so etwa 1976 von Robert


A. Kann:
The thesis put before us, namely that the administration of Bosnia-Herzegovina repre-
sented trends of colonialism, is highly problematical. We must first ask whether the
concept of colonialism, commonly understood as the rule of Euro­pean powers over
native colored people on other continents, can be transferred to a master-subject re-
lation within Europe, pointing to a system of colonial administration and exploitation
of whites by whites.64

Der prominente austro-amerikanische Historiker betätigte sich damit in einer


zeitgenössischen Debatte um die „innere Kolonisierung“ Europas in Anschluss
an Michael Hechters Buch über den „Celtic Fringe“ Großbritanniens (1975) als
Apologet habsburgischer Politik.65 Für Kann konstituiert Kolonialismus „the
unholy trinity of imperialism, capitalist exploitation, and oppression on racial
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grounds, all of them imposed by force“;66 auf dieser Grundlage weist er die kri-
tische Anwendung dieses Paradigmas auf Bos­nien-Herzegowina zurück, auch
wenn seine letztlich eurozentrischen – und habsburg-nostalgischen – Argu-
mente kaum geeignet sind, heutige Leser/innen nach dem postcolonial turn in
den Kulturwissenschaften zu überzeugen. Unter Berufung auf Hechter ist etwa
Robert Donia den umgekehrten Weg gegangen,67 ebenso Robin Okey,68 und in
Pieter Judsons jüngst erschienener „New History“ des Habsburger Reichs wird
Bosnien-Herzegowina „the empire’s lone colony – or protectorate“ genannt –
ohne das dies freilich näher erörtert würde.69
In einem Interview mit der einschlägigen Theoretikerin Gayatri Chakra-
vorty Spivak für ein slawistisches Periodikum, das sich 2003 dem innerkonti-
nentalen (russischen) Kolonialismus in Osteuropa vor, während und nach der
Sowjet-Herrschaft widmete, wird die Proteus-Natur des Phänomens heraus-

64 Kann 1976, p. 164.


65 Zur Fortführung dieser Debatte vgl. Nolte, Hans Heinrich: Internal Peripheries. A Defi-
nition and a Note / Internal Peripheries in Europe. In: ders. (Hg.): Internal Peripheries in
European History. Göttingen. Zürich: Muster-Schmidt 1991 (= Zur Kritik der Geschichts-
schreibung 6), pp. 1–3 u. 5–27; Ders. / Bähre, Klaas (Hg.): Innere Peripherien in Ost und
West. Stuttgart: Steiner 2001.- In Bezug auf die Habsburger Monarchie s. Verdery, Kat-
herine: Internal Colonialism in Austria-Hungary. In: Ethnic and Racial Studies 2 (1979),
pp. 378–399; Feichtinger, Johannes: Habsburg (post-)colonial. Anmerkungen zur inneren
Kolonisierung in Zentraleuropa. In: Ders. et al. 2003, pp. 13–32; Komlosy, Andrea: Innere
Peripherien als Ersatz für Kolonien? In: Hárs et al. 2006, pp. 55–78.
66 Kann 1976, p. 164.
67 Vgl. Donia 2015 bzw. Donias Beitrag zum vorl. Sammelband.
68 Vgl. Okey 2007, p. 220.
69 Vgl. Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge: Harvard Uni-
versity Press 2016, p. 378 et passim.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie31

gestrichen; auch daraus wäre eine Anregung für die kritische Analyse des bos-
nisch-herzegowinischen k. u. k. Intermezzos zu gewinnen:
‘Colonizer’ and ‘colonized’ can be fairly elastic if you define scrupulously. When an
alien nation-state establishes itself as a ruler, impressing its own laws and system of
education, and re-arranging the mode of production for its own eco­no­mic benefit, one
can use these terms, I think.70

Kurz nach Spivak hat auch der Kolonialismus-Historiker Frederick Cooper,


ansonsten ein ausgesprochener Kritiker der postkolonialen ‘Inflation’ in den
Humanwissenschaften, formuliert: „A fuller version of the story of European
colonial empires in the 19th and 20th centuries can also come from telling it
alongside the history of the continental empires“, d. h. der Habsburger Monar-
chie, dem Osmanischen Reich und Russland.71
Wohl ist einzuräumen, dass v. a. die propagandistische Verwendung des Ko-
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lonialismus-Terms in der hegemonial-staatskommunistischen Historiografie72


des zweiten Jugoslawien die Begrifflichkeit für nachfolgende Forscher/innen
problematisch gemacht haben mag.73 Auf der anderen Seite reproduzieren impe-
riale Textquellen aus Österreich-Ungarn immer wieder im Leitmotiv ihrer Frie-
dens- und Kulturmission, die dem Niedergang des Osmanischen Reichs und dem
Kriegschaos zu folgen habe, letztlich koloniale Argumentationsmuster.74 Dafür
ist etwa eine Aussage des k. u. k. Finanzministers und Bosnien-Gouverneurs
Benjamin (Béni) von Kállay nachgerade paradigmatisch. In einem Interview
mit dem Londoner Daily Chronicle meinte er: „Austria is a great Occidental Em­
pire […] char­ged with the mission of carrying civilization to Oriental peoples;“
„rational bureau­cracy“ sei „the key to Bosnia’s future […] to retain the ancient
traditions of the land vilified and purified by modern ideas“.75 Die Okkupation
Bosnien-Herzegowinas wird dadurch für den Historiker Judson zum Paradebei-

70 Zit. in Ulbandus [New York] 7 (2003): Empire, Union, Center, Satellite. The Place of
Post-Colonial Theory in Slavic/Central and Eastern European/ (Post-)Soviet Studies,
p. 15.
71 Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley, Los
Angeles, London: Univ. of California Pr. 2005, p. 22.
72 Etwa bei Dedijer et al. 1974, p. 448.
73 Vgl. dazu Vervaet, Stijn: Some Historians from Former Yugoslavia on the Austro-Hunga-
rian Period in Bosnia and Herzegovina (1878–1918). In: Kakanien revisited, www.kaka-
nien.ac.at/beitr/fall­studie/SVervaet1.pdf (2004).
74 Vgl. dazu Okey 2007: 26 ff. et passim.-Dieser Diskurs wurde sogar auch von einigen His-
toriker/innen v. a. österreichischer Provenienz unkritisch wiederholt, etwa wenn Suppan
(1978, p. 128) lakonisch schreibt: „Im wesent­lichen be­stand eine Kultur- und Missionsauf-
gabe“.
75 Zit. n. Donia 1981, p. 14.

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32 Clemens Ruthner

spiel für „the principles of liberal colonial empire across Europe in the second
half of the nineteenth century“.76
Gerade jener quasi-kolonial legitimatorische Diskurs einer österreichisch-un-
garischen mission civilatrice hat nicht nur jugoslawische, sondern auch etliche
westliche Historiker/innen77 dazu gebracht, das Kolonialismus-Paradigma kri-
tisch auch auf die Habsburger Monarchie zu übertragen. Ein frühes Beispiel
dafür ist der Brite A.J.P Taylor, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die k. u. k.
Herrschaft über Bosnien-Herzegowina polemisch bewertet:
The two provinces were the ‘white man’s burden’ [!] of Austria-Hungary. While other
European Powers sought colonies in Africa for the purpose, the Habsburg Mon­archy
exported to Bosnia and Hercegovina its surplus intellectual production – ad­­mini­stra­
tors, road builders, archeologists, ethnografers, and even remittance-men. The two
pro­vinces receiv­ed all benefits of Imperial rule: ponderous public buil­dings; model
barracks for the army of occupation; banks, hotels, and cafés; a good water supply for
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the centres of administration and for the country resorts where the administrators
and army officers recovered from the burden of Empire. The real achievement of
Austria-Hungary was not on show: when the Empire fell in 1918, 88 per cent of the
population was still illiterate.78

2016 schreibt Judson in seiner „New History“ des Habsburger Reichs in einer
Passage, die rhetorische Züge wie den Hang zur Aufzählung durchaus mit Tay-
lor teilt, nicht unbedingt aber deren Polemik – und dabei hinter der Kolonie das
Imperium als Konzept nicht aus dem Auge verliert:
At the end of the 1870s […], Austria-Hungary became a colonial power by occupying
a piece of Ottoman territory. The resulting thirty-year occupation of Bosnia-Herzego-
vina provided bureaucrats, ideologists, map makers, technicians of all kinds, teachers,
and priests (among others) an unparalleled opportunity to realize Austria-Hungary’s
new civilizing mission in Europe. At the same time, Austria-Hungary's experience of
occupying Bosnia-Herzegovina created a consensus around the liberal civilizational

76 Judson 2016, p. 329.- Wie wir heute wissen, diente das k. u. k. Experiment u. a. auch als
Vorbild für das amerikanische Engagement auf den Philippinen (vgl. Kolm 2001, p. 238).
77 Vgl. etwa Donia 1981, pp. 12 ff.; Pinson 1994, p. 113; Detrez 2002; Okey 2007; Judson 2015.
78 Taylor 1948/90, p. 166.- In Fortführung seines Gedankengang ließen sich noch weitere
Daten ins Treffen führen: 1908 gab es landesweit in Bosnien lediglich 350 Volksschu-
len für 15 % der Kinder, 12 Gymnasien und keine Universität (Sugar 1963, p. 202). Eine
Bewertung dieser Zahlen ist freilich Ansichtssache; in der Nachfolge Taylors verteidigt
etwa der Oxforder Historiker Sir Noel Malcolm die habsburgische Bildungspolitik mit
den Worten: „[…] no government which [in forty years, C.R.] builds nearly 200 primary
schools, three high schools, a technical school and a teacher-training college can be de-
scribed as utter­ly negligent in its education policy“ (Malcolm 1996/2002, p. 144). Nichts-
destotrotz dürfte die hohe Analphabetenrate nach dem Ende der Habsburger Herrschaft
durchaus den Fakten entsprechen.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie33

concepts of empire long after the liberal movement itself had faded into political
obscurity.79

Ähnlich wie Taylor äußert sich freilich schon der lothringische Sozialdemokrat
Hermann Wendel, der nach dem Ersten Weltkrieg den neuen jugoslawischen
Staat bereist und ihn als ‘europäischeren’ Rechtsnachfolger der Habsburger Mo-
narchie postkolonial preist: „Das österreichisch-ungarische Bosnien war eine
Kolonie, ein Stück Orient, künstlich von den Wiener Machthabern gehütet; der
südslawische Nationalstaat ist Europa“.80
Man könnte noch etliche weitere Beispiele geben,81 wie oft die „Kolonie“ in
zeitgenössischen Quellen als Leitbegriff für die besetzten Gebiete verwendet
wird: Ein prominentes Beispiel dafür stellt etwa Ferdinand Schmid dar, der ehe-
malige Leiter des Statistischen Zentralamts in Sarajevo, der später, als Professor
in Leipzig, eine akademische Monografie über Bosnien-Herzegowina schreibt
unter Nutzung seines alten Datenmaterials. In diesem Zusammenhang disku-
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tiert er auch die Anwendbarkeit kolonialer Konzepte auf die Habsburger Mo-
narchie:
Man hat in der deutschen und westländischen Literatur viel über den Begriff der
Kolonien gestritten und darunter häu­fig nur überseeische, vom Mutterlande wirt­
schaft­lich oder auch staatsrechtlich beherrschte Gebiete verstanden. In diesem Sinne
besitzt Österreich-Ungarn keine Kolonien und in diesem Sinne hat es – wenigstens in
der neueren Zeit – niemals Kolonialpolitik getrieben. Faßt man dagegen den Begriff
der Kolonien etwas weiter, so kann kaum ein Zweifel darü­ber be­ste­hen, daß Bosnien
und die Herzegovina von Österreich-Ungarn als Kolonialgebiete erworben wurden
und solche in der Hauptsache bis heute geblieben sind.82

Hier wird das Kolonialismus-Paradigma freilich nicht als kritischer Term ge-
handhabt, sondern affirmativ, ähnlich wie dies schon beim Berliner Journalisten
Heinrich Renner 1896 der Fall ist – aus dessen Sicht, „[w]as in diesem Lande
geleistet wurde, […] fast beispiellos in der Kolonialgeschichte aller Völker und
Zeiten“ war.83

79 Judson 2016, p. 329.


80 Wendel, Hermann: Von Belgrad bis Bucari. Eine unphilosophische Reise durch Westser-
bien, Bosnien, Hercegovina, Montenegro und Dalmatien. Frankfurt/M.: Societäts-Druck-
erei 1922, p. 58.
81 Vgl. etwa die bei Kolm 2001, p. 237 ff. aufgelisteten Beispiele; vgl. auch Vilari 1902.
82 Schmid 1914, p. 1.
83 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen
von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. V.

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34 Clemens Ruthner

4. Bosnien als (Ersatz-)Kolonie: mögliche Parameter


Will man nun aus heuristisch-wissenschaftlichen Gründen – d. h. über eine
zeitgenössische und spätere Verwendung polemischer Topoi hinaus – die k. u. k.
Ära in Bosnien-Herzegowina als Kolonialherrschaft ansehen, empfiehlt sich in
Ergänzung zu den in einem früheren Aufsatz84 diskutierten Kolonialismus-Defi-
nitionen die Einbeziehung spezifischerer Bestimmungen. Dafür gäbe es mehrere
Anregungen.
Schon 1951, zu einer Zeit also, als der europäische Kolonialismus gerade in
Umbruch und Auflösung begriffen war, hat etwa der französische Sozialanthro-
pologe Georges Balandier in einem richtungsweisenden Aufsatz die „situation
coloniale“ als eine spezielle Beziehung zwischen Kollektiven, die er als „crude
sociological experiment“ sieht,85 wie folgt beschrieben:86
1. „the domination imposed by a foreign minority, racially (or ethnically) and
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culturally different, acting the name of a racial (or ethnic) and cultural super-
iority dogmatically affirmed“;
2. „this domination linking radically different civilisations into some form of
relationship“;
3. „a mechanized, industrialized society with a powerful economy, a fast tempo
of life, and a Christian background, imposing itself on a non-industrialized,
‘backward’ society“;
4. the fundamentally antagonistic character of the relationship between the
two societies“ [d. h. der Kolonialmacht/dem Mutterland und der Kolonie,
C.R.];
5. „the need, in maintaining this domination, not only to resort to force, but
also a system of pseudo-justification“ [d. h. z. B. die Supponierung rassischer
Ungleichheit und die mission civilatrice, C.R.].87
D.K. Fieldhouse wiederum hat in seiner Studie zum internationalen Imperialis-
mus als Kolonialismus (1981), die sich als Alternative zu marxistischer Theo-
riebildung versteht, folgende Schwerpunkte herausgearbeitet, um das Phäno-
men zu fassen: die juridische Basis, die essentiellen inneren Widersprüche der
Kolonialherrschaft, schließlich ihre Institutionen und national verschiedenen

84 Ruthner 2003; reformuliert als Ruthner 2018, Kap. A.1


85 Balandier 1951/1966, p. 38.
86 Ibid., p. 54f.
87 Die eminent wichtige Rolle legitimatorischer Diskurse wie z. B. der rassischen Ungleich-
heit und der mission civilatrice haben neben Balandier auch etliche andere Forscher/in-
nen herausgestrichen, vgl. etwa Mann 2004 und Osterhammel 2005.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie35

Herrschaftssysteme.88 Fieldhouse schließt mit einer Beschreibung der kolonialen


Wirtschaft und ihres Erbes, die sie in den beherrschten Gebieten zurückgelassen
hat.89
Diese Schwerpunkte lassen sich durchaus mit etlichen Detailbeobachtungen
vernetzen, die sich in Ballandiers Text – der sich auch als zeitgenössischer For-
schungsbericht versteht – finden:90
• „pacification […] with respect to the [own] interests of the western powers“
(p. 36);
• „economic exploitation […] based on the seizure of political power“ (p. 37);
• „the ideologies used to justify colonialism“ (p. 39);
• „the color line, political dependency, virtual non-existing ‘social’ benefits, the
lack of contact between natives and the ‘dominant caste’“ (p. 38).
• „Colonial policy is the child of industrial policy“ (p. 40): „the quest for raw
materials“ – deren Ausbeutung und Einfuhr-Ausfuhr weitgehend in den Hän-
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den der Kolonialmacht bleibt (p. 41);


• „property dispossession“ (p. 41);
• „proletarization“ and „detribalization of the indigenous people“ (p. 42);
• „significant patterns of culture-change“ (p. 43);
• „the role of the judicial and administrative apparatus charged with maintai-
ning this domination“ (p. 44);
• „the arbitrariness of the colonial boundaries and administrative divisions“
(p. 44);
• the „juxtaposing of incompatible or antagonistic ethnic groups“ (p. 45) and
the creation of "plural socities“ (p. 45) that are not "not perfectly homoge-
nous“ (p. 48);91
• „the European minority exercises its influence over the native population
with a force disproportionate to its numbers“ (p. 45);
• a „middle class“ sent to colonies with the „notion of heroic character“ (p. 47);
• the „recourse to stereotypes“ (p. 48) and the „racist foundation“ of colonial
rule (p. 50);
• the spirit of Divide et impera as maxime of colonial rule (p. 50);

88 Vgl. Fieldhouse 1981, p. 16.- Die äußerst problematischen Schlussfolgerungen, die Field-
house als liberaler Apologet des Kolonialismus zog (vgl. ibid., pp. 48 ff.) – nämlich, dass
dieser unumgänglich gewesen wäre und dass ohne diesen sich die Staaten der Dritten
Welt sich noch schlechter entwickelt hätten ‒ bleiben freilich dezidiert aus der folgenden
Argumentation ausgeschlossen.
89 Vgl. ibid., pp. 51–108.
90 Quellennachweise aus Balandier 1951/66 im Lauftext.
91 Balandier spricht hier – in unseren Zusammenhang nicht uninteressant – von einer „Bal-
kanization“ (ibid.).

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36 Clemens Ruthner

• colonial societies being „both traditionalist and modernist – that particular


state of ambiguity noted by several observers“ (p. 53) and
• „the crises marking the stages of the so-called process of ‘evolution’“ (p. 56).
Die in Frankreich lebende kroatische Philosophin Rada Iveković sieht in einer
Kolonie ein „brutal ausgebeutetes“, „nicht-souveränes Land“, dessen Bevölke-
rung von unterschiedlicher Herkunft und „hinsichtlich der Ordnung der Körper,
der Staatsbürgerschaft, der Freiheit und Rechte untergeordnet“ sei; die Aus-
beutung der kolonialen Peripherie trage zur Entwicklung des Kapitalismus im
imperialen Zentrum bei.92 Wolfgang Müller-Funk und Birgit Wagner wiederum
zählen in Anschluss an Hannah Arendts Imperialismus-Buch folgende auch für
eine binneneuropäische Verwendung relevanten Kategorien des Kolonialismus
auf: die „systematische und gewaltsame Landnahme“, die „weitgehende Rechtlo-
sigkeit der verbliebenen“ autochthonen Bevölkerung, der „Import europäischer
Menschen“, die „Einführung der eigenen Kultur" („in Technik, Verwaltung,
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Sprache, Gesetzgebung, Schulsystem, Ökonomie“) sowie die „Ausbeutung des


kolonialen Reichtums“.93
Im Sinne dieser sehr kurzen und kursorischen Forschungssynthese, die auf
unserem beschränkten Raum nicht ausführlicher zu leisten ist, könnten und
sollten nun folgende Faktoren bei einer Analyse der österreichisch-ungarischen
Herrschaft in Bosnien-Herzegowina als Ersatzkolonialismus berücksichtigt
werden (wobei freilich auch zu fragen wäre, ob nicht schon die osmanische
Herrschaft gewisse koloniale Züge aufwies94):
1. Die militärische Eroberung nach Mandatszuweisung durch eine internationa-
le Konferenz, nämlich den Berliner Kongress 1878, ist zweifellos eine wich-
tige Kategorie für eine historisch-politikwissenschaftliche Einschätzung
des Status von Bosnien-Herzegowina, die aufgrund ihrer Gewalttätigkeit
gerne aus dem Narrativ der „Friedens- und Kulturmission“ herausredigiert
wird, mit der das Habsburger Reich gleichsam seine staatliche Idee expor-

92 Ivekovic, Rada: Die Spaltung der Vernunft und der postkoloniale Gegenschlag. In: Mül-
ler-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Eigene und andere Fremde. ‘Postkoloniale’
Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia + Kant 2005 (= Reihe Kultur.Wissen-
schaften 8.4), pp. 48–64, hier p. 57f.
93 Müller-Funk, Wolfgang / Wagner, Birgit (Hg.): Diskurse des Postkolonialen. In: Mül-
ler-Funk & Wagner 2005, pp. 9–27, hier p. 11f.
94 Zum relativ neuen Forschungsfeld des Osmanischen Reichs als Kolonialmacht vgl. Alb-
recht, Monika: Comparative Postcolonial Studies. East-Central and Southeastern Europe
as a Postcolonial Space. [Unveröff. Vertrag, gehalten auf der Tagung Memory and Post-
colonial Studies: Synergies and New Directions an der University of Nottingham, 10. 06.
2016].

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie37

tiert.95 Ähnliche Okkupationsmodi kennzeichnen auch die koloniale Erwer-


bung von „Schutzgebieten“ durch die anderen europäischen Mächte etwa
im Gefolge der Kongo-Konferenz von Berlin 1884/85.96
2. Der spezielle völker- und staatsrechtliche Status des Gebiets.97 In seinen vier
‘kakanischen’ Jahrzehnten erhielt Bosnien-Herzegowina nie den Status ei-
nes „Kronlands“ (wie die regulären Bestandteile des Reichs), sondern blieb
„Reichsland(e)“98 (in etwa vergleichbar mit dem Statut des 1871 annektier-
ten Elsaß-Lothringen im deutschen Kaiserreich) – eine Art Appendix der
Monarchie, der keiner der beiden Reichshäften zugeteilt wurde, sondern in
einer komplizierten Konstruktion via das gemeinsame Finanzministerium
zu beiden gehörte, was zur österreichisch-ungarischen Konkurrenzsituation
beitrug und die weitere politische und wirtschaftliche Entwicklung behin-
derte.99 Eine Folge davon war freilich auch, dass Bosnien-Herzegowina das
einzige k. u. k. Territorium war, dass in keinem der beiden Parlamente in
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Wien und Budapest eine gewählte gesetzliche Vertretung hatte.100 Ein re-
gionaler Landtag (Sabor) wurde ebenso wie eine Verfassung für die besetz-
ten Gebiete erst 1910 nach deren Annexion eingeführt;101 im Parteienzwist
wurde diese Volksvertretung jedoch rasch dysfunktional und im Zuge des
Ausnahmezustands von 1914 wie auch die meisten anderen k. u. k. Parla-
mente wieder geschlossen.102 Wie Pieter Judson schreibt: „Yet under the

95 Judson 2016, p. 330, schreibt: „The effective transmission of a civilizing mission to Eu-
rope’s East, understood in economic, social, legal, and cultural terms, represented the
culmination of a transformed Austrian imperial idea whose role now officially included
the export of its work beyond its own borders.“
96 Vgl. Fieldhouse 1981, pp. 16 ff.
97 Vgl. Classen, Lothar: Der völkerrechtliche Status von Bosnien-Herzegowina nach dem
Berliner Vertrag vom 13.7.1878. Bern et al.: P. Lang 2004 (= Rechts- und sozialwissen-
schaftl. Reihe 32).
98 Dieser Terminus wird häufig in Bezug auf Bosnien-Herzegowina verwendet, vgl. etwa
Michel, Rudolf: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und der
Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen v. Max Bucherer. Wien, Leipzig: Deutsch-Österreichi-
scher Verlag 1912; Attems, Moriz Graf: Bosnien einst und jetzt. Wien: L.W. Seidel 1913,
p. 32; u. a.- Vgl. dazu auch den Beitrag von Tamara Scheer zum vorl. Sammelband.
99 Vgl. Sugar 1963, p. 26 u. Donia 2015; vgl. auch Burián 1923, p. 226.
100 Ein amerikanischer Historiker hat deshalb in Anlehnung an die Sowjetunion vorgeschla-
gen, von einer bosnischen „satrapy“ zu sprechen; vgl. McCagg, William O.: The Soviet
Union and the Habsburg Empire. Problems of Comparison. In: Rudolph, Richard L./Good,
David F. (Hg.): Nationalism and Empire. The Habs­burg Empire and the Soviet Union.
New York: St. Martin’s Pr. 1992, pp. 45–63, hier p. 50f.
101 Vgl. Juzbašić, Dževad: Die Annexion von Bosnien-Herzegowina und die Probleme bei der
Erlassung des Landesstatutes. In: Südost-Forschungen [München] 68 (2009), pp. 247–297.
102 Vgl. Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. The evolution of its political and legal
institutions. Sarajevo: Magistrat 2006.

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38 Clemens Ruthner

new constitutional situation Bosnia [still] existed in a kind of unacknow-


ledged legal limbo […]“.103
3. „Indirect rule.“104 Ähnlich wie die britische Herrschaft über Indien stütz-
te sich auch die österreichisch-ungarische Besatzungsmacht auf die Re-
formierbarkeit und Kollaboration existierender autochtoner Eliten, d. h.
vornehmlich die Grundherren und andere muslimische Oberschichten.105
(Dies verhinderte letztlich auch die Durchführung einer dringend nötigen
Landreform,106 was zur Frustration der mehrheitlich christlichen Landbe-
völkerung beitrug, die gerade in dieser Frage ihre einschlägige Hoffnung
auf die neue k. u. k. Herrschaft gesetzt hatte.)107
4. Administrative Bevormundung. Österreich-Ungarn setzte eine von außen
kommende,108 ausufernde und paternalistisch109 agierende Zivilverwaltung
ein, die auch in ihren unteren Rängen örtliche Bewerber ­diskriminierte –
insbesondere, wenn es sich um Serben oder Muslime handelte.110 Die mitt-
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lerweile teilweise editierten Akten der k. u. k. Landesregierung lassen einen


Einblick auf das gepflogene micro-management zu, das in alle Belange des

103 Judson 2016, p. 379.


104 Zum Unterschied des britischen ‘indirect rule’ und der französischen Direktherrschaft,
vgl. Fieldhouse 1981, pp. 29 ff. u. 36 ff.- Es ist freilich davon auszugehen, dass Öster-
reich-Ungarn ohne den Ersten Weltkrieg zu einer stärkeren Eingliederung der beiden
Provinzen ins Reich übergegangen und damit eher dem Vorbild der französischen Herr-
schaft in Algerien gefolgt wäre.
105 Vgl. den rechts- und institutionsgeschichtlichen Vergleich der Fremdadministrationen
Anglo-Indiens und Bosnien-Herzegowinas bei Gammerl, Benno: Untertanen, Staatsbür-
ger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und
im Habsburgerreich 1867–1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010 (= Krit. Stu-
dien zur Geschichtswiss. 189), insbes. pp. 73–216. Vgl. auch Okey 2007, p. 26f.
106 Vgl. etwa Calic 2010, p. 47f.- Erst 1911 wurde die Kmetenfrage – schleppend – dahinge-
hend gelöst, dass man den abhängigen Landpächtern ermöglichte, sich durch ein neues
Landeskreditsystem von ihren Grundherren freizukaufen (vgl. Burián 1923, p. 227); auf
diese Weise hätte eine Neuordnung der Besitzverhältnisse allerdings etliche Jahrzehnte
gedauert, wenn nicht diese Entwicklung ohnehin durch den Ersten Weltkrieg obsolet
geworden wäre.
107 Vgl. etwa Sugar 1963, pp. 33 ff.
108 Im Vergleich mit der osmanischen Zeit nahm die Anzahl der mit der Verwaltung betrau-
ten Landesbeamten bis 1908 von 120 auf rund 9.500 zu (Pinson 1994, p. 119f.; vgl. Sugar
1963, p. 29).
109 Vgl. Donia 2015, pp. 72 ff.; vgl. auch, was Fieldhouse 1981, p. 43, über die Zivilverwal-
tungen der europäischen Kolonialmächte, schreibt: „most seem to have fallen back on a
benevolently conservative paternalism“.
110 1904 waren nur 26,5% aller in der Verwaltung Bosnien tätigen Beamten auch dort gebo-
ren, die Mehrheit davon katholisch, lediglich 3 % serbisch-orthodox bzw. 5 % muslimisch
(vgl. Pavlowitch 1999, p. 117; Dedijer et al. 1974, p. 449; Jelavich 1983, p. 60; Donia 2015,
p. 73f.).

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie39

gesellschaftlichen Lebens eingriff und sich Fragen widmete, ob beispiels-


weise der gewählte Name für einen örtlichen Amateurchor zulässig sei oder
nicht.111 Diese zivilisatorischen Errungenschaften werden freilich durch
wiederholte Korruptionsvorwürfe konterkariert, die vor allem in der dip-
lomatischen Korrespondenz des Auslands erhoben wurden und ein anderes
Bild als jene selbst angenommene „Kulturmission“ zeichnen.112 Ähnliches
gilt für die Beobachtung des Zeitzeugen Hermann Wendel über das finan-
zielle Missverhältnis zwischen Exekutivgewalt und softpower: er moniert
als „k. und k. Beitrag zur Relativitätstheorie“, dass ein Schulleiter in Bosni-
en-Herzegowina weniger verdiene als ein Gendarmerie-Wachtmeister und
generell mehr Mittel für Polizei als für Bildung aufgewendet würden.113
Für die repressive Natur der österreichisch-ungarischen Präsenz und ge-
gen das Narrativ eines „gelungenen Zusammenleben[s]“114 spricht auch der
zunehmende politische Widerstand der autochtonen Bevölkerung (v. a. der
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Serben und Muslime) gegen die k. u. k. Herrschaft.115


5. Aufbau eines Wissensregime. Typisch für Kolonialmächte auf der ganzen
Welt ist im 19. Jahrhundert, dass sie sich auf Datensammlung und Gene-
rierung von Herrschaftswissen über ihre neuen Territorien und Untertanen
stützen; dies kreiert eine neue, hegemoniale epistemè, die einerseits als anti-
quarische Sammlerin vorgeht, zugleich aber im Namen der Aufklärung und
Modernisierung existierende native Diskurse entwertet, überschreibt bzw.
als altmodischen ‘Aberglauben’ abstempelt (narrative Enteignung).116 So
auch in Bosnien-Herzegowina, wo mit dem von Kállays k. u. k. Administra-
tion gegründeten Landesmuseum / Zemaljski mu­zej eine zentrale Institution
zur Wissensbeschaffung in den Bereichen Natur- und Volkskunde (inklu-
sive Geschichte und Archäologie) eingerichtet wurde;117 Kállay versucht
zudem mit Hilfe seines Freundes Lajos v. Thallóczy, eine gemeinbosnische
Geschichte (die sich von jener der südslawischen Nachbarländer unter-
scheidet) zur Legitimation der (österreichisch-)ungarischen Präsenz in der
Region durchzusetzen.118

111 Vgl. Donia 2015, p. 72ff.


112 Vgl. Sugar 1963, pp. 26, 30 f.
113 Wendel 1922, p. 60.
114 Vgl. Heuberger, Valeria / Illming, Heinz: Bosnien-Herzegowina 1878–1918. Alte Ansich-
ten vom gelungenen Zusammenleben. Wien: Brandstätter 1994.
115 Vgl. Donia 2015, p. 70f.
116 Vgl. Stoler & Cooper 1997, p. 15ff.; Scott, David: Refashioning Futures. Criticism after
Postcoloniality. Princeton: Princeton UP 1999, p. 46; u. a.- Vgl. dazu insbesondere auch
den Beitrag von Reinhard Johler zum vorl. Sammelband.
117 Vgl. Donia 2015, p. 77.
118 Vgl. etwa ibid., p. 75ff.

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40 Clemens Ruthner

6.a Othering of the Other. Während und nach der Invasion wurde die österrei-
chisch-ungarische „Kulturmission“ als diskursives Werkzeug verwendet,
um zu rechtfertigen, dass die Herrschaft weniger demokratisch war als im
Mutterland und die Bosnier/innen dadurch zu Bürger/innen zweiter Klasse
wurden. Um wiederum die österreichisch-ungarische mission civilatrice zu
legitimieren, wurden die in Bosnien-Herzegowina lebenden Menschen im
Rahmen eines Populär-Orientalismus119 als das Fremde imaginiert, das der
Zivilisierung bedarf – wobei man sie genauso gut auch als eine Erweite-
rung von bereits auf dem Gebiet der Monarchie lebenden Volksgruppen
hätte ansehen können.120 Dies schafft eine kulturelle Ökonomie von Stereo-
typen – Ressourcen, die auch in zahlreichen literarischen und nicht lite-
rarischen Texten bearbeitet werden: „Just as imperialists ‘administer’ the
resources of the conquered country, colonialist discourse ‘commodifies’ the
native into a stereotyped object and uses him as a ‘resource’ for colonialist
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fiction“.121
6.b Identitätspolitik / invented traditions. In den mehr als zwanzig Jahren, die
der k.u.k gemeinsame Finanzminister Kállay den besetzten Gebieten vor-
stand, versuchte er ihnen eine aus der mittelalterlichen Geschichte bezoge-
ne gemeinsame ‘bosnische’ Identität (Bošnjaštvo) aufzuerlegen, um dadurch
auf einer symbolischen Gemeinschaftsebene die politischen Partikularbe-
wegungen der Muslime, Orthodoxen und Katholiken zu bekämpfen:122 iden-
tity politics, wie sie auch als Herrschaftsinstrument aus kolonialen Kontex-

119 Vgl. dazu die These eines doppelten bzw. ‘schizophrenen’ österreichischen Orientalis-
mus, der Bosnien als den (reformierbaren) ‘nahen Orient’ und das Osmanische Reich als
wesensfremden, bedrohlichen ‘fernen Orient’ imaginiert, bei Heiss, Johann / Feichtinger,
Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In:
Hodkinson, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History: From Ger-
many to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148–165.
120 Vgl. etwa Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethno-
grafischen Populärliteratur der Habsburger Monarchie. In: Feichtinger et al. 2003, pp.
259–288; Sirbubalo, Lejla: „Wie wir im 78er Jahr unten waren […]!“ Bosnien-Bilder in der
deutschsprachigen Literatur. Würzburg: Könighausen & Neumann 2012 (= Epistemata
745); Ruthner, Clemens: Besetzungen. A Post/Colonial Reading of Austro-Hungarian and
German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In: Ruthner et al. 2015,
pp. 221–242; Ders.: UmgangsFormen. Konstruktionen der bosnischen Fremde(n) in ös-
terreichischen Kolonialtexten um 1900. In: Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens(Hg.):
Nähe und Distanz in der österreichischen Literatur um 1900. Würzburg: Könighausen &
Neumann i.V.; weiters Ruthner 2018.
121 JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Racial
Difference in Colonialist Literature. In: Gates, Henry Louis Jr.: ‘Race’, Writing, and Diffe-
rence. Chicago, London: Chicago Univ. Pr. 1985, pp. 78–106, zit. p. 83.
122 Vgl. Babuna 2015 u.a.

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie41

ten außerhalb Europas bekannt ist.123 Trotzdem arbeitete diese oppressive


Herangehensweise eher in die Hände der Nationalisten und vertiefte die
bestehenden kulturellen Differenzen zwischen den drei Bevölkerungsgrup-
pen anstelle sie zum Verschwinden zu bringen; andererseits stiftete sie tak-
tische Gemeinsamkeiten im politischen Widerstand gegen den Kolon (diese
Entwicklung teilte sie freilich auch mit anderen Gebieten der Monarchie).124
7. Spezifische wirtschaftliche Erschließung.125 Die offiziell durch die Monar-
chie auferlegte Beschränkung, dass Bosnien-Herzegowina einerseits durch
eine allmächtige Bürokratie regiert wurde, sich andererseits aber aus den
Provinzeinnahmen selbst finanzieren sollte, kennt etliche Präzedenzfälle
auch bei Kolonialgebieten sensu stricto. Paradoxerweise verhinderte gera-
de dies – was gerne von Habsburg-Nostalgikern ins Feld geführt wird –
eine kapitalistische Ausbeutung der besetzten Gebiete, bis in die letzten
Jahre hinein, als privates Kapital (vor allem ungarische Banken) eine zu-
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nehmende Präsenz als Investor zeigte. Ebenso wird die infrastrukturelle


Erschließung Bosniens (der Bau von rund 2.000 km Straße und 1.000 km
Bahnlinien)126 als Entlastungsmaterial angeführt – aber dies sind genau die
‘zivilisatorischen Errungenschaften’, mit denen sich Kolonisatoren auch
in anderen Teilen der Welt geschmückt haben.127 Auch sonst gibt es starke
Übereinstimmungen in der Beschreibung der bosnisch-herzegowinischen
Okkupationsökonomie mit Kolonialwirtschaften, wie sie etwa von Cooper
und Stoler typisiert worden sind: „a mercantilist concept of trade, through
which the metropole assures privileged access to markets and raw materi-
als by restricting the colony’s ability to trade freely with all partners, and a
conception of the colony as a domain in which a state can act in particular
ways“ (z. B. bei der Landvergabe an Siedler).128
8. Eben dieses Siedlerwesen,129 das einerseits den Zuzug aus der Monarchie
bzw. ihren Nachbarländern z. B. als Vorbild für die bosnisch-herzegowini-
sche Landwirtschaft propagiert und andererseits von autochthonen Akti-
visten bekämpft wird, darf nun auch per se als koloniales Phänomen gelten.
9. „Lab of Modernity“ vs. administrativer Konservatismus. Diente Bosnien-Her-
zegowina wie auch andere imperiale Peripherien als Experimentierfeld in

123 „Empire messes with identity“ (Gayatri Spivak, zit. nach Suleri 1997, p. 7).
124 Vgl. Sugar 1963, pp. 26, 30 f.
125 Siehe insbes. Sugar 1963 und Lampe & Jackson 1982.
126 Vgl. Calic 2010, p. 17.
127 Vgl. Mann 2004, p. 17.
128 Stoler & Cooper 1997, p. 19. Zu den Besonderheiten einer Kolonialwirtschaft vgl. wei-
ters – neben den zit. Kategorien Balandiers – die Einleitung zu Alatas 1977.
129 Vgl. den Beitrag von Carl Bethke im vorl. Sammelband.

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42 Clemens Ruthner

technologischer wie sozialer Hinsicht (wie z. B. mit dem frühen elektri-


schen Tramway-System für Sarajevo), so stand dieses Phänomen, zu dem
sich Vergleichsmengen in anderen europäischen Kolonien finden lassen,130
zugleich in Widerspruch zum inhärenten Traditionalismus der österrei-
chisch-ungarischen Verwaltung, die gesellschaftliche Strukturen bewahren
und verbessern, aber nicht fundamental verändern wollte (und es letztlich
dennoch tat): dies sollte, wie auch Robert Donia ausführt, eine der zentralen
Aporien der k. u. k. Administration der besetzten Gebiete werden.131
10. Militärische Ausbeutung. Schon lange vor der Annexion, nämlich 1881, be-
gann das k. u. k. Militär bosnisch-herzegowinische Männer für den Kriegs-
dienst zu einzuziehen; diese neuen human resources wurden in speziellen
Infanterieregimentern zusammengefasst, die nie voll in die k. u. k. Armee
integriert, aber doch von deren Offizieren angeführt wurden. Auf diese
Wiese konnte die vermeintliche Grausamkeit der Fremden, die angeb-
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lich durch die mission civilatrice gezähmt werden sollte, nach Belieben
im Kriegsfall eingesetzt werden. „Die Bosniaken“ wurden auf diese Weise
ganz nach kolonialem Vorbild wie etwa die britischen Gurka-Einheiten
zu Elitetruppen, deren Effizienz sich vor allem im Ersten Weltkrieg an der
italienischen Front 1915–18 gleichsam als self-fulfilling prophecy bewähren
sollte.132
Bei all diesen kolonialen Beschreibungskategorien darf freilich nicht außer Acht
gelassen werden, dass das Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisier-
ten ebenso wie das zwischen Kolonie und Mutterland ein dynamisches ist, das
beide Seiten verändert: nicht nur die Peripherie, sondern auch das Zentrum.
Ebenso ist im Rahmen der gesellschaftlichen Transformation in der Kolonie
von einem Wechselspiel aus externen (allochtonen) und internen (autochtonen)
Faktoren „inherent in social structures and subjugated societies“ auszugehen,
die das „crude sociological experiment“ namens Kolonialismus ausmachen.133
Dies nimmt durchaus krisenhafte Züge an, wie Balandier ausgeführt hat,134 und

130 Vgl. Mann 2004, p. 8; Stoler & Cooper 1997, p. 5.


131 Donia 2015, p. 68ff.; ähnlich auch Calic 2010, p. 47, und Judson 2016, p. 330. Vgl. auch
Donias Beitrag zum vorl. Sammelband.
132 Zu diesem Thema vgl. Schachinger, Werner: Die Bosniaken kommen. Elitetruppen in
der k. u. k. Armee. Graz: L. Stocker 1994; Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A.: Des
Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien:
Verl. Militaria – Ed. Rest 2008; weiters Strigl, Daniela: Schneidige Husaren, brave Bosnia-
ken, feige Tschechen: Nationale Mythen und Stereotypen in der k. u. k. Armee. In: Hárs et
al. 2006, pp. 129–144, und den Beitrag von Zijad Šehić in Ruthner et al. 2015, pp. 139–153.
133 Balandier 1951/1966, p. 38.
134 Ibid., p. 57: „The history of colonial sociteies reveals periods during which conflicts are
merely latent, when a temporary equilibrium or adjustment has been achieved, and peri-

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Bosnien-Herzegowina als k. u. k. Kolonie43

ist vor allem im Kontext der sich langsam zuspitzenden politischen Verhältnisse
in der Quasi-Kolonie Bosnien-Herzegowina zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die
zu den Schüssen von Sarajevo 1914 führen sollten, von Bedeutung.

5. Vorläufige Conclusio
Versucht man also eine historische Zusammenschau ansonsten unverbundener
politischer, ökonomischer, sozialer und kultureller Daten, ergibt sich wohl ein-
wandfrei die Nähe der österreichisch-ungarischen Landnahme in Bosnien-Her-
zegowina zu Kolonialprojekten jener Zeit. In diesem Zusammenhang dürfte sich
auch eine komparative Perspektive – z. B. der Vergleich mit Britisch-Indien –
als vorteilhaft erweisen, wie sie andernorts bereits in guten Ansätzen geleistet
wurde.135
Allerdings gibt es historisch so etwas wie eine Skala kolonialer Gewalt, an
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deren oberen Ende etwa die belgische Kongo-Kolonie stehen müsste, als sie vor
1908 noch Privateigentum des Königs war und in diesem Rahmen als Mischung
aus Konzentrationslager und Konzern ausgebeutet wurde;136 im direkten Ver-
gleich muss man da dem k. u. k. Kolonialismus in Bosnien-Herzegowina wohl
bescheinigen, in seinen Interventionen eher auf soft power zurückgegriffen zu
haben. (Aus Fairnessgründen empfiehlt sich zudem, die These von den „reluc-
tant colonizers“137 in Bezug auf Österreich-Ungarn einzubeziehen, wonach die
Besetzung und Einverleibung jener territorialen Lücke auf dem westlichen Bal-
kan aufgrund der eingangs erwähnten no-win situation eher einer ungeliebten
Notwendigkeit bzw. strategischen Notlösung denn einem kakanischen Herzens-
wunsch entsprochen hätte.)
Auch wenn man Coopers Warnung vor einer ubiquitären und damit letztlich
beliebigen Anwendung des humanwissenschaftlichen ‘K-Worts’ beherzigt,138
sollte auf jeden Fall aus dieser kleinen Zusammenstellung hervorgegangen sein,
dass das bosnisch-herzegowinische k. u. k. Intermezzo durchaus als eine Art von
Quasi-Kolonialismus betrachtet werden kann,139 als Ersatz für den „Scramble for
Africa“, bei dem die traditionelle Landmacht Österreich-Ungarn – im Gegensatz
zum deutschen Kaiserreich – zu spät kam.140 Die einzige Tatsache, die andere

ods during which conflicts rise to the surface.“


135 Vgl. Gammerl 2010.
136 Vgl. Hochschild, Adam: King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in
Colonial Africa. New York: Pan Macmillan 1998.
137 Vgl. Fieldhouse 1981, p. 3.
138 Vgl. Cooper 2005, pp. 3–23.
139 Vgl. etwa Detrez 2002; Donia 2015.
140 Vgl. Sauer, Walter: (Hg.): K. u. k. kolonial. Habsburgermonarchie und europäische Herr-
schaft in Afrika. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2002, 22007; ders.: Habsburg Colonial. Aus-

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44 Clemens Ruthner

Forscher/innen bisher davon abgehalten hat, Bosnien-Herzegowina als eine


Kolonie anzusehen, ist, dass es nicht durch eine große Menge Salzwasser von
seinem ‘Mutterland’ getrennt war – und hier ließe sich argumentieren, dass es
dann paradoxerweise Eurozentrismus wäre, der uns davon abhielte, Kolonialis-
mus auf europäischem Boden als solchen zur Kenntnis zu nehmen.141
In diesem Sinne werden nun auch die nachfolgenden Beiträge versuchen, in
ihren abgegrenzten historischen, literatur- und kulturwissenschaftlichen Ge-
genstandsbereichen die Beweislage im Sinne dieses Generalthemas zu erhärten.
Sie werden zeigen, wie das quasi-koloniale Unternehmen der Besetzung und
Einverleibung Bosnien-Herzegowinas durch die Habsburger Monarchie im Rah-
men einer allgemeinen imperialistischen Gemengelage um 1900 funktionierte,
die ihre Herrschaft intern wie extern auf kultureller Differenz142 und den daraus
abgeleiteten Ungleichheiten aufbaute – ein groß angelegtes“Erfassungsprojekt
des Fremden im Äußern und Innerem der Staaten im 19. Jahrhundert „zu poli-
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tischen, herrschaftstechnischen und legitimatorischen Zwecken“143. Der vorlie-


gende Sammelband hat sich aber auch zum Ziel gesetzt, sich zu seinem Ende hin
der Frage zu öffnen, wie dieser Herrschaftskomplex in Bosnien-Herzegowina bis
zum heutigen Tag weiterwirkt – als longue durée von Strukturen, die seinerzeit
jener besagte Švabo babo in einem Wechselspiel von Kolonisierung und Kolo-
nisierten, von Traditionalismus und Modernisierung, mit prägte und die damit
zum postkolonialen und postimperialen Erbe der Region gehören.

tria-Hungary’s Role in European Overseas Expansion Reconsidered. In: Austrian Studies


[Oxford] 20 (2012), pp. 5–23.
141 Eine im Rahmen dieses Bandes wohl zu weit gehende Ermessensfrage bleibt freilich, ob
wir dann den Kolonialismusbegriff neuerlich so weit ausdehnen müssen, wie dies etwa
Maria Mies vorschlägt:
„Europa ist das Ergebnis von Kolonisierungen. […] es ist das Resultat eines aktiven wie
auch passiven Kolonialismus. Diese Verhältnisse betreffen vor allem die Verhältnisse
zwischen Mann und Frau, zwischen Stadt und Land, zwischen Mensch und Natur und
zwischen Geist und Körper. Kolonialverhältnisse sind dadurch charakterisiert, dass sie
hierarchisch und nicht-wechselseitig sind und dass sie letztendlich durch Gewalt auf-
rechterhalten werden. […] Kolonialverhältnisse sind die verborgenen Tiefenstrukturen
dessen, was wir ‘europäische Zivilisation’ nennen.“ (Mies, Maria: Über die Notwendig-
keit, Europa zu entkolonisieren. In: Werlhof, Claudia von / Bennholdt-Thommsen, Vero-
nika / Faraclas, Nicholas (Hg.): Subsistenz und Widerstand. Wien: Promedia 2003, p, 133.)
142 Vgl. Cooper 2005, p. 23, der an dieser Stelle den indischen Kolonialismus-Historiker Part-
ha Chatterjee zitiert.
143 Bayerdörfer, Hans P. et al: Einleitung. In: diess. (Hg.): Bilder des Fremden. Mediale In-
szenierung von Alterität im 19. Jh. Berlin: LIT 2007 (= Kulturgeschichtliche Perspektiven
5), pp. 7–16, hier p. 7.

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“45

„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“

Zu begrifflichen Zuschreibungen Bosnien-Herzegowinas im


österreichisch-ungarischen Staatsverband, 1878–1918

Tamara Scheer (Wien)

Der Großteil unserer Autorinnen und Autoren ist sich scheinbar einig: Bos-
nien-Herzegowina zwischen 1878 und 1918 war eine Kolonie. Robert Donia
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stellt daher nicht grundsätzlich die Frage, ob es sich um eine Kolonie handelte,
sondern lediglich, welcher Art sie war. Er bezeichnet sie schließlich als „Proxi-
mate Colony“. Valeria Heuberger verweist darauf, dass es für Österreich-Ungarn
eine Art von „Ersatzkolonie“ gewesen wäre, während nicht nur Anna Babka auf
die Kulturwissenschafterin Heidemarie Uhl verweist, wonach Bosnien-Herze-
gowina ein „quasi-kolonialer Herrschaftskomplex“ gewesen wäre.
Grundsätzlich gehört es zur Aufgabe der Wissenschaftler/innen, komplexe
historische Gebilde und Vorgänge in knappen Begriffen zusammenzufassen,
sie terminologisch quasi dingfest zu machen. Es ist also nicht außergewöhnlich,
dass in einem Sammelband, der die Bezeichnung ‘Kolonie’ bereits im Titel trägt,
sich mehrere Beiträge mit dem Sein und Nicht-Sein des k. u. k. Okkupations-
und späteren Annexionsgebietes als Kolonie befassen. Wenn Bosnien-Herze-
gowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft aber nur quasi eine Kolonie
gewesen ist, gilt es der Frage nachzugehen, was es denn sonst war?
In meinem einführenden Beitrag möchte ich daher versuchen, Antworten da-
rauf zu geben, ob und wann und für wen Bosnien-Herzegowina zwischen 1878
und 1918 ‘etwas’ war oder nicht – ohne allerdings noch einmal die theoretischen
Abhandlungen zu Imperien und Kolonien sowie die wichtigsten Werke zur Ge-
schichte Bosniens und der Herzegowina, wiederzugeben; diese sind ohnehin im
vorangegangenen Beitrag hinlänglich berücksichtigt worden.1 Vielmehr frage
ich vor allem nach zeitgenössischen Zuschreibungen und möchte Quellenarten

1 Vgl. de vorangehenden Beitrag im vorl. Sammelband sowie Ruthner, Clemens: Habsburgs


‚Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur österreichischen Literatur und Kultur im
langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 23),
Kap. A1.

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46 Tamara Scheer

und Ideen heranziehen, die bei unseren Autoren und Autorinnen weniger Be-
rücksichtigung finden, um sodann Alternativen oder weitere Argumente für
oder wider den Kolonie-Status anzubieten.
Grundsätzlich gilt es bei der Betrachtung aus der zeitgenössischen Perspek-
tive dreierlei Faktoren nicht aus den Augen zu verlieren: Zeit, Perspektive und
Sprache. Es steht zu erwarten, dass es einen Unterschied machte sowohl bei
der Bevölkerung wie bei den neuen Machthabern, ob es sich um die Zeit kurz
nach dem Okkupationsfeldzug handelt, als Gewalt und Gegengewalt sowie die
Neu- bzw. Fremdherrschaft noch weitaus stärker bei den Handelnden präsent
waren. Die Machtstrukturen wandelten sich eklatant über die Jahre von einer
reinen Militärverwaltung zu mehr Zivilverwaltung unter Einbindung der Be-
völkerung, bis zur Annexion und der darauffolgenden Implementierung einer
quasi parlamentarischen Vertretung in Sarajevo.
Die jeweilige Perspektive aus der eine Zuschreibung erfolgte, ist (nicht nur!)
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im Fall Bosnien-Herzegowina von Belang, wobei dies weit mehr umfasst als die
Sicht der lokalen Bevölkerung und jene Sicht der neuen Machthaber. Die neue
Herrschaft bedeutete und ließ für die nach Religion und sozialer Zugehörigkeit
so heterogene Bevölkerung völlig unterschiedliches erwarten. Das dualistische
Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie – in dem sich ungarische und
öster­reichische bzw.gemeinsame Institutionen um Macht und Einfluss zank-
ten – hatte gerade auf das gemeinsam verwaltete Gebiet Auswirkungen. Imre
Ress in seinem Beitrag zeigt auf, dass selbst innerhalb der beiden Reichsteile
unterschiedliche Interessen verfolgt wurden. Die multiethnische Zusammen-
setzung des neuen Hegemons mit seinen so unterschiedlichen historischen
Narrativen zum Balkan wirkte sich ebenfalls auf die Zuschreibungen an das
neue Gebiet aus. Zu guter Letzt ist auch die in den Quellen verwendete Sprache
von Belang. Unabhängig von der jeweiligen politischen Aufladung der Begriffe
Reich und Kolonie in derselben Sprache gilt es mit zu berücksichtigen, welche
Begriffe in den anderen Sprachen der Beteiligten Verwendung fanden. Um die-
sen Kommentar nicht ausufern zu lassen, werde ich Beispiele aus der dominan-
ten Sprache der neuen Herrscher analysieren, d. h. aus dem Deutschen.

1. Kolonie
Für Historiker/innen lohnt sich grundsätzlich bei jedem Thema der Blick in
eines der zeitgenössischen Lexika. Obwohl diese in erster Linie in den privaten
Bücherregalen der Mittel- und Oberschicht standen (und verstaubten?), waren
sie doch auch Teil von öffentlichen Bibliotheken in Schulen, Universitäten und
Amtsstuben. Weitverbreite deutschsprachige Lexika im späten 19. und Anfang
des 20. Jahrhunderts, also dem hier relevanten Zeitraum, waren unter anderem

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“47

Meyers Konversationslexikon und der Brockhaus. Was also konnte der Zeitge-
nosse in Erfahrung bringen, wenn er oder sie das Wort Kolonie nachschlagen
wollte? Ließ sich bei einer Diskussion die Wortbedeutung auf das Okkupations-
gebiet, wie Bosnien-Herzegowina zumeist von den Behörden genannt wurde2,
bzw. das spätere weitaus kurzlebigere Annexionsgebiet aus unserer heutigen
Perspektive anwenden und taten das die Zeitgenossen?
Die Brockhaus-Ausgabe der 1890er Jahre listet folgende Kriterien und Merk-
male für eine Kolonie auf, wobei der Eintrag relativ umfangreich ist und den
Facettenreichtum des Begriffs offenbart:
K. sind im allgemeinen Niederlassungen oder Ansiedelungen in einem fremden Lande
oder unter einem fremden Volke. Die Niederlassung muß dauernd sein und von einer
größern Anzahl von Angehörigen derselben Nation ausgehen, die sich ihre heimische
Sitte und Sprache bewahren und dadurch, meistens in Verbindung mit einer selbstän-
digen Organisation, unter dem fremden Volke eine gesonderte Stellung einnehmen.3
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Es geht hier also zuallererst um einen Personenkreis und nicht um einen Rechts-
status; die Ansiedler bilden die Kolonie. Der Brockhaus spricht von einer „grö-
ßeren Anzahl derselben Nation“. Aus dem Schriftgut Lajos Thallóczys, im ge-
meinsamen Finanzministerium mit den bosnisch-herzegowinischen Agenden
betraut, geht der Stand der „Ansiedler“ aus dem Jahr 1900 hervor. Insgesamt
handle es sich um 10.706 Personen, die nach Nationalität/Sprache und Religion
aufgeschlüsselt aufgelistet wurden, nicht aber, ob es sich um österreichische
oder ungarische Staatsangehörige handelte. Die Kolonisten machten zum weit-
aus größten Teil „Deutsche“ (4861 „Seelen“) aus. Knapp 4.000 Polen machte die
zweitgrößte Gruppe aus, gefolgt von 700 Ruthenen, 530 Italienern und etwa 520
Tschechen. Die Magyaren nehmen sich sehr bescheiden aus mit „85 Seelen“.4
Interessanterweise sind in dieser Auflistung keine Kroaten, aber auch keine
Serben angeführt. Dabei hätten diese beiden Gruppen schon aufgrund ihrer
vermehrten Hinzuziehung zu k. u. k. Verwaltungsdiensten, ihrer Sprache und
der geografischen Nähe einen beträchtlichen Teil ausmachen müssen. Es lohnt
daher, über die Brockhaus-Phrase „unter einem fremde Volke“ nachzudenken.
Konnten die Bewohnerinnen und Bewohner dieses bis 1908 formell unter Os-

2 Siehe beispielsweise die Korrespondenzen und Situationsberichte in den Beständen des


(Reichs)Kriegsministeriums und aus dem Konsulatsarchiv im Österreichischen Staats-
archiv/Kriegsarchiv und Haus-, Hof- und Staatsarchiv.
3 N.N.: Kolonien. In: Brockhaus Konversationslexikon: Mannheim: Brockhaus 141894–
1896, pp. 507–508, hier p. 507.
4 Magyar Országos Levéltár, I 67 Bécsi Levéltárokból Kiszolgáltatott Iratok, Thalloczy La-
jos közöspénzügy-minisztériumi osztályfönök hagyatéka, Kt. 1, Konv. X, Mappe 8, Stand
der Ansiedler in Bosnien-Herzegowina mit Ende 1900, Verhältnis nach Nationalitäten
und Konfessionen.

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48 Tamara Scheer

manischer Herrschaft stehenden Gebietes in Summe als „fremd“ bezeichnet


werden? Bereits vereinnahmt durch den Zeitgeist der nationalen Zugehörig-
keit durch gemeinsamen Sprachgebrauch, waren die im Okkupationsgebiet an-
sässigen Kroaten (bzw. zum Teil auch orthodoxe Serben) in der Fremd- und in
der Eigenzuschreibung Eigene. Die einzig wirklich Fremden waren die Muslime,
aber eher nach der Religion denn nach der ethnischen-sprachlichen Zugehörig-
keit. Für sie war die neue Herrschaft tatsächlich ein „fremdes Volk“. Und noch
etwas teilten sich die neuen Herrscher und die Bevölkerung: Robert Donia ver-
weist in seinem Beitrag auf das „erwachende Nationalbewusstsein“.
Der Brockhaus bot aber noch eine weitere Definition der Kolonie an:
Enger ist der völkerrechtliche Begriff der K., worunter nur solche Niederlassungen
zu verstehen sind, die in einer staatsrechtlichen oder völkerrechtlichen Abhängigkeit
vom Mutterlande stehen. Nach dem Grade der Abhängigkeit sind hier zu trennen: 1)
eigentliche K., d. h. überseeische Provinzen eines europ. Staates, welche seiner Souve-
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ränität völlig unterworfen sind; 2) Protektoratsländer, d. h. überseeische Gebiete mit


staatlicher Organisation, über welche ein europ. Staat die Schutzherrschaft ausübt
[…]; 3) Interessensphären (s. d.) oder Machtsphären.

Nach der völkerrechtlichen Definition ging es nicht um Personengruppen, son-


dern um einen Rechtsstatus zwischen einem ‘Mutterland’ und einem anderen,
geografisch separierten Gebiet. Zwar lässt sich Bosnien-Herzegowina nicht un-
bedingt den ersten beiden Punkten zuordnen, denn hier ging es ausschließlich
um aus europäischer Sicht „überseeische“ Territorien, aber in jedem Fall unter
Punkt 3. Es war Macht- und Interessenssphäre; allerdings ist das ‘Mutterland’
nicht ganz eindeutig. Die besondere Staatsform nach dem Ausgleich ergab ei-
gentlich zwei Mutterländer, die mit unterschiedlichen Interessen im Okkupa-
tionsgebiet wirksam wurden und konkurrierten. Als drittes Mutterland könnten
hier noch die „Reichsinstitutionen“, also die gemeinsamen Behörden angeführt
werden, welche die eigentlichen vor Ort einflussreichen waren. Gleichzeitig
wurden Bosnien und die Herzegowina aber auch zu einer Macht- und Interes-
sensphäre der heterogenen Kolonisten, die je nach Bedarf und Möglichkeit bei
einem dieser drei ‘Mutterländer’ um Unterstützung ansuchten.5
Einen großen Unterschied zur Kolonie nach der Brockhaus-Definition wies
Bosnien-Herzegowina in jedem Fall auf. ‘Überseeische’ Kolonien hatten durch
ihre geografisch weit entfernte Lage zum ‘Mutterland’ einen weitaus geringeren
Kontakt. Der Durchschnitts-Londoner bekam Inder oder Indigene aus Amerika
und Australien so gut wie niemals zu Gesicht, geschweige denn reisten sie selbst
in deren Heimat. Kultureller Kontakt und eventueller Austausch beschränkten

5 Vgl. dazu den Beitrag von Carl Bethke.

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“49

sich auf ein Minimum, auf Güter und einzelne Personen. Bosnien-Herzegowina
hingegen grenzte direkt sowohl an Österreich (Dalmatien) als auch an Ungarn
bzw. Kroatien.
Durch die Einführung des Militärdienstes 1881/82 in Bosnien-Herzegowina
fanden sich schließlich tausende Männer als sog. „Landeskinder“ vom vollende-
ten 20. Lebensjahre an zu dreijährigem Dienst in den Städten der Habsbur-
germonarchie wieder. Sie taten diesen dreijährigen Dienst vor allem in den
Hauptstädten Budapest und Wien und nicht etwa in irgendeinem Provinznest.
Der Schriftsteller und k. u. k. Offizier Robert Michel lernt die Bosniern von den
vielen hunderten Soldaten in Wien kennen und schätzen.6 Er widmete beinahe
alle seine Werke dem Okkupationsgebiet – entweder aus der Perspektive der
Okkupanten oder vielfach aus der Perspektive der Bewohner/innen. Im Brief
des Rekruten Mustajbegović lässt er diesen sagen: „Weißt du, Rezagić [der Korpo-
ral] ist ein Mensch, vor dem ich den allergrößten Respekt habe, einem General
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könnte ich eher den Gehorsam verweigern als ihm. Bei uns zu Hause soll er nur
ein armer Kerl sein, in der Uniform jedoch sieht er aus wie ein Held.“7
Es gab auch keine eklatante Sprachbarriere zwischen den Mutterländern und
Bosnien-Herzegowina, wie dies in den ‘überseeischen’ Kolonien der Fall war.
Mit Ausnahme von geringen dialektalen Unterschieden konnte die Bevölke-
rung Bosnien-Herzegowinas mit dem kakanischen Nachbarn kommunizieren –
anders war dies schon mit den meisten Ansiedlern, wenn diese nur deutsch,
ungarisch, polnisch oder italienisch sprachen. Dennoch, eine wechselseitige
Integration war in diesem Fall weitaus einfacher. Dass diese auch sprachlich
stattfand, also die deutschen Begriffe der Okkupatoren rasch in den lokalen
Sprachgebrauch übernommen wurden, zeigt Nedad Memić in seinem Artikel
auf.
Der Brockhaus aber bot auch Kategorisierungen innerhalb der Kolonien an,
die nach ihrer „Entstehungsursache und wirtschaftlichen Eigenart“ unterschie-
den wurden: „1) Eroberungskolonien. Sie werden begründet durch Eroberung
mit Waffengewalt und sind stets auf die Beherrschung und Ausbeutung des
unterworfenen Volks gerichtet.“ Nach k. u. k. Militärdiktus hatte es sich bei dem
Feldzug im Jahr 1878 um eine kriegsmäßige Operation gehandelt, für den dem-
entsprechend Dekorationen an Offiziere und Soldaten vergeben wurden. Mein
Mitherausgeber Clemens Ruthner zitiert Schriftgut der damals Beteiligten, wo-
nach es „keineswegs ein bewaffneter Spaziergang war, sondern einen harten
Kampf darstellte; angesichts der erlittenen Verluste sei es adäquater, von einer

6 Österreichische Nationalbibliothek/Literaturarchiv, Nachlass Robert Michel, Kt. 125/99:


div. autobiografische Manuskripte.
7 Michel, Robert: Auf der Südbastion unseres Reiches. Leipzig: Inselverlag 1915, p. 57.

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50 Tamara Scheer

Eroberung […] zu sprechen.“ Dabei ging es, wie Raymond Detrez in seinem Bei-
trag zu unserem Sammelband anführt, auch um den Drang Österreich-Ungarns,
den europäischen Großmachtstatus aufgrund mangelnder Kolonien nicht zu
verlieren.
Der Brockhaus nennt nun als zweite Art der Kolonie die „Ackerbaukolo-
nie“. Die Definition ist hier weniger interessant als deren Resultat, wonach „in
Anpassung an die klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des neuen
Landes wachsen hier die Kolonisten früher oder später zu einer selbständigen
Nation heran, die sich bald auch politisch vom Mutterlande unabhängig zu ma-
chen sucht.“8 Tatsächlich wuchsen die Ansiedler in diesem Fall zu keiner Na-
tion heran unter Verdrängung der einheimischen Bevölkerung. Sie blieben die
Fremden, die sog. Kuferaši und Schwabas. Zu einer Nation aber sollte gemäß der
Vorstellungen von Teilen der neuen Herrscher die Bevölkerung heranwachsen.
Nach Robin Okey und Imre Ress sollte der lokale „Balkan nationalism“ dadurch
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„gezähmt“ werden, indem Kroaten nicht zu Kroaten werden und Serben nicht
zu Serben, sondern diese gemeinsam mit den Muslimen eine bosnische Nation
bilden sollten.9
Unabhängig davon, ob nach der Brockhaus-Definition Bosnien-Herzegowina
einer Kolonie gleich kam, gilt es zu fragen, ob in den Köpfen der Beteiligten,
ihrem mental mapping, das Okkupationsgebiet als Kolonie angesehen wurde.
In derselben Ausgabe des Brockhaus findet sich unter dem Stichwort „Bos-
nien-Herzegowina“ eine Zuschreibung als Kolonie niemals erwähnt. Der Brock-
haus beendete seine Kolonie-Definition übrigens mit deren „Bedeutung“: „Aller-
dings birgt eine energische Kolonialpolitik bei dem Wetteifer aller Mächte die
Gefahr von polit. Verwicklungen und Kriegen in sich“.10 Unabhängig vom Zwist
zwischen den beiden Reichsteilen, bei dem Anfang des 20. Jahrhunderts fast ein
Krieg greifbar schien, und den nationalen Unabhängigkeitskonzepten, nahm
der Erste Weltkrieg schließlich in der Hauptstadt der ‘Kolonie’ seinen Ausgang.
Zwar findet sich im Brockhaus unter Bosnien-Herzegowina keine Zuschrei-
bung als Kolonie, aber das Wort findet doch Erwähnung: „Ein 1885 mit Welsch-
tirolern unternommener Kolonisationsversuch hatte keinen Erfolg; dagegen
sind spätere gleichartige Unternehmungen mit württemb. und österr. Bauern

8 Genannt sind noch 3) Handelskolonien, 4) Pflanzungs- oder Plantagenkolonien, sowie 5)


die Verbrecher- oder Strafkolonien.
9 Ress, Imre: Versuch einer Nationenbildung um die Jahrhundertwende. Benjámin Kállays
Konzeption der bosnischen Nation. In: Kiss, Endre / Stagl, Justin (Hg.): Nation und Natio-
nenbildung in Österreich-Ungarn, 1848–1938. Prinzipien und Methoden. Wien: LIT 2006
(= Soziologie Forschung und Wissenschaft 21), pp. 59–72; Okey, Robin: Taming Balkan
Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission' in Bosnia, 1878–1914. Oxford: OUP 2007.
10 Brockhaus 1894–1896, vol. 10, p. 508.

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“51

im besten Gedeihen.“11 Es geht demnach nicht um den Rechtsstatus, sondern


um Ansiedlungspolitik. Während in den Verwaltungsquellen Bosnien-Herze-
gowina fast ausschließlich nicht nach seinem geografischen Namen, sondern
als besetztes oder Okkupationsgebiet bezeichnet wird, findet sich im Zusam-
menhang doch der Begriff in abgewandelter Form wieder. ‘Kolonisieren’ bzw.
‘Kolonisierungstätigkeit’ umfasst aber nicht nur die Motivation von Ansiedlern,
sondern wird beinahe synonym verwendet im Zusammenhang mit der Moder-
nisierungstätigkeit oder, wie es oft heißt, der „Kulturmission“. Auch der Begriff
Europäisierung findet sich in den zeitgenössischen Quellen.
Auch der Brockhaus verweist auf ein Bündel an kulturpolitischen Maßnah-
men – allerdings ohne den Begriff selbst anzustrengen:
Seit dieser Zeit suchte die Regierung mit Erfolg Ruhe und Ordnung herzustellen, die
Verwaltung zu organisieren, den materiellen Zustand des Landes zu heben und be-
sonders die agrarischen Verhältnisse und die Beziehungen zwischen den Grundherren
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und Bauern zu ordnen, ohne durch einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit
die verschiedenen Klassen der Bevölkerung aufzuregen.12

Diese Kolonisierung oder Modernisierung ist jenes Narrativ, das in den zeitge-
nössischen Quellen über Gebühr strapaziert wurde. Franz Baron Nopcsa etwa
schreibt: „In Sarajevo elektrische Tramway, elektrische Beleuchtung und alles
‘fin de siècle’, Straßenpflaster sehr variabel, Makadam, Asphalt, Steinpflaster,
Rollsteine und gar kein Pflaster. […] Moderne Häuser schießen wie Pilze oder
Riesen zwischen den Bretterbuden hervor, diese verschwinden, aber modifi-
zieren sich nicht.“13 Wolfgang Müller-Funk bespricht Ivo Andrićs Brücke über
die Drina, in dem dieser Topos ebenfalls bemüht wird: „eine Karawanserei, die
erst in der Zeit der österreichischen Besatzung endgültig verschwindet und
durch eine Kaserne ersetzt wird, das Hotel der galizischen Jüdin Lottika, die
mit der österreichisch-ungarischen Armee ins Land kommt, Kaffeehäuser und
Geschäfte.“ Der k. u. k. Offizier und Schriftsteller Alexander Roda Roda erkannte
darin – natürlich überspitzt formuliert, aber dennoch nicht ohne Realitӓtsbezug,
wie Quellen und Fotografien aus dieser Zeit deutlich zeigen – eine typische
ӧsterreichische Form der Kolonisierung:
– Wie aber Österreich sich in seiner Kolonie anstellte?
Nun, ihr habt ja östreichische Art im Weltkrieg genügsam gesehen: Wenn die Östrei-
cher eine Stellung genommen hatten, befestigten sie sie nur flüchtig; dann bauten sie

11 Ibid., 3. Band, pp. 339–343, hier p. 343.


12 Brockhaus 1894–1896, vol. 3, p. 343.
13 Elsie, Robert (Hg.): Reisen in den Balkan. Die Lebenserinnerungen des Franz Baron
Nopcsa. London: Centre for Albanian Studies 2015 (= Albanian Studies 11), p. 9.

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52 Tamara Scheer

mit ungeheurem Aufwand von Zeit und Menschenarmeen: ein Erholungsheim für
Offiziere; ein Gärtchen davor mit dem Namenszug des Kaisers, zusammengesetzt aus
viel Tausenden von Granatsplittern. Und so verwalteten sie Bosnien: die dringlichsten
Fragen lösten sie nicht, doch schöne Gasthöfe errichteten sie für den Fremdenverkehr,
Rennplätze, Badeorte, Ratspaläste.14

2. Reichsbestandteil
Der Leiter des Landesmuseums in Sarajevo, der aus Böhmen gebürtige Carl
Patsch, griff ebenso wie viele vor und nach ihm das oben genannten Motiv der
Kolonisierung/Modernisierung auf: „Aber nicht allein das aneifernde Vorbild
des obersten Chefs kam dem Museum zustatten, sondern auch die allgemeine
uneigennützige Freude, welche die gesamte, aus allen Völkern der Monarchie
bestehende Beamtenschaft aller Grade an dem Aufblühen des bis dahin ver-
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nachlässigten, straßenlosen, unsicheren Landes hatte; jeder war bestrebt, sein


Bestes für Neuösterreich zu leisten.“15 Patsch führt eine bislang hier noch nicht
genannte Zuschreibung an – Neu-Österreich – ohne den Begriff näher auszu-
führen. Ein Blick in die Presse zeigt, dass dies offenbar zu seiner Zeit auch nicht
nötig war. Besonders im Jahr der Okkupation aber auch danach umfasste dieser
Begriff Österreich-Ungarns „Vaterlandsvergrößerungs-Politik“, womit nicht nur
Bosnien-Herzegowina, sondern auch der Sandschak von Novi Pazar gemeint
war.16 Die Pilsner Abendpost betitelte ihre Nachrichten aus Bosnien-Herzego-
wina gleich mit „Aus Neuösterreich“.17
War diese Bezeichnung eventuell alles, nur nicht ganz ernst gemeint, bzw.
bezog sie sich nur auf eine Anklage der angeblich auf Expansion ausgerichteten
Außenpolitik? Oder steckte mehr dahinter? Deutete der Begriff Neu-Österreich
eventuell auch darauf hin, dass es sich um einen neuen integralen Bestandteil
des Reichs handelte? Oder ist es mehr in Anlehnung an überseeische Kolonien
und Ansiedelungen, bei denen ebenfalls gerne das Präfix ‘neu’ Verwendung
fand (wohl nirgendwo noch heute so deutlich wie in New York)?
Neben dem Begriff „Neu-Österreich“ wurde noch eine weitere Zuschreibung
häufig in der Presse verwendet. Am 4. Juni 1908, also einige Monate vor der An-
nexion Bosniens und der Herzegowina, erschien in der deutschsprachigen sati-

14 Roda Roda: Roda Rodas Roman. Wien: Zsolnay 1950, p. 473.


15 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Südost-Institut, 14.5: Nachlass Carl Patsch, Nr. 261: Auto-
biografie (Manuskript, 161 pp.) [nach 1935], p. 61. Ich danke Dejan Zadro für die Zurver-
fügungstellung seiner Abschrift.
16 N.N.: Ein zweites Ministerium des Äußern. In: Teplitz-Schönauer Anzeiger, 8.2.1879, pp.
1–2, hier p. 1.
17 N.N.: Aus Neuösterreich. In: Pilsner Abendpost, 19.2.1879, p. 2.

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“53

rischen Wochenschrift Die Muskete ein Sonderheft betitelt mit „Unsere Reichs-
lande“. Es geht ausschließlich um Bosnien-Herzegowina, welches so namentlich
nicht angeführt wurde.18 Dies lässt darauf schließen, dass den Lesenden sofort
klar war, um welches Gebiet es sich handeln musste. Es folgten jede Menge An-
ekdoten und Schwänke aus Bosnien-Herzegowina, garniert mit Stereotypen der
Bevölkerung und der eigenen Verwaltung. Natürlich satirisch ironisch gemeint,
in dem Sinne, was ‘noch alles zu uns dazu gehört’, aber durchaus auch kritisch,
wie sich die „Reichsverwaltung“ ausnimmt – oft unter Beteiligung der Bevölke-
rung. (Die darauf folgenden Sondernummern widmeten sich Wien und Tirol.)
Bosnien-Herzegowina in der Presse als „Unsere Reichslande“ zu bezeichnen
war seit der Okkupation eine gängige Praxis. Während die Sondernummer der
Muskete knapp vor der Annexion erschien, wurde der Begriff ab September 1908
in der Presse umso häufiger verwendet. Die Czernowitzer Allgemeine Zeitung
führte unter dem Titel „Unser Reichsland“ aus:
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Als im Jahre 1878 die österreichischen Truppen […] einmarschiert waren, gewöhnte
man sich bald daran, dieses Gebiet als österreichisches Reichsland zu betrachten und
es erschien immer nur als eine Frage der Zeit und Gelegenheit, dass man dem Kinde
seinen Namen geben würde. Diese Gelegenheit hat sich jetzt ergeben und mit dem
heutigen Tage sind die beiden ehemaligen türkischen Provinzen wirklich österreichi-
sches Reichsland geworden.19

Der „Reichsland“-Terminus spiegelte aber auch erneut die zwei „Mutterländer“


Bosnien-Herzegowinas wider (obwohl das Zitat nur von Österreich spricht). Das
Badener Bezirks-Blatt fragte einige Jahre nach der Okkupation nach: „Vor allem,
wohin soll ‘Neu-Oesterreich’ eigentlich fallen? Soll es ‘Reichsland’ werden, wie
Elsass-Lothringen?“20 Dazu passend auch der Eintrag in Meyers Konversations-
lexikon zu „Reichslande“: „Alles zum ehemaligen Deutschen Reiche gehörige
Gebiet, wozu außer den eigentlichen deutschen Ländern auch Böhmen, Mähren
und Schlesien gehörten. In neuester Zeit erhielten die im Krieg von 1870/71
für Deutschland wiedergewonnenen Gebiete von Elsaß und Deutsch-Lothrin-
gen den Namen ‘deutsches Reichsland’.“21 Dieser Verweis bezeichnet demnach
einen Rechtsstatus eines Gebietes in Bezug auf das Reich/Mutterland, das durch
seine nicht integrierte und zeitlich unterbrochene Zugehörigkeit charakterisiert
ist, aber auch durch seine kriegsmäßige Gewinnung (bzw. aus ungarischer Sicht
durchaus: Wiedergewinnung).

18 Autorenkollektiv: Sondernummer: Unsere Reichslande (= Die Muskete, 4.6.1908).


19 N.N.: Unser Reichsland. In: Czernowitzer Allgemeine Zeitung, 9.10.1908, p. 2.
20 N.N.: Neu-Oesterreich. In: Badener Bezirks-Blatt, 10.9.1885, pp. 1–2, hier p. 1.
21 N.N.: Reichslande. In: Meyers Konversationslexikon. Leipzig, Wien: Verlag des Biblio-
grafischen Inst. 41885–1892, vol 13, p. 684.

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54 Tamara Scheer

Schien also Bosnien-Herzegowina zumindest im mental mapping der ironi-


schen und politisch kritischen deutschsprachigen Öffentlichkeit „Reichsland“ zu
sein, gilt es danach zu fragen, ob sich dieser integrale Charakter auch in anderen
(Reichs-)Situationen fassen lässt? In seinem Ersten-Weltkriegs-Roman lässt Jo-
sef Wittlin seine Hauptfigur, einen Soldaten aus dem österreichischen Galizien,
bei seiner Eisenbahnfahrt nach Ungarn den Ausspruch tätigen: „Niemand aus
der Masse der Reisenden, die zum ersten Male im Leben unentgeltlich fahren
durften, wusste, wohin er fuhr. Alle wussten nur eines: nach Ungarn, wo die
Leute Paprika fressen und wo Seine Majestät nur ein König ist.“22 Unabhängig
vom Rechtstatus war für diese bahnreisenden Zeitgenossen dort Österreich oder
‘das Reich’, wo der Monarch als Kaiser herrschte.
In Bosnien-Herzegowina war Franz Joseph (oder besser, in der Landesspra-
che: Franjo Josip) stets der car (Kaiser) und nicht etwa der kralj (König) aus
Beč. Unzählige Autoren von Memoiren und Tagebücher, wie auch der k. u. k.
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Offizier Rudolf Giay, verweisen darauf. Letzter gibt den Ruf der Menge in der
Moschee im ersten Kriegsjahr 1914 in Bratunac wieder. Der muslimische Pre-
diger, so Giay, sprach zunächst „kroatisch“ und endete mit: „Pfui Srbi, Abzug
Russija und Živio Car Franjo Josip!“.23 Es war aber nicht nur der Kaiser, der
Bosnien-Herzegowina zu einem direkt Wien und dem Monarchen unterste-
henden Teil machte, sondern auch die dort tätigen einflussreichsten Verwal-
tungsbehörden. Im Sprachgebrauch der dualistischen Monarchie waren dies die
nach dem Ausgleich einzig verblieben gemeinsamen Reichs-Institutionen: das
Reichskriegsministerium, das aber später seinen Namen in Kriegsministerium
ändern sollte, sowie das gemeinsame Finanzministerium. Beide Minister waren
lediglich dem Monarchen und den „Delegationen“, wie die regelmäßigen Tref-
fen von Österreichs und Ungarns Regierungsspitzen hießen, verantwortlich.
Österreichische und ungarische Ministerien waren nicht maßgeblich, und noch
eine Besonderheit charakterisierte die Reichsunmittelbarkeit Bosniens und der
Herzegowina: der Armeedienst. Neben der gemeinsamen Armee konnten Ös-
terreicher und Ungarn auch in die Landwehr bzw. Honvéd eingeteilt werden,
nicht so die männliche Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina; sie diente
ausschließlich in der k. u. k. Armee oder in der Reichskriegsmarine. Sie konnte
also nur als kaiserliche und königliche Soldaten dienen, kämpfen und sterben,
nicht aber als österreichische oder ungarische.
Die (Reichs-)Hauptstadt Wien war der Bevölkerung der besetzten Gebiete
weitaus näher als Budapest. Während Budapest im Verlauf der zweiten Hälfte

22 Wittlin, Joseph: Das Salz der Erde. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1969, p. 178.
23 Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv/Nachlasssammlung, Rudolf Giay, B/412, ins-
gesamt 6 Tagebücher (26.7.1914–14.11.1918), Tagebuch I, 26.7.-31.12.1914, 25.12.1914
Bratunac.

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“55

des 19. Jahrhundert nicht nur für Magyaren zum Dreh- und Angelpunkt wurde,
wurde Wien für Bosnien-Herzegowina zum faktischen Zentrum ihrer neuen
staatlichen Zugehörigkeit. Scheinbar alles ging von Wien aus, wenn man von ei-
nigen kulturpolitischen ungarischen Maßnahmen absieht. Die Muskete schildert
den durch seine Heimat paradierenden Urlauber in k. u. k. Uniform, dem auf der
Straße ein orthodoxer Priester begegnet. Dieser antwortet ihm wohl auf seine
Prahlerei in Wien zu dienen mit: ‘Ja, in Wien! Da hat mir einmal ein Amtsdiener
guten Tag gesagt!’ ‘Mein, mein Sohn – schneide nicht auf!’24
Gemäß dem Historiker Pieter M. Judson bildeten das Empire bzw. das Reich
weniger der Monarch und seine Bürokraten als vielmehr die Menschen, die
darin lebten, ihre eigenen Interessen verfolgten, es somit formten und letztlich
imaginierten.25 Wenn also Bosnien-Herzegowina doch „unsere Reichslande“
war, wer war in diesem Fall ‘wir’? Für die Österreicher oder besser österreichi-
schen Staatsbürger, dies zeigt die Presse, war es Teil des – zwar fremdartigen –
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Eigenen. Ein Bericht über einen Wiener Hofball im Jahr 1896 moniert nach
namentlicher Auflistung sämtlicher anwesender (Hoch)adeliger inklusive deren
Titel und Nationalität, dass es „schade“ sei, dass „kein einziger bosnischer Beg
an unsere Reichslande erinnert.“26 Die Bukowinaer Post berichtete 1895 über die
erste von einer Frau geleitete Zahnarztpraxis in Österreich-Ungarn: Die Ärztin
tue dies in „unsere[n] Reichslande[n] und die Culturbestrebungen derselben
sind stets des größten allgemeinen Interesses sicher.“27
Wenn Bosnien-Herzegowina also im mental mapping der österreichischen
Staatsbürger „unser Reichsland“ war, wie sieht es mit der Bevölkerung selbst
aus? Partizipierten sie an der Imagination des Reiches? Tatsächlich zeigen unse-
re Autorinnen und Autoren auf, dass die aktive politische Tätigkeit der Be-
völkerung im Steigen begriffen war, sich manche Interessen auch durchsetzen
ließen. Sie formten damit nicht nur Bosnien-Herzegowina, sondern auch das
Reich aktiv mit.
Selbstverständlich war ihre Beteiligung (etwa an gemeinsamen Institutionen)
weitaus geringer als jene der anderen Nationalitäten, aber sie stieg von Jahr zu
Jahr kontinuierlich an. Im Jahr 1905 machten sie – je nach Interpretation – erst
oder bereits 27,5 Prozent der Beamten aus.28 Häufiger wird allerdings auf de-

24 Schönpflug, Fritz: Der Urlauber. In: Die Muskete. Sonderheft: Unsere Reichslande,
4.6.1908, p. 8.
25 Siehe Judson, Pieter M.: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge, MA: Harvard
UP 2016.
26 N.N.: Der Hofball. In: Wiener Salonblatt, 19.1.1896, pp. 4–8, hier p. 5.
27 N.N.: Der erste weibliche Zahnarzt in Österreich-Ungarn. In: Bukowinaer Post, 1.10.1895,
p. 3.
28 Vgl. Okey, Robin: Mlada Bosna. The Educational and Cultural Context. In: Cornwall,
Mark (Hg.): Sarajevo 1914. Spark and Impact. London: Bloomsbury Academic Pr. i.V.

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56 Tamara Scheer

ren Marginalisierung verwiesen, da es bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige in


leitende Positionen schafften. Es gilt allerdings mit zu berücksichtigen, dass es
mehr als nur ein paar Jahre braucht, um in eine neue Herrschaftspraxis hinein-
zuwachsen und in dieser Karriere zu machen. Tatsächlich gab es bei Ausbruch
des Ersten Weltkriegs einige bosnisch-herzegowinische Offiziere, in durchaus
höherer Stellung und mit delikaten Angelegenheiten befasst. Šerif Kosmić ist
ein gutes Beispiel: Er war einer jener bosnischen Muslime, der die osmanische
Herrschaft nicht mehr selbst miterlebt hatte. Er wurde nur wenige Jahre nach
der Okkupation durch Österreich-Ungarn am 18. August 1881 nahe der Stadt
Jajce geboren. Als Sohn eines Grundbesitzers besuchte er die Schule in Sarajevo
und lebte dort im k. u. k. Militärknabenpensionat. Danach absolvierte er mit
gutem Erfolg die Infanterie-Cadettenschule in Liebenau bei Graz und wurde
1901 in die k. u. k. Armee übernommen.29 Während des Ersten Weltkriegs diente
Kosmić im besetzten Serbien in der Nachrichtenabteilung – eine heikle Aufgabe,
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die nur jemandem übertragen werden konnte, der als unbedingt loyal galt.30
Die Bevölkerung wurde auch immer mehr zu einem aktiven politischen Fak-
tor, die ihre eigenen – oft unterschiedlichen – Interessen formulierte, publizier-
te, gezielt verfolgte und innerhalb des rechtlichen Rahmens erfolgreich durch-
setzte. Aydin Babuna (am Beispiel der muslimischen Bevölkerung) und Stijn
Vervaet (am Beispiel der serbisch/orthodoxen Zeitschrift Bosanska vila) zeigen
die Neu-Österreicher als aktive politische Akteure. Man könnte also durchaus
vermuten, dass lediglich der Faktor Zeit verhinderte, dass sich Bosnien-Herze-
gowina auch faktisch – nicht nur in der Zuschreibung – von einer Kolonie in ein
Reichsland wandelte, wie dies vor ihm schon andere habsburgische Neuzugänge
getan hatten. Auch so integrale Bestandteile wie Dalmatien und Salzburg fielen
erst spät an die Habsburgermonarchie und kaum jemand hätte diese im späten
19. Jahrhundert mehr als Kolonie oder Neuösterreich bezeichnet.

Schlussbemerkung: Liegt das Reich in der Kolonie?


Die Beiträge im vorliegenden Sammelband zeigen, dass der Status oder die Rolle
Bosniens und der Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Ära schwer

29 Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv, Qualifikationslisten, Scherif Kosmić, geb.


18.8.1881 Volar, Bezirk Jajce. Vgl. auch Scheer, Tamara: Lebenskonzepte, politische Natio-
nenbildung, Identitäten und Loyalitäten in Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowi-
na. In: Geyer, Michael / Lethen, Helmuth / Musner, Lutz (Hg.): Zeitalter der Gewalt. Zur
Geopolitik und Psychopolitik des Ersten Weltkrieges. Frankfurt/M.: Campus 2014, pp.
177–198.
30 Hadtörténelmi Levéltár Budapest, Manuskripte, Nr. 309: Carnegie Report von Hugo
Kerchnawe, datiert: 1922, Beilage: Organisation der Nachrichtenabteilung des Militär-
generalgouvernements Serbien, 20.9.1917.

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„Kolonie“ – „Neu-Österreich“ – „Reichsland(e)“57

fassbar ist. Dies mag noch einfacher sein, wenn wir bloß aus einer einzigen Per-
spektive die Quellen betrachten, etwa nur die offiziell publizierten staatlichen
heranziehen bzw. die Benennung der zuständigen Institutionen. Wobei auch be-
reits hier die unterschiedlichen Akteure – gemeinsame Ministerien, Militär und
ungarische Politik – unterschiedliche Interessen vertraten und Schlagwörter
anstrengten und sich diese über den langen Zeitraum auch durchaus wandel-
ten. Noch komplexer wird es, wenn wir versuchen, die einzelnen Perspektiven
der so heterogenen Beteiligten zu erfassen: Die Zugezogenen aus allen Teilen
der Habsburgermonarchie verstanden den Status ihrer neuen Heimat und auch
ihren eigenen sicher anders als die autochthone heterogene Bevölkerung.
Bosnien-Herzegowina war die Summe dieser Zuschreibungen und war es
wieder nicht. Es war eine Irgendwie-Kolonie und gleichzeitig neues Reichsland.
Es war nach Babuna „Niemandsland“, und hätte die k. u. k. Herrschaft länger
gedauert, wären sicherlich noch weitere Zuschreibungen hinzugekommen oder
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alte weggefallen. Eingedenk der besonderen Staatsform nach dem Ausgleich


wäre durchaus die Frage erlaubt, ob es nicht aufgrund der offen deklarierten
politischen Absichten nicht gleichzeitig eine königliche-ungarische Kolonie
und ein österreichisches Reichsland war. Franziska Zauggs Beitrag in diesem
Sammelband zeigt, dass es auch noch Jahrzehnte später, während des nächs-
ten großen Krieges, bei der Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina eine
Identifikation (durchaus aus politischem Kalkül, aber immerhin) mit der k. u. k.
Zeit gegeben hat. Und dies, obwohl nach Ansicht vieler Historiker/innen und
Zeitgenossen das Reich bzw. empire bereits mit dem Ausgleich 1867 zu Bestehen
aufgehört hatte; aber das ist eine andere Geschichte.

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und
Konfliktzone zwischen Habsburg und Hoher Pforte,
1688–1869

Martin Gabriel (Klagenfurt)

Bosnien-Herzegowina im Zeitalter der habsburgischen


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„Türkenkriege“

Das habsburgische Interesse an einer Einverleibung der osmanisch beherrsch-


ten Provinzen Bosnien und Herzegowina kann bis in das späte 17. Jahrhundert
zurückverfolgt werden. Während der „Türkenkriege“ drangen kaiserliche Feld-
herrn mehrmals dorthin vor. Ludwig von Baden marschierte im Jahre 1688 bis
Banja Luka und Zvornik, 1691 wurden nach einem Einfall etwa 3.000 ursprüng-
lich aus dem Gebiet um Dolnja Tuzla stammende Katholiken nach Südungarn
umgesiedelt;1 wesentlich bekannter ist aber der auf die für die habsburgischen
Truppen siegreiche Schlacht bei Zenta im Jahre 1697 folgende Vorstoß des Prin-
zen Eugen nach Sarajevo, von dem er in seinem Journal de la marche en Bosnie2
Zeugnis ablegte. Die Stadt wurde nach einem Überfall auf Unterhändler des
Feldherrn zur Plünderung freigegeben und brannte völlig nieder.3 Für eine Be-
setzung Bosniens waren Eugens Kräfte (zu Beginn der Operation ca. 6.500 In-
fanteristen und Kavalleristen mit Artillerie)4 klarerweise viel zu schwach und
so blieb das Unternehmen Episode, wenn auch eine symbolträchtige: geschätzte

1 Vgl. Südland, L. v. (= Pilar, Ivo): Die südslawische Frage und der Weltkrieg. Übersichtliche
Darstellung des Gesamt-Problems. Wien: Manz 1918, p. 210.
2 Eine deutschsprachige Übersetzung findet sich in: Österreichische Militärische Zeitschrift 1
(1808), pp. 325–345.
3 Vgl. Sosnosky, Theodor von: Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns seit 1866. Bd. 1. Stutt-
gart: DVA 1913, p. 127f.
4 Vgl. Herre, Franz: Prinz Eugen. Europas heimlicher Herrscher. Bergisch-Gladbach: Bastei
Lübbe 2000, p. 69.

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62 Martin Gabriel

40.000 bosnische Katholiken aus der Umgebung Sarajevos folgten den Truppen
des Prinzen auf österreichisches Gebiet.5
Ob bereits Wallenstein im Jahre 1626 ‒ anlässlich der Verfolgung des pro-
testantischen Heerführers Ernst von Mansfeld nach Bosnien ‒ daran gedacht
hatte, das Gebiet südlich der Save für den Kaiser zu gewinnen, kann heute nicht
mehr mit Sicherheit gesagt werden.6 Unter Kaiser Leopold I. gab es zwar Über-
legungen, das Gebiet zwischen der Adriaküste und den Donaumündungen zu
gewinnen, zu einer praktischen Umsetzung dieser Pläne kam es jedoch nicht.7
Seit dem Frieden von Karlowitz (Sremski Karlovci) im Jahre 1699 wurde die
Inbesitznahme Bosniens ernsthafter in Betracht gezogen und der Friede von
Passarowitz (Požarevac) 1718 brachte der Habsburger Monarchie – neben eini-
gen anderen bisher osmanischen Gebieten – auch den Besitz eines an der Save
gelegenen Teils von Bosnien; dieser ging jedoch im Frieden von Belgrad 1739
wieder verloren.8 Während unter Maria Theresia keine besonderen Anstren-
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gungen zur Einverleibung Bosniens unternommen wurden, widmete Kaiser


Joseph II. dieser Thematik deutlich mehr Aufmerksamkeit – besonders in den
Jahren 1770 bis 1774 sowie 1789 bis 1791 war der Gedanke an eine Ausdehnung
im Südosten deutlich spürbar.
Während des so genannten „Fünften Russischen Türkenkrieges“ führte ein
Offizier der im Hafen von Livorno vor Anker gegangenen russischen Mittel-
meerflotte des Grafen Alexej Orlov9 1771 Gespräche mit Großherzog Leopold
von Toskana, in denen eine mögliche Aufteilung des Osmanischen Reiches und
die Inbesitznahme von Serbien und Bosnien durch die Habsburger Monarchie
besprochen wurden.10 1772 kam es zu Absprachen zwischen Österreich, Preu-
ßen und Russland, laut denen die Habsburger Monarchie Osmanisch-Dalmatien,

5 Vgl. Bauer, Ernest: Zwischen Halbmond und Doppeladler. 40 Jahre österreichische Ver-
waltung in Bosnien-Herzegowina. Wien, München: Herold 1971, p. 33. Dass dieser Ex-
odus wohl auch aus Furcht vor Vergeltung erfolgte, kann angenommen werden; vgl.
Ančić, Mladen: Society, Ethnicity, and Politics in Bosnia-Herzegovina. In: Časopis za suv-
remenu povijest 36/1 (2004), pp. 331–359, p. 338, Anm. 24.
6 Vgl. Novotny, Alexander: Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses
1878. Bd. 1: Österreich, die Türkei und das Balkanproblem im Jahre des Berliner Kongres-
ses (= Veröff. der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 44). Graz: Böhlau 1957,
p. 15.
7 Ibid.
8 Vgl. Sosnosky 1913, p. 128.
9 Unter Orlovs Kommando hatte die russische Marine der osmanischen Flotte im Juli 1770
in der Seeschlacht von Çeşme eine vernichtende Niederlage zugefügt. Siehe dazu u. a.
İsipek, Ali Riza / Oğuz, Aydemir: 1768–1774 Ottoman-Russian Wars. Battle of Cesme
1770. Istanbul: Denizler Kitabevi 2010.
10 Vgl. Roider, Karl A.: Austria’s Eastern Question 1700–1790. Princeton: Princeton Univ. Pr.
1982, p. 131.

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 63

Serbien und Bosnien erhalten sollte, während die beiden anderen Mächte ter-
ritoriale Erweiterungen in Deutschland respektive Polen erwarten konnten.11
Vier Jahre später gab Staatskanzler Kaunitz-Rietberg französischen Vertretern
gegenüber an, dass Österreich, falls es Russland bei der Zerschlagung des Os-
manischen Reiches unterstütze, auf den Gewinn von Osmanisch-Dalmatien,
Kroatien, Bosnien, Serbien, der Walachei und der Moldau sowie vielleicht auch
noch anderer Provinzen rechnen könnte, eine derartige Politik für ihn aber
nicht akzeptabel sei.12 Spätestens seit 1774, als das Osmanische Reich im Frie-
densvertrag von Küçük Kaynarca russischen Schiffen das Durchfahrtsrecht
durch die Meerengen und dem Zaren das Protektionsrecht für die orthodoxen
Christen hatte zugestehen müssen,13 erwuchs der Habsburger Monarchie ein
neuer Hauptkonkurrent in der Frage einer möglichen Ausdehnung auf Kos-
ten der Hohen Pforte, wobei aber etwa 1783 auch Überlegungen für ein öster-
reichisch-russisches Bündnis angestellt wurden, von dem sich die Habsburger
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Monarchie Gebietszuwächse im nördlichen Bosnien (bis an die Unna) und an


der dalmatinischen Küste erhoffte.14
1787 drangen kaiserliche Truppen im Zuge des letzten habsburgischen „Tür-
kenkrieges“ auf bosnisches Gebiet vor und die Erfahrungen, die hierbei gemacht
wurden, ähnelten durchaus jenen des Okkupationsfeldzuges von 1878: Man
fand ein äußerst ungünstiges Gelände vor, das die Führung und Versorgung
getrennt marschierender Verbände extrem behinderte, und hatte nur geringe
aktive Unterstützung seitens der christlichen Bevölkerung des Landes.15 Gene-

11 Ibid., p. 137.
12 Ibid., p. 153.- Dahinter stand die Befürchtung, dass das außenpolitisch eher passiv agie-
rende Osmanische Reich durch einen solchen Schachzug von einem aggressiver auftre-
tenden, vergrößerten Russland abgelöst werden würde.
13 Vgl. Quataert, Donald: The Ottoman Empire, 1700–1922. Cambridge: Cambridge Univ. Pr.
2000 (= New approaches to European history 17), p. 40.
14 Vgl. Kulenkampff, Angela: Österreich und das Alte Reich. Die Reichspolitik des Staats-
kanzlers Kaunitz unter Maria Theresia und Joseph II. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005,
p. 106f.
15 Vgl. Novotny 1957, p. 16.- Zum Okkupationsfeldzug des Jahres 1878 siehe zuletzt u. a.
Gabriel, Martin: „Wir führen einen Krieg, wo man auf Gnade nicht hoffen darf…“ Irregu-
läre Kriegführung bei der Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878. In: Kakanien
revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/MGabriel1.pdf (2010). Der Kampf-
wert christlicher irregulärer Verbände während der Okkupation war äußerst unterschied-
lich: Die Miliz des Franziskanerpaters Ivan Musić bewährte sich bei den Gefechten in der
Herzegowina offenbar, während andere Verbände z. B. im Norden Bosniens in erster Linie
muslimische Zivilisten terrorisierten und ausplünderten (vgl. Bencze, László: The Occu-
pation of Bosnia and Herzegovina in 1878. Boulder: Social Science Monografs 2005 ­[= War
and Society in East Central Europe 39, Atlantic studies on society in change 126, East
European monografs 680], p. 104; Schreiber, Georg: Des Kaisers Reiterei. Österreichische
Kavallerie in vier Jahrhunderten. Wien: Speidel 1967, p. 266). Die Okkupationstruppen

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64 Martin Gabriel

rell galt schon damals, was österreichische Militärs auch 1878 propagierten: es
müsse „allen Bevölkerungstheilen mit Mißtrauen begegnet werden“.16 Der Ver-
zicht auf eine weitere Expansion auf dem Balkan durch den Frieden von Sistova
(Svištov) 1791 und die Passivität während des serbischen Aufstandes gegen die
Osmanenherrschaft (1804–1813) schwächten Österreichs Stellung als christliche
Schutzmacht enorm, und Eduard Rüffers Behauptung, „[d]ie letzten Sympathien
der Bosnier für Oesterreich, in dem sie früher ihren Befreier sahen, gingen ver-
loren, als sich der weise Metternich weigerte, während des Feldzuges von 1828
den Russen gegen die Türken Hülfe zu leisten,“17 dürfte zumindest im Fall der
orthodoxen Serben nicht ganz unzutreffend sein. Ob die Habsburger Monarchie
Serbien, Bosnien und die Herzegowina zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirk-
lich problemlos (d. h. ohne negative französische oder russische Reaktion) hätte
einnehmen können und die Untätigkeit lediglich daran lag, dass die politische
Führung nach den unerwarteten Misserfolgen des „Türkenkrieges“ 1788–1791
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reflexartig jede weitere Militäraktion vermeiden wollte, muss allerdings offen


bleiben.18

Die „Bosnische Frage“ unter dem Eindruck der Napoleonischen


Kriege

Tatsächlich gab es innerhalb der militärischen und politischen Führungskrei-


se der Monarchie speziell in der für Österreich schwierigen Lage der Jahre
1809/1810 – der Friede von Schönbrunn hatte dem Habsburgerreich große ter-
ritoriale Einbußen (ca. 83.000 km²) gebracht – durchaus Stimmen, die für eine
gemeinsam mit Frankreich durchgeführte Zerschlagung des Osmanischen Rei-
ches eintraten. Joseph Wenzel Graf Radetzky vertrat 1810 die Ansicht, die nach
(Süd-)Osten gerichteten Expansionsbestrebungen durch eine Allianz mit dem

operierten, wenn es um die Bekämpfung von „Räuberbanden“ ging, 1878 auch gemein-
sam mit bewaffneten muslimischen Milizen, so etwa im Raum Pale: KA Wien AFA 1878
HR 2430 X 28, 2 (Etappen-Kdo. Pale an Kdo. 6. Infanterietruppendivision, 14.10.1878).
16 KA Wien AFA 1878 HR 2431 XIII 49, 29 (V. Armeekorps, Präs. Nr. 22/9 1878, No. 718, 22.
10. 1878).
17 Rüffer, Eduard: Die Balkanhalbinsel und ihre Völker vor der Lösung der orientalischen
Frage. Eine politisch-ethnografisch-militärische Skizze. Bautzen: Schmaler & Pech 1869,
p. 60.
18 Vgl. Parvev, Ivan: „Du, glückliches Österreich, verhandle“. Militär versus Diplomatie
in der habsburgischen Südosteuropa-Politik, 1739–1878. In: Kurz, Marlene et al. (Hg.):
Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des int. Kongresses zum
150-jährigen Bestehen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung Wien, 22.-25. Sept.
2004. Wien: ÖAW 2005 (= Mitteilungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd.
48), pp. 539–550, hier p. 548f.

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 65

eher nach Westen orientierten Frankreich zu verwirklichen, mittels welcher


Österreich die Kontrolle über das untere Donaugebiet inklusive der Donau-
mündungen erlangen sollte. Neben der Moldau und der Walachei waren Serbien
und Bosnien in diesem Plan des wenige Jahre später als Generalstabschef der
verbündeten Armeen in den „Befreiungskriegen“ gegen Napoleon zu interna-
tionaler Berühmtheit gelangten Radetzky als Kompensation für die Abtretung
Ostgaliziens an einen – gegenüber dem Zarenreich als Puffer dienenden – pol-
nischen Staat vorgesehen.19 Dass Radetzky mit seiner Einschätzung richtig lag,
wonach es enorme materielle und finanzielle Anstrengungen erfordern würde,
„diese so sehr verwüsteten Länder in Kultur zu setzen“,20 zeigte sich in den
Jahren nach 1878 nur zu deutlich. Interessant zu bemerken ist auch, dass der
territoriale Ausgleich für die Abtretung der galizischen Gebiete von größerer
Bedeutung gewesen zu sein scheint, als die Tatsache, dass die Donaufürsten-
tümer, Serbien und Bosnien-Herzegowina in puncto Bevölkerung und Ertrag
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keinen Ausgleich für Galizien hätten bieten können.21


Die Flüchtlingsbewegung aus Bosnien in das Gebiet der Habsburger Monar-
chie, die in den Jahren 1875–1878 enorme Dimensionen annehmen sollte und
nicht zuletzt auch als einer der Hauptgründe für die Okkupation Bosniens und
der Herzegowina genannt wurde,22 war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts übrigens noch kaum von Wichtigkeit. So wurden beispielsweise in der
österreichischen Sremska Župa zwischen 1759 und 1775 lediglich 14 bosnische
Flüchtlinge verzeichnet, in einer anderen župa23 300 Personen in den Jahren
1750 bis 1770.24 Eine quantitativ relevante Zuwanderung „war nur zu Beginn des
österreichisch-osmanischen Krieges von 1788 bis 1791 spürbar, wobei aber auch
viele Flüchtlinge nach Beendigung der Auseinandersetzung wieder in ihre bos-
nische Heimat zurückkehrten. Daher haben sich die militärischen Konflikte des
18. Jahrhunderts nicht sehr stark auf die Migrationsbewegungen ausgewirkt.“25

19 Vgl. Tischler, Ulrike: Die habsburgische Politik gegenüber Serben und Montenegrinern
1791–1822. Förderung oder Vereinnahmung? München: Oldenbourg 2000 (= Südosteuro-
päische Arbeiten 108), p. 98f.
20 Ibid., p. 130.
21 Ibid., p. 99.
22 In seinem zwei Tage vor Beginn des Okkupationsfeldzuges erlassenen Korpsbefehl vom
27. Juli 1878 erwähnte beispielsweise Feldzeugmeister Joseph von Philippovich die zahl-
reichen bosnischen Flüchtlinge, die vor den Gräueltaten in ihrer Heimat Schutz auf dem
Gebiet der Habsburger Monarchie gesucht hätten. Der Korpsbefehl ist u. a. abgedruckt in:
Prager Tagblatt, Nr. 208 v. 29. 7. 1878, p. 2.
23 župa (slaw.): Bezirk, Komitat, alternativ: Pfarrei.
24 Vgl. Koller, Markus: Bosnien an der Schwelle zur Neuzeit. Eine Kulturgeschichte der
Gewalt (1747–1798). München: Oldenbourg 2004 (= Südosteuropäische Arbeiten 121),
p. 108.
25 Ibid.

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66 Martin Gabriel

Auch wenn die habsburgisch-osmanischen Kriege zu Beginn des 19. Jahr-


hunderts der Vergangenheit angehörten, kam doch das Grenzgebiet nicht zur
Ruhe. Nahezu permanent lieferten sich die an der Militärgrenze stehenden k. k.
Truppen einen Kleinkrieg mit aus Bosnien kommenden „Räuberbanden“, die
die Bevölkerung der grenznahen Bezirke durch Plünderung und Mord in Angst
und Schrecken versetzten. 1803 forderte Erzherzog Karl die osmanische Füh-
rung durch den Internuntius in Konstantinopel auf, die dichten Grenzwälder
zu roden, um so den ungesehenen Übertritt der „Räuber“ auf österreichisches
Gebiet zu erschweren – die Hohe Pforte gab diese Forderung auch tatsächlich
an den Pascha von Bosnien weiter, allerdings ignorierte die Bevölkerung des-
sen Anordnungen einfach und so wurden weiterhin regelmäßig Dörfer an der
Militärgrenze überfallen.26
Welche Schwierigkeiten sich im Umgang mit den osmanischen Behörden er-
gaben, wenn es um Wiedergutmachung für Überfälle auf österreichischem Ge-
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biet ging, zeigt eine Episode aus dem Jahr 1817: Am 24. Februar wurde das Dorf
Kruškova von der „Bande“ des Hassan Aga aus dem osmanischen kapudanlık27
Ostrožac überfallen, drei Einwohner wurden getötet, sechs Häuser niederge-
brannt, sieben Pferde, 27 Ochsen, 15 Kühe, 99 Schafe und 27 Ziegen geraubt.
Aufgrund einer Beschwerde des österreichischen Konsuls Jacob von Paulich
wurde der kapudan von Ostrožac von seinen Vorgesetzten gerügt und zu Re-
parationszahlungen angehalten. Dieser schickte als Provokation jedoch einige
aus der Monarchie geflüchtete Kriminelle als Parlamentäre an die Grenze und
stimmte erst nach erneuter scharfer Warnung der österreichischen Forderung
zu, Wiedergutmachung (in Form von zwei Rindern) zu leisten.28 Am 2. März
des folgenden Jahres kam es beim Rastellamt29 von Zavalje zu einem Schuss-
wechsel, bei dem zwei österreichische Wachsoldaten und vier Bosnier getötet
sowie 36 weitere Bosnier verwundet wurden, was die Wiener Regierung in
Verlegenheit brachte, da das österreichische Militär in den – rechtlich gesehen
exterritorialen – Rastellämtern zwar als Kontrollinstanz diente, aber über kei-
nerlei Exekutivgewalt verfügte.30
Zwischen 1815 und 1830 verursachten die Überfälle an der Militärgrenze nach
Erhebungen österreichischer Gerichte einen Gesamtschaden von 9 Millionen fl.

26 Vgl. Buchmann, Bertrand Michael: Militär, Diplomatie, Politik. Österreich und Europa
von 1815 bis 1835 Frankfurt/M. et al.: P. Lang 1991 (= Europ. Hochschulschriften 498),
p. 362.
27 kapudanlık (türk.): Kapitanat; Untereinheit der osmanischen Provinzialverwaltung, ge-
leitet von einem Kapitän (türk. kapudan).
28 Vgl. Buchmann 1991, p. 364.
29 Grenzkontrollposten für den Austausch kleinerer Waren.
30 Vgl. Buchmann 1991, p. 366.

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 67

Conventionsmünze, und auch in den Jahren danach rissen die Auseinanderset-


zungen nicht ab. Im April 1831 drangen mehr als 700 Bosnier in den Bezirk des
Slujner Grenzerregiments ein, wo sie mit österreichischen Truppen zusammen-
stießen und zurückgetrieben wurden – der Befehlshaber in Kroatien ordnete
als Reaktion auf diesen Zwischenfall den Einmarsch von zwei Brigaden nach
Bosnien an, sah letztendlich aber davon ab, als die zuständigen osmanischen
Beamten ihn darum baten.31

Bosnien zwischen Unruhe, Umbrüchen und Reformbemühungen


Anfang Juni 1834 wurden nach einem neuerlichen Überfall im Slujner Regi-
mentsbezirk rund 4.000 österreichische Soldaten zusammengezogen, um im Fal-
le neuerlicher Provokationen eine Strafexpedition nach Bosnien durchzuführen.
Daraufhin verhafteten die eingeschüchterten osmanischen Verantwortlichen
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selbst zahlreiche bekannte Kriminelle und brachten den österreichischen Kom-


mandeur Feldmarschallleutnant Franz Freiherr von Vlasits dazu, seine Streit-
macht zu demobilisieren. Unmittelbar danach kamen die verhafteten Männer
gegen Lösegeld wieder frei und die Übergriffe auf das Gebiet der Militärgrenze
gingen weiter.32 Im selben Jahr wurden die bosnischen Ortschaften Tržac und
Velika Kladuša im Zuge einer Vergeltungsaktion von österreichischen Truppen
niedergebrannt.33
Auch die Jahre 1835 und 1836 brachten schwere Kämpfe zwischen den k. k.
Grenztruppen und bosnischen „Räuberbanden“. Im Januar führten drei Grenzer-
bataillone als Reaktion auf einen Überfall auf das Dorf Zborište einen militärisch
gesehen erfolgreichen Vergeltungsfeldzug nach Bosnien durch – allerdings
mussten danach aus Angst vor Vergeltungsaktionen die Grenztruppen verstärkt
werden, was schlussendlich mehr Kosten verursachte als ein Überfall.34 Im Juni
kam es im Grenzgebiet zu einer regelrechten Schlacht, in der mehr als 400 Bos-
nier getötet oder schwer verwundet wurden. Im Juli 1836 fiel die Ortschaft Izačić
schweren Kämpfen, in denen rund 140 Österreicher und 500 Bosnier getötet
oder verwundet wurden, zum Opfer.35
Nach mehr als acht Jahren relativer Ruhe flammte der Konflikt 1845 wieder
auf, als österreichische Truppen unter Baron Joseph Jelačić in einer Strafakti-
on für eine Reihe von Morden an k. k. Grenzsoldaten das Dorf Podzvizd nach

31 Vgl. Sosnosky 1913, p. 131.


32 Vgl. Buchmann 1991, p. 372.
33 Vgl. Klaić, Vjekoslav: Geschichte Bosniens von den ältesten Zeiten bis zum Verfalle des
Königreiches. Leipzig: Friedrich 1885, p. 451.
34 Vgl. Buchmann 1991, p. 374.
35 Vgl. Sosnosky 1913, p. 133.

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68 Martin Gabriel

erbittertem Kampf (100 Österreicher und 200 Bosnier waren nach Ende der
Gefechte tot, verwundet oder vermisst) zerstörten.36 Dies stellte gewissermaßen
den Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Serie von Gefechten, Überfällen und
Vergeltungsmaßnahmen an der österreichischen Militärgrenze und im nördli-
chen Bosnien dar.
Seit dem Erwerb Dalmatiens, das durch die Beschlüsse des Wiener Kongres-
ses von 1814/1815 an das Kaisertum Österreich gefallen war,37 spielte Bosnien
aber nicht nur aufgrund der ständigen Beunruhigung durch Überfälle, die von
dort ausgingen, eine Rolle, sondern es war zunehmend auch in gesamtstrategi-
schen Überlegungen der politischen und militärischen Führung der Monarchie
präsent: „Bosnia and Hercegovina represented an obvious area for Austrian ex-
pansion into Southeast Europe. Geografically the province formed a wedge that
ran deep into the Habsburg lands, making the hinterland of Dalmatia insecure
from a military and economic standpoint.”38
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Schon 1835 verfasste der damals als kommandierender General in Lombar-


do-Venetien eingesetzte Graf Radetzky ein Memorandum, in dem er die Mei-
nung vertrat, dass der schmale Küstenstreifen Dalmatiens ohne das Hinterland
Bosniens und der Herzegowina kaum zu halten sei.39 Erzherzog Johann speku-
lierte 1837 mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und empfahl für diesen
Fall dringend den Erwerb von Bosnien, der Herzegowina und Nordalbanien.40
Laut Johanns Idee sollten mit Bulgarien, Serbien, der Moldau und der Walachei
selbständige, dabei jedoch von Österreich abhängige Staatsgebilde geschaffen
und Konstantinopel zur Freien Stadt erklärt werden.41
Tatsächlich entglitten Bosnien und die Herzegowina – Grenzräume, die zwi-
schen Krieg und Frieden schwebten und in denen sich (zum Teil aus Existenz-
angst) eine besondere Kriegermentalität ausgebildet hatte – im späten 18. und
noch offensichtlicher im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend dem Einfluss
der osmanischen Zentralverwaltung.42 Für die Träger des osmanischen Ver-

36 Ibid.
37 Siehe dazu u. a. Antoljak, Stjepan: Kako je nastala austrijska pokrajina Kraljevina Dalma-
cija. In: Časopis za hrvatsku povijest 1 (1943), pp. 232–239.
38 Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Herzegovina,
1878–1914. New York: Columbia Univ. Pr. 1981, p. 8.
39 Vgl. Gabriel, Karl: Bosnien-Herzegowina 1878. Der Aufbau der Verwaltung unter FZM
Herzog Wilhelm v. Württemberg und dessen Biografie. Frankfurt/M. et al.: P. Lang 2004
(= Europ. Hochschulschriften 973), p. 25.
40 Vgl. Novotny 1957, p. 16.
41 Vgl. Bencze 2005, p. 8.
42 Vgl. Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‚Civilizing‘ Mission in Bos-
nia 1878–1914. London: Oxford Univ. Pr. 2007, p. 5.- An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass
Christen, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Osmanischen Reich migrier-
ten, bei ihrem Übertritt auf das Gebiet der Habsburger Monarchie in einer Form des

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 69

waltungsapparates in den beiden Provinzen verloren sowohl die Legitimierung


durch die Zentralregierung in Konstantinopel als auch die Identifikation mit
dieser beständig an Bedeutung.43 Die besonders konservativen landbesitzenden
Eliten – eine vorwiegend aus den Nachkommen von als Folge der osmanischen
Eroberung Bosniens im 15. Jahrhundert zum Islam konvertierten christlichen
Familien bestehende Oberschicht, die sich selbst als „Hort der Rechtgläubigkeit,
Bewahrer der alten Ordnung und Verfechter einer weitgehenden Sonderstellung
im Osmanischen Reich“44 betrachtete – wehrte sich erbittert gegen die insbe-
sondere nach der Zerschlagung des Janitscharenkorps im Jahre 182645 einset-
zenden Modernisierungstendenzen bzw. die seit 1839 von Sultan Abdülmecid
I. vorangetriebenen Reformen der sog. Tanzimat46-Periode.47 Husein Kapudan
Gradaščević etwa besetzte 1831 aus Protest gegen die Schaffung der neuen os-
manischen Armee (Asakir-i Mansure-i Muhammediye48) durch Sultan Mahmud
II. die damalige bosnische Hauptstadt Travnik, marschierte mit 25.000 Kämpfern
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in das Kosovo und forderte lautstark ein Ende der Reformen im Landrecht und

Kulturkontakts ebenfalls bestimmte Denk- und Lebensweisen „importierten“ und so den


besonderen Charakter der Grenzregion mit prägten bzw. veränderten (vgl. Kaindl, Franz:
Die k. k. Militärgrenze. Zur Einführung in ihre Geschichte. Wien: ÖBV 1971 [= Schriften
des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien 6], p. 24).
43 Vgl. Koller 2004, p. 70.
44 Vrankić, Petar: Islam in der Donaumonarchie 1878–1918. In: Drobesch, Werner / Stauber,
Reinhard / Tropper, Peter G. (Hg.): Mensch, Staat und Kirchen zwischen Alpen und Ad-
ria 1848–1938. Einblicke in Religion, Politik, Kultur und Wirtschaft einer Übergangszeit.
Klagenfurt, Ljubljana, Wien: Hermagoras 2007, pp. 91–124, hier p. 96.- Auch in ethnogra-
fischen Werken, die in der Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft entstanden,
wurde vielfach auf die besonders strenge Auslegung des Islam in Bosnien hingewiesen,
dabei aber immer wieder auch erwähnt, dass dies gleichzeitig mit einer „Treue“ dem
habsburgischen Herrscherhaus einher ging, siehe dazu u. a. Ornig, Nikola: Diversität und
Anerkennung. Die Rezeption der muslimischen Bevölkerung Österreich-Ungarns in eth-
nografischen Werken In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/­fallstudie/
nornig1.pdf (2004), p. 2f.
45 In der offiziellen osmanischen Historiografie wurde die Vernichtung des Korps als „Heil-
samer Vorfall“ (vakay-ɪ hayriye) beschrieben. Zum Janitscharenkorps vgl. zuletzt u. a.
Hacısalihoğlu, Mehmet: Das Bild vom Janitscharen. Die Streitkräfte des Osmanischen
Reiches zwischen Tradition und Modernisierung. In: Chiari, Bernhard / Groß, Gerhard
P. (Hg.): Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder
militärischer Gewalt. München: Oldenbourg 2009 (= Beiträge zur Militärgeschichte 68),
pp. 233–240.
46 Tanzimat (arab.): Neuordnung.
47 Vgl. Mønnesland, Svein: Land ohne Wiederkehr. Ex-Jugoslawien. Die Wurzeln des Krie-
ges. Klagenfurt: Wieser 1997, p. 151.
48 In der gegen die Militärreform gerichteten Propaganda wurden die neuen Streitkräfte
(„Die siegreiche Armee Mohammeds“) öffentlichkeitswirksam auch als „getaufte Armee“
bezeichnet, da die Soldaten Säbel und Patronengurt über der Brust gekreuzt trugen und
damals „kreuzen“ und „taufen“ mit demselben Wort (krstiti) bezeichnet wurden.

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70 Martin Gabriel

Militärwesen, die selbständige Verwaltung Bosniens sowie die Vergabe der Po-
sition des Gouverneurs von Bosnien ausschließlich an einheimische Amtsträger,
bevor osmanische Truppen die Revolte niederschlugen.49
Auch zu Beginn der 1850er Jahre kam es zu schweren Unruhen, die auf ös-
terreichischer Seite Besorgnis auslösten und zur Mobilisierung von Truppen
und Marineeinheiten führten. Osmanische Truppen unter dem Befehl des an
der Militärgrenze geborenen und in türkische Dienste übergetretenen Generals
Michael Latas (Omar Latas Pascha) schlugen den bosnischen Aufstand schließ-
lich auf blutige Weise nieder. 1857 folgten Rebellionen christlicher Bauern
gegen muslimische Gutsherren, die ihre Güter (çiftlikler) auf Kosten der Chris-
ten rücksichtslos ständig erweiterten, indem sie die finanzielle Notlage weiter
Bevölkerungsschichten ausgenutzt und diese zum Verkauf ihres Besitzes (und
damit in die Fronarbeit) gezwungen hatten.50 Natürlich waren keineswegs al-
lein die konservativen Muslime Bosniens für das Scheitern der osmanischen
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Reformen Abdülmecids verantwortlich; eine Teilschuld traf zweifellos auch die


christlichen Bevölkerungsgruppen sowie Österreich und Russland, von denen
sie unterstützt und immer wieder dahingehend beeinflusst wurden, unannehm-
bare Forderungen an die Pforte zu stellen.51 Auch war es keineswegs so, dass
die Unterschicht in Bosnien und der Herzegowina, die raya (Herde, Schutzbe-
fohlene), ausschließlich aus Nichtmuslimen bestand, die natürlich auch religiöse
Beweggründe hatten, sich gegen das osmanische System aufzulehnen. Unter
den Bauern fand man auch zahlreiche Muslime, deren Protest und Widerstand
gegen die Politik als landesfremd empfundener und die Zentralregierung in
Konstantinopel verkörpernder Eliten ganz wesentlich in einer sozialen bzw.
wirtschaftlichen Problematik begründet lag.52

49 Vgl. Sel Turhan, Fatma: The Ottoman Empire and the Bosnian Uprising. London, New
York: I. B. Tauris 2014, p. 2; Koller 2004, p. 71.
50 Vgl. Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt:
WBG 1985, p. 232f.
51 Vgl. Riedel, Sabine: Die Erfindung der Balkanvölker. Identitätspolitik zwischen Konflikt
und Integration. Wiesbaden: VS 2005, p. 53.
52 Vgl. Baumann, Robert F. / Gawrych, George W. / Kretchik, Walter E.: Armed Peacekee-
pers in Bosnia. Fort Leavenworth: US Army Combined Forces Combat Studies Institute
Pr. 2004 (= Special Studies), p. 6.- Ebenso wie während der gegen die osmanische Zent-
ralherrschaft gerichteten Aufstände verlief auch der Widerstand im Okkupationsfeldzug
1878 zwar großteils, aber keineswegs ausschließlich entlang religiöser Bruchlinien. We-
der die Unruhen z. B. der 1850er Jahre noch die Kämpfe 1878 sind daher vernünftiger-
weise unter der Perspektive eines „Religionskrieges“ zu verstehen. Zu den Grundlagen
der Gewaltausübung im Islam siehe u. a. Rosiny, Stephan: Der Jihad. Historische und
zeitgenössische Formen islamisch legitimierter Gewalt. In: Werkner, Ines-Jacqueline /
Liedhegener, Antonius (Hg.): Gerechter Krieg, gerechter Frieden. Religionen und frie-

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 71

Die strategischen Überlegungen der Habsburger Monarchie nach


1850

Einflussreiche österreichische Generäle wie Radetzky, Jelačić oder Windisch-


grätz propagierten in den Jahren nach 1849 die Ansicht, man solle ein Aus-
greifen Russlands – das sowohl in den Revolutionswirren wie auch im öster-
reichisch-preußischen Konflikt von 1850 die Habsburger Monarchie unterstützt
hatte – akzeptieren, jedoch dafür sorgen, dass Österreich in diesem Fall ebenfalls
nicht leer ausging.53 Als 1852/1853 der Konflikt zwischen dem Osmanischen
Reich und Montenegro eskalierte, ergriff Österreich entschieden für letzteres
Partei und in der Monarchie wurde ein möglicher Einmarsch nach Bosnien
vorbereitet. In Kroatien und Slawonien wurden in den Anfangsmonaten des
Jahres 1853 fast 70.000 Soldaten mit mehr als 7.700 Pferden und 136 Geschüt-
zen zusammengezogen, den Oberbefehl führte Feldzeugmeister Baron Jelačić.54
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Seine Truppen sollten Anfang März 1853 bei Bihać, Kladuša, Kostajnica und
Novi nach Bosnien eindringen und möglichst rasch Sarajevo besetzen. Als die
Pforte jedoch einer Reihe von österreichischen Forderungen nachgab, die der
Gesandte Christian Graf Leiningen-Westerburg in Form eines Ultimatums in
Konstantinopel übergeben hatte (Räumung Montenegros, Entschädigungszah-
lungen etc.),55 verzichtete die österreichische Seite auf die Durchführung des
Okkupationsfeldzuges.
Feldmarschall Radetzky legte 1856 nochmals eine Denkschrift vor, die sich
mit dem Problem des nicht vorhandenen dalmatinischen Hinterlandes befasste:
Die Südspitze des Kronlandes Dalmatien war aus den Zentralgebieten der Mon-
archie nur per Schiff zu erreichen, da es von den türkischen Adriaenklaven Klek
und Sutorina de facto in drei Teile geteilt wurde;56 es gab keine Eisenbahnver-
bindung und keine für größere Truppenbewegungen geeignete Straße. Dazu ka-
men noch Spannungen um das Gebiet der Bucht von Kotor (Bocche di Cattaro),
auf welches das Fürstentum Montenegro Anspruch erhob. Die relativ schwa-
chen österreichischen Marineverbände in der Adria waren somit im Grunde
die erste und letzte Verteidigungslinie: im Fall einer Niederlage zur See war ein

densethische Legitimationen in aktuellen militärischen Konflikten. Wiesbaden: VS 2009


(= Politik und Religion), pp. 225–244, hier p. 225.
53 Vgl. Bencze 2005, p. 9f.
54 Vgl. Sosnosky 1913, p. 134.
55 Vgl. Deusch, Engelbert: Das k. (u.) k. Kultusprotektorat im albanischen Siedlungsgebiet.
In seinem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld. Wien et al.: Böhlau 2009
(= Zur Kunde Südosteuropas 2; 38), p. 48f.
56 Vgl. Rumpler, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und
Staatsverfall in der Habsburgermonarchie 1804–1914. Wien: ÖAW 1997 (= Österreichi-
sche Geschichte 6), p. 446f.

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72 Martin Gabriel

Angriff auf Dalmatien kaum noch abzuwehren.57 Aufgrund der schweren Ver-
stimmungen des früher von Radetzky als möglicher Partner bei der Aufteilung
des Balkans betrachteten Zarenreiches wies der Feldmarschall nunmehr auf die
Notwendigkeit hin, das Verhältnis sowohl mit Piemont-Sardinien als auch mit
Preußen zu verbessern, um danach die Aufmerksamkeit der Monarchie auf den
Balkan richten zu können:
Ohne noch sich über die dann zu ergreifenden Maßregeln einzulassen, glaube ich
nur bemerken zu müssen, daß Österreich zu keinem Entschluß kommen kann, ehe
es nicht die anstoßenden Zerwürfnisse in Piemont geendet und in Ordnung gebracht
hat, wodurch die italienische Frage ganz und vollkommen als gelöst betrachtet werden
kann. Die zweite Aufgabe ist dann das Einvernehmen mit Preußen und Deutschland
zum Gemeinsinn! Wo dann zur weitern Schlußfassung erst zu übergehen rätlich wird.
Nun erlaube ich mir die Aufmerksamkeit zu leiten auf Servien, was nur hingehalten
werden kann durch Belgrad als das Thor für selbes. Der Besitz von Istrien und Dalma-
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tien muß es Österreich wünschenswert machen, daß es in Besitz von Bosnien gelange,
so wie von Belgrad, um von da sich an den Balkan mit dem rechten Flügel anschlie-
ßen zu können. In dieser Stellung ist der österreichische rechte Flügel Herr von den
Fürstentümern, um wenigstens drohend zu bleiben, so wie vom ganzen Orient […].58

Etwa zur selben Zeit vertraten französische Politiker die Idee der Gründung
einer „slawischen Union“, die, so der österreichische Generalkonsul in Belgrad,
Theodor Radosavljević von Posavina, im April 1857, die Vereinigung Bosniens
und der Herzegowina mit Serbien zum Ziel hatte; dieses Staatsgebilde sollte
danach ein Protektorat Frankreichs darstellen.59 Es war anzunehmen, dass die-
se Pläne innerhalb Serbiens auf Resonanz stoßen würden, einerseits aufgrund
einer territorialen Vergrößerung, andererseits, weil die Proponenten panserbi-
scher Ideen dort in den vorangegangenen Jahrzehnten zunehmend an Einfluss
gewonnen hatten. So vertrat der Sprachreformer Vuk Stefanović Karadžić die
Ansicht, dass der Herzegowina in einer panserbischen Theorie die zentrale ­Rolle

57 Vgl. Bridge, F. R.: From Sadowa to Sarajevo. The Foreign Policy of Austria-Hungary
1866–1914. Boston: Routledge 2001 (= Foreign Policies of the Great Powers 6), p. 71; Sos-
nosky 1913, p. 135.
58 Die Gedenkschrift Radetzkys vom 30. August 1856 ist abgedruckt bei Sosnosky 1913,
p. 289–291.
59 Vgl. Rumpler, Helmut: „L’union slave“ als Albtraum der österreichischen Politik nach
dem Krimkrieg. Eine Episode der österreichischen Balkanpolitik. In: Domenig, Christian
et al. (Hg.): „Und wenn schon, dann Bischof oder Abt“. Im Gedenken an Günther Hödl
(1941–2005). Klagenfurt: Kärntner Druck- u. Verl.Ges. 2006, pp. 117–130, hier p. 125.

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 73

zuzukommen habe, da dort angeblich die reinste serbische Volkssprache zu


finden sei.60
Die Niederlage Österreichs im Krieg gegen die Verbündeten Piemont und
Frankreich 1859 und der daraus resultierende Verlust der zwar oft unruhigen,
dabei aber wohlhabenden und produktiven Provinz Lombardei brachte einen
Stimmungsumschwung bei den europäischen Mächten, unter denen nunmehr
Einigkeit darüber herrschte, dem Habsburger Reich auf dem „grünen Tisch“
eine Entschädigung für territoriale Einbußen zuzugestehen.61 Frankreichs Kai-
ser Napoleon III. unterbreitete einen Vorschlag, demzufolge Kaiser Franz Joseph
Venetien an Italien und Galizien an ein neues polnisches Königreich abtreten
solle, um als Ausgleich dafür Bosnien und die Herzegowina – ein „Land der
balkanischen Schaf- und Pferdediebe“,62 wie Bismarck es verächtlich nannte –,
Serbien sowie die Donaufürstentümer Moldau und Walachei zu erhalten.63 Alle
Tauschprojekte der Großmächte scheiterten jedoch am Widerstand der öster-
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reichischen Führung, die weiter hartnäckig an ihren verbliebenen oberitalieni-


schen Besitzungen festhielt und zugleich mit Preußen um die Vorherrschaft im
Deutschen Bund konkurrierte.
Das Jahr 1866 mit der Niederlage der Habsburger Monarchie im Krieg gegen
die Verbündeten Preußen und Italien brachte schließlich auf gewaltsame Weise
das Ende für die österreichische Herrschaft in Venetien und die Führungsrolle
der Monarchie innerhalb des Deutschen Bundes. Ein Ausgleich für diese Ver-
luste war – das musste ein Blick auf die europäische Landkarte zeigen – de
facto nur durch Expansion auf dem Balkan möglich. Für Vizeadmiral Wilhelm
von Tegetthoff,64 den als siegreichen Helden der (militärisch ziemlich unbedeu-
tenden) Seeschlacht von Lissa verklärten Marineoffizier, war völlig klar, dass
mit dem Wegfall der venezianischen Häfen die Bedeutung der dalmatinischen

60 Vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche


(1878–1918). München: Oldenbourg 1994 (= Südosteuropäische Arbeiten 93), p. 193; Pog-
ačnik, Jože: Bartholomäus Kopitar und Vuk Karadžić. In: Lauer, Reinhard (Hg.): Sprache,
Literatur, Folklore bei Vuk Stefanović Karadžić. Beiträge zu einem internationalen Sym-
posium, Göttingen, 8.-13. Februar 1987. Wiesbaden: Harrassowitz 1988 (= Opera Slavica
N. F. 13), pp. 71–87, hier p. 85.
61 Vgl. Vrankić, Petar: La chiesa cattolica nella Bosnia ed Erzegovina al tempo del vescovo
Fra Raffaele Barisić (1832–1863). Rom: Univ. Gregoriana Ed. 1984 (= Analecta Gregoriana
235), p. 48.
62 Zit. bei Rumpler 1997, p. 445.
63 Vgl. Vrankić, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina 1878–1918.
Paderborn et al.: Schöningh 1998, p. 21.
64 Tegetthoffs Bruder Carl (1826–1881) nahm als Kommandant der Grazer 6. Infanterietrup-
pendivision 1878 an der Okkupation von Bosnien teil.

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74 Martin Gabriel

Küste als Basis für die österreichische Marine enorm gestiegen war65 – der Er-
werb des Hinterlandes erschien deshalb umso dringlicher. Man war sich weiters
bewusst, dass Bosnien und die Herzegowina nicht nur strategisch und politisch
von essentieller Bedeutung für Dalmatien waren, sondern dass ein wirtschaftli-
cher Aufschwung dieses verhältnismäßig armen Kronlandes ohne den Erwerb
von zusätzlichem Raum im Inneren der Balkanhalbinsel auch kaum erwartet
werden konnte.
Friedrich Graf Revertera-Salandra, der österreichische Gesandte am russi-
schen Zarenhof in Petersburg, sandte seit November 1866 eine Reihe von Mit-
teilungen nach Wien, in denen er seiner Überzeugung Ausdruck gab, der Zer-
fall des Osmanischen Reiches stehe bevor und Österreich solle diesbezüglich
Absprachen mit dem Zarenreich treffen, seinen Verzicht auf die Donaufürs-
tentümer Moldau und Walachei bekannt geben und so den Grundstein für die
Billigung Russlands zum Erwerb von Bosnien und der Herzegowina legen.66
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Fürst Richard Metternich, Österreichs Botschafter in Paris, schlug Anfang 1867


in dieselbe Kerbe: Man müsse mit dem Auseinanderbrechen des Osmanischen
Reiches rechnen und die Inbesitznahme der östlichen Adriaküste ins Auge fas-
sen („penser avant tout au littoral de l’Adriatique“67), was bedeutet hätte, in
Albanien, Bosnien und der Herzegowina eine österreichische Herrschaft zu
etablieren.
Der spätere gemeinsame Finanzminister der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie – und somit auch Verwalter des „Reichslandes“ Bosnien-Herzegowina –
Benjámin Kállay68 trat in seiner Funktion als k. u. k. Generalkonsul in Belgrad
Ende der 1860er Jahre jedoch dafür ein, lediglich das Gebiet westlich der Flüsse
Neretva und Vrbas (das historische „Türkisch-Kroatien“) für Österreich-Ungarn
zu gewinnen,69 um das Hinterland Dalmatiens zu sichern sowie das kroatische
Element in der Monarchie durch diesen Erwerb zu besänftigen.70 Der Großteil

65 Vgl. Hünigen, Gisela: Nikolaj Pavlovic Ignat’ev und die russische Balkanpolitik 1875–
1878. Göttingen, Zürich, Frankfurt/M.: Musterschmidt 1968 (= Göttinger Bausteine zur
Geschichtswissenschaft 40), p. 19; Bridge 2001, p. 71.
66 Vgl. Elz, Wolfgang: Die europäischen Großmächte und der Kretische Aufstand 1866–
1867. Stuttgart: Steiner 1988 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa
28), p. 119.
67 Zit. n. ibid., p. 123.
68 Für einen kurzen biografischen Abriss zu Kállay vgl. Gabriel, Martin: Kállay de Nágy-
Kalló, Béni. In: Enzyklopädie des Europäischen Ostens (Online-Lexikon, abrufbar unter:
www.uni-klu.ac.at/eeo).
69 Vgl. Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy, Bd. 1. Stuttgart: DVA 1910, p. 460f.
70 Vgl. Ress, Imre: Versuch einer Nationenbildung um die Jahrhundertwende. Benjámin
Kállays Konzeption der bosnischen Nation. In: Kiss, Endre / Stagl, Justin (Hg.): Nation
und Nationenbildung in Österreich-Ungarn 1848–1938. Prinzipien und Methoden. Wien,
Münster: LIT 2006 (= Soziologie. Forschung und Wissenschaft 21), pp. 59–72, hier p. 62.

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Bosnien-Herzegowina als Begegnungs- und Konfliktzone, 1688–1869 75

Bosniens und der Herzegowina sollte dagegen unter Beibehaltung der osma-
nischen Hoheitsrechte administrativ mit dem serbischen Fürstentum vereinigt
werden, was man wiederum dazu benutzen wollte, um ein feindseliges Klima
zwischen den Kroaten, die Anspruch auf die beiden Provinzen in ihrer Gesamt-
heit angemeldet hatten, und dem vergrößerten Serbien zu erzeugen.71
Graf Gyula Andrássy, als Außenminister der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie einer der Hauptarchitekten der Okkupation von 1878, bezeichnete 1869
in einem Gespräch mit Kállay die Überlassung Bosniens und der Herzegowina
an Serbien überhaupt als Grundlage für die Politik der Monarchie gegenüber
den südslawischen Staaten.72 Als zusätzlichen positiven Nebeneffekt dieser di-
plomatischen Winkelzüge erwartete man sich – speziell in Budapest – auch
eine Abwendung Serbiens von Russland zugunsten der Habsburger Monarchie,
daher auch Robin Okeys Feststellung: „The Bosnian gambit seems to have been
largely a Hungarian one and in its ingenuity and dubious sincerity interesting
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for the vigour with which the fledgeling Hungarian state defended itself from
a sea of perceived enemies.”73
Friedrich Freiherr von Beck-Rzikowsky, der Chef der kaiserlichen Militär-
kanzlei und spätere Generalstabschef der k. u. k. Armee, trat 1869 in einem Me-
morandum wiederum genau jenen territorialen Erweiterungen Serbiens (und
auch Montenegros) entschieden entgegen, auf welche die Planungen Kállays
und anderer Exponenten der österreichisch-ungarischen Außenpolitik abziel-
ten. Beck fürchtete die Entstehung zweier vergrößerter – und dabei an das
russische Zarenreich gebundener – slawischer Staaten an der Südostgrenze der
Monarchie und verlangte neben der Besetzung von Bosnien und der Herzego-
wina auch die gleichzeitige Inbesitznahme des strategisch wichtigen, zwischen
Serbien und Montenegro gelegenen Sandschaks74 von Novi Pazar (türk. Yeni
Pazar),75 was erstens die beiden orthodoxen Fürstentümer geografisch vonein-
ander getrennt und der Monarchie zweitens ein Sprungbrett für mögliche zu-
künftige Expansionsschritte Richtung Südosten gesichert hätte.

71 Vgl. Hünigen 1968, p. 19; Ress 2006, p. 62.


72 Vgl. Diószegi, István: Der Platz Bosnien-Herzegowinas in Andrássys außenpolitischen
Vorstellungen. In: Burz, Ulfried / Derndarsky, Michael / Drobesch, Werner (Hg.): Brenn-
punkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag. Klagenfurt: Ca-
rinthia 2000, pp. 377–384, hier p. 379f.
73 Okey, Robin: The Habsburg Monarchy, c. 1765–1918. From Enlightenment to Eclipse.
Basingstoke, London: Macmillan 2001 (= European Studies Series), p. 222.
74 Sandschak (türk. sancak): Untereinheit in der osmanischen Provinzialverwaltung, gelei-
tet von einem Mütesarrif (türk. mutasarrıf).
75 Vgl. Palmer, Alan: The Twilight of the Habsburgs. The Life and Times of Emperor Francis
Joseph. New York: Grove Pr. 1994, p. 197.

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76 Martin Gabriel

Resümee
Eine Betrachtung der Beziehungen der Habsburger Monarchie mit Bosnien und
der Herzegowina als einer Grenzregion des Osmanischen Reiches seit dem spä-
ten 17. Jahrhundert macht deutlich, dass die 1878 bzw. 1908 erfolgte Eingliede-
rung dieser Gebiete nicht allein durch relativ rezente politisch-strategische Ver-
änderungen76 wie die Gründung des deutschen Kaiserreiches, die zunehmende
Bedeutung Russlands als (süd-)osteuropäische Großmacht und die Entstehung
von (mehr oder weniger) unabhängigen staatlichen Entitäten auf der Balkan-
halbinsel erklärt werden kann. Das Interesse an einer Sicherung der Südflanke
der Monarchie ist schon lange vor der Okkupation erkennbar, auch wenn in der
Zeit vor 1878 die Mittel, v. a. aber der politische Wille fehlten, dieses Ziel durch
eine formelle Inbesitznahme Bosniens und der Herzegowina zu realisieren.
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76 Zur unmittelbaren Vorgeschichte der Okkupation vgl. den folgenden Beitrag von Ray-
mond Detrez.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit77

Zurückhaltung und Entschlossenheit

Zur Vorgeschichte der k. u. k. Okkupation Bosnien-


Herzegowinas 1878

Raymond Detrez (Gent)

Abb 1. Französische Karikatur vom


Okt. 1908: Sultan Abdülhamid II.
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muss hilflos zusehen, wie Kaiser


Franz Joseph Bosnien-­Herzegowina
und Zar Ferdinand Bulgarien aus
dem Osmanischen Reich heraus­
reißen. (Quelle: W
­ ikimedia)

Die diplomatischen Aktivitäten der europäischen Großmächte vor der Okkupa-


tion Bosniens und der Herzegowina 1878 sind durch Ambiguitäten und Parado-
xien gekennzeichnet. Obwohl es den Historikern zumeist gelungen ist, ans Licht
zu bringen, was (aller Wahrscheinlichkeit nach) geschah, die geheimen Winkel-
züge und Beweggründe dahinter zu erklären und sogar noch eine große Viel-

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78 Raymond Detrez

zahl von – großteils nationalistisch verzerrten – Perspektiven zu synthetisieren,


haben diese Widersprüche auch weiter dazu beigetragen, dass die Okkupation
der Gegenstand divergierender Interpretationen und Kontroversen im Lichte
neuer Zugänge zur Geschichte geblieben ist, z. B. im Rahmen der (Post)colonial
Studies. In diesem Sinne wird sich mein Beitrag bemühen, einige dieser Ambi-
guitäten und Paradoxien der Balkanpolitik Wiens im späten 19. Jahrhundert
herauszuarbeiten, die von der dualen Struktur des Reichs und seinen komplexen
Beziehungen mit Russland hervorgerufen wurden und die noch immer zeitge-
nössische Forscher/innen zu verwundern vermögen, die das ‘wahre Wesen’ der
österreichisch-ungarischen Okkuption herausfinden möchten.
*

Das Engagement der Habsburger Monarchie in Bosnien-Herzegowina und dem


Balkan ist ein Aspekt der sog. „Orient­frage“, hervorgerufen durch die Desinteg-
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ration des Osmanischen Reichs und die damit verbundenen Gebietsforderungen


anderer Mächte.1 Diese Problematik bestand seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
und erreichte ihren Höhepunkt zwischen dem Krimkrieg (1853–1856) und dem
Ersten Weltkrieg. Eigentlich hatte sie ihre ersten Anfänge bereits gegen Ende
des 17. Jahrhunderts, als die Heilige Liga – bestehend aus dem Habsburger
Reich, Polen, Venedig und schließlich auch Russland – die osmanischen Ar-
meen mehrfach besiegte und der Hohen Pforte die Friedensverträge von Kar-
lowitz (1699) and Passarowitz (1718) aufzwang. Der gesamte osmanische Teil
Ungarns inklusive des tributpflichtigen Fürstentums Siebenbürgen wurde an
die Habsburger abgetreten. Diese Eroberung wurde als die Wiederherstellung
angestammter Rechte auf die ungarischen Lande präsentiert – erworben 1526,
als König Lajos (Ludwig) II. von Ungarn und Böhmen auf dem Schlachtfeld von
Mohács gefallen war. Venedig wiederum konnte seine Besitzungen in Dalmatien
wesentlich erweitern. Als Resultat verwandelten sich Bosnien und die Herze-
gowina gleichsam in eine große osmanische Landzunge, die weitgehend von
habsburgischem und venezianischem Gebiet umgeben war.
Die Orientfrage trat 1774 in ein neues Stadium, nachdem Russland das Os-
manische Reich besiegt und ihm den Friedensvertrag von Küçük Kay­narca ab-
gerungen hatte. Das Zarenreich erwarb durch seine Annexion von Teilen der
nordöstlichen Schwarzmeerküste einen freien Seezugang im Süden bis zum
Bos­po­rus, was als wahrscheinliche Ausgangsbasis für eine weitere Expansion
in Richtung Balkan angesehen wurde. Dadurch wurde Österreich alarmiert,

1 Vgl. den nützlichen Überblick bei Haselsteiner, Horst: Grundzüge der Orient­politik der
Habs­burgermonarchie. Zwi­schen Kontinuität und Wandel. In: Ders. (Hg.): Bosnien-Herz-
egovina. Orientkrise und Südslavi­sche Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, pp. 9–14.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit79

aber aufgrund der friedlichen Atmosphäre während der polnischen Teilungen


unterstützte Joseph II. vorsichtig das „griechische Pro­jekt“ der Zarin Katharina
der Großen, was in weiterer Folge lange so etwas wie ein Grundmuster für die
Haltung beider Reiche gegenüber den Osmanen darstellte. Der westliche Kau-
kasus, die Krim und die Gebiete östlich des Dnjestr sollten von Russland annek-
tiert werden, Teile der Walachei, Serbien, Bosnien und der Herzegowina, Istrien
und Dalmatien von der Habsburger Monarchie. Ebenso sollte das byzantinische
Reich wiederhergestellt werden, mit Katharinas Sohn als König. Im Bewusst-
sein, dass die Teilung der Balkanhalbinsel Spannungen verursachen könnte, sah
Katharina auch die Einrichtung eines Königreichs Dakien als Pufferstaat vor.2
Der Wiener Kongress 1815 überschrieb den Österreichern das ehemals ve-
nezianische Dalmatien. Bosnien und die Herzegowina waren dadurch fast voll-
ständig von habsburgischen bzw. serbischen und montenegrinischen Gebieten
umgeben, außer im Südosten, wo beide Provinzen im weiteren geschichtlichen
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Verlauf nur noch durch den Sandschak von Novi Pazar – einen langen, schmalen
Korridor zwischen Serbien und Montenegro – mit dem Rest des Osmanischen
Reichs direkt verbunden waren. Auf diese Weise wurden sie aus osmanischer
Sicht extrem anfällig für einen potenziellen habsburgischen Angriff. Für die
Österreicher wiederum war Dalmatien, ein langer und schmaler Landstreifen
zwischen Bosnien-Herzegowina und der Adria, noch schwieriger gegen eine
mögliche osmanische Aggression zu verteidigen.
Nachdem der Wiener Kongress das Chaos der Napoleonischen Kriege be-
endet hatte, wurde die Kooperation zwischen Wien und St. Petersburg wieder
aufgenommen. Beide Reiche waren unter den Mitgliedern der Heiligen Allianz
von 1815, welche die nun wieder herrschenden alten Zustände in Europa schüt-
zen sollte. Während aber Österreich in Anbetracht zunehmender nationaler Un-
ruhe auf seinem Territorium und auf deutschem Boden die Aufrechterhaltung
jenes status quo im und mit dem Osmanischen Reich propagierte, tat Russland
alles, um die Lage weiter zu destabilisieren. Die Heilige Allianz wurde in ihren
Grundfesten erschüttert, als während der Griechenland-Krise von 1821–30 der
österreichische Kanzler Klemens Wenzel Fürst Metternich für Russland interve-
nierte, aber gegen den drohenden Zerfall des Osmanischen Reiches opponierte,
als Serbien in den Konflikt involviert wurde. In Wien indes wurde das russische
Protektorat über die Donau-Fürstentümer, das von 1829 bis 1856 dauerte, als
zusätzliche Bedrohung von Osten her wahrgenommen. Nichtsdestotrotz sti-
pulierte der Vertrag von Mün­chen­grätz im September 1833, dass im Fall einer
weiteren Desintegration des Osmanischen Reiches Österreich und Russland zu-

2 Vgl. Jelavich, Barbara: History of the Balkans. Vol. I. Cambridge: Cambridge Univ. Pr.
1983.

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80 Raymond Detrez

sammenarbeiten würden, um ein neues Mächtegleichgewicht in der Region zu


kreieren.3 Die Niederschlagung des ungarischen Aufstands von 1848/49 durch
die Russen ist eine berühmt-berüchtigte Illustration dieser gegenseitigen Ver-
ständigung der beiden Reiche, obwohl sie das latente Misstrauen in Wien nicht
zerstreuen konnte. Bei den habsburgischen Staatsmännern provozierte dies –
zusammen mit dem plötzlichen Bewusstsein der explosiven Natur der Nationa-
litätenspannungen im Reich – eher ein unangenehmes Gefühl der Abhängigkeit
von St. Petersburg, während es bei den Ungarn Hass auf die Russen schürte und
zum Generalverdacht gegen die eigenen (Süd-)Slawen beitrug.4 Während des
Krimkriegs 1853–1856 glaubte der Zar freilich noch immer, die nationalen Inter-
essen Wiens und St. Petersburgs seien quasi ident, und er schlug vor, den Balkan
in ein gemeinsames russisch-österreichisches Protektorat zu verwandeln.5 Die
Habsburger Monarchie jedoch befürchtete, bei den Südslawen inner- und au-
ßerhalb des Reichs nationalistische Gefühle aufzuwühlen und weigerte sich – in
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Anbetracht der russischen Dominanz bei den Orthodoxen –, Partei zu ergreifen;


schließlich schickte sie aber doch Truppen in die russisch administrierten Do-
nau-Fürstentümer und besiegelte damit das Schicksal Russlands.
Nach dem Vertrag von Paris 1856 vermied es St. Petersburg, offen in Bal-
kan-Angelegenheiten hineingezogen zu werden; trotzdem hegten viele russi-
sche Diplomaten heimlich panslawische Gefühle.6 So ermutigte Graf Nikolaj
Ignatjev, der russische Botschafter in Konstantinopel von 1864 bis 1877, still-
schweigend die Rebellen auf dem Balkan, mit der Aussicht auf eine russische
Intervention zu den Waffen zu greifen. Wien seinerseits war durch die unglück-
lichen kriegerischen Konflikte mit Italien und Preußen von 1859 bzw. 1866 dazu
gezwungen, 1867 mit Ungarn den sog. Ausgleich zu realisieren und sich auf
dem Balkan zurückzuhalten. Die Politik Metternichs von 1815, die dazu gedient
hatte, die territoriale Integrität des als eher harmlos eingestuften Osmanischen
Reichs aufrecht zu erhalten, wurde dabei immer noch als bester Schutz gegen
Bedrohungen aus dem Südosten angesehen.
1873 trat Österreich-Ungarn unter seinem neu ernannten Außenminister
Gyula Graf An­drás­sy in den eher losen Dreika­i­ser­bund mit dem Deutschen
Reich und Russland ein. Als einer der Architekten des Ausgleichs befürwortete
Andrássy eine österreichische und ungarische Dominanz innerhalb der Dop-

3 Vgl. Jelavich, Barbara: Russia’s Balkan Entanglements, 1906–1914. Cambridge: Cambrid-


ge Univ. Pr. 1991, p. 96.
4 Vgl. Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini, 1882–1903. Sarajevo: Vese-
lin Masleša 1987, p. 24.
5 Vgl. Jelavich 1993, pp. 114 u. 128.
6 Vgl. Stavrianos, L.S.: The Balkans since 1453. London: Hurst 2000 [1958], p. 398.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit81

pelmonarchie und deshalb auch die Kooperation mit Deutschland.7 So machte


Andrássy seinem russischen Gegenspieler, dem gemäßigten und pro-westlichen
Alexander Gorčakov, klar, dass das Habsburger Reich keinerlei Absichten habe,
sich in Balkanfragen einzumischen, aber dennoch Bosnien und die Herzegowina
territorial eher ins Reich zu integrieren, als es Serbien (Russlands traditionellem
Verbündeten) zu überlassen.8 Als Ungar misstraute Andrássy den Russen, in
der Annahme, „Österreichs Aufgabe bleibe nach wie vor, ein Bollwerk gegen
Rußland zu bilden, und nur solange es diese Aufgabe erfülle, sei sein Bestand
eine europäische Notwendigkeit.“9
*

Auf diese Weise hatte bereits am Vorabend der Besetzung Bosnien-Herzego-


winas 1878 das habsburgische Engagement am Westbalkan eine lange Vorge-
schichte, gekennzeichnet durch eine komplexe Beziehung von Kooperation
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und Konkurrenz mit Russland. Aus der Perspektive der Kooperation betrachtet,
erscheint die bevorstehende Okkupation lediglich als ein Schritt in Richtung
Verwirklichung eines ehrgeizigen imperialistischen oder kolonialistischen Pro-
jekts. Vom Standpunkt der Rivalität mit Russland aus dürfte die habsburgische
Balkan-Politik im 19. Jahrhundert aber sehr wohl auch eine Form der Selbstver-
teidigung gewesen sein, wie österreichisch-ungarische Staatsmänner wieder-
holt behauptet haben.10 Österreich-Ungarn fürchtete, dass Russlands tatsäch-
liche oder vermeintliche Einkreisungspolitik via die Walachei und die Moldau
im Osten eines Tages abgeschlossen sein könnte, wenn der Zar zwischen den
Balkan-Slawen Fuß fassen würde. Auch hier wiederum bot – angesichts der Tat-
sache, dass die Doppelmonarchie keine Chance in einer direkten militärischen
Konfrontation mit Russland sah – die Erhaltung der territorialen Integrität des
Osmanischen Reichs den besten Schutz gegen diesen Alptraum.11
Obwohl in Anbetracht der jüngsten militärischen Niederlagen Kaiser Franz
Joseph durchaus daran interessiert gewesen sein dürfte, sein beschädigtes An-

7 Vgl. Kann, Robert A.: A History of the Habsburg Empire, 1526–1918. Berkeley: Univ. of
California Pr. 1977 [1974], p. 278.
8 Vgl. Stavrianos 2000, p. 399.
9 Rumpler, Helmut (Hg.): Österreichische Geschichte 1804–1914. Bd. 7: Eine Chance für
Mitteleuropa. Hg. von Herwig Wolfram. Wien: Ueberreuter 1997, p. 446.- Vgl. auch die
Diskussion antislawischer und antirussischer Gefühle in Österreich-Ungarn bei Medli-
cott, W. N.: The Con­gress of Berlin and After. London: Methuen 1938, p. 7ff.
10 Haselsteiner, Horst: Zur Haltung der Donaumonarchie in der orientalischen Frage. In:
Haselsteiner 1996, pp.15–30, zit. p. 29.
11 Medlicott 1938, p. 27, sieht die Habsburger Monarchie am Vorabend des Berliner Kon-
gresses eher von der Angst vor der Einkreisung getrieben als vom Wunsch, neue Territo-
rien zu erwerben.

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82 Raymond Detrez

sehen durch neue Eroberungen wieder herzustellen, gab es doch auch interne
Gründe, die Österreich-Ungarn vor einem militärischen Abenteuer auf dem
Balkan abhielten. Der Hauptfaktor hier war die wachsende Bedrohung durch
den südslawischen Nationalismus. Die habsburgischen Südslawen, die bereits
durch den kroatischen Ausgleich (Nagodba) 1868 eine gewisse Autonomie im
Königreich Ungarn erlangt hatten, bestanden auf der Schaffung einer politi-
schen Entität, die die südslawischen Gebiete Österreichs und Ungarns umfassen
und die gleiche rechtliche Basis wie diese anderen beiden Reichsteile haben
sollte (Trialismus) – eine Lösung, die die fragile (dualistische) Konstruktion
ernsthaft gefährdet hätte.12 Zumal nämlich die neuen Balkangebiete die Anzahl
der Südslawen innerhalb der Monarchie erhöht hätte, lehnte das habsburgische
Establishment, die deutschsprachigen Liberalen ebenso wie die ungarischen
Politiker, dies ab. 1869 wiesen etwa Andrássy (damals noch ungarischer Minis-
terpräsident) und Benjamin von Kál­lay, der k. u. k. Generalkonsul in Belgrad,
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die Idee eines Engagements in Bosnien-Herzegowina noch strikt zurück;13 nur


die habsburgischen Kroaten waren dafür. Während einer Konferenz im Februar
1872 bemerkte Andrássy auch, dass, obwohl die Annexion von Bosnien und der
Herzegowina „wünschenswert“ sei, das Reich keine andere Wahl habe, als we-
gen des generellen Mangels an „nationale[r] Begeisterung“ für eine militärische
Operation in der Bevölkerung eine defensive Politik zu verfolgen.14
Andererseits bedeutete auch ein mächtiger und unabhängiger serbischer Staat
jenseits der k. u. k. Grenzen – insbesondere mit russischer Unterstützung – eine
militärische Bedrohung für die Doppelmonarchie. In Wien wurde jedoch die Po-
litik der Unterstützung osmanischer Vorherrschaft zur Verhinderung serbischer
Ambitionen und der Ermutigung albanischer, griechischer und rumänischer
Gebietsforderungen als Gegengewicht zu den serbischen Begehrlichkeiten und
damit als adäquate Maßnahmen angesehen. Zusätzlich machte Wien mit der
Entsendung des als serbenfreundlich geltenden Botschafters Kállay 1868 einen
Versuch, friedliche Beziehungen mit Serbien aufzubauen und es für die eigenen
Bedürfnisse einzuspannen.15 Nichtsdestotrotz befeuerte die reine Existenz ei-
nes unabhängigen Serbenstaats die politischen Ambitionen der habsburgischen
Südslawen: Angesichts deren ausbleibender Erfüllung innerhalb der Monarchie
bot ihnen Serbien die Alternative der Sezession bzw. des Beitritts zu seinem
Staatsgefüge.
Aus diesen Gründen war die habsburgische Balkan-Politik im 19. Jahrhundert
aufmerksam und aktiv, aber auch grundlegend konservativ und defensiv. In

12 Vgl. Kann 1977, p. 354.


13 Vgl. Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. London: Macmillan 1994, p. 136.
14 Haselsteiner 1996, p. 18ff.
15 Vgl. Kraljačić 1987, p. 21 u. 23; vgl. auch Haselsteiner 1996, p. 19.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit83

mancher Hinsicht bevorzugte Russlands alter Alliierter bei der Aufteilung des
osmanischen Balkan sogar, die Partei der Westmächte und speziell Großbritan-
niens zu ergreifen, da er befürchtete, der Zar könnte Hand an den Bosporus
legen. Seit den 1850er Jahren hatte es etliche Projekte seitens der militärischen
Lobby in Wien gegeben, um angrenzende Balkanregionen wie Mazedonien zu
übernehmen, wann immer das Risiko gering war; sie alle erwiesen sich aber als
vage und kurzlebig.16
*

Bis zur Mitte der 1870er Jahre begann freilich die habsburgische Balkan-Politik
der Aufrechterhaltung des status quo abzubröckeln. Als Folge der neuen Zu-
gangsweise, die Außenpolitik mit dem militärischen Potenzial zu koordinieren,
erlangte die Armee-Lobby einen größeren Einfluss.17 Das Militär war bemüht
herauszustreichen, dass die existierende habsburgisch-osmanische Grenze von
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900 Kilometern um 525 Kilometer reduziert werden könnte,18 was die verwund-
bare dalmatinische Küste besser schützen und einen direkten Zugang zu Serbien
und Montenegro sicherstellen würde.19 Außerdem würde die allgegenwärtige
Gefahr lokaler Aufstände, die zu einer potenziellen Gebietserweiterung für Ser-
bien führen könnten – wie sie dies bei der Errichtung des Fürstentums Serbien
1829–30 getan hatten – durch die Oktroyierung einer Friedensordnung in Bos-
nien und der Herzegowina seitens einer habsburgische Administration teilweise
eliminiert werden.20
Zusätzlich zu diesen strategischen Überlegungen gab es auch wirtschaftliche
Gründe für ein geplantes take-over von Bosnien und der Herzegowina. In der
Tat hatte nämlich die Integration dieser Gebiete in die Wirtschaft der Doppel-
monarchie ein solches Ausmaß erreicht, dass ihre politische Einverleibung nur
eine logische Konsequenz war; sie hatten sich de facto in Habsburgs ökonomi-
sches Hinterland verwandelt: Nach dem Handelsabkommen mit dem Osmani-
schen Reich vom 22. Mai 1862 reduzierte die Doppelmonarchie ihre Zolltarife
für Güter aus Bosnien und der Herzegowina, was zur Folge hatte, dass 70–80%
der bosnischen Exporte in die Monarchie (Holz, Getreide, Vieh, Pflaumen und
Sliwowitz) gingen und auch zahlreiche k. u. k. Exporte in die Region (Textilien,

16 Z.B. beim Ausbruch des Krimkriegs; vgl. Kraljačić 1987, p. 19f., und Lampe, John R.: Yu-
goslavia as History. Twice there was a Country. Cambridge: Cambridge Univ. Pr. 1996,
p. 65.
17 Vgl. Haselsteiner 1996, p. 16.
18 Kraljačić 1987, p. 34f.
19 Vgl. ibid., p. 34.
20 Vgl. Anderson, M.S.: The Eastern Question, 1774–1923. London: Macmillan 1991 [1966],
p. 180.

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84 Raymond Detrez

Leder und andere Industrieprodukte) ihren Weg über Wien oder Triest nah-
men.21 Es wurde angenommen, dass sich die Bosnien-Exporte verdreifachen
könnten, falls sie ordentlich verwaltet würden. Im Gegenzug waren auch die
dalmatinischen Häfen stark vom Handel mit Bosnien und der Herzegowina ab-
hängig. Besonders nach dem Börsenkrach von 1873 bestanden Wirtschaftskreise
in Wien auf Maßnahmen zur Stimulierung des Handels mit dem ‘Osten’.22 Als
dann jedoch die Aufstände losbrachen, nahm der kommerzielle Output ab. Dies
war ein zusätzlicher Anreiz für Österreich-Ungarn, geeignete Schritte – falls
nötig, auch militärisch – zu setzen, um Frieden und Ordnung in den beiden
Provinzen wieder herzustellen.23
Nach seiner Ernennung zum österreichisch-ungarischen Außenminister war
Andrássy zunehmend geneigt, seine frühere ‘ungarische’ Haltung aufzugeben
und k. u. k. Ansichten anzunehmen.24 Am 29. Januar 1875, während einer Mi-
nisterkonferenz in Wien zum Thema Bosnien-Herzegowina, schwor er ziem-
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lich explizit seiner früheren „Abstinenzpolitik“ ab, indem er von nun an einem
neuen Prinzip anhängen wollte: „Macht geht über Recht“.25 Trotzdem blieb er
als Politiker vorsichtig; wie schon früher bemerkte er:
Turkey is of almost providential utility to Austria. Her existence is essential to our
well-understood interests. She keeps the status quo of the small states and hinders
their aspira­tions to our advantage. Were there no Turkey, then all these heavy duties
would fall on us.26

Obwohl Franz Joseph dazu tendierte, die militärische Lobby zu unterstützen,


entschied die Ministerkonferenz trotzdem, dass ein Aufstand in Bosnien und
der Herzegowina als Vorwand für eine Besetzung der beiden Provinzen her-
halten müsse.27 Als die Entscheidung dazu getroffen wurde, gab Andrássy, der
für das Projekt war, aber um dessen Risiken wusste, nach.28 Im Frühjahr 1875

21 Vgl. Juzbašić, Dževad: O uklučenju Bosne i Hercegovine u zajedničko austrougarsko ca-


rinsko područje. In: Institut za istoriju. Prilozi 18/19 (1982), pp. 125–160, zit. p. 125.
22 Vgl. Rumpler 1997, p. 447.
23 Vgl. Kraljačić 1987, p. 37.
24 Vgl. Diószegi, István: Die Anfänge der Orientpolitik Andrássys. In: Melville, Ralph /
Schrö­der, Hans-Jürgen (Hg.): Der Berliner Kongress von 1878. Wiesbaden: F. Stei­ner
1982, pp. 245–256, hier p. 245ff.
25 Haselsteiner 1996, p. 17.
26 Zit. n. Anderson 1991, p. 180.
27 Vgl. ibid.
28 Siehe Wertheimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Stutt­
gart: Deutsche Verlags-Anstalt 1910–1913, vol. 2, pp. 259–60. Vgl. Haselsteiner 1996,
p. 24f. (Hasel­steiner, der Zugang zu unveröffentlichten Dokumenten hatte, tendiert dazu,
Andrássy einen höheren Grad an Enthusiasmus für die Okkupation zuzuschreiben als die
traditionelle Geschichtsschreibung.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit85

unternahm der Kaiser auf Initiative der militärischen Lobby eine Reise durch
Dalmatien, die für großes Aufsehen unter der christlichen Bevölkerung Bos-
niens und der Herzegowina sorgte. Am Ende seines Aufenthalts erklärte er,
dass die Okkupation der beiden Provinzen näher gerückt sei und ordnete die
Bereitschaft seiner Truppen in Dalmatien für eine solche Operation an. Es wird
angenommen, dass diese Reise des Kaisers zum Ausbruch des Aufstands der
herzegowinischen Christen im Juli des selben Jahres beitrug.29 Der unmittel-
bare Anlass war indes der Mord an einem Franziskaner-Pater, den Franz Joseph
in Dalmatien getroffen hatte.30 Bald breitete sich die Revolte auf ganz Bosnien
aus. Die Aufständischen forderten die Abschaffung all ihrer feudalen Verpflich-
tungen und die volle Implementierung des osmanischen Reformprogramms,
das unter dem Namen Tanzimat bekannt wurde. Während Freiwillige aus Ser-
bien und anderen slawischen Gebieten in Scharen herbeiströmten, erklärten die
bosnischen Orthodoxen ihre Loyalität zum Fürstentum Serbien.31 Die brutale
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Niederschlagung des Aufstandes durch osmanische Truppen im Herbst und


Winter 1875 hatte dann einen Flüchtlingsstrom von 200.000 Menschen auf ös-
terreichisch-ungarisches Gebiet zur Folge. Zugleich wuchs die internationale
Entrüstung und Bereitschaft zu intervenieren – vor allem in Russland.
Selbst wenn die Doppelmonarchie absichtlich den Aufstand angestiftet hätte,
so wirkte sie jetzt jedoch peinlich berührt ob der Konsequenzen. Ursprünglich
hatten Russland und Österreich-Ungarn sich darauf beschränkt, gemeinsame
diplomatische Noten an die Hohe Pforte zu richten, ängstlich bemüht, nicht
die guten Beziehungen innerhalb des Dreikaiserbunds zu verderben oder ohne
Unterstützung der anderen europäischen Großmächte zu handeln.32 Im August
1875 nahmen die Botschafter des Dreikai­ser­bunds in Konstantinopel der Hohen
Pforte das Versprechen ab, Reformen durchzuführen und die bosnisch-herze-
gowinischen Christen an der lokalen Verwaltung zu beteiligen. Die Aufständi-
schen lehnten dies aber ebenso wie weitere Konzessionen des Sultans ab.
Das österreichisch-ungarische und russische Außenamt sondierten auch wei-
tere Bedingungen für eine bilaterale Zusammenarbeit. Im Oktober 1875 wies
Andrássy einen russischen Vorschlag, Bosnien und der Herzegowina Autono-
mie zu geben, als undurchführbar und als gefährlichen Präzedenzfall für andere
slawische Nationen zurück.33 Eine russische Intervention befürchtend, fertigte
er nach Rücksprache mit den Russen und den Signatarmächten des Pariser Ab-
kommens von 1856 am 30. Dezember 1875 ein Dokument aus, das als die An­

29 Vgl. Stavrianos 2000, p. 399.


30 Vgl. Lampe 1996, p. 65.
31 Vgl. Malcolm 1994, p. 132 u. 137.
32 Vgl. Rumpler 1997, p. 448.
33 Vgl. Anderson 1991, pp. 180–181.

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86 Raymond Detrez

drás­sy-Note bzw. die Reformnote bekannt werden sollte. Es forderte von der
Hohen Pforte die Durchführung umfangreicher Landreformen, die von einer
christlich-muslimischen Kommission überwacht werden sollten, gab jedoch
ganz deutlich die Idee einer autonomen Region auf. Konstantinopel stimmte
wiederum großenteils zu, aber die örtlichen Aufständischen ließen sich dadurch
nicht zufrieden stellen.34
Mittlerweile hatten sich die Unruhen bis Bulgarien ausgebreitet, wo im April
1876 ein Aufstand ausbrach. Die Gräueltaten, die die Niederschlagung dieser Re-
volte begleiteten, führten wieder zu großer Entrüstung, nicht nur in Russland,
sondern auch in Großbritannien. Am 30. Mai 1876 gaben die Außenminister
des Dreikaiserbunds das Berliner Memorandum heraus, das die Forderungen der
Andrássy-Note wiederholte und dem Osmanischen Reich mit „geeigneten Maß-
nahmen“ („mesures efficaces“) drohte, sollte es nichts unternehmen. Es wurde
vereinbart, dass im Fall eines Auseinanderbrechens der „Europäischen Türkei“
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Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina übernehmen sollte und Russ-


land den südlichen Teil Bessarabiens.35 Dieses Berliner Dokument wurde von
Frankreich und Italien unterstützt, vom britischen Premier Benjamin Disraeli
jedoch abgelehnt, weil er sich übergangen fühlte und den Plan eines „putting
the knife to the throat of Turkey“ nicht schätzte.36 Auch die Osmanen wiesen
es zurück, indigniert wegen der geäußerten Drohungen und ermutigt durch
die britische Ablehnung.37 Andrássy sollte später die Briten dafür verantwort-
lich machen, durch ihre Ermutigung osmanischer Unnachgiebigkeit den Russen
einen Kriegsvorwand geliefert zu haben.38
Die Angelegenheit wurde noch weiter kompliziert, als Anfang Juli Serbien
und Montenegro dem Osmanischen Reich trotz Warnungen aus Wien und St. Pe-
tersburg den Krieg erklärten. Aus Angst vor einer möglichen österreichisch-un-
garischen Intervention in Bosnien und der Herzegowina und insgeheim von
Ignatjev ermutigt, entschlossen sie sich trotzdem zum Angriff, nachdem sie
vereinbart hatten, dass Serbien Bosnien und Montenegro die Herzegowina an-
nektieren würde.39 Die zusammengewürfelten Armeen beider Staaten wurden
jedoch bis Ende Oktober 1876 von den Osmanen ohne große Anstrengung be-
siegt und der Zar – verärgert durch die Entsendung des pensionierten russi-

34 Vgl. Stavrianos 2000, p. 400.


35 Vgl. Anderson 1991, p. 183.- Süd-Bessarabien war 1829 von Russalnd annektiert und im
Krimkrieg wieder verloren worden.
36 Anderson 1991, p. 183.
37 Vgl. Stavrianos 2000, p. 401; Weibel, Ernest: Histoire et géopolitique des Balkans de 1800
à nos jours. Paris: Ellipses 2002, p. 126f.
38 Vgl. Wertheimer 1913, vol. 3, p. 1.
39 Vgl. Malcolm 1994, p. 133; Stavrianos 2000, p. 397.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit87

schen Generals Michail Černjaev seitens Moskauer Panslawisten als Oberkom-


mandant der serbischen Armee – musste nun dem Sultan ein Ultimatum stellen,
um Serbien vor osmanischer Besatzung zu schützen.40
Auf Initiative von Disraeli trafen sich die diplomatischen Vertreter Öster-
reich-Ungarns, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Russ-
lands in Konstantinopel, um die Krise zu diskutieren. Nach langen Verhandlun-
gen einigten sich die Delegierten im Januar 1877 auf eine Reihe administrativer
Reformen, die u. a. die Aufteilung des osmanischen Balkan in eine Anzahl auto-
nomer Regionen – darunter Bosnien-Herzegowina – beinhalteten, von denen
eine jede ein Provinzparlament und eine örtliche Polizeitruppe haben sollte,
unter der Führung eines Gouverneurs, der vom Sultan und den Großmächten
eingesetzt würde.41 Russland hatte sich bemüht, den internationalen Druck auf
die Hohe Pforte zu erhöhen, in der Hoffnung, so einige seiner politischen Ziele
auf dem Balkan (wie z. B. eine autonome Provinz Bulgarien) auf friedlichem
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Wege zu erreichen. Die Habsburger Monarchie gab sich eher zugeknöpft, da


sie sich für diese Form der Autonomie nicht erwärmen konnte. Am 18. Januar
lehnte freilich auch die osmanische Regierung den neuen Reformplan ab.
Abgesehen von Russland hatten die Großmächte wenig Druck auf den Sultan
ausgeübt, die Bedingungen anzunehmen. Großbritannien, Deutschland und Ös-
terreich-Ungarn bestanden auf Reformen als Mittel, um das Osmanische Reich
eher zu retten als zu schwächen; keiner von ihnen war darauf vorbereitet, mit
einer militärischen Intervention zu drohen. Die Anstrengungen der Großmäch-
te, eine Lösung für die Krise zu finden, konnten jedoch nicht mit den politischen
Entwicklungen in Konstantinopel Schritt halten. Am Morgen des 23. Dezember
1876, als die erste Plenarsitzung der Istanbuler Botschafterkonferenz stattfand,
verkündete Sultan Abdülhamid unter dem Druck einer Gruppe von altgedien-
ten Reformern, die ihn einige Monate vorher an die Macht gebracht hatten,
eine Verfassung, die die gleichen Bürgerrechte allen Untertanen des Reichs ver-
lieh, egal, welchem Glauben sie angehörten. Dieser Akt machte die meisten
Reformen, auf denen die Großmächte bestanden hatten, irrelevant. Dennoch
kamen die Großmächte noch einmal in London zusammen, wie dies Russland,
das einen Kriegsgrund brauchte, urgierte. Durch Streichung einer Reihe von
weniger wichtigen Klauseln, reduzierte das Protokoll von Lon­don, das am 31.
März 1877 unterzeichnet wurde, das „irreducible minimum“, auf das man sich
in Konstantinopel geeinigt hatte, auf die „quint­essence“.42 Russland, das noch
immer fürchtete, dass die Hohe Pforte die gekürzten Forderungen annehmen

40 Vgl. Petrovich, Michael B.: A History of Modern Serbia, 1804–1918. Vol. 2. New York,
London: Harcourt Brace/ Jovanovich 1976, pp. 385–389.
41 Vgl. Anderson 1991, p. 191.
42 Stavrianos 2000, p. 405.

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88 Raymond Detrez

könnte, fügte eine Note hinzu, in der es den Sultan aufforderte, einen Sonder-
gesandten nach St. Petersburg zu schicken, um Entwaffnungsmaßnahmen zu
diskutieren.43 Als am 9. April die Hohe Pforte sich weigerte einzulenken, er-
klärte Russland am 24. d. M. dem Osmanischen Reich den Krieg.
*

Während ihrer Teilnahme an den ‘offiziellen’ Verhandlungen der Großmäch-


te mit der Hohen Pforte hatten Österreich-Ungarn und Russland hinter den
Kulissen an einer Verständigung gearbeitet, sollten aus dem drohenden Krieg
neue Grenzziehungen resultieren. Bereits am 26. Juni 1876, noch vor dem Aus-
bruch des serbisch-montenegrinischen Krieges gegen das Osmanische Reich,
erzielten Andrássy and Gorča­kov mit der Konvention von Reichstadt in Böh-
men eine umfassende Einigung in Bezug auf eine künftige Teilung der „Euro-
päischen Türkei“, sollte Konstantinopel nicht den Forderungen des Berliner
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Memorandums zustimmen. Falls die Osmanen siegreich blieben, würden Öster-


reich-Ungarn und Russland zu Gunsten der Balkan-Christen intervenieren, um
den sta­tus quo ante wieder herzustellen (was schließlich auch geschah). Im Fall
eines serbisch-montenegrinischen Sieges sollten die beiden Mächte alle Kon-
sequenzen daraus zusammen regeln. Trotzdem favorisierte keine von beiden
Seiten die Gründung eines großen slawischen Staates („elles ne favori­seront
par l’établisse­ment d’un grand État Slave […]“).44 Gemäß der russischen Version
der Übereinkunft sollte es Serbien erlaubt sein, Teile Altserbiens45 und Bosniens
zu annektieren; Montenegro würde die Herzegowina und einen Hafen an der
Adria erhalten und Russland das südliche Bessarabien zurückbekommen. Im
Gegenzug wäre die Habsburger Monarchie berechtigt, das sog. Türkisch-Kro-
atien (d. h. das Gebiet um Bihać) sowie einige angrenzende Teil Bosniens („la
Croatie turque et quelques parties de la Bosnie contigues à ses frontières“) zu
annektieren, da sie dies als unverzichtbare Bedingung ansehe, ohne die sie eine
Vergrößerung der benachbarten slawischen Fürstentümer nicht akzeptieren
könne („une condition vitale sans laquelle elle ne pourrait admettre un agran-
dissement des Principautés slaves voisines“). In der österreich-ungarischen Fas-
sung der Konvention von Reichstadt ist freilich die Rede davon, das die Dop-
pelmonarchie den Löwenanteil von Bosnien-Herzegowina übernehmen würde,
und schließlich waren noch andere Lösungen für den totalen Zusammenbruch

43 Vgl. Weibel 2002, p. 135.


44 Der Text des Abkommens von Reichstadt liegt in publizierter Form vor als Bijlage (Ap-
pendix) A zu Sicca­ma, Kornelis H.: De Annexatie van Bosnië-Hercegowina. Utrecht: Diss.
[unveröff.] 1950.
45 Dieser Begriff meint das Kerngebiet des mittelalterlichen Serbien und umfasst die Regio-
nen Raška, Kosovo, Metohija und Mazedonien.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit89

(„l’entier écroulement“) des Osmanischen Reichs vorgesehen.46 (Diese beiden


unterschiedlichen Versionen der Konvention sollten später noch Missverständ-
nisse zwischen Wien und St. Petersburg verursachen.47)
Am 15. Januar 1877 unterzeichneten Gorčakov and Andrássy die Convention
secrète entre la Russie et l’Autriche-Hongrie in Budapest.48 Es handelte sich im
Wesentlichen um eine militärische Vereinbarung, wonach für den Fall, dass
die Hohe Pforte die Forderungen der Botschafterkonferenz von Konstantinopel
zurückweise – wie sie dies drei Tage später in der Tat machte – und Russland
daraufhin den Krieg erkläre, Österreich-Ungarn neutral bleiben und versuchen
würde, Vermittlungs- oder Interventionsversuche anderer Mächte diplomatisch
zu verhindern („paralyser, autant qu’il dépend de lui, par son action diplomati-
que, les essays d’intervention ou de médiation collective que pourraient tenter
d’autres Puissances“, Art. II). Im Gegenzug behielt sich Österreich-Ungarn das
Recht vor, den Zeitpunkt und die Mittel zu wählen, um mit seinen Truppen
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Bosnien-Herzegowina zu besetzen („se réserve le choix du moment et du mode


de l’occupation de la Bosnie et de l’Herzégovine par ses troupes“, Art. VII). Die
Doppelmonarchie würde von militärischen Operationen in Rumänien, Serbien,
Bulgarien und Montenegro absehen und Russland würde dasselbe in Bosnien,
der Herzegowina, Serbien und Montenegro tun (Art. VIII). Territoriale Arrange-
ments im Fall der Auflösung des Osmanischen Reiches sollten durch eine spe-
zielle und gleichzeitige Konvention („par une convention spéciale et simultanée“
Art. IX) geregelt werden. In der Convention additionelle, die nach M.S. Anderson
am 18. März hinzugefügt und zurückdatiert worden war, wird wiederum der
Terminus „Annexion“ anstelle von „Okkupation“ verwendet.49 Darüber hinaus
wird in Artikel 3 festgehalten, dass im Falle von Gebietsverlusten oder der Auf-
lösung des Osmanischen Reichs die Gründung eines großen kompakten südsla-
wischen Staates ausgeschlossen sei („[e]n cas d’un remaniement territorial ou
d’une dissolution de l’empire ottoman l’établissement d’un grand état compact
slave où autre est exclu“).50
Beide Konventionen begünstigten Österreich-Ungarn: Ihm wurden ­territoriale
Zuwächse für bloße Neutralität und diplomatische Unterstützung angeboten,
während Russland die Kriegsführung ohne Aussicht auf Gebietsgewinne auf

46 Anderson 1991, p. 186; Stavrianos 2000, p. 405. Laut Haselsteiner, 1996, p. 28f., betrachtete
der Kaiser die Konvention von Reichstadt als nicht verbindlich. Er war darauf vorbereitet,
sich nur so lange daran zu halten, wie es die Russen täten, und auch dann nur, wenn dies
nicht österreichisch-ungarischen Interessen schaden würde.
47 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 384.
48 Convention secrète entre la Russie et l’Autriche-Hongrie, (Appendix B). Zit. n. Siccama 1950
(n. p.).
49 Anderson 1991, p. 193.
50 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 91.

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90 Raymond Detrez

sich nehmen sollte, denn in Erinnerung daran, was während des Krimkriegs
vorgefallen war, sah Russland Österreich-Ungarns Neutralität als äußerst wich-
tig an. Dies bedeutete freilich nicht, dass St. Petersburg seine Balkan-Ambiti-
onen aufgegeben hätte. Als Ergebnis und Folge der Convention secrete verab-
schiedete sich Russland von seinen Interessen auf dem westlichen Balkan nur
deshalb, um sich ganz auf Bulgarien zu konzentrieren, was am Ende doch eine
viel realistischere Option darstellte.51
Beide Konventionen, sowohl die von Reichstadt als auch jene von Budapest,
zeigen Andrássy als aktiven Teilnehmer in einem diplomatischen Tauziehen,
das darauf abzielte, die Kontrolle über Bosnien und die Herzegowina zu er-
langen; Eduard von Wertheimer nennt vor allem letzteres Abkommen als „den
Kern­punkt seiner [= Andrássys, R.D.] diplomatischen Erfolge.“52 Von Mai 1877
an verhandelte An­d­rássy auch mit Disraeli, erzielte aber keine Übereinstim-
mung. Österreich-Ungarn würde eine Allianz mit Großbritannien eingehen,
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sollte Russland die Convention secrète entweder durch die Annexion von Ge-
bieten einen großen slawischen Staat schaffen oder Konstantinopel besetzen.
Inzwischen bestand England darauf, österreichisch-ungarische Truppen auf
britischen Marineschiffen zum Bosporus zu bringen.53 Gleichzeitig ermutigte
Andrássy Großbritannien, die türkischen Meerengen militärisch zu verteidigen,
und schlug vor, Österreich-Ungarn könne ganz einfach Russland durch einen
Angriff in dessen Rücken zum Rückzug vom Balkan zwingen.54 In seiner Obst-
ruktion einer etwaigen westlichen Intervention hielt sich Andrássy eigentlich
an das Versprechen gegenüber Russland in der Convention secrète; zugleich hielt
er Großbritannien gleichsam in Reserve für den Fall, dass Russland sein Ver-
sprechen nicht halten würde. Zunächst jedoch verhielt sich Russland loyal ge-
mäß der getroffenen Übereinkunft. Während seiner Verhandlungen mit Serbien
über dessen Beteiligung am Russisch-Türkischen Krieg lehnte St. Petersburg
serbische Forderungen nach Bosnien-Herzegowina als potenzielle Kriegsbeute
ab.55 Wien warnte die Serben davor, in Bosnien und der Herzegowina einzu-
dringen, und ermutigte sie indes dazu, ihre Truppen südwärts in das osmanische
Vilajet Mazedonien zu schicken: in ein Gebiet also, das von Russlands Protegés –
den Bulgaren – beansprucht wurde, obwohl die serbischen Truppen viel nötiger

51 Vgl. Jelavich 1991, p. 171; Petrovich 1976, p. 391.


52 Wertheimer 1913, vol. 2, p. 394.
53 Vgl. Anderson 1991, p. 197.
54 Vgl. Nastev, Georgi: Disraeli Lord Bikonsfild i osvoboždenieto na Bălgarija ot turs­koto
robstvo. Sofia: Srebăren lăv 1998, vol. 2, p. 75.
55 Vgl. Petrovich 1976, p. 394.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit91

gewesen wären, um die Armee des Zaren zu unterstützen, die in Nordbulgarien


in die Enge getrieben worden war.56
Gegen Ende Januar 1878 erreichte die russische Armee die Vororte Kons-
tantinopels. Am 23. Januar 1878, nach mehreren Warnungen an Russland, die
Meerengen zwischen Schwarzem Meer und Ägäis nicht zu besetzen, beorderte
Großbritannien seine Mittelmeerflotte (die bereits in der Nähe der Dardanellen
vor Anker lag) in Richtung Konstantinopel. Mehr galt es nicht zu tun, denn es
reichte aus, um Russland dazu zu bringen, den Waffenstillstand von Edir­ne am
31. Januar zu unterschreiben. Anfang Februar zeigte Österreich-Ungarn eine
gesteigerte Bereitschaft, ein Militärbündnis mit Großbritannien zu schließen,
aber schließlich wurden doch keine Truppen entsandt, um eine mögliche briti-
sche Intervention zu unterstützen.57 Der Historiker W.N. Medlicott meint, „[i]
t is impos­sible to avoid the conclusion that Andrássy was conscious of the ad-
vantage of holding back in the hope the impetuosity of the British government
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would lead it to bear the risks of war alone.“58


*

Wegen der britischen Kriegsdrohungen hatte Russland nicht sein Kriegsziel,


den Bosporus, erreicht, aber doch einen eindrucksvollen Sieg errungen, der
ihm ermöglichte, mit der Hohen Pforte aus einer Position der Überlegenheit zu
verhandeln. So schuf schließlich der sog. Vorfrieden von San Stefano am 3. März
1878 ein großes autonomes, aber tributpflichtiges bulgarisches Fürstentum, das
Mazedonien, Thrakien, Westserbien und einen kleines Teil des heutigen Alba-
nien mit einschloss. Dieses Territorium sollte vor seiner Unabhängigkeit zwei
Jahre lang von einer 50.000 Mann starken russischen Armee besetzt und von
Russland verwaltet werden. Serbien, Montenegro und Rumänien sollten, anstatt
tributpflichtige Fürstentümer zu sein, den Status unabhängiger Staaten erhalten.
Serbien sollte außerdem die Regionen rund um Niš, die Drina und einen Teil
des Sandschak von Novi Pazar besetzen, während Mon­tenegro zwei Adriahäfen
sowie den restlichen Teil des Sandschak bekommen sollte.
Dieser Vertrag war eine Verletzung der Convention secrète in mehrerer Hin-
sicht: Die Kon­vention hatte stipuliert, dass die Formierung neuer territorialer
Entitäten nur nach gegenseitiger Konsultation und Verhandlung geschehen soll-
te. Jetzt freilich hatte Russland eigenmächtig einen großen bulgarischen Staat
geschaffen und ihm gemeinsame Grenzen mit Serbien und Montenegro gege-
ben, was ihnen potenziell ermöglichte, einen machtvollen südslawischen Staat

56 Vgl. Stavrianos 2000, p. 409.


57 Vgl. Anderson 1991, p. 202; Siccama 1950, p. 3f.; Weibel 2002, p. 138.
58 Medlicott 1938, pp. 15 f.

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92 Raymond Detrez

an der habsburgischen Südgrenze zu errichten. Der Vertrag von San Stefano


vermied weiters die Erwähnung der Okkupation – ganz zu schweigen von der
Annexion – Bosniens und der Herze­gowina durch die Doppelmonarchie. Artikel
XIV hielt lediglich fest:
The European proposals [= the creation of an autonomous province, R.D.] commu-
nicated to the Ottoman Plenipotentiaries at the first sitting of the Constantinople
Conference shall immediately be introduced into Bosnia-Herzegovina, with any mo-
difications which may be agreed upon in common between the Sublime Porte, the
Government of Russia, and that of Austria-Hungary.59

Wien fürchtete aber, dass eine autonome Provinz Bosnien-Herzegowina eine


leichte Beute für Serbien wäre (und diese Ängste waren nicht unberechtigt; die
autonome Provinz Ostrumelien, die der Vertrag von Berlin 1878 schuf, wurde
von Bulgarien 1885 straflos annektiert.)
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Bereits im Januar 1878 hatte Kaiser Franz Joseph den russischen Zaren ge-
warnt, dass Europa nicht der Schaffung eines großbulgarischen Staats zu-
stimmen würde und verlangte, eine große internationale Konferenz in Wien
einzuberufen, um die Friedensvereinbarungen mit dem Sultan zu diskutieren.
Er gab zu verstehen, dass, wenn Russland Süd-Bessarabien annektieren sollte,
Österreich-Ungarn auf der Eingliederung Bosnien-Herzegowinas – wie in der
der Convention secrète vereinbart – bestehen würde.60 Während Österreich-Un-
garn einerseits eine Einigung mit Russland suchte, rückte es anderseits näher
an Großbritannien. Es unterstützte zunehmend die ablehnende Haltung des
britischen Außenministers Lord Salisbury für den Vorfrieden von San Stefano;
im Gegenzug unterstützte Großbritannien die österreichisch-ungarischen Ge-
bietsforderungen in Bezug auf Bosnien und die Herzegowina.
*

Anfang März 1878 schmiedete Disraeli, von Andrássy unterstützt, Pläne für
eine Konferenz der Großmächte mit dem Ziel einer territorialen Neuordnung
des Balkan. Die Hohe Pforte war informiert und auch der Zar willigte ein-
gedenk der Kriegsmüdigkeit seines Landes und des katastrophalen Ausgangs
der Krimkrise ein. Die Umrisse des bevorstehenden Abkommens wurden von
den drei wichtigsten der involvierten Parteien – Russland, Österreich-Ungarn
und Großbritannien – noch vor dem Treffen akkordiert. Andrássy forderte
anfänglich die Annexion von Bosnien und der Herzegowina, des Sandschaks

59 Israel, Fred L. (Hg.): Major Peace Treaties of Modern History, 1648–1967. Vol. 2. New
York: Chelsea House 1967, p. 967.
60 Vgl. Siccama 1950, p. 3; Anderson 1991, p. 200.

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Zurückhaltung und Entschlossenheit93

von Novi Pazar und Teilen der montenegrinischen Küste, aber stimmte am 17.
April (angesichts des russischen Einspruchs) der ausschließlichen Okkupation
Bosnien-Herzegowinas zu.61 Russland und Großbritannien erreichten ein erstes
Einvernehmen am 30. Mai; Großbritannien und Österreich-Ungarn schlossen
ihre Verhandlungen am 6. Juni ab.62
So wurde der Vorfrieden von San Stefano vom März 1878 während des Berli-
ner Kongresses (11.-13. Juli 1878) revidiert. Den Vorsitz übernahm der deutsche
Reichskanzler Otto von Bismarck, der in keinster Weise am Balkan interessiert
war. Seine Hauptsorge galt der Rettung des Dreikaiserbundes durch eine Ver-
söhnung zwischen Russland und Österreich-Ungarn. Österreich-Ungarn war
durch Andrássy vertreten, Russland entsandte Gorča­kov und Großbritannien
Lord Salisbury. Kara­theodori Pascha – ein Grieche – verhandelte im Namen des
Osmanischen Reichs. Während der ersten sieben Sitzungen wurde vereinbart,
Großbulgarien durch einen viel kleineren bulgarischen Vasallenstaat innerhalb
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des Osmanischen Reichs und eine autonome osmanische Provinz Ostrumelien


zu ersetzen. In der achten Sitzung wurde die Zukunft Bosniens und der Her-
zegowina diskutiert. Andrássy fürchtete mehr die mögliche Ablehnung in der
Heimat als den Widerstand der anderen Teilnehmer, die er alle (außer Karatheo-
dori Pascha) im Voraus kontaktiert hatte.63 Er opponierte der Schaffung einer
autonomen osmanischen Provinz Bos­nien-Herzegowina, indem er die Wichtig-
keit der Angelegenheit nicht nur für das Osmanische Reich, sondern auch für
Europa als Ganzes unterstrich. Er betonte, dass das Osmanische Reich unfähig
gewesen sei, Frieden und Ordnung in Bosnien und der Herzegowina aufrecht
zu erhalten, bot der Hohen Pforte österreichisch-ungarische Truppen an, um in
Bosnien zu intervenieren („to save the Ottoman and the Austrian Empires from
the Serbian and the Mon­tenegrin menace“) und schlug dann vor, dass der Kon-
gress Österreich-Ungarn das Mandat geben solle, um die beiden osmanischen
Provinzen zu besetzen und zu verwalten sowie Garnisonen im Sandschak von
Novi Pazar zu unterhalten. Lord Salisbury unterstützte Andrássys Vorschlag,
während Großbritannien Zypern forderte. Die Hohe Pforte war entsetzt über
die Forderungen ihrer selbst ernannten ‘Freunde’ und versuchte, sie abzuwen-
den, aber vergeblich: Der österreichisch-ungarische, deutsche und britische
Druck erwies sich als unüberwindlich. Die britischen Vertreter und Bismarck
rieten Andrássy, Truppen nach Bosnien-Herzego­wina zu schicken, ohne auf
die Zustimmung der Hohen Pforte zu warten, aber der österreichisch-ungari-
sche Außenminister wollte nicht vorschnell sein.64 Schließlich wurde der Hohen

61 Vgl. Anderson 1991, p. 205.


62 Vgl. ibid., p. 207.
63 Vgl. Medlicott 1938, p. 42.
64 Vgl. ibid., p. 84.

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94 Raymond Detrez

Pforte zugestanden, ihr Gesicht zu wahren, indem eine Vereinbarung der Details
der Okkupation auf später vertagt wurde.65 So formulierte der Artikel XXV des
Berliner Vertrags, dass
[t]he Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by
Austria-Hungary. The Government of Austia-Hungary, not desiring to undertake
the administration of the Sandjak of Novi-Pazar, which extends between Servia and
Monte­negro in a south-easterly direction to the other side of Mitrovitza, the Ottoman
Administration will continue to exercise its functions there. Nevertheless, in order to
assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as freedom and
se­curity of communications, Austria-Hungary reserves the right of keeping garrisons
and having military and commercial roads in the whole of this part of the ancient Vi-
layet of Bosnia. To this end the Governments of Austria-Hungary and Turkey reserve
to themselves to come to an understanding on the details.66

Auf diese Weise kreierte der Vertrag von Berlin eine Reihe von peinlichen Zwei-
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deutigkeiten. Was anderes als eine de-facto-Annexion konnte die „Okkupation“


und „Administration“ eines (Teils eines) Landes durch ein anderes sein? Das
internationale Mandat war in der Tat die Anerkennung dieser de-facto-Anne-
xion durch die internationale Gemeinschaft. Bezeichnenderweise gaben die
europäischen Mächte 1881 und 1882 freiwillig die rechtlichen und wirtschaft-
lichen Privilegien auf, die ihnen die Übergabe garantiert hatte, und ließen so
erkennen, dass sie Bosnien-Herzegowina nicht mehr länger als Teil des Osma-
nischen Reichs ansahen.
Der internationale Status, den der Berliner Vertrag Bosnien-Herzegowina
gegeben hatte, war nicht nur unmöglich durchzusetzen, wie Kornelis Siccama
aufgezeigt hat;67 tatsächlich gab es gar keine internationalen Durchführungs-
bestimmungen und somit auch keinen klaren Status für das Gebiet. Unter die-
sen Bedingungen ist es verständlich, dass die österreichisch-ungarische Staats-
macht das juristische Vakuum füllte, das die internationale Rechtsprechung
geschaffen hatte. Oder, wie es Tomislav Kraljačić ausdrückt, entwickelten sich
die Beziehung Bosnien-Herzegowinas zur Monarchie „von einer Angelegen-
heit des internationalen Rechts zu einem Fall für das innere Verfassungsgesetz“
Österreich-Ungarns.68

65 Davison, Roderic H.: The Ottoman Empire and the Congress of Berlin. In: Meville/ Schrö-
der 1982, pp. 205–223, hier p. 213.
66 Israel 1967, p. 985.
67 Siccama 1950, p. 9.
68 Vgl. Kraljačić 1987, p. 39: „Dovoljno je samo da ukažemo na č injenicu da se među­
narodno ­pravni odnos Bosne i Hercegovine pre­ma Monarhije sve više pretvara u un-
utrašnji, državno pravni odnos.“

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Zurückhaltung und Entschlossenheit95

Diese Entwicklung wurde durch das k. u. k. Gesetz zur Verwaltung Bosni-


en-Herzegowinas vom 22. Februar 1880 ausgelöst, das in mancherlei Hinsicht die
habsburgisch-osmanische Konvention vom 21. April 1879 verletzte, wenn es um
die praktische Umsetzung von Artikel XXV des Berliner Vertrags ging. So wurde
etwa, nachdem Bosnien-Herzegowina in die k. u. k. Zollunion eingegliedert wor-
den war (was implizierte, dass staatliche Einkünfte, die in der Region erwirtschaf-
tet worden waren, in anderen Teilen des Reichs ausgegeben werden konnten), die
osmanische Währung durch die österreichisch-ungarische ersetzt. Osmanische
Funktionäre wurden weder weiter beschäftigt noch rekrutiert, so wie man ver-
einbart hatte, sondern vor allem aus Kroatien und anderen slawischen Regionen
importiert. Die Sprache, die von der k. u. k. Administration benutzt wurde, war
Deutsch. Von 1882 an wurden die männliche Bevölkerung auch für den Dienst
in der k. u. k. Armee eingezogen. Und schließlich wurden – aus ökonomischen
und administrativen Gründen – österreichisch-ungarische Staatsbürger ermutigt,
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sich in Bosnien-Herzegowina anzusiedeln. Während die Behörden erfolgreich


vermieden, Bosnien und die Herzegowina in die dualen politischen Strukturen
der Monarchie wirklich zu integrieren, wurden also die beiden Provinzen doch
von der Monarchie in allen anderen Bereichen total absorbiert.
Die Hohe Pforte fand sich in einer zwiespältigen Situation wieder. So gab es
etwa rechtlich kaum Möglichkeiten, um die österreichisch-ungarischen Maß-
nahmen abzuändern. Die landläufigste Methode wäre wohl gewesen, osmani-
sche Konsulate in allen größeren Städten Bosnien-Herzegowinas einzurichten,
so wie dies die meisten westlichen Mächte im Osmanischen Reich taten. Trotz-
dem konnte die Hohe Pforte kaum Konsuln in ein Territorium entsenden, das
nominell noch zum Osmanischen Reich gehörte, ohne dabei implizit auf den
eigenen Rechtstitel zu verzichten (Der Repräsentant Konstantinopels in Sara-
jevo hielt sich kaum im Land auf bzw. wurden seine Interventionen von den ös-
terreichisch-ungarischen Behörden entweder obstruiert oder einfach ignoriert.).
*

So war die Okkupation ein großer Erfolg für Österreich-Ungarn – teilweise


auch aufgrund dieser Ambiguitäten und Paradoxien. Durch das Doppelspiel
mit Russland und Großbritannien sowie durch eine Politik, die zwischen im-
perialistischem Expansionismus und Selbstverteidigung gegen die ‘slawische
Gefahr’ pendelte, hatte die Doppelmonarchie Bosnien-Herzegowina ohne grö-
ßeren Krieg gewonnen (abgesehen von dem heftigen Widerstand, den bosni-
sche Serben und Muslime gegen den Okkupationsfeldzug 1878 selbst leisteten).
Außerdem konnte sie sich aller strategischen und ökonomischen Vorteile der
Übernahme der beiden Provinzen erfreuen, ohne mit den Nachteilen fertigwer-
den zu müssen: In der Zeit unmittelbar vor der Berliner Vertrag hatten einige

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96 Raymond Detrez

habsburgische Staatsmänner dafür plädiert, die beiden Provinzen innerhalb des


Osmanischen Reichs zu belassen und sie lediglich in die Zollunion aufzuneh-
men,69 denn eine Okkupation des Gebiets gefährdete die internen dualen Struk-
turen der Monarchie nicht so sehr wie eine Annexion, die die Frage aufgeworfen
hätte, ob es denn jetzt in den österreichischen oder den ungarischen Reichteil
aufzunehmen sei. Von 1878 bis 1908 blieb daher Bosnien-Herzegowina ein Pro-
tektorat, das von den gemeinsamen österreichisch-ungarischen Institutionen
regiert wurde. Medlicott fügt hinzu, das seine Okkupation statt einer Annexion
es auch einfacher gemacht habe „to avoid undertaking responsibility for the
debts of the two provinces“; die Doppelmonarchie habe darauf vertraut, „that
the annexation would come about naturally in course of time.“70 Alle Vorschläge
von 1882, 1896 und 1907, die Provinzen zu annektieren, wurden jedoch abge-
lehnt, vor allem wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen dem österrei-
chischen und dem ungarischen Reichsteil über Fragen der Machtverteilung.71
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Unter den externen Gründen, die für eine Okkupation sprachen, war zwei-
felsohne der heftige Widerstand der Pforte gegen eine Annexion. Karatheodo-
ri Pascha stimmte der habsburgischen Besetzung Bosnien-Herzegowinas erst
zu, als Andrássy sie provisorisch nannte und dem Sultan auch weiterhin die
Souveränitätsrechte über das Gebiet zugestand.72 Die provisorische Natur der
Okkupation war freilich trügerisch, da der Vertrag von Berlin keinerlei Fristen
angab; sie war nur dafür gedacht, Karatheodori Pascha noch einmal sein Ge-
sicht wahren zu lassen. Zusätzlich verschleierte sie unter einem internationalen
Mandat die expansionistische Absicht Österreich-Ungarns und ließ sie als eine
humanitäre Intervention erscheinen. Die Habsburger Monarchie fühlte sich of-
fenkundig zu einer moralischen Rechtfertigung für die Okkupation gemüßigt,
wenn sie sich auf das internationale Mandat bezog, auf ihre „Friedens- und
Kulturmission“ und die Notwendigkeit, als europäisches Bollwerk gegen den

69 Vgl. Juzbašić 1982, p. 131ff.


70 Medlicott 1938, pp. 72 f.
71 Kapidžić, Hamdija: Diskusije o državno pravnom položaju Bosne i Hercegovine za vri-
jeme austrougarske vladavine i pokušaj aneksije. In: Glasnik arhiva i Društva arhivskih
radnika Bosne i Hercegovine 4–5 (1965), p. 135ff.
72 Vgl. Anderson 1991, p. 212, Fußnote 1.- Im August 1878 erklärt Andrássy arrogant im
Ministerrat: „Wenn wir selbst erklären, daß Dalmatien und Kroatien sichergestellt seien,
daß die Reformen zur Verbesserung des Loses der Bevölkerung Bosniens und der Herce­
govina durchgeführt, alle wirtschaftlichen Kon­se­quenzen aus diesem Verhältnis durch
die Handelsverträge usw. für uns gezogen seien – wenn wir dies alles tun und die Pforte
Bürgschaften dafür bietet, daß sie diese Provinzen nach ihrer Uebernahme nicht wieder
deterioriert, dann, d. h. nie­mals, könne von dem Ende der Okkupation die Re­de sein.“
(Wert­heimer 1913, vol. 3, p. 158)

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Zurückhaltung und Entschlossenheit97

Panslawismus zu agieren.73 Sogar die aus dem Mittelalter stammenden ungari-


schen Herrschaftsansprüche auf Bosnien-Herzegowina wurden bemüht.74
Die k. u. k. Okkupation Bosnien-Herzegowinas war aber keineswegs proviso-
risch (obwohl dies die frühere Besatzung der Walachei und Moldau durch Russ-
land durchaus gewesen war), und die Hohe Pforte dürfte sich dessen bewusst
gewesen sein. Auch war es durchaus das Wunschdenken der örtlichen Muslime
und Serben – beide auf ihre Weise –, dass die Okkupation eines Tages zu einem
Ende kommen würde; dies erklärt ihre heftigen Reaktionen, als Bosnien-Herze-
gowina 1908 schließlich doch von der Habsburger Monarchie annektiert wurde.
*

Somit war die österreichisch-ungarische Okkupation das Ergebnis einer Viel-


zahl von divergierenden und manchmal sogar widersprüchlichen Überlegun-
gen, was heute wohl als gut geplant, ja listig erscheinen mag, in Wahrheit aber
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eher das Resultat von zögerlichen bis riskanten Reaktionen auf wechselhafte
Gelegenheiten darstellte. Die Doppelmonarchie verfolgte auf dem Balkan eine
Politik, die zwischen kolonialen Ambitionen und innerer Schwäche, ja Zerris-
senheit schwankte, zwischen Zusammenarbeit und Konkurrenz mit Russland,
zwischen imperialistischer Aggression und den Ängsten eines dahintreiben-
den Staatsgefüges, zwischen Zurückhaltung und Entschlossenheit, sich in der
Region zu engagieren – während man im Inneren bemüht war, das wankende
Gleichgewicht zwischen den beiden Reichshälften aufrecht zu erhalten. Das
Resultat dieser ambiguen, aber schlussendlich lohnenden Politik war die Erwer-
bung Bosnien-Herzegowinas, dessen Status – international und innerhalb des
Reiches – unbestimmt war: War es immer noch ein Teil des Osmanischen Reichs
oder schon ein Teil der Habsburger Monarchie? War es ein internationales Pro-
tektorat, eine österreichisch-ungarische Kolonie oder – ab 1910 – eines der
habsburgischen Länder? Sogar die Herrschaft der k.u.k. Institutionen erhielt ein
nützliches Maß an Ambiguität aufrecht in ihrer Vermeidung der Zuschreibung
einer eindeutigen Zugehörigkeit zu einer der beiden Reichshälften – in einem
Staat, in dem fast alles andere entweder österreichisch oder ungarisch war. Die-
ser Wust an Ambiguitäten, der Österreich-Ungarn half, Bosnien-Herzegowina
zu erwerben, half ihm auch, diese Errungenschaft im Angesicht sowohl seiner
Bürger/innen als auch der internationalen Gemeinschaft zu rechtfertigen. Das
dramatischste Paradox dieses Unternehmens – zugebenermaßen das Resultat
von meisterlicher Diplomatie und verfeinertem political engineering – war, dass

73 Vgl. Kraljačić 1987, p. 21. 73


74 Vgl. Haselsteiner 1996, p. 20.

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die österreichisch-ungarische Okkupation und spätere Annexion die südslawi-
sche Gefahr, die es in Schach halten sollte, nur noch vergrößerte.
(Aus dem Englischen von Clemens Ruthner)
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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht
angefochten“

Die Haltung Ungarns zu Bosnien-Herzegowina bis zur Ära


Kállay

Imre Ress (Budapest)

In der zeitgenössischen ungarischen Öffentlichkeit, die die Inbesitznahme der


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osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina durch die Habsburgermon-


archie mehrheitlich ablehnte und deswegen bei allen sich ergebenden Gelegen-
heiten ihren Unmut äußerte, herrschten lange Zeit die Topoi der ‘orientalischen
Rückständigkeit’, der ‘nutzlosen finanziellen Belastung’ und der ‘Heimat des
blutigen Hasses’ mit zäher Beständigkeit vor. Diese negativen Bosnien-Vor-
stellungen verbreiteten sich zunächst aufgrund der journalistischen Sensa-
tionsberichterstattung über die Gewalt, Brutalität und Ausschreitungen der
christlichen Aufständischen wie der muslimischen Freischärler während der
großen Orientkrise in den Jahren 1875–78, wobei auch stets die immanenten
Gefahren dieses potenziellen territorialen Zugewinns unterstrichen wurden.
Hinzu kamen die Nachrichten über den heimtückischen bewaffneten Wieder-
stand der bosnisch-herzegowinischen Muslime und über die erlittenen Verluste
der glücklos agierenden k. u. k. Okkupationsarmee 1878 (darunter eine unga-
rische Husarenkompanie und das Budapester Infanterieregiment), welche in
der breiten Öffentlichkeit den berüchtigten Fanatismus und die vermeintliche
Unzivilisiertheit der dortigen Bevölkerung glaubhaft erscheinen ließen. Auch
in den ersten Jahren der wirtschaftlichen und militärischen Eingliederung der
Okkupationsgebiete in die Monarchie verstärkten die wiederholten Revolten
gegen die österreichisch-ungarische Verwaltung das Befremden in Ungarn über
jene kostspieligen und schwer regierbaren Zustände.1

1 Vgl. Arató, Endre: Madjarsko javno mnjenje i Bosna i Hercegovina (1875–1878). In:
Petrović, Rade (Hg.): Međunarodni naučni skup povodom 100-godišnjice ustanaka u Bos-
ni i Hercegovini, drugim balkanskim zemljama i istočnoj krizi 1875–1878. godine. Sara-
jevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1977, vol. 2, pp. 49–53; Bencze,
László: Bosznia és Hercegovina okkupációja 1878-ban. Budapest: Akadémiai Kiadó 1987,

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100 Imre Ress

Trotz dieser deprimierenden Momente in der Begegnung mit den neu er-
oberten Provinzen wurde die sich im Sommer 1875 entfaltende Auflehnung der
südslawischen Orthodoxen und Katholiken gegen die willkürliche osmanische
Staats- und Sozialordnung von der überwiegend nationalliberal eingestellten
ungarischen Führungsschicht zwar mit Angst, doch mit einem gewissen Ver-
ständnis beobachtet, weil das Streben der christlichen Untertanen nach recht-
licher und nationaler Gleichstellung dem Zeitgeist entsprechend als gerecht
empfunden wurde. In dieser Periode unmittelbar vor der Okkupation wurden
vorwiegend die osmanischen Repressalien gegen die Aufständischen von unga-
rischer Seite angeprangert, und über den Leidensweg der christlichen Flücht-
linge, die in südungarischen Städten wie Temeschwar (Timișoara) und Neu-
satz (Novi Sad) Aufnahme fanden und von den lokalen Behörden materielle
Unterstützung erhielten, teilnahmsvoll berichtet. Eine Zeitlang drückte selbst
die Regierung in Budapest ein Auge zu, als die ungarländischen Serben nicht
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nur Spenden zur Unterstützung der Aufständischen sammelten, sondern viele


von ihnen den Kämpfern zu Hilfe eilten.2
Neben humanitären Überlegungen wurde das ungarische Krisen-Verhalten
vorwiegend von theoretisch-ideologischen Freiheitsprinzipien geleitet, die sich
nach der ernüchternden Erfahrung der Nationalitätenkonflikte der Revolutions-
zeit und der Verhinderung der staatlichen Unabhängigkeit durch die russische
Militärintervention 1848/49 erst im Laufe der Auseinandersetzungen um die Neu-
gestaltung der Habsburger Monarchie in den 1860er Jahren inhaltlich mit kon-
junkturell geformten Wertinhalten herauskristallisierten und nachhaltig in die
nationalliberale Ideenwelt Eingang fanden. In der postrevolutionären politisch-li-
terarischen Elite herrschte die allgemeine Überzeugung und ein völliger Konsens
darüber, dass sich die Wiederherstellung und das sichere Fortbestehen eines selb-
ständigen ungarischen Staates innerhalb der dualistisch-konstitutionellen Habs-
burgermonarchie im benachbarten südosteuropäischen Umfeld entscheiden wür-
de, wo sich das islamisch-theokratische Osmanischen Reich unreformierbar dem
unaufhaltsamen Zerfall näherte, was eine nationale Befreiung der christlichen
Balkanvölker und ihre staatliche Wiederherstellung erfordere. Sowohl Baron
József Eötvös, der liberale Theoretiker der nationalen Frage, als auch einfluss-

pp. 90–102; Schiefner, Károly: A Boszniai-Hercegovinai okkupációs hadjáratban résztvett


32-es bajtársak visszapillantása 1878-tól a mai napig. Budapest: Pallas Rt. 1918, p. 6ff.; vgl.
weiters: Bosznia megszállása. In: Vasárnapi Újság, 01. 09. 1878, pp. 549–552.
2 Vgl. Diószegi, István: Bismarck und Andrássy. Ungarn in der deutschen Machtpolitik in
der 2. Hälfte des 19. Jhs. Wien: Oldenbourg 1999, p. 307f.; Pal, Tibor: Mađarska politička
javnost i srpsko pitanje na Balkanu, 1860–1878. Novi Sad: Univerzitet Novi Sad, Filozofs-
ki fakultet 2001, p. 118ff.; Simonyi, Mária: Újvidék els őmagyar nyelvű politikai lapja. In:
Hungarológiai Közlemények 14 (1982), nr. 50, p. 80; Fővárosi Lapok, 24. 08. 1875, p. 863.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“101

reiche liberale Meinungsbildner wie die Schriftsteller Baron Zsigmond Kemény


und Mór Jókai legten übereinstimmend den langzeitig geltenden Grundsatz in
der orientalischen Frage fest, wonach eine natürliche Interessengemeinschaft
zwischen der ungarischen konstitutionellen Staatlichkeit und der Unabhängig-
keitsbestrebungen der Balkanvölker darin bestehe, die territoriale Einverleibung
des osmanischen Erbes durch die beiden angrenzenden Großmächte – das zen-
tralisiert österreichische und das autokratisch russische Reich – zu verhindern.
Aus diesem vorgeblichen regionalen Aufeinander-Angewiesensein der südost-
europäischen und ungarischen Nationalbewegungen leitete der auch publizis-
tisch äußerst aktive Romancier Jókai – ausdrücklich auf das ungarisch-serbische
Verhältnis zugeschnitten – das Vorhandensein einer freiheitlichen Solidarität im
Sinne des beiderseitigen natürlichen Anspruchs auf den eigenen Nationalstaat
unter gegenseitiger Beachtung der historischen Landesgrenzen her:
Das anständige freisinnige Brudervolk, das die unteren Ausläufer unserer Karpaten
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bewohnt und an den freien Institutionen seines Vaterlandes eifriger als mancher
Skythen-Sprössling festhielt, soll mit der Unterstellung des Meuchelmords am Vater-
land nicht beleidigt werden. Dem slawischen eroberungslustigen Element gegenüber
ist das freisinnige slawische Element unser natürlichster Verbündeter. […] Bewilligen
wir und seien wir dafür, dass jede Nation, die mit unseren Landsleuten sprachlich
verwandt ist, ihr Vaterland unter den eigenen historischen Grenzen finden kann, so wird
sie unsere [Nation] nicht untergraben. […] wenn der Serbe ein glückliches Vaterland
unterhalb der Donau besitzt, wird er es nicht mehr im Banat suchen.3

In diesem Kontext der möglichen wechselseitigen Abhängigkeit bildete das zu-


künftige dualistische Ungarn den stärksten Garanten für die Vereitelung der
österreichischen Expansionspolitik nach Südosten. Des Weiteren kündigte die
ungarische Befürwortung der nationalstaatlichen Verselbständigung der auto-
nomen rumänischen und serbischen Fürstentümer auf freiheitlich-konstitutio-
neller Grundlage die liberale Revision der auf die Bewahrung des osmanischen
Status quo ausgerichteten österreichischen Balkanpolitik an. Dies geschah
einerseits, um die Attraktivität der zaristischen Befreiungsmission auf dem
Balkan zu entwerten und anderseits, um die Zurückdrängung des russischen
Einflusses durch die Vermittlung der Werte der europäischen Bürgergesellschaft
im ganzen Raum zu erwirken.4

3 Jókai, Mór: A birodalom alkotmányos rendezése magyar felfogás szerint. In: Magyar Sa-
jtó, 11–17. 09. 1862. Zit. n. Ders.: Cikkek és beszédek. Vol. 6, 1861. január 7–1865. június
24. Hg. von József Láng et al. Budapest: Akadémiai Kiadó 1975 (= Jókai Mór Összes Mű-
vei), p. 196f. (Die Übersetzung dieser und anderer ungarischer Zitate erfolgte, so nicht
anders angegeben, durch den Autor.)
4 Vgl. Csukás, István: Irodalmunk nemzetiség szemlélete a szabadságharc után (1848–
1867). In: Acta Historiae Litterarum Hungaricarum 19 (1983), pp. 44–48; Ress, Imre: A

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102 Imre Ress

Diese Grundideen des nationalliberalen ungarischen Balkankonzeptes fanden


vor allem unter den Serben einen bedeutenden positiven Widerhall. Seit der
Mitte der 1860-er Jahre knüpfte das Fürstentum Serbien die Vereitelung der
österreichischen dynastisch-imperialen Expansion ausdrücklich an den Erfolg
der ungarischen liberalen verfassungsrechtlichen Bemühungen, d. h. an die dua-
listische Umwandlung der Habsburger Monarchie. Aus diesem Grund unterließ
die Regierung in Belgrad die Unterstützung der territorialen serbischen Auto-
nomie in der Wojwodina und akzeptierte den bipolaren Dualismus, also den
Ausbau des ungarischen Einflusses in der Monarchie, weil diese staatsrechtliche
Lösung den durch nationale Bestrebungen der Tschechen und Kroaten getra-
genen Föderalismusgedanken blockierte.5 Als Reaktion auf den Ausschluss
Österreichs aus dem Deutschen Bund 1866 verlangte die austroslawische föde-
ralistische Presse die alsbaldige Eroberung Bosniens und der Herzegowina, ja
sogar die gänzliche Befreiung der Südslawen von der osmanischen Herrschaft
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und ihre Einverleibung bis zum Bergrücken des Balkangebirges als dringende
Notwendigkeit. Dies hatte zum Zweck, dem demografischen und territorialen
Übergewicht Ungarns innerhalb der Monarchie durch eine Erhöhung des sla-
wischen Bevölkerungsanteils entgegenzuwirken und dadurch die Entstehung
eines österreichisch-ungarischen Dualismus zu verhindern.6
Nach den gescheiterten früheren französischen Tauschprojekten, die den An-
schluss der benachbarten Gebietsteile des Osmanischen Reiches an das Habs-
burgerreich als Kompensation für das freiwillige Abtreten seiner italienischen
Besitzungen vorsahen, gewann die territoriale Neugestaltung am Balkan im
Laufe der Pazifizierung des kretischen Aufstands 1866–1867 erneut an Aktu-
alität, als Pläne zur administrativen Vereinigung Bosniens und der Herzego-
wina mit dem Fürstentum Serbien – neben der Aufrechterhaltung der Souve-
ränitätsrechte des Sultans – als ein Mittel zur Stabilisierung des Osmanischen
Reiches in der internationalen Diplomatie erwogen wurden.7 Der nach dem

magyar liberálisok és a Szerb Fejedelemség az 1860-as években. In: Németh, G. Béla (Hg.):
Forradalom után – kiegyezés előtt. A magyar polgárosodás az abszolutizmus korában.
Budapest: Gondolat 1988, pp. 496–516.
5 Ress, Imre: A szerb külpolitika és a Habsburg-monarchia dualista átalakulása (1865–
1867). In: Dénes, Iván Zoltán / Gergely, András / Pajkossy, Gábor (Szerk.): A magyar
polgári átalakulás kérdései. Tanulmányok Szabad György 60. születésnapjára. Budapest:
ELTE Bölcsészettudományi Kar 1984. pp. 381–392.
6 Vgl. [Anonym]: Am Wendepunkte der Geschichte Oesterreichs. In: Politik. Politisch-fö-
deralistisches Tagblatt [Prag], 31.08. 1866; Oesterreich und die Völker Oesterreichs nach
dem Kriege im Jahre 1866. In: Politik, 08. 09. 1866; weiters Korunić, Petar: Jugoslavens-
ka ideja u hrvatskoj politici 1866–1868. In: Zbornik Zavoda za povijesne znanosti JAZU
(Zagreb) 11, 1981. pp. 20–22.
7 Vgl. Hoffmann, Georg: Die venezianische Frage zwischen den Feldzügen von 1859 und
1866. Zürich, Leipzig: Leemann 1941 (= Schweizer Studien zur Geschichtswissenschaft

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“103

Ausgleich frisch an die Macht gekommene ungarische Ministerpräsident Graf


Gyula Andrássy griff unter den verantwortlichen österreichisch-ungarischen
Entscheidungsträgern allein die Idee der friedlichen Vergrößerung Serbiens auf.
Er stellte sogar in vertraulichen Verhandlungen den Politikern in Belgrad, ja
selbst dem Fürsten Mihail Obrenović seinen politischen Einfluss zur Einglie-
derung der osmanischen Provinzen in das autonome Fürstentum in Aussicht.
Zur diplomatischen Durchführung dieser territorialen Transaktion wurde ein
Kandidat der ungarischen Regierung, Benjámin v. Kállay, als österreichisch-un-
garischer Generalkonsul nach Belgrad, entsandt, dessen Tätigkeit informell der
ungarische Ministerpräsident lenkte.
Der unmittelbare Beweggrund für die Entfaltung des proserbischen unga-
rischen Sonderkurses, der neben der territorialen Vergrößerung auch die Er-
weiterung der Autonomie und die Einführung der liberalen Verfassung Ser-
biens förderte, entsprang aus der aktuellen politischen Notwendigkeit, das neue
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dualistische Staatensystem durch die Aufrechthaltung der unveränderten Na-


tionalstruktur der Habsburgermonarchie zu stabilisieren und vor den unbere-
chenbaren Folgen nationalrevolutionärer Erschütterungen in der osmanischen
Nachbarschaft zu bewahren.8 Trotz aller ungarischen Vorbehalte gegen die
Expansion am Balkan befanden Andrássy und Kállay es für notwendig, auch
die Wünsche und Bedürfnisse bestimmter innermonarchischer Machtfaktoren
zu berücksichtigen. Deshalb plädierten diese beiden prominenten Ungarn auch
für die Einverleibung Türkisch-Kroatiens, welches in seiner nordwestlichen
grenznahen Lage ein Drittel des bosnischen Territoriums ausmachte. Mit diesem
geringen Gebietsgewinn wollte man der nationalkroatischen Forderung nach
der Umsetzung des historisch-territorialen Integritätsprinzips zuvorkommen
und das Verlangen des dynastisch-militärischen Machtzentrums der Monarchie
nach Schaffung eines vergrößerten Hinterlandes für Dalmatien befriedigen.
Schwerpunktmäßig richtete sich die ungarische nationalliberale Balkanpoli-
tik aber auf die baldige Vereinigung Rest-Bosniens und der Herzegowina mit
Serbien unter diplomatischer Vermittlung Österreich-Ungarns und der West-
mächte, um im nördlichen Balkanbereich einen friedlichen nationalstaatlichen
Emanzipationsprozess einzuleiten und eine liberal-rechtstaatliche Entwicklung
anzuspornen. Damit sollten die Einflussmöglichkeiten der russisch-zaristi-

20/2), pp. 37 ff.; Beyrau, Dieter: Russische Orientpolitik und die Entstehung des deut-
schen Kaiserreiches, 1866–1870/71. Wiesbaden: Harrassowitz 1974 (= Veröff. des Osteu-
ropa-Inst. München, Reihe Geschichte 40), pp. 63–72, 92–95.
8 Ress, Imre: Kállay Béni belgrádi diplomáciai működése 1868–1871. [Kandidátusi érte-
kezés kézirata.] Budapest: MTA könyvtára 1993, pp. 84–96; Armour, Ian D.: Apple of
Discord. The ‛Hungarian Factor’ in Austro-Serbian Relations, 1867–1881. West Lafayette:
Purdue Univ. Press 2014,. pp. 36–48.

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104 Imre Ress

schen Autokratie perspektivisch geschmälert, aber auch den zukünftigen dy-


nastisch-österreichischen Expansionsabsichten ein Riegel vorgeschoben wer-
den. Sowohl die Entfaltung eines Austro-Jugoslawismus kroatischer Prägung
innerhalb der Habsburgermonarchie als auch die gesamtsüdslawische Einheit
außerhalb ihrer Grenzen sollten damit verunmöglicht werden. Die bedingte
ungarische Befürwortung der nationalen Befreiung der slawischen Balkanchris-
ten forcierte als Doktrin nur die organischen, von inneren Kräften getragenen
Transformationen, ohne die Entfesselung revolutionärer Aufstände und ohne
die von außen unterstützten militärischen Aktionen gutzuheißen, um die Exis-
tenz des Osmanischen Reiches nicht aufs Spiel zu setzen. Im außenpolitischen
Kalkül des von einer Russophobie befangenen ungarischen Nationalliberalis-
mus galten die Türken nämlich trotz ihres Machtverlustes in den südosteuro-
päischen Randgebieten als wichtige potenzielle Verbündete in der vermeintlich
unausweichlichen kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland. Unter sol-
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chen entgegengesetzten machtpolitischen Überlegungen führte das dreijährige


vorsichtige diplomatische Vortasten von Andrássy und Kállay zu keinem Durch-
bruch. Das ungarische Teilungsprojekt zur Lösung des bosnischen Problems
fand weder innerhalb der Monarchie noch bei den zurückhaltenden Westmäch-
ten die notwendige Unterstützung; von der direkt betroffenen Hohen Pforte, wie
dem begünstigten Serbien, wurde es ebenso abgelehnt.9
Anfang der 1870er Jahre verwandelten die Folgen des französisch-preußischen
Krieges den von Ungarn präferierten serbisch-bosnischen Vereinigungsplan, der
als Voraussetzung Serbiens antirussische Bündnisverpflichtung vorsah, in einen
Anachronismus und setzten auch dem intimen Sonderverhältnis von Belgrad
und Budapest ein abruptes Ende. Vor allem die schwere militärische Niederlage
Frankreichs und die Gründung des Deutschen Reiches schufen – ganz nach
dem Geschmack vieler Balkanslawen – günstige Bedingungen für die Wieder-
belebung einer aktiven russischen Orientpolitik, die ihre Wirkung auf Serbien
nicht verfehlte. Die einseitige russische Kündigung der Pontus-Klausel des Pa-
riser Friedens (1856) wurde in Belgrad als ein überzeugender Machtzuwachs
Russlands verstanden, der dessen Position dem Osmanischen Reich gegenüber
wesentlich verbessern und dessen Einfluss in Südosteuropa entscheidend erneu-
ern werde. In dieser veränderten Konstellation brach die autonome fürstliche Re-
gierung die offensichtlich aussichtslos gewordene balkanpolitische Kooperation
mit den ungarischen Liberalen ab, um von deren Russenfeindlichkeit nicht wei-
ter kompromittiert zu werden. Im Zeichen der slawischen Solidarität wünschte

9 Vgl. Kos, Franz-Josef: Die Politik Österreich-Ungarns während der Orientkrise 1874/75–
1879. Zum Verhältnis von politischer und militärischer Führung. Köln, Wien: Böhlau
1984 (= Dissertationen zur neueren Geschichte 16), pp. 57–62; Beyrau 1974, p. 150f.; Ress
1993, pp. 184–235; Armour 2014, pp. 121–154.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“105

Belgrad auch nicht mehr die Aufrechthaltung des zentralistischen Dualismus,


sondern erhoffte sich vom Erfolg der tschechischen und kroatischen Emanzipa-
tionsbestrebungen und von der Verstärkung austroslawischer Positionen eine
konziliantere Haltung der Habsburgermonarchie gegenüber Russland. Die de-
monstrative Annäherung des Fürstentum Serbiens an Russland im Herbst 1871
beendete die beinahe ein Jahrzehnt dauernde ungarische-serbische Fraternisie-
rung, die ursprünglich vor allem von der gemeinsamen Ablehnung des inzwi-
schen nicht mehr existenten zentralisierten Habsburger Reiches genährt wurde.10
Von den beiden ungarischen Akteuren des serbophilen Kurses hielt der zum
gemeinsamen Außenminister gewordene Gyula Andrássy weiterhin das natio-
nalliberale Grundprinzip für gültig, wonach die Monarchie nicht nur als Garant
der serbischen Eigenstaatlichkeit auftreten, sondern auch deren konstitutionelle
und rechtstaatliche Institutionen fördern sollte. Zur Sicherung der serbischen
Loyalität regte er allerdings den Gebietserwerb in Bosnien-Herzegowina mit
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diplomatischer Vermittlung Österreich-Ungarns nicht mehr an. Auf der Wiener


militärpolitischen Konferenz, welche die künftige außenpolitische Strategie be-
handelte, schloss er sich verbal den Expansionsplänen der dynastisch-militäri-
schen Kreise an und bezeichnete die Annexion Bosniens und der Herzegowina
an die Monarchie langfristig als wünschenswert.11 Während seiner Amtszeit
war er allerdings viel eher bemüht, eine Annexion so lange wie möglich aufzu-
schieben, da er mit schweren internationalen Komplikationen rechnete. Seine
Absicht zeichnete sich klar in der Ablehnung der nach der prorussischen Wende
Serbiens zur Lösung des südslawischen Problems ausgearbeiteten Konzeption
von Kállay ab, welche die Revision des ungarisch-kroatischen Ausgleichs und
eine bedeutende Erweiterung der kroatischen Autonomie vorsah: Jener Gene-
ralkonsul zu Belgrad rechnete nämlich damit, dass die politischen und wirt-
schaftlichen Gegebenheiten eines konsolidierten, national befriedigten Kroati-
ens beträchtlich besser wären als die Zustände in Serbien zu gestalten. Kroatien
zufriedenzustellen, würde dann eine solche Anziehungskraft auf katholische,
und sogar auf die muslimische Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina
ausüben, womit ein natürliches Gegengewicht zur Abwehr der auf die Einver-
leibung der ganzen Provinz gerichteten serbischen Aspirationen gebildet würde.
Außenminister Andrássy hingegen wollte die autonomen kroatischen Organe
zur Stärkung der Sympathien zugunsten der Monarchie nicht in Anspruch neh-
men. Ohne unter den Kroaten eine Hoffnung auf baldige Annexion zu nähren,

10 Ress 1993, pp. 235–280; Armour 2014, pp. 175–196.


11 Vgl. Lutz, Heinrich: Politik und militärische Planung in Österreich-Ungarn zu Beginn
der Ära Andrássy. Das Protokoll der Wiener Geheimkonferenzen vom 17. bis 19. Februar
1872. In: Botz, Gerhard / Hauptmann, Hans / Konrad, Helmut (Hg.): Geschichte und Ge-
sellschaft. Festschrift für Karl R. Stadler. Wien: Europaverlag 1974, hier pp. 32 ff.

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106 Imre Ress

hielt er zur Zügelung der revolutionär-aufwieglerischen serbischen Elemente


die sich allmählich vertiefende Kooperation mit Russland für weniger riskant. 12
Trotz diplomatischer Entspannungsbemühungen zwischen Wien und St. Pe-
tersburg hielten die von Zeit zu Zeit ins Extreme gehenden Pressefehden in der
partikulären ungarisch-serbischen Beziehung das Misstrauen und die gegensei-
tige Irritation aufrecht. Die prorussische Wende Belgrads prägte sich tief in die
ungarische öffentliche Meinung ein und nährte eine permanente Verdachtsat-
mosphäre. Es besteht kein Zweifel, dass die ungarische Presse die Gefahr des
russisch-serbischen Schulterschlusses oft verhältniswidrig überbetonte und den
wachsenden Einfluss der radikal-liberalen Omladina-Bewegung (sowie deren
grenzüberschreitende revolutionäre Aktivitäten) damit in Verbindung brachte.13
Die lange schwelenden Spannungen eskalierten während der großen Orient-
krise, als der serbische Befreiungskrieg gegen die osmanische Herrschaft im
Sommer 1876 in Bosnien vorbereitet wurde. Der russische Oberbefehlshaber
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und die zahlreichen russischen Freiwilligen der fürstlichen Armee beschworen


in Ungarn die so bedrohlich empfundene Entstehung eines vom Zarenreich
abhängigen großen Slawenstaates herauf, der mit seiner Anziehungskraft so-
wohl die Loyalität der ungarländischen Serben erschüttern als auch die völlige
Abtrennung des autonomen Kroatien und den Separatismus weiterer slawischer
Nationalitäten fördern würde.
Die von den serbischen Kriegsvorbereitungen ausgelöste Beunruhigung in
Ungarn schlug sich immer öfters als Kritik der gemeinsamen Außenpolitik nie-
der. Besonders wurde die Zusammenarbeit mit Russland beanstandet; sowohl die
Ermunterung Serbiens zur Einverleibung der aufständischen Provinzen als auch
die Möglichkeit der Verwirklichung der Annexionsabsichten der Monarchie auf
dem Balkan wurden der österreichisch-russischen dynastischen Kooperation
zugeschrieben, die in Ungarn Furcht vor einer Wiederauferstehung der Heiligen
Allianz erregte. Jene die ungarische Gesellschaft seit 1849 durchdringende Rus-
sophobie und das Misstrauen gegenüber dem Wiener Reichszentrum, das nach
dem Ausgleich von 1867 v. a. gegenüber dem gemeinsamen Heer unvermindert

12 Vgl. Diószegi 1999, pp. 260 ff.; Ress, Imre: A magyar Balkán-politika módosulásának indí-
tékai Andrássy külügyminiszteri kinevezése után. In: Erdődy, Gábor / Pók, Attila (Hg.):
Nemzeteken innen és túl. Tanulmányok Diószegi István 70. születésnapjára. Budapest:
Korona 2000, pp. 232–240.
13 Vgl. Arató, Endre: Omladina srpska i madjarsko javno mnenje. In: Milisavac, Živan (Hg.):
Ujedinjena omladina srpska. Zbornik Radova. Novi Sad, Beograd: Matica Srpska, Istorij-
ski Institut 1968, pp. 337–354; Ress 2000, pp. 241 ff.- Die serbische Ujedinjena omladina
srpska (Vereinigte Serbische Jugend) war eine 1866 gegründete lockere Organisation der
Serben aus verschiedenen Ländern, um ihre kulturelle Annäherung zu fördern und das
Volk für die nationale Befreiung und Vereinigung vorzubereiten.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“107

zur Geltung kam, führten schließlich zur machtstrategisch motivierten ideologi-


schen Wende. Das liberale Primat der nationalen Freiheit als Leitmotiv der un-
garischen Balkanbetrachtung wurde schrittweise in den Hintergrund gedrängt
und die nationalstaatliche Einheit und die dualistische Sonderstellung Ungarns
an den unverletzlichen Fortbestand des Osmanischen Reiches gekoppelt.
Dieser Gesinnungswechsel hin zur Türkenfreundlichkeit wurde durch die Er-
innerung an den Freiheitskampf von 1848–49 emotional verstärkt, wozu hoch-
geachtete Zeitzeugen der Revolutionszeit mit ihren Äußerungen und Taten we-
sentlich beitrugen. Zuerst formulierte der Honvéd-General György Klapka eine
moralische Verpflichtung zur Solidarität der Ungarn mit dem von den Serben
bedrohten Osmanischen Reich, das durch die Aufnahme der politischen und
militärischen Emigration sich als einziger Verbündeter während des revolutio-
nären Krieges erwiesen habe.14 Im Zeichen dieser Gesinnung stattete der Sohn
des hingerichteten gesetzestreuen Ministerpräsidenten von 1848, Graf Elemér
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Batthyány, dem Lager des sich zur Abwehr des serbischen Angriffs versammeln-
den osmanischen Heeres einen demonstrativen Besuch ab.15 Nach Beginn der
militärischen Operationen wurde in Ungarn eine permanente Spendenaktion
für die osmanischen Verwundeten gestartet, die auch von dem studentischen
Organisationskomittee mit den jüngsten Erfahrungen der Revolutionszeit, mit
der „mörderischen Undankbarkeit der Serben“ und „der großzügigen Solidarität
der türkischen Brüdernation“ begründete wurde.16 Auch das Frauenkomitee der
Spendenaktion wurde von einer Schlüsselfigur des nationalen Opferkultes 1848
geleitet, der Witwe des Märtyrer-Generals von Arad, János Damjanich.17
Der über die Serben errungene überraschende osmanische Sieg und die Vorzei-
chen der russischen militärischen Intervention ab Herbst 1876 boten viel Anlass zu
gegenseitigen ungarisch-türkischen Sympathiebezeugungen. Der von der ungari-
schen studentischen Jugend dem siegreichen osmanischen Feldherren geschenk-

14 In: A Hon, 05. 09. 1875.


15 Vgl. Fővárosi Lapok, 30. 07. 1876, p. 813; 05. 08. 1876, p. 835.
16 Die symptomatische zeitgebundene historische Begründung der Studentenkomission
lautete: „Die grauen Felsen des Balkan werden durch das Blut von Helden rot gefärbt.
Zwei Nationen ringen dort in einem Kampfe auf Tod und Leben; die eine, der wir eine
Heimat gegeben, als sie verfolgt ward, hat dafür, daß wir ihr die Freundeshand gereicht,
mit Mord vergolten; die andere, mit der wir in Folge von Mißverständnissen Jahrhundete
hindurch gekämpft haben, hat in uns die Brudernation erkannt, unsere Helden als ihre
Freunde empfangen zu einer Zeit, da sie verlassen waren und Jedermann den Magyaren
verleugnete. Durch das Elend des Krieges erschöpft, sind die Türken nicht einmal im
Stande, ihre Kranken zu pflegen. Im gebildeten Europa findet sich keine einzige Nati-
on, welche bereit wäre, die Schmerzen der Leidenden zu lindern. Dürfen wir undankbar
sein?“ (Zit. n. Fővárosi Lapok, 04. 11. 1876, p. 1790).
17 Damjanich Jánosné és a Magyar Gazdaasszonyok Egyesülte. In: Vasárnapi Újság, 28. 01.
1877, p. 49f.; Fővárosi Lapok 13. 04. 1878, p. 419.

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108 Imre Ress

te Ehrensäbel stellte einen ausdrücklichen Protest gegen den russisch-österrei-


chischen Schulterschluss dar, der auch vom Großteil der politischen Elite geteilt
wurde. Die osmanische Reaktion, die Zurückerstattung der Corvina-Codices, die
aus der berühmten mittelalterlichen Bibliothek des Königs von Ungarn erbeutet
worden waren, hatte einen besonders positiven Einfluss auf die öffentliche Mei-
nung. Denn nach dem Ausgleich waren diesbezügliche ungarische Hoffnungen
von Wien nicht erfüllt worden: Die in die kaiserliche Sammlung in Wien gelang-
ten repräsentativen ungarischen Kunstwerke und historische Quellen hätten den
ärmlichen Bestand des nationalen Museums und die Archive in Budapest berei-
chern sollen. Deshalb ging die Turkomanie bei anderen geisteswissenschaftlichen
Gebieten, insbesondere in der historischen Forschung und der Untersuchung der
Sprachverwandtschaft, mit einer aktualpolitischen Konnotation einher und war
immer ein Ausdruck der verschlüsselten Habsburg- und Österreichfeindlichkeit.18
Die starke Verbreitung der Turkophilie in Ungarn wurde dadurch geför-
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dert, dass durch die Ende 1876 in Istanbul verkündete Verfassung die liberalen
Bedenken wegen der autokratischen Ordnung des Osmanischen Reiches im
Prinzip zerstreut waren. Die Bedeutung der Veränderung wurde von dem in
italienischer Emigration lebenden, kultisch verehrten Kämpfer des Unabhän-
gigkeitsgedankens, Lajos Kossuth, beglaubigt, der im Geist des europäischen
russophoben Liberalismus den Krieg des Zarismus gegen das Osmanische Reich
als Aggression gegen Konstitutionalismus und Freiheit wertete:
Die Türken haben das Zeichen der Zeit verstanden. Sie haben allen Völkern ihres Rei-
ches, ohne Unterschied der Raße, Sprache, Religion, auf der Basis der Rechtsgleichheit
eine Constitution gegeben. Der Czar aller Reussen hat seine Waffen in die Waagschale
geworfen, damit die Türken die Freiheit nicht sollen verwirklichen können. Denn er
fürchtete, daß, wenn auch der türkische Halbmond die Leuchtkugel der Freiheitssonne
widerspiegelt, der Glanz derselben in die Finsterniß seines eigenen Sklavenreiches
bringen werde, wie der Lichtstrahl der Befreiung des ungarischen Bauern in die Nacht
der russischen Sklaverei eingedrungen ist. Fort mit diesen die Freiheit hindernden

18 Vgl. Siklóssy, László: Műkincseink vándorútja Bécsbe. Budapest: Táltos 1919; Bertényi,
Iván Jr.: Enthusiasm for a Hereditary Enemy. Some Aspects of The Roots of Hungarian
Turkophile Sentiments. In: Hungarian Studies 27 (2013), nr. 2, pp. 215–217; Fodor, Pál:
Hungary between East and West. The Ottoman Turkish Legacy. In: More Modoque. Die
Wurzeln der europäischen Kultur und deren Rezeption im Orient und Okzident. Festschr.
für Miklós Maróth zum 70. Geb. Budapest: Argumentum Kiadó / MTA Bölcsészettudomá-
nyi Kutatóközpont 2013, p. 413f.; Ress, Imre: Kaiserliches und königlich-ungarisches Ar-
chiverbe und die nationalen Geschichtsschreibungen in Wendezeit. In: Kazbunda, Karel:
Kulturní dědictví a mezinárodní právo. Referáty z vědecké konference konané ve dnech
19.-20. dubna 2013 v Jičíně. Semily: Státní oblastní archiv v Litoměřicích – Státní okresní
archiv Semily pro Pekařovu společnost Českého ráje v Turnov ě 2013, pp. 194–203 u. 413 f.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“109

Waffen, die unter dem Titel der Autonomie nach russischen Muster, in russischer
Sprache für die Bulgaren eine Zwangsjacke bereiten.19

Der Aufmarsch des Zarenheeres an der Donau generierte im Sommer 1877 ent-
lang der östlichen Grenze Ungarns eine gesellschaftliche Massenbewegung zur
Verteidigung des konstitutionellen Osmanischen Reichs und zur Bildung eines
ungarisch-türkischen Bollwerks der liberalen Freiheit gegen das absolutisti-
sche Schreckgespenst Russland. Die zaristisch-russische Kriegserklärung hatte
nämlich zum Verdruss der turkophilen ungarischen Elite nicht zu einer anti-
russischen Solidarität der „Freiheitsliebenden“ in Europa geführt. Vielmehr be-
geisterten sich die englischen Liberalen für die nationale Befreiung der Slawen
auf dem Balkan und starteten eine breite gesellschaftliche Protestbewegung zur
Diskreditierung der traditionell türkischfreundlichen Außenpolitik der konser-
vativen Regierung in London. Ihre ungarischen Gesinnungsfreunde übernah-
men deshalb nur ihre politischen Methoden, und versuchten, nach dem Vorbild
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der Atrocity Meetings durch regelmäßig organisierte Volksversammlungen mit


außerparlamentarischen Druckmitteln in der Doppelmonarchie die militärische
Unterstützung des Osmanischen Reiches, den Verzicht der Einverleibung von
Bosnien und der Herzegowina sowie die parlamentarische Kontrolle über die
Außenpolitik zu erreichen. Vom Ausmaß der gesellschaftlichen Mobilisierung
in Ungarn zeugt, dass die liberale und konservative Opposition binnen andert-
halb Monaten vornehmlich in den Städten mit ungarischer Mehrheit sechzig
Volksversammlungen mit mehr als 200.000 registrierten Teilnehmern abhielt,
um eine türkischfreundliche Wende der österreichisch-ungarischen Außenpo-
litik zu erzwingen.20 Der internationale Rückhalt und teilweise die finanziellen
Kosten der turkophilen Bewegung wurden von der konservativen englischen
Regierung bereitgestellt, die sich von deren Erfolg die Schwächung der Position
des politisch in Ungarn verankerten gemeinsamen Außenministers, Graf Gyula
Andrássy erhoffte, und sogar mit seinem Fall rechnete.21
Von der übertriebenen Turkomanie ließen sich zweifelsohne sowohl der Groß-
teil der politischen Elite als auch die unteren Volksklassen hinreißen. Unter dem
Einfluss der öffentlichen Stimmung rückten im Sommer 1877 auch die ungari-

19 Lajos Kossuth an den Reichstagabgeordneten Sámuel Molnár, Collegno al Baracone 12.


08 1878. In: Korn, Philipp Anton: Die Sympathien für die Türken und die Antipathien
gegen die Russen in Ungarn. Nebst den hierauf bezüglichen denkwürdigen Briefen von
Ludwig Kossuth. Ungarisch-Altenburg [Mosonmagyaróvár]: A. Czéh 1878, p. 26f.
20 Vgl. ibid., pp. 10–22.
21 Vgl. Apponyi, Albert: Emlékirataim. Ötven év. Ifjúkorom. Huszonöt év az ellenzéken. Bu-
dapest: Pantheon 1922, pp. 84–89; Diószegi 1999, pp. 306–312; Szász, Zoltán: Törökbarát
magyarok. Hódítás és közhangulat. In: Rubicon 4 (1992), nr. 8–9, pp. 64–65.

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110 Imre Ress

sche Regierung und die ihr nahestehenden Zeitungen von der nachsichtigen
Leitlinie des gemeinsamen Außenministers gegenüber Russland ab. In der stra-
tegischen Gedankenwelt des Grafen Gyula Andrássy, der einst in Konstantino-
pel der Gesandte der unabhängigen ungarischen Regierung von 1849 war, stellte
die russische Gefahr ein dauerhaftes und bestimmendes Element dar. Auch die
Turkophilie war ihm nicht fremd. Als Außenminister machte er sich dennoch
nicht die zum Extremismus neigenden, unrealistischen ungarischen Vorstellun-
gen zu eigen. Weder die europäischen ­Machtverhältnisse – ­fehlende deutsche
Unterstützung und Unberechenbarkeit des Verhaltens Englands – noch die in-
neren gesellschaftlichen und nationalen Gegebenheiten der Monarchie – v. a.
die Isoliertheit der Ungarn und Polen mit ihrer radikalen Russenfeindschaft –
waren seiner Meinung nach eine ausreichende Basis, um das russische Vor-
dringen am Balkan gewaltsam zurückzuweisen und das Osmanische Reich mit
militärischen Mitteln zu stabilisieren. Statt der in Ungarn allgemein verbreiteten
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Popularität einer protürkischen Aktionspolitik bevorzugte ­Andrássy eindeutig


die Verhandlungsdiplomatie, um im russischen Krieg gegen das Osmanische
Reich mit bilateralen Vereinbarungen die zaristische Expansion in festgeschrie-
benen Grenzen zu halten und mit der Gewährung der wohlwollenden Neut-
ralität die russische Zustimmung für die Besitznahme Bosniens und der Her-
zegowina zu sichern. In seinem strategischen Konzept fiel dem beabsichtigten
Erwerb der beiden südslawischen Provinzen die zweischneidige Rolle zu, die
Bildung eines slawischen Großstaates zu verhindern und die zu gewinnenden
russischen Machtpositionen im östlichen Balkanraum auszugleichen.22 Die von
der ungarischen Regierung verfolgte Alternative begnügte sich mit der Siche-
rung der österreichisch-ungarischen Wirtschaftsinteressen in den grenznahen
osmanischen Provinzen und wollte die heikle Frage der territorialen Eingliede-
rung offensichtlich auf die lange Bank schieben.23
Innerhalb der ungarischen politischen Elite gab es nur zwei gewichtige Per-
sönlichkeiten, die die außenpolitische Linie von Andrássy öffentlich rechtfer-
tigten und auch die Okkupation Bosniens und der Herzegowina für vorstellbar
hielten. Zu jenem Engagement von Ferenc Salamon, Geschichtsprofessor an der
Budapester Universität, und dem Parlamentarier Benjamin Kállay muss erwähnt

22 Vgl. Diószegi, István: Der Platz Bosnien-Herzegowinas in Andrássys außenpolitischen


Vorstellungen. In: Burz, Ulfried / Derndarsky, Michael / Drobesch, Werner (Hg.): Brenn-
punkt Mitteleuropa. Festschr. für Helmut Rumpler zum 65. Geb. Klagenfurt: Carinthia
2000, p. 381f.
23 Diese ungarische Regierungsposition wurde von dem außenpolitischen Ressortleiter des
von Mór Jókai redigierten Tagblattes der Freisinnigen Partei, A Hon (Das Vaterland), in
einem Aufsatz dargelegt: Szatmáry, György: Bosnyákország [Bosniakland]. In: Budapesti
Szemle 13 (1877), nr. 25, pp. 98–99.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“111

werden, dass die beiden bereits zum Ministerpräsident Andrássy ein vertrautes
Verhältnis gepflegt hatten und bestimmt auch in den orientalischen Krisenjah-
ren über seine außenpolitischen Zielsetzungen gezielt informiert worden wa-
ren. Der früher auch journalistisch tätige Historiker der Türkenzeit in Ungarn
Salamon publizierte seine die Erwerbung von Bosnien und der Herzegowina mit
historischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Argumenten rechtfertigenden
Artikel in der regierungsnahen Zeitung A Hon [Das Vaterland], und kritisierte
die das Osmanische Reich idealisierende Auffassung der ungarischen Öffent-
lichkeit. Die Redakteure und externen Korrespondenten der Zeitung führten
eine regelmäßige Polemik gegen den nüchterne historische Fakten aufzählen-
den Gelehrten, und erklärten im Geiste des klassischen Liberalismus den unga-
rischen historisch-dynastischen Rechtsanspruch auf die Einverleibung Bosniens
und der Herzegowina regelmäßig als „überholten Feudalismus“. Nur auf Grund
des nationalen Naturrechts wurde der dortigen Bevölkerung die Bildung eige-
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ner politischer Institutionen, letztendlich also die Selbstbestimmung, gestattet.24


Der informelle Kontakt des von seinem Belgrader diplomatischen Posten zu-
rückgekehrten Jungparlamentariers Benjamin v. Kállay mit dem gemeinsamen
Außenminister war nach ihrer fast zehnjähriger Zusammenarbeit in der Ge-
staltung der Orientpolitik eine Selbstverständlichkeit. Der gleichzeitige Chef-
redakteur und Leitartikler des konservativen Parteiblattes A Kelet Népe [Volk
des Ostens], stellte in seinen Schriften die Lebensfähigkeit und die Reformier-
barkeit des Osmanischen Reiches ab Sommer 1875 äußerst skeptisch dar. Seine
Auffassung ließ er sich auch von dem berühmten Orientalisten Ármin ­Vámbéry
untermauern,25 um die turkophile ungarische Öffentlichkeit auf die machtpoliti-
schen Zusammenhänge der bevorstehenden nationalen Umgestaltung auf dem
Balkan vorzubereiten.26 Nach einem Jahr war sein kritischer Journalismus mit
dem beharrlich dogmatischen Festhalten der ungarischen Konservativen an der
türkenfreundlichen Status-quo-Politik nicht mehr vereinbar. Kállay trat von sei-
nem Zeitungsposten Mitte 1876 zurück und geriet in parteipolitische Isolation.27
Er nahm die Konfrontation mit der extremen Türkenfreundlichkeit der gesam-
ten ungarischen Öffentlichkeit und der Parteien bewusst in Kauf, da er davon

24 Vgl. Gergely, András/Veliky, János: A politikai sajtó története 1875–1892. In: Kosáry, Do-
mokos/Németh, G. Béla (Hg.) A magyar sajtó története 1867–1892. Vol. II/2. Budapest:
Akadémia Kiadó 1985, p. 274f.; Salamon, Ferenc: A keleti kérdés bonyodalma és könnyű
oldala. In: A Hon, 31. 07 1876, p. 1–2; Salamon, Ferenc: Tények és következtetések a keleti
kérdésben. In: A Hon, 01. 08. 1876, pp. 1–2; Körösy, Sándor: Nem kell Bosznia! In: A Hon,
08. 08. 1876.
25 In: Kelet Népe, 08. 10. 1875.
26 Vgl. Gergely & Veliky 1985, p. 324f.
27 Vgl. Vasas, Géza: A bosnyák kérdéstől a magyar hivatásgondolatig. Kállay Béni politikusi
pályaíve 1875 és 1883 között. In: Valóság 41 (1998), nr. 8, pp. 71–93.

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112 Imre Ress

überzeugt war, dass die dualistische Grundlage der Monarchie und ihre Groß-
machtstellung die ungarische Unterstützung der eingeschlagenen gemeinsamen
Außenpolitik, die aus „machtpolitischem Zwang“ nötige Okkupation Bosni-
en-Herzegowinas inbegriffen, erforderte. Seine in der zugespitzten Phase des
russisch-türkischen Krieges großes Aufsehen erregende Parlamentsrede warf
den ungarischen Parteien ihre fehlende Kenntnis der slawischen und orientali-
schen Welt vor und prangerte die beiden vorherrschenden politischen Dogmen,
die Gleichstellung der slawischen Nationalbewegungen mit dem Panslawismus
und die protürkische außenpolitische Orientierung mit dem unbedingten Ver-
trauen in die osmanischen Bündnisfähigkeit, an. Die in belehrender Manier
und akademischer Art vorgetragenen Erörterungen lieferten die begriffsklä-
rende Unterscheidung von Panslawismus und Panrussismus und beleuchteten
die Unvereinbarkeit der osmanischen Theokratie mit der liberal konstitutio-
nellen Staatsordnung, die das Reich des Sultans zum Verfall verurteilte. Diese
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wissenschaftlichen Argumente bewirkten freilich kaum etwas. Im ungarischen


Parlament wurde Kállay pauschal als „Moskowiter” abqualifiziert.28 Symbolisch
für den Unverstand der zeitgenössischen Öffentlichkeit und auch für seine ge-
sellschaftliche Marginalisierung stand die spitzzüngige parlamentarische Notiz
des angehenden Schriftstellers Kálmán Mikszáth. Mit zynischem Hohn machte
er sich über Kállays wissenschaftliche Leistung lustig und zweifelte den Sinn
von dessen Forschungen über die serbische Geschichte an.29
Viel markanter als in seinen Reden im Parlament erörterte Kállay die gesamt-
monarchischen Gesichtspunkte des Erwerbs und der Verwaltung von Bosnien
und der Herzegowina in einem vertraulichen ungarischsprachigen Memoran-
dum gegenüber dem gemeinsamen Außenminister, in dem er sich nicht nur von
der vorherrschenden öffentlichen Stimmung distanzierte, sondern sich auch von
seiner bisherigen Auffassung weit entfernte. Der Anhänger und Interpret engli-
scher liberaler Staats- und Wirtschaftstheorien wurde während der Orientkrise
aufgrund divergierender Bestrebungen mit dem Mangel, dass die Doppelmon-
archie infolge ihrer multinationaler Zusammensetzung über keine einheitliche
Nationalidee verfügte, konfrontiert; die erfolgreiche territoriale Expansion wur-
de mit einem vormodernen Faktor, dem dynastischen Prinzip, gerechtfertigt:
Die oft entgegengesetzten Interessen der nach Sprache, geschichtlicher Entwicklung
und den gegenwärtig bestehenden Institutionen so verschiedenen Völker der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie sind nur allein unter dem Druck der dynastischen

28 Az 1875-dik évi augusztus 28-ára hirdetett országgyűlés képviselőházának naplója XI,


p. 262–265
29 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok. Bd. 3: 1877. Hg. von Gyula Bisztray. Buda-
pest: Akadémiai Kiadó 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei, Bd. 53), pp. 58 f.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“113

Idee ausgleichbar und miteinander in Harmonie zu bringen, da sich im Reiche ein


einheitlicher, alle Verhältnisse des staatlichen Daseins durchdringender gemeinsamer
Geist nicht einzubürgern vermochte. Das dynastische Prinzip oder eigentlich die Dy-
nastie selbst ist daher jener unerschütterliche Fels, der die einzig feste Grundlage des
österreichisch-ungarischen Staatsorganismus zu dessen weiterer einheitlicher Ent-
wicklung bildet. Das höchste staatliche Interesse erfordert daher, dass der dynastische
Gedanke nicht nur unversehrt erhalten bleibe, sondern dass er immer mehr und mehr
zur Geltung gelange, auch in seinen äußeren Kennzeichen immer sichtbarer in den
Vordergrund trete.30

Organisatorische Veränderungen an der dualistischen Staatsordnung, die Stär-


kung der monarchischen Kompetenzen und die Erweiterung der Befugnisse der
gemeinsamen Ministerien schwebten Kállay mit der geplanten Besitznahme
Bosnien-Herzegowinas vor. Zum Anlass derartiger Umstrukturierungen wurde
der Aufbau der dortigen Verwaltung als unmittelbare Reichsprovinz im Wir-
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kungskreis des gemeinsamen Gesamtministeriums gesehen. „Der langwierige


Übergang von der Barbarei zur Zivilisation“ sollte ohne Einführung der Prin-
zipien des Konstitutionalismus und der Volksvertretung unter einer von dem
Monarchen eingesetzten zivilen Regierung stattfinden, damit der Verdacht der
Schaffung einer neuen Militärgrenze zur Überwindung des Misstrauens der
von den regierenden Liberalen aufgebrachten österreichischen und ungarischen
Öffentlichkeit gebannt würde. Kállays Vorstellung von Modernisierung war be-
reits damals die Bevorzugung eines organischen Umwandlungsprozesses, der
„den Eintritt der natürlichen Entwicklung abwartet“ und mit einem pragma-
tisch reduzierten Fortschritt die doktrinäre Befolgung der europäischen Muster,
insbesondere die übereilte Übernahme des Rechtssystems und der Institutio-
nen vermeidet.31 Seine Parlamentserfahrungen während der Orientkrise, die
emotionale außenpolitische Einstellung der ungarischen politischen Elite und
ihr zwiespältiges Verhältnis zur Großmachtstellung der Monarchie führten zu
seiner Überzeugung, die lähmende nationalstaatliche Institution zu verlassen
und sich wieder in den Dienst der gemeinsamen Außenpolitik zu begeben, was
ihm Handlungsspielraum zur erfolgreichen Behandlung des südslawischen Pro-
blems auf dem Balkan eröffnen sollte.
Der Ausgang des russisch-türkischen Krieges Ende 1877 schockierte indes die
ungarische Öffentlichkeit. Die Verbitterung wegen der osmanischen Niederlage,
die Kritik der passiven Außenpolitik und die Entrüstung über die zeitgleiche Be-

30 Vgl. Wertheimer, Eduard: Ein ungedrucktes Memorandum Benjamin von Kállays über die
Annexion Bosniens. In: Ungarische Rundschau für historische und soziale Wissenschaften 3
(1914), nr. 2, p. 427.
31 Ibid., pp. 428 f. u. 434.

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114 Imre Ress

schränkung des Versammlungsrechts kamen in einem neuen Organisationsrah-


men, aber mit alten emotionalen Akzenten zur Geltung. Aufgrund behördlicher
Hindernisse wurden die politischen Versammlungen und Straßenkundgebun-
gen spärlicher, aber das humanitäre Mitleid für die besiegten Türken bewegte
die gesamte ungarische Gesellschaft. Ab Anfang 1878 gab es während der ge-
samten Faschingssaison keine einzige öffentliche aristokratische oder bürger-
liche Veranstaltung, bei der nicht bedeutende Spenden für die verwundeten
Soldaten des Sultans und für die Hilfe der aus den russisch besetzten Gebieten
geflohene halbe Million hungernder Muslime gesammelt wurden.32 Die drohen-
de humanitäre Katastrophe im Osmanischen Reich verstärkte in bedeutendem
Maße die negative Einstellung der ungarischen Gesellschaft gegenüber den in-
zwischen auf 150.000 Flüchtlinge angewachsenen bosnischen Christen. Gegen
die auf Staatshilfe basierende flüchtlingspolitische Praxis der ungarischen Re-
gierung wandten sie ein, dass die arbeitsscheue, träge bosnische Masse, die sie
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mit den unvorteilhaften nationalen Stereotypen der Serben brandmarkte, seit


Jahren durch den Schweiß und Fleiß des schwer besteuerten armen ungarischen
Volkes versorgt werde. Ihren Aufenthalt in der Monarchie hielt man für einen
Risikofaktor, der sowohl für die Unterstützung der Expansionsbestrebungen der
Serben in Anspruch genommen als auch für die Erfüllung der Eroberungsambi-
tionen der südslawischen Generäle des gemeinsamen Heeres in Bosnien-Herze-
gowina benutzt werden könne.33
Die Turkophilie, die Russenangst und der Serbengroll der ungarischen Elite
wirkten auch in der Vorbereitungsphase der neuen Friedensordnung Südosteu-
ropas kräftig und übereinstimmend dem sich abzeichnenden bosnischen Okku-
pationsvorhaben der Monarchie entgegen, doch die parallel gestellten Zusatzfor-
derungen wichen von den bisherigen ab. Vor allem ängstigte die übermächtige
russische Militärpräsenz am östlichen Balkan bzw. in Rumänien sowohl die
regierenden Liberalen als auch die parlamentarische Opposition, weshalb ihnen
das zukünftige Schicksal Bosniens und der Herzegowina infolge der potentiellen
russisch-rumänischen Gefährdung Siebenbürgens als ein nicht dringliches, son-

32 Vgl. Fővárosi Lapok, Januar-Februar 1878, nr. 4, p. 49; Révész, T. Mihály: A gyülekezési
jog magyarországi fejlődéséhez. In: Mezey, Barna (Hg.): Ünnepi Tanulmányok Kovács
Kálmán egyetemi tanár emlékére. Budapest: Gondolat 2005, pp. 105–119, hier p. 114f.
33 Vgl. Pesti Napló, 03. 01. 1878; A bosnyák menekültekről. In: Borsszem Jankó, 28. 04. 1878,
p. 4; Fővárosi Lapok, 18. 07. 1878, p. 799; Schwartz, Michael: Ethnische ‘Säuberungen’ in
der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpo-
litik im 19. und 20. Jh. München: Oldenbourg 2013 (= Quellen und Darstellungen zur
Zeitgeschichte 95), pp. 254–264; Tamás, Ágnes: Nemzetiségek görbe tükörben. 19. századi
nemzetiségi sztereotípiák Magyarországon. Bratislava: Kalligram 2014, pp. 336–339.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“115

dern zweitrangiges Problem erschien.34 Die ungarischen Konservativen wollten


schon aus prinzipiellen Gründen die Zugehörigkeit der beiden Provinzen zum
Osmanischen Reich bewahren. Der liberal-demokratische Flügel der Unabhän-
gigkeitspartei um Lajos Kossuth und Lajos Mocsáry hingegen hielt ihre geteilte
Vereinigung mit Serbien und Montenegro für akzeptabel, um einen regionalen
nationalstaatlichen Umgestaltungsprozess durch Einbindung Ungarns für die
Zukunft offenzuhalten. Die Ablehnung der territorialen Expansion kam aber in
keinem politischen Lager vollkommen zur Geltung; mehr noch, mit dem Nä-
herrücken der Okkupation wurden auch über die Grenzen von Bosnien und der
Herzegowina hinausgehende Gebietsansprüche formuliert. In den Reihen der
Konservativen plädierte das während der Orientkrise pro-annexionistisch ein-
gestellte katholische Zentralblatt, Magyar Állam [Ungarischer Staat] auch für
die Besitznahme des katholisch bewohnten Nord-Albaniens.35 Kálmán Mikszáth,
der geistreich-ironische Darsteller der königstreuen Österreich-Feindlichkeit
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der 1848er-Mentalität in Ungarn, der sehr viel gegen den „sauren Apfelbiss“
der Okkupation wetterte, machte indes unter dem Eindruck der nach Süden
marschierenden Armee eine überraschende Kehrtwende:
Aber wenn unsere tapfere Monarchie schon erobern möchte, erobere sie doch auch
Serbien. Bosnien wird ein ekelerregender Buckel an ihrem Körper sein, aber wenn sie
Serbien angliedert, wird sie die Lücken ausgleichen, ihr Körper wird muskulöser und
athletisch. Serbien, zusammen mit Bosnien an das österreichisch-ungarische Reich
gegliedert und gebändigt, wird in Zukunft einen starken Schutzdeich gegen die slawi-
schen Strömungen bilden. […] Also dahin mit diesen zweihundert Tausend Soldaten!
[…] Es wird keine einzige Träne fallen, es wird kein Murren und keine bedrücken-
de Beschwerde geben, sondern wo immer die Fahnen des gegen Serbien ziehenden
Reichsheeres vorbeimarschieren, werden sich die dreifarbigen Flaggen beugen und
ihnen fröhlich zuwinken.36

Diese schriftstellerische Vision, der jahrelang herbe Kritiken an der Russen-


freundlichkeit und den hochtrabenden Ambitionen der verschmähten „Schwei-

34 „Erheben wir keine Waffe gegen den Hasen, wenn der Bär auf uns losstürzt”, lautete die
Warnung im von Jókai redigierten regierungsnahen Tagesblatt A Hon v. 06. 03. 1878; vgl.
Hegedüs, Lóránt: Lord Beaconsfield politikai ügynökének jelentései gróf Andrássy Gyula
és Tisza Kálmán politikájáról a keleti válság idejében. In: Századok, Pótfüzet 71 (1937), pp.
579–599.
35 Vgl. Pal 2001, pp. 124 f. u. 130 f.; Magyar Állam, 08. 07. 1878.
36 Mikszáth, Kálmán: Ki ellen? In: Szegedi Napló, 24. 08. 1878. In: Ders.: Cikkek és karcola-
tok. Vol 5: 1878. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó 1966 (= Mikszáth
Kálmán Összes Művei 55), pp. 75 ff.- Vgl. Hajdu, Péter: Hungarian Writers on the Military
Mission of Austria-Hungary in the Balkans. Viceroy Kállay and Good Soldier Tömörké-
ny. In: Hungarian Studies 21 (2007), nr. 1–2, pp. 297–300.

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116 Imre Ress

nehändler-Nation” der Serben vorangingen, offenbarte die begehrte seelische


Versöhnung mit der Monarchie und ihrer verhassten Armee, damit der rational
sinnvolle, doch nicht geliebte Ausgleich von 1867 als Garant des einheitlichen,
nationalstaatlichen Fortbestehens der Länder der Krone des Heiligen Stephan
von der ungarischen Gesellschaft auch emotionell akzeptiert werde.37
Nach langem Zögern fügte sich die liberale Regierung in Budapest aufgrund
der machtpolitischen Zwänge dem geringeren Übel. Sie nahm mit dynastischer
Loyalität die in der Wiener Reichszentrale gefallene Entscheidung über die Be-
sitznahme Bosniens und der Herzegowina an, doch für die Beschwichtigung
der türkenfreundlichen Gemüter wurde als Vorbedingung der kommenden mi-
litärischen Intervention die osmanische Einwilligung vorausgesetzt. Obwohl
Andrássy am Berliner Kongress diesen ungarischen Anspruch nicht klar zur
Geltung bringen konnte, 38 rief die zur Gewinnung der öffentlichen Meinung
gestartete Pressekampagne dennoch eine optimistische Zuversichtlichkeit her-
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vor, wonach „die ungarische Waffe nicht mit dem Bajonett des tapferen Nizams
aneinanderschlagen wird.“39 Die Turkomanie erfasste auch die ungarischen
Regimenter des Heeres, und die Strophen des beliebten Klapka-Marsches, die
„zum Schutz der Heiligen Freiheit und des süßen Vaterlands“ zur Waffe riefen,
wurden angesichts des bevorstehenden Militäreinsatzes mit folgendem Inhalt
aktualisiert:
Fürs Vaterland wird unser treues Blut vergossen
Der Türke ist ein Freund, wir schwören: wird nicht angefochten.40

Die allgemein zuversichtliche Gemütslage wandelte sich schon zu Beginn der


Okkupation mit dem vernichtenden muslimischen Überfall auf ungarische Hu-
saren bei Maglaj41 in tiefe Enttäuschung und wahre Empörung, die bei den lau-
fenden Reichstagwahlen den regierenden Liberalen schwere Stimmenverluste
zufügten. Auch die überraschenden Wahlniederlagen des Ministerpräsidenten
Kálmán Tisza und des populären Schriftstellers Mór Jókai in ihren angestamm-
ten Wahlbezirken Debrezin und Budapest-Josefstadt waren eindeutig die Rache

37 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok. Bd. 3: 1877. Hg. von Gyula Bisztray. Bud-
apest: Akadémiai Kiadó 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 53), pp. 27–28, 48, 99 f.,
110; Csukás, István: Mikszáth gondolatai a nemzetiségi kérdésről. In: Acta Historiae Lit-
terarum Hungaricarum 20 (1984), pp. 9–12.
38 Vgl. Diószegi 1999, p. 411f.
39 Ellenőr, 28. 06. 1878.
40 Zit. n. Tóth, József: Bosznia-Hercegovina okkupálásának belpolitikai vonatkozásai. Bud-
apest: Phil. Diss. der Loránd-Eötvös-Universität 1971, p. 72.
41 Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Ruthner (Besetzungen I) im vorl. Sammelband.

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“117

der Wähler für Maglaj und die Okkupation.42 Nach den Wahlen wurden die am
Ruder gebliebenen Liberalen geschwächt, von prominenten Politikern verlas-
sen und innerlich so tief gespalten, dass die Gesetze über die staatsrechtliche
Stellung und Verwaltung der okkupierten Provinzen im ungarischen Parlament
nur durch die Stimmen der kroatischen Abgeordneten mit minimaler Mehrheit
angenommen wurden.
Um die Regierungspartei vor weiteren Zerreißproben zu bewahren, küm-
merte sich die ungarische Politik eine Zeitlang fast ausschließlich um die Ver-
meidung oder Minimalisierung weiterer finanzieller Belastungen.43 Allein die
literarische Autorität Mór Jókai wagte die Okkupation Bosniens und der Her-
zegowina öffentlich als vorteilhaft hinzustellen und moralisch zu rechtferti-
gen. Anlässlich der silbernen Hochzeit des Herrscherpaares verkündete Jókai
in seinem Vortrag im Wiener Akademischen Leseverein das Erwachen eines
bisher fehlenden Monarchie-Patriotismus als den größten Gewinn „des kleinen
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Feldzugs nach Bosnien“ und bezeichnete die vereinigende Kraft der gemein-
samen Armee für Verhaltensmuster der nationalen Intelligenzschichten. Der
Redner wurde in Wien stürmisch gefeiert, in den meisten ungarischen Zeitun-
gen jedoch scharf verurteilt, und musste nach seiner Heimkehr in Budapest vor
aufgebrachten studentischen Demonstranten mit Polizeigewalt verteidigt wer-
den.44 Diese Affäre ist ein eindeutiger Beweis dafür, dass die ungarische Öffent-
lichkeit, von den massenhaft besuchten oppositionellen Protestkundgebungen
beeinflusst, weiterhin gegen die Okkupation eingestellt war. Auch die im Herbst
1878 abgehaltenen Trauergottesdienste für die gefallenen Soldaten hatten einen
ausgesprochenen Protestcharakter gegen die schwarz-gelben Militäroperatio-
nen in Bosnien-Herzegowina, mit denen sich die ungarische Bevölkerung nicht
solidarisierte.45

42 Vgl. [Sebők, Zsigmond]: K—e. Jókai fővárosi választásai. In: Új Idők 3 (1897), nr. 3, p. 69.
43 Vgl. Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok 7: 1879. Hg. von József Nacsády. Budapest:
Akadémiai Kiadó, 1968 (= Mikszáth Kálmán Összes Művei 57), p. 131; Kozári, Mónika:
Ghyczy Kálmán naplója az 1878-as boszniai válságról Világtörténet 1996 (tavasz-nyár),
pp. 62–71; Fónagy, Zoltán: Bosznia-Hercegovina integrációja az okkupáció után. Hata-
lompolitika és modernizáció a közös minisztertanácsi jegyzőkönyvek tükrében. In: Törté-
nelmi Szemle 56 (2014), nr. 1, pp. 30 f.
44 Vgl. [Anonym]: Moriz Jokai in Wien. In: Neue Freie Fresse, Abendblatt, 21. 04. 1879, p. 2.;
Jókai bécsi pohárköszöt ője, Fővárosi Lapok, 30. 04. 1879, p. 483; Gángó, Gábor: Jókai Mór
és Rudolf trónörökös barátsága. In: Irodalomtörténet 84 (2003), nr. 3, p. 387.
45 Vgl.Vasárnapi Újság, 29 09. 1878, p. 624; Mikszáth, Kálmán: Cikkek és karcolatok 6: 1879.
január–június. Hg. von József Nacsády. Budapest: Akadémiai Kiadó 1967 (= Mikszáth
Kálmán Összes Művei 56), p. 235.

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118 Imre Ress

Im Lichte des aufgeregten Widerstands und der andauernden Abneigung in Un-


garn gegen die Besitznahme Bosniens und der Herzegowina ist eine paradoxe
Eigenheit unbedingt zu bemerken: nämlich dass die beiden Provinzen während
ihrer vierzigjährigen Zugehörigkeit zur Doppelmonarchie mehr als drei Jahr-
zehnte lang von ungarischen Ministern regiert wurden. Die langfristige Über-
nahme der Leitung des für Bosnien-Herzegowina zuständigen gemeinsamen
Finanzministeriums erfolgte aus der gewohnheitsrechtlichen Praxis der dua-
listisch-paritätischen Besetzung der beiden gemeinsamen Zivilministerposten,
wonach einer zwangsläufig immer ein Ungar sein sollte.
Nach dem Rücktritt des Außenministers Andrássy im Oktober 1879 wurde
sein Nachfolger ein österreichischer Berufsdiplomat, wodurch ermöglicht wur-
de, dass an die Spitze des gemeinsamen Finanzministeriums, dessen Befugnis
sich schon auf die Verwaltung der frisch erworbenen südslawischen Länder
erstreckte, ein Ungar berufen wurde. Der beim Monarchen bestens angeschrie-
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bene scheidende Minister legte selbst mit der Bestimmung der fälligen Perso-
nalentscheidungen die Schienen für die künftige Bosnienpolitik und ließ die
aufgrund des dualistischen Gewohnheitsrechts den Ungarn zustehenden zwei
anderen Wiener Schlüsselpositionen, die des Sektionschefs im Außenministe-
rium und des gemeinsamen Finanzministers, mit seinen eigenen Kandidaten
besetzen.
Den Posten eines Sektionschefs am Ballhausplatz erhielt Benjamin v. Kállay,
der damit für die Angelegenheiten des Balkans und Orients verantwortlich wur-
de. In dieser Position spielte er bei der Entstehung der mit Serbien abgeschlos-
senen politischen und wirtschaftlichen Verträge sowie beim Zustandekommen
der Vereinbarung mit dem Patriarchen von Konstantinopel über die Stellung der
bosnisch-herzegowinischen Orthodoxie eine entscheidende Rolle. Zum gemein-
samen Finanzminister wurde 1880 ein prominenter Vertreter der alten Garde
(d. h. der Deák-Partei, die den Ausgleich zustande gebracht hatte), nämlich der
frühere Ministerpräsident József Szlávy ernannt. Der erfahrene Wirtschafts-
fachmann war in den südslawischen Verhältnissen überhaupt nicht bewandert
und erwies sich beim Umbau der Militärherrschaft über Bosnien-Herzegowina
zu einer funktionierenden Zivilverwaltung als überfordert.
Den durch die Einführung des Wehrgesetzes ausgelösten Aufstand in der
Herzegowina nahm die von der liberalen Regierungspartei dominierte ungari-
schen Delegation zum Anlass, mit der Verkürzung der für die Niederwerfung
verlangten zusätzlichen Militärausgaben den eigenen angeschlagenen Partei-
genossen Szlávy zu stürzen. Mit diesem ungewöhnlichen Vorgehen wollte der
Ministerpräsident Kálmán Tisza, seinen gräflichen Kandidaten – dem liberalen
Kultuspolitiker Albin Csáky oder dem Agrarier Pál Széchényi – die Übernahme
des gemeinsamen Finanzministeriums ermöglichen und dadurch eine effektive

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„Der Türke ist ein Freund, […] wird nicht angefochten“119

Mitsprache der ungarischen Regierung in der Bosnien-Politik sichern. Die Wie-


ner Reichszentrale favorisierte indes den im diplomatischen Dienst bewährten
Südslawen-Experten Benjamin Kállay, der nach dem Machtwort des Monarchen
beim ungarischen Regierungschef zum gemeinsamen Finanzminister berufen
und mit der Oberaufsicht der Verwaltung Bosniens und der Herzegowina be-
traut wurde.46
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46 Vgl. Ress, Imre: A közös minisztériumok szerepe a magyar államéletben 1867–1900. In:
Limes 11 (1998), nr. 1, pp. 25–31; Ders.: Ungarn im gemeinsamen Finanzministerium. In:
Fazekas, István/Újváry, Gábor (Hg.): Kaiser und König. Eine historische Reise. Österreich
und Ungarn 1526–1918. Wien: Collegium Hungaricum 2001, p. 89–93; Goreczky, Tamás:
Kállay Béni és a magyar delegáció az 1880-as években. In: Fons 10 (2007/3), pp. 431–434.

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ÜBERNAHMEN
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Besetzungen (1)123

Besetzungen (1)

Die Invasoren und Insurgenten des Okkupationsfeldzugs 1878


im kulturellen Gedächtnis

Clemens Ruthner (Dublin/Ljubljana)

Tamara Scheer gewidmet


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Abb. 2. Karikatur des bekannten


Budapester bzw. Wiener Zeichners
László von Frecskay (1844–1916) zur
Okkupation Bosnien-Herzegowinas
1878.

So sieht die Wiener satirische Wochenzeitschrift Die Bombe vom 28. Juli 1878
(Abb. 2) den Okkupationsfeldzug in Bosnien-Herzegowina, der in jenen Ta-
gen begann: Den österreichisch-ungarischen Oberkommandierenden flankie-

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124 Clemens Ruthner

ren drei halbnackte Frauengestalten, von deren Kopfbedeckungen geschlossen


werden kann, dass sie die drei großen Volksgruppen des Landes – Katholiken,
Orthodoxe und Muslime – repräsentieren sollen. Sie bieten dem Invasor Ge-
schenke wie z. B. Rosenöl dar, während zu ihren Füßen Schweine wegrennen,
die die weibliche Grazie des ganzen Aufzugs zu konterkarieren scheinen: ein
ironischer Hinweis, dass es sich bei jenem „Okkupationsgebiet“ – mit Georg
Britting gesprochen1 – um einen (balkanischen) „Bauern-Orient“ mit frei lau-
fenden unreinen Tieren handelte?
Die Karikatur zeigt aber nicht nur, wie Bosnien-Herzegowina von allem An-
fang an populär und wissenschaftlich orientalisiert wurde;2 auch das gendering
bzw. die unterschwellige Erotisierung der militärischen Eroberung kommt nicht
von ungefähr. Sara Suleris Bemerkung, wonach sich der europäische Kolonialis-
mus einer der sexualisierten Bildlichkeit von erotischer ‘Erweckung’ bis hin zu
„geografic rape“ bediene,3 kann dafür sicher herangezogen werden.4 Denn auch
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der Text des Berliner Journalisten Heinrich Renner, der fast zwanzig Jahre nach
der Okkupation erscheint, verwendet eine einschlägige Mann-Frau-Metaphorik:
Dem grossen Publikum blieben […] diese Gefilde gänzlich unbekannt; das bos­nische
Dornröschen schlief noch den jahr­hun­derte­langen Zauberschlaf und fand seine Auf-
erstehung erst, als die kaiser­lichen Truppen die Grenzen über­schritten und die neue
Aera einleiteten. Jetzt wurde das Dickicht, das um Dornröschens Schloss wucherte,
gelichtet und nach rastloser und schwerer Arbeit von nicht zwei Jahrzehnten steht
Bosnien bekannt und geachtet vor der Welt.5

Renners Märchen-Rhetorik erzählt nachträglich die success story der k. u. k. mis-


sion civilatrice6. Bosnien wird zu einer Art orientalischer Sleeping Beauty stili-
siert, ein Dornröschen, das verflucht bzw. vergiftet durch das Osmanische Reich,

1 Zit. nach Sirbubalo, Lejla:“Sie vertrugen sich auch, Allahs Moschee und der Baum meiner
Kindheit”. Georg Brittings Bosnien-Bilder. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.
ac.at/beitrag/fallstudie/LSirbubalo1.pdf (2011), p. 4.
2 Vgl. dazu den Beitrag von Johannes Feichtinger im vorl. Sammelband, der sich auch auf
die nämliche Karikatur bezieht. Wir danken ihm herzlich dafür, die Illustration beige-
steuert zu haben.
3 Suleri, Sara: The Rhetoric of English India, Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1992, p. 15ff
4 Vgl. Abb. 1 (p. 77 des vorl. Sammelbands), die den Balkan und die Türkei als homosozi-
al-männlichen Raum imaginiert, der ohne Semantik des Weiblichen auskommt.
5 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen
von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. V.
6 Vgl. dazu Fónagy, Zoltán: Machtpolitik oder Kulturmission? Überlegungen zur Integra-
tion und Modernisierung von Bosnien und Herzegowina nach der Okkupation. Online:
http://www.tankonyvtar.hu (2010); Feichtinger, Johannes: Modernisierung, Zivilisierung,
Kolonisierung als Argument. Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten
Habsburgermonarchie. In: Dejung, Christof / Lengwiler, Martin (Hg.): Ränder der Moder-

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Besetzungen (1)125

von Europa bzw. einem Habsburger Prinzen aus seinem Koma wachgeküsst
wird (während die obige Titelillustration der Bombe eher eine Vielvölker-Ha-
remsphantasie artikuliert) – ein happier ending?
Das hartnäckige Klischee von Tu Felix Austria Nube (eine wichtige Ingredienz
des habsburgischen Mythos) will es ja auch, dass der österreichische Imperialis-
mus nicht unbedingt als sehr gewalttätig und invasiv gilt, sondern eher für Mul-
tikulturalismus, geschickte Diplomatie und (Heirats-)Politik steht7 – Instrumen-
te, die im Laufe des langen 19. Jahrhunderts freilich immer stumpfer werden,
wie die Situation in Oberitalien und Deutschland 1848 – 1866 zeigt. Ein weiterer
Fall ist die Okkupation Bosnien-Herzegowinas im Sommer und Herbst 1878, wo
die Früchte eines jahrelangen außenpolitischen ‘Antichambrierens’ schließlich
doch durch einen Großeinsatz der k. u. k. Armee eingebracht werden mussten,
der freilich von keinen gastfreien Frauengestalten begrüßt wurde.
In diesem Sinn soll nun im Folgenden der im kulturellen Gedächtnis der sog.
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Nachfolgestaaten weitgehend ausgeblendete, ja verdrängte österreichisch-unga-


rische „Occupationsfeldzug“ von 1878 thematisiert werden,8 der auf das Mandat

ne. Neue Perspektiven auf die europäische Geschichte (1800–1930). Köln, Weimar, Wien:
Böhlau 2016 (= Peripherien. Neue Beitr. zur Europ. Geschichte 1), pp. 147–181.
7 Vgl. dazu etwa Parvev, Ivan: „Du, glückliches Österreich, verhandle“. Militär versus Dip-
lomatie in der habsburgischen Südosteuropa-Politik, 1739–1878. In: Kurz, Marlene et al.
(Hg.): Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Wien: ÖAW 2005 (= Mittei-
lungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 48), pp. 539–550.
8 Der Okkupationsfeldzug von 1878 wird auch in der Habsburg-Sekundärliteratur selten
thematisiert. Unter den wenigen Titeln ist die einzige umfassende Arbeit jene von Ben-
cze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878 [ungar. EA 1987]. Hg.
v. Frank N. Schubert. Boulder: Social Science Monografs et al. 2005 (= War and Society
in East Central Europe XXXIX). Vgl. weiters Ströher, Doris: Die Okkupation Bosniens
und der Herzegovina und die öffentliche Meinung Österreich-Ungarns. Wien: Phil. Diss.
(unveröff.) 1949; Gavranović, Berislav (Hg.): Bosna i Hercegovina u doba austrougarske
okupacije 1878. godine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine
1973; Posebna izdanja akademija nauka i umjetnosti BiH [Sarajevo] 43 (1979); Donia, Ro-
bert: The Habsburg Imperial Army in the Occupation of Bosnia and Hercegovina. In:
Király, Béla / Stokes, Gale (Hg.): Insurrections, Wars and the Eastern Crisis in the 1870s.
Boulder, New York: Columbia Univ. Press 1985 (= East European Monografs), pp. 375 –391;
Baer, Fritz H.: Pulverfass Balkan Bosnien-Herzegowina. Teil 2: Weder die Türken noch die
Russen am Westbalkan. Österreich-Ungarn beruhigt als Ordnungsmacht (= Militaria aus-
triaca [Wien] 12 [1993]); Stergar, Rok: Slovenci in vojska, 1867–1914. Slovenski odnos do
vojaških vprašanj od uvedbe dualizma dozačetka 1. svetovne vojne. Ljubljana: Verlag
der Phil. Fak. 2004 (= Historia 9), insbes. pp. 87–141; Schindler, John: Defeating Balkan
Insurgency. The Austro-Hungarian Army in Bosnia-Hercegovina, 1878–82. In: Journal of
Strategic Studies 27(2004), pp. 528–52; Wohnout, Helmut: Die Okkupation Bosnien-Her-
zegowinas 1878. In: Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A.: Des Kaisers Bosniaken.
Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Verl. Militaria –
Ed. Rest 2008, pp. 14–38; Gabriel, Martin: „Wir führen einen Krieg, wo man auf Gnade

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126 Clemens Ruthner

hin erfolgte, das die Habsburger Monarchie auf dem Berliner Kongress kurz zu-
vor im Juli verliehen bekam. Die Besetzung Bosnien-Herzegowinas verlief aber
keineswegs reibungslos, wie noch das Titelblatt der Bombe insinuieren möchte,
sondern sie war die blutige Militärintervention einer Großmacht: „Nicht uner-
wähnt mag hierbei bleiben“, schreibt einer der Veteranen im Rückblick, „daß die
Besitzergreifung der Herzegowina, bei uns offiziell euphemistisch Okkupation
genannt, keineswegs ein bewaffneter Spaziergang9 war, sondern einen harten
Kampf darstellte“; angesichts der erlittenen Verluste sei es adäquater, „von einer
Eroberung […] zu sprechen“.10 Diesen blinden Fleck der post/imperialen memo-
ria wieder einer erneuten Erinnerungsarbeit anheim zu geben, wäre ein Beitrag
zu einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung in Österreich wie auf dem
Westbalkan, die auch die Geschichte kollektiver Gewalt in der Region lange vor
dem Zweiten Weltkrieg mit einbezieht.
Die k. u. k. Invasionsarmee, die unter Führung des kroatischen Feldzeugmeis-
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ters (FZM)11 Joseph Philippovich v. Philippsberg vom Norden her aus Slawonien
(XIII. Armeekorps) und vom Süden her aus Dalmatien unter Feldmarschalleut-
nant Stephan von Jovanović (18. Division) einrückte, musste zwischenzeitlich
stark aufgestockt werden;12 sie war am Schluss ihrer Kampagne zahlenmäßig
in etwa so stark wie das im zweiten Irak-Krieg13 (2003) eingesetzte amerikani-

nicht hoffen darf…“ Irreguläre Kriegführung bei der Okkupation Bosniens und der Her-
zegowina 1878. In: Kakanien revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/MGabriel1.
pdf (2010); Ders.: Die Einnahme Sarajevos am 19. August 1878. Eine Militäraktion im
Grenzbereich von konventioneller und irregulärer Kriegsführung. In: Kakanien Revisited,
http://www.kakanien-revisited.at/beitr/fallstudie/mgabriel3.pdf (2011); Ders.: Ambiva-
lent Perceptions. Austria-Hungary, Balkan Muslims, and the“Occupation Campaign“ in
Bosnia and Hercegovina (1878). In: Šistek, František (Hg): Central Europe and Balkan
Muslims. Relations and Representations. New York: Berghahn i.V. [2018/19].
9 Diese Metapher spielt auf eine Aussage an, die immer wieder Julius (Gyula) Andrássy
in den Mund gelegt wurde: „Mit einer Kompagnie, die Regimentsmusik voran“, zitiert
etwa ein anderer Veteran die gefügelten Worte des k. u. k. Außenministers, vgl. Spaits,
Alexander: Der Weg zum Berliner Kongress. Historische Entwicklung Bosniens und der
Herzegowina bis zur Okkupation 1878. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (= Unsere Trup-
pen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen I), p. 83. Vgl. auch Wert-
heimer, Eduard von: Graf Julius Andrássy. Sein Leben und seine Zeit. Bd. 3. Stuttgart:
DVA 1910–1913, p. 153; Fournier, August: Wie wir zu Bosnien kamen. Eine historische
Studie. Wien: Reisser 1909, p. 77; sowie Wohnout, 2008, p. 22.
10 Woinovich, Emil v. (FML): In der Herzegowina 1878. Skizzen […]. Wien, Leipzig: C.W.
Stern 1908, p. 2; vgl. etwa auch Fournier 1909, p. 79.- Auch ein späterer Historiker
schreibt lakonisch: „the occupation […] turned into a conquest“ (Pavlowitch, Stevan K.:
A History of the Balkans, 1904–1945. London, New York: Longman 1999, p. 116).
11 Ein Generalsrang in der k. u. k. Armee.
12 Vgl. Bencze 2005, p. 200ff.
13 Diesen Konnex zwischen Okkupation und Irak-Krieg macht auch ein amerikanischer
Historiker; vgl. Sethre, Ian: The Emergence and Influence of National Identities in the Era

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Besetzungen (1)127

sche Truppenkontingent.14 Dennoch benötigte diese stattliche Streitmacht fast


drei Monate, nämlich von 29. Juli bis 20. Oktober 1878, um das Territorium zu
erobern, denn sie stieß fast allerorts auf den erbitterten Widerstand von sog.
„Insurgenten“, wie dies damals schon offiziell hieß; dabei handelte es sich vor
allem um eilig zusammengetrommelte Milizen der Einwohner, die sich von der
Hohen Pforte im Stich gelassen, ja verkauft fühlten.15 In Sarajevo hatte sich
nach Agitation des berühmt-berüchtigten radikalen Derwisches Hadschi Loja
(Hadži Lojo, eigentlich: Salih Vilajetović)16, der – wie ein österreichischer Zeit-
zeuge schreibt – „unter der halbwilden [!] Bevölkerung Bosniens Ansehen und
Vertrauen“ genoß17 – ein „Aktionskomitee“ der Aufständischen konstituiert,
ebenso in Mostar: provisorische Regierungsorgane, die in einer merkwürdi-
gen Mischung aus alter Oligarchie18 und neuer Basisdemokratie versuchten,
im allgemeinen Chaos des Machtwechsels eine Territorialverteidigung zu or-
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of Moderni­zation: Nation-Building in Bosnia and Herzegovina, 1878–1914. In: Kakanien


revisited, www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/ISethre1.pdf (2004), p. 1. Reprint in: Rut-
hner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina,
and the Western Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture
Series 41), pp. 41–66, hier p. 41. Vgl. auch Schindler 2004.
14 Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. New York: Pan Macmillan 1996, 2002, p. 135,
zählt nur 82.000 Soldaten im k. u. k. Expeditionskorps und 40.000 Widerstandskämpfer
auf der bosnisch-herzegowinischen Seite. Offizielle österreichische Quellen indes spre-
chen Mitte Okt. 1878 von rund 200.000 bzw. 280.000 eingesetzten Soldaten und schätzen
den Gegner auf 93.000 Mann; cf. das Themenheft der Militaria Austriaca 12 (1993), p. 34.
Bencze 2005, p. 295f., geht von einer Aufstockung von 79.000 auf 270.000 Mann und von
112 auf 276 Kanonen auf Seiten der k.u.k. Armee aus.
15 Helmut Wohnout sieht den Grund für diesen unerwartet starken Widerstand darin, dass
die k. u. k. Außenpolitik den bevorstehenden Einmarsch im Voraus via die Generalkonsu-
late an die opinion leaders Bosnien-Herzegowinas kommuniziert habe, in der Hoffnung
auf deren Kooperation; dabei hätte man freilich den „hohen Grad“ einer bereits beste-
henden Bewaffnung und Militarisierung der örtlichen Muslime nach den kriegerischen
Ereignissen von 1875/76 unterschätzt, der den Aufstand gegen die Okkupation leicht
machte (vgl. Wohnout 2008, p. 23).
16 Dieser historische Akteur würde sich aufgrund seiner volksmythologischen Überhö-
hung, die diverse Spuren im kulturellen Gedächtnis Österreich-Ungarns hinterlassen hat
(wie z. B. den Namen für ein Kümmelbrötchen), durchaus eine eigene detailreiche Studie
verdienen. Vgl. Plaschka, Richard Georg: Avantgarde des Widerstands. Modellfälle mi-
litärischer Auflehnung im 19. und 20. Jahrhundert. Wien: Böhlau 2000, vol. 1, pp. 90 ff.;
Wölfl, Adelheid: Der bosnische ‘Kaiser’, der die Österreicher das Fürchten lehrte. In: Der
Standard v. 29. 05. 2016, http://derstandard.at/2000037757126/Der-­bosnische-Kaiser-der-
die-Oesterreicher-das-Fuerchten-lehrte; F.F. [Friedrich Franceschini?]: Der ‘Held’ des
bosnischen Aufstands. In: Die Gartenlaube 48 (1878), pp. 789–790.
17 Haardt, Vinzenz von: Die Occupation Bosniens und der Herzegovina nach verlässlichen
Quellen geschildert. Wien: Hölzel 1878, p. 12f.
18 Vgl. Wohnout 2008, p. 21, der den Widerstand v. a. von der muslimischen Oberschicht des
Landes getragen sieht – in Kooperation mit örtlichen Agitatoren und Klerikern.

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128 Clemens Ruthner

ganisieren. Die örtlichen osmanischen Kommandanten und Funktionäre wur-


den – mitunter gewaltsam – abgesetzt oder sie schlossen sich mit Teilen ihrer
Truppen dem Aufstand gegen die Okkupation an.19 Mit dieser Konstellation
wird der Okkupationsfeldzug auch zu einem frühen Paradefall sog. hybrider
Kriegsführung.20
Jedenfalls kostete der dreimonatige Militäreinsatz Österreich-Ungarns einige
tausend Opfer21 auf beiden Seiten und führte zu einer Massenflucht22 von zehn-
tausenden Zivilisten, wobei die Zahlen je nach Quelle stark differieren. Die
Forschungsmeinung differiert auch darüber, wie erfolgreich die Operation aus
militärischer Sicht war: ob die unerwartet lange Dauer und der übergroße Ein-
satz an Menschen und Mitteln der effizienten Territorialverteidigung durch die
„Insurgenten“ oder den „äußerst unvorteilhaft[en]“ „Geländeverhältnissen“,
dem Fehlen einer modernen Verkehrsinfrastruktur bzw. einer passenden Ge-
birgsausrüstung für die Invasionstruppen geschuldet war.23
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Im kulturellen Gedächtnis der Habsburger Monarchie jedenfalls darf der Ok-


kupationsfeldzug als erster und einziger großer militärischer Erfolg der k. u. k.
Armee zwischen der Schlacht von Königgrätz 1866 und dem Ersten Weltkrieg
gelten.24 Dementsprechend sind ein nicht unbedeutender Prozentsatz aller er-
halten gebliebenen österreichischen Bosnien-Texte patriotische Darstellungen
jener ‘Heldentaten’, vor allem im Rahmen einer Veteranen-Erinnerungslitera-

19 Cf. Pinson, Mark: The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development


from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge MA: Harvard Univ.
Pr. 1994, p. 98; Malcolm 1996/2002, p. 134f.; Plaschka 2000, vol. 1, p. 90ff.; Bencze 2005,
p. 99ff.; Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epo-
che (1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Olden-
bourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 37ff.
20 Vgl. dazu Gabriel i.V.
21 Die k. u. k. Verlustzahlen differieren stark: Zählt der eine Historiker 178 tote (Unter-)
Offiziere und 5.000 Soldaten (Vrankić, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der
Herzegowina (1878–1918). Paderborn et al.: Schöningh 1998, p. 24f.), spricht der andere
von 4.000 Gefallenen insgesamt (Bérenger, Jean: L’Autriche-Hongrie 1815–1918. Paris:
A. Colin1994, p. 116), und Malcolm 1996/2002, p. 135, lediglich von 946. Am exaktesten
sind wohl die österreichisch-ungarischen Verlustzahlen in Militaria Austriaca 12 (1993),
wo von 983 Gefallenen und 3.984 Verwundeten die Rede ist (pp. 27, 36 f.) Über die bos-
nisch-herzegowinischen Verluste liegen keine verlässlichen Zahlen vor (vgl. ibid., p. 41).
Wohnout 2008, p. 34, spricht von insgesamt ca. 6.000 Toten bei ca. 60 Zusammenstößen.
22 Die Zahl der Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina zur Zeit der österr.-ungar. Herrschaft
beträgt je nach Quelle zwischen 50.000 und 300.000; cf. Pinson 1994, p. 92ff.; Malcolm
1996/2002, p. 139; Sethre 2004, p. 3.
23 Wohnout 2008, p. 24f.- Vgl. Malcolm 1996/2002: „given the appalling state of most of the
roads, it is barely an exaggeration to say that the Austrian army conquered Bosnia in the
time it took to walk through“ (p. 135).
24 Cf. Bérenger 1994, p. 116f.

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Besetzungen (1)129

tur,25 die v. a. zur Zeit der Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 erschien: ein
Jahr, das zugleich – und nicht ganz zufällig – das 30-jährige Jubiläum der Ok-
kupation markierte.
Was für den Kulturwissenschaftler hier interessant ist, sind nicht unbedingt
nur die vergessenen Ereignisse, Fakten und Zahlen, sondern insbesondere auch
die Narrative der Okkupation und vor allem deren diskursive Legitimierung.26
Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass Bosnien-Herzegowina quasi zwei-
fach besetzt wurde: nicht nur militärisch, sondern auch in einem semantischen
Sinn, als „colonisation de l’imaginaire“,27 indem schon in dieser Phase dem Land
und seinen Leuten spezifische Bedeutungen zugeschrieben wurden, die das poli-
tische Programm der Habsburger Monarchie unterstützten. Dies ist insbesonde-
re in Bezug auf die zum Einsatz kommenden Identitätspolitiken von Belang: d. h.
die Art und Weise, wie hier österreichisch-ungarische Soldaten mit v. a. musli-
mischen und serbischen Aufständischen in Kontakt kommen – die freilich wie
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viele von ihnen selbst Südslawen sind! –, wie sie diese Erfahrung kategorisieren
und im Rahmen eines vorherrschenden österreichisch-ungarischen Populär-
orientalismus28 bzw. im Rahmen der von ihrem Kriegsherrn formulierten qua-
si-kolonialen mission civilatrice29 narrativ verarbeiten. Zu fragen wäre freilich

25 Vgl. auch die Untersuchung slowenischer Veteranenberichte von 1878 bei Smolej, Tone:
The Image of Bosnia and Herzegovina (1875—1882) in Slovene Literature. In: Blažević,
Zrinka / Brković, Ivana / Dukić, Davor (Hg.): History as a Foreign Country / Geschichte
als ein fremdes Land. Historical Imagery in the South-Eastern Europe/ Historische Bilder
in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2015 (= Aachener Beiträge zur Komparatistik 11), pp.
147–162.
26 Beispielhafte Analysen gibt es etwa auch im Beitrag von František Šístek im vorliegen-
den Sammelband. - Zum Verhältnis von Ereignis, Narrativ und Gedächtnis vgl. auch die
Beiträge der beiden Herausgeber in Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The
Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016
(= Kultur Herrschaft Differenz 22), pp. 15–56.
27 Vgl. Gruzisnki, Serge: La colonisation de l’imaginaire. Sociétés indigènes et occidentali-
sation dans la Mexique espagnole, XVIIe-XVIIIe siècle. Paris: Gallimard 1988.
28 Eine ausführlich monografische Darstellung der existenten k. u. k. Orientalismen ist z. Zt.
noch ein Desiderat. Erste Ansätze dazu etwa bei Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes:
Uses of Orientalism in the Late 19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkin-
son, James et al. (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and History: From Germany
to Central and Eastern Europe. Rochester: Camden House 2013, pp. 148–165. Vgl. auch
Gingrich, Andre: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik.
In: Dostal, Walter / Niederle, Helmut A. / Wernhart, Karl R. (Hg.): Wir und die Anderen.
Islam, Literatur und Migration. Wien: WUV 1999, pp. 29–34. Vgl. außerdem den Beitrag
von Johannes Feichtinger im vorl. Sammelband.
29 Zur „civilizing mission“ / „mission civilatrice“ als zentraler Ideologie zur diskursiven Le-
gitimierung des Kolonialismus s. etwa Barth, Boris / Osterhammel, Jürgen (Hg.): Zivili-
sierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jh. Konstanz: UVK 2005;
Mann, Michael: „Torchbearers Upon the Path of Progress“. Britain’s Ideology of a „Moral

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130 Clemens Ruthner

auch, wie – sofern rekonstruierbar – die bosnisch-herzegowinische Seite den


traumatischen Zusammenstoß mit der k. u. k. Kriegsmaschinerie verarbeitet.

1. Wessen Grausamkeit? „Zivilisierungsmission“ vs.


„Fanatismus“

„Die Diplomaten in Berlin trugen den Völkern Österreichs den Vollzug einer
Kulturmission (?) auf“, schreibt etwa das Laibacher Tagblatt am 30. Juli 1878
auf seiner Titelseite und fügt der bedeutungsschwangeren Kolonialvokabel ein
Fragezeichen in Klammern hinzu. Diese angebliche Erwartungshaltung, „daß
die Donaumacht hier nicht nur Ruhe und Ordnung, sondern auch, daß sie mit
den reichen Mitteln, über die ein hoch zivilisierter Staat verfügt, Kultur schaffen
werde“, formuliert auch August Fournier, freilich retrospektiv.30 Emphatisch
staatspatriotisch heißt es in den Erinnerungen des Leutnants Edmund von Glai-
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se-Horstenau 1909: „Diese Österreicher kamen, allen Bewohnern gleiche Rechte


zu schenken und gleiche Pflichten aufzuerlegen; diese Österreicher kamen, um
die seit dem letzten Kriege mehr denn je gehaßten Serben zu befreien und den
Moslims gleichzustellen!“31 Diesen offenkundig selbst erteilten Auftrag schreibt
auch Vinzenz von Haardt in seiner in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu
den Ereignissen entstandenen Schilderung fest: Feldzeugmeister Philippovich
sei „dazu berufen [gewesen], die Lösung der bevorstehenden schwierigen Mis-
sion zu übernehmen und den verwilderten Ländern die Segnungen des Fort-
schritts und der Cultur zuzuführen“.32
Philippovich selbst schiebt in seinem Armeebefehl vor dem Einmarsch einem
etwaigen Expansionismus-Vorwurf einen klaren Riegel vor; die Okkupation sei
nicht reine Eroberung, sondern quasi humanitäre Intervention und Vorwärts-
verteidigung des Reiches in einem, aus Eigeninteresse einem Nachbarschafts-

and Material Progress“ in India. In: Fischer-Tiné, Harald / Mann, Michael: Colonialism
as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India. London, New York, New Delhi:
Anthem 2004, pp. 1–26; Conklin, Alice V.L.: A Mission to Civilize. The Republican Idea
of Empire in France and West Africa, 1895–1930. Stanford: Standford Univ. Pr. 1997.-
In unserem Kontext vgl. auch Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg
‘Civili­zing Mission’ in Bosnia, 1878–1914. Oxford: Oxford Univ. Pr. 2007.
30 Fournier 1909, p. 76. Vgl. den Erfolgsdruck, den Wertheimer 1913, p. 143, insinuiert: Das
Ansehen der Monarchie wäre „geschädigt“ worden, wenn die Okupation nicht durchge-
führt worden bzw. gelungen wäre.
31 Glaise-Horstenau, Edmund v.: Tuzla und Doboj. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1909 (= Unsere
Truppen in Bosnien und der Herzegowina. Einzeldarstellungen VI), p. 2.
32 Vgl. Haardt 1878, p. 10.

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Besetzungen (1)131

konflikt gegenüber, der mit einer veritablen ‘Flüchtlingskrise’33 einhergehe (wie


man heute wohl befinden würde):
Soldaten! Der Bürgerkrieg in seiner abschreckenden Form, ein an unseren Grenzen
fanatisch geführter Religions- und Rassenkampf zwang Hunderttausende Flüchtlinge,
vor grausamer Verfolgung Schutz auf österreichisch-ungarischem Boden zu suchen.
Se. Majestät der Kaiser, unser oberster Kriegsherr, nicht gewillt, das eigene Gebiet
fremden anarchischen Bestrebungen als Tummelplatz preiszugeben und die endlich
auch unsere Ruhe und Sicherheit bedrohenden Wirren in den Nachbarländern noch
länger zu dulden, haben im Einklang mit sämmtlichen Großmächten Europa’s und
mit Zustimmung der Pforte beschlossen, diesem unheilvollen Zustande durch die Be-
setzung Bosniens und der Herzegowina in entschiedener Weise ein Ende zu machen.
Treu den Grundsätzen der Loyalität, die von jeher das Gepräge unserer Politik ge-
bildet, ist es auch diesmal nicht Eroberungslust, sondern die unabweisliche Sorge für
die eigene Wohlfahrt, welche uns die Grenzen des Reiches zu überschreiten gebietet.34
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Einen ähnlichen Wortlaut hat auch die Proklamation Philippovichs an die bos-
nisch-herzegowinische Bevölkerung.35 Sein Tagesbefehl an das k. u. k. Expedi-
tionskorps endet mit einer Ermahnung, die die Reizworte der mission civilatrice
wiederaufnimmt: „Soldaten! Eure Aufgabe, edel und erhaben in ihren Zielen, ist
eine schwere! […] nicht zu einem Siegeszuge, zu harter Arbeit führe ich euch,
verrichtet im Dienste der Humanität und Civilisation!“36 (Es fragt sich freilich,
inwieweit die österreichisch-ungarische Invasion jene humanitäre Krise, gegen
die sie angetreten ist, nicht auch mit erzeugt.)
Aufschlussreich ist auch der im offiziellen Schlussbericht des k. u. k. Kriegs-
archivs zum Okkupationsfeldzug wiedergegebene Aufruf der bosnisch-herze-
gowinischen Aufständischen – eines der wenigen Textzeugnisse der anderen
Seite, das, verfasst vom Stellvertreter des Scheriat-Kadija am 5. August 1878,
offenkundig auch vervielfältigt und in der ganzen Provinz verbreitet worden
sein dürfte:
Brüder in Gott, Religion und Vaterland! Hört die Stimme Eurer Großväter und Ur-
großväter, die euch von den stolzen Bergen der Bosna, welche Eure Ahnen einstens
mit ihrem heiligen Blut erkämpften, zuruft […] Die Schrift Gottes macht es uns zur

33 Haardt schreibt von mehr als 200.000 geflohenen Menschen, für deren Unterhalt die
k. u. k. Regierung 19 Mio. Gulden aufwenden müsse (ibid., p. 7).
34 Zit. n. Laibacher Tagblatt v. 30. 07. 1878, p. 1f.
35 Haardt 1878, p. 16.
36 Zit. n. ibid., p. 19f.

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132 Clemens Ruthner

strengsten Pflicht, mit vereinten Kräften unsere Religion, unser Vaterland zu vertei-
digen und den Feind zu vernichten […]37

Hier stellt sich indes die Frage nach der Authentizität jener später von Fein-
deshand edierten und übersetzten Dokumente und deren Wirkung in einem
weitgehend analphabetischen Land – oder ist ihre Funktion in Textsorten wie
dem Generalstabswerk vor allem eine legitimatorische in Bezug auf die von
habsburgischen Truppen ausgeübte Gewalt, indem sie als Kronzeugen für den
„Fanatismus“ vor allem der muslimischen Bevölkerung herhalten müssen? Im
Vor- und Nachfeld der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 wird auch ein
weiteres stehendes Motiv der k. u. k. Autolegitimation und Selbstermächtigung
formuliert – der lange Niedergang des Landes in permanenten Kriegswirren
und türkischer Antimoderne:
Waren es bisher die blutigen Wechselfälle des Krieges, die jeden Versuch von Cultur
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und Civilisation im Keime erstickten, so trug fortan das finstere Joch der muselmän-
nischen Herrschaft das Weitere bei, das Land und seine Bewohner in trauriger mittel-
alterlicher Versumpfung schmachten zu lassen.38

Aus der retrospektiven Sicht über Jahrzehnte weg, aus der die meisten der ana-
lysierten Veteranenberichte verfasst wurden, ist allerdings die k. u. k. mission
civilatrice schon längst eine Erfolgsgeschichte und wird damit erzählerisch so
etwas wie eine self-fulfilling prophecy. Alexander Spaits etwa schreibt:
Bosnien und die Herzegowina, die noch vor kaum 30 Jahren zum klassischen Boden
der Christenmetzeleien und des Raubunwesens gehörten, in denen der Halbmond die
heimischen Herrscher wohl ausgerottet hatte, doch selbst nie zur festen Herrschaft
gelangte, die an Naturschätzen so reichen Länder in heilloser Anarchie verwüsten
ließ – Bosnien und die Herzegowina sind neu erstanden!39

Spaits ist begeistert, wie sehr sich „die okkupierten Gebiete zu einem modernen
Kulturland entwickelt“40 hätten und gerät ins imperialistische Schwärmen: „Zu
rechter Zeit die erforderlichen Kräfte unzersplittert hier im Süden eingesetzt,
hätte die Monarchie ihre Hoheitszeichen bis zum Ägäischen Meer, ja selbst zur
Donaumündung vorschieben können […], und im Besitz von Saloniki, politisch
und wirtschaftlich den ganzen Orient beherrscht!“41

37 Kriegsarchiv (Hg.): Die Occupation Bosniens und der Hercegovina durch k. k. Truppen
im Jahre 1878. Nach authentischen Quellen dargestellt. Wien: Verl. des k. k. Generalsta-
bes / W. Seidel 1879, p. 866f.
38 Haardt 1878, p. 5.
39 Spaits 1907, p. 1.
40 Ibid.
41 Ibid.

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Besetzungen (1)133

Am Ausgangspunkt dieser nur halben Erfolgsgeschichte stehen jedenfalls


präsumptiv Hass, Fanatismus und Gewalt der bosnisch-herzegowinischen Ur-
bevölkerung; dementsprechend auffällig sind bei der untersuchten militärischen
Memoria vor allem narrative Verfahren, mit denen die „Insurgenten“ immer
wieder propagandistisch zum alien Other gemacht werden: wenn sie etwa bei
Spaits als „Naturvölker“42 bezeichnet werden oder wenn ein anderer Erinne-
rungsarbeiter – bei der Serie Unsere Truppen im Verlag C.W. Stern von 1907 ff.
dürfte es sich ja wohl um ein patriotisches Projekt mit offiziösem Anstrich ge-
handelt haben – unter Bezugnahme auf das Generalstabswerk den „Instinkt[.]
der Wilden“ als Charakteristikum der „Insurgentenhaufen“43 sieht.
In diesem Kontext werden auch zum ersten Mal die kolonialen Untertöne des
ganzen Unternehmens laut, wenn etwa ein tschechischer Autor 15 Jahre nach
der Okkupation von den Köpfen österreichischer Soldaten schreibt, die von
den „Insurgenten“ bei Vranduk aufgespießt worden seien. Hier tauchen alte
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Türken- und Balkanklischees44 von barbarischen ‘Banditen’ und ‘Halsabschnei-


dern’ wieder auf – instrumentalisiert, wie es scheint, geradezu für einen Auf-
schrei für eine neue, ‘zivilisierte’ – und koloniale – Administration des Gebiets:
We stood in full battle dress against the ignoble cannibal enemy and it is no exagge-
ration to say that the Zulus, Bagurus, Niam-Niams, Bechuans, Hottentots and similar
South African bands behaved more chivalrously towards European travellers than
the Bosnian Turks did to wards us. I always recollect with dismay the peoples of the
Balkans, where the foot of the civilised European has not trod for decades, how the
Turks, ‘native lords’, probably rule down there!45

Diese koloniale Grunddichotomie von ‘Zivilisation’ versus ‘Barbarei’ wird un-


terschwellig auch weiterhin den militärischen – und später den zivilen – Diskurs
über Bosnien-Herzegowina und dessen Menschen dominieren. In diesem Sinne
sollen nun – anstelle einer dringend nötigen historischen Gesamtdarstellung,
die wohl des Buchformats bedürfte46– zwei kleine exemplarische Fallstudien

42 Ibid.
43 Holtz, Georg Frh. von (Obst.): Von Brod bis Sarajevo. Wien, Leipzig: C.W. Stern 1907 (=
Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstellungen II), p. 51.
44 Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, Oxford: Oxford Univ. Pr. 1997;
Jezernik, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of Western Travellers. London:
Saqi / Bosnian Institute 2004.
45 Chaura, Edmund: Obrazky z okupace bosenske. Prag: s.p. 1893, p. 38. Zit. n. der Über-
setzung in Jezernik 2004, p. 139.
46 Eine Grundlage dafür gibt es freilich mit der militärhistorischen Studie von László Benc-
ze 2005, eines Oberstleutnants der ungarischen Volksarmee, die bereits 1987 verfasst
wurde; es wären jedoch abseits der Kriegsgeschichte auch diverse andere (politische,
institutionelle, kulturelle, diskursive etc.) Aspekte noch zu berücksichtigen.

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134 Clemens Ruthner

präsentiert werden; diese erscheinen nicht nur deshalb äußerst interessant, weil
sie zwei wichtige Phasen – und auch Rückschläge!47 – des Okkupationsfeldzugs
von 1878 darstellen, sondern auch, weil sie aus heutiger Sicht problematische
Übergriffe thematisieren, die eine Nagelprobe für ebenjene vorgebliche k. u. k.
„Friedens- und Kulturmission“ bedeuten. Damit werfen sie die bis heute viru-
lente Frage nach Menschenrechten in Kriegszeiten auf, vor allem aber: wer auf
einem Schlachtfeld ein regulärer Soldat oder wer ein unlawful combatant ist –
worauf nicht nur die Amerikaner in ihrem „War on Terror“ im frühen 21. Jahr-
hundert großen Wert legten.

2. Die „Maglajer Katastrophe“48 (3.–5. August 1878)


Der Schauplatz der ersten Fallstudie ist die Umgebung der am Bosna-Fluss ge-
legenen nordbosnischen Stadt Maglaj, wo am 3. August 1878 die 5. Eskadron des
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7. k. k. Husarenregiments, die vor der österreichisch-ungarischen Hauptkolonne


Vorausaufklärung betrieb, auf dem Weg nach Žepče in einen Hinterhalt geriet
und von Insurgenten ins Kreuzfeuer genommen wurde. Dieser Zwischenfall
nimmt sowohl in der zeitgenössischen Presse49 als auch in Veteranenberich-
ten eine Schlüsselstellung ein, dem diskursiv ein hoher legitimatorischer Wert
beigemessen wird, obwohl es sich nicht um die größte Panne des k. u. k. Vor-
marsches handeln dürfte.50 Die Bedeutung, die dem Scharmützel medial und
erinnerungspolitisch zukommt, lässt sich auch daran ermessen, dass z. B. im
Tschechischen oder Slowenischen der Name der Stadt als Lehnwort bis zum
heutigen Tag verwendet wird als umgangssprachliches Synonym für Unord-
nung und Chaos.51
Hier zunächst das rekonstruktive Narrativ des ungarischen Militärhistorikers
László Bencze von 1987, das die verschiedenen zeitgenössischen Darstellun-
gen52 des Hinterhalts von Maglaj synthetisiert und so wahrscheinlich am voll-
ständigsten und unspekulativsten ist:

47 Weitere militärische Misserfolge ereignen sich Anfang August vor Jajce und noch dra-
matischer bei Tuzla, wo die 20. k. u. k. Infanteriedivision unter Ladislaus Graf Szápáry
auf dem Vormarsch von den Insurgenten in Bedrängnis gebracht wird und sich vorläufig
wieder nach Doboj zurückziehen muss; vgl. Bencze 2005, pp. 164 ff., Plaschka 2000, vol. 1,
p. 97 u. Wohnout 2008, p. 27.
48 Holtz 1907, p. 57.
49 Vgl. Ströher 1949; siehe auch den Beitrag von Imre Ress zum vorl. Sammelband, p. ##.
50 Vgl. Fußnote 40.
51 Ich danke den lieben Kollegen František Šístek (Prag) und Rok Stergar (Ljubljana) für
diesen Hinweis. Vgl. auch Šísteks Beitrag im vorl. Sammelband, p. ##.
52 Vgl. dazu auch Ljuca, Adin: Maglaj. Na tragovima prošlosti. Prag: Općina grada Maglaja
1999.

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Besetzungen (1)135

Dismounting, the hussars returned fire. Some of the insurgents moved from both
sides of the road through the trees to reach the rear of the company, so they could fire
heavily at the soldiers from both sides. Millinković [= der kommandierende Offizier,
C.R.] orderd a retreat but in the confusion, the carts blocked the road.53

Im Chaos dieses Gefechts braucht es einige Zeit, um die mitgeführte Abteilung


Train-Wagen zu wenden. Dann kommt die Aufklärungseinheit an einer unüber-
sichtlichen Kurve bei Maglaj erneut unter feindliches Feuer; Pferde und Reiter
stürzen und blockieren zusammen mit den mitgeführten Wagen die Straße,
wobei auch die Insurgenten Barrikaden errichtet haben dürften.54 Im Erinne-
rungsbericht des späteren Oberst Georg von Holtz wird jene Kurve 200 Schritt
nördlich des örtlichen Han, wo ein totes Husarenpferd liegt, im Rückblick nicht
nur zum letalen Hindernis für die Husaren, sondern auch zu einer vorläufigen
Klimax seiner Erzählung:
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Schon die Biegung der Straße an und für sich ist für eine scharfe Gangart ein großes
Hindernis, dazu noch das verendete Tier! Reiter um Reiter stürzt, und in diesem Knäu-
el hinein schmettert das Schnellfeuer der Insurgenten. Hier geht alles in die Brüche!55

Die Kavalleristen versuchen sich zurückzuziehen, doch am Ende des Gefechts


sind von 144 Husaren rund ein Drittel tot, verwundet oder vermisst,56 d. h. ca.
jeder 25. österreichisch-ungarische Kriegstote in diesem Krieg ist wahrschein-
lich in Maglaj gefallen. So traumatisch dies auch für die Invasoren gewesen sein
mag, so ist auch deutlich, dass es 1878 größere militärische Katastrophen als
diese gegeben hat57 und dass hier unter tätiger Beteiligung der Wiener Presse
eine Art Dolchstoß-Legende für den Okkupationsfeldzug konstruiert wird, die
dazu dienen wird, das eigene ‘harte Durchgreifen’ zu rechtfertigen.
Nicht nur Vinzenz von Haardt, dessen Buch über die Okkupation Bosniens
noch 1878 erscheint, berichtet von diesem Überfall der „verrätherischen Orts-
bewohner“ aus dem Hinterhalt;58 erst ein selbstloser Reiterangriff „mit Todes-
verachtung“ habe die Barrikaden der Insurgenten geöffnet.59 Haardt zählt noch

53 Bencze 2005, p. 115.


54 Ibid., p. 116.
55 Holtz 1907, p. 46f.
56 Auch hier differerien die genauen Verlustzahlen deutlich in den Berichten, vgl. etwa Be-
ranek, Julius: Die Helden unserer Armee im Jahre 1878. Erinnerungen an die Okkupation
von Bosnien und der Herzegowina. Wien: „Austria“ F. Doll 1908, p. 10; Holtz 1907, p. 48;
Bencze 2005, p. 116; u.a.
57 Etwa die bereits erwähnten (s. o.) Schwierigkeiten, die zum Rückzug der 20. ID unter
Szápáry führen, die auch Wertheimer 1913, p. 151f., nennt.
58 Haardt 1878, p. 32. Gleiche Formulierung bei Beranek 1908, p. 7.
59 Haardt 1878, p. 33.

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136 Clemens Ruthner

mehr Tote als die anderen Autoren und erzählt, man habe „mehrere Huszaren,
die sich in die Wälder gerettet hatten, in äusserst erschöpftem Zustande ange-
troffen, – andere wurden in schrecklichster Weise verstümmelt aufgefunden.“60
Wie Holtz berichtet, seien als Vergeltung dann beim zweiten Angriff auf Maglaj
am 5. August alle Ortsbewohner, die mit Waffen oder Habseligkeiten der Hu-
saren angetroffen worden wären, auf der Stelle erschossen worden.61 Auch der
Biograf von Graf Andrássy, Julius Wertheimer, erwähnt kurz den Zwischenfall
und nennt ihn den „verräterischen Ueberfall“ von Maglaj.62 Im patriotisch-he-
roisierenden Erinnerungsbuch von Julius Beranek aus dem Jahre 1908 hingegen
steht von Gräueltaten und Vergeltung nichts zu lesen; dafür wird dem Husa-
ren-Rittmeister (mit einer intertextuellen Referenz auf Shakespeares Richard
III.?) gleichsam ein narratives Denkmal der Verehrung seiner leadership errich-
tet – gewissermaßen ein Gegenmodell zur Hinterlist der Insurgenten:
Da wird dem Rittmeister das Pferd unter dem Leibe getötet. Zugsführer Alexander
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Varga pariert daraufhin sein Roß, springt ab und überläßt es dem Rittmeister mit den
Worten: ‘Herr Rittmeister, die Eskadron bedarf ihres Kommandeurs, bitte gehorsamst,
hier ist mein Pferd!’63

Beranek erzählt auch von der schnell entstandenen Fama, „die Hauptkolonne
sei bei Maglaj von den Insurgenten vernichtet und Feldzeugmeister Freiherr von
Philippovich gefangen genommen worden. Dieses Gerücht verbreitete sich mit
Blitzesschnelle im ganzen Lande und war Ursache, daß die Insurgenten plötzlich
von allen Seiten bedeutenden Zulauf an raublüsternem Gesindel erhielten.“64
Die Kriminalisierung der Aufständischen kommt nicht von ungefähr. Die
historiografische Darstellung von Bencze, die Wiener Kriegsarchiv-Bestände
auswertet, sieht jene entscheidende Frühphase des Feldzugs in the greater pictu-
re. Der k. u. k. Oberkommandierende Philippovich habe das Debakel von Maglaj
als Vorwand für zweierlei genommen: „Fillipovic used this event to report to the
emperor that peaceful occupation was impossible“;65 in diesem Sinne forderte

60 Ibid., p. 39. Vgl. Spaits 1907, p. 66. Auch Hans Böhm (Hoch die ‘Achter’! Erlebnisse auf
dem Kriegsschauplatze in Bosnien im Jahre 1878. Wien: Selbstverlag 1903) schreibt ganz
im Sinne von Edmund Chaura von Gräueltaten an versprengten Kameraden (p. 8.) und
der Paranoia der Soldaten in der Nacht (p. 11f.).
61 Holtz 1907, p. 70f.
62 Wert­heimer 1913, p. 151.
63 Beranek 1908, p. 7.
64 Ibid., p. 7f.
65 Bencze 2005, p. 117 – Holtz 1907, p. 50, zitiert das Generalstabswerk (p. 130): „Durch den
verräterischen Überfall bei Maglaj hat das Kommando des XIII. Korps die zweifellose Ge-
wißheit erlangt, daß der anfänglich friedliche Einmarsch in Bosnien einem bewaffneten

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Besetzungen (1)137

er von Wien eine erhebliche Verstärkung des Truppenkontingents.66 Außerdem


verhängte der Feldzeugmeister ein ausgeweitetes Standrecht: gefangengenom-
mene osmanische Soldaten wurden entwaffnet und schnell wieder freigelassen,
um die Hohe Pforte nicht zu provozieren. Andererseits stellte er es den örtlichen
Kommandanten anheim, gefangene Freischärler auf der Stelle zu erschießen.67
Dies habe, so Bencze, durchaus der Logik des Kaisers entsprochen, der das Ge-
fecht von Maglaj instrumentalisierte „as a rationale to order harsh reprisals“ und
„to view the Sarajevo movement as an anarchist rebellion and its participants
as insurgents and communards“68 (und es erhebt sich auch die Frage, ob hier
nicht nur zeitgenössische Erfahrungen mit antikolonialem Widerstand, sondern
auch mit der Pariser Commune von 1871 auf den provisorischen Regierungsrat
der Aufständischen – das Sarajevoer „Aktionskomitee“ – übertragen wurden).
Am 6. August werden dann jedenfalls Kanonen in Stellung gebracht, um
Maglaj bis auf die Grundmauern zu zerstören. Zum Beschuss kommt es jedoch
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freilich nicht mehr, denn scheinbar durch einen Kommunikationsfehler ist der
Ort zwischenzeitlich am 5. August (s. o.) von einer anderen k. u. k. Einheit ein-
genommen worden. Einige Insurgenten entkommen, andere werden getötet
oder in den Fluss getrieben, wo sie ertrinken:69 „Wer der Kugel und dem Bajonett
entging, wurde in die hochangeschwollene Bosna gedrängt, welche fast alle
verschlang.“70 Wieder andere ergeben sich, aber Benczes Bericht schließt lako-
nisch: „At Filippović’s order, the prisoners were butchered on the spot.“71 In den
nächsten Tagen treffen dann die k. u. k. Truppen bei Žepče auf einen größeren
Sperrriegel des bosnischen Widerstands, als sich ihnen ca. drei- bis viertausend
Insurgenten und zwei reguläre osmanische Bataillone zu einer veritablen Feld-
schlacht in den Weg stellen.72
Dass der „meuchlerische[.] Ueberfall[.]“73 von Maglaj zum Inbegriff des bos-
nisch-herzegowinischen „Banditism“74 wird, steht wie bereits angedeutet in
einem größeren legitimatorischen Zusammenhang, auf den auch Bencze hin-

Widerstande begegnen und die Besitzergreifung des Landes nur auf gewaltsamen Wege
durchzuführen sein werde.“
66 Bencze 2005, p. 117.
67 Ibid.- Holtz 1907, p. 50, schreibt: „Man seufzt unwillkürlich erleichtert auf und sagt: ‘Na
endlich!’ Es erschien auch gleich Tags darauf ein geharnischter Befehl, der besagte: ‘Daß
– ggf – Nizams und Redifs [= reguläre osmanische Truppen und Landwehr, C.R.] zu Ge-
fangenen zu machen, Mustahfiz und Insurgenten jedoch ‘zu vertilgen’ seien!'“
68 Bencze 2005, p. 117.
69 Ibid, p. 120.Vgl. Beranek 1908, p. 10; Haardt 1878, p. 38.
70 Holtz 1907, p. 68.
71 Bencze 2005, p. 120.
72 Vgl. Bencze 2005, p. 121; Spaits 1907, p. 75ff.
73 Haardt 1878, p. 35.
74 Bencze 2005, p. 118.

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138 Clemens Ruthner

gewiesen hat: Die Grundannahme der k. u. k. Truppen war nämlich, dass sie
„an armed policing action under the provisions of an agreement signed with
the Porte“ ausführten; dies ermöglichte ihnen speziell nach dem Anlassfall von
Maglaj, eine strikte Trennung zwischen regulären und irregulären Kämpfern
vorzunehmen.75 Dem gegenüber sollte aber die damals gültige Kriegskonven-
tion, die Brüsseler Deklaration von 1874 (Artikel 9–10) festlegen, dass auch irre-
guläre Kämpfer als normale „combattants“ anzusehen seien, wenn sie unter den
Befehlen ihrer eigenen Regierung handeln bzw. ihr Gebiet noch nicht besetzt
ist; wegen der ihrer Meinung nach fehlenden Legitimation des provisorischen
Regierungsrates in Sarajevo wurde dies jedoch von den Invasoren nicht an-
erkannt.76 Der Zwischenfall von Maglaj und andere Rückschläge liefern dann
perfekte Vorwände zu einem harten Vorgehen in diesem „hybriden“ Konflikt,
das die „Insurgenten“ quasi als homines sacri von den Menschenrechten norma-
ler Kriegsgefangener ausschließt und vogelfrei macht.77
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All dies wird noch interessanter durch die Tatsache, dass die Okkupationszeit
in Maglaj auch den historischen Hintergrund für den ersten großen modernen
bosnischen Roman abgibt, nämlich Zeleno busenje [„Grüner Rasen“] von Edhem
Mulabdić, erschienen 1898, also zwanzig Jahre später. Im Zentrum der Fabel
steht eine bittersüße, unglückliche Liebesgeschichte, in der sich die verschiede­
nen Lebensstile in der Stadt abbilden. Der Text beschreibt auch, wie sich vor
dem bevorstehenden Einmarsch der österreichisch-ungarischen Truppen in der
Stadt zwei Lager bilden, nämlich diejenigen, die sich von den habsburgischen
„Schwaben“ Neuerungen und eine bessere Zukunft erwarten und jene, die stur
und konservativ an ihrer Heimat so wie bisher festhalten möchten. Es bildet sich
eine Kriegspartei, die lautstark für den Widerstand gegen die Okkupation ein-
tritt und sich im Basar sammelt. Soziale Unterschiede spielen sichtbar eine Rolle,
denn „es waren lauter Bauern, Dienerschaft und Zigeuner. Irgendwann begann
eine Trommel zu dröhnen und Hadschi Seimanga (= der Führer der Kriegspartei,
C.R.) pflanzte die Fahne mitten im Basar auf“.78 Geschildert wird die zunehmen-
de Kriegshysterie, währenddessen die ersten Menschen nach Hause gehen. Als
dann endlich die k. u. k. Kavallerie – scheinbar am 5. August – vor der Stadt
auftaucht, heißt es:

75 Ibid.
76 Ibid.
77 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers.
v. Hubert Thüring. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.
78 Zit. n. der Übersetzung in Braun, Maximilian: Die Anfänge der Europäisierung in der
Literatur der moslimischen Slaven in Bosnien und Herzegowina. Leipzig: Markert & Pet-
ters 1934, p. 94.

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Besetzungen (1)139

Es begann eine allgemeine Panik, ein Schreien und Weinen; alles begann zu rennen
[…]; alles läuft, um sich im Gebüsch zu verstecken, um nicht zugrunde zu gehen, denn
der Feind wird doch sicher alles in Brand stecken. In dieser Aufregung hatte niemand
darauf geachtet, was denn aus dem Heertrupp vor dem Deibeg-Han geworden sei.
Kaum war jene schreckliche Stimme von der Stadt her verklungen – da waren sie auch
schon alle wie eine aufgescheuchte Vogelschar auseinandergespritzt, mitten durch
Mais und Weizen. In einem einzigen Augenblick waren diese Helden verschwunden,
ohne Büchsenschuß und Messerstich, ohne einen Tropfen Blut, ohne auch nur zu
fragen: wohin, warum?79

Bei Mulabdić findet also der Widerstand und dessen Hinterhalt nicht wirklich
statt, die Militanten stammen allesamt aus niederen Volksklassen und rennen
davon, als sie die Stimme des Agitators nicht mehr hören (und so spielt auch
hier leadership wie im zitierten Veteranenbericht eine Rolle). Damit ist freilich
das traumatische Scharmützel aus dem Roman hinausredigiert und über alles
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wächst Gras bzw. der titelgebende grüne Rasen – warum, bleibt die Frage: um
als Autor nicht bei der k.u.k Zensurbehörde Schaden zu nehmen? Oder ein re-
trospektiv opportunistischer Akt dem Besatzer gegenüber? Oder, weil es eben
zum Wesen des Traumas gehört, verdrängt zu sein?

3. Die Eroberung von Sarajevo (19. August 1878)


Die störenden bis verstörenden blinden Flecken im Bild von der Okkupation,
die eigentlich ein Spaziergang hätte sein sollen, kehren auch in anderen Schil-
derungen wieder, am stärksten bei der Eroberung von Sarajevo. Diese hätte
eigentlich am 18. August, dem Geburtstag von Franz Joseph, stattfinden sol-
len,80 verzögerte sich aber um einen Tag. Nach heftigen Kampfhandlungen seit
dem Morgengrauen – als Folge des vom Sarajevoer Aktionskomitees organi-
sierten Widerstands – galt die bosnische Metropole dann am Nachmittag des
19.8. endlich als eingenommen: „Sarajevo lag zu Füßen seiner Majestät unseres
allerhöchsten Kriegsherren.“81
Zuvor war es jedoch zu blutigen Straßen- und Häuserkämpfen vor allem im
sog. türkischen Viertel gekommen. Julius Beranek schreibt dazu in seinem Er-
innerungsbuch: „Von allen Seiten dringen die k. k. Truppen in die Stadt ein, wo
sich nun ein Straßenkampf entspinnt, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat.
Weiber, ja selbst Kinder nehmen an diesem Kampfe tätigen Anteil.“82 Der Be-
richt des österreichisch-ungarischen Generalstabs gibt weitere Details:

79 Ibid., p. 96.
80 Wertheimer 1913, p. 155.
81 Holtz 1907, p. 185.
82 Beranek 1908, p. 45.

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140 Clemens Ruthner

Der ganze äußere Umkreis Sarajevos war stark besetzt. Aber auch im Inneren der
Stadt gestatteten die engen Gassen mit ihren vielen Häusergruppen und einzelnen
in den Erdgeschossen leicht zu verrammelnden Gebäuden, deren kleine Fenster der
Stockwerke und zahlreiche Dachlücken die Abgabe des Feuers nach verschiedenen
Richtungen zuließen, die nachhaltigste Verteidigung. Von der Umfassung der Stadt
vertrieben, warfen sich die Insurgenten meist in die nächsten Häuser, verbarrikadier-
ten alle Eingänge und unterhielten ein vernichtendes Feuer gegen die nachstürmende
Infanterie.83

Auch der k. u. k. Oberkommandierende Philippovich berichtet:


„Es entspann sich einer der denkbar gräßlichsten Kämpfe. Aus jedem Hause, aus
jedem Fenster, aus jeder Türspalte wurden die Truppen beschossen; ja selbst Weiber
beteiligten sich daran. Das fast ganz am westlichen Stadteingange gelegene Militär-
spital, voll von kranken und verwundeten Insurgenten[…].84
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Wenn man freilich auch hier die vorgeblich authentischen Berichte mit jenem
des Militärhistorikers Bencze vergleicht, so wird klar, dass ein wesentlicher Teil
der Geschichte (im Sinne einer Aposiopese) ausgelassen worden sein dürfte –
die Ermordung der mitkämpfenden Sarajevoer Frauen und Kinder:
A horrible battle took place in the Muslim quarter. The Turkish soldiers, police and
refugees, among them Montenegrins […], residents of Sarajevo, for the most part poor
artisans and merchants – including old people, children, women, and young girls –
defended themselves desparately, firing from the cellars of their burning houses, from
fences, and from the tops of minarets. The soldiers moved forward step by step, […]
mercilessly killing everyone they found on the street; they threw down women who
had fled up into the minarets and dealt with children who had taken arms in the same
way as with the insurgents.85

Die häufige Tilgung dieser unangenehmen Einzelheiten aus den Veteranen-


berichten (und später aus dem kulturellen Gedächtnis) mag wohl damit zu tun
haben, dass sich diese ihrer Sache ethisch möglicherweise doch nicht völlig
sicher fühlten; außerdem dürften sie zur Zeit der Annexion Bosnien-Herze-
gowinas 1908 das offiziöse Bild vom „gelungenen Zusammenleben“86 gestört
haben. Details finden unter allen konsultierten Texten nur bei Holtz Eingang in
die Narration, etwa wenn er 1907 formuliert:

83 Zit. n. Plaschka 2000, p. 44.


84 Zit. n. ibid., p. 45.
85 Bencze 2005, p. 146.
86 Vgl. Heuberger, Valeria / Illming, Heinz: Bosnien-Herzegowina 1878–1918. Alte Ansich-
ten vom gelungenen Zusammenleben. Wien: Brandstätter 1994.

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Besetzungen (1)141

Haus um Haus mußte erstürmt werden; selbst Weiber beteiligten sich mit fanatischer
Wut am Kampfe und drangen mit Handschar und Pistolen auf die Unsrigen ein, –
Pardon wurde keiner verlangt und keiner gegeben, was eine Waffe trug, wurde rück-
sichtslos niedergemacht.87

In Holtz’ Heimmarsch-Band, der ein Jahr später erscheint, wird noch eine blu-
tige Episode nachgereicht, in der ein k. k. Leutnant mit dem südslawischen Na-
men Imelić bei den Straßenkämpfen in ein Sarajevoer Haus eindringt. Wie die
eben zitierte Formulierung dient auch hier der wiederholt behauptete „Fanatis-
mus“ der muslimischen (und serbischen) Bevölkerung dazu, die drastischen
Maßnahmen gegen sie zu rechtfertigen:
Als das Tor aufgesprengt war, stellten sich ihm ein schwangeres Weib und ein etwa
zehnjähriger Knabe entgegen und feuerten beide ihre Pistolen auf ihn ab. Ihn fehlten
sie, verwundeten aber einen seiner hinter ihm befindlichen Leute. Beide fielen sofort
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unter den Bajonetten und den Kolbenschlägen der empörten Soldaten, welche, da das
Stockwerk noch stark besetzt war und den Insurgenten über die schmale Treppe ohne
große Verluste nicht beizukommen waren, das Haus einfach in Brand steckten und
die Türken ausräucherten.88

Genauso, wie diese Grausamkeit aus dem Trauma der Niederlage von König-
grätz zwölf Jahre zuvor – etliche der Okkupationstruppen waren deren Vetera-
nen! – und dem daraus resultierenden Erfolgsdruck auf die k. u. k. Soldaten zu
erklären sein mag, hat umgekehrt die unterdrückte Erinnerung an die Grausam-
keit der Kämpfe in Bosnien-Herzegowina möglicherweise doch zur Härte des
Vorgehens gegen die serbische Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg mit bei-
getragen. Ein Beispiel dafür wären etwa die Gräueltaten hinter der serbischen
Grenze nahe Šabac um den 15. August 1914 herum; zum Vergleich mit Sarajevo
sei ein unveröffentlichter Augenzeugenbericht darüber anzitiert:
Als wir Bogosavac passierten, lernte ich zum erstenmale die entsetzlichen Greueln des
Krieges kennen. Die zurückgebliebenen Einwohner (nur Greise, Frauen und Kinder)
beschießen unsere Kolonne hinterrücks aus den Häusern, von den Dächern und aus
den Kellern. Um uns in Sicherheit zu wiegen, steckten sie bei unserem Eintreffen
kleine, weiße Fähnchen aus den Fenstern und riefen uns in serbischer Sprache: „Živi-
la austriacka armada“ zu. Das war arge Hinterlist. Schwer mussten es die Bewohner
bühsen, alle Häuser aus denen Schüsse fielen gingen in Flammen auf. Alle Bewohner,
welche beim Schießen betreten worden sind, wurden einerlei ob Greis, Frau oder Kind,

87 Holtz 1907, p. 182.


88 Holtz, Georg Frh. vom (Obst.): Die letzten Kämpfe und der Heimmarsch. Wien, Leipzig:
C.W. Stern 1908 (= Unsere Truppen in Bosnien und der Herzegowina 1878. Einzeldarstel-
lungen V), p. 2.

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142 Clemens Ruthner

erschossen! Ein entsetzlicher Anblick! Noch heute gruselt es mich, wenn ich an jene
Scene denke! Damals kannte ich ja nicht den Krieg mit allen seinen tieftraurigen Be-
gleiterscheinungen! Aber wir hätten auf der Hut sein sollen, zumal wir doch wussten
[!], mit welchen hasserfüllten, raschesüchtigen Volke es wir zu tun haben.89

4. Allgemeine Frageperspektiven bezüglich der „Occupation“


Kritische Stimmen zum Modus der Okkupation gibt es aber nicht nur a poste-
riori, sondern bereits unter den Zeitgenossen. So werden etwa 1878 die Reden
zweier Parlamentarier in der Adressdebatte des österreichischen Abgeordne-
tenhauses 1878 veröffentlicht.90 Während der eine, ein gewisser Dr. Ludwik
Wolski, rhetorisch fragt, „sahen wir nicht fast die halbe Bevölkerung bis zu
Weibern und Kindern gegen uns die Waffen ergreifen?“,91 moniert der andere,
Otto Hausner,
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ob man die Eroberung einer Provinz von einer Million Einwohnern mit einem Auf-
gebote von 150.000 Mann binnen zwei Monaten, mit einem Verluste von 7.000 Mann
auf dem Schlachtfelde, ohne die zu zählen, welche in den Lazarethen verkamen und
noch verkommen, und nach Ausgabe von 100 Millionen, ob man eine Okkupation,
die das erworbene Land verwüstet und entvölkert hat, welche die übriggebliebene
Bevölkerung erbittert und entfremdet hat, ob man eine solche Occupation eine glor-
reiche nennen kann? (Rufe von links: sehr richtig! Bravo!)92

In Anbetracht solcher Bilanzen wundert es nicht, dass auch die zusammenfas-


sende Beurteilung des Okkupationsfeldzugs durch den ungarischen Militärhis-
toriker László Bencze mehr als 100 Jahre später ziemlich nüchtern und kritisch
ausgefallen ist – wiewohl der Verfasser selbst dem Soldatenstand (und dazu
noch in einer Armee des Warschauer Pakts) angehörte:
The occupying troops acted and treated […] [Bosnian] forces as if they were everyday
criminals, murderers, and arsonists. Physical force was the invader’s most easily un-
derstandable method of dealing with the populace.93

89 Zanantoni, Eduard: Erinnerungen aus meinem Leben [handschriftl unveröff. Ms, 1922].
Österr. Staatsarchiv (ÖStA/KA/NL, B/6:1).- Ich danke Tamara Scheer für diesen produk-
tiven Hinweis.
90 Hausner, Otto / Dr. Wolski: Oesterreichisch oder Kosakisch? Reden in der Adressdebatte
des österr. Abgeordnetenhauses. Wien: L. Rosner 1878. Für die Interessenslage dieser
beiden Parlamentarier ist aufschlussreich, dass der galizische Abg. Hausner sich selbst
als Polen bezeichnet (ibd., p. 47).
91 Ibid., p. 10.
92 Ibid., p. 36.
93 Bencze 2005, p. 301.

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Besetzungen (1)143

Benczes Befund stimmt nun keineswegs mit dem Bild vom Okkupationsfeldzug
1878 überein, wie es der postimperialen Nachwelt – wenn auch spärlich – über-
mittelt wird; eher schon hat sich Andrássys Bild vom bewaffneten Spaziergang
mit Blasmusik als Beschreibungshülse durchgesetzt, sofern nicht der umfang-
reichste k. u. k. Militäreinsatz von fast fünfzig Jahren (1866–1914) überhaupt
aus der Habsburg-Geschichtsschreibung ausgespart bleibt: selektive Wahrneh-
mung?
Dementsprechend erscheint es erstrebenswert – unter Berücksichtigung des
beschränkten Raumes, der uns hier zur Verfügung steht – die Analyse einiger
zentraler diskursiver Momente der skizzierten Kriegsnarrative in Angriff zu
nehmen und dann einen etwas weiter führenden Ausblick anzudenken.
Zunächst einmal die Erzählstrukturen: In den meisten Militär- und Vetera-
nenberichten werden
• „rechtmäßige“ Okkupation und illegitime „Insurgenz“ einander gegenüber-
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gestellt. Diese juristische Dichotomie wird mit dem


• „heimtückischen“ und „fanatischen“ Charakter der Insurgenten psychologi-
siert,
• denen im Kampf der sportliche bis frohgemute k. u. k. Kavaliersoldat überle-
gen gegenübersteht, der alle Entbehrungen im Namen seiner „Kulturmission“
heroisch (und homosozial) er-duldet.
• Dahinter steht die fundamentale wie althergebrachte Dichotomie von Zivi-
lisation und Barbarei, mit der narrativ ein „othering“94 der Aufständischen
durchgeführt wird.
Der fremde, meist muslimische (oder serbische) Kämpfer wird so zum alien Ot-
her stigmatisiert, was so weit gehen kann, dass dieses ungeniert rassistisch dem
kolonialen bis ‘kannibalischen’ Anderen Afrikas gleichgesetzt wird, wie dies im
vorher zitierten tschechischen Okkupationstext der Fall war. Auf der anderen
Seite trägt der k. u. k. Soldat Kiplings zum fliegenden Wort gewordene „Bürde
des weißen Mannes“95, der mit Gewalt und Ekel seine vermeintliche Zivilisiert-
heit dem „Barbaren“ kolonial aufzwingt, gleichsam mit.

94 Zu diesem Konzept vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. An Essay in
Reading the Archives. In: History and Theory 24.3 (Okt. 1985), pp. 247–272; Brons, Lajos:
Othering, an Analysis. In: Transcience 6.1 (2015), pp. 69–90.
95 Diese stehende Phrase einer Selbstrechtfertigung des Kolonialismus geht auf Rudyard
Kiplings Gedicht The White Man’s Burden von 1899 zurück; online auf Englisch mit deut-
scher Übersetzung unter www.loske.org/html/school/history/c19/burden_full.pdf

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144 Clemens Ruthner

Die solchermaßen aufgestellten „manichäischen“96 Oppositionen ermögli-


chen jedenfalls ein Ausblenden von potentiellen Kriegsverbrechen oder zumin-
dest deren selektive Wahrnehmung; „Fanatismus“ wird hier buchstäblich zum
Totschlagsargument (und diese rhetorische Strategie wird auch später in den
Darstellungen der Attentäter von Sarajevo 1914 wiederkehren97).
Das Sich-Messen am ‘orientalischen’ Anderen hat aber durchaus auch Kon-
sequenzen für die interne österreichisch-ungarische Identitätspolitik. Fragt
Edmund v. Glaise-Horstenaus Erzählinstanz zu Beginn seines retrospektiven
Berichts von 1878 noch bang „Wird das neue Volksheer [nach Königgrätz, C.R.]
die Probe bestehn?“,98 heißt es im Armeebefehl von Kaiser Franz Joseph vom 19.
Oktober 1878 zur bevorstehenden Einstellung der Kampfhandlungen:
Den Unbilden außergewöhnlich ungünstiger Witterung, den Schwierigkeiten eines
unwegsamen Bodens und unvermeidlichen Entbehrungen aller Art Trotz bietend,
haben Meine braven Truppen in ruhmvollen Kämpfen den Widerstand einer irrege-
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leiteten, fanatisierten Bevölkerung gebrochen, durch musterhafte Manneszucht und


ihre altbewährte Tapferkeit die Ehre Unserer Fahnen stets hoch zu halten gewußt und
die ihnen gewordenen Aufgabe in kurzer Zeit erfolgreich gelöst.99

Im Kampf wie im Sieg fungiert also die success story der Okkupation als überna-
tionale Klammer in Österreich-Ungarn; hier sei nochmals Julius Beranek zitiert:
Ob die Soldaten Deutsche oder Polen, ob sie Ungarn oder Kroaten, ob sie Tschechen
oder Krainer, ob Steirer oder Tiroler waren: sie alle, alle haben den Beweis erbracht,
daß es in der österreichisch-ungarischen Monarchie kein minderwertiges Volk, keine
minderwertigen Soldaten gibt.100

Im Kampf erfährt sich der k. u. k. Militär in Absetzung von Edmund Chauras


„ignoble cannibal enemy“ wenn schon nicht als Nation im Sinne des Nationalis-
mus, so doch als staatstragendes ‘Volk’ jenseits aller ethnischer Differenzen. Der
Okkupationsfeldzug dient somit – zumindest retrospektiv – auch der eigenen
Identitätsstiftung.
Über diesen konkreten ‘kakanischen’ Bezugsrahmen hinaus drängen sich
aber noch globalere Fragen auf, die freilich eher rechtsphilosophischer und ethi-
scher Natur sind:

96 Vgl. JanMohamed, Abdul R.: The Economy of Manichean Allegory. The Function of Ra-
cial Difference in Colonialist Literature. In: Gates, Henry Louis Jr.: ‘Race’, Writing, and
Difference. Chicago, London: Chicago Univ. Pr. 1985, pp. 78–106.
97 Vgl. dazu Preljević & Ruthner 2016.
98 Glaise-Horstenau 1909, p. 4.
99 Zit. n. Beranek 1908, p. 134.
100 Ibid.

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Besetzungen (1)145

• Seit jeher dient die kategorielle Trennung von regulären Soldaten und irre-
gulären Kämpfern / unlawful combattants der Umgehung von internationalen
Konventionen für die Behandlung von Kriegsgefangenen, die es schon 1878
gab.
• Doch wer bestimmt, was völkerrechtlich illegale „Insurgenz“ und was legiti-
me ‘Heimatverteidigung’ ist? Zugunsten der bosnisch-herzegowinischen In-
surgenten ließe sich argumentieren, dass diese immerhin quasi-demokratisch
den Willen eines signifikanten Prozentsatzes der bosnisch-herzegowinischen
Bevölkerung zur Territorialverteidigung exekutiert haben, der zudem noch
vom Aktionskomitee der Aufständischen in Sarajevo sanktioniert worden
war.
• Die Rhetorik der „Insurgenz“ öffnet somit ein militär- und menschenrecht-
liches Vakuum – denn wie lässt sich mit der vorgeblichen „Kulturmission“
vereinbaren, dass sie letztlich nur mit Gewalt durchgesetzt werden kann?
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Werden sich hier der fanatische Insurgent und der das Standrecht handha-
bende Zivilisationssoldat nicht erstaunlich ähnlich? Oder dienen hier die pa-
thetischen „zivilisatorische Werte“ nur als Prätext für Imperialismus? Schon
der Abgeordnete Dr. Wolski hat im österreichischen Reichsrat die rhetorische
Frage gestellt, „ob der Humanität gedient worden wäre durch die Hekatom-
ben von Opfern, die eben in Folge des Einmarsches der Oesterreicher hin-
geschlachtet worden sind.“101
• Der Abgeordnete Wolski ist es auch, der die Dialektik des Kolonialismus
hellsichtig vorausgeahnt hat, die sich gegen die Möchtegern-Kolonisatoren
wenden wird und nicht zuletzt bereits durch die gewaltsam widersprüchliche
Natur der „Kulturmission“ bedingt ist:

Im Orient gilt als Unterdrücker, wer grundsätzlich mit orientalischen Traditionen


bricht. Wollten wir es im Ernste versuchen, dort zu reformiren und zu cultiviren,
und dieser bosnischen Bevölkerung, welcher unter türkischer Herrschaft, sobald
sie einmal ihren Zehent an die Regierung berichtigt hatte, sonst in ungebundener
Freiheit und Zügellosigkeit leben konnte, jene Regeln, jene Beschränkungen, jene
Lasten aufzuerlegen, die von einem geordneten Staatswesen unzertrennbar sind,
wollen wir dort einmal unser Justizsystem, unser Wehrgesetz, unsere Concur-
renzgesetze, unsere Steuern und Steuerzuschläge, unser Salz- und Tabakmonopol
einführen, so werden Sie sehen, meine Herren, dass alles Dies zu einer furchtbar
wuchernden Saat des Hasses gegen uns werden wird.102

101 Hausner & Wolksi 1878, p. 12.


102 Ibid., p. 16.

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146 Clemens Ruthner

Ein Gemeinplatz will es, dass in der Beschreibung eines Krieges a posteriori die
Perspektive der Mächtigen und vor allem die des Siegers den Ausschlag gibt.
Dies gilt damals 1878 in Österreich-Ungarn und Bosnien-Herzegowina wie heu-
te in den USA und im Irak; was indes einen durchaus überraschen kann, ist die
Ähnlichkeit der beiden Okkupationsdiskurse und ihres zentralen Leitmotivs,
des fanatischen muslimischen Insurgenten, den dieser Diskurs zum alien Other
macht, das vernichtet werden muss, damit der verbleibende Rest der Bevölke-
rung „cultivirt“ werden kann.
Als kleine Ironie der Geschichte kann man freilich anmerken, dass bereits
wenige Jahre nach der Okkupation 1878 die Nachkommen jener bosnisch-her-
zegowinischen Aufständischen der k. u. k. Armee als erstrebenswerte human
resources galten und konskribiert wurden.103 Die daraus entstehenden „Bosnia-
ken“-Infanterieregimenter zählten zu den Elitetruppen der Habsburger Mon-
archie im Ersten Weltkrieg, die für ihre Kampfstärke und Tapferkeit von den
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Nachfolgern jener k. k. Militärs gelobt wurden, die ihre Väter und Großväter
noch als grausame Fanatiker abgetan hatten.104 Bei ihrer schwärmerischen Be-
schreibung105 jedenfalls greifen orientalistische Klischees um sich, welche die ko-
lonial-imperialistische Dimension jener letzten habsburgischen Gebietserwer-
bung einmal mehr als phantasmatischen Raum offen legen; so schreibt etwa der
Autor Rudolf Henz, der ebenso wie der spätere österreichische Bundespräsident
Adolf Schärf im Weltkrieg als Offizier bei einem bosnisch-herzegowinischen In-
fanterie-Regiment diente, in seinem autobiografischen Roman Dennoch Mensch
(1935) retrospektiv über seine südslawischen Soldaten:
Bosniaken, das waren für mich kräftiges Urvolk, Balkan, Moschee und Muezzin, Kis-
met und Todesmut, das war Fez und Pumphose, im Mundwinkel hängende Zigaret-
te, das war Sturmangriff mit Juchzen und Bocksprüngen, war Dolch zwischen den
Zähnen und Erfüllung unmöglicher Befehle, das war wilder und immer tapferer und
treuer als alle anderen, war ein Stück wilder Orientträumerei, Ersatz für viele Reisen
und Indianergeschichten.106

103 Vgl. Šehić, Zijad: Das Militärwesen in Bosnien-Herzegowina 1878–1918. In: Ruthner et al.
2015, pp. 139–153.
104 Zu diesem Thema vgl. Schachinger, Werner: Die Bosniaken kommen. Elitetruppen in
der k. u. k. Armee. Graz: L. Stocker 1994; Neumayer, Christian / Schmidl, Erwin A.: Des
Kaisers Bosniaken. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien:
Ed. Stefan Rest / Militaria 2008.
105 Vgl. Strigl, Daniela: Schneidige Husaren, brave Bosniaken, feige Tschechen. Nationale
Mythen und Stereotypen in der k. u. k. Armee. In: Hárs, Endre / Reber, Ursula / Ruthner,
Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn,
1867–1918. Tübingen: Francke 2006, pp. 129–144
106 Henz, Rudolf: Dennoch Mensch. Ein Roman von Krieg und Liebe. Salzburg: Pustet 1935,
p. 35.

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„Proximate Colony“147

„Proximate Colony“

Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer


Herrschaft

Robert J. Donia (Ann Arbor)

Mit der Okkupation 1878 wurde Bosnien-Herzegowina Österreich-Ungarns


erste und einzige Kolonie. Mit dieser osmanischen Provinz nahmen die geo-
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politischen Ambitionen der Habsburger Monarchie1 – deren Nachbar das drei-


eckförmige Gebiet ja nach zwei Seiten hin war – Gestalt an, indem sie Ventil
für die einschlägigen Ideen, Energien und Ressourcen der aufstrebenden neuen
Kolonialherrn wurde.
Was für eine Art Kolonie war es aber? In meinem Beitrag werde ich zeigen,
dass Bosnien-Herzegowina in der Habsburger Ära am besten als nahe oder ‘an-
nähernde’ Kolonie (proximate colony) verstanden werden kann, in der die Nähe
von Kolonisatoren und Kolonisierten das bedingt, was Geor­ges Balandier in
seinem richtungsweisenden Aufsatz von 1951 die „situation coloniale“ genannt
hat.2 Die beiden Länder in dieser kolonialen Beziehung, Österreich-Ungarn
ebenso wie Bosnien-Herzegowina, hatten zwar sozial unterschiedliche Bevöl-
kerungen, die aber auch Sprache, religiöse Zugehörigkeit und das erwachende
Nationalbewusstsein teilweise mit der jeweils anderen Seite teilten.
Vor vier Jahrzehnten hat Michael Hechter provokant vorgeschlagen, das
Konzept des „inneren Kolonialismus“, das ursprünglich zur Erforschung latein-
amerikanischer Verhältnisse von Zentrum und Peripherie entwickelt worden
war, auch auf Großbritannien anzuwenden.3 Er argumentierte, dass in Indust-
riegesellschaften die fortschreitende Entwicklung die soziale Ungleichheit und

1 Zu den strategischen Interessen Österreich-Ungarns in Bosnien-Herzegowina vgl.


Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini 1882–1903 [Kállays Regime in
Bosnien und der Herzegowina 1882–1903]. Sarajevo: Veselin Masleša 1987, pp. 13–38.
2 Balan­dier, Georges: La situation coloniale. Approche théorique. In: Cahiers Internatio-
naux de Sociologie 11 (1951), pp. 44–79 [engl. Übers. in: Wallerstein, Immanuel (Hg.):
Social Change. The Colonial Situation. New York: Wiley 1966, pp. 34–81].
3 Hechter, Michael: Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Develop-
ment, 1536–1966. Berkeley: Univ. of California Pr. 1975.

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148 Robert J. Donia

die Ethnisierung des Zusammenlebens eher fördere. Unsere Untersuchung


zeigt, dass dies durchaus auch auf die vierzig Jahre von Bosnien-Herzegowinas
kolonialer Erfahrung zutrifft. Die Industrialisierung und Urbanisierung nahm
rapide zu, ebenso die ethnische Differenzierung und Ungleichheit, so wie dies
Hechter antizipiert hat. Daraus entsprangen Streitigkeiten und Widersprüche,
nicht nur zwischen den Kolonialherrn und ihren neuen Untertanen, sondern
auch zwischen Akteuren innerhalb der Kolonie, und dies trug schlussendlich
zum Untergang der Monarchie selbst bei.
Die österreichisch-ungarischen Verwalter und Journalisten jener Zeit sahen
in Bosnien-Herzegowina jedenfalls eine Kolonie, und auch viele Historiker, die
diese Epoche studieren, haben diese Charakterisierung verwendet.4 Trotzdem
wurde die genaue Bedeutung des Konzepts ‘Kolonialismus’ in diesem Kontext
selten systematisch ausgelotet. Dafür bietet etwa der amerikanische Afrika-His-
toriker Frederick Cooper mit seiner Synthese verschiedener Ansätze eine um-
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fassende und nuancierte Darstellung des Phänomens an.5 In einer Ausarbei-


tung und Aktualisierung von Balandiers Analyse zeigt er, wie der Kolonialismus
mehr ist als bloß die repressive Hegemonie einer Gesellschaft über eine andere,
sondern auch Folgen zeitigt, die von den Kolonisatoren nicht beabsichtigt sind
– einschließlich eines unvorhergesehenen sozialen Wandels der Gesellschaften
in der Kolonie wie im Mutterland.
Indem ich nun diese Kategorien für koloniale Studien aufgreife, möchte ich
herausarbeiten, dass Bosnien-Herzegowinas koloniale Erfahrung akuter war
als anderswo und der Antagonismus zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten
gerade wegen der Nähe und gegenseitigen Vernetzung der beiden Gemeinwesen
an Intensität zunahm. Das Gebiet auf dem Westbalkan wurde somit eine exem-
plarische Kolonie, dem k. u. k. Mutterland untergeordnet und von ihm zutiefst
abhängig, was für die Kolonialherren weitreichende und ungewollte Konse-
quenzen hatte.

Modernisierung
Die österreichisch-ungarische Verwaltung verlieh wiederholt ihrer Hoffnung
Ausdruck, dass Bosnien-Herzegowina eines Tages eine zeitgemäße europäi-
sche Gesellschaft werden würde.6 Ihre Politik hingegen zielte darauf ab, ein
traditionelles Gemeinwesen mit den äußeren Manifestationen einer westlichen
Moderne lediglich zu übertünchen. Die k. u. k. Administratoren sahen sich als

4 Vgl. auch die Beispiele in Clemens Ruthners Einführung zu diesem Sammelband.


5 Cooper, Frederick: Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley: Univ.
of California Pr. 2005, pp. 33–55.
6 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 61–87.

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„Proximate Colony“149

Missionare einer kulturellen Wiedergeburt, welche die Zurückgebliebenheit


und den Partikularismus überwinden sollte, die die bosnischen Völker ihrer
Meinung nach heimsuchten. Benjamin von Kállay (1839–1903), der kaisertreue
Gemeinsame k. u. k. Finanzminister, der von 1882 bis zu seinem Tod als erster
der Provinzverwaltung Bosnien-Herzegowinas vorstand, schrieb 1895 an den
Kaiser über den „neuen modernen Geist“, der sich dank der „Segnungen der Kul-
tur, die die Landesregierung im ganzen Land zu verbreiten sucht“, entwickeln
würde.7 Da aber er und andere Entscheidungsträger abgeneigt waren, Kräfte des
sozialen Wandels freizusetzen, die ihre „Kulturmission“ stören könnten, ließen
die k. u. k. Verwalter über weite Strecken die Sozialstrukturen intakt, die sie bei
ihrer Ankunft 1878 vorgefunden hatten.
Die imperialen Bürokraten waren auf jeden Fall weit davon entfernt, als freie
Akteure in einem luftleeren Raum zu handeln. Mit potenziell anfälligen Kron-
ländern der Monarchie nördlich, südlich und westlich von Bosnien-Herzegowi-
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na mussten sie immer wieder die Risiken sozialer Unruhe in Erwägung ziehen,
die sich leicht auch im Mutterland ausbreiten konnte. Weiters sahen sich die
offiziellen k. u. k. Repräsentanten dem heftigen Wiederstand der ungarischen
Agrarlobby ausgesetzt, die von Anfang an gegen das koloniale Abenteuer op-
poniert hatte, da sie um ihre eigene soziale und politische Bedeutung fürchtete.
Die politische Rücksichtnahme auf die Lage im Mutterland verstärkte so die
konservativen Instinkte der kolonialen Bürokratie. In Erfüllung ihrer erklärten
Ziele („to make the people content“ bzw. „retain the ancient traditions of the
land vivified and purified by modern ideas“),8 untermauerte sie die dominante
Stellung traditioneller Eliten und fror so gleichsam die Sozialstrukturen, die
sich als äußerst resistent gegen wirtschaftliche und politische Transformationen
erwiesen, vor Ort ein.
Die k. u. k. Administrationen sahen wenig Chancen, die Bosnier zu gelehrigen
und dankbaren Untertanen zu bekehren, ohne das größte Problem der neuen
Provinz anzusprechen, das immer wieder für Unzufriedenheit sorgte: das qua-
si-feudale Agrarsystem von abhängigen Landpächtern, den sog. Kmeten.9 Die

7 Kállay an Kaiser Franz Joseph, Wien, 03.10. 1895. Zit. n. Hauptmann, Ferdo (Hg.): Borba
Muslimana Bosne i Hercegovine za vjersku vakufs­ko-mearifsku autonomiju [Der Kampf
der Muslime Bosnien-Herzegowinas um die Autonomie religiöser Stiftungen]. Sarajevo:
Arhiv Socijalisticke Republike Bosne i Hercegovina 1967, p. 62.
8 Interview with Benjamin von Kállay. In: The Daily Chronicle [London], 03. 10. 1895. Zei-
tungsausschnitt in den Papieren von Benjamin Kállay, Faszikel 47, Magyar Országos
Levéltár (Budapest), p. 344, zit. n. Donia, Robert J.: Islam under the Double Eagle. The
Muslims of Bosnia and Herzegovina, 1878–1914. Boulder, Col.: East European Monografs
1981, p. 14.
9 Vgl. Hauptmann, Ferdo: Privreda i društvo Bosne i Hercegovine u doba austro-ugarske
vla­da­vine (1878–1918) [Wirtschaft und Gesellschaft in Bosnien-Herzegowina während

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150 Robert J. Donia

Aussichten einer solchen Reform erregten jedoch den Widerstand ungarischer


Landbesitzer, und weder der Kaiser noch seine Helfer brachten den Mut auf,
dieses Problem frontal anzupacken. Stattdessen kodifizierten und regulierten
sie die agrarischen Verhältnisse gründlich, eliminierten manchen Missbrauchs-
fall auf Seiten der Landbesitzer, aber machten den Staat dadurch auch zum
Komplizen eines veralteten feudalen Abgabensystems der örtlichen Landpäch-
ter an ihre Herren.10 Erst in den späteren Tagen ihrer Herrschaft boten sie
den unfreien Bauern eine ‘freiwillige’ Einigung an – nämlich das Land, das sie
bearbeiteten, mit Hilfe von geförderten Hypothekarkrediten zu kaufen.11 Die
Bauern freilich rebellierten noch im frühen 20. Jahrhundert mehrmals gegen das
veraltete und ungerechte Agrarsystem, und ihr Anliegen wurde zum Paradefall
für jugendliche serbische und kroatische Nationalisten, die sich im Jahrzehnt
vor dem Ersten Weltkrieg radikal gegen das Habsburger Reich wandten.12
Auf der anderen Seite erzielte die k. u. k. Zivilverwaltung etliche Erfolge mit
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der Urbanisierung ihrer Kolonie. Sie bediente sich einer kleinen Armee von
Architekten – meist Südslawen oder Tschechen, die in Wien ausgebildet worden
waren –, die die städtischen Zentren Bosniens und der Herzegowina im Stil
zeitgenössischer zentraleuropäischer Innenstädte erneuern sollten.13 Indem sie
Vorlagen von Stadtplanern aus anderen Teilen der Monarchie übernahmen, ad-
aptierten sie die Muster des zeitgenössischen Historismus für die Restrukturie-
rung Bosnien-Herzegowinas. Die Architekten profitierten dabei von der Nähe
der Kaisermetropole Wien zu ihrer Kolonie, was häufige Reisen hin und her ein-
fach machte und eine Wechselwirkung der Einflüsse und Designs bewirkte. Bald
sahen die bosnisch-herzegowinischen Stadtzentren wie andere Provinzstädte in
der Monarchie aus. Immigranten strömten in Scharen herbei – nicht nur vom
Land, sondern auch aus den kroatisch besiedelten Teilen der Monarchie.
Ein wichtiger Teil der regen Bautätigkeit war freilich konservativen Beweg-
gründen geschuldet; so entstanden neue, stattliche Kirchenbauten sogar in den
kleinsten Städten. Die Architekten entwarfen auch monumentale Sakralbau-

der österr.-ungar. Herrschaft]. In: Redžić, Enver (Hg.): Prilozi za istoriju Bosne i Herce-
govine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1987, vol. 2, pp.
99–181.
10 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 499–515; Donia 1981, pp. 25–28. Zur Agrar-Administration vgl.
K. u. k. Gemeinsames Finanzministerium: Bericht über die Verwaltung Bos­niens und der
Herzegovina 1906. Vienna: k. k. Hof- & Staatsdruckerei 1906, pp. 53–39.
11 Vgl. Hauptmann 1987, pp. 181–187.
12 Die Ansichten dieser radikalen Schüler und Studenten sind zusammengefasst bei Dedijer,
Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966, pp. 175–234.
13 Vgl. die Illustrationen bei Krzović, Ibrahim: Arhitektura Bosne i Hercegovine, 1878–1918
[Die Architektur Bosnien-Herzegovinas 1878–1918]. Sarajevo: Umjet­nička galerija Bosne
i Hercegovine 1987.

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„Proximate Colony“151

ten für die Hauptstadt Sarajevo, um den Status der von der Regierung einge-
setzten religiösen Funktionäre zu untermauern, das Interesse der Bevölkerung
strategisch von säkularen nationalistischen Bewegungen abzulenken und sie
zu Frömmigkeit und Gehorsam zu erziehen.14 Obwohl sie durch die Hügel-
ketten im Umland behindert waren, die Sarajevos Ost-West-Tallage definieren,
schafften es die Architekten und Stadtplaner, die visuelle Bedeutung der Wiener
Ringstraße ohne ihre kreisförmige Anlage zu kopieren: Sie schufen quasi einen
linearen Boulevard in einem bescheidenerem Ausmaß entlang den Flussufern
der Miljacka. Obwohl sie sich bemühten, sich den (Jugend-)Stil des Wiener
Sezessionismus zu eigen zu machen, diktierte ihnen der habsburgische Tradi-
tionalismus, dass öffentliche und religiöse Gebäude dieser Mode abzuschwören
hätten, und so bestimmten historistische Gebäude auch weiterhin das Stadtbild.
Trotz des konservativen Charakters dieses von der Habsburger Monarchie
finanzierten Wandels lässt sich sagen, dass Österreich-Ungarns selbstprokla-
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mierte „Kulturmission“ bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts großenteils er-
folgreich war. Es war aber ein Pyrrhus-Sieg: Die Verbreitung der ‘modernen’
Kultur wirkte sich nachteilig auf das k. u. k. Kolonialprojekt aus. Bessere Kom-
munikation und Infrastruktur beseitigten die Isolation, in der viele Bosnier
und Herzegowiner bis zum Aufkommen eines Straßennetzes, Eisenbahn- und
Telegrafensystems gefangen waren; gesteigerte Mobilität und der Zugang zu
Information schufen Möglichkeiten, sich politisch zu organisieren. So hatten
von 1895 bis zur Implementierung des Ausnahmezustands als Folge der Ermor-
dung von Erzherzog Franz Ferdinand 1914 die k. u. k. Administratoren vielerlei
Formen von Unzufriedenheit zu gewärtigen, deren Zielscheibe zunehmend die
imperiale Fremdherrschaft selbst wurde. Es entwickelten sich vier Formen des
Bürgerprotests:
1. Die serbisch-orthodoxen und muslimischen Mitglieder konservativer sozia-
ler Eliten organisierten sich, um eine größere Autonomie in Bildung und
Religion zu erreichen.15 (Der katholische Klerus engagierte sich nicht in einer
Protestbewegung, sondern führte Kampagnen für Religionsübertritte durch,
die gewisse Züge mit den Initiativen der Muslime und Serben teilten.16)

14 Vgl. Donia, Robert J.: Sarajevo. A Biografy. Ann Arbor: Michigan Univ. Pr. 2006, pp. 67–82.
15 Vgl. Madžar, Božo: Pokret Srba Bosne i Hercegovine za vjersko-prosvjetnu samoupravu
[Die serbische Autonomieewegung für Religion und Bildung in Bosnien-Herzegowina].
Sarajevo: Veselin Masleša 1982, pp. 95–426; Šehić, Nusret: Autonomni pokret Muslimana
za vrijeme austrougarske uprave u Bosni i Hercegovini [Die Autonomiebewegung der
Muslime während der österr.-ungar. Herrschaft in Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Sv-
jetlost 1980, pp. 43–356; Donia 1981, pp. 37–174.
16 Vgl. Grijak, Zoran: Politička djelatnost vrhbosanskog nadbiskupa Josipa Stadlera [Die po-
litischen Aktivitäten des bosnischen Erzbischof Josip Stadler]. Zagreb, Sarajevo: Hrvatski

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152 Robert J. Donia

2. Der serbische und kroatische Mittelstand engagierte sich gemeinsam mit


Teilen der Eliten in nationalen Bewegungen, die zunehmend feindselig dem
k. u. k. Regime gegenüber auftraten und Verbindungen mit ähnlichen Orga-
nisationen in den Nachbarländern aufbauten.
3. Die Landesregierung ignorierte und unterdrückte eine regionale Arbeiter-
bewegung, die um die Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ent-
stand.
4. Die größte Gefahr für die Monarchie drohte aber von Seiten einer national-
aktivistischen Jugend, die sich in Geheimgesellschaften organisierte und auf
die Zerstörung der Habsburger Herrschaft abzielte. Einige von ihnen zeigten
sich willens, Anschläge auszuführen und ihr eigenes Leben zu opfern.
Die Führer aller vier Bewegungen lernten schnell, Sympathisanten und Unter-
schlupf in den benachbarten Gebieten der Monarchie und in Serbien zu finden.
Paradoxerweise – obwohl nicht einzigartig in kolonialen Situationen – konnten
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Dissidenten im k. u. k. Mutterland mit Straffreiheit rechnen und auf diese Weise


sowohl den strikten Gesetzen als auch der Überwachung in der Kolonie selbst
entgehen. Die räumliche Nähe verschaffte bosnisch-herzegowinischen Agitato-
ren aber auch Zugang zu den Entscheidungsträgern und Meinungsmachern der
Monarchie. Sie profitierten von strategischen Allianzen innerhalb der Monar-
chie – wie z. B. mit Rechtsanwälten, die ihre Petitionen entwarfen, Journalisten,
die ihre Anliegen publik machten, und Parlamentsabgeordneten, die Anfragen
zu ihren Gunsten einbrachten.
Während die habsburgischen Behörden einerseits traditionelle muslimische
Eliten förderten, ermutigten sie andererseits auch eine kleine Fraktion reform-
williger Landbesitzer und Intellektueller. Diese Muslime unterstützten mit Hilfe
ihrer Zeitschrift Bošnjak [Der Bos­nier], die seit 1891 erschien, Kállays Projekt,
von oben eine uniforme, multireligiöse bosnische Identität (Bošnjaštvo) auf der
Basis territorialer Loyalität zu kreieren.17 Die k. u. k. Repräsentanten zeigten
sich auch hocherfreut, dass die Führungspersönlichkeiten dieser Gruppe eine
Reform des islamischen Erziehungswesens guthießen, die auch weltliche und
wissenschaftliche Unterrichtsgegenstände inkludierte. So waren die k. u. k. Be-
hörden guter Hoffnung, dass das Bošnjak-Konzept die aufkommende Loyali-
tät der Orthodoxen mit einer serbischen Nationalidentität bzw. der Katholiken
mit einer kroatischen überwinden könne. Die Idee einer einzigen bosnischen
Identität fand jedoch nie wirklich Rückhalt außerhalb dieses regierungsfreund-
lichen Zirkels muslimischer Intellektueller. Sehr zum Unmut der k. u. k. Landes-
regierung begannen die Anhänger der Orthodoxie in Bosnien-Herzegowina,

institut za povijest & Vrhbosanska nadbiskupija 2001, pp. 244–248.


17 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 214–278.

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„Proximate Colony“153

sich immer mehr als Serben zu sehen, während die Katholiken eine kroatische
Identität annahmen. Wie sich herausstellte, waren ‘die Bosnier’ nicht für kos-
metische kulturelle Neuerungen zu haben; sie orientierten sich lieber an den
Nachbarländern.

Psychologisierung
Im Zentrum des k. u. k. Zugangs zu den neuen kolonialen Untertanen stand
ein tiefgreifender Paternalismus. Die Verwaltung sah sich in loco parentis und
glaubte deshalb, die Einwohner von Bosnien-Herzegowina seien am besten wie
Kinder zu verstehen, zu motivieren und zu diziplinieren. Ihre Haltung korres-
pondierte gut mit dem absolutistischen Geist, der die ersten zwanzig Jahre der
Okkupation unter Kállay dominierte. Ungeachtet seines profunden Einflusses
auf die k. u. k. Politik ging der Paternalismus jedoch Kállays Ankunft voraus
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und setzte sich nach seinem Tod fort. Während des gesamten k. u. k. Intermez-
zos in Bosnien-Herzegowina schienen die österreichisch-ungarischen Behörden
an die ‘Bürde’ zu glauben, die ihnen der Transfer einer inhärent überlegenen
‘Zivilisation’ an eine inhärent inferiore Bevölkerung auferlegte, und weder geo-
grafische Nähe noch geteilte ethnische Zugehörigkeit konnte ihre absichtsvolle
Herablassung mildern. Wie der Anthropologe Joel Halpern treffend bemerkt:
„geografical proximity was accom­panied by a sense of re­moteness.“18
Der gleichsam instinktive Paternalismus der Behörden war bereits in der
ersten offiziellen Begegnung zwischen den imperialen Besatzern und deren
künftigen bosnisch-herzegowinischen Untertanen im August 1878 spürbar:
Feldzeugmeister Joseph Philippovich (1818–1889), der Befehlshaber des k. u. k.
Okkupationsfeldzugs, wollte die Oberhäupter der großen religiösen Gemein-
schaften in Sarajevo empfangen.19 Er ersuchte Grga Martić, einen Franziska-
ner-Pater, für ihn deren Vertreter auszuwählen, und bestand darauf, die Juden,
Serbisch-Orthodoxen und Muslime getrennt von den Katholiken zu treffen.
Nach einem Eröffnungszeremoniell scholt Philippovich die Oberhäupter der
Orthodoxen und Muslime für ihren Widerstand gegen die habsburgische Ok-
kupation und drohte ihnen mit Vergeltung, sollten sie sich den k. u. k. Streit-
kräften weiterhin widersetzen. Dann empfing er separat Pater Martić und lobte
die Katholiken wärmstens für ihre Loyalität dem neuen Regime gegenüber.
Inzwischen verlangte – und erhielt – ein Adjutant des Feldzeugmeisters von
den Muslimen die Namen der Rädelsführer des militärischen Widerstands in

18 Halpern, Joel: Foreword. In: Jezernik, Božidar: Wild Europe. The Balkans in the Gaze of
Western Travellers. London: Saqi 2004, p. 17.
19 Vgl. Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo za vrijeme austrougarske uprave [Sarajevo zur
Zeit der österr.-ungar. Verwaltung]. Sarajevo: Arhiv grada Sarajeva 1969, pp. 13 f.

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154 Robert J. Donia

Sarajevo; sie wurden verhaftet und in den darauf folgenden Tagen exekutiert.20
Während man von einem siegreichen Kommandanten ein hartes Durchgreifen
gegen diejenigen, die seine Soldaten angegriffen, verwundet und getötet hatten,
durchaus erwarten konnte, bot Philippovich zugleich ein erstes Beispiel für
die k. u. k. Bevorzugung der bosnisch-herzegowinischen Katholiken für deren
exemplarisches Verhalten.
Die k. u. k. Behörden rechneten damit, dass diese Bezeugung von Härte und
Zuwendung andere in Bosnien-Herzegowina dazu anhalten würde, den Weg
von Loyalität, Gehorsam und Dankbarkeit zu beschreiten. 1880 schrieb Kállays
Amtsvorgänger als gemeinsamer Finanzminister, Baron Jozsef von Szlávy, die
k. u. k. Administratoren sollten vor Ort „Persönlichkeiten“ einsetzen, „welche
vermöge ihrer Rechtlichkeit, ihrer Bil­dung, ihres unbescholtenen Lebenswan-
dels und ihrer soziale Stellung zunächst berufen schienen, auf ihre Glaubens-
genossen einer Einfluss auszuüben“.21 Als Aussage über die Absicht der neuen
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Kolonialherren ist dies nicht weiter bemerkenswert: Ähnliche Worte wurden


zweifelsohne auch von anderen europäischen Administratoren in anderen
Kolonien ausgesprochen oder niedergeschrieben. Auffällig ist indes, welche
Kriterien hier nicht genannt werden: Offenkundig waren keine besonderen
Eigenschaften wie z. B. Ausbildung oder andere grundlegende Kompetenzen
der Kandidaten erforderlich. Mit Ausnahme von Führungspersönlichkeiten der
religiösen Hierarchien mussten örtliche Würdenträger wie z. B. Bürgermeis-
ter, Vizebürgermeister und Gemeinderäte keine administrativen Fähigkeiten
mitbringen und auch wenig echte Arbeit verrichten. Sie wurden sorgsam aus-
gesucht und in prestigeträchtige Funktionen eingesetzt in der Hoffnung, dass
der Respekt, den sie verströmten, sich als Loyalität, und politischer Quietismus
innerhalb der Gemeinschaften, denen sie vorstanden, niederschlagen würde.
Ihre Tage waren erfüllt mit zeremoniellen Auftritten, Höflichkeitsbesuchen bei
Behörden, Mitgliedschaften in Ehrendelegationen und anderen symbolischen
Gesten der Loyalität der k. u. k. Landesregierung gegenüber. Ihr Aufwand wur-
de mit Gehältern entgolten, aber der bedeutendere Teil ihrer Entlohnung für
ihre öffentlichen Huldigungsgesten bestand im sozialen Status, der mit diesen
Positionen verbunden war.
Illoyales Verhalten hatte naturgemäß den gegenteiligen Effekt: Die Strafe
dafür wurde – ebenso wie die Belohnungen – im Geiste des Paternalismus ge-
handhabt, in der Annahme, dass deutliche Zeichen imperialen Missfallens an-

20 Vgl. Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo u doba okupacije Bosne 1878 [Sarajevo zur Zeit
der Okkupation Bosniens 1878]. In: Ders.: Izabrana Djela. Vol. 4. Sarajevo: Veselin Mas-
leša 1991, p. 133.
21 Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Politische Abteilung, XL. 210, Szlávy an Dahlen, Wien,
24.08.1880.

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„Proximate Colony“155

dere davon abschrecken würden, dem Vorbild des Übeltäters zu folgen. Zuerst
sprachen die k. u. k. Behörden oft eine öffentliche Abmahnung aus, manchmal
gefolgt von einer nominellen Geldstrafe oder einer Suspendierung für einige
Tage. Derartige Gesten waren freilich wenig geeignet, die Betreffenden wirk-
lich abzuschrecken; in etlichen Fällen erweckten sie eher Ressentiments bei
den Glaubensgenossen des Missetäters.22 Gelegentlich gewährte die Verwal-
tung auch Kredite und Konzessionen für ihre bevorzugten Würdenträger, um
sie ihnen im Bedarfsfall – falls sich der Empfänger daneben benahm – wieder
entziehen zu können.
Die tatsächliche Arbeit der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas wurde freilich
von professionellen Bürokraten verrichtet, die aus der Monarchie importiert
worden waren. Die geografische Nähe der Kolonie zum Mutterland bzw. die
ethnischen Überlappungen zwischen beiden hatten für die Doppelmonarchie
den großen Vorteil, dass sie damit über ein großes Reservoir an ausgebildeten
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Beamten verfügte, die ihre Sprache mit den kolonialen Untertanen teilten. Auf
diese Weise konnte das k. u. k. Regime zwei parallele Strukturen aufrechterhal-
ten, nämlich jene zeremonielle Hierarchie von lokalen Würdenträgern und die
importierte Bürokratie. Erst nach der Annexion von 1908 begannen die habs-
burgischen Amtsträger die lokale Bevölkerung in Verantwortungspositionen
einzubeziehen, und dieser Prozess steckte noch in den Kinderschuhen, als der
Erste Weltkrieg ausbrach.
Beamte aus der Monarchie waren indes in jeder Stadt der neuen Kolonie
stationiert und mit der Aufgabe betraut, die lokale Bürokratie zu leiten und
Informationen über alle wichtigen Einwohner zu sammeln. Fast alle von ih-
nen beherrschten die Landessprache. Sie schufen eine Kultur von Informan-
ten, nahmen an Treffen von lokalen Vereinigungen teil und durchforschten das
Gebiet auf Anzeichen von störenden Aktivitäten oder gar staatsfeindlichem
politischem Aktivismus. Ihre Kollegen und Vorgesetzten in Sarajevo sammel-
ten und analysierten diese lokalen Berichte und schickten sie ans Gemeinsame
Finanzministerium in Wien weiter. Kállay brillierte in dieser Form der politi-
schen Überwachung: Die Archive sind heute noch voll mit Berichten, die seine
Aufmerksamkeit erregten und Kommentare provozierten, und einige von ihnen
wurden sogar an den Kaiser zur Einsicht und Stellungnahme weitergeleitet.23
Auf diese Weise waren die Einwohner Bosnien-Herzegowinas von der Mitte
der 1880er Jahre an bis zu Kállays Tod 1903 wohl eine der meist überwachten

22 Die Unzufriedenen sollten später diese Episoden in ihren Kampagnen zitieren, mit denen
sie die öffentliche Erbitterung weiter aufstacheln wollten; sie fügten die Akte kleinlicher
Repressalien den anwachsenden Litaneien von Beschwerden über das Regime hinzu.
23 Das Ausmaß der Überwachung durch die lokalen Behörden ist in den hunderten Doku-
menten evident, die Hauptmann 1967 gesammelt hat.

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156 Robert J. Donia

Populationen der Welt. Die importierten Beamten fungierten zugleich auch als
Kontrollinstanz für die eingesetzten autochthonen Würdenträger, um sicher-
zustellen, dass diese ihre Pflichten in Treue und Dankbarkeit gegenüber der
Monarchie verrichteten.
Dieses System der Überwachung, bestehend aus kleinen Anreizen und sym-
bolischen Bestrafungen, wurde nach Kállays Tod schrittweise außer Kraft ge-
setzt; aber der Paternalismus des k. u. k. Regimes in Bosnien-Herzegowina blieb
und inspirierte auch die Reaktionen auf Studentenbewegungen und Geheim-
organisationen im frühen 20. Jahrhundert. Das paternalistische Credo war, dass
Bildung ein Privileg sei, das von der Verwaltung nach Gutdünken an vielver-
sprechende junge Menschen in der Erwartung verliehen wurde, dass sie die-
sen Gefallen mit Loyalität und Dankbarkeit erwidern würden. Diese Prämisse
wurde freilich durch die geografische Nähe der Bildungsinstitutionen Belgrads,
Zagrebs und Wiens konterkariert, wo Bosnier und Herzegowiner Zugang zu
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einer höheren Bildung fanden. Deshalb sahen die habsburgischen Verwalter


jene Städte als Orte eines potenziell feindlichen Einflusses auf das koloniale Un-
ternehmen an. Sie bekamen es aber auch mit einer lokalen Konkurrenz zu tun,
wenn es um das Privileg der Bildung ging: In den Jahren nach 1900 boten die
ethno-nationalen Vereinigungen Napredak (‘Fortschritt’, für Kroaten), Pro­svjeta
(‘Aufklärung’, für Serben) und Gajret (‘Siegel’, für Muslime) Stipendien an und
wetteiferten so mit der Unterstützung, die das Regime jungen Menschen und ih-
ren Familien bot. Die Empfänger dieser Beihilfen zeigten sich auch nicht so sehr
dem Regime verbunden, wie dies die Verwaltung gehofft hatte. Zwar schrieb
die Administration das erforderliche Verhalten für bosnisch-herzegowinische
Schüler und Studenten aller Lernniveaus im Detail vor; diese jedoch zeigten
sich zunehmend widerspenstig gegenüber den ihnen auferlegten Einschränkun-
gen. So produzierte das k. u. k. Bildungssystem in Bosnien-Herzegowina mehr
Rebellen als loyale Untertanen, und es waren unzufriedene Studenten, die im
frühen 20. Jahrhundert aggressive staatsfeindliche Bewegungen gründeten und
Attentate gegen die Amtsträger der Monarchie planten.

Historisierung
Die neue k. u. k. Landesregierung setzte seit den 1800er Jahren alles daran, die
Geschichte der besetzten Gebiete so zu schreiben, dass Land und Leute sich
so stark wie möglich von den umliegenden südslawischen Territorien unter-
schieden. Kállay, selbst Amateurhistoriker und Autor einer Geschichte Serbiens,
leitete persönlich diese Bemühungen in die Wege. 1884 beauftragte er seinen
ehrgeizigen Kollegen und Freund Lajos Thallóczy, eine zweibändige Geschichte

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„Proximate Colony“157

der besetzten Gebiete zu verfassen.24 Dieser nahm die Herausforderung an und


pflichtete dem Landesherrn bei, dass Bosnien-Herzegowina „als historischer
Organismus“ zu verstehen sei, der sich vollständig unabhängig entwickelt ha-
be.25 Er vertiefte sich bei seiner Suche nach Quellen in zahlreiche ungarische
Archive und zeigte sich bald überwältigt von der Materialfülle. Unfähig, seine
selbst vorgeschlagene zweibändige Darstellung zu vollenden, schlug Thallóczy
1894 vor, zunächst eine fünfbändige Kompilation unter dem Titel Monu­menta
Bosniae zu veröffentlichen, der drei Bände seiner eigenen Studie folgen sollten.
Angesichts parallel entstehender serbischer und kroatischer Geschichtswerke,
die Bosnien-Herzegowina mit einbezogen, war Kállay freilich mehr an hand-
festen Resultaten als an erschöpfender Dokumentation interessiert und stellte
die Finanzierung des Projekts ein. Obwohl Thallóczy etliche Aufsätze mit den
Ergebnissen seiner Forschungen publizierte, schloss er weder sein magnum opus
noch die versprochene Quellensammlung ab.
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Nach Thallóczys Versagen beschloss Kállay, sich dem Problem publizistisch zu


nähern. So unterstützte er die deutschsprachige Veröffentlichung des populären
und reich bebilderten Reiseberichts eines anderen Freundes, des ungarischen
Parlamentariers János Asbóth, der mit der k. u. k. Okkupation Bosnien-Herze-
gowinas sympathisierte. 1889 unterschrieb Kállay auch höchstpersönlich einen
Vertrag mit dem Londoner Verleger Swan Sonnen­schein für eine Übersetzung
dieses Werkes unter dem Titel An Official Tour through Bosnia and Herzegovi-
na.26 Asbóths Buch unterstützte in seiner empirischen Darstellung Kállays Be-
mühungen, eine separate, multikonfessionelle bosnische Identität zu kreieren,
die serbische und kroatische Aspekte ausklammerte.
Mit dieser Entwicklung einer eigenständigen Geschichte Bosnien-Herzego-
winas versuchten Kállay und seine Mitstreiter die österreichisch-ungarische
Okkupation ebenso zu rechtfertigen wie auch die neue Kolonie vor gefähr-
lichen nationalistischen Tendenzen in den Nachbarländern zu isolieren. Kállay
bewunderte in der Geschichte Europas am meisten das römische Imperium und
sah seine Anstrengungen, eine neue, rationale Administration in Bosnien-Her-
zegowina einzuführen in einer Traditionslinie mit der Herrschaft Roms über
das dalmatinische Hinterland. Die offizielle Geschichtsschreibung legte dem-
entsprechend ihre Akzente auf die Vorgeschichte, die Römerzeit und das Mittel-
alter, während sie die vier Jahrhunderte der osmanischen Herrschaft entweder
ignorierte oder als folgenlos betrachtete. So kam es, dass viele Besucher aus

24 Kraljačić 1987, pp. 268 ff.


25 Ibid., p. 269.
26 Asbóth, János: An Official Tour through Bosnia and Herzegovina, with an account of the
history, antiquities, agrarian conditions, religion, ethnology, folk lore, and social life of
the people. London: S. Sonnenschein 1890.

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158 Robert J. Donia

dem Westen – unfähig zu verstehen, dass das moribunde Osmanische Reich zu


seiner Zeit durchaus in der Lage gewesen war, große Bauvorhaben durchzufüh-
ren – die türkische Architektur des Okkupationsgebietes intuitiv mit anderen
Epochen in Beziehung setzten. Sie bestanden darauf, dass etwa die elegante Ne-
retva-Brücke in Mostar, ein Triumpf osmanischer Architektur und Ingenieurs-
kunst des 16. Jahrhunderts, schon in der Antike errichtet worden sein müsse.27
Trotz einer überwältigenden und schon damals gut einsehbaren historischen
Beweislage schrieben sie also die Konstruktion der Brücke den Römern zu und
perpetuierten damit einen populären Fehler, das Bauwerk um mehr als tausend
Jahre zurückzudatieren. Diese landläufige Fehlwahrnehmung wurde in Wort
und Bild weiter verbreitet. So zeigt ein eindruckerweckendes zeitgenössisches
Foto der berühmten Brücke, das den Zeitgeist der Romantik evoziert, Menschen
als winzig kleine Wesen, die von der Pracht der Natur ebenso wie von der monu-
mentalen Errungenschaft der Architektur überwältigt scheinen. In Anlehnung
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an die populären Mythen von der Herkunft des Bauwerks trägt dieses Bild [Abb.
1] auch den falschen Titel Römerbrücke.28
Kállays meistambitioniertes Projekt in seinem Unterfangen, Bosnien-Herzego-
wina im Sinne Österreich-Ungarns zu historisieren, war freilich die von ihm
finanzierte Einrichtung des Landesmuseum (Zemaljski mu­zej) in Sarajevo 1884,
dessen Entwicklung er bis zu seinem Tod überwachte. Obwohl diese Institution
den Namen eines Museums trug, kombinierte sie dies mit den Funktionen eines
Archivs, einer Bibliothek und Forschungsstätte sowie eines Sponsors archäo-
logischer Expeditionen. Bewusst nach dem Modell der Hofmuseen in Wien so-
wie des ungarischen Nationalmuseums in Budapest konzipiert, expandierte das
Abb. 3. Mostar, Römerbrücke

27 Jezernik 2004, pp. 190–203, bietet eine gelehrte Erklärung für die Ursprünge dieser Le-
gende im 19. Jh.
28 Diese Abbildung befindet sich in den Special Collections der Harvard Fine Arts Library.

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„Proximate Colony“159

Landesmuseum rasch und beschäftigte Dutzende von Forschern, Kuratoren,


Bibliothekaren und Archivaren.29 Es publizierte ein Periodikum in zwei Aus-
gaben: eine in der Landessprache in Sarajevo, die andere auf Deutsch in Wien.
1894 fungierte Kállay sogar als Gastgeber und Financier eines internationalen
archäologischen Kongresses in Sarajevo, der der Fachwelt die Forschungsergeb-
nisse des Museums und den aufgeklärten Geist des Regimes vor Augen führen
sollte.30 Wie auch immer: Obwohl die ungebrochene Begeisterung des Personals
für eine eigenständige bosnische Vergangenheit gelegentlich auch zu Über-
treibungen, Verschleierungsversuchen, Fehlinterpretation, ja zu veritablen Er-
findungen führte,31 muss nichtsdestotrotz die Einrichtung des Landesmuseums
als bedeutender Beitrag zur Entwicklung von Forschung und Lehre in Bos-
nien-Herzegowina gewertet werden. Hier machte die geografische und mentale
Nähe des k. u. k. Mutterlandes einen weitreichenden Austausch zwischen den
Mitarbeitern in Sarajevo und den älteren und größeren Institutionen in Wien
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und Budapest möglich.

Ökonomisierung
Indem es die einzige Kolonie der Monarchie war, wurde Bosnien-Herzegowi-
na auch die wirtschaftliche Peripherie der beiden rivalisierenden Zentren, von
denen das eine von einer agarischen ungarischen Elite und das andere von
deutschsprachigen Liberalen dominiert war. Beide befanden sich in einem an-
dauernden Konflikt miteinander; sie hatten konkurrierende ökonomische Inte-
ressen und nationale Befindlichkeiten, und viele andere Interessensgruppen in
der Monarchie hatten die Wahl, sich mit der einen Seite zu verbünden, um sich
als Gegner der anderen wiederzufinden. Die rivalisierenden österreichischen
und ungarischen Eliten hofften beide auf ihre Weise, dem Kaiser und dem Ge-
samtstaat ihre bevorzugte Innen- und Außenpolitik aufzubürden. Das imperiale
Zentrum freilich hatte zwar seine eigene Agenda, aber gerade in Bosnien-Herze-
gowina sah die loyale k. u. k. Verwaltung ihre täglichen Amtsgeschäfte häufig
durch jene interne Konkurrenz zwischen den beiden Teilstaaten behindert: In
der komplexen k. u. k. Architektur politischer Entscheidungsfindung hatte die
agarische Fraktion Ungarns den Vorteil, in einer Position zu sein, aus der heraus

29 Die Frühzeit des Museums wird dokumentiert bei Dautbegović, Almaz: Spomenica sto-
godišnjice rada Zemaljskog muzeja Bosne i Hercegovine 1888–1988 [Zum 100-jährigen
Jubliäum des Landesmuseums von Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Ze­maljski muzej
Bosne i Hercegovine 1988.
30 Vgl. Kraljačić 1987, pp. 266 f.
31 Vgl. etwa Wenzel, Marian: Bosanski stil na stećima i metalu [Bosnischer Stil auf Grab-
steinen und Metall]. Sarajevo: Sarajevo Publishing 1999, pp. 21–30, pp. 171–180.

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160 Robert J. Donia

sie die meisten Beschlüsse blockieren konnte. Viele dieser Ungarn hatten von
Anfang an erfolglos der Okkupation opponiert; sie waren indes erfolgreich,
wenn es darum ging, die Aktivitäten der Monarchie in Bosnien-Herzegowina
legal zu hintertreiben.32
Fatalerweise konnten die magyarischen Verhinderer sicherstellen, dass kei-
nerlei finanziellen Mittel aus der Monarchie für Investitionen in Bosnien-Her-
zegowina eingesetzt werden durften. Wie der bosnische Historiker Dževad
Juzbašić gezeigt hat, brachte diese Einschränkung die k. u. k. Landesregierung
dazu, vor allem Grundstoffindustrien zu entwickeln, die dazu dienen sollten,
Einnahmen für die Provinz zu generieren. Obwohl sich die Verwaltung viel-
leicht ohnehin für diesen Wirtschaftszweig entschieden hätte, argumentiert
Juzbašić, dass das geltende Abgabenrecht effektiv alle möglichen Alternativen
eliminiert und die neuen Herrscher dazu veranlasst habe, darauf zu bestehen,
dass die meisten größeren Firmen im Bereich der Tabakindustrie, Holzwirt-
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schaft und Eisenerzgewinnung in Staatsbesitz bleiben müssten.33 Die k. u. k.


Bürokraten behinderten sich dadurch selbst in ihren ehrgeizigen Projekten, die
die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Mutterland stark reduzieren hätte kön-
nen: Die wirtschaftliche Rivalität zwischen dem Königreich Ungarn und dem
österreichischen Cisleithanien hatte beispielsweise einen großen Einfluss auf
den Eisenbahnbau in der neuen Kolonie. Die Verwaltung sah sich genötigt, auf
die preisgünstigere Schmalspur zu setzen und eine Streckenführung zu planen,
die offenkundig eher österreichischen oder ungarischen Interessen diente als
den wirtschaftlichen Erfordernissen in Bosnien-Herzegowina selbst.34
Auch die hochtrabenden Hoffnungen der neuen Verwalter, eine umfassende
Grundschulbildung einzuführen – verkörpert in ihrem Plan, ein flächendecken-

32 Juzbašić, Dževad: O nastanku paralelnog austrijskog i ugarskog zakona o upravljanju


Bosnom i Hercegovinom iz 1880. godine [Über den Ursprung der parallellen österr. und
ungar. Gesetze zur Verwaltung Bosnien-Herzegowinas im Jahr 1880]. In: Juzbašić, Dže-
vad: Politika i privreda u Bosni i Hercegovini pod Austrougarskom upra­vom [Politik
und Wirtschaft in Bosnien-Herzegowina unter österr.-ungar. Administration]. Sarajevo:
Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 2002, pp. 11–48.
33 Juzbašić, Dževad: Neke karakteristike privrednog razvitka Bosne i Hercegovine u peri-
odu od 1878. do 1914. godine [Einige Charakteristika der wirtschaftlichen Entwicklung
Bosnien-Herzegowinas von 1878 bis 1914] and: O uključenju Bosne i Hercegovine u za-
jedničko austrougarsko carinsko područje [Über die Einbeziehung Bosnien-Herzegowin-
as in die österr.-ungar. Zollunion]. In: Juzbašić 2002, pp. 49–86 u. pp. 141–153.
34 Das Standardwerk zum k. u. k. Eisenbahnbau in Bosnien-Herzegowina und die interne
Konkurrenz der beiden Reichshälften ist Juzbašić, Dževad: Izgradnja željeznica u Bosni
i Hercegovini u svjetlu austrougarske politike od okupacije do kraja Kállayeve ere [Ei-
senbahnbau in Bosnien-Herzegowina im Lichte der österr.-ungar. Politik von der Okku-
pation bis zum Ende der Ära Kállay]. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i
Hercegovine 1974.

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„Proximate Colony“161

des Netzwerk von Schulen in der ganzen Provinz zu errichten – blieb unreali-
siert. Dieses eklatante Versagen bedeutete im Rahmen des österreichisch-unga-
rischen Kolonialprojekts, dass die Alphabetisierungsrate in den vierzig Jahren
Fremdherrschaft nur wenig zunahm. Da nur wenige Bosnier und Herzegowzen
lesen und schreiben konnten, mussten Facharbeitskräfte aus der Monarchie im-
portiert werden, um die wenigen Industriearbeitsplätze zu besetzen, die durch
die Entwicklungspläne geschaffen worden waren. Als Kompensation für dieses
Manko des staatlichen Schulsystems erweiterten die muslimischen, kroatischen
und serbischen Bevölkerungsgruppen ihre eigenen Schulnetzwerke – oft mit
Finanzhilfe und Lehrern aus den Nachbarländern.35 Diese Schulen nährten frei-
lich den Nationalismus und produzierten unzufriedene Jugendliche, von denen
einige später gegen die habsburgische Politik im Land protestierten oder gar
aktiven Widerstand leisteten.36
Die wirtschaftliche Abhängigkeit Bosnien-Herzegowinas vertiefte sich im Lauf
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der österreichisch-ungarischen Herrschaft. Mit Ausnahme der Tabakindustrie lag


die Wirtschaftsleistung vor allem in der Rohstoffgewinnung, während die Bevöl-
kerung importierte Endprodukte aus der Monarchie konsumierte. Die meisten
dieser Güter kamen im späten 19. Jahrhundert aus Österreich, aber nach 1900
begannen ungarische Unternehmer ihr Land zu industrialisieren und selbst Fer-
tigprodukte anzubieten.37 Auf diese Weise traten bald österreichische und unga-
rische Waren auf dem bosnisch-herzegowinischen Markt in einen direkten Wett-
bewerb. Österreichische und ungarische Geschäftsleute konkurrierten spätestens
1909, als von beiden Seiten Gewerbemuseen in Sarajevo eingerichtet wurden, die
dazu dienten, die Konkurrenzwaren denjenigen anzubieten, die sie sich leisten
konnten.38 Hier führte die Nähe des Mutterlands dazu, dass die wirtschaftliche
Abhängigkeit Bosnien-Herzegowinas nur größer wurde und sich außerdem noch
durch die Konkurrenz der beiden ökonomischen Eliten Österreich-Ungarns in-
tensivierte.

35 Papić, Mitar: Hrvatsko Školstvo u Bosni i Hercegovini do 1918. godine [Das kroatische
Schulwesen in Bosnien-Herzegowina bis 1918]. Sarajevo: Veselin Masleša 1982, pp. 101–
146; Papić, Mitar: Istorija srpskih škola u Bosni i Hercegovini [Geschichte der serbischen
Schulen in Bosnia-Herzegowina]. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 115–176.
36 Zu den Protesten in Mostar, cf. Donia, Robert J.: Mostar. Epicenter of Bosnian Student
Movements on the Eve of World War I. In: Hercegovina 9 (1997), pp. 264–275.
37 Juzbašić, Dževad: Izvještaj Hermanna von Sautera o odnosima Bosne i Hercegovine i
Monarhije u svjetlu austro-ugarskih ekonomskih suprotnosti [Der Bericht von Hermann
v. Sauter über die Beziehungen Bosnien-Herzegowinas und der Monarchie im Lichte der
österr.-ungar. wirtschaftlichen Gegensätze]. In: Juzbašić 2002, pp. 112–120.
38 Ibid., p. 133.

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162 Robert J. Donia

Fazit
Bosnien-Herzegowina war ein quasi vertrautes Gebiet, als die Habsburger Mona-
chie 1878 ihr internationales Mandat zur Okkupation und Verwaltung des Landes
wahrnahm. Mit den Vorteilen, die ihnen aus der geografischen Nähe bzw. den
Überlappungen mit eigenen größeren Bevölkerungsgruppen erwuchsen, hatten
die kolonialen k. u. k. Administratoren ein besseres Verständnis in Bezug auf Ge-
schichte, Traditionen und Kulturen als jene europäischen Funktionäre, die zur
gleichen Zeit Überseekolonien verwalteten. Diese Vertrautheit und Nähe war
jedoch nicht nur von Vorteil für die Einwohner Bosnien-Herzegowinas. Sie ver-
tiefte sogar noch die Kluft zwischen Kolonialherren und Kolonisierten, vor allem
als die Kolonie ein Faustpfand in jenen Machtkämpfen wurde, die die Monar-
chie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erschütterten. Umgekehrt hatte
jede größere Entscheidung der k. u. k. Verwaltung in Bosnien-Herzegowina auch
Auswirkungen auf das politische Leben in der ganzen Monarchie. Sogar ein Ver-
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walter mit großen Visionen und weitgehender Autonomie wie Kállay legte eine
größere Vorsicht in der Durchsetzung seiner Ideen an den Tag als in einer Über-
seekolonie, so dass die Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der dominanten
politischen Gruppen innerhalb der Monarchie letztlich nur seine konservativen
Instinkte stärkte.
Obwohl sie nach außen hin eine Modernisierung und Liberalisierung der Kolo-
nie befürwortete, begann die Monarchie zunehmend Bosnien-Herzegowina aus-
zubeuten, was dessen koloniale Lage im frühen 20. Jahrhundert verschlimmerte.
Die nahe Kolonie wurde eine Hyperkolonie, die immer mehr vom Mutterland
abhängig wurde, während immer mehr Einwohner ihr Unbehagen über das be-
vormundende Verhalten der Kolonisatoren aus Österreich-Ungarn in Form zu-
nehmend gewalttätiger Proteste ausdrückten.39

(Aus dem Englischen von Clemens Ruthner)

39 Für eine weitere Beschreibung des k. u. k. Kolonialismus in Bosnien-Herzegowina vgl.


auch den Sammelband von Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Aust-
ria-Hungary, Bosnia-Herzegowina, and the Western Balkans, 1878–1918. New York et al.:
P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series 41).

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen
Muslime und ihr Nationalismus1

Aydın Babuna (Istanbul)

Der äußerst komplizierte Prozess der Herausbildung der ‘bosniakischen Nation’


ist in der Fachliteratur häufig thematisiert worden. Auch die vorliegende Studie
befasst sich mit der Entwicklung des Nationalismus bei den bosnisch-herze-
gowinischen Muslimen am Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese traten in der
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österreichisch-ungarischen Periode zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit


politischen Forderungen im modernen Sinne auf und so kam es nach 1906 zur
Gründung verschiedener muslimischer Parteien, Organisationen und Vereinen.
Diese Tatsache macht die k. u. k. Zeit zur wichtigsten Phase für die Erforschung
der Entstehung des Nationalismus unter den bosnischen Muslimen.
Im Unterschied zu anderen Studien über die österreichisch-ungarische Ära,
die dazu tendieren, der Entstehung des Nationalismus der bosnisch-herzego-
winischen Muslime weniger Raum zu geben,2 verweist die vorliegende Arbeit
auf die Wurzeln dieses Phänomens. Eines der wichtigsten Argumente ist, dass
eine derartige Analyse multiperspektivisch sein soll; hierfür werden nicht nur
österreichisch-ungarische, sondern auch osmanische Quellen sowie Nationalis-
mus-Theorien herangezogen.3

1 Der Autor bedankt sich beim Forschungsfonds der Boğaziçi-Universität für die Unter-
stützung (Projekt Nr. 5087).
2 Vgl.z.B. Donia, Robert: Islam under the Double Eagle. The Muslims of Bosnia and Herce-
govina, 1878–1914. New York: East European Monografs 1981; Pinson, Mark: The Mus-
lims of Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungarian Rule, 1878–1918. In: Ders. (Hg.):
The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages
to the Dissolution of Yugoslavia. Cambridge: Harvard Univ. Press 1993, pp. 84–128; Do-
nia, Robert J./Fine, John V.A.: Bosnia and Hercegovina. A Tradition Betrayed. New York:
Columbia Univ. Press 1994.
3 In der vorliegenden Studie werden Dokumente aus dem Archiv Bosniens und der Her-
zegowina (Sarajevo), dem Haus-, Hof-und Staatsarchiv (Wien) und aus dem Başbakanlık
Osmanlı Arşivi (Istanbul) zitiert. Die Arbeit stützt sich dabei hauptsächlich auf mein
Buch: Babuna, Aydın: Die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit bes. Be-
rücksichtigung der österreichisch-ungarischen Periode. Frankfurt/M.et al.: P. Lang 1996.
Vgl. auch Babuna, Aydın: Nationalism and the Bosnian Muslims. In: East European Quar-
terly 2 (1999), pp.195–218; Ders: The Berlin Treaty, Bosnian Muslims, and Nationalism.

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164 Aydın Babuna

1. Was ist Nationalismus?


Nach Paul Brass, auf den wir uns im Folgenden stützen werden, ist Nationalis-
mus kein Produkt der ‘relativen Deprivation’4 oder der ‘Statusdiskrepanz’5,
sondern der relativen Verteilung der ethnischen Gruppen in der Konkurrenz
um wichtige Ressourcen und Möglichkeiten sowie Arbeitsplätze in der Gesell-
schaft, die einem Prozess der sozialen Mobilisation, Industrialisierung und Büro-
kratisierung unterworfen ist .6 Brass betont, dass dieser Prozess sich aus zwei
Phasen zusammensetzt: erstens die Entwicklung der ethnischen Gruppe zur
ethnischen Gemeinschaft und zweitens deren Entwicklung zur Nation(alität).7
Die Transformation ethnischer Gruppen zur Gemeinschaft findet in Moder-
nisierungsprozessen unterworfenen oder in post-industriellen Gesellschaften
statt, die drastischen sozialen Veränderungen ausgesetzt sind. Dieser Prozess
kann bei einigen Gruppen zu verschiedenen Zeiten mehrere Male auftreten,
während er bei anderen nicht in Erscheinung tritt.8 Die zweite Phase der He-
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rausbildung einer Nationalität findet wie die erste durch Konflikte innerhalb
der „Elite“9 statt; die erforderlichen Verhältnisse für beide Transformationen
sind gleich. Dabei ist zu bemerken, dass, obwohl Nationalismus normalerweise
das Produkt einer Entwicklung von der Gemeinschaft zur Nationalität ist, er in
Form von Elitephänomen jederzeit – sogar in der ersten Phase der Mobilisie-
rung der ethnischen Gruppe – auftreten kann.10

In: Yavuz, Hakan/Sluglett, Peter (Hg.): War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of
1877–1878 and the Treaty of Berlin. Salt Lake City: The Univ. of Utah Press 2011, pp.
198–225.
4 „Relative Deprivation“ bezeichnet Frustrationen der Menschen in Bezug auf fehlende
soziale (Aufstiegs-)Möglichkeiten und ihren Wunsch nach einem besseren Lebensstan-
dard. Vgl. Hah, Chong Do/Martin, Jeffrey: Toward a Synthesis of Conflict and Integration
Theories of Nationalism. In: World Politics 3 (1975), pp. 361–386, hier p. 385.
5 Der relativ niedrigere Status der nicht-dominanten Gruppen in den Gesellschaften mit
mehreren ethnischen Gruppen kann zum Anlass für den Nationalismus dieser Gruppen
werden. Vgl. Glazer, Nathan / Moynihan, Daniel L: Introduction. In: Ders. (Hg.): Ethnici-
ty. Theory and Experience. Cambridge, MA: Harvard Univ. Press 1975, pp. 1–26, hier p. 14
u.17.
6 Brass, Paul R: Ethnicity and Nationalism. Theory and Comparison. New Delhi: Sage 1991,
p. 47.
7 Brass, Paul R: Ethnic Groups and Nationalities. The Formation, Persistence, and Trans-
formation of Ethnic Identities. In: Ders. (Hg.): Ethnic Diversity and Conflict in Eastern
Europa. Santa Barbara et al.: ABC-Clio 1980, p. 8f.
8 Brass 1991, p. 25 u. 23.
9 Einflussreiche Subgruppierungen innerhalb der ethnischen Gruppen oder Klassen, vgl.
ibid., p. 14.
10 Ibid., p. 64f.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus165

In Gesellschaften, die sich in der Frühphase der Modernisierung befinden,


oder in den vorindustriellen Gemeinwesen können folgende Konflikte innerhalb
der Elite auftreten: 1) Konflikte zwischen der lokalen Aristokratie und einem
fremden Okkupator; 2) Konflikte zwischen den religiösen Eliten verschiedener
ethnischer Gruppen; 3) Konflikte zwischen der einheimischen Aristokratie und
der religiösen Elite innerhalb der gleichen Gruppe; 4) Konflikte zwischen der
fremden Aristokratie und der einheimischen religiösen Elite.11
Diese Elitenkonflikte, die während der Transformation der Gemeinschaft zur
Nationalität stattfinden, führen zu nationalistischen Bewegungen. Sie unter-
scheiden sich von denen, die während der Entwicklung der ethnischen Grup-
pen zu ethnischen Gemeinschaften auftreten, hinsichtlich ihres Ausmaßes und
Inhalts. Die Elite fordert nun – über einige privilegierte Positionen für sich
selbst hinausgehend – auch die Verteilung der Arbeitsplätze und Ressourcen
in der Gesellschaft mitbestimmen zu können. Die Forderungen konzentrieren
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sich meist auf Schlüsselinstitutionen, die politisch oder erzieherisch wichtig


sind, und dabei ganz besonders auf die Schulen und den Sprachgebrauch.12
Während der Nationalitätenformierung nehmen die objektiven Unterschiede
einer ethnischen Gruppe zu anderen allmählich eine subjektive und symboli-
sche Bedeutung an. Sie wandeln sich im Laufe der Zeit in ein Solidaritätsgefühl
innerhalb der Gruppe und bilden die Grundlage für politische Forderungen.13
Das politische Verhalten der Regierungen gegenüber nationalistischen Forde-
rungen kann auf die Elitenbildung und die nationalistischen Bewegungen einen
großen Einfluss ausüben.14 Diese Regierungspolitik kann von Vertreibung und
Genozid bis zur Anerkennung von Autonomie oder Föderalismus reichen. Hier
stellen die Verteilung der Arbeitsplätze und der wirtschaftlichen Ressourcen
ebenso wie die Sprachenpolitik wichtige Instrumente dar.15
Diese Thesen von Brass stützen sich hauptsächlich auf die Bewegung der
indischen Muslime, die den Weg zur Gründung Pakistans ebnete. In seiner
Untersuchung konzentrierte er sich auf die Konflikte zwischen der britischen
Kolonialherrschaft, der muslimischen und der Hindu-Elite sowie auf deren Ma-
nipulation religiöser und kultureller Symbole für ihre Ziele. Nach Brass be-
nützten die geistlichen Eliten Religion und Sprache als Symbole für die Mobi-
lisierung ihrer Ethnie in den Kolonien, in denen mehrere ethnische Gruppen

11 Ibid., p. 15.
12 Ibid., p. 45f.
13 Ibid., p. 22.
14 Vgl. Brunn, Gerhard / Hroch, Miroslav/ Kappeler, Andreas: Introduction. In: Kappeler,
Andreas (Hg.): The Formation of National Elites. Darmouth: New York Univ. Press 1992,
pp. 1–10, hier p. 9.
15 Brass 1991, pp. 9–75.

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166 Aydın Babuna

miteinander konkurrierten. Ihm zufolge konnte auch die lokale Aristokratie,


die mit der Kolonialregierung zusammenarbeitete, die jeweils eigene ethnische
Gruppe mobilisieren.16
Das Modell von Brass liefert jedenfalls wichtige Hinweise für die Analyse
des Nationalismus der bosnisch-herzegowinischen Muslime, der zu Beginn des
20. Jahrhunderts hauptsächlich durch Elitenkonflikte in einer kolonialen Atmo-
sphäre entstanden ist. Ähnlich wie die britische Verwaltung in Indien errichtete
Österreich-Ungarn seine Administration in Bosnien-Herzegowina mit Hilfe der
bestehenden (muslimischen) Eliten.17 Es gibt aber auch Unterschiede in der
nationalen Entwicklung der bosnischen Muslime: Man darf nicht außer Acht
lassen, dass trotz der bestehenden Ähnlichkeiten alle nationale Bewegungen
ihre individuelle Ausprägung besitzen.18
Unsere Forschung zeigt nun, dass die Merkmale der einzelnen Phasen der
Nationalitätenbildung – von der ethnischen Gruppe zur Gemeinschaft und dann
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zur Nationalität – bei den bosnisch-herzegowinischen Muslimen zusammenfal-


len, „obwohl es theoretisch möglich wäre zu behaupten, dass die zweite Phase
sich vom Beginn der landesweit organisierten Oppositionsbewegung 1899 bis
zur Anerkennung der muslimischen religiösen Autonomie durch die Landesre-
gierung 1909 erstreckte.“19 Elitenkonflikte traten hier in folgender Form auf: 1.
Zwischen den muslimischen Geistlichen und der Landesregierung; 2. zwischen
den muslimischen und den kroatischen Geistlichen; 3. zwischen den muslimi-
schen Grundbesitzern und der Landesregierung; und 4. zwischen dem radikalen
und dem gemäßigten Flügel innerhalb der muslimischen Elite.20
Es wäre jedoch falsch, die gesamte nationale Entwicklung der bosnisch-her-
zegowinischen Muslime als ein Produkt ihrer Eliten zu betrachten. Obwohl
diese im ethno-nationalen Wandlungsprozess die Rolle eines Katalysators über-
nahmen, bedurfte die politische Führung der Muslime der Bevollmächtigung
durch die religiösen Würdenträger und die Bevölkerung, um ihre Aktivitäten
fortzusetzen. Die allgemeine Stimmung im Land und der soziale Druck waren
zusätzliche Faktoren, die in der Beziehung der muslimischen Elite mit den Lan-
desbehörden eine bedeutende Rolle spielten. Obwohl nur ein Teil der Eliten
davon profitierte, war die Wahl der Symbole vom kulturellen Erbe der musli-

16 Zur Bedeutung der Religion und der Sprache für die Identität der ethnischen Gruppe
vgl. Brass, Paul. R: Language, Religion und Politics in North India. New York: Cambridge
Univ. Press 1974.
17 Ruthner, Clemens: Habsburg’s Little Orient. A Post/Colonial Reading of Austrian and
German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In: Kakanien revisited,
http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/Cruthner5.pd (22.06.2008), p. 6.
18 Babuna 1996, p. 23.
19 Ibid., p. 24.
20 Ibid., p. 23f.; vgl. auch Babuna 2011, p. 219.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus167

mischen Gemeinschaft bestimmt.21 In diesem Sinne war die Entwicklung der


muslimischen Ethnizität in der osmanischen Periode nicht unbedeutend für
die spätere nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime.22

2. Die osmanische Zeit


Eines der charakteristischen Merkmale der Geschichte Bosnien-Herzegowinas
ist die Tatsache, dass hier während der osmanischen Zeit ein intensiver Islami-
sierungsprozess stattfand, der in anderen Teilen des Reiches nie dieses Ausmaß
erreichte. Die Konversion eines Teils der Südslawen markierte auch den Beginn
der Ethnogenese der bosnisch-herzegowinischen Muslime.23
In der osmanischen Gesellschaft wurden die Konfessionsgruppen nach 1453
im sogenannten „Millet“-System sozial organisiert. In diesem Rahmen waren
Nationalität und Konfession ineinander aufgegangen, und dies prägte die ethni-
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sche bzw. nationale Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime mehr


als bei den Kroaten und Serben.24 Jene Menschen, die zum muslimischen Millet
gehörten, hatten sich als staatstragendes Element in Bosnien-Herzegowina mit
dem Osmanischen Reich identifiziert;25 mehrere Großwesire des Osmanischen
Reiches stammten aus Bosnien-Herzegowina. Aber auch in der Spätphase dieses
Herrschaftsgebildes verknüpften die meisten bosnisch-herzegowinischen Mus-
lime ihr Schicksal mit dem Reich, während die anderen Konfessionsgruppen
nach Unabhängigkeit strebten.
In den osmanischen Akten wurden jene Muslime „Boşnaklar“, „Bosnalı
takımı“, „Boşnak taifesi“ usw. genannt. Sie pflegten leidenschaftlich ihre Tradi-
tionen und nannten ihr Idiom „Bosnisch“ oder „naški jezik“ (unsere Sprache),26
ja sie pflegten sich im Volksmund auch selbst als „Turčin“ (Türke) zu bezeich-
nen.27 Dies symbolisierte keine nationale Orientierung, sondern bedeutete nur,

21 Ibid., p. 316.
22 Zur Bedeutung des kulturellen und religiösen Erbes der ethnischen Gruppen für die Eli-
tenkonflikte vgl. Brass, Paul R.: Elite Competition and Nation-Formation. In: Hutchinson,
John/ Smith, Anthony (Hg.): Nationalism. Oxford: Oxford Univ. Press 1994, pp. 83–89,
hier p. 89.
23 Lockwood, W. G: Living Legacy of the Ottoman Empire. The Serbo-Croatian Speaking
Moslems of Bosnia-Hercegovina. In: Ascher, Abraham / Halasi-Kun, Tibor / Kiraly, Béla
(Hg.): The Mutual Effects of the Islamic and Judeo-Christian Worlds. The East European
Partner. Brooklyn NY: College Press 1979, pp. 209–225, hier p. 209.
24 Babuna 1996, p. 32.
25 Lockwood 1979, p. 213.
26 Hadžić, Osman Nuri: Borba Muslimana za vjersku i vakufsko-mearifsku autonomiju. In:
Stanojević, St. (Hg.): Bosna i Hercegovina pod austro-ugarskom upravom. Beograd: Geča
Kon A. D. 1938, pp. 56–101, hier p. 94f.
27 Inteligencija i naši pokreti. In: Ogledalo 2 (07.061907), p. 1f.; ABH ZMF PrBH 1068/1900.

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168 Aydın Babuna

dass sich die örtlichen Muslime der Religion der Türken zugehörig fühlten.
„Musliman“ (Muslim) und „Turčin“ waren in Bosnien-Herzegowina dement-
sprechend synonyme Ausdrücke.28
Einerseits erzielte die Opposition der lokalen bosnischen Notablen („Ajans“)
unter Führung von Husein Kapetan Gradaščević gegen die Reformversuche des
osmanischen Sultans Mahmud II. einige vorläufige Erfolge. Die Bosnier schlu-
gen die osmanische Armee 1831 im Kosovo und verwalteten die bosnische Pro-
vinz (Eyâlet) für kurze Zeit selbst. Ohne internationale Unterstützung ging ihre
Selbstständigkeit aber schon nach einem Jahr zugrunde und die Ajans wurden
1850/51 von den Osmanen endgültig vernichtet.29
Andererseits hatte Bosnien-Herzegowina schon nach der Niederlage der os-
manischen Armee vor Wien 1683 eine Schlüsselrolle in der Verteidigung des
Reiches übernommen. So erlitten die bosnisch-herzegowinischen Muslime in
den Kriegen gegen Russland, Venedig und Österreich-Ungarn schwere Ver-
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luste.30 Auch für die serbischen und montenegrinischen Nationalbewegungen


im 19. Jahrhundert standen die Muslime als staatstragendes Element auf der
Seite der Osmanen. Die Auseinandersetzungen zwischen den bosnisch-herze-
gowinischen Muslimen und den benachbarten Territorien nahmen allmählich
einen ideologischen Charakter an und wurden als Konflikt zwischen Islam und
Christentum gesehen. Die ständig wachsende äußere und innere Gefahr für
das Reich bestimmte die Beziehungen zwischen der Unter-und Oberschicht der
muslimischen Bevölkerung und brachte die Muslime einander immer näher.31
Unter diesen Verhältnissen diente der Islam als einheitliche politische Ideolo-
gie für die bosnisch-herzegowinischen Muslime und schuf die Basis für kulturel-
le Gemeinsamkeiten. Der Widerstand gegen die osmanische Regierung förderte
das Selbstbewusstsein der Muslime, während die Konflikte mit den christlichen
Nachbarn ihre Identität stärkten.32 Die muslimische Ethnizität entwickelte sich
in diesem bipolaren Kampf mit einem bestimmten Solidaritäts- bzw. Identitäts-
bewusstsein und ihren eigenen Forderungen und Interessen.

28 Suljević, Kasım: Nacionalnost Muslimana. Izmedu teorije i politike. Rijeka: Otokar


Keršovani 1981, p. 15.
29 Šljivo, Galib: Ömer Paša Latas u Bosni i Hercegovini 1850–1852. Sarajevo: Svjetlost 1977,
p. 124.
30 Sučeska, Avdo: Ajani. Prilozi za učavanju lokalne vlasti u našim zemljama za vrijeme
Turaka. Sarajevo: Naučno društvo SR Bosne i Hercegovine 1965, p. 168.
31 Sučeska, Avdo: Neke spečifisnosti istorije Bosne pod Turcima. In: Redzič, Enver (Hg.):
Prilozi istorijske pretpostavke Republike Bosne i Hercegovine 4. Sarajevo: Institut za is-
toriju radničkog pokreta 1968, pp. 43–57, hier p. 51.
32 Džaja, Srećko: Konfessionalität und Nationalität Bosniens und der Herzegowina. Vor-
emanzipatorische Phase 1463–1804. München: Oldenbourg 1984, p. 100.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus169

Im Unterschied zur nicht-muslimischen Bevölkerung des Landes bestan-


den die bosnischen Muslime aus mehreren sozialen Gruppen: den „Sipahis“
(Lehensträger, die Soldaten stellen mussten), „Ulema“ (höhere Geistliche), der
städtischen Bevölkerung mit ihren verschiedenen Schichten sowie den Bauern
(„Reaya“).33

3. Die österreichisch-ungarische Epoche

3.1. Die Okkupation von Bosnien-Herzegowina und die osmanische


Regierung

Als Konsequenz des Berliner Vertrags wurde Bosnien-Herzegowina im Jahre


1878 durch Österreich-Ungarn besetzt. Die lokale Bevölkerung leistete gegen
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diese Okkupation heftigen Widerstand, und erst nach schweren Kämpfen, die
über zwei Monaten dauerten, gelang der österreichisch-ungarischen Armee
unter Einsatz mindestens von 150.000 Soldaten die Okkupation der Provinz.34
Dieser Widerstand gegen die Okkupation war die Folge einer Volksbewe-
gung.35 Die Zustimmung des Sultans zum Berliner Vertrag löste in Bosnien-Her-
zegowina besonders in den unteren und mittleren Schichten der muslimischen
Bevölkerung heftige Reaktion gegen die osmanische Regierung aus. So wurde
kurz vor dem Beginn des Eroberungsfeldzugs in Sarajevo ein Volkskomitee
(„Narodni odbor“) gegründet, das sich zu einer unabhängigen Organisation ent-
wickelte und paramilitärische Truppen sammelte. Obwohl es von den Muslimen
dominiert wurde, nahmen auch Serben sowie einige Kroaten und Juden an den
Aktivitäten teil. Zu einer Zusammenarbeit zwischen den Muslimen und Serben
kam es auch in anderen Städten wie Banja Luka und Mostar,36 denn die Okku-
pation hatte unter den Widerstandskämpfern verschiedener Religionen bis zu
einem gewissen Grad ein Gemeinsamkeitsgefühl entwickelt.
Der Sultan und die osmanische Regierung hofften insgeheim auf den Erfolg
des Widerstandes, obwohl er auch einen anti-osmanischen Charakter hatte.
Die Hohe Pforte plante ursprünglich, durch diplomatische Manöver die Ok-

33 Sučeska 1968, p. 49.


34 Die Einschätzung der österreichisch-ungarischen Truppenstärke schwankt zwischen
150.000 und 270.000 Mann. Vgl. Friedman, Francine: The Bosnian Muslims. Denial of a
Nation. Boulder: Westview Press 1996, p. 60.
35 Karpat, Kemal: 1878 Avusturyaİşgalinekarşı Bosna-Hersek Direnişiyleİlgili Osmanlı
Politikası. In: Ders. (Hg.): Balkanlar’da Osmanlı Mirası ve Ulusçuluk. Ankara: İmge
Yayınları 2004, pp. 151–196, hier p. 156.
36 Klicin, Dimitrije: Otpor Muslimana protiv okupacije. In: Gajret. Kalendar za god 1939
(1938), pp. 227–246, hier p. 229f.

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170 Aydın Babuna

kupation von Bosnien-Herzegowina zu verzögern und nach einem Erfolg des


Widerstandes den Berliner Vertrag zu ändern.37 Eine offene Unterstützung für
den Widerstand hätte aber dem Osmanischen Reich als Unterzeichnungspart-
ner des Abkommens auf dem internationalen Parkett Schwierigkeiten bereitet;
trotzdem erhielt die Widerstandsbewegung in Bosnien-Herzegowina heimliche
Waffen- und Truppenhilfe.38
Unabhängig von der osmanischen Regierung waren es die Muslime, die ne-
ben einem Teil der serbischen Bevölkerung den Kern des militärischen Wider-
standes gegen die Okkupation bildeten. Aus dieser Tatsache geht hervor, dass
die Muslime schon in der spätosmanischen Periode ein starkes patriotisches
Selbstbewusstsein hatten. Außerdem ist die Tatsache, dass die während des
Widerstandes in der Stadt verbliebenen osmanischen Beamten und Offiziere
dazu gezwungen wurden, lokale bosnische Kleidung zu tragen,39 als Zeichen
anzusehen, dass dieser Widerstand nicht nur eine reine Selbstverteidigung der
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lokalen Bevölkerung gegen die Okkupationsmacht war.


Die muslimischen Kämpfer setzten sich hauptsächlich aus Bauern, städti-
schen Handwerkern, einigen Grundbesitzern und Strafgefangenen, die vor der
Okkupation aus den Gefängnissen freigelassen worden waren, zusammen.40
Während die armen Muslime aus den Städten und vom Land den nachhaltigsten
und radikalsten Widerstand leisteten, verhielten sich ihre angesehenen und ge-
bildeten Glaubensbrüder eher zurückhaltend.41 Die Mehrheit der Grundbesitzer
– besonders jene in Sarajevo – hielten indes Abstand.

3.2. Die Auswanderung der bosnisch-herzegowinischen Muslime


Nach der Okkupation von Bosnien-Herzegowina kam es zu mehreren Auswan-
derungswellen, von denen die Muslime am meisten betroffen waren. So nahm
auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung während der österreichisch-unga-
rischen Herrschaft ab: Im Jahr 1885 machten die Muslime 492.710 Personen,
d. h. 36,88 % der bosnischen Bevölkerung, aus; 1910 sank ihr Anteil auf 32,25

37 Bencze, László: The Occupation of Bosnia and Herzegovina in 1878. New York: Columbia
Univ.Press 2005, p. 90f.
38 Karpat 2004, p. 195.
39 İsmet Pasha wurde mit dem Tod bedroht und gezwungen, bosnische Kleidung zu tragen.
Dieser Vorfall wird vom britischen Konsul in Sarajevo berichtet: FO 424/74 (Freeman an
Salisbury) 53/2, 03. 08 1878; zit. n. Karpat 2004, p. 168.
40 Mandić, Mihodil: Povijest okupacije Bosne i Hercegovina 1878. Zagreb: Matica Hrvatska
1910, p. 32; Donia 1981, p. 31.- Die osmanischen Truppen, die die Befehle ihrer Kom-
mandanten verweigerten und sich den muslimischen Kämpfer anschlossen, hatten die
Strafgefangenen freigelassen und bewaffnet (vgl. Karpat 2004, p. 165). Dadurch wollten
sie den Widerstand gegen die österreichisch-ungarische Armee stärken.
41 Mandić 1910, p. 32.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus171

%.42 Diese Tendenz wurde innerhalb der Gruppe als existenzielle Bedrohung
aufgefasst.43
Nach einem Bericht der Landesregierung, der 1906 veröffentlicht wurde, be-
schränkte sich die Auswanderung zu Beginn auf die ehemaligen osmanischen
Beamten, Funktionäre und einige angesehene Familien.44 Die Einführung des
Wehrgesetzes im Jahre 1881 sollte jedoch unter den Muslimen eine Massenemi-
gration auslösen, die bis zum Jahr 1883 andauerte. Auch der erfolglose Aufstand
des Jahres 1882, an dem die Muslime teilweise beteiligt waren, trug zu dieser
Auswanderungswelle bei.45 In den Jahren 1883–1898 herrschte wieder eine re-
lative Ruhe, aber danach stieg die Zahl der Emigranten wieder im Jahr 1899,
erreichte 1900 einen vorläufigen Höhepunkt und wurde erst 1901 durch Maß-
nahmen der Landesregierung eingedämmt. Die Annexion von Bosnien-Herze-
gowina durch Österreich-Ungarn 1908 löste dann eine weitere Auswanderungs-
welle aus.46
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Es gibt aber keine gesicherten Daten für die muslimische Emigration wäh-
rend der österreichisch-ungarischen Periode, weil die vorhandenen Zahlen nicht
übereinstimmen. Die Landesregierung begann erst nach 1883, die Auswanderer
regelmäßig zu erfassen. Vermutungen, dass ihre Anzahl in der Türkei 300.000
betragen habe, scheinen übertrieben zu sein. Einige Berechnungen deuten eher
darauf hin, dass die Zahl der Auswanderer ungefähr 150.00047 – wenn nicht
sogar weniger – ausmachte.

42 Die Ergebnisse der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 10. Oktober 1910.
Sarajevo: Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. XLII.
43 Babuna 1996, p. 169.
44 Bericht über die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina. Wien: K. u. k. Gemeinsames
Finanzministerium 1906, p. 11.
45 Hadžijahić, Muhamed: Uz prilog Prof. Vojislava Bogičevića. In: Historijski zbornik 3
(1950), pp. 189–192, hier p. 192
46 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü: Bosna-Hersekileilgili Arşiv Belgeleri.
Ankara: Başbakanlık Basımevi 1992, pp. 307–311.
47 Bogičević, Vojislav: Emigracije Muslimana Bosne i Hercegovine u Tursku u doba aus-
tro-ugarske vladavine 1878–1918 god. In: Historijski zbornik 3 (1950), pp. 175–188, hier
p. 182.- Hadžibegović schätzt die Anzahl der muslimischen Auswanderer auf 140.000
(Hadžibegović, Iljas: Nastanak i razvoj socialističkog radničkog pokreta u Bosni i Her-
cegovini do 1919 godine. Sarajevo: Oslobođenje 1990, p. 18). Karpat zufolge lag die An-
zahl der muslimischen Auswanderer in 45 Jahren nicht über 100.000, von denen 10–15%
zurückkehrten (Karpat, Kemal: The Migration of the Bosnian Muslims to the Ottoman
State, 1878–1914. An Account Based on Turkish Sources. In: Koller, Markus/Karpat, Ke-
mal (Hg.): Ottoman Bosnia. A History in Peril. Madison: The Univ. of Wisconsin Press
2004, pp. 121–145, hier p. 140).

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172 Aydın Babuna

Die osmanische Regierung hatte freilich eine ambivalente Haltung gegenüber


dieser Emigration.48 Kurz nach der Okkupation verlangten einige muslimische
Führer, die sich über die österreichisch-ungarische Unterdrückung beklagten,
die Hilfe der Regierung für die Auswanderung der gesamten muslimischen Be-
völkerung in das Osmanische Reich. Obwohl auch sein Kabinett den Transit
der bosnischen Muslime via Saloniki empfahl, machte gleichzeitig der Sultan
darauf aufmerksam, dass es wichtige Gründe für das Verbleiben der örtlichen
Muslimen in den besetzten Gebieten gebe. Ihre Anwesenheit würde die Rechte
des Osmanischen Reiches in Bezug auf Bosnien-Herzegowina garantieren und
den österreichischen Drang Richtung Saloniki erschweren. Österreich-Ungarn
wäre gezwungen, mindestens 60.000 Truppen in Bosnien-Herzegowina zu sta-
tionieren, und bedürfe im Falle eines Krieges mit einem Drittstaat der wohl-
wollenden Haltung des Osmanischen Reiches, um diese Soldaten abziehen zu
können. Ein Verbleib der Muslime in Bosnien-Herzegowina würde schließlich
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auch die Verteilung ihrer Grundstücke und Immobilien an die christliche Be-
völkerung verhindern.49
Nach einiger Überlegung beschloss die osmanische Regierung dann, diploma-
tischen Druck auf Österreich-Ungarn auszuüben, um dessen repressive Haltung
gegenüber den Muslimen in Bosnien-Herzegowina zu beenden.50 Obwohl die
Hohe Pforte offiziell gegen eine massenweise Emigration war, erlaubte man
unter bestimmten Bedingungen einzelnen Personen, in das Osmanische Reich
auszuwandern.51 Nach der Einführung des Wehrgesetzes 1881 schien Konstan-
tinopel (Istanbul) eine noch liberalere Haltung gegenüber der Auswanderung
eingenommen zu haben.52
Die osmanische Regierung und die österreichisch-ungarische Landesre-
gierung beschuldigten jedenfalls einander, die Auswanderung angestiftet zu
haben. Die Emigration der Muslime bildete ein Diskussionsthema auch zwi-
schen bosnisch-herzegowinischen und osmanischen Geistlichen (Ulemas) sowie
unter den osmanischen Bürokraten an der Pforte. Schließlich sollten aber die
Interessen des Osmanischen Reiches die Oberhand gewinnen, wodurch um die
Jahrhundertwende die bosnischen-herzegowinischen Muslime zur Auswande-
rung eher entmutigt wurden. Vor allem der Bericht des osmanischen Konsuls

48 Zur Behandlung der bosnisch-herzegowinischen Flüchtlinge im Sandschak durch die


osmanische Verwaltung und die österreichisch-ungarischen Machthaber vgl. Scheer, Ta-
mara: „Minimale Kosten, absolut kein Blut“. Österreich-Ungarns Präsenz im Sandžak von
Novipazar (1879–1908). Frankfurt/M. et al.: P. Lang 2013, p. 72 u. 53.
49 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü 1992, pp. 82–85; Başvekalet Arşivi (BA),
Yıldız Sadaret Resmi Maruzat No. 3/7 v. 27. 04. 1879. Zit. n. Karpat 2004, p. 129.
50 BA, Yıldız Sadaret Hususi Maruzat No. 163/29 v. 06. 01. 1880. Zit. n. ibid.
51 BA, Yıldız Sadaret Hususi Maruzat No. 32 v. 06. 01. 1880. Zit. n. ibid., p. 129f.
52 Ibid.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus173

in Ragusa (Dubrovnik) von 1901 über die demografischen Entwicklungen in


Bosnien-Herzegowina und seine Empfehlungen53 scheinen die Auswanderungs-
politik des Osmanischen Reiches geprägt zu haben.54 Obwohl die osmanischen
Behörden durch die ganze österreichisch-ungarische Periode hindurch den Aus-
wanderern zu Hilfe kamen,55 war die Regierung aus strategischen Gründen im
Grunde immer gegen die Emigration.56

3.3. Die osmanische Regierung und die politischen Entwicklungen in


Bosnien-Herzegowina

Die komplizierte staatsrechtliche Situation Bosnien-Herzegowinas, die bis zu


der Annexion in 1908 andauerte, war von großer Bedeutung für die politischen
Entwicklungen in diesem Land. Nach dem Berliner Vertrag war die österrei-
chisch-ungarische Okkupation von Bosnien-Herzegowina vorläufig und das
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Osmanische Reich aus völkerrechtlicher Perspektive immer noch der Souverän.


Die Konvention von Novi Pazar, die 1879 zwischen dem Osmanischen Reich und
Österreich-Ungarn unterzeichnet wurde, regulierte die Rechte der Muslime und
bestätigte die Hoheitsrechte des Osmanischen Reiches in Bosnien-Herzegowi-
na.57 Diese Vereinbarung lieferte eine günstige Basis für spätere Forderungen
der einheimischen Muslime gegenüber der Doppelmonarchie.
Die Okkupation hatte freilich die jahrhundertelangen engen Beziehungen
der Muslime zu Istanbul abgeschnitten. Sie, die in der osmanischen Zeit das
staatstragende Element gewesen waren, mussten jetzt damit rechnen, von einer
christlichen Verwaltung mit ihren abhängigen Landpächtern („Kmeten“) recht-
lich auf eine Stufe gestellt zu werden und ihre Privilegien einzubüßen.58 An
die Stelle der alten offiziellen Kontakte zwischen dem Osmanischen Reich und
den Muslimen traten nun inoffizielle und manchmal geheime Beziehungen.59
Der osmanische Sultan genoss immer noch Ansehen unter den bosnisch-her-
zegowinischen Muslimen, und diese verblieben der österreichisch-ungarischen

53 Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü 1992, p. 168f.


54 Karpat 2004, p. 134f.
55 Zur osmanischen Hilfe für die Auswanderer vgl. Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel
Müdürlüğü:. Osmanlı Belgelerinde Bosna-Hersek: Bosna i Herzegovina u Osmanskim
Dokumentima. İstanbul: Başbakanlık Devlet Arşivleri Genel Müdürlüğü 2009, pp. 277–
317.
56 Başbakanlık Arşivi, Dosya No: 1, Sıra No: 31, Tarih: 1322. 4.13, Aded: 1.Bab-ali Eyalet-i
Mümtaze Kalemi-Osmanlı Arşivi DepoNo: 2/3.
57 Vgl. Başbakanlık Devlet Arşivleri 1992, p. 79ff.
58 Malbaša, Ante: Hrvatski i srpski nacionalni problem u Bosni za vrijeme režima ­Benjamina
Kallaja. Sarajevo: Osijek 1940, p. 61.
59 Babuna 1996, p. 190.

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174 Aydın Babuna

Landesregierung gegenüber in ihrer Oppositionshaltung, solange sie die Hoff-


nung hatten, die alte Ordnung wiederherzustellen und ihre alte politische Macht
zurückzuerlangen.60 In diesem Rahmen spielte die panislamische Politik des
osmanischen Sultans und die Beziehungen der bosnisch-herzegowinischen
Muslime zu Istanbul eine bedeutende Rolle für deren nationale und politische
Entwicklung.61
Kurz nach der Jungtürkischen Revolution im Osmanischen Reich (1908)
wurde Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn annektiert. Die neuen
Machthaber in Istanbul sahen dies als fait accompli und protestierten. Im Osma-
nischen Reich wurden Demonstrationen gegen die Annexion organisiert und
österreichische Produkte boykottiert.62 Trotz dieser heftigen Reaktionen zwang
die entschlossene deutsche Unterstützung der Doppelmonarchie die Osmanen
dazu, die Annexion im Februar 1909 anzuerkennen.63 Als Gegenleistung sollte
die Donaumonarchie dem Osmanischen Reich 2,5 Millionen Pfund bezahlen,
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auf seine militärischen Rechte im Sandschak von Novi Pazar verzichten und
die religiöse Rechte der bosnisch-herzegowinischen Muslime anerkennen.64
Diese Akzeptanz der Annexion seitens des ehemaligen Souveräns löste unter
den Muslimen Verzweiflung aus.65
Während der österreichisch-ungarischen Periode war das Osmanische Reich
nicht nur ein Auswanderungsziel für die bosnisch-herzegowinischen Musli-
me,66 sondern es bestimmte auch die politischen Entwicklungen mit. Aus os-
manischen Dokumenten geht hervor, dass die panislamische Politik der osmani-
schen Regierung besonders in der landesweiten Organisation der muslimischen
Opposition eine Schlüsselrolle spielte.67 So sollten die geheimen Direktiven aus
Istanbul an den Oppositionsführer Ali Džabić (Mufti von Mostar) den Ablauf
der politischen Ereignisse mitbestimmen.68 Es wäre aber falsch, die muslimi-
sche Opposition als ein Nebenprodukt des Panislamismus zu betrachten. Die

60 Kruševac, Todor: Sarajevo pod austro-ugarskom upravom 1878–1918. Sarajevo: Narodna


štamparija 1960, p. 308.
61 Vgl. Babuna 1996, pp. 190–199. Mit dieser panislamischen Politik zielte der osmanische
Sultan Abdulhamit II. hauptsächlich auf die Konsolidierung des Osmanischen Reiches ab
und wollte auch seine Autorität als Kalif in der islamischen Welt stärken.
62 Bojić, Mehmedalija: Historija Bosne i Bošnjaka. Sarajevo: TKD Šahinpašić 2001, p. 147f.
63 Während der Annexionskrise unterstützte Deutschland Österreich-Ungarn hauptsäch-
lich gegen Russland und Serbien, um die internationale Lage zu deeskalieren.
64 Imamović, Mustafa: Historija države i prava. Bosne i Hercegovine. Sarajevo: Magistrat
2003, p. 255.
65 Imamović, Mustafa: Historija Bošnjaka. Sarajevo: Bošnjačka zajednica kulture Preporod
1998, p. 430.
66 Vgl. z. B. Pinson 1993, p. 124.
67 BBA-BEO-Mümtaze Kalemi: Bosna, 1/20-(1321.4.22)
68 Babuna 1996, p. 199.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus175

Hauptursachen der muslimischen Opposition in Bosnien-Herzegowina sind im


Land selbst zu suchen, obwohl die Politik des Sultans eine beschleunigende
Rolle spielte;69 sie waren auch abhängig von den Beziehungen zwischen dem
Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn sowie von den internationalen Ent-
wicklungen.

3.4. Die Industrialisierung und Modernisierung Bosnien-Herzegowinas


Obwohl Ömer und Osman Pascha in spätosmanischer Zeit wichtige Reformen
durchgeführt hatten,70 war es die Ernennung von Benjamin von Kállay zum
gemeinsamen Finanzminister und damit Gouverneur der besetzten Gebiete am
4. Juni 1882, die den Beginn der Industrialisierung in Bosnien-Herzegowina
markierte.71 Fast die gesamte Industrie, das neue Finanzsystem, Eisenbahnen
und Straßen wurden unter Kállays Federführung errichtet.72 Die Holzausfuhr
entwickelte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts zum größten Konkurrenten
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für die österreichische Forstwirtschaft,73 während die Eisenindustrie Konflikte


mit Ungarn schuf.74 Die Einführung eines modernen Telefon-, Post-und Tele-
grafennetzes in den Städten stellte eine andere bedeutende Entwicklung dar.75
Trotz dieser Modernisierungen war Bosnien-Herzegowina indes bis zum Ende
der österreichisch-ungarischen Periode eines der unterentwickeltsten Gebiete
der Doppelmonarchie. Im Gegensatz zu den internationalen Erwartungen ver-
folgte die Landesregierung auch eine konservative Agrarpolitik und verzichtete
auf eine Bodenreform.76

69 Ibid.
70 Ömer Pascha regierte zwischen 1850 und 1852. Durch strenge Maßnahmen konsolidierte
er die politische Situation in Bosnien-Herzegowina und veränderte die administrative
Struktur des Landes grundlegend. Osman Pascha regierte zwischen 1861 und 1869; in
seiner langen Amtszeit führte er mehrere Reformen durch. Vgl. dazu Biščević, Vedad: Bo-
sanskina mjesnici osmanskog doba (1463–1878). Sarajevo: Connectum 2006, pp. 422–430.
71 Sugar, Peter: The Industrialization of Bosnia-Hercegovina 1878–1918. Seattle: Univ. of
Washington Press 1963, p. 39.
72 Ibid., p. 62f.
73 Hauptmann, Ferdinand: Die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien und der
Hercegovina 1878–1918. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung. Graz: Inst. für
Geschichte der Univ. Graz 1983, p. 44.
74 Ibid., p. 48.
75 Hadžibegović, Iljas: Bosanskohercegovački gradovi na razmedu 19. i 20. stoljeća. Sara-
jevo: Oslobođenje Publ. 1991, p. 93.
76 Imamović 2003, p. 227f.- Während des Berliner Kongresses betonte Österreich-Ungarn,
dass hinter den Unruhen in Bosnien-Herzegowina die Agrarfrage stünde und dass nur
eine starke und neutrale Macht dieses Problem lösen könne (vgl. ibid.).

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176 Aydın Babuna

Kállay als Gouverneur Bosniens und der Herzegowina hatte Vorbehalte ge-
genüber der Lebensfähigkeit des Islams in der modernen Welt.77 Er sah in einem
gut organisierten Staat einen der wichtigsten Unterschiede zwischen westli-
cher und orientalischer Kultur und wollte deshalb ein Bewusstsein für die neue
Staatlichkeit wecken.78 Auch die österreichisch-ungarische Bürokratie war im
Gegensatz zur osmanischen umfangreicher und stärker; strenge Zentralisierung
war eines ihrer wichtigsten Merkmale.79
Die neue Verwaltung bot aber auch Möglichkeiten für den Aufstieg des
heimischen Bürgertums.80 So spielte die Forderung, dass mehr einheimische
Beamte in die k. u. k. Bürokratie Bosnien-Herzegowinas aufgenommen werden
sollten, eine gewisse Rolle in den muslimischen und serbischen Autonomiebe-
wegungen.81 Seit 1894 beschwerten sich die Muslime, dass die Entlassung der
osmanischen Beamten ein Verstoß gegen die Konvention von Novi Pazar gewe-
sen sei.82 Nichtsdestotrotz sollte die Zahl der muslimischen Beamten, die 1908
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825 betrug, im Laufe der Zeit zunehmen und im Jahre 1914 1.644 erreichen.83
Eines der wichtigsten Merkmale der österreichisch-ungarischen Verwaltung
in Bosnien-Herzegowina war aber die Einführung moderner Wirtschaftsstruk-
turen. Obwohl die Muslime Schwierigkeiten hatten, sich in den neuen Ver-
hältnissen zurechtzufinden,84 war die neue Ökonomie aber nicht stark genug,
um sie von ihren traditionellen Berufen abzubringen.85 Dennoch gab es eini-
ge muslimische Vertreter eines neuen Unternehmergeistes wie den Händler

77 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in Bosnia,
1878–1914. New York: Oxford Univ. Press 2007, p. 98.
78 Vgl. dazu Kállay, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents.
In: Ungarische Revue 3 (1883), pp. 428–489.
79 Hauptmann 1983, p. 33.
80 Ibid., p. 238.
81 Die Agrarfrage, die Vakuf-Verwaltung und das Unterrichtswesen bildeten die wichtigs-
ten Themen in den Forderungen der Muslime. Im Laufe der Zeit wurde die muslimische
Bewegung „Vakuf-und Mearif-Autonomiebewegung“ genannt. Die serbische Autonomie-
bewegung, die schon im Jahre 1895 begonnen hatte, übte einen gewissen Einfluss auf die
muslimische Bewegung aus. Vgl. Babuna 1996, p 101 f.
82 In ihrer an die Hohe Pforte gerichteten Beschwerde von 1894 beklagten sich die Muslime,
dass fast alle zur Zeit der Okkupation im Amt gewesenen Beamten mit einigen Aus-
nahmen entfernt worden waren. Vgl. Hauptmann, Ferdinand: Borba Muslimana Bosne i
Hercegovine za vjersku i vakufsko-mearifsku autonomiju. Sarajevo: Arhiv Bosne i Her-
cegovine 1967, p. 50f.
83 Hauptmann, Ferdinand: Privreda i društvo Bosne i Hercegovine u doba austro-ugarske
vladavine (1878–1918). In: Redžić, Enver (Hg.): Prilozi za istoriju Bosne i Hercegovine
2. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1987, pp. 99–211, hier
p. 200.
84 Babuna 1996, p. 314.
85 Hauptmann 1987, p. 200.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus177

Kučukalić, der bei der Gründung der ersten einheimischen Sparkasse in Brčko
eine bedeutende Rolle spielte. Allerdings war die im Entstehen begriffene bür-
gerliche Klasse noch nicht in der Lage, bei der Entstehung eines muslimischen
Nationalismus eine führende Rolle zu spielen. Obwohl es unter den Muslimen
einige größere Unternehmer gab, hatten sie keinen großen Einfluss auf die mus-
limische Opposition, wie das beim serbischen Bevölkerungsteil der Fall war.86
In der osmanischen Zeit war freilich auch das Bildungsniveau der Bevölke-
rung sehr niedrig gewesen, insbesondere bei den Muslimen. Trotz der Bemü-
hungen der österreichisch-ungarischen Landesregierung, dem Abhilfe zu schaf-
fen, waren im Jahr 1910 94,65 % der muslimischen Bevölkerung noch immer
Analphabeten, bei den Frauen sogar 99,68 %. Am höchsten war der Prozentsatz
der muslimischen Schreib-und Lesekundigen in Mostar mit 10,36 %.87

3.5. Die Nationalitätenpolitik der Landesregierung


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Die serbischen Nationalbestrebungen in den 1890er Jahren – gemeinsam mit


dem Werben serbischer und kroatischer Nationalisten um die Muslime – zwan-
gen die k. u. k. Landesregierung in Bosnien-Herzegowina, eine vorsichtige
Nationalitätenpolitik zu verfolgen. Kállay wollte nationalistische Tendenzen
rechtzeitig in harmlosere Bahnen lenken.88 Seine Politik der Schaffung einer
bosnischen Nation (Bošnjaštvo) nahm aber erst zehn Jahre nach der Okkupation
konkrete Formen an, wurde dann aber direkt und offen betrieben.89
Die neue Identitätspolitik betonte die gemeinsamen bosnischen Wurzeln der
Völkerschaften des Landes und zielte auf die Schaffung einer bosnischen Na-
tion ab. Die bosnisch-herzegowinische Geschichte und Tradition innerhalb des
Osmanischen Reichs, die für Kállay ein Zeichen der Eigenständigkeit waren,
diente als Basis dieser Politik.90 Dies machte sich besonders bei den Muslimen

86 Hauptmann 1983, p. 245f.- Z. B. die Unternehmer Jeftanović und Vojislav Šola waren zu-
gleich bedeutende Führer der serbischen Oppositionsbewegung.
87 Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. XLVI.- Die Landesregierung
veranstaltete Alphabetisierungskurse, und zahlreichen Landesangehörigen wurde die
Kenntnis des Lesens und Schreibens während ihres Militärdiensts vermittelt. Bis zum
Jahre 1910 gab es jedoch in Bosnien-Herzegowina keine Schulpflicht. Laut dem Bericht
der Landesregierung ist die besonders hohe Anzahl von Analphabeten bei den Muslimen
darauf zurückzuführen, dass diese zumeist keinen regulären Elementarunterricht genos-
sen, sondern hauptsächlich die muslimischen Religionsschulen besuchten (vgl ibid., pp.
XLII, XLV).
88 ABH, ZMF, BH, Pr. No. 542/1891. Zit. n. Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Her-
cegovini (1882–1903). Sarajevo: Veselin Masleša 1987, p. 217.
89 Kruševac 1960, p. 279.
90 Imamović, Mustafa: Pravni položaj i unutrašnji politički razvitak Bosne i Hercegovine od
1878 do 1914. Sarajevo: Svjetlost 1976, p. 71.

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178 Aydın Babuna

bemerkbar. Bei den Kroaten und besonders den Serben war ein entstehendes
eigenes Nationalbewusstsein stark genug, um gegen den Kurs des Bošnjaštvo
Widerstand zu leisten.91
Schon in seinem Memorandum, das er nach dem Aufstand von 1882 für die
Landesregierung vorbereitete, betonte Kállay, dass sich die Nationalitätenpolitik
der Landesregierung hauptsächlich auf die Muslime stützen solle.92 In diesem
Rahmen verschonte die Regierung die muslimischen Grundbesitzer vor der ob-
ligatorischen Abschaffung der Kmetenschaft und befürwortete die fakultative
Ablösung der Landpächter. Nach einer Statistik aus dem Jahr 1910 machten die
Muslime 91,15 % der Grundbesitzer mit Kmeten, 70,62 % der Grundbesitzer ohne
Kmeten und 56, 65 % der Freibauern aus. Die Muslime stellten nur 4,58 % der
Kmeten, während 73,92 % serbisch-orthodox und 21,49 % römisch-katholisch
waren.93 Die Landesregierung wollte also die muslimischen Grundbesitzer als
führendes Element der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft behalten und
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ihre politische Unterstützung nicht verlieren.94 Auch eine politische Zusam-


menarbeit der drei großen ethnischen Gruppen zu verhindern war eine der
wichtigsten Grundsätze der Nationalitätenpolitik, denn ein gemeinsames Vor-
gehen gegen die Landesregierung hätte die Interessen der Monarchie und die
Bošnjaštvo-Politik in Gefahr gebracht.95
Kállay wurde besonders von der serbischen und kroatischen Seite immer
wieder beschuldigt, das Bosniakentum erfunden zu haben, um es den imperia-
listischen Zielen des Wiener Hofes dienstbar zu machen. Als Historiker und
Diplomat kannte aber Kállay die Autoritäten, auf die sich die Bevölkerung von
Bosnien-Herzegowina im Laufe ihrer Geschichte gestützt hatte, um ihre Eigen-
heit zu bewahren: Es waren dies der byzantinische Kaiser, der ungarische König,
der osmanische Sultan und nun der österreichische Kaiser. In diesem Sinne
folgte Kállay nur der historischen Tradition.96
Die Idee einer bosnischen Nation war freilich schon in den 1850-er Jahren
vom osmanischen Wesir Ömer Pascha97 eingeführt und später von Topal Şerif
Osman Pascha, der von 1861 bis 1869 in Sarajevo amtierte, weiter entwickelt

91 Ibid., p. 77.
92 DAB Kabinettskanzlei, Geheime Akten (DAB, KK, GA). Zit n. Kapidžić, Hamdija: Her-
cegovaćki ustanak 1882 godine. Sarajevo: Veselin Masleša 1958, pp. 47 u. 323 ff.; Redžić,
Enver: Bosnische Politik. Kállays These über die bosnische Nation. In: Österreichische
Osthefte 5 (1965), pp. 367–379, hier p. 368.
93 Landesregierung für Bosnien und Hercegovina 1910, p. LXVIII.
94 Babuna 1996, p. 221.
95 Kraljačić 1987, p. 207ff.
96 4. Sitzung der 29. Session am 16. 06. 1893. In: Stenografische Sitzungsprotokolle der De-
legation des Reichrathes. Wien: K.und k. Hof- und Staatsdruckerei 1893, p. 200.
97 Ömer Pascha stammte aus der Lika.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus179

worden:98 Damals wurde eine Grammatik der bosnischen Sprache in Sarajevo


veröffentlicht. 1866 wiederum wurden in einem Artikel, der im Bosanski vjesnik
erschien, die Hauptelemente der bosnischen Ideologie genannt.99 Hier wurde
unter dem ‘bosnischen Volk’ nicht nur das privilegierte muslimische Element
verstanden, sondern die ganze Bevölkerung – und auch jene der Herzegowina.100
Obwohl die Idee des Bošnjaštvo bei den Muslimen gewissermaßen Wurzel
fassen konnte, verpasste sie die Chance, sich als nationale Identität der Mus-
lime durchzusetzen. Doch die Nationalitätenpolitik der Landesregierung be-
wahrte und verstärkte auch die Besonderheit der Muslime und leistete dadurch
einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen und politischen Entwicklung der
bosnisch-herzegowinischen Muslime.101 Sie diente als ‘Schutzschirm’ in einer
Periode, in der der serbische und kroatische Nationalismus die Existenz einer
muslimischen Nationalität zunehmend in Frage stellte. In dieser Atmosphäre
kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Kulturbewegung, die in der Li-
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teratur als kulturelle oder nationale Auferstehung („Preporod“) der Muslime


bezeichnet wird.102 So existierten 1908 in Bosnien-Herzegowina 124 registrierte
muslimische Vereine;103 all diese Organisationen, die die Bezeichnung „musli-
misch“ trugen, boten einen Ausgangspunkt für die weitere kulturelle und poli-
tische Entwicklung als Volk bzw. Nation.104

3.6. Die politische Struktur


Nach der Okkupation wurde Bosnien-Herzegowina provisorisch dem Mon-
archen direkt unterstellt und keinem der beiden Reichsteile, Österreich oder
Ungarn, zugeschlagen;105 es wurde so dreißig Jahre lang gewissermaßen als
Niemandsland verwaltet. Selbst nach der Annexion 1908 gehörte das Land we-

98 Imamović 1998, p. 376.


99 Hadžijahić, Muhamed: Die Anfänge der nationalen Entwicklung in Bosnien und in der
Herzegowina. In: Südost-Forschungen 21 (1962), pp. 168–193, hier p. 191.
100 Jokanović, Vlado: Elementi koji su kroz istoriju djelovati pozitivno i negativno na stva-
ranja bošnjaštva kao nacionalnog pokreta. In: Pregled 2 (1968), pp. 241–263, hier p. 246.
101 Babuna 1996, p. 155.
102 Vgl. dazu Rizvić, Muhsin: Bosansko-muslimanska književnost u doba preporoda 1887–
1918. Sarajevo: El Kalem 1990.
103 Hadžijahić, Muhamed: Od tradicije do identiteta. Geneza nacionalnog pitanja bosans-
kih Muslimana. Sarajevo: Svjetlost 1974, p. 131.- Die muslimische Druckerei „Islamska
dioničarska štamparija“, der Sportklub „El Kamer“ und der Handwerkerverein „Hurijet“
waren einige dieser Organisationen.
104 Imamović, Mustafa: O historiji bošnjačkog pokušaja. In: Purivatra, Atıf/ Imamović, Mus-
tafa/ Mahmutćehayić, Rusmir (Hg.): Muslimani i Bošnjaštvo. Sarajevo: Muslimanska
biblioteka 1991, p. 55.
105 Vrankić, Petar: Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina (1878–1918). Pader-
born et al.: Schöningh 1995, p. 37.

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180 Aydın Babuna

der zu Österreich noch zu Ungarn und stellte daher auch keine Abgeordneten
in den Parlamenten. Bosnien-Herzegowina hatte bis 1910 auch keinen eigenen
Landtag. Aus diesen Tatsachen kann man ebenso wie aus der kolonialistischen
Rhetorik in zeitgenössischen deutschen und österreichischen Texten106 ableiten,
dass Bosnien-Herzegowina von Österreich-Ungarn als eine Kolonie behandelt
wurde.107 Zudem wurden während der österreichisch-ungarischen Verwaltung
in Bosnien-Herzegowina 54 Agrarkolonien mit ungefähr zehntausend Einwan-
derern aus der Habsburger Monarchie gegründet. Obwohl die Mehrheit dieser
Kolonisten slawischer Herkunft war, erinnerte die Tatsache, dass sie von außen
kamen, die Bevölkerung daran, dass die Landesregierung eine koloniale Ad-
ministration war.108
Gleichwohl blieb Bosnien-Herzegowina, das nach der Okkupation sukzessive
in das Gefüge der Doppelmonarchie eingegliedert wurde, gemäß dem Berliner
Vertrag immer noch im Souveränitätsbereich des Osmanischen Reiches. Diese
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Tatsache übte wie bereits erwähnt auf die Entwicklung der muslimischen Op-
position einen großen Einfluss aus.109 Neben der unklaren staatsrechtlichen Lage
beeinflusste aber auch die dualistische politische Struktur der Monarchie den
Verlauf der muslimischen Bewegung stark.110
Im Jahre 1879 wurde die Verwaltung von Bosnien-Herzegowina dem gemein-
samen k. k. Finanzminister übertragen. Das Kontrollrecht der Delegationen, wel-
che sich aus österreichischen und ungarischen sowie den gemeinsamen Minis-
tern zusammensetzten,111 über die Verwaltung des Landes war umstritten. Die
gemeinsamen Finanzminister zielten darauf ab, nur dem Gesamtstaat gegenüber
verantwortlich zu sein.112 Die Konkurrenz zwischen den beiden Teilen der Mo-
narchie um Bosnien-Herzegowina ermutigte indes die muslimische Elite, noch
aktiver zu sein. Ihre Beschwerden wurden im ungarischen Parlament diskutiert
und auch die ungarischen Oppositionsparteien vertraten ihre Forderungen.113
Die Landesregierung selbst besaß eine zentralistische Struktur, und der ge-
meinsame Finanzminister hatte die administrative, legislative, exekutive und

106 Zur Analyse dieser Rhetorik vgl. Ruthner 2008, pp. 1–16.
107 Vgl. ibid., p. 6.
108 Malcolm, Noel: Bosnia. A Short History. New York: Macmillan 1994, p. 143.
109 Babuna 2011, p. 198.
110 Babuna 1999, p. 209.
111 Das österreichische Gesetz sah zwei Delegationen vor, die aus je 60 vom österreichischen
und ungarischen Parlament gewählten Mitgliedern bestanden. Da das ungarische Gesetz
dies nicht erwähnte, konnten die Delegationen nie als gemeinsamer Gesetzgeber funk-
tionieren. Vgl. Čupić Amrein, Martha M: Die Opposition gegen die österreichisch-unga-
rische Herrschaft in Bosnien-Hercegovina (1878–1914). Bern et al.: P. Lang 1986, p. 31.
112 Ibid., p. 39.
113 Imamović 1976, p. 138.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus181

judikatorische Gewalt inne.114 Die Vielfalt an politischen Organisationen in der


Donaumonarchie ermöglichte nun der muslimischen Elite, eine „alternative
Politik“ – wie Brass es nennt115 – zu betreiben. Muslimische Kommissionen
wandten sich nicht nur an die Landesregierung in Sarajevo, sondern auch an
das Gemeinsame Finanzministerium in Wien, an österreichische und ungari-
sche Parlamentsausschüsse und sogar an Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich,
um ihre Beschwerden vorzubringen.116 Diese legalen Möglichkeiten lenkten die
muslimische Opposition in zivilgesellschaftliche Bahnen und entschärften sie,
obwohl die muslimische Elite zumeist keine konkreten Resultate mit ihren Ein-
gaben erzielte.117
In diesem Sinne spielte auch die Politik der Landesregierung gegenüber der
muslimischen Elite eine große Rolle. Gewalt und Zwang stellten nämlich kein
gängiges Element in der Landespolitik dar und beschränkten sich meistens auf
bestimmte Zeitabschnitte und Personen.118 Die Nationalitätenpolitik stützte
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sich sogar auf die Muslime, obwohl sie während der Okkupation den Kern des
Widerstandes gebildet hatten. Nichtsdestotrotz bildete die Unterstützung der
gemäßigten Elemente in der muslimischen Bevölkerung einen der wichtigsten
Grundsätze dieser Politik. Als Folge dieser gut durchdachten Strategie der Lan-
desregierung kam es zu einer Zersplitterung der Elite. Ihre Beziehungen zum
Staat und die Konkurrenz zwischen Radikalen und Gemäßigten sollten so die
ethnische und politische Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime
in der k. u. k. Ära prägen.119 Immerhin war die Landesregierung flexibel genug,
mit der muslimischen Elite in den Jahren 1901, 1907 und 1908 Verhandlungen
zu führen, was zur Pazifizierung dieser Opposition führte.120

3.7. Die muslimische Elite und der Nationalismus


Der Nationalismus der bosnisch-herzegowinischen Muslime trat als Elitephäno-
men kurz nach der Okkupation auf. In den ersten vier Jahren erhielt die öster-
reichisch-ungarische Verwaltung von einzelnen Personen und verschiedenen
Gruppen hunderte Beschwerden. Obwohl sich viele von ihnen auf Misshand-
lungen durch Regierungsbeamte bezogen, enthielten einige Eingaben auch all-
gemeine Probleme der muslimischen Bevölkerung und politische Forderungen;
sie kamen von lokalen Würdenträgern oder einzelnen Personen aus den lokalen

114 Sugar 1963, p. 28; Čupić Amrein 1986, p. 39.


115 Brass 1991, p. 59f.
116 Babuna 1996, p. 317.
117 Ibid.
118 Z. B. unmittelbar nach der Okkupation, vgl. ibid., p. 47.
119 Ibid.
120 Ibid., p. 317 f.

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182 Aydın Babuna

Gemeinschaften.121 Diese einzelnen Initiativen bildeten später den Ausgangs-


punkt für eine organisierte Bewegung.122
Um die Jahrhundertwende setzte sich die muslimische Elite hauptsächlich
aus drei Gruppen zusammen: den Geistlichen (Hodžas), den Grundbesitzern
und den Intellektuellen. Die Konflikte untereinander, mit den Eliten anderer
ethnischer Gruppen und mit den Landesbehörden prägten den ethno-nationa-
len Wandlungsprozess der bosnisch-herzegowinischen Muslime.123 Diese Eliten
zeigten auch sonst keine homogene Struktur, sondern setzten sich aus kleine-
ren Gruppen zusammen, die wiederum miteinander in Konkurrenz standen.124
Während die im Entstehen begriffene muslimische Intelligenzija bald eine lo-
yale Haltung gegenüber der Landesregierung einnahm, spielten die Geistlichen
und die Grundbesitzer eine Schlüsselrolle in den politischen Entwicklungen
Bosnien-Herzegowinas.
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3.8. Konflikte zwischen muslimischen Geistlichen und der


Landesregierung

Die Hodžas und andere religiöse Würdenträger bildeten eine bedeutende Kom-
ponente innerhalb der muslimischen Opposition. Es war jene gesellschaftliche
Schicht, die in den Jahren 1899/1900 für die landesweite Ausbreitung der mus-
limischen Opposition sorgte.125 Die Hodžas aus Mostar und Sarajevo bildeten
den Kern dieser Bewegung, obwohl auch die Grundbesitzer einen bedeutenden
Beitrag leisteten.126
So hatten Fälle von Religionsübertritten vom Islam zum Christentum weit
reichende Auswirkungen in der muslimischen Bevölkerung. Insbesondere die
Konversion des muslimischen Mädchens Fata Osmanović 1899 löste große Un-
ruhe aus und war der Anlass für eine organisierte Oppositionsbewegung gegen
die Landesregierung.127 Nach diesem Ereignis bildeten die zwei rivalisierenden
muslimischen Gruppen aus Mostar unter der Führung von Džabić ein gemeinsa-

121 Donia 1981, p. 30


122 Babuna 1996, p. 316.
123 Ibid., p. 225.
124 Ibid.
125 Ibid., p. 254f.
126 ABH ZMF Pr BH 344/1899.
127 Eigentlich hatte Fata Omanović wegen eines Familienproblems freiwillig ihre Wohnung
verlassen. Eine Freundin, die in Kontakt zu christlichen Kreisen stand, hatte ihr dabei
geholfen. Die muslimische Bevölkerung war jedoch davon überzeugt, dass sie entführt
worden war. Vgl. Hadžijahić, Muhamed: Borba bosanskih Muslimana za vjersko-prosv-
jetnu autonomiju. In: Pregled 3 (1968), pp. 295–299, hier p. 297; vgl. auch Donia 1981, pp.
113 ff.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus183

mes Aktionskomitee, das 1899 der Landesregierung, dem gemeinsamen Finanz-


minister und dem Kaiser drei Eingaben überreichte.128
Die Muslime veranstalteten auch mehrere Konferenzen, um die Oppositi-
onsbewegung auf Landesebene zu organisieren. In dieser Hinsicht waren die
Zusammenkünfte in Kiseljak, Budapest, Mostar und Sarajevo von großer Be-
deutung, um die Anwesenden auf ein gemeinsames politisches Programm ein-
zuschwören.129 Im Dezember 1900 überreichten die Muslime dann dem gemein-
samen Finanzminister Kállay ein ausführliches Memorandum. Damit begann
eine neue Phase des politischen Lebens in Bosnien-Herzegowina.130

3.9. Konflikte zwischen den muslimischen und kroatischen Geistlichen


Die Konflikte zwischen den muslimischen und katholischen Geistlichen bildeten
eine der wichtigsten Triebkräfte der muslimischen Bewegung. Die proselyti-
schen Aktivitäten des katholischen Bischofs von Sarajevo, Josip Stadler, hatten
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große Unruhe unter den Muslimen ausgelöst; jeder Bekehrungsfall wurde als
Bedrohung für die Existenz der Gemeinschaft empfunden. Die Beschwerdefüh-
rer betonten die intensive anti-muslimische Propaganda von Seiten der Kroaten
und warfen der Regierung vor, dass sie dieser Agitation genügend Spielraum
gelassen habe. Sie beklagten sich darüber, dass die muslimische Bevölkerung in
religiöser Hinsicht minderwertig ausgebildet werde, und behaupteten, dass die
gültigen Regeln für Konversionen nicht eingehalten worden seien.131
In diesem Zusammenhang wiesen die Muslime auf die nachlässige Verwal-
tung der Stiftungsvermögen (Vakuf), Begräbnisse, Moscheen und anderer reli-
giöser Institutionen seitens der Landesregierung in Bosnien-Herzegowina hin.
Sie betonten, dass die bestehenden Medressen und Mektebs sowohl quantitativ
als auch qualitativ nicht den Bedürfnissen der muslimischen Bevölkerung ent-
sprächen.132 Ferner beklagten die Beschwerdeführer, dass die Vakuf-Einkünfte
für nicht-religiöse Zwecke verwendet würden. Die damit befassten Beamten133

128 ABH ZMF PrBH 1397/1899: Spisi muhamedanske narodne deputacije iz Hercegovine
1899, pp. 5, 6, 14, 15, 21, 22.
129 Donia 1981, p. 129.
130 Babuna 1996, p. 119.
131 ABH ZMF Pr BH 1670/1900. Nach der Verordnung der Landesregierung über Bekeh-
rungsfälle musste jemand, der seine Religion ändern wollte, volljährig sowie geistig ge-
sund sein und sich von einem Geistlichen beraten lassen (ibd., p. 8).
132 Ibid., p. 15f.- Die Mektebs und Medressen waren die am häufigsten vorkommenden mus-
limischen Schulen.
133 Diese waren regierungsfreundliche Muslime, die von der Landesregierung nominiert
worden waren.

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184 Aydın Babuna

seien nicht nur überbezahlt, sondern auch unqualifiziert, und dies habe die Ver-
nachlässigung der religiösen Erziehung der muslimischen Jugend zur Folge.134

3.10. Konflikte zwischen den Grundbesitzern und der Landesregierung


Von Anfang an bildeten die Grundbesitzer neben den Geistlichen eine der wich-
tigsten Komponenten der muslimischen Oppositionsbewegung.135 Jeweils eine
von diesen Gruppen gewann zu verschiedenen Zeiten die Oberhand und kont-
rollierte den Verlauf der Bewegung. Die Grundbesitzer begannen hauptsächlich
von 1894 bis 1899 in Bosnien-Herzegowina, Istanbul und Wien mit ihren Aktivi-
täten, aber es gelang dieser sozialen Schicht nicht, die ganze Gemeinschaft zu
mobilisieren.136
Die muslimische Bewegung bekam erst durch die Führung der Geistlichen in
den Jahren 1899 und 1900 eine landesweite Dimension. 1902 geriet sie jedoch
in eine Stagnation, die bis 1905 andauerte.137 Dann verursachte die neue Agrar-
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reform (die Zehentpauschalierung138), die die Existenz der Grundbesitzer in Fra-


ge stellte, die Wiederbelebung der muslimischen Opposition.139 Die wichtigste
Folge dieser zweiten Phase der muslimischen Bewegung war die Gründung der
ersten muslimischen Partei, Muslimanska Narodna Organizacija (Muslimische
Nationale Organisation, MNO) in Slavonski Brod im Jahr 1906.140 Die Tatsa-
che, dass Ali-beg Firdus Vorstand dieser Partei wurde, zeigt ganz klar, dass die
Grundbesitzer in der muslimischen Opposition gegenüber den Hodžas wieder
die Oberhand gewonnen hatten.141

134 ABH ZMF Pr BH 1670/1900.


135 HHStA. BA. Konst. 444: Kallay an Goluchowski, 12. 02. 1902, zit. n. Hauptmann 1967,
p. 39.
136 Babuna 1996, p. 250.
137 Ibid., p. 263.
138 Es gab nun keine Berechnungsgrundlage mehr für die Abgaben (Hak), die die Kmeten
den Grundbesitzern abstatten mussten. Vgl. Faifalik, A.: Ein neuer aktueller Weg zur Lö-
sung der bosnischen Agrarfrage. Wien, Leipzig: Deuticke 1916, p. 15.-Die Grundbesitzer
mussten jetzt mit den Kmeten von Feld zu Feld gehen, um ihren Hak festzustellen (ABH
ZMF Pr BH 244/1908, p. 9).
139 Donia 1981, p. 169.
140 Zur Entstehung der MNO vgl. Babuna, Aydın: The Emergence of the First Muslim Party
in Bosnia-Hercegovina. In: East European Quarterly 2 (1996), pp. 131–151. Die MNO er-
hielt 24 Mandate bei den ersten Parlamentswahlen 1910.
141 Šehić, Nusret: Autonomni pokret Muslimana za vrijeme Austrougarske uprave u Bosni i
Hercegovini. Sarajevo: Svjetlost 1980, p. 194.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus185

3.11. Konflikte zwischen dem radikalen und gemäßigten Flügel innerhalb


der muslimischen Elite

Die zwei wichtigsten Komponenten der muslimischen Bewegung, Grundbesit-


zer wie Geistliche, bestanden sowohl aus regierungsfeindlichen als auch aus lo-
yalen Gruppierungen.142 Radikale Elemente waren besonders einflussreich unter
den muslimischen Geistlichen, die die heftigste Opposition gegen die Landesre-
gierung darstellten.143 Die muslimischen Intellektuellen144 spielten – abgesehen
von einigen Ausnahmen – in der Opposition keine große Rolle. Ihre Mehrheit
verhielt sich gegenüber der Landesregierung loyal.145
Im Grunde waren auch die Grundbesitzer wirtschaftlich von der Landes-
regierung abhängig und deshalb im Allgemeinen einer Zusammenarbeit nicht
abgeneigt.146 Sie schwankten zwischen der Regierungsseite und den Radikalen
hin und her.147 Die Mehrheit der Grundbesitzer änderte jedoch ihre Haltung
gegenüber der Landesregierung nach der Entwicklung einer breiten muslimi-
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schen Opposition. Viele trieben aber ein doppeltes Spiel148 und hatten geheime
oder offene Kontakte zu der Landesregierung.149
Die Konkurrenz zwischen Gemäßigten und Radikalen um die Führung der
muslimischen Opposition spielte eine entscheidende Rolle in der nationalen
Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime.150 Der radikale Flü-
gel beschuldigte die Landesregierung und die Gemäßigten, die Interessen der
muslimischen Bevölkerung nicht zu schützen. Die Radikalen befürworteten
eine Allianz mit den Serben, während die Großgrundbesitzer151 und reichen
Geschäftsleute152 gegen eine solche Zusammenarbeit waren. Sie meinten, dass
eine derartige Allianz ihre wirtschaftlichen Interessen gefährden würde, da die
Mehrheit der Kmeten Serben waren.153

142 Babuna 1996, p. 251.


143 Ibid., p. 315.
144 Der einflussreichste Intellektuelle war Mehmet-beg Kapetanović. Er diente als Bür-
germeister Sarajevos von 1893 bis 1898. Kapetanović pflegte schon vor der Okkupa-
tion Beziehungen zu Österreich-Ungarn und verhielt sich seit der ersten Stunde loyal
zur Okkupationsmacht. Vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österrei-
chisch-ungarischen Epoche (1878–1918). München: Oldenbourg 1994, p. 208.
145 Die Angst, ihre Arbeitsplätze zu verlieren, war ein wichtiger Grund für die loyale Hal-
tung der muslimischen Intellektuellen.
146 Babuna 1996, p. 251.
147 Ibid., p. 315.
148 HHStA. BA. Konst. 444: Kallay an Goluchowski, 12. 02. 1902.
149 Babuna 1996, p. 252.
150 Eine klare Polarisierung zwischen Gemäßigten und Radikalen kam 1901–1902 zustande.
151 Z. B. Ali-beg Firdus und Bekir-beg Tuzlic.
152 Z. B. Mujaga Komadina.
153 ABH ZMF Pr BH 246/1901, p. 2

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186 Aydın Babuna

3.12. Politik der Symbole


Es war die Geschichte Bosnien-Herzegowinas, die zum wichtigsten Symbol der
Nationalitätenpolitik der Landesregierung wurde. Diese betonte die historische
Wurzeln von Bošnjaštvo und versuchte, vorislamischen Traditionen in den Vor-
dergrund zu rücken und wiederzubeleben. Die Rollen des Bogumilismus und
der muslimischen Grundbesitzer in der Geschichte des Landes waren wichtige
Argumente dieser Politik, deren Instrumente die Presse, die staatlichen Schulen,
offizielle Symbole und die Sprache waren154 (wenn etwa Kállay das Landesidiom
als „bosnische Sprache“ bezeichnete155). Obwohl sein Nachfolger Stefan Graf
Burián diese Sprachenpolitik nicht weiter führte, blieb es den Muslimen weiter
gestattet, ihre Sprache intern als „Bosnisch“ zu bezeichnen.
Aber auch die muslimischen Eliten verwendeten verschiedene Symbole, um
die muslimische Bevölkerung zu mobilisieren und unter ihrer Führung zu sam-
meln. Davon profitierte ein Teil der Elite, während andere Gruppen an Einfluss
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verloren: So bildeten die Religion im Allgemeinen sowie der Kalif156 und die
Stiftungen die wichtigsten Symbole der Geistlichen. Auch die Sprache der reli-
giösen Texte nahm Symbolwert an, mit deren Hilfe die Geistlichen die Einheit
der muslimischen Gemeinschaft stärken wollten. Mit dieser Symbolik, die eine
zunehmend besondere (subjektive) Bedeutung gewann, bestimmten die Geist-
lichen freilich auch die ‘ethnische’ Grenze der Muslime mit.157
Auch für die Grundbesitzer stellte die Religion ein sehr wichtiges Symbol dar.
Sie nützten es für ihre politischen Ziele und verknüpften ihr Eigentumsrecht
mit der Scharia. Dadurch stellten sie ihre wirtschaftlichen Sorgen erfolgreich als
Problem der ganzen muslimischen Gemeinschaft dar. Die Grundbesitzer brach-
ten aber in ihren Beschwerden nicht nur die Agrarprobleme, sondern auch ihr
Kritik in Bezug auf die religiösen und Vakuf-Angelegenheiten zum Ausdruck.
Auf diese Weise wollten auch sie die muslimische Bevölkerung hinter sich brin-
gen.158

4. Die bosnischen Muslime und der Nationalismus


Die Begriffe Nationalität und Konfession waren in Bosnien-Herzegowina nicht
nur zur Zeit der osmanischen Periode, sondern auch nach der Okkupation

154 Zur Nationalitätenpolitik der Landesregierung vgl. Babuna 1996, pp. 203–224.
155 Juzbašić, Dževad: Jezičko pitanje u austrougarskoj politici u Bosni i Hercegovini pred
prvi svjetski rat. Sarajevo: Svjetlost 1973, p. 9.
156 Der osmanische Sultan war gleichzeitig der Kalif der sunnitischen Muslime. Seine Sym-
bolfunktion wurde auch von den Serben ausgenützt. Vgl. Babuna 1996, p. 184.
157 Ibid., p. 315.
158 Ibid., p. 254.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus187

ineinander aufgegangen, und somit war die Trennung zwischen den Serben,
Kroaten und Muslimen immer doppelter Natur: national und konfessionell.159
Obwohl das Nationalbewusstsein bei den Kroaten und besonders bei den Ser-
ben um die Jahrhundertwende um einiges stärker entwickelt war als bei den
Muslimen, war dieser Unterschied durchaus nicht so drastisch, wie von einigen
Autoren behauptet wird.160 Obwohl die muslimische Opposition unter der ös-
terreichisch-ungarischen Verwaltung keine klare nationale Orientierung hatte,
wäre es aber falsch anzunehmen, dass sie in nationaler Hinsicht keine Bedeu-
tung hatte.161
Anfang des Jahrhunderts war die muslimische Intelligenzija als eine soziale
Schicht im Entstehen begriffen; ihre erste Generation bildete nur eine kleine
Gruppe162 (Im Schuljahr 1903/4 etwa gab es 30 muslimische Studenten an ver-
schiedenen Hochschulen in Zagreb und Wien. Diese Zahl sollte in den fol-
genden Jahren zunehmen.163). Die muslimischen Intellektuellen standen auch
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unter dem Druck der serbischen und kroatischen Nationalbewegungen, die die
muslimische Bevölkerung für ihre Sache gewinnen wollten. So gab es neben
den Intellektuellen, die die Politik des Bošnjaštvo unterstützten, auch diejenigen,
die sich den Serben oder Kroaten zugehörig fühlten. Die pro-serbische oder
pro-kroatische Orientierung der muslimischen Intellektuellen hatte aber einen
marginalen Charakter164 und wurde von der Bevölkerung nicht mit Sympathie
aufgenommen.165 Die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der bosni-
schen Muslime gegen solche Affiliationen war, kann als eine leise Bestätigung
einer eigenen Identität angesehen werden.
Obwohl eine nationale Orientierung (im üblichen Sinn) der Mehrheit der
muslimischen Bevölkerung fremd war, nannten sie ihr Idiom weiterhin Bosnisch
oder „naški jezik“ (unsere Sprache)166 und sich selbst „Turčin“ (Türke).167 Wie
schon erwähnt, wies diese Bezeichnung darauf hin, dass sich die bosnisch-her-
zegowinischen Muslime der Religion der Türken zugehörig fühlten. Außerdem
bezeichneten sich die Muslime in den Memoranden und Beschwerden häufig

159 K. u. k. Gem. Finanzministerium 1906, p. 119.


160 Babuna 1996, p. 143.
161 Ibid., p. 154.
162 Kemura, İbrahim: Proglas muslimanske akademske omladine u Beču od 1907 godine. In:
Prilozi Institut za istoriju 13 (1977), pp. 334–345, hier p. 334.
163 Behar 5/1904, nr. 7, p. 112; Behar 6/1905, nr. 8, p. 128. Zit. n. ibid.
164 ABH ZMF Pr BH 667/1907.
165 Hasan M. Rebac u. Osman Đikić in: Vardar 13/1924, p. 118ff. Zit. n. Rizvić, Muhsin: Bo-
sansko-muslimanska književnost u doba preporoda 1887–1918. Sarajevo: El Kalem 1990,
p. 160.
166 Hadžić 1938, p. 94f.
167 ABH ZMF Pr BH 1068/1900.

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188 Aydın Babuna

als „islamski narod“ (muslimisches Volk)168 und „islamski millet“ (muslimisches


Millet).169 Ein anderer weit verbreiteter Ausdruck war „Musliman“ (Muslim).
Die Zeitschrift Bošnjak etwa pendelte zwischen den Ausdrücken „Musliman“
und „Bošnjak“.170
Die Identität der bosnischen Muslime nahm durch die Geschichte hindurch
in verschiedenen politischen Strukturen unterschiedliche Formen an. In dieser
Hinsicht ist die Entwicklung ihrer Identität ein interessantes Beispiel für die
Tatsache, dass die Selbstdefinitionen der ethnischen Gruppen keinen statischen
und monolithischen, sondern einen dynamischen Charakter hatten. Schon
während der osmanischen Zeit hatten die bosnisch-herzegowinischen Muslime
mehrere Namen und Bezeichnungen für ihre Identität. Diese hatten aber einen
ergänzenden Charakter und symbolisierten verschiedene Aspekte der eigenen
Identität. Mit den Namen, die eher eine religiöse Bedeutung hatten, betonten die
Muslime den Unterschied zu den Serben und Kroaten sowie ihre Besonderheit
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als ethnische Gruppe.171


Die religiöse Namen und Bezeichnungen verwiesen aber nicht auf eine Bru-
derschaft der bosnisch-herzegowinischen Muslime mit anderen muslimischen
Völkern, sondern bildeten den Ansatzpunkt für eine spätere politische und kul-
turelle Entwicklung als Volk bzw. Nation.172 Mit zu bedenken gilt auch, dass
durch die Okkupation 1878 die bosnisch-herzegowinischen Muslime von den
slawischen Muslimen in Montenegro, Mazedonien und Novi Pazar getrennt
worden waren, ebenso wie von den nicht-slawischen Muslimen wie den Alba-
nern und Türken im Kosovo und in Mazedonien. Eine andere wichtige Folge
der Okkupation war die Tatsache, dass die Sufi-Orden173 ihren Einfluss in Bos-
nien-Herzegowina verloren. Alle diese Faktoren trugen zu der Entwicklung
einer eigenen Identität der bosnisch-herzegowinischen Muslime bei.174
Es gab aber noch mehr Gründe für die Benützung religiöser Namen und Be-
zeichnungen während der österreichisch-ungarischen Periode.175 Erstens waren
die bosnisch-herzegowinischen Muslime vom osmanischen Millet-System mehr
beeinflusst als die Serben und Kroaten, weil sie sich mit dem Staat identifiziert
hatten.176 Zweitens erwies sich das Konzept des Bosniertums, das in osmani-

168 ABH ZMF Pr BH 825/1901; ABH ZMF Pr BH 1670/1900, pp. 2 ff. et passim.
169 ABH ZMF Pr BH 825/1901, pp. 4 u. 6.
170 Babuna 1996, p. 154.
171 Ibid.
172 Imamović 1991, p. 55.
173 Asketisch-religiöse Gemeinschaften.
174 Babuna, Aydın: The Bosnian Muslims and Albanians. Islam and Nationalism. In: Nationa-
lities Papers 2 (2004), pp. 287–321, hier p. 291.
175 Babuna 2011, p. 218.
176 Babuna 1996, p. 32.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus189

scher Zeit zur Unterscheidung von den Türken diente, nach der Okkupation für
die vornehmlich kulturell gemeinte Abgrenzung von den anderen ethnischen
Gruppen als wenig nützlich.177 Religion diente nun als die wichtigste ‘ethni-
sche’ Grenze zwischen den slawischen nicht-muslimischen Gruppen und den
Muslimen. Außerdem minderte die Tatsache, dass das Konzept des Bošnjaštvo
von der Landesregierung gefördert wurde, seine Popularität, weil die k. u. k. Be-
hörden von der Mehrheit der Bevölkerung als Fremdherrschaft wahrgenommen
wurden. Ferner hatten sie, die Jahrhunderte lang in einem islamischen Reich
gelebt hatten, Angst vor einer allmählichen Assimilierung im Rahmen der ka-
tholischen Donaumonarchie und betonten deshalb ihre religiösen Wurzeln.178
Und schlussendlich war auch das im Entstehen begriffene muslimische Bürger-
tum und die Intelligenzija nicht im Stande, in der muslimischen Bewegung eine
Schlüsselrolle zu spielen und alternative Konzepte anzubieten.179
Obwohl nun die erste Phase der politischen Opposition nur von 1899 bis 1902
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dauerte, stellte sie doch einen Wendepunkt für den im Entstehen begriffenen
muslimischen Nationalismus dar und ebnete den Weg für die erste muslimische
Partei, Muslimanska Narodna Organizacija, welche auch die erste politische Par-
tei in Bosnien-Herzegowina war.180 So war es auch kein Zufall, dass schon im
Jahre 1906 die nationale Orientierung in der muslimischen Presse als eine von
der Religion getrennte Frage behandelt wurde.181
In dieser ersten Phase der Opposition spielten die Probleme der Vakuf-Verwal-
tung und der religiösen Schulen eine zentrale Rolle. Die muslimische Bewegung
wurde sogar damit identifiziert und Vakuf- und Mearif-Autonomiebewegung
genannt.182 Die Muslime interessierten sich auch für die Sprachenproblematik,
die für die nationalistischen Bewegungen ebenfalls von Bedeutung war. Nach
dem Statutenentwurf, den sie 1900 dem gemeinsamen Finanzminister Kállay
unterbreiteten, forderten sie die Benützung der osmanisch-arabischen Schrift
in allen schriftlichen Dokumenten der Vakuf- und Mearif-Körperschaften. Nur
die Korrespondenz mit den Landesbehörden und Sitzungsprotokolle sollten „in

177 Ramet, Pedro: Die Muslime Bosniens als Nation: Kappeler, Andreas/Simon, Gerhard/
Brunner, Georg (Hg.): Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Köln: Markus
1989, pp. 107–117, hier p. 108.
178 Diese Angst wurde von den Muslimen in mehreren Beschwerden auf verschiedene Wei-
sen zum Ausdruck gebracht.
179 Filandra, Šaćir: Bošnjačka politika u XX. stoljeću. Sarajevo: Sejtarija 1998, p. 18f.
180 Babuna 1996, p. 155.
181 „Mi“. In: Musavat 5 (13. 11. 1906), p. 1.
182 Babuna 1996, p. 101 f.

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190 Aydın Babuna

slawischer Schrift“ verfasst werden.183 Damit zielten die Geistlichen auf die Stär-
kung der Einheit der muslimischen Gemeinschaft ab.184
Massenbewegungen können indes ohne eine intensive Kommunikation nicht
entstehen. Im Jahr 1910 waren aber immer noch 94,65 % der muslimischen Be-
völkerung Analphabeten. Aus dieser Tatsache geht hervor, dass nur eine kleine
Gruppe für eine intensive Kommunikation zur Verfügung stand.185 Trotzdem
zeigen Archivdokumente ganz klar, dass es sich nach 1899 um eine Massen-
bewegung handelte. Damit stellt sich die Frage, wie sich die Muslime unter-
einander verständigten? Die Vermutung liegt nahe, dass die Beziehungen zwi-
schen den Muslimen den Charakter eines „personal network“ besaßen,186 das
aus verschiedenen Arten von „non-corporate“-Beziehungen besteht, wie z. B.
Verwandtschaft, persönlichen Freundschaften, Verschwägerung, Arbeitsbezie-
hungen usw. Diese Beziehungen waren aber – parallel zu den Beziehungen der
muslimischen Gemeinschaft zur Außenwelt – Veränderungen ausgesetzt.
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Das Konzept des „personal network“ allein ist jedoch – wie Robert Donia be-
tont187 –, nicht ausreichend, um die landesweite Verbreitung der muslimischen
Bewegung in den Jahren 1899 und 1900 zu erklären, obwohl die Netzwerke
die wichtigste Kommunikationsform der bosnisch-herzegowinischen Muslime
bildeten. Aus unserer Forschung im osmanischen Archiv geht hervor, dass die
damalige panislamische Politik des osmanischen Sultans bei der Verbreitung der
muslimischen Bewegung doch eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ferner war
das „personal network“ nicht nur ein lokales System, sondern reichte bis nach
Istanbul und bildete so einen wichtigen Teil der Beziehungen zwischen den
Muslimen auf dem Balkan und der osmanischen Regierung.188

5. Schlussfolgerungen
Die österreichisch-ungarische Okkupation Bosnien-Herzegowinas markiert den
Beginn der wichtigsten Phase für die nationale Entwicklung der bosnisch-her-
zegowinischen Muslime. Nach der Okkupation büßten sie zunächst ihre domi-
nante politische Position und später auch viele ihrer sozialen und ökonomischen
Privilegien ein. Die Muslime, die für Jahrhunderte lang enge Beziehungen zu

183 ABH ZMF Pr BH 1670/1900 (Nacrt Štatuta), p. 35


184 Dabei ist zu bedenken, dass in den meisten Forderungen der bosnisch-herzegowinischen
Muslime bezüglich der Anwendung der arabischen und osmanischen Sprache auch von
einer eigenen Sprache mit arabischer Schrift und slawischem Inhalt die Rede war.
185 Babuna 1996, p. 25.
186 Donia 1981, p. XII.
187 Donia entlehnt dieses Konzept von Boissevain, Jeremy: Friends of Friends. Networks,
Manipulators, and Coalitions. Oxford: Basil Blackwell 1971.
188 Babuna 1996, p. 26.

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Österreich-Ungarn, die bosnisch-herzegowinischen Muslime und ihr Nationalismus191

Istanbul hatten, gerieten nun unvermeidlich mit den neuen sozialen Strukturen
in Konflikt. Die Tatsache, dass sie das tragende Element der Nationalitäten-
politik des gemeinsamen Finanzminister Kállay (1882–1903) waren, konnte dies
nicht verhindern.
Während der österreichisch-ungarischen Periode traten die Muslime auch
zum ersten Mal mit politischen Forderungen im modernen Sinn auf. Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts existierten in Bosnien-Herzegowina nicht nur eine
muslimische politische Partei, sondern auch viele Organisationen und Vereine,
die muslimische Bezeichnungen trugen. Diese sollten als eine Grundlage für die
weitere kulturelle und politische Entwicklung der bosnisch-herzegowinischen
Muslime dienen.
Die Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina gemäß dem Berliner Vertrag noch
immer im Souveränitätsbereich des Osmanischen Reiches blieb – bzw. die un-
gelöste staatsrechtliche Situation dieser Provinz –, ermutigte die muslimische
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Opposition, gegen die österreichisch-ungarische Landesregierung aufzutreten.


Bis zu der Annexion 1908 hoffte sie auf eine eventuelle Rückkehr des Gebiets
ins Osmanische Reich. In diesem Prozess spielte die panislamische Politik der
osmanischen Regierung eine große Rolle. Trotzdem sind die Hauptursachen der
muslimischen Opposition gegen die Landesregierung in Bosnien-Herzegowina
anderswo zu suchen.
Eines der wichtigsten Merkmale der österreichisch-ungarischen Periode war
die Industrialisierung und Bürokratisierung der bosnisch-herzegowinischen Ge-
sellschaft. In diesem Modernisierungsprozess übernahm die muslimische Elite
eine führende Rolle in der nationalen Entwicklung der Muslime. Sie bestand
hauptsächlich aus Grundbesitzern, Geistlichen und Intellektuellen und zerfiel
in kleinere Gruppen, die wiederum in gegenseitigem Konflikt standen. Diese
Konflikte innerhalb der muslimischen Elite, zwischen ihr und den Eliten anderer
ethnischen Gruppen sowie mit der Landesregierung prägten die nationale Ent-
wicklung der bosnisch-herzegowinischen Muslime.
Schlussendlich zeigt die vorliegende Studie also, dass die Thesen von Paul
Brass, die sich hauptsächlich auf die Bewegung der indischen Muslime stützen,
auch wichtige Hinweise für die Erforschung der Entstehung des Nationalis-
mus der Muslime Bosnien-Herzegowinas liefern können. Trotz bestehender
wichtiger Ähnlichkeiten gibt es aber auch bemerkbare Unterschiede, wodurch
die Politisierung des bosnisch-muslimischen Ethnos von Brass’ allgemeinem
Erklärungsmodell differiert.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus
Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-
ungarischer Herrschaft (1878–1914)

Valeria Heuberger (Wien)

Zur Einführung
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Am 5. Juni 1893 begab sich Dr. Justyn Józef Karliński1 (1862–1909) in Gesell-
schaft seiner „ständigen Begleiterin und Assistentin“ (womit er seine Ehefrau
meinte)2 auf den Beginn einer langen Reise, die das Paar von Bosnien-Herze-
gowina über Ägypten bis auf die Arabische Halbinsel, in die Nähe der Heiligen
Stätten des Islam, und anschließend über Istanbul, Bulgarien und Serbien wieder
zurück führen sollte. Karliński, ein in Bosnien stationierter Militär-, Bezirks-
und Amtsarzt, der in Städten wie in dem südwestlich von Sarajevo gelegenen
Konjic[a], in Visoko, nordwestlich von Sarajevo, sowie im nordbosnischen Mag-
laj wirkte, verließ Bosnien zunächst in Richtung Triest[e]. Dort bestiegen er und
seine Frau am 9. Juni ein Schiff nach Alexandria, das sie am 12. Juni erreichten.
Am 20. Juni machten sie sich von Alexandria aus auf den Weg nach Suez, von
wo aus sie per Schiff nach Dschidda [Ğidda], dem eigentlichen Zielort, reisten,
wo sie am 24. Juni ankamen.
Karliński befand sich auf einer medizinischen und gleichermaßen politischen
Mission. Seine Anweisung lautete, eine Gruppe von rund 1203 aus Bosnien
stammenden Mekkapilgern4 nach Beendigung der Pilgerfahrt abzuholen und
sie zurück nach Bosnien zu begleiten, um ihnen bei medizinischen Problemen,
konkret im Fall des Ausbruchs von Infektionskrankheiten wie der gefürchteten

1 Auch geschrieben als Justin oder Justyn Karlinski.


2 Karlinski, Justyn: Unter der gelben Flagge. Erinnerungen und Eindrücke von meiner Rei-
se nach Arabien und Kleinasien. Berlin: Hirschwald 1894. Separatabdruck aus: Hygieni-
sche Rundschau (1894), pp. 23 ff.
3 Karlinski 1894, p. 6.
4 Pilgerinnen wurden von ihm nur einmal erwähnt, als es darum ging, auf der Rückreise
von Dschidda auf dem von ihnen benutzten Schiff für die bosnischen „Pilgerfrauen“ ein
Verdeck und einen „separaten Abort“ zu errichten (ibid., p. 24).

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194 Valerie Heuberger

Cholera, Hilfe leisten zu können und zu verhindern, dass Infizierte in Bosnien


einreisten und im schlimmsten Fall eine Epidemie verursachten. Insbesondere
die Cholera galt in Österreich-Ungarn sowie im gesamteuropäischen und glo-
balen Kontext5 als besonders gefürchtete Infektionskrankheit: 1865 und 1893
war es zu verheerenden Epidemien gekommen, die 30.000 bzw. 40.000 Pilgern
das Leben kosteten und die Krankheit auch in deren Herkunftsländer übertru-
gen.6 In Österreich-Ungarn war es zu Beginn der 1870er Jahre, so etwa 1873 in
Wien, immer wieder zum Ausbruch der Cholera gekommen; ebenso hatte die
Epidemie 1892 in Hamburg massiv gewütet. So widmete sich das international
renommierte Fachjournal Wiener Medizinische Wochenschrift 1873 und 1874 in
beinahe jeder seiner wöchentlich erscheinenden Ausgaben, dem Thema der
Cholera, ihrer Bekämpfung und den Heilungsmethoden.
Vor allem der letztere Punkt war für die österreichisch-ungarischen Be-
hörden sowie im größeren, gesamteuropäischen Kontext für die damaligen
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Groß- und Kolonialmächte von besonderer Bedeutung, da die Frage der Pilger-
fahrt [Hadsch/Ḥaǧǧ] nicht nur als eine religiöse Angelegenheit der jeweiligen
muslimischen Bevölkerungsgruppen betrachtet wurde, sondern vielmehr als
wichtiger Aspekt für das öffentliche Gesundheits- und Hygienewesen Europas
galt. Die Pilgerfahrt mit ihren zehntausenden Teilnehmern7 aus aller Welt, aus
Südostasien, Zentralasien, dem indischen Subkontinent und Afrika wurde in
der zeitgenössischen Sichtweise von den europäischen Mächten und den für
die öffentliche Gesundheit Zuständigen geradezu als Brutstätte für Seuchen
gesehen. Der in Paris wirkende Arzt und Choleraexperte Achille Proust (1834–
1903), Vater des Schriftstellers Marcel Proust (1871–1922), erklärte etwa im Jahre

5 Vgl. Harrison, Mark: A Question of Locality. The Identity of Cholera in British India,
1860/1890. In: Arnold, Dacid (Hg.): Warm Climates and Western Medicine: the emergen-
ce of tropical medicine 1500–1900. Amsterdam: Radopi 1996, pp. 133–159 (= Clio Medica
35); Low, Michael Christopher: Empire of the Hajj. Pilgrims, Plagues, and Pan-Islam un-
der British Surveillance,1865–1926. In: International Journal of Middle East Studies 40, no.
2 (May 2008), pp. 269–290, hier p. 277ff.
6 Vgl. Kaser, Karl: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2011, p. 221.
7 Die Oesterreichische Monatsschrift für den Orient nannte in ihrer Nummer. 9 vom
15.9.1878, p. 142, für 1877/78 eine Pilgerzahl von 44.718 Personen; die Mehrheit davon
kam aus den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, d. h. auf dem Seeweg, nach Mekka.
Extra ausgewiesen wurden Pilger, die auf dem Landweg anreisten, deren Anzahl wurde
mit ca. 25.000 beziffert. Da es im Osmanischen Reich keine behördliche Erfassung der
Pilger gab, verweisen Schätzungen auf Pilgerzahlen von mehreren zehntausend Perso-
nen; so etwa wurde für 1814 die Zahl von 70.000 Pilgern genannt (für die folgenden
Jahrzehnte wurden aber auch Zahlen von 25.000–50.000 Pilgern angegeben). Siehe dazu
auch Faroqhi, Suraiya: Herrscher über Mekka. Die Geschichte der Pilgerfahrt. München,
Zürich: Artemis 1990, p. 310.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 195

1865, auf dem Höhepunkt einer massiven Choleraepidemie, die sowohl tausende
Opfer unter den Mekkapilgern forderte als auch in Europa und den USA sich
ausbreitete, dass man mehr zur Verhinderung der Ausbreitung von durch die
Pilger eingeschleppten Krankheiten tun müsse; Europa könne nicht weiterhin
von der „Gnade“ der Mekkapilger abhängen,8 womit der Gesundheitszustand
der Heimkehrenden gemeint war.
Für Dr. Karliński war es 1893 nicht das erste Mal gewesen, dass er nach Bos-
nien heimkehrende Muslime abholte. 1891 als Regimentsarzt in Konjic statio-
niert, war er ausgeschickt worden, um die bosnischen Pilger nach Beendigung
der religiösen Rituale in Dschidda zu treffen, mit ihnen die Quarantänestation
El Tor (auch bekannt als Al Tur) im Westen der Sinaihalbinsel zu durchlaufen
und sie nach Bosnien zurückzubegleiten.9 El Tor war nach Ansicht des 1893
als Leiter der internen Abteilung des Landesspitals nach Sarajevo berufenen
Arztes Géza Kobler (1864–1935), der sich auch maßgeblich der Bekämpfung von
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Infektionskrankheiten widmete, ein „mächtiges Bollwerk zum Schutze Europas


vor Seuchen“.10
Eigentlich hätte der in Sarajevo wirkende Polizeiarzt Dr. Julius Makanec
(1854–1891) die Pilger abholen sollen, doch dieser, „wirkliches Mitglied“ der
1870 in Wien gegründeten Anthropologischen Gesellschaft mit der Mitglieds-
nummer 144 und Vizepräsident des 1885 gegründeten Museumsvereins für Bos-
nien-Herzegowina,11 verstarb 1891 bei der Abholung der bosnischen Pilger in
Dschidda,12 weshalb Dr. Karliński als sein Ersatz entsandt wurde. Über seine
zwei Jahre später (1893) erfolgende Reise verfasste Dr. Karliński einen ausführ-
lichen Bericht, der 1894 in einem Separatdruck der Berliner Hygienischen Rund-
schau erschien.13
Die Frage des Umgangs mit der Pilgerfahrt nach Mekka und den Pilgern
bezüglich des Reiseablaufs stand dabei für die Landesverwaltung in Sarajevo
im Zusammenhang mit dem Ausbau des Gesundheits- und Hygienewesens in
Bosnien insgesamt, welcher unmittelbar nach dem Abschluss des Okkupations-
feldzugs 1878 einsetzte. So wurde im Februar 1879 das Reichssanitätsgesetz

8 Low 2008, p. 270.


9 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien
und der Hercegovina. Wien: A. Holzhausen 1906, p. 110.
10 Kobler, Géza: Über die Verhütung der Verschleppung von Infektionskrankheiten durch
den Pilgerverkehr. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 64, Nr. 28 v. 11. 07. 1914, pp.
1581–1588, hier p. 1586.
11 Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 20 (1890), p. 50.
12 Vgl. Karliński, Justyn: Quarantaine-Studien. In: Wiener Medizinische Wochenschrift (41)
1891, Nr. 50, pp. 2035–2038, hier p. 2035.
13 Vgl. Karlinski 1894.

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196 Valerie Heuberger

aus dem Jahre 1870 in den besetzten Gebieten implementiert, wobei auf die
Umsetzung von dessen Bestimmungen in Bosnien besonders geachtet wurde.14
Zur Verbesserung der „Localhygiene“, so der in den 1880er Jahren im Diens-
te der Landesregierung wirkende Sanitätsrat Josef Unterlugauer, wurden 1883
„Local-Sanitäts-Commissionen“ eingerichtet. Diese wurden – im Einvernehmen
mit dem k. u. k. Corpskommando – durch Militärärzte der betreffenden Garnison
verstärkt und sollten darauf achten, dass Straßen, Plätze sowie die Umgebung
der Häuser von Staub und Abfällen gereinigt wurden und kein Tierdung vor
allem in geschlossenen Ortschaften auf den Straßen herumlag. Abortgruben
und Kanäle sollten regelmäßig geleert und Unrat aus Straßengräben geräumt
werden. Brunnen, deren Wasser als gesundheitlich bedenklich galt, hatten ge-
schlossen, solche mit gutem Trinkwasser hingegen rein erhalten zu werden,
und auch im Bereich der Lebens- und Genussmittel sollten Kontrollen für deren
Unbedenklichkeit sorgen und als bedenklich geltende oder gar gesundheits-
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schädliche Güter vom Verkauf ausgeschlossen bzw. konfisziert und vernichtet


werden. Generell sollte auf die „strengste Reinlichkeit“ der Wohnungen hinge-
wirkt werden; Schlachtbetriebe sollten möglichst hygienisch geführt und Vieh
nur auf dazu bestimmten Schlachtstätten geschlachtet werden; Fleischerläden
hatten täglich geputzt und gescheuert sowie einmal wöchentlich mit Kalk ge-
reinigt zu werden. Einkehrhäuser, Arreste, Schulen, Arbeiterquartiere seien auf
deren „ordnungsmäßigen Zustand“ streng zu kontrollieren, und diese Direkti-
ven sollten von den lokalen Gendarmerieposten überwacht werden.15
Der Fokus für die Darstellung der Pilgerfahrt bosnischer Muslime nach Mek-
ka liegt in diesem Beitrag auf gedruckten Quellen wie Berichten des für die
Verwaltung Bosniens zuständigen gemeinsamen Finanzministeriums;16 dazu
kommen zeitgenössische Berichte etwa aus medizinischen Fachblättern wie der
Wiener Medizinischen Wochenschrift17 sowie Ego-Dokumente von den die Pilger
abholenden Ärzten wie Dr. Karliński.18

14 Fuchs, Brigitte: Orientalizing Disease. Austro-Hungarian Policies of 'Race', Gender and


Hygiene in Bosnia and Herzegovina, 1878–1914. In: Promitzer, Christian/Trubeta, Sevas-
ti/Turda, Marius (Hg.): Health, Hygiene, and Eugenics in Southeastern Europe to 1945.
Budapest: Central European Univ. Press 2011 (= CEU Studies in the History of Medicine
Series 2), pp. 57–86, hier p. 66f.
15 Unterlugauer, Josef: Die Cholera in Bosnien im Jahre 1886/87. Denkschrift verfasst im
Auftrage des k. u. k. gemeinsamen Ministeriums für den im Jahre 1887 in Wien stattfin-
denden VI. internationalen Congress für Hygiene und Demografie. Wien: k.k. Hof- und
Staatsdruckerei 1887, p. 13ff.
16 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien
und der Hercegovina. Wien: Holzhausen 1906–1917.
17 Wiener Medizinische Wochenschrift, Wien 1851–1944.
18 Von der Verfasserin sind zu dieser Thematik umfassendere Forschungen vorgesehen, in
deren Rahmen Fragen nach der Beteiligung von Pilgerinnen aus Bosnien an der Reise

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 197

Fragestellungen & theoretische Verortung


Der vorliegende Beitrag soll also einen ersten Einblick in einen bislang weni-
ger beachteten Aspekt der österreichisch-ungarischen Verwaltung des bis 1878
osmanisch beherrschten Bosniens bieten: Wie hielt es der Habsburgerstaat mit
„managing the hajj“?19 Hierfür ist aus komparatistischer Sicht auch die dies-
bezügliche Herangehensweise der zeitgenössischen europäischen Mächte zu
betrachten: Die Briten etwa legten zwischen 1886 und 1893 die Abwicklung der
Reiseprozeduren für Pilger aus Britisch-Indien nach Mekka in die Hände der be-
kannten Reiseagentur Thomas Cook, ab 1878 wurde ein indischstämmiger Arzt
zur medizinischen Versorgung der Pilger abgestellt, der 1881 zum britischen
Vizekonsul in Dschidda ernannt und dem auch gleich nachrichtendienstliche
Agenden aufgetragen wurden; er kam bei einem Anschlag auf ausländische
Konsulate 1895 ums Leben.20 Wenngleich andere Großreiche wesentlich mehr
muslimische Untertanen aufwiesen als Österreich-Ungarn und daher ungleich
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größere Pilgerzahlen stellten, so waren die logistischen Probleme wie der Trans-
port der Pilger sowie Quarantänemaßnahmen doch ähnlich geartet. Hinzu kam
der vielfach sehr ähnliche ‘offizielle’ Blick auf die muslimischen Untertanen
aus kolonialer Perspektive sowie unter den Vorzeichen von Orientalismus und
Exotismus.21
Eine weitere Frage ergibt sich aus der Art und Weise der Handhabung des
Gesundheits-, Sanitäts- und Hygienewesens durch die europäischen Mächte ins-
besondere in Hinblick auf Südosteuropa als ‘Schnittstelle zwischen Orient und
Okzident’ sowie das Osmanische Reich in seiner Gesamtheit. Diese Problematik

nach Mekka, dem sozialen und bildungsmäßigen Hintergrund der Pilger, Ego-Dokumen-
ten von bosnischen Muslimen betreffend die Pilgerfahrt sowie allfälligen politischen/si-
cherheitspolitischen Aspekten aus der Sicht der Landesbehörden nachgegangen werden
soll.- Vgl. auch Kane, Eileen: Odessa as a Hajj Hub, 1890s to 1910s. An NCEEER Working
Paper. Connecticut College. National Council for Eurasian and East European Studies
Research. Seattle: University of Washington 2011, p. 6.
19 Thomas, Martin: Managing the Hajj. Indian Pilgrim Traffic, Public Health and Trans-
portation in Arabia, 1918–1930. In: Otte, T. G./Neilson, Keith (Hg.): Railways and Inter-
national Politics. Paths of Empire, 1848–1945. London: Routledge 2006 (= CASS Series:
Military History and Policy 24), pp. 173–191.
20 Vgl. Low 2008, p. 283f.; Peters, Francis E.: Mecca. A literary history of the Muslim Holy
Land. Princeton: Princeton University Press, 341; Vgl. auch Anonymos: The Powers and
the Porte. Result of A Bedouin Outrage. Reparation Demanded. In: The Argus, 24. 09. 1895.
21 Heiss, Johann: Orientalismus. In: Kreff, Ferdinand/Knoll, Eva Maria/Gingrich, Andre
(Hg.): Lexikon der Globalisierung. Bielefeld: transcript 2011, pp. 319–323; Heiss, Johann:
Orientalismus, Eurozentrismus, Exotismus. Historische Perspektiven zu gegenwärtigen
Problemen. In: Sauer, Birgit/Strasser, Sabine (Hg.): Zwangsfreiheiten. Multikulturalität
und Feminismus. Wien: Promedia & Südwind 2008 (= Historische Sozialkunde/Internat.
Entwicklung 27), pp. 221–236.

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198 Valerie Heuberger

findet in den letzten Jahren verstärkt inter- bzw. transdisziplinäre Beachtung;22


das Thema der Pilgerfahrt nach Mekka wird dabei insbesondere im Hinblick auf
außereuropäische Muslime – etwa aus Südostasien und dem Indischen Ozean,23
aber auch aus dem Russischen Reich – zunehmend in der internationalen For-
schung analysiert.24
Österreich-Ungarn hatte etwa zu Beginn der 1880er Jahre begonnen, die Pil-
gerfahrt der muslimischen Landesbewohner möglichst umfassend zu organi-
sieren. Diese Maßnahmen standen im größeren Zusammenhang des Auf- und
Ausbaus des Gesundheits- und Hygienewesens in Bosnien,25 wozu auch die
Pilgerfahrt gezählt wurde. Hierbei befand sich die Donaumonarchie in Gemein-
schaft mit anderen europäischen Großmächten, die die Menschenmassen, die
nach Mekka und von dort zurück in ihre Heimatgebiete zogen, häufig argwöh-
nisch beobachteten. Dies hatte neben der Befürchtung der Einschleppung von
Infektionskrankheiten auch politische Gründe: die Verbreitung von pan-islami-
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schem Gedankengut, mit dem die Pilger in Berührung kommen und dieses in
ihren Heimatregionen verbreiten könnten.26
Mit der Okkupation im Jahr 1878 erfolgte durch Österreich-Ungarn die Ein-
führung zahlreicher Gesetzes- und Verwaltungsbestimmungen in Bosnien,
die nicht nur in der Landespolitik von Bedeutung waren, sondern durchaus
auch auf den Lebensalltag der Landesbewohnerinnen und -bewohner Einfluss
gewannen. Der Kontext der Organisation und Unterstützung bei der Durch-
führung der Pilgerfahrt ist hier in den größeren Rahmen der zeitgenössischen
Politik der europäischen (Kolonial-)Mächte zu stellen, die im 19. Jahrhundert
gleichfalls mit der Regelung des Pilgerwesens der von ihnen beherrschten mus-
limischen Bevölkerungsgruppen befasst waren. Wenngleich Umfang und Aus-
maß der Pilgerzahlen sich im Vergleich zwischen Bosnien und den Pilgerströ-
men aus der Region des Indischen Ozeans, aus Südostasien und Britisch Indien
drastisch unterschieden – aus Bosnien kamen jeweils einige Dutzend Pilger, aus

22 Vgl. Promitzer, Christian: Grenzen der Bewegungsfreiheit. Die Diskussion um Quaran-


tänen des Osmanischen Reichs und Bulgariens vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu
den Balkankriegen (1912/13). In: Lamprecht, Gerald/Mindler, Ursula/Zettelbauer, Heid-
run (Hg): Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der
Moderne. Bielefeld: transcript 2012, pp. 35–49.
23 Ein“Klassiker” ist hierbei Snouck-Hurgronje, Christiaan: Mekka in the Latter Part of the
19th Century. Daily Life, Customs and Learning. The Moslims of the East-Indian-Archip-
elago. Übers. von J. H. Monahan. Leiden: E. J. Brill 1931; vgl. auch Tagliacozzo, Eric: The
Longest Journey. Southeast Asians and the Pilgrimage to Mecca. Oxford: Oxford Univ.
Press 2013.
24 Kane 2011.
25 Fuchs 2011, pp. 57–86.
26 Roff, William: Sanitation and Security. The Imperial Powers and The Nineteenth Century
Hajj. In: Arabian Studies 6 (1982), pp. 143–160.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 199

der Region des Indischen Ozeans und aus Südostasien hingegen zehntausende
–, so bestanden doch grundsätzliche Ähnlichkeiten, wobei im Zusammenhang
mit der Pilgerfahrt von Muslimen aus Südostasien darauf hingewiesen wird,
dass aus den zunächst individuell durchgeführten Pilgerfahrten im Zeitalter des
Kolonialismus „a state-sponsored enterprise“27 wurde. Für die großen europäi-
schen Kolonialmächte – zu denen Österreich-Ungarn zwar nicht zählte, das aber
Bosnien als „Ersatzkolonie“28 betrachtete – stand das Thema der Pilgerfahrt
nach Mekka und vor allem die Rückkehr der Pilger in ihre Heimatländer, -städte
und -dörfer unter dem zentralen Aspekt der öffentlichen Gesundheitspolitik,
die man in London oder Paris durch die rückkehrenden Pilger, die Seuchen ein-
schleppen könnten, gefährdet sah.
Als weiterer Aspekt ist vor allem für die Pilgerfahrt der Muslime aus dem
Britischen Empire und dem Russischen Reich auf die Befürchtungen der jewei-
ligen Kolonialmacht zu verweisen, dass sich durch die heimkehrenden Pilger
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wie bereits erwähnt unliebsames Gedankengut wie etwa pan-islamische Vor-


stellungen verbreiten und festigen könnte. Die Pilgerfahrt wäre dadurch nicht
nur eine spirituelle, den religiösen Geboten des Islam entsprechende Handlung
gewesen, vielmehr würde sie gleich zweifach Gefahren beinhalten: Für die öf-
fentliche Gesundheit durch die Verbreitung von Seuchen wie Cholera, für die
innere Sicherheit aufgrund der Verbreitung irredentistischer politischer Strö-
mungen. Dabei war die Habsburgermonarchie im Falle Bosniens bestrebt, die
Lage im Land und die Stimmung in der Bevölkerung, insbesondere unter den
Angehörigen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen
Eliten, genau zu beobachten. Dies bezog durchaus nicht nur die aus Mekka zu-
rückkehrenden Muslime ein, sondern war vielmehr ein die bosnischen Landes-
und österreichisch-ungarischen Staatsgrenzen übergreifendes Phänomen, bei
dem auch Informationen über allfällige politische Aktivitäten der temporär oder
permanent im Osmanischen Reich lebenden Angehörigen der bosnisch-musli-
mischen Elite eingeholt wurden.
In Österreich-Ungarn trat als ein wichtiges Modell der Perzeption der Mus-
lime als Form der Auseinandersetzung mit dem ‘Orient’, hier im Fall Öster-
reich-Ungarn als Okkupationsmacht in Bosnien seit 1878,29 hinzu: Andre Ging-

27 Tagliacozzo 2013, p. 7.
28 Vgl. den Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband.
29 Gingrich, Andre: Österreichische Identitäten und Orientbilder. Eine ethnologische Kritik.
In: Dostal, Walter (Hg.): Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Wien:
WUV 1999 (= Wiener Beiträge zur Ethnologie und Anthropologie 9), pp. 29–34; Ders.:
Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion des „frontier Orien-
talism“ in der Spätzeit der K. u. K. Monarchie. In: Feichtinger, Johannes et al. (Hg.): Schau-
platz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Moritz Csáky zum 70.
Geburtstag gewidmet. Innsbruck, Wien: StudienVerlag 2006, pp. 279–288, hier p. 279.

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200 Valerie Heuberger

richs Konzept eines „Frontier Orientalism“ bewegt sich im regionalen Rahmen


von Teilen Süd- und Mitteleuropas sowie Russlands und zeigt auf, welche Ge-
meinsamkeiten sich bei den in Jahrhunderten ausgeprägten Formen von poli-
tischen, kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen „Verflechtungen und
Auseinandersetzungen mit der islamischen Welt“ ausdifferenziert haben und
welche Wirkmächtigkeit sowie Nachhaltigkeit diesen in den europäischen
Volkskulturen zukommt, wobei hier vor allem Ostösterreich ein ergiebiges For-
schungsfeld darstellt. „Frontier Orientalism“ durchzog, so Gingrich, volkstümli-
che Traditionen, wirkte sich nachhaltig auf Kunst, Kultur und Mentalitäten aus,
beeinflusste die Historiografie und gewann Deutungshoheit für die Entstehung
und Festigung von Geschichtsbildern, Selbst- und Fremdbilder.30 Der Habsbur-
ger Staat bediente sich hinsichtlich seiner Vorgehensweise im Balkanraum und
vor allem als Akteur gegenüber Bosnien, seiner „Ersatzkolonie“, politisch und
kulturell vielfältig ein- und umsetzbarer Deutungsmuster, die von Begriffen
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wie Orientalismus und Exotismus maßgeblich geprägt wurden und generell im


oftmals pejorativen Blick auf den „Orientalen“ ihren Ausdruck fanden – bei-
spielsweise wenn Dr. Karliński auf seiner ersten Reise zur Abholung bosnischer
Mekkapilger 1891 anmerkte, dass das „Ungeziefer zum ständigen häuslichen
Inventar eines Orientalen gehört.“31

Die Pilgerfahrt nach Mekka im 19. Jahrhundert im internationalen


gesundheitspolitisch-öffentlichen Kontext

Die Frage der Pilgerfahrt zur Zeit der imperialen und kolonialen Aufteilung
der Welt im 19. Jahrhundert sowie bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs ist
vielschichtig. Sie stellt hinsichtlich ihrer Organisation und ihres Ablaufs, der
vielfach von europäischen (Kolonial-)Mächten wie dem Britischen Empire oder
Russland mehr oder weniger akribisch geregelt war, ein gutes Beispiel für die
zeitgenössische Auffassung gesundheits- und hygienepolitischer Aspekte und
daraus resultierende Handlungsweisen dar. Die Pilgerfahrt wurde nicht bloß
als eine für Angehörige einer bestimmten Religion, des Islam, vorgeschriebene
Verpflichtung betrachtet, vielmehr besaß sie eine außen- und auch gesundheits-
politische Ausrichtung: Außenpolitisch im Hinblick auf das Machtspiel bzw.

30 Vgl. Ruthner, Clemens: Kakaniens kleiner Orient. Post/koloniale Lesarten der Periphe-
rie Bosnien-Herzegowina (1878–1918). In: Hárs, Endre/Müller-Funk, Wolfgang/Reber,
Ursula/Ruthner, Clemens (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Ös-
terreich-Ungarn. Tübingen, Basel: A. Francke 2006, pp. 255–284, hier p. 255; weiters den
Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband.
31 Karliński 1891, p. 2105.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 201

politische Kräftemessen zwischen dem Osmanischen Reich, aus dem viele Mek-
kapilger kamen, sowie europäischen Mächten, zu deren Bevölkerungen auch
Muslime zählten, wie seit 1878 auch Österreich-Ungarn.
Die gesundheitspolitische Komponente war eng mit der außenpolitischen
verbunden, wozu beispielsweise die Ausrichtung und Abhaltung internationaler
Sanitätskonferenzen zählte. 1866 fand solch eine Konferenz in İstanbul statt, wo
ein Jahr zuvor, 1865, eine Choleraepidemie an die 30.000 Opfer gefordert hatte.
Gerade das Osmanische Reich wurde häufig wegen mangelnder Vorkehrungen
zur Seuchenprävention angeprangert.32 Dabei hatte Sultan Mahmud II. (1808–
1839) bereits 1838 unter Beiziehung der europäischen Mächte den Hohen Rat
für das Gesundheitswesen (Conseil Supérieur de Santé) gegründet. In Mekka
und Medina wurden auf Veranlassung der osmanischen Sultane und der loka-
len Scherifen Lazarette errichtet und die Trinkwasserversorgung verbessert,
während die europäischen Mächte in El Tor auf der Sinaihalbinsel und der Insel
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Kamran im Roten Meer – außerhalb des Gebiets, das direkt unter osmanischer
Kontrolle stand – Quarantänestationen betrieben. Bei größeren Epidemien wie
dem Ausbruch der Cholera 1893/1894 waren diese Stationen aber zu klein di-
mensioniert und das medizinische Personal überfordert, was zum Tod von zahl-
reichen heimkehrenden Muslimen führte.33
Ein weiterer Aspekt im internationalen Kontext war die Verbesserung und
vor allem Beschleunigung des Reiseverkehrs, wofür das Bestreben nach einem
rascheren Transport der Pilgermassen von und nach Mekka eine Rolle spielte:
„a mass hajj as byproduct of late-nineteenth century European colonization of
Africa, Asia, which brought modern transportation networks to the Muslim
world“.34 Als Folge der verkehrstechnischen Fortschritte im 19. Jahrhundert und
dem Einsatz von Dampfschiffen im Mittelmeer und dem Indischen Ozean, die
die Pilger auf die Arabische Halbinsel brachten, hatte sich die Reisegeschwin-
digkeit stark erhöht und die Reisedauer verkürzt, der Prozess der nach Em-
manuel Le Roy Ladurie „bakteriologischen Vereinheitlichung der Welt“ („the
unification of the globe by disease“35) hatte eingesetzt. Zuvor waren Pilger auf
dem langen Weg nach und von Mekka im Fall einer Erkrankung an Typhus oder
Cholera entweder daran verstorben oder auch genesen, bevor sie wieder ihren
Heimatort erreichten. Die Beschleunigung des Reiseverkehrs konnte nun dazu

32 Dinçkal, Noyan: İstanbul und das Wasser. Zur Geschichte der Wasserversorgung und
Abwasserentsorgung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1966. München: Oldenbourg
2004 (= Südosteurop. Arbeiten 120), p. 163f.
33 Faroqhi 1990, p. 236.
34 Kane 2011, p. 5.
35 Le Roy Ladurie, Emmanuel: A Concept. The Unification of the Globe by Disease. In:
Ders.: The Mind and Method of the Historian. Brighton: Harvester 1983, pp. 28–83.

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202 Valerie Heuberger

beitragen, dass infizierte Personen die Krankheit in ihre Herkunftsstädte und


-dörfer mitbrachten und dann dort Seuchen ausbrachen.
So verfestigte sich das latent bereits bestehende Bild vom Osten und Süd-
osten als ‘Keimzelle’ von Krankheiten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
suchten Choleraepidemien Europa heim, die einerseits das öffentliche Bewusst-
sein für die Gefahr von Epidemien und deren Auswirkungen auch in volks-
wirtschaftlicher Hinsicht erhöhten und andererseits eine negative öffentliche
Stimmung gegenüber dem ‘Orient’ und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern
hervorriefen: Aus Mekka zurückkehrende Muslime wurden als „Bedrohung der
europäischen Volksgesundheit“ gesehen, obwohl Epidemien auch unabhängig
von deren Pilgerfahrt auftraten – beispielsweise waren sie immer wieder in
den von Österreich/Österreich-Ungarn beherrschten Territorien in Ost- und
Südosteuropa verbreitet wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über
die österreichisch-russische Grenze hinweg. Zur Prävention bzw. Eindämmung
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ansteckender Krankheiten setzten auch das Russische bzw. Osmanische Reich


Quarantänemaßnahmen, so etwa während des Russisch-Osmanischen Krieges
1828–1829 oder während der Gefahr einer Pestepidemie in Istanbul 1830/31.36

Zur Pilgerfahrt bosnisch-herzegowinischer Pilger nach Mekka


Im Habsburgerstaat wie auch in den anderen europäischen Großreichen mit
muslimischen Untertanen wurde versucht, die Pilgerfahrt möglichst genau zu
regeln und umfassende Aufzeichnungen darüber zu verfassen: „One of the great
ironies of colonial rule is that Christian powers left such profoundly detailed
records on the Southeast Asian Hajj. Base suspicion and an often genuine de-
sire to know the hearts and minds of their subjects at the same time made this
possible“.37
Für Österreich-Ungarn wie auch für weitere Kolonialmächte war die Verein-
heitlichung der Rahmenbedingungen der Pilgerfahrt wichtig. Dies beinhaltete
im Fall Bosniens: die gemeinsame Abreise der Pilgergruppe unter einem Pil-
gerführer, Reis-ul-Hadžada; die Erstellung einer Namensliste der Teilnehmer,
die sowohl innerhalb Bosniens – von der Landesregierung bis hin zu Bezirks-
ämtern, Polizeistellen und Zollbehörden im Fall der Wiedereinreise der Pilger
– als auch in Orten und Häfen, die die Pilger durchliefen, etwa in Triest, aber
auch bei den Konsulaten entlang der Reisestrecke wie in İstanbul und Dschidda,
vorgelegt wurde; die Verwendung von festgelegten Reiserouten und die ge-

36 Promitzer 2012, p. 38 .
37 Tagliacozzo, Eric: The Longest Journey. Southeast Asians and the Pilgrimage to Mecca.
Oxford: Oxford University Press 2013, p. 10f.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 203

meinsame Rückkehr sowie die Betreuung durch einen von der Landesregierung
in Sarajevo zur Verfügung gestellten Distrikts- oder Amtsarzt, der die Pilger-
gruppe in Dschidda traf und sie zurückbegleitete. Die Pilger erhielten auch ein
„Merkblatt“, das Informationen über die Hin- und Rückreise enthielt wie auch
zu den Zollbestimmungen hinsichtlich mitgebrachter Waren und Geschenke,
wobei vor dem Erwerb gebrauchter Kleidung als möglichem Krankheitsüber-
träger gewarnt wurde; dazu kamen Hygienehinweise wie die Aufforderung, nur
abgekochtes Wasser zu trinken und beim Verzehr von rohem Obst vorsichtig
zu sein.38
Diese Maßnahmen wurden als notwendig erachtet, da Bosnien, so Ferdinand
Schmid im Kapitel „Die Sanitätspolizei und die öffentliche Hygiene“ in seinem
1914 in Leipzig erschienenen Werk Bosnien und die Herzegovina unter der Ver-
waltung Oesterreich-Ungarns, „seit altersher“ ein Residuum für Infektionskrank-
heiten sei, weshalb die österreichische Verwaltung auch besonders rigoros bei
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deren Prävention vorging. Dies bezog sich nicht nur auf Hygienemaßnahmen in
Bezug auf Mekkapilger aus Bosnien, sondern zeigte sich beispielsweise generell
bei der Umsetzung von gesundheitspolitischen Maßnahmen wie bei dem Gesetz
vom 19. März 1912 betreffend den Impfzwang gegen Blattern.39

Zur „Beamtshandlung“ der Pilgerfahrt


Zur besseren Abwicklung der Reise sowie zur gesundheitlichen Kontrolle der
Pilger wurde die Reise nach Mekka als Gruppenfahrt unter der Leitung eines
Pilgerführers organisiert, um den Pilgern „tunlichst“ Schutz gewähren zu kön-
nen. 1881 wurden auf Anordnung der Landesregierung Pilger mit Pässen ver-
sehen, damit „dieselben in Evidenz gehalten und bei ihrer Rückkehr ärztlich
untersucht werden könnten“. Nicht nur bei der Ausreise, sondern insbesondere
bei der Rückkehr nach Bosnien erfolgte in den Grenzstationen eine medizini-
sche Untersuchung und die mitgebrachten „Effecten“ wurden desinfiziert.40
Zur Beförderung der Pilger (und auch als Anreiz, nicht individuell, sondern als
Gruppe zu reisen) wurde von der Landesregierung eine Vereinbarung mit der
Österreichischen Lloyd getroffen und für die Fahrt Triest-Alexandria eine Preis-

38 Kobler 1914, p. 1586f.


39 Nach Schmid wurde das Gesetz in Bosnien noch strenger als in der übrigen Habsbur-
germonarchie ausgelegt: Nach Mekka abreisende Pilger sollten geimpft werden, ebenso
jedes Kind bis zum Ende des zweiten Lebensjahres; eine Ausnahme gab es nur aus ge-
sundheitlichen Gründen bzw. bei Kindern, die bereits die Blattern durchgemacht hatten.
Die Wiederimpfung erfolgte mit dem achten Lebensjahr (Schmid, Ferdinand: Bosnien
und die Herzegovina unter der Verwaltung Oesterreich-Ungarns. Leipzig: Veit. 1914,
p. 283ff.).
40 Finanzministerium 1906, p. 110.

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204 Valerie Heuberger

ermäßigung erwirkt, damit die Pilger sich unter der Leitung des Pilgerführers
der gleichen Route bedienten und so ihre sanitäre Überwachung leichter durch-
geführt werden konnte; auch andere europäische Mächte kümmerten sich um
den organisierten Transport ihrer Pilger. 1908 beispielsweise wurden vom Rus-
sischen Reich für seine Mekkapilger an die tausend spezielle Waggons 3. Klasse
für die benutzten Bahnstrecken bereitgestellt – so etwa zwischen Taschkent und
Odessa, von wo aus sich viele Muslime aus Russland einschifften. 1909 brachten
eigene „Hedschas-Dampfschiffe“ die Pilger aus Odessa an ihr Ziel, und auch der
jeweilige Scherif von Mekka war an einer Verbesserung der Reisebedingungen
interessiert; bereits in den 1880er Jahren wurden dessen Abgesandte von Mekka
nach Odessa geschickt, um die Pilgergruppen zu koordinieren.41
Doch zurück zu den Pilgern aus Bosnien: 1890 kam es auf der Rückfahrt von
Dschidda zu Verzögerungen in den verschiedenen Quarantänestationen, die zu
durchlaufen waren, beispielsweise auf der Sinaihalbinsel und in Kleinasien, in
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der Umgebung von Smyrna [heute: İzmir], weshalb 1891 auf die Inanspruch-
nahme eines von der Lloyd betriebenen Schiffes verzichtet wurde. Im gleichen
Jahr kam es im Hedschas zum Ausbruch einer Choleraepidemie; daher wurde
ein Arzt von der Landesregierung in Sarajevo zur Abholung der Pilger nach
Dschidda geschickt, der mit ihnen alle Quarantänestationen durchlief und den
Gesundheitszustand der Pilger überwachen, ihnen ärztlich beistehen sowie
Krankheitsfälle sofort der Landesregierung melden sollte. Die Entsendung von
Ärzten wurde in den folgenden Jahren fortgesetzt42 und die eingangs erwähn-
te Reise von Dr. Karliński 1893 zur Abholung der Mekkapilger wurde auch in
einem 1895 in Wien erschienenen Bericht behandelt. In diesem wurde ausführ-
lich die Rückreise der Mekkapilger „unter Überwachung und Begleitung“ eines
Arztes dargelegt sowie die Rolle der zu durchlaufenden Quarantänestationen
auf der Sinaihalbinsel sowie in Kleinasien angesprochen, wo jeweils mehrere
Wochen andauernde Quarantäneaufhalte stattfanden und auch die „Effecten“
der Pilger gründlich desinfiziert wurden.43 Die angesprochene „Überwachung“
der Pilger war aber nicht so einfach zu gewährleisten. Dr. Karlinski berichtete,
dass er sich mit 57 Pilgern am 9. Juli 1893 in Dschidda einschiffte, dass aber trotz
seiner Bemühungen um eine gemeinsame Rückfahrt fünf Tage zuvor elf Pilger
eigenständig die Heimreise angetreten hatten. Ursprünglich hatte Dr. Karliński
120 bosnische Muslime in Dschidda empfangen sollen, doch waren bereits in
Mekka etliche verstorben und auf dem weiteren Heimweg reduzierte sich die
Gruppe durch weitere Todesfälle.44

41 Kane 2011, pp. 7 und 14.


42 Schmid 1914, p. 287.
43 In: Die Cholera in Bosnien im Jahre 1893. Wien: Holzhausen 1895, p. 6.
44 Karlinski 1894, pp. 6 u. 12.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 205

Am 29. August 1893 wurde in Bosnien die Verfügung erlassen, dass der Ge-
sundheitszustand der Heimkehrer nach dem Eintreffen in ihren Heimatorten
durch einen Arzt oder beim Fehlen eines Arztes durch „anderweitige vertrau-
enswürdige Personen“ untersucht werden sollte;45 unter den heimgekehrten
Pilgern gab es keinen Cholerafall. Eine Komplikation bei diesen Sicherheitsmaß-
nahmen war dadurch gegeben, dass – wie die Kreisbehörde Banjaluka am 20.
September 1893 nach Sarajevo telegrafierte – das Großgepäck einzelner heimge-
kehrter bzw. auf der Reise verstorbener Pilger von Mekka aus noch zum Bestim-
mungsort unterwegs war und daher eine „sanitätspolizeiliche Amtshandlung“
noch nicht möglich war. Daher wurden am 22. September 1893 alle Behörden
angewiesen, die Verfügung zu treffen, dass solches aus Mekka kommendes Ge-
päck „nach vorheriger Abschätzung im Feuer vertilgt, etwa darunter befindliche
werthvollere Gegenstände aber ausgeschieden und vor Zulassung zur Weiter-
beförderung gründlich desinficirt werden.“ Von dieser Verfügung wurden die
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Bahndirektionen sowie die Militär-, Post und Telegrafendirektion in Bosnien


verständigt und zugleich versucht, dass solche Pakete bei ihrem Eintreffen auf
dem Post- oder Bahnweg „sistiert“ (d. h. von der Aushändigung an den Besitzer
zurückgehalten) wurden und von den „betreffenden Organen über deren Ein-
treffen behufs sanitätspolizeilicher Beamtshandlung der nächsten politischen
Behörde die Anzeige erstattet werde“. Mitte November traf das Großgepäck in
Sarajevo am Hauptzollamt ein und wurde „entsprechend“ behandelt, d. h. des-
infiziert. Wertvollere Gegenstände wurden zuvor entfernt und extra gründlich
desinfiziert; bei Beschädigungen des Gepäcks bzw. der Zerstörung von wert-
volleren Gegenständen wurden dessen Besitzer aus Landesmitteln entschädigt.46
In Bosnisch Brod [Bosanski Brod] wurde inzwischen ein großer, stabiler
Dampfdesinfektor (der 1911 neu adaptiert wurde) errichtet, in dem das Gepäck
der Pilger rasch und gründlich desinfiziert werden konnte; dazu kam der Bau
einer Desinfektions- und Isolierstation.47 Hierher wurde das Großgepäck der
Pilger aus ihren Ankunftsorten, zum Beispiel Semlin [heute: Zemun], Triest
oder Fiume [heute: Rijeka] geschickt, dort sanitätspolizeilich und zollamtlich
behandelt. Nach der Ankunft in Bosnisch Brod wurden die Rückkehrer in einer
Desinfektionsstation unterbracht, die Pilger und ihr Gepäck desinfiziert. Nach-
geschicktes Gepäck und „eingeschlichene“ Pilger, d. h. solche, die individuell

45 Promitzer 2012, p. 36.


46 Finanzministerium 1906, p. 111.
47 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien
und der Hercegovina 1911. Wien: Holzhausen 1911, p. 38; Dass.: Bericht über die Ver-
waltung von Bosnien und der Hercegovina 1913. Wien: Holzhausen 1914, p. 41.

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206 Valerie Heuberger

zurückgekommen waren oder solche, die über andere Grenzstationen kamen,


wurden ebenfalls in Brod gesammelt.48
In Jahren, in denen besonders heftige Pest- und Choleraepidemien wüteten,
riet die Landesregierung – im Einklang mit diesbezüglichen Beschlüssen inter-
nationaler Sanitätskonferenzen – von der Pilgerreise ab; falls Pilgergruppen
sich dennoch auf den Weg nach Mekka begaben, sollte ihnen keine Fahrpreis-
ermäßigung gewährt werden. Direkt untersagen wollte die Landesregierung
die Pilgerfahrt aber aus Rücksicht auf die religiösen Gefühle der muslimischen
Landesbewohnerinnen und -bewohner doch nicht, denn man wollte sie nicht
„verstimmen“. Außerdem, so die Überlegung der Landesregierung, könnten
sich bosnische Muslime leicht Auslandspässe für das Osmanische Reich holen
und von dort aus nach Mekka fahren, was die sanitätsbehördliche Kontrolle er-
schweren bzw. unmöglich machen würde. Andere Staaten wie Frankreich und
Russland verboten bei erhöhter Seuchengefahr immer wieder die Pilgerfahrt;
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Muslime aus Südrussland und Nordafrika reisten aber trotzdem nach Mekka.

Die Pilgerfahrt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs


Die Entsendung eines Arztes, der die bosnischen Muslime in Dschidda abholte
und nach Bosnien zurückbegleitete, wurde in den Jahren vor dem Ersten Welt-
krieg nicht durchgehend durchgeführt, da dies von der Landesregierung nicht
immer als notwendig erachtet wurde. Wenn etwa so wie in den Jahren 1906
und 1907 in Dschidda Pestfälle auftraten, so wurde in diesen nur eine lokale
Gefährdung der Bevölkerung gesehen und daher durch heimkehrende Muslime
keine Ausbreitung in Bosnien erwartet, da die Rückkehrer während der Heim-
reise eine Reihe von Quarantänestationen bzw. -maßnahmen zu durchlaufen
hatten. Noch 1897 hatte es dagegen eine Verlautbarung gegeben, wonach bos-
nische Muslime so lange nicht in ihre Heimatorte zurückdurften, als die Seuche
nicht erloschen war. Das k. u. k. Vizekonsulat in Dschidda wurde aber 1906 und
1907 aufgefordert, „die Einschiffung der aus Mekka ankommenden Pilger zu
beschleunigen sowie die Pilger abzuhalten, dass sie in Djeddah Teppiche oder
Kleider einkaufen“49. Solche Mitbringsel wie auch Schals und Tücher waren
sehr beliebt; das begehrteste Geschenk aus Mekka war jedoch das Wasser aus
dem Brunnen ZemZem, das in oftmals schön verzierten Porzellan- und Glasfla-
schen auch in größeren Mengen als Geschenk mitgebracht wurde. Europäische
Ärzte, darunter auch Dr. Karliński, untersuchten das Wasser auf seine allfällige

48 Finanzministerium 1906, p. 111.


49 K.u.k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht über die Verwaltung von Bosnien
und der Hercegovina 1907. Wien: Holzhausen 1907, p. 35.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 207

bakteriologische Verunreinigung, befanden es aber für unbedenklich in Bezug


auf die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie der Cholera.50 Das von ihm
untersuchte Wasser hatte Dr. Karliński heimlich dem Besitz eines auf der Reise
verstorbenen bosnischen Muslims entnommen, da seiner Erfahrung nach das
ZemZem-Wasser von Muslimen nicht an Nicht-Muslime weitergegeben wurde.
Die von Österreich-Ungarn angestrebte einheitliche Hin- und Rückreise der
bosnischen Mekkapilger war jedenfalls nicht immer wie geplant durchzuführen.
1910 vollzog sich die Rückkehr der bosnischen Muslime nur „schleppend“, wes-
halb größere Ausgaben für den „Landesärar“ entstanden, da die Desinfektions-
anstalt in Bosnisch Brod monatelang bereitstehen und auch auf kroatischem
Gebiet ein Überwachungsdienst zur Verhinderung der „illegalen“ Rückkehr
nach Bosnien finanziert werden musste. Es kam nämlich auch immer wieder
vor, dass bosnische Pilger ein Jahr lang bei den Heiligen Stätten verweilten und
erst mit der nächsten Pilgergruppe nach Bosnien heimkehrten. In den ersten
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Jahren des 20. Jahrhunderts betrug die Größe der Gruppen um die 100 Perso-
nen: So nahmen 1910 101 Personen an der Pilgerfahrt teil, wobei 96 Muslime
die Pilgerfahrt antraten und fünf Pilger, die seit der Pilgerfahrt des Jahres 1909
oder sogar noch länger im Hedschas gelebt hatten, sich den heimkehrenden
Landsleuten anschlossen.51
Ein Beispiel für die Mühen der Reise trotz verkehrstechnischer Neuerungen
wie der Eröffnung der Hedschasbahn52 im Jahre 1908 war die Pilgerfahrt 1910:
Zwölf Pilger wählten die Hinfahrt nach Mekka mit dem Schiff über Triest nach
Haifa, danach fuhren sie mit der Hedschasbahn weiter Richtung Medina. Die
Rückfahrt führte einen Teil der bosnischen Muslime über Dschidda und die
Quarantänestation El Tor auf der Sinaihalbinsel nach Suez und İstanbul, ein Teil
der Pilger wählte aber die Rückfahrt mit der Hedschasbahn von Medina Rich-
tung Damaskus, was für sie bedingt durch immer wieder auftretende technische
Störungen beträchtliche Unannehmlichkeiten mit sich brachte, etwa gleich zu
Beginn einen zehntägigen Aufenthalt in Medina, dem Ausgangs- bzw. End-
punkt der Hedschasbahn, dazu noch dreißig Tage Wartezeit in Damaskus, dem
zweiten Ausgangs- bzw. Endpunkt. Noch während des Aufenthalts in Dschidda
war die Cholera ausgebrochen, dazu kamen Pestfälle. Sieben bosnische Pilger
verstarben, sechs davon an Cholera oder Dysenterie, einer vermutlich an Tu-
berkulose. Im Jahr 1913, so die österreichischen Berichte, habe sich die sanitäre
Lage im Hedschas, etwa die Versorgung mit gutem Trinkwasser, verbessert. Die

50 Karlinski 1894, p. 10f.


51 Finanzministerium 1907, p. 35f., und 1911, p. 37.
52 Low 2009, p. 280.

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208 Valerie Heuberger

Pilgerfahrt 1913 wurde von einer 75 Personen umfassenden Gruppe durchge-


führt, von denen vier Pilger an „gewöhnlichen“ Krankheiten verstarben.
Als problematisch sollte sich allerdings immer wieder die Rückreise erweisen:
Für die bosnischen Muslime, die von Istanbul mit der Bahn über Bulgarien und
Serbien heimreisten, war die Quarantäne an den jeweiligen Grenzen strikt: Sie
dauerte häufig etliche Tage die Reisenden waren während der Wartezeit nur
notdürftig untergebracht, und oftmals wurden geradezu rabiate Desinfektions-
maßnahmen verwendet, die das Reisegepäck und dessen Inhalt wie Bekleidung
beschädigten oder sogar zerstörten. Diesbezügliche Beschwerden bosnischer
Mekkapilger wurden von Österreich-Ungarn aufgegriffen und vorgebracht, al-
lerdings offenbar nicht nur aus Rücksichtnahme auf die bosnischen Muslime,
sondern generell im Interesse der Reisenden. Über die unangenehmen Quaran-
tänebedingungen an der bulgarischen Grenze hatte bereits Dr. Karliński 1893
berichtet: „Da wurden neue Kleider aus den Cartons herausgezerrt und ohne
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Rücksicht auf Seide oder Sammt mittelst der allein seligmachenden Spritze mit
5proc. Carbolsäurelösung besprengt“53.
Weitere Beschwerden bosnischer Muslime im Hinblick auf die Reise mit der
Hedschasbahn waren, dass sie in offene Waggons mit weit mehr Passagieren als
der jeweils vorgesehenen Anzahl hineingepfercht worden wären. Auf halbem
Weg von Medina nach Damaskus lag eine Quarantänestation: Trat unterwegs
ein Seuchenfall auf, so sollte der Zug zur letzten durchlaufenen Quarantäne-
station bzw. einem Lazarett wieder in Richtung Medina zurückkehren, was auf-
grund technischer Probleme oftmals lange dauerte oder auch gar nicht zustande
kam, da die Bahnverwaltung in einer Umkehr eine „Betriebsstörung“ sah und
den Zug lieber in Richtung Damaskus weiterschickte. Bevor der Zug dann sein
Ziel erreichte, wurde ein Halt eingelegt und die Reisenden medizinisch unter-
sucht, was aber sogar die bosnischen Muslime als „flüchtig“ bezeichneten.54

Zum Abschluss
Die Pilgerfahrt nach Mekka war und ist ein zentrales Element im Glaubensleben
der Muslime weltweit und somit auch für die Muslime und Musliminnen aus
Bosnien-Herzegowina. Für die Kolonialmächte des 19. und 20. Jahrhunderts
bedeutete diese Reise allerdings weit mehr als die Erfüllung einer religiösen
Pflicht ihrer muslimischen Untertanen: Vielmehr standen Aspekte einer sich
im 19. Jahrhundert formierenden und institutionalisierenden öffentlichen Ge-

53 Promitzer 2012, p. 46; Karlinski 1894, p. 28.


54 Finanzministerium 1911, p. 38; K. u. k. gemeinsames Finanzministerium (Hg.): Bericht
über die Verwaltung von Bosnien und der Hercegovina für die Jahre 1914–1916. Wien:
Holzhausen 1917, p. 20; Kobler 1914, p. 1583.

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Die Pilgerfahrt nach Mekka von Muslimen aus Bosnien-Herzegowina 209

sundheits- und Hygienepolitik mit nationaler und internationaler Ausrichtung55


sowie der Seuchenprävention im Vordergrund, wozu die Befürchtung einer
politischen Indoktrinierung der zurückkehrenden Pilger durch pan-islamisches
Gedankengut trat. Diese Befürchtung von Seiten europäischer Kolonialmächte
bezog sich insbesondere auf Muslime aus Britisch-Indien, die in Mekka, dessen
Umgebung sowie auch in Ägypten diasporische Gemeinschaften etablierten und
Strategien des Ungehorsams und Widerstandes gegen die Kolonialmächte aus-
bildeten, die dann von den zurückkehrenden Pilgergruppen in ihre jeweiligen
Herkunftsländer importiert wurden – wobei vor allem unter der Regentschaft
von Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876–1909) anti-europäische und anti-imperia-
listische Tendenzen stark zunahmen.56 Österreich-Ungarn, das stets die politi-
sche Lage in Bosnien genau beobachtete und vor allem Kontakte von bosnischen
Eliteangehörigen mit dem Ausland, wie etwa dem Osmanische Reich, penibel zu
verfolgen versuchte, hatte daher auch ein Auge auf die bosnischen Mekkapilger.
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Dabei war die Zahl der Mekkapilger aus Bosnien im Vergleich zu den Pilger-
strömen aus Asien, Afrika, dem Osmanischen Reich oder auch Russland gering;
sie betrug durchwegs um die 100 bis 200 Personen. Dennoch wurde die Pilger-
fahrt der muslimischen Landesbewohner und -bewohnerinnen von der bosni-
schen Landesregierung und den Landesbehörden nicht nur möglichst akribisch
zu erfassen, sondern auch zu lenken versucht. Die Pilgerfahrt sollte am besten
als Reisegruppe durchgeführt werden, deren Mitglieder beisammen bleiben und
auch gemeinsam die Rückfahrt nach Bosnien antreten sollten. Dennoch kam
es immer wieder vor, daß Pilger erst im darauffolgenden Jahr nach Bosnien
zurückkehrten: Die Kosten der Reise sowie deren Länge und Mühsal ließen es
manchen Pilgern ratsam erscheinen, ihren Aufenthalt in den heiligen Stätten
auszudehnen und sich ihren Aufenthalt durch Handel etwa mit Bekleidung oder
auch das Anbieten von „Reiseleiterdiensten“ für neuankommende, durchaus
nicht nur bosnische Pilger zu finanzieren. Zwar lag ein grundlegender Aspekt
der Pilgerfahrt darin, dass sich nur Muslime, die wohlhabend genug waren und
die ausreichende Versorgung ihrer daheimgebliebenen Familien garantieren
konnten, die Reise antreten durften; doch gab es immer wieder Pilger, deren
finanzielle Mittel in Mekka zur Neige gegangen waren und die deshalb länger
vor Ort blieben, um sich wieder mit etwas Geld für den weiteren Aufenthalt
oder die Heimreise zu versorgen.57

55 Kobler, Géza: Die Quarantäne -Frage in der internationalen Sanitäts-Gesetzgebung.


Wien: Hölder 1898; Bashford, Alison: Imperial Hygiene. A Critical History of Colonia-
lism, Nationalism and Public Health. London, New York: Palgrave Macmillan 2004.
56 Roff 1982, pp. 143–160.
57 Eichler, Eduard: Das Justizwesen Bosniens und der Hercegovina. Wien: k. k. Hof- u.
Staatsdruckerei 1889, p. 9.

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210 Valerie Heuberger

Die Ein- und Ausreise der bosnischen Pilger wäre jedenfalls, so die behörd-
lichen Vorgaben aus Sarajevo, am besten bei von der Landesregierung vorge-
gebenen Grenzstationen zu vollziehen; aber auch hinsichtlich der Reiseroute
von und nach Mekka gab es Empfehlungen von der Landesregierung. Zur Be-
treuung der heimkehrenden Muslime wurde häufig ein in Bosnien tätiger Arzt,
zumeist ein Amts- oder Militärarzt, nach Dschidda geschickt, wo dieser die aus
Mekka eintreffenden bosnischen Muslime empfing, Unterkunft für sie suchte
bzw. vorbereitet hatte und auf deren Gesundheit achten sollte. So war jedenfalls
das administrative procedere vorgesehen, wenngleich aus Randbemerkungen,
beispielsweise aus den Berichten der die Pilger in Dschidda abholenden Ärz-
te hervorgeht, dass in Sarajevo er Amtsstuben entwickelte und dort durchaus
vernünftig klingende Vorgaben sich vor Ort – in einer Quarantänestation in
der Wüste Sinai oder während der Bahnfahrt durch den Balkan, von Istanbul
über Bulgarien und Serbien, wo an jeder der zu überquerenden Grenzen auf
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die Heimkehrer nicht nur verständliche Hygienemaßnahmen, sondern auch


Schikanen warteten – als nicht ganz so praktikabel erwiesen.
Ein Aspekt der Pilgerfahrt soll abschliessend nicht unerwähnt bleiben: Die
Beteiligung von Frauen an der Reise nach Mekka, die neben einer spirituellen
auch über eine soziale und gesellschaftliche Dimension verfügte und verfügt
und deren Narrative auch Aufschluss über die jeweilige muslimische sowie
nicht-muslimische Gesellschaft bieten. Frauen als Akteurinnen der Pilgerfahrt
fanden im Rahmen von Berichten über die Fahrt nach Mekka zumeist dann
Erwähnung, wenn sie Eliteschichten oder gar regierenden Herrscherhäusern
angehörten oder auch auto-biografische Berichte verfassten, was wieder durch-
wegs ein Elitenphänomen darstellte.58 Im Fall von bosnischen Pilgerinnen er-
fuhren diese in Berichten von österreichisch-ungarischen Militärärzten, die die
Pilger begleiteten, nur eine kurze Erwähnung, etwa als mitreisende Ehefrauen.
Dieser Frage näher nachzugehen ist für die Verfasserin ein zukünftig angestreb-
tes, aufgrund der Quellenlage aber sicher nicht so leicht zu beantwortendes
Forschungsdesiderat.

58 Sayeed, Anna: Women and the Hajj. In: Tagliacozzo, Eric/Toorawa, Shawkat M. (Hg.):
The Hajj. Pilgrimage in Islam. New York: Cambridge Univ. Press 2016, pp. 65–84, hier pp.
74 und 79.

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Der Savindan211

Der Savindan

Zur Konstruktion eines nationalen Gedenktages im imperialen


Kontext des habsburgischen Bosnien-Herzegowina1

Dennis Dierks (Jena)


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1. Whose story to believe?


Einer der Schwerpunkte der Bosanska vila, einer 1885 in Sarajevo gegründeten
Zeitschrift „für Unterhaltung, Belehrung und Literatur“,2 war in den ersten
Jahren ihres Erscheinens die Berichterstattung über die Feierlichkeiten zum To-
des- und Gedenktag des Heiligen Sava am 14. Januar des julianischen Kalenders.
Wie sich derartige Berichte gestalteten, verdeutlicht folgendes Beispiel aus dem
Jahr 1889 über die Sava-Feiern in Sarajevo:
Der Heilige Sava, den unsere serbische Schule bereits seit dreißig Jahren, als sie bei
uns eröffnet wurde, als ihren Patron feiert, wurde auch dieses Jahr gefeiert, wie es sich
für den wohlgefälligen serbischen Diener Gottes geziemt.
Nach dem Gottesdienst in der Kirche zog die Geistlichkeit mit dem hochwürdigen
Herrn Metropoliten Nikolajević an der Spitze gemeinsam mit zahlreichem Volk und
Schulkindern zu den Räumlichkeiten der Schule, wo sich bereits zuvor viele Menschen
versammelt hatten.
Nachdem Wasser und Koliva3 geweiht worden waren, hielt der serbische Lehrer Herr
Nikola T. Kašiković eine Rede voll von dichterischem Schwung, die, so glaube ich, in
dieser Art noch nie bei uns zu hören war. Konzis und in klaren Zügen skizzierte er

1 Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf der Dissertation des Autors:
Nationalgeschichte im multikulturellen Raum. Serbische Erinnerungskultur und kon-
kurrierende Geschichtsentwürfe im habsburgischen Bosnien-Herzegowina 1878–1914.
Göttingen: V&R unipress 2019 (= Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas 7).
2 Zur Geschichte dieser Zeitschrift (die deutsche Übersetzung ihres Titels lautet „Die bos-
nische Fee“) sowie als bibliografischer Überblick vgl. Đuričković, Dejan: Bosanska vila,
1885 – 1914. 3 vol. Sarajevo: Svjetlost 1975.
3 Gekochter Weizen, serbokroatisch als koljivo oder panahija bezeichnet. Koliva wird auch
zum orthodoxen Totenmahl gereicht.

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212 Dennis Dierks

unsere gesamte Vergangenheit und zeichnete ein lebhaftes Bild vom Ruhme Dušans,
den fünfhundert Jahren unseres Leids und unserer Knechtschaft sowie unserer Zwie-
tracht – deren Keim bis heute nicht erstickt worden ist. Er legte uns die serbische
Schule als das heiligste Gut ans Herz; in ihr werde dieses Gut [der historischen Tra-
dition, D.D.] bewahrt.
Danach wurden die Namen der Stifter verlesen, deren schöne Zahl auch dieses Jahr
gewachsen ist. Diese Schulfeier wurde mit der Kaiserhymne beendet.

Im Anschluss folgt dann eine noch ausführlichere Beschreibung einer abend-


lichen Feier mit Tanz, deren Festrede, die Besjeda, für die gesamte Veranstaltung
(und überhaupt Veranstaltungen dieser Art, dazu unten mehr) namensgebend
war:
Wer auch immer einmal im Theater war, kennt jenes Gefühl der Erregung und der
wohligen Ungeduld in der Erwartung, dass sich der Vorhang hebe.
Der Vorhang hebt sich, und vor unseren Augen steht ein zauberhaftes Bild – eine
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Gruppe schöner serbischer Sängerinnen; sie begeistern uns, unser Verstand stockt,
und das Herz steht still.
Es erklingt das Heilig-Sava-Lied ‚Wir jauchzen auf in Liebe‘, dann die ‚drei serbischen
Lieder‘ und die ‚Batschker Melodien‘, Kompositionen des Dr. Pauč, die der gemischte
Chor sehr harmonisch und gefällig darbrachte. Der Applaus im Publikum fand kein
Ende, insbesondere nach den heiteren Batschker Melodien.
Die Gäste begrüßte der Lehrer und Menschenführer Herr Stevo Kaluđerčić mit einer
schönen Rede, die meisterhaft die geheuchelte Vaterlandsliebe anprangerte, die bei
uns seit einiger Zeit grassiert.

Bei der weiteren Beschreibung der Programmpunkte findet insbesondere ein


Gusle4-Spieler lobende Erwähnung:
Als sich auf der Bühne der Gusle-Spieler Vukan Goljanin zeigte, wussten wir nicht,
was uns mehr begeisterte: seine hochgewachsene, heldenhafte Erscheinung oder die
malerische Volkstracht mit Silberschmuck auf der Brust. Er sang uns zur Gusle das
Lied ‚Ljuba Jašić‘. Das Publikum wollte ihn nicht von der Bühne lassen, und er musste
sich noch einmal zeigen.

Nach einer ausführlichen Würdigung einzelner Mitwirkender und hierbei ins-


besondere der musikalischen Darbietungen kommt der Autor schließlich zum
Ende seines Berichts:

4 Einsaitiges Streichinstrument, das traditionell den Vortrag mündlich tradierter Epik


begleitet. Es war der Sprachreformer und Traditionskundler Vuk Stefanović Karadžić
(1787–1864), der die „ahornhölzerne Gusle“ und den Guslaren, d. h. den Guslespieler zu
Emblemen einer über Jahrhunderte durch das ‚Volk‘ tradierten serbischen Nationalkultur
stilisierte.

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Der Savindan213

Wie schön es doch wäre, wenn diese Sänger und Sängerinnen diese wunderbare Ge-
meinschaft weiter aufrechterhielten, damit sich auch andere daran erfreuen können,
und sie sich dabei nicht nur auf die Heilig-Sava-Feiern beschränkten.
Wir gingen fehl, wenn wir hier vergäßen, die Verdienste des unermüdlichen Lehrers
Stevo Kaluđerčić zu würdigen, der sich diesmal wie auch in den Vorjahren größte
Mühe bei der Organisation der Feier gab.
Wir müssen noch erwähnen, dass auf dieser Feier alle Oberhäupter des Landes an-
wesend waren: Baron Johann Appel, General der Kavallerie, nebst der Baronin; Herr
Feldmarschall David nebst Gattin und Tochter, dem reizenden Fräulein Julka; der
stellvertretende Landeschef Baron Kutschera; Herr Verwaltungsdirektor Sauerwald
und der russische Konsul Bakunin. Es war uns eine besondere Freude, unter den Gäs-
ten den hervorragenden Mohammedaner und serbischen Schriftsteller Mehmed-beg
Kapetanović zu erblicken.
Soweit wir wissen, wird der Ertrag dieser Feier tausend Gulden übersteigen.5
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5 Bosanska vila, Nr. 2/1889, p. 31f. Im Original:


„Sveti Sava, kojega naša srpska škola još i od prije trideset godina od kako je u nas
otvorena, kao svoga zaštitnika slavi – proslavljen je i ove godine kako priliči velikom
srpskom i božijem ugodniku.
Poslije službe u crkvi krenu se sveštenstvo sa visokopr. mitropolitom gosp. Nikolajevićem
na čelu, sa mnogobrojnim narodom i školskom mladeži u dvoranu školsku, gdje se već i
prije bilo skupilo mnoštvo svijeta.
Pošto se osvještala vodica i koljivo, držao je srpski učitelj g. Nikola T. Kašiković
govor, pjesničkog zanosa, kakav, ne vjerujem, da se ikad kod nas čuo. U krat-
kim i jasnim crtama preletio svu našu prošlost, petovjekovne patnje i robo-
vanje naše, našu neslogu i razdor – kome još ni danas nije klica uginula. Sta-
vio nam je na srce kao najsvetiji amanet školu srpsku, u kojoj se taj amanet čuva.
Iza toga pročitana su imena fundatora, kojih je lijep broj i ove godine prirastao. Ta škol-
ska svečanost je završena carevkom. […]
Ko god je bio u pozorištu, znaće za onaj osjećaj zebnje i ugodnoga nestrpljenja očekujući
da se zastor digne.
Zavjesa se diže, a pred nama se stvori čarobna slika – kita lijepih Srpkinja pjevačica; one
nas zaniješe, te nam stade i srce i pamet.
Zabruja nam sad svetosavska pjesma ‚Uskliknimo s ljubavlju‘, a zatim ‚tri srpske pjesme‘
i ‚bački napjevi‘, kompozicija dra Paču-a, koje mješoviti zbor otpjeva vrlo skladno i umil-
jato. Pljeskanju u publici ne bijaše kraja, osobito poslije veselih bačkih napjeva.
Goste je pozdravio učitelj i likovođa g. Stevo Kaluđerčić, lijepim govorom, u kojem je
majstorski žigosao laživo rodoljublje, što se u nas ima neko vrijeme okojasilo.
[…]
Kad se na pozornicu ukaza guslar Vukan Goljanin, ne znadosmo čemu više da se divimo
ili njegovoj stasitoj pojavi junačkoj, ili živopisnom odijelu narodnom sa srmali tokama
na prsima. Odguslao nam je ‚Ljubu Jašića‘. Publika ga se ne htjede okaniti, nego se morao
opet pojaviti.
[…]
Kako bi bilo lijepo kada bi ovi pjevači i pjevačice i na dalje održali ovo krasno društvo, pa
se još drugi na njih ugledali, te se ne ograničavali samo na svetosavske besjede.

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214 Dennis Dierks

Die amtliche Sarajevoer Tageszeitung Sarajevski list6 beschränkte sich in ihrer


Berichterstattung auf die abendliche Feier und erzählte dort eine etwas andere
Geschichte:
Die Feier des Schulpatrons Heilig Sava schloss mit der Veranstaltung einer ‚Besjeda‘
mit Tanz in den Räumlichkeiten des Theaters ab. Die Besjeda beehrten durch ihren
Besuch: Ihre Exzellenzen, der Chef der Landesregierung Baron Appel und die Baronin
Appel, Feldmarschall Ritter David nebst Gattin und Tochter, der Civiladlatus Baron
Kutschera und der Verwaltungsdirektor Ritter Sauerwald. Alle Logen und Sitze waren
ausverkauft, auch die Stehplätze und die Gaststätte selbst waren voller Zuhörer, wenn
auch der Zahl nach weniger als im letzten Jahr. Das Programm wurde zur allgemeinen
Befriedigung ausgeführt. Der Lehrer der orthodoxen Grundschule Kaluđerčić begrüß-
te die Gäste mit einer ein wenig langatmigen Rede, in die er eine loyale Ovation für
Seine Majestät einflocht, was mit Jubelrufen und dem Spielen der Kaiserhymne be-
grüßt wurde, der alle Anwesenden stehend lauschten. Der Gesang eines gemischten
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Chors aus einheimischen Frauen, Fräulein und Angehörigen der männlichen Jugend
machte einen angenehmen Eindruck auf die Zuhörer und fand verdienten Applaus.
Ebenfalls Lob verdient das gut ausgeführte Lustspiel ‚Am Heiligabend‘. Im zweiten
Teil der Soirée wurde heiter bis 3 Uhr morgens getanzt. Wie wir hören, war der ma-
terielle Gewinn der Besjeda bedeutend.7

Ogriješili bi se, ako bi ovdje zaboravili istaknuti zasluge neumornoga učitelja g. Steve
Kaluđerčića, koji je svake pa i ove godine najviše truda oko besjede uložio.
Valja nam još spomenuti, da su na besjedi bili svi zemaljski glavari: baron Jovan Apel,
đeneral kavalerije sa baronicom; podmaršal g. David, sa suprugom i ćerkom draženom
gospođicom Julkom; zemaljski poglavnik baron Kučera; admin. direktor g. Sauervald i
ruski konzul Bakunin. Bijaše nam vrlo drago kad među gostima spazismo odličnoga Mu-
hamedovca i književnika srpskoga Mehmeda bega Kapetanovića [Hervorhebungen im
Original, D.D.].“
6 Zur Geschichte des Sarajevski list Kruševac, Todor: Bosansko-hercegovački listovi u XIX
veku. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 85–93.
7 Sarajevski list, Nr. 12, 30.01./18.01.1889, p. 2. Im Original:
„Svetkovanje školskog patrona sv. Save zaključilo se priregjenjem ‚besjede‘ s igrankom
u dvorani pozorišta. Besjedu su počestvovali svojim posjetama Njih. Preuzvišenosti pog-
lavar zemlje baron i baronica A p p e l , podmaršal vitez D a v i d sa suprugom i šćeri,
gragj. doglavnik baron K u t s c h e r a i adm. upravitelj vitez S a u e r w a l d . Sve lože i
sjedišta dolje bijahu raspodana, a u mjestu za stojanje i u samoj gostionici bilo je puno
slušalaca i ako manje na broju no o [sic!] lanjskoj besjedi. Program je izveden na opšte za-
dovoljstvo. Učitelj prav. osn. škole g. Kalugjerčić pozdravio je goste podužom besjedom, u
koju je upleo lojalnu ovaciju za Nj. Veličanstvo, što se pozdravilo poklicima i odsviranom
carevkom, koju su svi prisutni stojeći saslušali. Pjevanje mješovitog zbora od domaćih
gospogja, g o s p o g j i c a i članova muške mladeži učinilo je prijatna utiska na slušaoce
i izazvalo zaslušeno pljeskanje. Isto zaslužuje pohvalu i dobro odigrani šaljivi komad ‚Na
badnji dan‘. U drugom dijelu zabave veselo se igralo do 3 sah. pred zoru. Kako čujemo
biće i materijlan dobitak od besjede znatan.“ [Hervorhebungen im Original]

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Der Savindan215

Beide Berichte könnten unterschiedlicher kaum sein: So entwirft die Bosanska


vila das Bild einer klar als solche erkennbaren nationalen Feier, die zentrale
Institutionen und Akteure des national-serbischen Diskurses miteinander in
Beziehung setzt: die serbisch-orthodoxe Kirche und ihren Klerus, hier reprä-
sentiert durch den in Sarajevo residierenden Metropoliten von Dabar-Bosna;8
die explizit als serbisch markierte Schule, als deren Repräsentanten zwei als
begabte Redner und rührige Organisatoren gewürdigte Lehrer auftreten; und
schließlich das Volk, dessen enthusiastische Teilnahme der Sava-Feier überhaupt
erst ihren wahrhaft nationalen Charakter zu verleihen scheint. Besonders wird
dabei die Teilnahme der Jugend hervorgehoben, die hier nicht nur die Zukunfts-
hoffnung, sondern auch die ästhetischen Qualitäten der Nation verkörpert: Die
serbischen Sängerinnen sind von zauberhafter Schönheit, der vom Publikum ge-
feierte Gusle-Spieler hochgewachsen und von heldenhafter Erscheinung, womit
in beiden Fällen die ästhetischen Konturen national grundierter Geschlechter-
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bilder gezeichnet werden. Die Sava-Feier transportiert und reproduziert zudem,


so scheint es, erfolgreich und nachhaltig Denkfiguren und emotional codierte
Bilder der nationalen serbischen Meistererzählung: das Narrativ eines golde-
nen Zeitalters mittelalterlicher Eigenstaatlichkeit, hier symbolisiert durch den
ruhmvollen Zaren Dušan (der sonst meist mit dem Epitheton silni, d. h. „gewal-
tig, stark“ versehen wird) sowie die Leidensgeschichte einer fünfhundert Jahre
währenden osmanischen Knechtschaft, als deren Ursache die durch Zwietracht
verursachte ‚Katastrophe‘ der Kosovoschlacht 1389 angedeutet wird.9 Andere
Kontexte, die sich nicht als serbisch deuten und markieren lassen, finden nur
am Rande Erwähnung: die Kaiserhymne, die carevka, die am Ende der Schulfeier
gespielt wurde, und die Anwesenheit führender Repräsentanten der habsburgi-
schen Landesregierung bei der abendlichen Besjeda. Im Zusammenhang dieses
Berichts liest sich deren Teilnahme jedoch eher als Reverenz gegenüber den
serbischen Gastgebern und ihrem Nationalheiligen Sava. Ein Lesepublikum, das

8 Es war dies der seit 1886 amtierende Metropolit Đorđe (Nikolajević) (1807–1896).
9 Zur Genese und Struktur dieser nationalen Meistererzählung und des hier zentralen Ko-
sovomythos im 19. Jahrhundert s. u. a. Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.-21.
Jh. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2007, pp. 97–115; Höpken, Wolfgang: Zwischen natio-
naler Sinnstiftung, Jugoslawismus und „Erinnerungschaos“: Geschichtswissenschaft und
Geschichtskultur in Serbien im 19. und 20. Jahrhundert. In: Lukan, Walter / Trgovčević,
Ljubinka / Vukčević, Dragan (Hg.): Serbien und Montenegro. Raum und Bevölkerung
– Geschichte – Sprache und Literatur – Kultur – Politik – Gesellschaft – Wirtschaft
– Recht. Wien: LIT 2005 (= Österreichische Osthefte 47 [2005]), pp. 345–391, hier pp.
345–358 sowie Čolović, Ivan: Smrt na Kosovu polju. Istorija kosovskog mita. Belgrad:
Biblioteka XX vek 2016. Zum nationalgeschichtlichen Motiv des Leids, hier bezogen auf
Bosnien, zudem Hajdarpašic, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination
in the Balkans, 1840–1914. Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2015, pp. 52–89.

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216 Dennis Dierks

angesichts des habsburgischen Zensurregimes in der Dechiffrierung äsopischer


Sprache geschult war, könnte die im Text angesprochene Entlarvung „geheu-
chelter Vaterlandsliebe“ überdies nicht nur als mutiges patriotisches Statement,
sondern auch als Aufforderung zur Distanzwahrung gegenüber der Okkupa-
tionsmacht verstanden haben.
Der nicht zuletzt dem Charakter einer Amtszeitung geschuldete nüchterne
Bericht im Sarajevski list hingegen lässt ein gänzlich anderes Bild entstehen: Das
der Feier eines religiösen Schulpatrons, deren Ausführung Anerkennung ver-
dient, die im Vorjahr allerdings auch schon einmal besser besucht war und deren
Eröffnung durch einen rhetorisch mäßig begabten Grundschullehrer keinen
wirklichen Glanzpunkt setzte. Tatsächliche Bedeutung habe ihr, so suggeriert
der Text, erst die Teilnahme von Repräsentanten der imperialen Macht verlie-
hen. Die Ehrerweisung und Loyalitätsbekundung gegenüber der Dynastie war
diesem Bericht zufolge dann auch die zentrale Botschaft, die von dieser Feier
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ausging: So werden die „loyale Ovation für Seine Majestät“, die Jubelrufe der
Anwesenden, die ebenfalls dem Herrscher gelten, sowie das von allen Anwesen-
den stehend begleitete Spielen der Kaiserhymne in den Mittelpunkt des Textes
gerückt. All dies findet in dem Bericht der Bosanska vila über die abendliche
Feier keine Erwähnung.
Obwohl hier über ein und dasselbe Ereignis berichtet wird, scheinen die bei-
den Berichte somit auch aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive
zwei durchaus unterschiedliche Lesarten nahezulegen: Im ersten Bericht stellt
sich die abendliche Feier als eine Veranstaltung dar, mit der sich eine natio-
nale Elite an eine breitere Bevölkerung wandte, um zur Popularisierung und
Internalisierung eines nationalen Geschichtsbildes beizutragen. Ansätzen der
klassischen Nationalismusforschung folgend, wäre die hier beschriebene Feier
zeitlich irgendwo in Phase B des Hroch’schen Phasenmodells einzuordnen.10
Im Lichte jüngerer Arbeiten, die die „kulturelle Produktion“ von Nationalismus
untersuchen, sticht die emphatische Adressierung und gleichzeitige Inpflicht-
nahme des ‘Volkes’ ins Auge, die an anderer Stelle als für den Nationalismus
typischer perpetuierter „innerer Kolonialimus“ beschrieben wurde.11 Der zwei-
te Bericht hingegen lässt die Besjeda als eine Spielart der imperialen Feiern
erscheinen, deren herrschaftsstabilisierende Funktion die neuere Imperienge-

10 Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern
Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen
Gruppen. Prag: Univ. Karlova 1968.
11 Hajdarpašić 2015, p. 4f.; vgl. dazu auch Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The
Habsburg ‘Civilizing Mission ’ in Bosnia, 1878–1914 . Oxford: Oxford Univ. Press 2007, p.
VIII f.

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Der Savindan217

schichte überzeugend herausgearbeitet hat.12 Die hier beschriebene Besjeda fällt


dabei in eine Epoche, in der sich, wie unlängst festgestellt wurde, „die Bürger
Österreich-Ungarns auf eine innigere und intensivere Weise als jemals zuvor in
ihrem Alltagsleben mit dem Reich, in dem sie beheimatet waren, befassten“, wo-
bei eben solche imperiale Feiern eine bedeutende Rolle spielten.13 War die hier
beschriebene Besjeda ihrem Anlass nach zwar anders als die Kaisergeburtstage,
Inspektionsreisen und Regierungsjubiläen primär auch nicht auf die Person des
Monarchen ausgerichtet, so scheinen die hier praktizierten ritualisierten Loyali-
tätsbekundungen gegenüber dem Kaiser doch dazu geeignet gewesen zu sein,
die Institution der Monarchie symbolisch im Alltag zu verankern.
Dass ein und dasselbe Ereignis zwei derartig unterschiedliche Lesarten zu-
lässt, ist ebenso erklärungsbedürftig wie aufschlussreich. Die ausgesendeten
Botschaften – das machen die beiden zitierten Berichte deutlich – blieben nicht
unwidersprochen. Dass hier um Deutungshoheiten gerungen wurde, lässt auch
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die sprachliche Gestaltung der beiden Texte erahnen: So fällt in der Eingangs-
passage des ersten Berichts die dichte Setzung des Attributs „serbisch“ auf: „ser-
bische Schule“ (zweimal), „serbischer Lehrer“ und in Bezug auf den Heiligen
Sava: der „wohlgefällige[e] serbisch[e] Diener Gottes“.
Vergleiche mit anderen derartigen Berichten in der Bosanska vila und dem Sa-
rajevski list verdeutlichen zudem, dass es sich beim Vermelden der erfolgreichen
Durchführung der Savindanfeier als Nationalfeier ebenso wie bei der Beschrei-
bung von Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser um sprachlich einheit-
lich strukturierte Topoi handelt. In Bezug auf Bosanska vila verweist das ganz
prinzipiell auf Muster in den Rhetoriken nationaler Bewegungen. Dass dabei
die emphatische Beschreibung des nationalen Kampfes und das Herbeischrei-
ben seines Erfolges wenig mit der tatsächlichen Lage vor Ort zu tun hatten,
ja dass die Lautstärke nationaler Propaganda oft in einem antiproportionalen
Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Erfolg stand, hat bereits Pieter Judson für die
ʻSprachgrenzenʼ des habsburgischen Südböhmens und der Steiermark aufzeigen
können.14 Es liegt die Vermutung nahe, dass sich dies bei der Beschreibung von
Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser ähnlich verhalten könnte, wie
sie zum Beispiel in Sarajevski list zu finden sind.

12 Hier grundlegend: Unowsky, Daniel L.: The Pomp and Politics of Patriotism. West Lafa-
yette (Ind.): Purdue Univ. Press 2005. Nicht diesem Paradigma folgend, aber auf breiter
Quellenbasis zu einem bosnischen Beispiel: Šehić, Zijad: Vjerski velikostojnici u BiH pri-
likom posjete cara Franje Josipa 1910. godine. In: Godišnjak Bosnjačke zajednice kulture
‚Preporod‘ 1 (2009), pp. 203–216.
13 Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums, 1740–1918. München:
C.H.Beck 2017, p. 425.
14 Judson, Pieter M.: Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontiers of Impe-
rial Austria. Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Press 2006.

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218 Dennis Dierks

Diese ersten Befunde sollen im Folgenden breiter kontextualisiert werden.


Am Beispiel der Etablierung des Savindans als nationaler Gedenktag in den
letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhundert soll untersucht werden, wie im
habsburgischen Bosnien-Herzegowina Loyalitäten15 ausgehandelt und situativ
modifiziert wurden, wie sie sich überlagerten, welche Reichweiten sie hatten
und welche Rolle kommunikative Praktiken, insbesondere die Berichterstattung
in den Medien dabei spielten.
Um diese Prozesse und Strategien nachvollziehen zu können, soll zunächst
eine Annäherung an die Vieldeutigkeit der Erinnerungsfigur des Heiligen
Sava versucht werden; hierzu dient eine Skizzierung der svetosavischen Er-
innerungsgeschichte vor 1878. Im Anschluss wird dann ausführlicher auf die
Geschichtspolitik der k. u. k. Landesregierung eingegangen und diskutiert, wie
diese auf die Versuche serbischer Bildungseliten reagierte, ab 1884 den Savindan
als nationalen serbischen Gedenktag in Bosnien-Herzegowina zu etablieren.
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Abschließend sollen dann kommunikative Strategien untersucht werden, die


auf eine Normierung der Savindanfeiern abzielten, vor allen Dingen aber auch
eine nationale Lesart dieser Feiern absichern sollten.

1. Der Heilige Sava: Eine Archäologie der Erinnerung


Die sich in den beiden eingangs zitierten Berichten andeutende Mehrdeutig-
keit der Figur des Heiligen Sava ist das Ergebnis einer Überlagerung unter-
schiedlicher Bedeutungsebenen und Zuschreibungen in der Erinnerung an ihn.
Die älteste Schicht bildet dabei die kirchliche Memoria, die ihren Ursprung
im 13. Jahrhundert hat. Sie bezieht sich auf die historische Person des Rastko,
den jüngsten Sohn des Großžupans Stefan Nemanja. Rastkos Bruder war Ste-
fan Nemanjić, der 1217 zum ersten König von Serbien gekrönt wurde. Unter
nicht mehr rekonstruierbaren Umständen zog sich um 1192 Rastko auf den Berg
Athos zurück, wo er den Namen Sava annahm und ein monastisches Leben
führte und gemeinsam mit seinem Vater, der sich einige Jahre später ebenfalls
auf den Mönchsberg begab, das Kloster Hilandar wiedererrichtete, das auch
in der Folgezeit ein wichtiger Bezugspunkt serbisch-orthodoxer Spiritualität
bleiben sollte. Nach dem Tod seines Vaters war er an der Überführung der Ge-
beine beteiligt und spielte eine Schlüsselrolle bei dessen Kanonisierung als Hl.
Simeon, womit ganz allgemein eine Sakralisierung der Herrschaft der Neman-

15 Zum Forschungskonzept der Loyalität im imperialen Kontext, insbesondere hinsichtlich


der Frage des Zusammenwirkens verschiedener Loyalitätsmuster vgl. Grandits, Hannes:
Herrschaft und Loyalität in der spätosmanischen Gesellschaft. Das Beispiel der multi-
konfessionellen Herzegowina. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2008 (= Zur Kunde Südost-
europas II/37), p. 15ff.

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Der Savindan219

jiden-Dynastie einherging. Später erreichte er durch Verhandlungen am ost-


römischen Hof von Nikäa die Autokephalie der Kirche im Reich seines Bruders,
zu deren Erzbischof er 1219 geweiht wurde. 1235 oder 1236 starb er auf der
Rückreise aus Palästina in Tărnovo.16
Wie auch sein Vater und sein Bruder wurde Sava bald nach seinem Tod hei-
liggesprochen. Zum Zentrum der Memoria des heiligen Sava entwickelte sich
das Kloster Mileševa im heutigen Sandschak, wohin seine Gebeine 1237 über-
führt wurden. Der lokale Kult um Sava, der teilweise auch mit synkretistischen
Praktiken verbunden war – auch Muslime sollen ihn verehrt haben – erlebte
um 1595 einen Einschnitt, als der osmanische Statthalter Sinan Pascha die Ge-
beine Savas nach Belgrad transportieren ließ, um sie dort auf dem Berg Vračar
verbrennen zu lassen: ein Ereignis, das in den kirchlichen Memorialdiskurs
eingehen sollte. Neben der traditionellen Rolle Savas als wundertätiger Heiliger,
dessen Fürbitte für das eigene Seelenheil ersucht wurde, wurde hier seine Be-
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deutung als „erster serbischer Erzbischof“ betont, doch wurde ihm gegenüber
den übrigen Heiligen der Nemanjiden-Dynastie keine hervorgehobene Rolle
zugeschrieben.17
Dies sollte sich erst im späten 18. Jahrhundert ändern. Auslöser dieser Ent-
wicklung waren die theresianisch-josephinischen Kirchenreformen, die sich
auch auf die orthodoxe Bevölkerung im historischen Südungarn auswirkte. Die
Rationalisierungstendenzen, das Zurückdrängen lokaler Heiligenkulte sowie
die Reduzierung der Zahl der Feiertage führten dazu, dass seitens des Habsbur-
gerstaates die Verehrung von Landespatronen forciert wurde. So wurde analog
zur Entwicklung in den katholischen Ländern der Habsburgermonarchie auch
für die orthodoxen Serben ein Landespatron installiert; der Heilige Sava wurde
nach einem entsprechenden Synodalbeschluss schließlich 1775 „durch Erlass
Maria Theresias als durch ganztätige Arbeitsruhe zu feiernder Patron der Ser-
ben im Habsburgerreich.“18 Die Verehrung anderer Angehöriger der Nemanji-
den-Dynastie trat demgegenüber in den Hintergrund.

16 Vgl. hierzu wie zu dem Folgenden Rohdewald, Stefan: Art. Sava. In: Bahlcke, Joachim /
Ders. / Wünsch, Thomas (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstituti-
on und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Berlin: De Gruyter
2013, pp. 592–598 und Kämpfer, Frank: Art. Sava I. In: Bernath, Mathias / Nehring, Karl
(Hg.): Biografisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Band IV. München: Olden-
bourg 1981, pp. 84–87. Daneben zum Leben Savas und den Ursprüngen seiner Vereh-
rung ausführlich Rohdewald, Stefan: Götter der Nationen. Religiöse Erinnerungsfiguren
in Serbien, Bulgarien und Makedonien bis 1944. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2014, pp.
95–110.
17 Rohdewald 2014, p. 110ff.
18 Kämpfer 1981, p. 87. Vgl. außerdem Rohdewald 2014, p. 160f.

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220 Dennis Dierks

Diese auf die habsburgische ‘Fremdherrschaft’ zurückgehende Entwicklung


war es erst, die den Weg zu einer bürgerlichen Aneignung Savas eröffnete, die
wiederum auf kirchliche Memorialpraktiken Rückwirkungen hatte: Im Zuge
einer Neukodierung und Neukontextualisierung des Sava-Gedenkens in der
Aufklärung und Romantik verschob sich die Rolle Savas nun deutlich hin zu der
eines Nationalheiligen. Die von ihm ausgehandelte Autokephalie wurde jetzt
retrospektiv als Gründung einer serbischen Nationalkirche interpretiert, die
als Bollwerk gegen gewaltsame Vereinnahmungsversuche der römisch-katho-
lischen Kirche und als Hort nationaler Kultur in den Jahren der ʻKnechtschaftʼ
unter osmanischer Herrschaft gedient habe, auf die auch der eingangs zitierte
erste Bericht über die Sarajevoer Savindan-Feier 1889 anspielt.
Gleichzeitig wurde der Heilige Sava zunehmend mit der Idee nationaler
Bildung identifiziert, ein Bild, das insbesondere von den Förderern und Mit-
arbeitern der 1826 in der Habsburgermonarchie gegründeten Kulturinstitution
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Matica srpska popularisiert wurde. Diese ebenfalls auf anachronistischen Pro-


jektionen beruhende Vorstellung von Sava als dem ersten prosv(j)etitelj, dem
ersten Aufklärer des serbischen Volkes, wurde insbesondere im schulischen
Kontext kultiviert. In den 1820er Jahren wurde der Sava-Tag auch im auto-
nomen Fürstentum Serbien zum Feiertag und zwei Jahrzehnte später Sava dort
offiziell zum Schulpatron erklärt.19
Die Vorstellung, er habe seinen Bruder Stefan gekrönt, ließ Sava schließlich
als einen, wenn nicht den Begründer der serbischen nationalen Staatlichkeit
erscheinen, womit er um die Mitte des 19. Jahrhundert zu einer nationalen Erin-
nerungsfigur wurde, in der sich die Idee des Nationalstaates, der Nationalkirche
und der nationalen Bildung miteinander verbanden.20
Gleichzeitig erlaubte die Vielschichtigkeit der Erinnerungsfigur Sava auch
potenziell weiterhin andere Lesarten: Eine Fokussierung auf seine heilsabsi-
chernde Funktion als Heiliger oder auf seine Rolle als Schulpatron lag zumin-
dest im Bereich des Möglichen. Es wären dies Interpretationen und Anver-
wandlungen, die sich auch in den Kontext einer imperialen Geschichts- und
Identitätspolitik integrieren ließen. Dies sollte für das Handeln der Landesre-
gierung in den 1880er und 1890er Jahren bedeutsam werden.

19 Vgl. dazu, auch mit Hinweis auf abweichende Datierungen in der Literatur, Grunert,
Heiner: Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herze-
gowina 1878–1918. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2016 (=Religiöse Kulturen im
Europa der Neuzeit 8), p. 123.
20 Rohdewald 2014, pp. 162–194.

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Der Savindan221

2. Der Transfer des Erinnerungsortes ins habsburgische Bosnien-


Herzegowina

Dass auch im spätosmanischen Bosnien und der Herzegowina in den neu er-
richteten serbischen Konfessionsschulen der Heilige Sava als Schulpatron ver-
ehrt wurde, geht bereits aus dem eingangs angeführten Bericht der Bosanska
vila hervor. Doch erst in österreichisch-ungarischer Zeit sollte der Savindan die
Gestalt eines nationalen Gedenktages annehmen, der entsprechend inszeniert
wurde.
Eine Schlüsselrolle spielte die Bosanska vila. Es handelte sich hierbei um eine
Kulturzeitschrift, die mit einer dezidiert nationalpolitischen Zielsetzung ge-
gründet wurde, diese angesichts des habsburgischen Zensurregimes aber nur
eingeschränkt offen artikulieren konnte,21 da die Landesregierung die Erteilung
einer Druckkonzession 1885 ausdrücklich an die Bedingung knüpfte, dass „nur
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Aufsätze unterhaltenden und belehrenden Inhalts“, nicht aber „Aufsätze politi-


schen Inhalts“ abgedruckt werden sollten.22 Dennoch nahmen die Herausgeber
für sich in Anspruch, der von ihnen publizierten Zeitschrift „einen bosnisch-ser-
bischen Typus zu verleihen“ und „daneben nicht zu vergessen, dass es die Ge-
meinschaft und Einheit mit dem übrigen Serbentum aufrechtzuerhalten gilt.“23
Unter den Rahmenbedingungen von „Konzessionszwang und Präventivzensur“
verlagerten sich derartige politische Diskussionen in den vermeintlich unpoli-
tischen Bereich der Kultur.24 Trotz aller Steuerungsversuche der Landesregie-
rung hatte die Bosanska vila somit eine Agenda, die ein eminentes politisches
Potential in sich barg, suchte sie ihre identitären Bezugspunkte doch außerhalb

21 Zur Bosanska vila in dieser Zeit vgl. Đuričković, Dejan: Bosanska vila, 1885–1914. Vol. 1
Sarajevo: Svjetlost 1975, pp. 9–59; Dujmović, Sonja: Između tradicije i modernizacije –
„Bosanska vila” u prvoj godini izlaženja (1886) In: Prilozi Instituta za istoriju u Sarajevu 35
(2006), pp. 45–60; Vervaet, Stijn: Centar i periferija u Austro-Ugarskoj. Dinamika izgrad-
nje nacionalnih identiteta u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine na primjeru
književnih tekstova. Sarajevo: Synopsis 2013, pp. 130–161.
22 So der entsprechende Bericht der Landesregierung an das gemeinsame Finanzministeri-
um in Wien. Abgedruckt in der Quellenedition von Besarović, Risto: Kultura i umjetnost
u Bosni i Hercegovini pod austrogarskom upravom. Sarajevo: Arhiv Bosne i Hercegovine
1968, p. 65. Diese Bestimmung wurde 1887 noch einmal wiederholt und präzisiert, wenn
es in einem Schreiben der Landesregierung an den Redakteur Kašiković heißt: „Politische
und konfessionelle Fragen darf die Bosanska Vila in keiner Form erörtern.“ („Politička i
vjerozakonska pitanja ‚Bos. Vila‘ ne smije raspravljati ni u kakvom obliku.“- ibid., p. 68).
23 Poziv na preplatu. In: Bosanska vila, Nr. 24/1886, pp. 369–370, hier p. 370.
24 Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche
(1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg
1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 86. Vgl. außerdem Okey 2007, p. 83.

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222 Dennis Dierks

Bosnien-Herzegowinas und – in Bezug auf das „Serbentum“ in den unabhängi-


gen Staaten Serbien und Montenegro auch außerhalb der Monarchie.
Eine Gelegenheit, derartige Einheitsvorstellung des ʻSerbentumsʼ innerhalb
der von der Landesregierung vorgegebenen Freiräume zu artikulieren, bot
die Berichterstattung über die Savindan-Feiern. Anhand dieser Berichte kann
gleichsam in Echtzeit die nationsbildende Erfindung, Normierung und Popu-
larisierung von Tradition nachvollzogen werden. Eine zentrale Rolle spielten
hierbei die Redakteure der Bosanska vila, vier junge Lehrer in Sarajevo, Nikola
Kašiković (1861–1927), Božidar Nikašinović (geb. 1863), Nikola Šumonja (1865–
1927) und Stevo Kaluđerčić (1864–1948). Sie hatten alle orthodoxe Lehrersemi-
nare in der Vojvodina und Kroatien-Slawonien besucht und stammten bis auf
den Bosnier Kašiković auch aus Transleithanien.25 Sie waren somit mit der seit
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten svetosavischen Erinnerungs-
kultur mit ihrer bürgerlichen, bildungsorientierten und nationalen Ausrichtung
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aus eigener Anschauung vertraut und an ihrem Transfer nach Bosnien-Herze-


gowina maßgeblich beteiligt.
Eine Scharnierfunktion kam in diesem Transferprozess den kulturellen Zen-
tren Sarajevo und ab 1887 auch Mostar zu, über deren Savindanfeiern ausführ-
lich berichtet wurde. Die Zelebrierung der Liturgie, die Predigt über den Heili-
gen Sava, die Prozession zur örtlichen serbisch-orthodoxen Schule, bei der die
Ikone Savas und die serbische Trikolore als Kirchenfahne mitgeführt wurden,
die dort erfolgenden Weihe- und Segnungshandlungen und Verteilung von Ko-
liva, die sich anschließende Schulrede, das Absingen der Sava-Hymne durch
Schulkinder sowie die abendliche Besjeda wurden dabei als tragende Elemente
und wünschenswerte Bestandteile vorgestellt.26 Die Einführung und Nachah-
mung solcher Feiern in der Provinz wurde entsprechend ausführlich kommen-
tiert. Besonders positiv wurde dabei hervorgehoben, wenn solche Feiern trotz
erkennbarer infrastruktureller und materieller Einschränkungen durchgeführt
wurden. So heißt es 1887 in einem Text über die Savindan-Feier im westbosni-
schen Bihać, der für diese Form der belehrenden Berichterstattung typisch ist:
Wie man sehen kann, wird diese Feier ohne einen Gesangsverein und Notenblätter für
Lieder durchgeführt werden, und das ist ein Zeichen dafür, dass sich alles umsetzen
lässt, wenn nur der Wille dazu vorhanden ist. Solche Feiern ließen sich mit ein wenig
Mühe in jedem Ort durchführen, in dem Serben leben und in dem es serbische Kinder
und eine serbische Schule gibt; damit kann man auch zeigen, dass es uns nicht um
Formalitäten geht, sondern um ein aufrichtige Würdigung des serbischen Aufklärers
Sava. Wenn überall das svetosavische Lied über den heiligen Sava (sic!) angestimmt

25 Zu ihren Biografien vgl. Đuričković, Vol. 1, 1975, pp. 29–49.


26 Zur dieser Entwicklung am Beispiel der Herzegowina vgl. Grunert 2016, pp. 125–134.

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Der Savindan223

wird, wenn wir uns wenigstens einmal im Jahr versammeln und uns einig und brüder-
lich erinnern, wer wir sind und wo wir sind, dann wird sich bei uns auch das serbi-
sche Bewusstsein entwickeln und stärker werden, ohne Furcht, dass es irgendetwas
ersticken könnte.27

Opferbereitschaft wurde auch den Besucherinnen und Besuchern der abend-


lichen Besjeda abverlangt, war doch eines ihrer zentralen Ziele, Geld für das
serbisch-konfessionelle Schulwesen zu sammeln. Die finanzielle Unterstützung
bestehender serbisch-orthodoxer Elementarschulen, mehr noch aber die Samm-
lung von Geldern für die Errichtung neuer Konfessionsschulen stand dabei in
einem latenten Spannungsverhältnis zu den bildungspolitischen Zielen der Lan-
desregierung, die zwar nicht offensiv gegen serbische Schulen vorging, diese
aber als mögliche Vermittlungsinstanzen national-emanzipativen Gedanken-
gutes kritisch beäugte und angesichts ihrer prekären finanziellen Lage und ver-
gleichsweise schlechten Ausstattung die Hoffnung hegte, dass sie auf Dauer
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dem staatlichen Konkurrenzangebot der seit der Okkupation eingerichteten


gemischtkonfessionellen Gemeindeschulen nicht standhalten könnten und suk-
zessive geschlossen würden.28
Darüber hinaus boten die Besjede auch performativ Raum zur Inszenierung
der serbischen Nation und ihrer Geschichte. Zum nicht zuletzt durch die Be-
richterstattung der Bosanska vila normierten Standard dieser Feiern gehörte die
Eröffnung durch die Sava-Hymne, auf die die für dieses Veranstaltungsformat
namensgebende Rede folgte, die meist ein örtlicher Honoratior hielt. An die
Rede schlossen sich dann für gewöhnlich der Vortrag patriotischer Lieder sowie
die Rezitation von Heldenepik und neuerer, ebenfalls vaterlandsverherrlichen-
der Dichtung an. Ausführende waren dabei häufig auch Schülerinnen und Schü-
ler. Bevor man die Veranstaltung mit Tanz und Gesang ausklingen ließ, kam es
in größeren Städten wie Sarajevo oder Mostar zur Aufführung von Theaterstü-
cken (oder Szenen daraus), wobei hier mit der Zeit zunehmend Historiendramen
ausgewählt wurden, die das serbische Mittelalter thematisierten. Damit wurden

27 Bosanska vila, Nr. 2/1887, p. 32. Im Original:


„Kao što se vidi, ova će se besjeda izvesti i bez pjevačkoga društva i bez notalnih pjesama,
a to je znak, da se sve može izvesti samo kad je volja tu. Takove besjede mogle bi se s
malo truda izvesti u svakom mjestu, gdje Srbi žive, a gdje ima srpske djece i škole; time
će se pokazati, da nam nije stalo samo do formalne strane, nego do iskrenog proslav-
ljanja srpskoga prosvjetitelja Save. Kad se bude o sv. Savi svuda razlijegala svetosavska
pjesma – kad se budemo bar po jednom u godini dana sastajali i složno bratski sjetili ko
smo i gdje smo, – razviće se i ojačaće u nama srpska svijest, bez straha, da će je išta moći
ugušiti.“
28 Vgl. dazu Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini (1882–1903), Sarajevo:
Veselin Masleša 1987, pp. 174–186 und Okey 2007, p. 76f.

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224 Dennis Dierks

performativ zentrale Momente der nationalen Meistererzählung visualisiert.


Besonderer Beliebtheit erfreute sich dabei das Stück „Kreuz und Krone“ (Krst
i kruna) des vojvodinischen Schriftstellers Jovan Subotić (1817–1886), das eine
dramatische Episode am Vorabend der Krönung Stefan Nemanjas thematisiert,
in der die Brüder Stefan und Sava als entschiedene Verfechter der Unabhän-
gigkeit Serbiens und seiner orthodoxen Kirche auftreten.29 Die Schlussszene
bildet dann die Krönungszeremonie. In den Berichten der Bosanska vila wurden
solche Visualisierungen ausführlich nacherzählt, was zu einer weiteren Popula-
risierung und Internalisierung der idealisierenden Vorstellung vom serbischen
Mittelalter als nationales goldenes Zeitalter beitrug.
Die Zahl der Savindan-Feierlichkeiten nahm seit der zweiten Hälfte der
1880er Jahre kontinuierlich zu. So zählt die Bosanska vila zu Beginn der ser-
bischen Autonomiebewegung im Jahr 1895 31 Feiern.30 Dies scheint auf eine
echte Erfolgsgeschichte hinzuweisen.
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3. Steuerungsversuche der Landesregierung


Die hier skizzierte Etablierung des Savindans als nationaler Gedenktag erfolg-
te unter der Aufsicht der österreichisch-ungarischen Behörden und war nur
innerhalb der von ihnen gewährten Freiräume möglich. Die Haltung der Lan-
desregierung war dabei durchaus ambivalent. Hatte insbesondere in der Ära
Kállay die Bekämpfung jedweder nationaler Agitation, die die staatsrechtliche
Stellung Bosnien-Herzegowinas in Frage zu stellen geeignet war, unhinterfragte
Priorität, so wurden politisch unverdächtig erscheinende Manifestationen von
Religiosität im öffentlichen Raum toleriert, ja es bestand die Hoffnung, durch
eine ostentativ gewährte Toleranz in Fragen des Kultus die Loyalität gegenüber
der habsburgischen Herrschaft und ihren Repräsentanten zu fördern. Dies ent-
sprach dem Ansatz einer imperialen Integrationspolitik, wie sie insbesondere zu
Beginn der Ära Kállay ab 1882 praktiziert wurde. Sie wandte sich ausdrücklich
auch an die orthodoxe Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas und ihre Eliten.
Hier spielten gleichermaßen seit dem frühen 18. Jahrhundert in der Habsburger-
monarchie gesammelte Erfahrungen im Umgang mit der serbisch-orthodoxen
Kirche, die allgemein im Rahmen imperialer Herrschaft angewandte Praktik

29 Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte Jovanović: Pogovor. Dramski scenario de-


vetnaestog veka. In: Subotić, Jovan: Krst i kruna. Belgrad: Muzej Pozorišne Umetnosti
Srbije 1997, pp. 51–54 und darüber hinaus Rohdewald 2014, p. 398f.
30 Književne bilješke. In: Bosanska vila, Nr. 2/1895, p. 31, wobei in einem Bericht der Landes-
regierung sogar 59 Feiern gezählt werden, s. Okey 2007, p. 87. Die in Mostar erscheinende
Kulturzeitschrift Zora ging 1899 sogar von hundert Savindanfeiern aus, s. Grunert 2016,
p. 126.

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Der Savindan225

der Elitenkooption sowie spezifische Vorstellungen des ʻRegionalspezialistenʼ


Kállays in Bezug auf ʻdieʼ Serben eine Rolle. Dem orthodoxen Klerus wurde
dabei durchaus die Rolle einer Vermittlungsinstanz in der sozial konservativen,
auf eine behutsame Hebung der Bildung und die Durchsetzung moderner For-
men des Wirtschaftens abzielenden Modernisierungspolitik zugedacht. Letz-
teres sollte nicht zuletzt auf die im Aufbau befindlichen Bildungsanstalten der
Landesregierung erreicht werden, die sich in besonderem Maße an die urbanen
orthodoxen Mittelschichten wandten. Politische Selbstbestimmung der einhei-
mischen Bevölkerung (ob nun orthodox, muslimisch, katholisch oder jüdisch)
sah dieses von der zeittypischen Idee einer imperialen Zivilisierungsmission
getragene Konzept nicht vor.31
Die Vorstellung, dass eine solche imperiale Integrationspolitik in Bosni-
en-Herzegowina überhaupt erfolgreich sein könnte, beruhte dabei auf zwei
Grundannahmen: Zum einen die Überzeugung, dass es sich bei dem serbischen
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Nationalismus wie beim Nationalismus im Lande überhaupt um ein Elitenphä-


nomen handelte; zum anderen Kállays Deutung der serbischen Geschichte, der
zufolge die Serben seit jeher zum Partikularismus geneigt hätten, weswegen
ihnen eine dauerhafte Staatsbildung misslungen sei. Dies und ihre angebliche
Bereitschaft, politisch eine harte Hand zu akzeptieren, ja insgeheim sogar nach
einer solchen Form der Herrschaft zu streben, machten, so die stereotypisie-
rende Vorstellung Kállays, die orthodoxe Bevölkerung Bosniens und der Her-
zegowina in einen auf die Person des Monarchen ausgerichteten bosnischen
Landespatriotismus prinzipiell integrierbar .32 Dies gilt letztlich auch für die Be-
deutungsinhalte, die sich auf Sava als religiöse Figur und Schulpatron bezogen.
Mochte eine solche erinnerungskulturelle Integration unter Ausblendung
emanzipativer Bedeutungsinhalte auch ein schwieriges Unterfangen sein, so
war sie angesichts der bereits beschriebenen Vielschichtigkeit der Erinnerungs-
figur des Hl. Sava doch nicht notwendig aussichtslos und wurde auch andern-
orts praktiziert. Beispiel für einen derartigen Versuch solch einer imperialen
Integration war die Vojvodina, wo eine 1861 von Franz Joseph einberufene
serbische Versammlung Sava zum Landespatron aller Orthodoxen proklamiert
hatte.33 Dies kann wiederum als Beleg für die von Judson allgemein argumen-
tierte Verflechtung zwischen imperialer Struktur und regionalen Nationalismen
gewertet werden.34
Die Landesregierung operierte hierbei bis zum Beginn der serbischen Auto-
nomiebewegung mit drei Instrumentarien: (1) Verbot und Zensur, (2) dem Streu-

31 Vgl. Kraljačić 1987, passim; Okey 2007, pp. 55–91.


32 Okey 2007, p. 63.
33 Rohdewald 2014, p. 181.
34 Judson 2017, p. 24.

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226 Dennis Dierks

en von Gegeninformationen und (3) der Vereinnahmung und Umdeutung von


Ereignissen.
Verbot und Zensur sollten auf eine Entschärfung bzw. Neutralisierung natio-
nal-emanzipativer Inhalte der Savindan-Feiern hinwirken. Hier griffen die allge-
meinen Regelungen der Präventivzensur, die 1894 in einer „Circularverordnung
der Landesregierung für Bosnien und die Hercegovina, betreffend die Regelung
der Präventiv-Censur öffentlicher Vortragsstücke sowie die Ausschmückung
von Schulräumen, Versammlungs- und Festlokalitäten“ noch einmal präzisiert
wurden, wobei der Erlass an mehreren Stellen explizit auf die Savindan-Fei-
erlichkeiten Bezug nimmt.35 Sämtliche zum Vortrag kommende Stücke muss-
ten ebenso wie die Manuskripte für Reden und Prologe vierzehn Tage vor der
Veranstaltung der staatspolizeilichen Sektion der Landesregierung zur Prüfung
vorgelegt werden. Ab 1896 übernahmen dann die Bezirksämter die Zensur der
Programme. Um auch in Zukunft eine einheitliche Praxis der Präventivzensur
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zu gewährleisten, wurden die Bezirksbehörden noch einmal hinsichtlich ihrer


Anwendung instruiert. So sollten „kleinliche engherzige Streichungen“ unter-
bleiben, um unnötige Provokationen zu vermeiden und dem zensurierten Text
nicht eine Bedeutung zu geben, „welche er entweder nicht verdient oder über-
haupt nicht gehabt hätte, wenn dies oder jenes Wort nicht inhibiert worden
wäre.“ Gleichzeitig ergingen aber auch detaillierte Angaben darüber, in welchen
Situationen der Zensor einzuschreiten hatte. Nicht zulässig waren demnach:
Angriffe auf gesetzliche Institutionen der österr. ung. Monarchie und der hiesigen
Länder, Besprechungen staatsrechtlicher Natur, des Verhältnisses dieser Länder zur
österr. ung. Monarchie, feindselige Tendenzen gegen einzelne Confessionen in Bos-
nien und der Hercegovina, die Entwicklung und Propagirung extrem politischer
Tendenzen, der panslavistischen, grosscroatischen oder grosserbischen Ideen, ferner
Provokationen der einen oder anderen Nation […]36

Nicht angesprochen werden durften also Fragen, die das sensible Problem der
staatsrechtlichen Stellung Bosnien-Herzegowinas und seines nationalen Cha-
rakters berührten, sowie Themen, die in irgendeiner Form zu einer Belastung
des Verhältnisses zwischen den Konfessionen oder nationalen Gruppen füh-
ren konnten. Dass die Zensur dann doch durchaus penibel gehandhabt wer-
den konnte, zeigen die Maßnahmen der Landesregierung im Jahr 1895, die
vier Grußworte zu Sava-Feiern gänzlich verbot, in 29 Fällen Textstreichungen

35 Verordnungen abgedruckt in Besarović 1968, p. 617ff.


36 Ibid., p. 625.

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Der Savindan227

durchführte und den Text der Sava-Hymne, von dem es eine große Reihe von
Variationen gab, in 35 Fällen beanstandete.37
In dem bereits genannten Erlass von 1894 ergingen darüber hinaus genaue
Angaben hinsichtlich der Ausschmückung der „Versammlungs- und Festloka-
litäten.“ Aus der Verordnung der Landesregierung geht hervor, „dass ausser
den Bildnissen Ihrer Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät nur
solche bildliche Darstellungen angebracht werden dürfen, welche keinerlei poli-
tische Deutung zulassen und auch sonst zu keinen Bedenken Anlass geben.“38
Welche Darstellungen als bedenkenlos anzusehen seien, müsse im Einzelfall
geprüft werden. Auf keinen Fall zulässig seien:
[Die] Bildnisse fremder, lebender oder erst kürzlich verstorbener Fürstlichkeiten, wel-
che noch im Gedächtnisse der Gegenwart fortleben; ferner bildliche Darstellungen
aus der neueren politischen Geschichte, die entweder nur einem vorübergehenden
politischen Zwecke dienen oder einen unverkennbaren tendenziös gefärbten Zusam-
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menhang mit der politischen Gestaltung der Gegenwart bekunden.39

Explizit erlaubt wurden aber Darstellungen Savas, da die Landesregierung sie


einer Kategorie von Ausschmückungen zuordnete, „denen jedwede politische
Tendenz mangelt“.40
War die Zensur notwendigerweise auf die negative Praxis des Verbietens be-
schränkt, konnte sie das Aussenden von Botschaften in die Öffentlichkeit also
nur verhindern, so verfügte die Landesregierung darüber hinaus auch über meh-
rere Instrumentarien, um direkt und indirekt Nachrichten in die Gesellschaft zu
kommunizieren und so auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen.
Eine besonders günstige Möglichkeit, erwünschte politische Botschaften zu
setzen, boten hierbei Savindan-Feiern, die innerhalb staatlicher Institutionen
oder in direkt unter Kontrolle der Landesregierung stehenden Einrichtungen
stattfanden. Die Einforderung von Loyalität und Gehorsam gegenüber dem
Kaiserhaus und der Landesregierung konnte dabei durch traditionale Argu-
mentationsmuster erfolgen, wenn etwa Respekt vor der von Gott eingesetzten
Obrigkeit verlangt wurde.41 Möglich war hier aber auch der stärker inhaltlich
argumentierende Verweis auf die bildungspolitischen Maßnahmen der Landes-
regierung. Ein Beispiel hierfür ist eine Schulrede, die 1890 in der staatlichen

37 Okey 2007, p. 87.


38 Besarović 1968, p. 618.
39 Ibid., p. 618.
40 Ibid., p. 616.
41 So z. B. in einer 1889 im Priesterseminar von Reljevo bei Sarajevo gehaltenen Rede.
Vgl. Svetosavska prosvjeta u srpsko-pravosl. bogoslovskom zavodu u Reljevu 1888. In:
Istočnik, Nr. 4/1889, pp. 59–62, hier p. 61.

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228 Dennis Dierks

Lehrerausbildungsanstalt in Sarajevo gehalten wurde. Dort heißt es unter an-


derem an die Schülerinnen und Schüler gerichtet:
Vergesst nicht die Wohltaten, die ihr in den Schulen genossen habt: Ihr habt von
der hohen Regierung finanzielle Unterstützung erhalten, ihr habt kostenlose Bücher,
Schulgeldbefreiungen, einige auch Kleidung, kostenlose Medikamente und eine kos-
tenlose medizinische Behandlung erhalten […]. So groß war die Sorge und Mühe der
hohen Regierung für eure Bildung!
Doch diese Sorge und Mühe der hohen Regierung entspringen ihrer reinen Liebe
gegen euch und der väterlichen Wohlgeneigtheit Seiner kaiserlichen und königlichen
apostolischen Majestät, unseres allergnädigsten Herrschers Franz Joseph I. gegenüber
diesem Volk, dem er wünscht, dass er es glücklich und fortschrittlich sehen möge.
Deshalb, Kindlein, lasst uns aus dankbarem Herzen Seiner Majestät zujubeln: Er lebe
hoch! Er lebe hoch! Er lebe hoch!42

Auch für die Landesregierung wurden entsprechende Jubelbekundungen ein-


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gefordert. Zuvor hatte der Redner schon gewürdigt, dass die Landesregierung
nicht nur dem Volk neue Wege zur Bildung eröffne, sondern dass sie auch
Bildung „im Geiste des Volkes und im Geiste unserer Orthodoxie“ („u duhu
narodnom, i u duhu provoslavlja našeg“) ermögliche, wovon allein schon die
Tatsache zeuge, dass am Savindan eine von der Landesregierung finanzierte
Panahija-Verteilung stattfinde.43 Diese Ausführungen des Redners verdeutli-
chen die Intention der Landesregierung bei der Organisation dieser Feier: Es
sollte gezeigt werden, dass dem Wunsch der orthodoxen Bevölkerung nach der
Pflege einer religiösen Erinnerungskultur und damit verbundener liturgischer
Praktiken auch innerhalb der staatlichen Schulen Rechnung getragen wurde,
der orthodoxen Schülerschaft also, anders als die nationalistische serbische
Presse insbesondere außerhalb Bosnien-Herzegowinas raunte, ihre kulturelle
Sonderidentität keinesfalls genommen werden sollte. Gleichzeitig wurde aber
darauf hingewirkt, dass sich diese Sonderidentität mit Loyalität gegenüber der
Monarchie und ihren Vertretern in den Okkupationsgebieten verband, deren

42 Svetosavska svečanost u Sarajevu 1890 god. In: Istočnik, Nr. 1/1890, pp. 39–43, hier p. 43.
Im Original:
„Ne zaboravlajte dobročinstva, koja ste uživali u školama: dobijali ste potpore u novcu
od visoke vlade, dobijali ste besplatne knjige, oprost od školarine, neki i odjeće, slobodne
lijekove i liječenja […]. Tolika je briga i staranje oko vašeg vaspitanja visoke vlade!
Al [sic!] ova briga i staranje visoke vlade potiče iz čiste ljubavi njene prema vami, a
iz očinske blagonaklosti Njegovog carskog i apostoljsko-kraljevskog Veličanstva, našeg
premilostivog gospodara Franje Josipa I. prema ovom narodu, kome želi da ga sretna i
napredna vidi. Za to uskliknimo dječice, i ovom svečanom prilikom iz blagodarne duše
naše Njegovom Veličanstvu: Živio! Živio! Živio!“
43 Ibid.

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Der Savindan229

benevolente Haltung betont wurde. Dies entsprach ganz der Rhetorik einer
imperialen Zivilisierungsmission, in der die habsburgische Okkupationsmacht
die Rolle des Kulturbringers einnahm.
Doch auch dort, wo die Landesregierung nicht positiv auf die Gestaltung der
Feiern Einfluss nehmen konnte, bemühte sie sich um die Durchsetzung einer ihr
genehmen Deutung der Ereignisse. Indirekt konnte dies durch die Subventio-
nierung regierungsnaher Blätter geschehen. Eines solcher in der Ära Kállay ins
Leben gerufenen Zeitungsprojekte war die Zeitung Prosvjeta, die von 1885 bis
1888 erschien, und innerhalb der serbisch-orthodoxen Eliten für die Politik der
Landesregierung werben sollte. Wenn die Prosvjeta zum Beispiel die Besetzung
des Sarajevoer Festkomitees bemängelte oder in bestimmten Fällen die Ausfüh-
rung dieser Feiern kritisierte, dann setzte dies einen Kontrapunkt zu der meist
überschwänglich positiven Berichterstattung in der Bosanska vila.44
Etwas zurückhaltender deutet sich eine derartige Kritik an den politischen
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Inhalten auch in der direkt von der Landesregierung herausgegebenen Zeitung


Sarajevski list an, so in dem eingangs zitierten Bericht, der die rhetorische Qua-
lität eben gerade des Kernstücks der Feier, der patriotischen Festrede, in Frage
stellt. Gleichzeitig deutet sich hier eine weitere erinnerungspolitische Integra-
tionsstrategie an: Die Feier wurde, wie eingangs gezeigt, in dem Amtsblatt der
Landesregierung gleichsam imperial vereinnahmt, wenn Loyalitätsbekundun-
gen wie Jubelrufe für den Monarchen und das Spielen der Kaiserhymne in den
Mittelpunkt rückten und die teilnehmenden Repräsentanten der Landesregie-
rung im Zentrum standen. Letztes verweist auf die auch andernorts praktizierte
Involvierung von Repräsentanten des Militärs in die örtliche Festkultur, womit
sich das Imperium mit der lokalen Ebene auch symbolisch verwob.45

4. Versuche der Normierung und Deutungskontrolle in der


serbischen Presse

Die Deutungshoheit über die Savindan-Feiern und die dort ausgesendeten Bot-
schaften blieb also prekär. Diese Prekarität ist der Schlüssel zum Verständnis der
beiden zu Beginn dieses Artikels vorgestellten Berichte in der Bosanska vila und
dem Sarajevski list: Letztlich lesen sich die beiden Texte als Bericht und Gegen-

44 Entsprechend heftig waren die Reaktionen in der Bosanska vila, Nr. 2/1887, p. 46f. u.
Nr. 3/1888, p. 45. Dass Kritik aber nur in einzelnen Fällen geäußert wurde und sich hier-
bei auf die Eliten der serbischen Gemeinde in Sarajevo konzentrierte, zeigen andere Texte
in der Prosvjeta, so ein Bericht über die Feier in Bosanska Gradiška in Prosvjeta Nr. 6,
07.(19.)02.1888, p. 4, der offenbar vom lokalen Festkomitee übernommen wurde.
45 Judson 2017, p. 470.

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230 Dennis Dierks

bericht, die die jeweils erwünschten politischen Botschaften absichern und zu-
gleich die von der Gegenseite ausgesendeten Botschaften unterminieren sollten.
Nun wäre es aber verfehlt, hier vereinfachend eine Dichotomie zwischen der
Berichterstattung der Landesregierung und dem Leitmedium eines kulturell
artikulierten serbischen Nationalismus zu konstruieren. Dass die Lage durchaus
komplexer war, zeigt die Berichterstattung in der orthodoxen Kirchenzeitschrift
Istočnik.46 Dort hieß es über die 1890 in Sarajevo abgehaltenen Feierlichkeiten:
Schon 700 Jahre sind vergangen, seit der Heilige Sava Nemanjić zur Welt gekommen
ist, und wenn auch die frevlerische Hand Sinan Paschas seine heiligen Gebeine auf
dem Vračar in Brand setzte, dann ist die Erinnerung an ihn dennoch nicht vergangen,
sondern sein Name blieb wegen seiner Verdienste um die Kirche und die Schule umso
strahlender und stärker in der Erinnerung des serbischen Volkes.
An diesem Feiertag erklingt aus Tausend und Abertausend Mündern serbischer Kind-
lein das liebreizende Lied: „Wir jauchzen auf in Liebe zum Heiligen Sava“, unserem
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ersten Erzbischof und Aufklärer. Wo immer es eine serbische Kirche und Schule gibt,
in allen Ländern des Serbentums, wo immer es einen wahren orthodoxen Christen
gibt, feiert man den Hl. Sava, feiert man den Tag des großen Schulpatrons. Dies ist
wahrscheinlich der einzige Tag, an dem in den Seelen und Herzen aller Serben und
Serbinnen, jedes kleinen Serben und jeder kleinen Serbin der eine selbe Wunsch, die
eine selbe Hoffnung entsteht…
An diesem Tag atmet das gesamte Serbentum als eine Seele; der eine selbe Wunsch
und die eine selbe Hoffnung umfassen es, und es richtet sowohl in der Kirche als auch
in der Schule das eine selbe Gebet an den großen Patron, den Heiligen Sava, den Sohn
des großen Nemanja, unter dem in einem glücklichen Moment und in einer glück-
lichen Zeit alle serbischen Länder vereint waren…47

Der Text bestätigt zunächst einmal den bisher gewonnenen Eindruck, dass
Berichterstattung der Bedeutungsfestschreibung und damit der Absicherung
einer potentiell prekären Semiose dient. Konkret wird hier ein Soll-Zustand
als Ist-Zustand beschrieben; das Ziel der ausgesendeten Botschaft wird als be-
reits erreicht dargestellt: Alle Serbinnen und Serben feiern den Nationalheiligen
Sava mit denselben Riten und Bräuchen, in derselben Gefühlslage und mit den-
selben Gedanken verbunden, so dass an diesem Tage „das gesamte Serbentum
als eine Seele“ atme, gleichsam also zu einem Körper verschmelze. Hier wie
dort wird das Wunschbild der serbischen Nation als einer von einem gemein-
samen Geschichtsbewusstsein getragenen grenzüberschreitenden Emotions-
gemeinschaft48 entworfen, die sich, wenn es um die Gestaltung der Zukunft

46 Zur Entwicklung der Zeitschrift s. Kruševac 1978, pp. 149–153.


47 Svetosavska svečanost u Sarajevu 1890 god. In: Istočnik, Nr. 1/1890, pp. 39–43, hier p. 39.
48 Vgl. dazu grundlegend Rosenwein, Barbara: Emotional Communities in the Early Middle
Ages. Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2006.

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Der Savindan231

geht, an ihrer ʻglorreichenʼ Vergangenheit orientiert, aber auch der nationalen


ʻKatastrophenʼ und der Erfahrung von ʻUnrechtʼ und ʻFremdherrschaftʼ erinnert,
kurz: die die ʻrichtigenʼ Lehren aus ihrer Geschichte zieht und deshalb in der
Gegenwart alle etwaigen Gegensätze zu überwinden vermag und in der Sphäre
des Politischen einträchtig agiert.
Man muss sich nun aber gleichzeitig vor Augen führen, dass dieselbe Num-
mer des Istočnik die oben zitierte Rede in der Sarajevoer Lehrerbildungsanstalt
abdruckte, in der anlässlich der Sava-Feier tiefe Dankbarkeit gegenüber dem
von Liebe zu seinen Untertanen beseelten wohltätigen Herrscher Franz Joseph
eingefordert wurde; dabei handelte es sich um einen Sprechakt, der zur Fundie-
rung einer ganz anders, nämlich imperial ausgerichteten Emotionsgemeinschaft
geeignet war. Die Nummer des Istočnik verdeutlicht nochmals eindrücklich,
dass der Versuch der Etablierung dieser beiden Emotionsgemeinschaften zeit-
gleich erfolgte. Die – zumindest partielle – Überlagerung der hier ausgesende-
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ten Botschaften zeigt, dass beide Prozesse nicht getrennt voneinander betrachtet
werden können. Welche konkreten Folgen dies für Strukturierung politischer
Loyalitäten tatsächlich hatte, bleibt offen, doch deuten sich hier Ambivalenzen
an, die regimedistanzierte Verfechter des serbischen Nationalismus irritiert ha-
ben müssen.
Dass die nationale Lesart und Botschaft der Sava-Feiern schließlich nicht nur
gegenüber der imperialen Macht, sondern dem eigenen ʻVolkʼ gegenüber abge-
sichert werden mussten, zeigt eine genauere Betrachtung der Berichterstattung
der Bosanska vila. Mögen hier auch Erfolgsmeldungen dominieren, so stechen
doch Kritik und Ermahnung ins Auge, wenn Feiern nicht so ausgeführt wurden,
wie die Redakteure der Zeitschrift dies wünschten. Ein in diesem Zusammen-
hang zunehmend artikulierter Kritikpunkt ist Amüsement als Selbstzweck und
Geselligkeit ohne nationale Vorzeichen. Dies verweist auf eine eigensinnige
Aneignung dieser neuen Form der Geselligkeit durch die Lokalbevölkerung. So
hieß es beispielsweise über die Besjeda in Mostar 1888: „Ein jeder ging zufrie-
den, fröhlich, aber auch nüchtern nach Hause. So gab es auch diesmal keinen
einzigen Betrunkenen. […] Die Ordnung war die ganze Nacht lang derart, da
sie jeder, insbesondere aber die Fremden lobten.“49 Wenn dies, wie in anderen
Berichten auch, derart stark betont wurde, so legt dies den Schluss nahe, dass
es sich dabei eben durchaus um keine Selbstverständlichkeit handelte. Ambi-
valent war aber auch die Haltung Fremden gegenüber (bei denen es sich ganz
offenkundig um Repräsentanten der österreichisch-ungarischen Verwaltung
handelte), deren Anerkennung gesucht wurde, denen gegenüber aber zugleich

49 Im Original: „Kući se svak zadovoljan, veseo, ali trijesan povrnuo. […] Red je cijele noći
bio takav, da mu se svak, a osobito strance dive.“ Bosanska vila, Nr. 3/1888, p. 46.

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232 Dennis Dierks

eine emanzipative kulturelle Abgrenzung erfolgen soll, etwa wenn an anderer


Stelle eingefordert wurde, einheimische Volkstänze zu spielen, anstatt Wiener
Walzermelodien erklingen zu lassen.50
In diese Richtung weist auch die zunehmende Kritik an der Aufführung von
Schwänken. Waren diese zunächst unhinterfragter Bestandteil der abendlichen
Besjeda in größeren Ortschaften, so wurde ab 1887 zunehmend für die Auf-
führung von Historiendramen plädiert. Doch auch die Inszenierung national-
historischer Dramen schützte nicht notwendig vor Kritik. Dies zeigt ein Bericht
aus dem Jahr 1888 über eine Feier in Mostar, auf der das Historiendrama der
„Tod des Stevan Dečanski“ aufgeführt wurde. Dass die Darstellung der Prot-
agonisten, Figuren der mittelalterlichen Geschichte Serbiens, dabei nicht den
elitären Glorifizierungsbedürfnissen entsprach, macht die Besprechung in der
Bosanska vila deutlich: „Die Maskierung der Figuren“ heißt es dort, „wurde
nicht so besorgt, wie es sein sollte, denn der König Dečanski und der Župan
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Svetković glichen ganz und gar dem Typus des polnischen Juden […]“51, womit
ein antisemitisches Stereotyp bemüht wurde, das sich auf die Zuwanderung
aschkenazischer Bevölkerung nach der österreichisch-ungarischen Okkupation
1878 bezog. Abweichungen von den Erhabenheitspostulaten bürgerlicher Eli-
ten, die die Evozierung des immer wieder eingeforderten Stolzes auf die eigene
Geschichte obstruierten, wurden also nicht toleriert, ob es sich dabei nun um
betrunkene und rauflustige Bauern oder schlecht geschminkte Laiendarsteller
handelte.
Hier wie an anderen Stellen wird deutlich, dass das Volk selbst zum Objekt
einer national definierten Zivilisierungsmission wurde. Die Werte, die im Zuge
dieser Zivilisierungsmission vermittelt werden sollten, wurden nicht zuletzt
in die Figur des Hl. Savas projiziert: Er steht in den Festreden für unbedingte
Opferbereitschaft für die Nation, aber auch Bildungsaffinität und Arbeitseifer.
Festgeschrieben werden sollte zudem die erinnerungskulturelle Partizipation
der bäuerlichen Bevölkerung und von Repräsentanten der muslimischen Be-
völkerungsgruppe. Verband sich ersteres mit der allgemeinen Vorstellung des
bürgerlichen Nationalismus, die Nation verbinde alle sozialen Gruppen und
kenne keine Klassengegensätze, so gründete letzteres in dem Konzept eines
konfessionsübergreifenden ʻSerbentumsʼ, die auf Vuk Karadžić zurückgeht. Aus-
gangspunkt war dabei die Idee, dass es sich bei allen štokavisch sprechenden
Südslawen, also auch den Muslim(inn)en und Katholik(inn)en Bosnien-Herze-
gowinas, um Angehörige der serbischen Nation handele. Vor diesem Hinter-

50 So z. B. Bosanska vila, Nr. 1/1887, p. 16.


51 Im Original: „Maskiranje osoba nije obavljeno kao što treba, jer su i kralj Dečanski i
župan Svetković sasvim ličili tip od tipa polskijeh (sic!) Čivuta […]“

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Der Savindan233

grund ist es zu verstehen, warum, wie im Bericht der Bosanska vila zu Be-
ginn dieses Artikels, eine Person wie Mehmed-beg Kapetanović als „serbischer
Schriftsteller“ angesprochen wurde, obwohl er selbst eine solche Bezeichnung
für sich entschieden abgelehnt hätte.52

5. Fazit und Ausblick


Die Untersuchung der Etablierung des Savindans als nationalem Gedenktag im
habsburgischen Bosnien-Herzegowina lässt Mehrdeutigkeiten und Ambivalen-
zen erkennen, die mit phasenorientierten Modellen der klassischen Nationalis-
musforschung schwer greifbar sind, ja das Paradigma „nationaler Gedenktag“
selbst in der ihm inhärenten teleologischen Finalität und Eindeutigkeit fragwür-
dig erscheinen lassen. Sinnvoller erscheint es, wie in der neueren Forschung
vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit auf eben diese Widersprüchlichkeit zu
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richten und so die Offenheit von eliteninduzierten top-down-Prozessen auf-


zuzeigen, die auf die Formierung und Verstetigung ethnonational begründeter
Loyalitäten abzielen.53 Hierfür eignen sich frühe Phasen von Nationsbildungs-
prozessen in besonderem Maße, wie nicht zuletzt diese Fallstudie verdeutlicht.
Der hier untersuchte Savindan musste als Gedenktag erst etabliert werden.
Dies erforderte aus der Perspektive der serbischen Nationsbildner im habsburgi-
schen Bosnien-Herzegowina nicht nur, dass diese spezifische Form des rituellen
Gedenkens und der Geselligkeit popularisiert wurde, sondern dass sich hiermit
auch eindeutig die von ihnen intendierte Botschaft verband: die grenzübergrei-
fende Einigkeit aller Serbinnen und Serben im Gedenken an den Nationalheili-
gen Sava als Symbol für die serbische Nationalkirche, die ʻserbische Schuleʼ als
tief in der Geschichte gründende nationale Bildungsinstitution und die Idee der
serbischen nationalen Eigenstaatlichkeit. Eine solche situative, auf Verstetigung
abzielende Herstellung von ethnonationaler groupness54 blieb aber nicht zuletzt
aufgrund der Machtverhältnisse im habsburgischen Bosnien-Herzegowina pre-
kär. Wie gezeigt werden konnte, versuchte die Landesregierung insbesondere zu
Beginn der Ära Kállay, national-emanzipative Inhalte zu unterdrücken oder zu
relativieren und die Savindanfeiern gleichzeitig in eine imperiale, auf die Person

52 Zu Kapetanovićs politischer Orientierung vgl. Džaja 1994, pp. 208–212.


53 Für eine solche Zugangsweise aus der Perspektive der Zeitgeschichte argumentierend:
Ulf Brunnbauer / Hannes Grandits: The Ambiguous Nation. Socialist and Post-Socialist
Nation-Building in Southeastern Europe in Perspective. In: Ulf Brunnbauer / Hannes
Grandits (Hg.): The Ambiguous Nation. Case Studies from Southeastern Europe in the
20th Century. München: Oldenbourg, 2013 (= Südosteuropäische Arbeiten 151), pp. 9–42.
54 Dazu grundlegend Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger
Edition 2007, pp. 16–45.

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234 Dennis Dierks

des Kaisers ausgerichtete Erinnerungskultur einzubetten. Hier bestätigt sich


die bereits an anderer Stelle angesprochene Notwendigkeit, Prozesse von im-
perialer Verdichtung und Nationsbildung in ihrer Verwobenheit zu betrachten.
Die hier nachgezeichneten Vereinnahmungsversuche seitens der Landesre-
gierung mussten die bürgerlichen Verfechter eines prononciert national-serbi-
schen Sava-Gedenkens auch deshalb irritieren, weil diese Erinnerungsfigur für
sie emblematisch für einen selbstbestimmten Weg in die Moderne stand, der
sich an den kulturellen Leitbildern der eigenen Geschichte orientierte. Diese
Idee wurde von den Angehörigen der national bewegten Intelligenzija (für die
hier stellvertretend die Redakteure der Bosanska vila betrachtet wurden) als ex-
pliziter Gegenentwurf zu einer imperialen Moderne verfochten, wie sie gerade
auch von Benjamin von Kállay selbst vertreten wurde.
Dass ein solcher Vereinnahmungsversuch überhaupt möglich war, lag in der
Vieldeutigkeit der Erinnerungsfigur Sava selbst begründet. Gleichzeitig deutet
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die Berichterstattung in der Kirchenzeitung Istočnik Ambivalenzen und sehr viel


weniger eindeutige Haltungen in solchen Milieus an, die auf eine Kooperation
mit der Landesregierung angewiesen waren. Auch dies unterstreicht nochmals
eindrücklich, dass es sich bei Ambivalenz und Widersprüchlichkeit um pro-
duktive Kategorien zur Untersuchung und Beschreibung von Nationalismus
handelt.55
Die vorliegende Untersuchung konzentrierte sich bewusst auf eine frühe Pha-
se der serbischen Nationsbildung im habsburgischen Bosnien-Herzegowina.
Auf geschichtspolitische Veränderungen in der Zeit der serbischen Autono-
miebewegung und nach dem Tode Benjamin von Kállays wurde daher nicht
eingegangen. Mochten sich hier auch insbesondere nach dem Tode Kállays und
mit dem Aufkommen einer neuen Intellektuellengeneration nach 1900 deutliche
Schwerpunktverschiebungen und Differenzierungen vollzogen haben, mochte
die Markierung des Savindans als bürgerlich-nationaler Feiertag mit der Zeit
nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden können, so lässt sich dennoch
konstatieren, dass eine komplexe Überlagerung von Loyalitäten bis zum Ersten
Weltkrieg die Regel blieb und die Erinnerung an den Hl. Sava nie die nationale
Eindeutigkeit erhielt, die sich radikale Verfechter des serbischen Nationalismus
wünschten. Je nachdem, in welchem Milieu man sich bewegte und für welche
Spielart des serbischen Nationalismus man sich entschied, konnte man an einer
Savindan-Feier teilnehmen und seine Loyalität gegenüber der Landesregierung
ausdrücken. Dies mag abschließend ein Bericht verdeutlichen, der 1912 in der
Mostarer Zeitung Narod abgedruckt wurde:

55 Brunnbauer/Grandits 2013, pp. 9–42.

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Der Savindan235

Wie angekündigt, feierte die serbische Gemeinde am Samstagabend eine Soirée zu-
gunsten der serbischen Schule. Der Saal des Gesellschaftshauses war übervoll von
buntscheckigem Publikum von der Generalsuniform bis hin zur Nationaltracht. Die
Punkte des Programms wurden sehr schön ausgeführt […]. Doch in diesem bunten
Gemenge war am buntesten und exotischsten die Vermischung der Töne des erha-
benen Savaliedes mit dem des Kaisers oder, wie manche sagen, der Nationalhymne.
Allein die Heiliger-Sava-Hymne litt in dieser Vermischung; beim Spielen der Kaiser-
hymne stand die Bürgerschaft brav auf, doch bei der Sava-Hymne blieb dieselbe Bür-
gerschaft sitzen und blickte unbeteiligt in den Saal. Aber ja, die Loyalität!56
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56 Narod, Nr. 160, 18.(30.).01.1912, p. 3. Im Original:


„Srpska opština kako smo javili, dala je u subotu na veče zabavu, u korist srpske škole.
Sala Društvenog Doma bila je prepuna, šarolike publike, počevši od generalnih uniforma
pa do nacionalnog odjela. Tačke programa su izvedene vrlo lijepo […]. Ali u tom šarenilu
i razlikosti, najšarenije kao i najegzotičnije bilo je mješanje zvukova svetosavske uz-
višene pjesme sa carskom ili kako vele narodnom himnom. Samo je Svetosavska himna
u toj mješavini nastradala; pri sviranju carske himne građanstvo je pobožno ustalo, a pri
sv. Savskoj himni isto građanstvo je sjedilo i nemarno gledalo po Sali. Ali da, lojalnost!!“

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-
Herzegowina

Überblick mit ‘bosniakischen’ Perspektiven

Carl Bethke (Tübingen)

Der Volkszählung von 1910 nach besaßen in Bosnien und Herzegowina 114.591
Personen der ortsanwesenden Zivilbevölkerung keine Landeszugehörigkeit. Die
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meisten von diesen kamen aus Österreich und Ungarn, 1895 lebten in Bosnien
und Herzegowina 70.848 von dort stammende Personen, 1885 waren es erst
27.438 Personen. In der Forschung wird dieser Personenkreis plausibel als Zu-
wanderer identifiziert. Die deutschen Muttersprachler können mit 1910 landes-
weit 22.968 Personen darunter nur eine Minderheit gewesen sein; mehrheitlich
waren diese Menschen serbokroatischer Muttersprache.1 Die Zahl der „Kolo-
nisten“, d. h. der ländlichen Siedler in Bosnien, wird für 1913 mit 13.340 Per-
sonen angegeben: Die meisten Zuwanderer waren also keine Kolonisten, von
den demnach 38 Kolonien hatten zwölf eine polnische und elf eine deutsche

1 Vgl. Die Ergebnisse der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 10. Oktober
1910. Sarajevo: Landesregierung für Bosnien u. d. Hercegovina 1912, pp. XLVIII–LIV;
Hauptresultate der Volkszählung in Bosnien und der Hercegovina vom 22. April 1895.
Sarajevo: Landesregierung für Bosnien u. d. Hercegovina 1896, p. 808; Ortschafts- und
Bevölkerungs-Statistik von Bosnien und der Hercegovina nach dem Volkszählungs-Er-
gebnisse vom 1. Mai 1885. Sarajevo: Landesdruckerei 1886, p. 4f. – Die Angaben zur
Muttersprache wurden bei Volkszählungen erstmals 1910 erhoben, die amtliche Publika-
tion nannte deutsche Muttersprachler Deutsche (ibid., LI), während als Österreicher alle
Einwohner Cisleithaniens galten (ibid., XLIX). 1908 z. B. wurden die Beamten auch der
Volkszugehörigkeit nach u. a. als Deutsche ausgewiesen Izvještaj o upravi Bosne i Herce-
govine 1908. Zagreb: G. i Kr. zajedničko Ministarstvo financija Beč 1909; – 2013 erklärten
sich in Bosnien-Hercegovina 365 Personen als Deutsche und 62 als Österreicher http://
www.popis.gov.ba/popis2013/knjige.php?id=2, 1991 waren es 470 Deutsche und 66 Ös-
terreicher. http://fzs.ba/index.php/popis-stanovnistva/popis-stanovnistva-1991-i-stariji/

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238 Carl Bethke

Mehrheit.2 Der räumliche Schwerpunkt dabei war die Gemeinde Prnjavor (1885,
d. h. vor Beginn der Kolonisation, zu 83 % von orthodoxen Christen bewohnt).3

Die Anfänge der Einwanderung: „Kulturkampf- Dissidenten“


Fikret Karčić hat angeregt, statt der Zäsur von 1878 stärker eine Modernisie-
rungsperiode in den Blick zu nehmen, welche die spätosmanische Ära seit dem
tanzimat ebenso umfasst wie die österreichisch-ungarische Epoche.4 Die Ein-
wanderung aus dem nördlichen Mitteleuropa ließe sich als ‘Indikator’ durchaus
in dieses Konzept integrieren: Zu verweisen wäre z. B. auf den Schweizer Josef
Koetschet,5 der 1863 zum ersten Stadt- und Polizeiarzt Sarajevos ernannt wur-
de und auch Darstellungen zur spätosmanischen Geschichte Bosniens und zum
Umbruch 1878 verfasste. Als noch folgenreicher erwies sich die Gründung des
Klosters Maria Stern bei Banja Luka durch Trappisten aus Düren (Niederrhein)
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bereits 1869. Der Name war vom Hauptspender, dem Kloster Marienstern in
Sachsen übernommen; der Gründer und erste Prior war der Vorarlberger Franz
Pfanner. Dieser war zuvor in Zagreb tätig gewesen und hatte auf einer Pilger-
reise nach Palästina und Ägypten erste „Orienterfahrungen“ gesammelt.6
Tatsächlich ging 1879 die Initiative zur auswärtigen Siedlungsmigration nicht
vom Staat aus, sondern von Pfanner. Bereits unmittelbar nach der Okkupation
veröffentlichte er in den Weckstimmen für das katholische Volk (Wien) den Bei-
trag „Bosnien, ein Land für Ansiedlung“; der Artikel erschien auch in anderen
katholischen Zeitschriften und wurde vom Borromäus-Verein als Broschüre ge-
druckt. Pfanner befasste sich darin teils offen werbend, teils in der Rolle des
„Ratgebers“, mit der Auswanderung nach Bosnien, angeblich wollte er damit auf
Anfragen reagieren, die seit der Einnahme Banja Lukas 1878 bei ihm eingegan-
gen waren. Ein deutsch-nationaler Ton ist dem Text nicht zu entnehmen, eher

2 Hadžibegović, Iljas: Migracije stanovništva u Bosni i Hercegovini 1878–1914. In: Prilozi


11–12 (1975), pp. 310–317, hier p. 312f. – Der u. a. hier verwendete Begriff „naseljavanja“
steht der deutschen „Zuwanderung“ am nächsten. Die Zeitungen Bosnische Post und Sa-
rajevoer Tagblatt sprachen von „Einwanderern“, jedoch erlangte z. B. unter den deutschen
Muttersprachlern nur ein Teil die Landeszugehörigkeit.
3 Kraljačić, Tomislav: Kalajev režim u Bosni i Hercegovini (1882–1903). Sarajevo: Veselin
Masleša 1987, p. 515. – Die Kolonisten-Dörfer lagen praktisch durchweg im Mehrheits-
gebet der „christlichen“ Serben.
4 Vgl. Karčić, Fikret: The Bosniaks and the Challenges of Modernity. Sarajevo: El Kalem
1999.
5 Koller, Markus: Zeuge einer Zeitenwende. Der schweizer Arzt Josef Koetschet (1830–
1898) über die ersten Jahre der österreichisch-ungarischen Herrschaft in Bosnien und der
Herzegowina. In: Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), pp. 292–312.
6 Balling, Adalbert Ludwig: Der Trommler Gottes. Franz Pfanner. Ordensgründer und Re-
bell. Freiburg, Basel, Wien: Herder 1981, pp. 42–45, 64–115, 71, 10.

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina239

im Gegenteil war sein Adressat und Bezugspunkt das „katholische Volk“, dessen
Kirche weder „Grenzpfähle der Sprache, der Nation oder des Regierungssys-
tems“ kenne. Ein missionarisches Motiv oder Bezüge zum Kulturkampf klangen
ebenso wenig an, Pfanner ging es zwar um die Einwanderung von Katholiken,
er stellte aber nur wirtschaftliche Anreize heraus. Das Bild Bosniens als „Bet-
telland“ wies er dabei zurück und erinnerte an dessen reiche mittelalterliche
Geschichte bzw. die Königstadt Jajce, doch strebte er an, „Mustergemeinden
für die bosniakischen Ortschaften“ zu schaffen. 1880 wechselte Pfanner in die
Überseemission nach Südafrika.7
Der Schrift Pfanners folgten 1879 Arbeiterfamilien aus Essen sowie Ka-
tholiken aus dem Rheinland, dem Emsland bzw. Hannover, dem Oldenburger
Münsterland und Schlesien; auch einige Niederländer schlossen sich an. Das
Land kauften die Siedler von einem bosniakischen Grundherren, 1880 folgte
die Gründung des benachbarten Rudolfstal.8 Die Auswanderung nach Bosnien
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erschien als billige Alternative zur Überseemigration (Westheider: „Balkan statt


Boston“). Die Benennung der Kolonie nach dem emsländischen Zentrumspoli-
tiker und prominentesten Gegner des „Nationalstaatsgründers“ Bismarck ver-
weist aber auch auf Protesthaltungen der Kulturkampf-Zeit; nach Westheider
vielleicht regional verstärkt durch „welfische“ Motive. Windthorst blieb bis zur
Flucht 1944 das größte deutsche Dorf in Bosnien-Herzegowina.9

In den Städten: Die „Kuferaši“ und die Bosnische Post


Von diesen ländlichen Siedlern zu unterscheiden ist die Zuwanderung in die
Städte, wo es sich um Unternehmer und Facharbeiter sowie Experten und vor
allem um Beamte handelte. Diese kamen aus der gesamten Monarchie, doch da
die interne Sprache der Verwaltung Deutsch war, setzte sich dieses auch in der

7 [Pfanner], Dr. Franz, Prior des Trappistenklosters Maria Stern bei Banja Luka: Bosnien
ein Land für Ansiedlung. In: Weckstimmen für das katholische Volk 9 (1878).
8 Kasumović, Amila: Austrougarska kolonizaciona politika u Bosni i Hercegovini i prvi
njemački doseljenici. In: Bethke, Carl / Kamberović, Husnija / Turkalj, Jasna (Hg.) /
Omerović, Enes (Red.) Die „Deutschen“ in Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Neue
Forschungen und Perspektiven / Zbornik radova. Sarajevo: Inst. za Istoriju u Sarajevu
2015, pp. 75–95; vgl. das „Heimatbuch“ von Schindler, Peter (Hg.): 65 Jahre deutsche Ko-
lonisten in Bosnien. Zwei geschlossene Kolonien Windthorst und Rudolfstal. Politische
Gemeinden [Nova Topola und Aleksandrovac] 1879–1944. Hamburg: Selbstverlag 2007.
9 Westheider, Rolf: Aus dem Emsland nach Bosnien. Die Geschichte einer ungewöhnlichen
Auswanderung und ihre Folgen. In: Jahrbuch des Emsländischen Heimatbundes 55 (2009),
pp. 33- 45, hier p. 33f. Die Konstituierungsakte hatten die osmanische Gemeindeordnung
zu berücksichtigen: Arhiv Bosne i Hercegovine (ABiH), Zemaljska Vlada (ZVS), Br. 4000
prim 22.02.1881.

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240 Carl Bethke

gesellschaftlichen Kommunikation dieser Milieus durch.10 Zugleich wurde von


den Beamten auch die Kenntnis einer slawischen Sprache erwartet:11 Daraus re-
sultierte ein Anforderungsprofil, welches Tschechen und Slowenen12, besonders
aber Kroaten aus Nord-Kroatien sowie Deutsche mit kroatischem Hintergrund
oder Kroaten mit deutscher Abstammung, bzw. Personen aus entsprechend „ge-
mischten“ Familien bevorteilte. Zugehörige der genannten Gruppen nahmen
zum Teil Spitzenpositionen ein; prominente Beispiele waren Landeschef Ap-
pel, Bischof Josip Stadler, der Museumsdirektor Konstantin Hörmann13 oder die
Journalistin Milena Mrazović-Preindelsberger.14 Die Einheimischen bezeichne-
ten diese oft mehrsprachigen Zuwanderer ethnisch uneindeutig als kuferaši;
ebenso konnte „schwäbisch“ in den bosniakischen Zeitungen attributiv deutsch,
habsburgisch oder ‘westlich’ bedeuten 15
Für die gesellschaftliche und kulturelle Relevanz dieser städtischen Einwan-
derergruppen sprechen die Größenordnungen: In Sarajevo machten diese 1910
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35,3% der Einwohner aus; 10,1% der Einwohner waren deutscher Mutterspra-
che. Eine wichtige Quelle für diese Milieus ist die von 1884–1918 erscheinende
Zeitung Bosnische Post. Der Gründer des Blattes war der aus Zagreb stammende
Stadtarzt Julije Makenec, verheiratet mit Luise Löschner16; die Ersterscheinung

10 Memić, Nedad: Sprachkontaktphänomene in deutschsprachigen Zeitungen in Bosni-


en-Herzegowina zur österreichisch-ungarischen Zeit. In: Philipp, Hannes / Ströbel, An-
drea (Hg.): Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Regensburg: F. Pustet 2017, pp.
110–119, hier p. 110f.
11 Juzbašić, Dževad: Jezička politika austrougarske uprave i nacionalni odnosi u Bosni i
Hercegovini. In: Ders.: Politika i privreda u Bosni i Hercegovini pod austrougarskom
upravom. Sarajevo: Akad. der Wiss. von Bosnien-Herzegowina 2012, pp. 382–421, hier
p. 387.
12 Hadžibegović, Iljas: Socijalna struktura Slovenaca u Bosni i Hercegovini od sredine XIX
stoljeća do 1991. godine. In: Prilozi 36 (2007), pp. 135–178, hier p. 141; Kryzk, Tomislav:
Česi u Sarajevu. Arhivsko dokumentacijska istraživanja. Sarajevo: Matica hrvatska 2015;
vgl. die Memoiren von Valoušek, František: Sjećanja na Bosnu. Zapisi austrougarskog
žandara na službi u Bosni. Sarajevo: Bosanska riječ 2015.
13 Jergović, Miljenko: Kosta Hörmann, svemogući kuferaš, https://www.jergovic.com/­
ajfelov-most/kosta-hormann-svemoguci-kuferas/ (30.11.2015).
14 Nach Džambo, Jozo: Milena Preindlsberger-Mrazović – publicistkinja između tradicio-
nalnog i modernog. In: Bosna Franciscana 46 (2017), pp. 9–54, hier p. 9 war diese in Wien
geboren worden.
15 Vgl. Seljak i Švabo. In: Behar, 15.10.1910; Muslimanska ženska ruždij. In: Ogledalo, 15.6.
1907; Protiv kolere. In: Bošnjak, 6.10.1902.- N.B. „kufer“ wird gerne von Koffer abgeleitet,
andererseits bedeutet Qufr arabisch bzw. in der islamischen Terminologie „Ungläubiger“,
so dass auch ein Wortspiel vermutet werden darf. In der Zeitung Musavat ist die Konno-
tation regelmäßig negativ.
16 Bethke, Carl: Die Zeitungen „Bosnische Post“ und „Sarajevoer Tagblatt“, 1903–1913. In:
Bethke et al. (2015), pp. 137–174, hier p. 140f.; Kruševac, Todor: Bosansko-hercegova č ki
listovi u XIX veku. Sarajevo: Veselin Masleša 1978, pp. 162–180, hier p. 164ff.; Pejanović,

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina241

des Blattes fiel zusammen mit dem Bemühen der neuen Landesregierung unter
Freiherr von Appel, den bosnischen Landespatriotismus zu fördern. Es handelte
es sich aber nicht um ein Regierungsblatt, allerdings unterstütze das Außen-
ministerium ab Oktober 1884 die Zeitung durch 100 Abonnements; die Kosten
dafür übernahm wenig später zu 50 % das gemeinsame Finanzministerium.17
Die Berichte zur urbanen Transformation und zur Kommunalpolitik, die An-
zeigen, landeskundlichen Beiträge sowie Veranstaltungshinweise wiesen einen
ausgeprägten Sarajevo-Bezug auf. Das Blatt war explizit säkular; als Zielgruppe
wurde vor allem die lokale Beamten- und Kaufmannschaft definiert.18
In den ersten Ausgaben warnte die Bosnische Post noch vor dem Misslingen
privater Einwanderungen von „Deutschen“, sicher auch angesichts damaliger
Probleme mit der unkontrollierten Niederlassung und Aneignung von Land
durch Immigranten aus der benachbarten Lika.19 Auslöser für die Ansiedlung
wurde jedoch eine Überschwemmungs-Katastrophe in Tirol und Trient im
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Herbst 1883, wovon hunderte Familien betroffen waren: Als Alternative zur
Amerikamigration wurde Betroffenen aus Notstandmitteln des Landes die An-
reise und Inventar zur Niederlassung in Bosnien-Herzegowina angeboten – die
ersten staatlichen Ansiedler waren daher, so Ferdo Hauptmann, Italiener. Von
diesen wurde bei diesem „Versuch“ die eine Gruppe bei Konjic als Kmeten an-
gesiedelt, was zu deren Rückkehr oder Wegzug führte; mehr Erfolg hatte man
hingegen mit 57 Familien (320 Personen), die in Mahovljani nahe bei Wind-
thorst Land als Siedler erhielten.20

Đorđe: Bibliografija štampe Bosne i Hercegovine 1850–1941. Sarajevo: Veselin Masleša


1961, p. 22f.
17 Der Minister: An Seine Exzellenz Herrn Benjamin von Kallay. Wien, den 21. Mai 1896.
In: Präsidium des Bureau für die Angelegenheiten Bosniens und der Herzegowina: Mi-
nisterium d. Äußeren in Angelegenheit der Subvention der Bosnischen Post Arhiv Bosne
i Hercegovine, Zemjalska Vlada (ABiH ZVS). 497–1896; HHSA PL 107 1884, 143/5, s.
Bethke 2015, p. 140.
18 Sarajevo, 31. Dezember. In: Bosnische Post, 1.1.1885; vgl. Bethke 2015, u. a. p. 168f. – Die
Bosnische Post könnte am ehesten als Repräsentant eines Reichs-Patriotismus gelten,
programmatisch z. B. anlässlich des Kaiserbesuchs 1910: Das Reich, in: ibid., 31.5.1910.
Bezeichnend ist, dass sowohl die Bosnische Post als auch das 1908 von ihr „abgespalte-
ne“ Sarajevoer Tagblatt die Identifikation mit den Deutschen vermieden (Bethke 2015,
passim). Letzteres galt allerdings nicht für Josef Kerausch-Heimfelsen, der um 1909/10
verantwortlicher Redakteur beim Sarajevoer Tagblatt war. Offenbar arbeitete er zugleich
für den militärischen Nachrichtendienst und betätigte sich auch als Schriftsteller: Bethke
2015, p. 151.
19 Kutschera-Kallay, 19.07.1883. In: Agrarni odnosi u B. i H. 1878–1918. Građa za proučavanje
političkih, kulturnih i socijalno-ekonomskih pitanja iz prošlosti BiH. Sarajevo: Arhiv
Bosne i Hercegovine 1969, Nr. 33.
20 Hauptmann, Ferdo: Reguliranje zemljišnog posjeda u Bosni i Hercegovini i počeci nasel-
javanja stranih seljaka u doba austro-ugarske vladavine. In: Godišnjak društva istoričara

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242 Carl Bethke

Von schwäbischen Siedlern zur staatlichen „ärarischen“


Kolonisation (1893–1905)

Ungewöhnlich für Österreich-Ungarn war, dass die meisten der in Bosnien-Her-


zegowina entstandenen deutschsprachigen Siedlungen evangelischer Konfes-
sion waren. Die Initiative dazu ging auch hier zunächst von privater Seite aus
– 1886 erwarben Schwaben aus dem Banat, die das Okkupationsgebiet beim
Militärdienst kennengelernt hatten, mit Hilfe eines staatlichen Kredits Land von
einem bosniakischen Grundherren und gründeten Franz-Josefsfeld.21 Offenbar
unter dem Eindruck des Erfolges kündigte Lajos von Thallóczy, Sektionschef im
k. u. k. Finanzministerium, der deutschen Botschaft in Wien Pläne zu weiteren
Einwanderung von Deutschen und Ungarn an .22 Zunächst wurde aber 1890
mit der „internen Kolonisation“ begonnen, 238 bosniakische Familien aus Cazin
und Gradiška erhielten dabei Land, und zwar im Kreis Prnjavor; bis 1909 wurde
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an 6.139 einheimische Familien mit 36.366 Personen staatliches Land verteilt.23


Die Verpachtung von (zumeist ungenutzten) Grundstücken aus staatlichem
„ärarischen“ Besitz an Einwanderer setzte 1891/92 ein – Tomislav Kraljačić ver-
mutet einen Zusammenhang mit der damaligen politischen Instabilität in Ser-
bien.24 Tatsächlich lagen die damals gegründeten Orte Branjevo und Dugopolje
an der Drina direkt an der Grenze zu Serbien. Die Siedler waren wiederum Land
suchende evangelische Schwaben aus den geburtenstarken Orten Franzfeld im
Banat und aus Syrmien –, wie im bereits gennannten Fall von Franz-Josefsfeld
dem diese Dörfer dann auch kirchlich unterstanden. Der Vertrag mit diesen
Siedlern über die Verpachtung von Staatsland diente dann offenbar als Muster
für eine am 8. März 1893 erlassene Verordnung über Kolonisation: Demnach
konnte „Kolonisten“ fortan eine gepachtete und von diesen urbar gemachte
Parzelle von 10–12 Hektar aus öffentlichem Besitz nach 10 Jahren überlassen
werden, sofern jene die bosnische Landeszugehörigkeit erwarben. In den ersten

16 (1965), pp. 151–171, hier p. 160; vgl.: Ansiedlung von Süd-Tirolern im Okkupations-
gebiet. In: Bosnische Post, 23.03.1884. – 1939 wurden die italienischen Einwohner von
Mahovljani nach Italien „umgesiedelt“.
21 Bethke, Carl: Deutsche „Kolonisten“ in Bosnien. Vorstellungswelten, Ideologie und sozia-
le Praxis in Quellen der evangelischen Kirche. In: Šehić, Zijad (Hg.): Bosna i Hercegovina
u okviru Austro-Ugarske 1878–1918. Sarajevo: Filozofski Fakultet u Sarajevu 2011, pp.
235–266.
22 „eventuelle Heranziehung deutscher Ansiedler“: Seiner Durchlaucht dem Fürsten von
Bismarck. Wien, den 1. September 1888. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R
12915.
23 Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Un-
garns. Leipzig: Veit 1914, p. 247; Mi smo preč iodtugljina. In: Bošnjak, 10.09.1891.
24 Kraljačić 1987, p. 126.

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina243

drei Jahren hatte ein Kolonist gar keine Pachtgebühr zu entrichten, allerdings
waren als Voraussetzung Kenntnisse der Landwirtschaft sowie ein Vermögen
von 1200 Kronen nachzuweisen.25 Für Aufsehen sorgte, dass zu den Ersten, die
auf diesem Weg 1894 Land erhielten, Russlanddeutsche Rückwanderer in Vrano-
vac und Prosora gehörten; wie es hieß, „alles evangelische Deutsche, gewesene
deutsche Reichsländer, die ihres Glaubens wegen und ihrer Sprache von dort
verdrängt wurden“.26 Durch Zuzüge aus Galizien, Kroatien und Ungarn soll sich
die Zahl der deutschsprachigen Bauern schließlich bis auf 8.000 erhöht haben.27
Das erst dann einsetzende „Kolonisations“-Programm auf staatliche Initiati-
ve sollte auch der sich damals formierenden „antiloyalen Bewegung“ (mit zu-
nächst vor allem serbischem Hintergrund) entgegentreten; effektiv führte dieser
Schritt allerdings ebenso zur ethnischen Diversifizierung der bis dahin vor allem
deutsch und privat dominierten Siedlermigration – warb doch die Landesregie-
rung dafür gezielt in Zeitungen des strukturschwachen und „übervölkerten“
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Galizien mit starker Überseeauswanderung: Tatsächlich wurden zu diesen be-


günstigten Konditionen in der Folge bis zum Ende dieses Programmes 1905 830
polnische, 365 ukrainische, 331 deutsche, 107 tschechische, 87 italienische und
86 ungarische Familien angesiedelt. Eigene Grundschulen und Kirchen gehörten
dabei zur Ausstattung deutscher wie auch nichtdeutscher Dörfer.28

Die Rolle der Evangelischen Kirche: Anfänge nationalpolitischer


Mobilisierung

Das vielleicht eindrucksvollste Denkmal der Einwanderung nach Bosnien zur


k. u. k.-Zeit. stellt die am 19. November 1899 eingeweihte ehemalige evangeli-
sche Kirche in Sarajevo dar; zumal nach Ergänzung der Seitenflügel 1911 war sie
eines der größten Gebäude der Stadt (heute: Kunstakademie). Der Architekt war

25 Kožar, Azem: Austrougarska kolonizacija granice na Drini. In: Bosna i Hercegovina u


okviru (wie Anm. 21), pp. 267–285, hier pp. 274 u. 276 ff.; Bayer, Gustav Adolf: Und übrig
blieb ein Johannesbrot-Baum. Branjevo an der Drina-Bosnien-Jugoslawien. Pfullingen:
Gebr. Tauss 1974; Bethke 2011, p. 244.
26 Bericht Pf. Schäfers an den Zentralvorstand vom 02.08.1894. Evangelisches Zentralarchiv
Berlin (EZAB) 200–1–2889 (Gustav-Adolf-Werk); Iz delegacia. In: Bošnjak, 27. 06. 1895.
27 Heimfelsen, J., Sarajevo: In den deutschen Kolonien Nordost- und Nordbosniens EZAB
200 -1–2214; in dieser Fassung beklagt der Autor die „totale Abgeschiedenheit vom gros-
sen Weltmarkt“.
28 Kraljačić 1987, p. 514; Auszug aus Reiserelation des Kreisvorstehers Ladislaus Baron über
Kolonien in Bosnien, 19.02.1913, ABIH ZVS Zl. 15514, 1913-Kultus und Unterricht; vgl.
Škiljan, Filip: Poljaci u Bosni i Hercegovini. In: Omerovi ć, Enes (Hg.): Historijski pog-
led na razvoj i položaj nacionalnih manjina u Sarajevu i Bosni i Hercegovini. Sarajevo:
Udruženje za modernu historiju 2017, pp. 77–108.

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244 Carl Bethke

der ansonsten durch staatliche Repräsentationsbauten bekannte Oberingenieur


der Landesregierung Karl Paržik. Zur Einweihung gab man z. B. verbilligte Fahr-
karten aus, Landeschef Appel, die wichtigsten Landesbeamten und der britische
Konsul nahmen teil, allerdings kein Vertreter des Bischofs Stadler: Der impo-
sante Bau stand der Erwartung oder Befürchtung einer von den Habsburgern
beförderten katholischen Hegemonie für jedermann sichtbar entgegen, – was
der stattdessen pro-bosnischen Politik des für Kultusangelegenheiten zustän-
digen Ziviladlatus Hugo v. Kutschera genau entsprach. Dazu passte auch, dass
diese evangelische Kirche vom Kaiser selbst besucht wurde und das Protokoll
seine Vertreter auf Augenhöhe mit jenen der altetablierten Konfessionen be-
rücksichtigte.29
Während die Gemeinde in Sarajevo sowohl deutsche (lutherische) als auch
ungarische (reformierte) Mitglieder hatte, ließen sich in den evangelischen Ko-
lonien Westbosniens Deutsche unterschiedlichster Herkunft nieder – was die
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Bedeutung und Autorität der von Deutschland aus entsandten und finanzierten
Pastoren noch verstärkte. Ihr Wortführer wurde der Vikar bzw. Pastor von Ban-
ja Luka, Wilhelm Oehler. Als der 1910 gewählte Landtag (Sabor) den deutschen
Schulen die Mittel kürzte, gewann er stattdessen die Unterstützung des Vereins
für das Deutschtum im Ausland (VDA), auch für den von seinem Bruder Albrecht
Oehler gegründeten Genossenschaftsverband, der ebenso deutsche Katholiken
umfasste und 1914 546 Mitglieder hatte.30
Dieser Genossenschaftsverband war angeschlossen an den 1908 gegründe-
ten bürgerlich-deutschnationalen Verein der Deutschen und der Herzegowina,
dessen Zweigstelle in Banja Luka die Oehlers gegründet hatten. Jener ging auf
eine seit 1899 entstandene Tischgesellschaft in Sarajevo zurück, die sich 1902
zunächst als Verein „Deutscher Stammtisch“ konstituiert hatte. Der erste Vor-
sitzende war Georg Grassl, der spätere Vorsitzender des Schwäbisch-Deutschen
Kulturbundes in Jugoslawien. Die Statuten waren an jene des tschechischen
Vereins angelehnt; der Verein führte als Farben Schwarz-Rot-Gold, die Studen-
tenabteilung hieß „Wartburg“. Es gelang ihm auch in den Fabriksiedlungen Fuß
zu fassen, bis 1914 wuchs seine Anhängerzahl von 500 auf landesweit 2000.31

29 Beg Kapetanović, Grado načelnik: Zemjalskoj vladi u Sarajevu. Sarajevo, dne 26. Maj
1898. In: Magistrat Sarajevo über Baugenehmigung Kirchengemeinde, 26.05.1898, ABIH
ZVS Z 6626 1898; Presbyterium der hiesigen evangelischen Kirche mit Einladung zur Ein-
weihung der neuen evangelischen Kirche am 19. November d. J. (ibid., 2/XI 1899 Nr. 162.
942 1899).
30 Bethke 2011, p. 254; Deutsche Kolonien und evangel. Gemeinden in Bosnien: Arbeitsbe-
richt über das Jahr 1914 erstattet von Pfarrer W.J. Oehler, Banja Luka; EZAB 200–1–2014,
passim.
31 Verein der Deutschen in Bosnien und der Hercegowina, Bundesarchiv, R 57 5384; Verein
Deutscher Stammtisch, Bundesarchiv, R 57 5389; siehe auch ABiH, ZVS, 1914, 18–312;

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina245

Der „Erfolg“ deutschnationaler Mobilisierung war, wie ein Vergleich mit Slawo-
nien oder Zentralungarn leicht zeigen könnte, erstaunlich, und weder natürlich
noch selbstverständlich. Er dürfte mit der Zunahme ethnischer Spannungen zu
erklären sein32; und verweist auf den einsetzenden Wandel bei imperialen Ein-
wanderergruppen hin auf ein Selbstverständnis als nationale Minderheit.

Bosniakische Perspektiven
Das Bild der „Schwaben“ in den bosniakischen bzw. muslimischen Zeitungen
variierte. Die erste von ihnen in lateinischer Schrift war der von 1891–1910
erscheinende Bošnjak. Dieser vertrat eine landespatriotische und habsburg-lo-
yale Linie. In einer Kontroverse mit einem Belgrader Blatt verteidigte er die
Verpachtung von Land an die Siedler in Franz-Josefsfeld, da, aus der Sicht des
Grundherren, die dortigen Kmeten das Land nicht so fleißig bearbeitet hätten
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wie die Siedler.33 Kritik an einzelnen Zuwanderern erfolgte unter Umständen


namentlich konkret und alltagsbezogen; so z. B. fand man es unpassend, dass
ein Italiener in Zenica seinen Hund Sultan nannte.34
Im Gegensatz zur vom Bošnjak vertretenen Linie formierte sich in den 1890er
Jahren eine muslimische Opposition, welche sich zunächst vor allem in Kund-
gebungen und Eingaben artikulierte, 1910 aber als Partei „Muslimische Volks-
organisation“ (MNO) in den Landtag einzog. Ihr Organ war die Zeitung Mu-
savat. Dieses suchte Schuldige bevorzugt bei „Kuferašen, zusammen mit den
Frankianern und den mehkiši“ (Weichlingen, d. h. ihre politischen Gegner).35
Die MNO-Politiker beschränkten ihre Angriffe also nicht auf die „Schwaben“,
ebenso kritisierten sie z. B. auch, dass die Kirche der Ukrainer pro Kopf mehr

vgl. Geiser, Alfred Deutsche Kulturarbeit in Bosnien und Herzegowina. In: Holdegel,
Georg / Jentzsch, Walter (Hg.): Deutsches Schaffen und Ringen im Ausland. Ein Quellen-
lesebuch für Jugend und Volk, für Schule und Haus. Bd. 1: Österreich-Ungarn, Balkan,
Orient. Leipzig: J. Klinkhardt 1916, p. 61.
32 Dies ist ablesbar an entsprechenden Pressekontroversen: Die Fremden. In: Bosnische
Post, 19.5.1907; Unter dem Terrorismus der Čaršija. In: ibid., 10.2.1908; Kuferašen hinaus
aus Bosnien. In: ibid., 26.11.1910; Das Germanisationsgespenst. In: Sarajevoer Tagblatt,
1.9.1909; Serbische Germanophobie. In: ibid., 21.9.1910, vgl. z. B. Prodaja naših šuma. In:
Musavat, 14.6.1911, dagegen suchte sich der Bošnjak von der Fremdenfeindlichkeit der
serbischen Blätter zu distanzieren: Vgl. Mi i stranci. In: Bošnjak, 09.02.1908.
33 I ne stide se! In: Bošnjak, 24.12. 1896; vgl. dazu Kruševac 1978, pp. 236–261; Pejanović
1961, p. 32f.
34 Neumjesno ime. In: Bošnjak, 30.1.1896 – Zenica war seit 1892 ein wichtiger Industrie-
standort.
35 Hier: Općinski izbori u Ljubuško. In: Musavat, 30.01.1908, passim (7x in jener Ausgabe!).

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246 Carl Bethke

Subsidien erhielt als die einheimischen Juden. Musavat war zum Teil proser-
bisch; einige Artikel und die Titelzeile erschienen auch auf kyrillisch.36
Dagegen lehnten sich, nach Preisgabe der bosniakischen Orientierung durch
Finanzminister Burián, die Loyalisten oder „Fortschrittler“ bzw. die Selbstän-
dige Muslimische Partei an die Kroaten an; im Artikel „Ungarische Invasion“
kritisierte die Zeitung Muslimanska Sloga die Errichtung ungarischer Schulen,
da sich die Öffentlichkeit mit den deutschen Einwanderern ja bereits ohnehin
befassen würde.37 Nicht wegen der Souveränität des Sultans wollte demnach
die Opposition die Schwaben über die Save treiben, sondern um Bosnien-Her-
zegowina an Serbien anzuschließen.38 Noch vor den Balkankriegen führten
die Gegensätze zu den Serben hinsichtlich der Agrarreform zur Fusionierung
der muslimischen Strömungen; die Zeitung der „vereinigten Muslime“ Zeman
drängte einerseits, wie alle Landtagsparteien, auf die Ablösung des Deutschen
als Verwaltungssprache und die verstärkte Rekrutierung von Einheimischen als
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Beamte39; andererseits hieß es anlässlich eines Konfliktes mit Boykottaufrufen


in Bileća, dass Kuferašen und Schwaben den Muslimen näher stünden als die
Serben.40

Während des Ersten Weltkrieges


Im Sommer und Herbst 1914 drang das serbische Heer tief in Bosnien-Herzego-
wina ein. Reichsdeutsche Marineinfantristen, zuvor seit 1913 auf Friedensmis-
sion in Albanien, wurden im August 1914 bei ihrem Aufenthalt in Bosnien auch
von den lokalen Deutschen gefeiert, so in Zavidovići, einem wichtigen Standort
der Holzindustrie (u. a. Eisler und Ortlieb), wo auch einige Reichsdeutsche leb-
ten. Doch dieses „Skutari-Detachment“ wurde bereits nach einem Gefecht bei
Višegrad zurück nach Wilhelmshaven und Kiel beordert.41 Der Vormarsch der
serbisch-montenegrinischen Truppen auf habsburgisches Territorium war hin-
gegen begleitet von der Flucht von Bosniaken und Misshandlungen, doch wur-

36 Govornar Poslanika Suljage Vajzovic. In: Musavat, 25.3. 1911; vgl. Bethke 2015, p. 159.
37 Magjarska Invazija. In: Muslimanska Sloga, 01.11.1910; Protumagjarske demonstracije.
In: Hrvatski Dnevnik, 20.02.1912; vgl. Balta, Ivan: Julijanska Akcija u Slavoniji. Zagreb:
Društvo mađarskih znanstvenika i umjetnika Hrvatske 2006, p. 203f.
38 Dvije riječi Musavat. In: Muslimanska Sloga, 20.01.1911, sowie ibid., 17.01.1911.
39 Z.B. Kuferaši na pomolu. In: Zeman, 10.09.1912; Ponižavanja muslimana, ibid., 16. 09.
1911.
40 Opet muslimane bojkotiraju. In: Zeman, 29.02.1912; Grunddaten zu Zeman bei Pejanović
1961, p. 77.
41 Festlicher Empfang des deutschen Detachment in Zavidovići. In: Sarajevoer Tagblatt,
02.09.1914; zum Bosnien-Einsatz vgl. BA Militärarchiv Freiburg RM 3 4333 und ibid., 5
2283.

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina247

den auch „zündende Ansprachen gehalten, in denen betont wurde, dass die Zeit
gekommen sei, die ‘Švabas’ aus dem Lande zu jagen und dieses serbische Land
zu befreien; alles den Švabas gehörende Vermögen sollte unter die Serben ver-
teilt werden“. Solche und ähnliche Drohungen bereits seit den Balkankriegen42
sind als Hintergrund für die ersten Umsiedlungspläne 1916 zu bedenken; nach-
dem 1914/15 viele Serben aus den Gebieten an der Drina geflohen waren, kam
zuvor jedoch die Idee auf, (kriegsgefangene) Russlanddeutsche anzusiedeln.43
Nach Kriegsende waren die kuferaši Übergriffen ausgesetzt, auch manche Ko-
lonien wurden dabei derart „heimgesucht“, dass es die Bewohner vorzogen,
einstweilen „außerhalb zu kampieren“.44

Zusammenfassung: Habsburg in Bosnien-Herzegowina ‒ ein


„nationalizing empire“?
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Bis 1918 war Deutsch die innere Verwaltungssprache in Bosnien und Herze-
gowina – davon zu unterscheiden ist, dass der Anteil der Deutschen bei den
Beamten bereits 1907 nur mehr 12, 44 % ausmachte.45 Die meisten habsbur-
gischen Beamten in Bosnien und Herzegowina waren damals „Slawen“, be-
sonders Kroaten, zunehmend auch Bosniaken, die jahrzehntelang ihren beruf-
lichen Alltag auf Deutsch bewältigten: Oft ungesagt, aber sehr wohl implizit,
richteten sich die Angriffe der Opposition gegen die (deutsch sprechende) Be-
amtenschaft, somit stets auch gegen einen Teil der südslawischen Eliten selbst;
allein ihre lebensweltliche Praxis entzog sich nicht nur den Normierungen der
jugoslawischen Nationalbewegungen, sondern stellte deren zentrale Axiomatik
über die essentiell trennende Bedeutung der Muttersprache überhaupt in Frage.
Allerdings waren die gegenteiligen Erwartungen ebenso selbst Resultate der
Integration in die Strukturen des Habsburgerreiches: Die beschriebene Situ-

42 Bezirksamt Foča: An das Präsidium der Landesegierung in Sarajevo. (Betr.:) Bezirk Foča,
Räumung und sonstige Ereignisse, ABIH ZVS pr. B.H. 1715/1914; Bethke 2011, p. 260.
43 Bethke 2011,p. 262; Hofrat Foglár, Präsidium des k. und k. gemeinsamen Finanzministe-
riums in Angelegenheiten Bosniens und der Hercegowina: Der Landesregierung in Sara-
jevo zur Kenntnis. (Betr.): Deutschrussische Kriegsgefangene, Ansiedlung in BH. Wien,
29.01.1916, ABiH Zajednički Ministarstvo Financije Presidalpr. Bh. 93/1916).
44 Omerović, Enes S.: „Odlazak 'kuferaša'". Iseljavanje stranaca iz Bosne i Hercegovine 1918/
1919. godine, http://konferencija2014.com.ba/wp-content/uploads/Enes-S.-Omerović-
paper.Pdf; Oehler, Albrecht: Der Umsturz in Bosnie. In: Dorotka Ehrenfels, Wilhelm von:
Der schwäbisch-deutsche Kulturbund. I. Typoskript: Die Lage der Deutschen vor und
unmittelbar nach dem Umbruch. Neusatz im Mai 1935, Arhiv Vojvodine Novi Sad 20560,
pp. 20–24.
45 Izvještaj o upravi Bosne i Hercegovine 1907. Zagreb: G. i Kr. zajedničko Ministarstvo
financija Beč 1908, p. 7f.; Kraljačić 1987, p. 440.

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248 Carl Bethke

ation in Bosnien-Herzegowina war nämlich durchaus eine Ausnahme, denn


im Gegensatz zum Trend zeitgenössischer Imperien wie Nationalstaaten hatte
sich das Habsburger-Reich im Laufe des 19. Jahrhunderts dezentralisiert; nor-
malerweise war deutsch dort, wo Deutsche keinen nennenswerten Anteil an
der Bevölkerung stellten, auch nicht Amtssprache. Die deutsche Sprache hatte
im asymmetrisch zusammengewachsenen Habsburger-Reich also nicht dieselbe
Bedeutung wie Englisch, Französisch oder Russisch in den jeweiligen Imperien;
es konnte daher, trotz Zweibund, auch nicht in vergleichbarer Weise zum „na-
tionalizing empire“46 werden.
So lässt sich abschließend sagen, dass sich auch in der Geschichte der Einwan-
derung nach Bosnien-Herzegowina zur k. u. k.-Zeit erstens der polyzentrische
Charakter der Habsburgermonarchie abbildet: Entwicklungen und Muster aus
Budapest und Zagreb wirkten auf die Entwicklung vor Ort autonom und ebenso
sehr ein wie jene aus Wien. Der Verlauf und die Struktur der Einwanderung
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ließ stets erkennen, dass jene nicht bzw. von niemandem im Sinne einer wo-
möglich deutschsprachigen ‘Leitkultur’ beherrscht und gesteuert wurde: Die
Arithmetik der Machtverhältnisse auf internationaler Ebene wie innerhalb der
Habsburgermonarchie stand dem entgegen, noch bevor 1905 einer nennens-
werten weiteren Siedlungsmigration überhaupt ein Ende gesetzt wurde. Damit
ist angesprochen, dass das Einwanderungsgeschehen zweitens auch ein Spiegel
der Periodisierung, d. h. jener tief greifenden Zäsuren ist, ohne deren Beachtung
die Geschichte k.u.k-Bosniens nicht zu verstehen und zu deuten ist. Das gilt
für den Neuaufbruch nach dem Aufstand 1882, welcher erst zum verstärkten
Einsatz deutscher und ungarischer statt kroatischer Beamte führte, ebenso, wie
für die staatliche Kolonisation der 1890er: Sollte doch mit dieser auch auf die
sich seinerzeit neu formierende – und dann rasch anwachsende- Oppositions-
bewegung reagiert werden (wobei sie im Effekt die beschleunigte Zuspitzung
der weiteren Entwicklung nur vorantrieb). Auch das Ende der Einwanderung,
oder die politische Differenzierung der deutschsprachigen Öffentlichkeit (ab-
lesbar an den Printmedien), sind im Kontext des steten Wandels der politischen
Rahmenbedingungen zu sehen. Ab 1903 wurden diese bestimmt durch den
Neuen Kurs der Ära Burián, und die damals plötzlich stark veränderte inter-
nationale Situation, unter anderem in Folge des Dynastiewechsels in Serbien;
die Re-Definition der Landessprache als „Serbokroatisch“ statt Bosnisch ist ein
markanter Indikator für den grundlegenden politischer Strategiewechsel jener

46 Leonhard, Jörn / Hirschhausen, Ulrike von: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhun-
dert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009.

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Einwanderung und Kolonisten im k. u. k. Bosnien-Herzegowina249

Jahre.47 Drittens stehen diese Wandlungen und Veränderungen einschließlich


ihrer Rückwirkungen auf das Einwanderungsgeschehen im Zusammenhang
mit den besonderen Begrenzungen und Bedingtheiten des k.u.k-Regimes in Bos-
nien-Herzegowina – sowohl auf Grund schon der vertraglichen Bindungen und
Auflagen des Mandats von 1878/79, als auch hinsichtlich der Konditionen des
Regierungshandelns vor Ort. Letzteres beruhte in einem solchen Ausmaß und
zunehmend auf ‘Koalitionen’ oder jedenfalls Arrangements mit verschiedenen
Interessengruppen – auf beiden Seiten –, dass von einer simplen Dichotomie
von Kolonisatoren und Kolonisierten m. E. nicht gesprochen werden kann. Ins-
besondere waren die deutschsprachige Beamtenschaft und ihre Presse, die Ein-
wanderung, die Unternehmen, Banken und Politiker aus dem Deutschen Reich
und Österreich, oder auch die evangelische Kirche, zwar Faktoren unterschied-
lichen Gewichts – oder bargain chips – in diesem Spiel, doch neben vielem An-
derem: etwa den begs und der Agrarfrage, der katholischen Kirche und anderen
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Einflüssen aus Kroatien, oder den politischen und ökonomischen Interessen


unterschiedlicher Teile der Budapester Elite usf. Im Vergleich zur Situation in
den Überseekolonien der nationalizing empires wäre für k. u. k. Bosnien-Her-
zegowina insofern von einer weniger unmittelbaren und eindeutigen, dafür
abstrakteren und stärker an die mitteleuropäischen Verhältnisse angepassten
Form von Machtverhältnissen und politisch-kultureller Hegemonie auszugehen.
Dies konkreter zu analysieren und zu entschlüsseln, ist am Ende viertens auch
eine Herausforderung für die Historiografie zu k. u. k.-Bosnien – diese ist stark
archiv-orientiert, wenn auch zunehmend ergänzt durch die Analyse deutsch-
sprachiger Literatur und Publizistik. Doch tatsächlich waren die (vermeintlich)
„Kolonisierten“ gerade in diesem Fall alles anderes als stumm: Die Forschung
hat sich, bei allen Sprach- und Konfessionsgruppen mehr mit einem zunehmend
politisch ausdifferenzierten und dabei durchaus in streitbarer Kommunikation
miteinander stehenden Printmediensektor auseinanderzusetzen; die inhaltliche
Diskussion dieses Materials erscheint jedenfalls nicht abgeschlossen.48 An die
Bedeutung dieses Faktors, d.h, der gegenseitigen Wahrnehmungen und diskur-
siven Auseinandersetzungen, konnte an dieser Stelle am Beispiel der muslimi-
schen Presse nur kurz erinnert werden.

47 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg „Civilizing Mission“ in Bosnia,
1878–1914. Oxford: OUP 2007, pp. 58, 145; Bethke 2011, p. 155; Bethke 2015, passim.
48 Lindemann, Kristin: Literatur im Dienste der Modernisierung. Bosnien-Herzegowina im
Kontext des islamischen Aufklärungsdiskurses. Konstanz: Diss. (unveröff.) 2015.

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Amtssprache Maurisch?251

Amtssprache Maurisch?

Zum Problem der Interpretation des orientalisierenden


Baustils im habsburgischen Bosnien-Herzegowina1

Maximilian Hartmuth (Wien)

Von seiten der Landesverwaltung ist nun schon seither manches für die Erhaltung des
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orientalischen Charakterbildes der Stadt geschehen. Vor allem hat die Regierung der
Wiederbelebung des arabischen Stiles ihre Aufmerksamkeit zugewendet […] Der ech-
te einheimische Stil ist das freilich nicht und es ist daher nicht zu verwundern, wenn
sich in neuester Zeit dagegen eine Opposition regt. Man bezeichnet jetzt diese Bauart
als volksfremd und zeitfremd und fordert, daß die Regierung bei ihren Neubauten vor
allem den hergebrachten einheimischen (bosnischen) Stil pflege.2

Zu den wohl beachtenswertesten Belegen der Auseinandersetzung österrei-


chisch-ungarischer Entscheidungsträger mit der als fremd verstandenen Kultur-
tradition des 1878 okkupierten Bosnien-Herzegowinas zählen die zahlreichen
Bauwerke in einem eklektischen Stil, der in der Hauptsache das islamische Mit-
telalter Spaniens und Ägyptens paraphrasiert. Das einstmalige Rathaus von Sa-
rajevo, das als im Bosnien-Krieg beschossene Nationalbibliothek über abertau-
sende Fernsehschirme flimmerte, ist wahrscheinlich sein bekanntestes Beispiel,
gleichsam aber auch nur eines von (überraschend) vielen. Ähnlich exzentrische
Rathäuser finden sich in unauffälligen Klein- und Mittelstädten, wo sie auch
häufig das beachtenswerteste Bauwerk darstellen.3 Seinen Ausgangspunkt hat-
te der Stil allerdings in Projekten der Landesregierung für Bosniens Muslime,

1 Der vorliegende Aufsatz ist ein vorläufiges Produkt des vom Europäischen Forschungsrat
geförderten Fünfjahresprojekts Islamic Architecture and Orientalizing Style in Habsburg
Bosnia, 1878–1918 (ERC 758099) und profitierte von den Anmerkungen der Projektmit-
arbeiterinnen Caroline Jäger-Klein, Julia Rüdiger und Franziska Niemand.
2 Schmid, Ferdinand: Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungarns.
Leipzig: Veit 1914, p. 748.
3 So etwa in Brčko, Gradiška, Bugojno.

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252 Maximilian Hartmuth

die immerhin ein Drittel der Bevölkerung im Okkupationsgebiet stellten und


traditionell die Städte dominierten.4
Der Stil, für den sich im Lande selbst der trügerische Begriff „pseudo-mau-
risch“ durchgesetzt hat, fand aber auch Niederschlag in einer Reihe anderer
Funktionstypen: Schulen, Synagogen, Wohnhäuser, Bäder, usw. Er wurde somit
gewissermaßen zum bosnischen „Landesstil“, da man ihn nur dort in dieser
Streuung antrifft. Zwar lassen sich in Wien und anderen Zentren der Monarchie,
also den Ausbildungsstätten der nach Bosnien und in die Herzegowina gesand-
ten Architekten, Vorgänger und Vorbilder finden;5 waren sie aber im Reichs-
kern im Grunde genommen Exoten, durften Bauwerke im orientalisierenden
Stil in Bosnien zentrale religions- und kommunalpolitische Symbole darstellen.
Es ist nun sonderbar, dass sich die deutschsprachige Wissenschaft, insbeson-
dere die Kunstgeschichte, bislang so wenig für dieses Erbe interessiert hat, das
ja gewissermaßen auch ein österreichisches, jedenfalls ein österreichisch-un-
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garisches ist. Den aufschlussreichen, bebilderten Reisebeschreibungen aus der


Zeit der vorigen Jahrhundertwende folgte wenig Handfestes. Als Hoffnungs-
schimmer ist – mit Einschränkungen – der Artikel zu werten, den Alexander
Zäh 2013 in den Südost-Forschungen publiziert hat.6 Er versteht ihn als „Kleines
Survey bedeutender Bauwerke und deren Verwendungsgruppen“ in dem Stil,
den er kunsthistorisch korrekter als „orientalisierenden“ bezeichnet.7 Das im
Titel des Aufsatzes („Die orientalisierende Architektur als ein stilistischer Aus-

4 Das wichtigste Beispiel eines solchen Baus ist die Scheriatsrichterschule, wiederum in
Sarajevo, gefolgt von der Medrese in Travnik, deren habsburgzeitlicher Neubau durch
den Abriss des osmanischen Vorgängerbaus zugunsten einer Eisenbahntrasse notwendig
geworden war. In Travnik finden sich auch mehrere Moscheen, die nach dem vernichten-
den Feuer von 1903 sichtlich mithilfe von in der Monarchie Ausgebildeten wiedererrich-
tet wurden. Die überkuppelte sog. Vorstadtmoschee ist wohl das monumentalste Beispiel
eines in der österreichisch-ungarischen Verwaltungszeit „erneuerten“ islamisches Kult-
baus.
5 Man denke etwa an das Heeresgeschichtliche Museum und die Zacherlfabrik sowie viele
Synagogenbauten in Wien.
6 Zäh, Alexander: Die orientalisierende Architektur als ein stilistischer Ausdruck des of-
fiziellen Bauprogramms der k. u. k. bosnisch-herzegowinischen Landesregierung 1878–
1918. In: Südost-Forschungen LXXII (2013), pp. 63–97.
7 Es folgt eine Unterteilung nach Funktionstypen (Rathäuser, Medresen, Glaubensschulen,
Moscheen, Synagogen, Badeanlagen, Wohn-, Geschäftshäuser und Hotels) bzw. nachah-
mungsresistenten Einzelfällen (Bahnhof Brod, Scheriatsrichterschule Sarajevo, Gymna-
sium Mostar). Verwendet wurden vorrangig im Internet verfügbare Primär-, Sekundär-
und Bildquellen, darunter die Dissertation von Branka Dimitrijević (für eine wichtige
Veröffentlichung daraus s. auch Fußnote 19) und Artikel des Autors (s. Fußnote 24), je-
doch unter fast vollständiger Negierung der landessprachlichen Literatur. Trotzdem ist
anzuerkennen, dass Zäh deutschlesenden Interessierten erstmals eine umfassende Auf-
stellung und Aufgliederung der wesentlichsten Bauwerke zur Verfügung stellt.

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Amtssprache Maurisch?253

druck des offiziellen Bauprogramms der k. u. k. bosnisch-herzegowinischen Lan-


desregierung 1878–1918“) explizite Erkenntnisversprechen wird allerdings nicht
eingelöst – denn der Beleg für den unmittelbaren Zusammenhang zwischen
politischer Entscheidung und Stilwahl wird nicht erbracht, nur vorausgesetzt.
Hier sucht der vorliegende Essay An- und Aufschluss.

Verbeamtung eines kulturellen Kompromisses?


Was erhöht eigentlich einen Stil zu einem „offiziellen“ Konsens? Die Absegnung
von zuständiger Seite? Etymologisch vorgehend, ließe sich feststellen, dass das
officium, von dem Macht (ops) ausgeht, letztlich seine Entsprechung im moder-
nen Amt findet. Ein „offizieller Stil“ wäre demnach eine Art Amtsstil. Dieser
müsste in weiterer Konsequenz von öffentlichen Ämtern in Gebäuden, die de-
ren Arbeitsprozesse funktionell bewerkstelligen und symbolisch artikulieren,
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einigermaßen konsequent verwendet werden.8 Um Zähs These zur Geltung


des besagten Stils zu überprüfen, müsste man also genau solche Gebäude in
Bosnien-Herzegowina suchen; in Anbetracht der großvolumigen Bautätigkeit
des Ärars im Okkupationsgebiet ist das nicht allzu schwer.
Ein logischer Ausgangspunkt für einen Verifizierungsversuch wäre wohl je-
ner Teil der habsburgzeitlichen Neustadt Sarajevos, den man bei gutem Willen
als „Regierungskarree“ bezeichnen könnte. In ihm finden sich gleich drei Ge-
bäude der einstigen Landesregierung, aus unterschiedlichen Jahrzehnten datie-
rend, jeweils mit späteren Aufstockungen. Das erste wurde 1884/5 errichtet und
zählt damit zu den frühesten monumentalen Bauprojekten des neuen Regimes
in Bosnien überhaupt (Abb. 4+5). In sicherem Abstand zur Altstadt errichtet,
darf die Wirkung dieses ursprünglich nur dreigeschossigen Bauwerks an der
städtischen Hauptachse nicht unterschätzt werden. Der Überlieferung nach
hatte der Landesgouverneur Benjámin von Kállay befunden, dass die zunächst
in der Bestandsstadt verstreuten Ämter die Wahrnehmung einer nur vorüber-
gehenden Präsenz des Reichs bestärken würden.9 Folglich hatte das sogenannte

8 Dazu auch Moravánszky, Ákos: Die Sprache der Fassaden. Das Problem des Ausdrucks in
der Architektur der Donaumonarchie 1900–1914. In: Becker, Annette / Steiner, Dietmar /
Wang, Wilfried (Hg.): Architektur im 20. Jahrhundert. Österreich. München: Prestel 1995,
pp. 12–21, hier p. 14: „In den Städten Mitteleuropas war die infrastrukturelle Sprache der
Urbanisierung, eine Art ‘Amtssprache’, die Kommunikation ermöglichte und homogeni-
sierend wirkte. Der Historismus war die Sprache der Kontinuität.“
9 Vgl. dazu etwa Madžar, Božo: Sto godina Vladine zgrade u Sarajevu (1885–1985). In: Glas-
nik društva arhivskih radnika Bosne i Hercegovine 25 (1985), pp. 249–255.- Im oft zitierten,
da online verfügbaren Eintrag zum Bauwerk im Verzeichnis der bosnisch-herzegowini-
schen Denkmalkommission (vgl. kons.gov.ba) ist das Medium fälschlich als Glas društva
arhitekata Bosne i Hercegovine angegeben.

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254 Maximilian Hartmuth

Erste Landesregierungsgebäude10 eine wichtige Funktion in der Verständigung


zwischen Regime und Bevölkerung über deren Absichten und Bindung. Auch
die Benennung als „Regierungs-Palais“ weist es semantisch als Herrschafts-
architektur aus.
Umso bedeutungsvoller ist wohl, dass bei dieser Bauaufgabe die Wahl nicht
auf den orientalisierenden Stil fiel, der in Folge als Triumphstil der Orient-Be-
zwinger gelesen werden hätte müssen. Aus den drei vom jungen kroatischen,
aber in Wien bei Friedrich von Schmidt ausgebildeten Architekten Josip Vancaš
vorgelegten Varianten, setzte sich jene in der Manier der florentinischen Frühre-
naissance gegen andere im Stil der italienischen Gotik und der Spätrenaissance
durch, angeblich aus Kostengründen.11 Dessen ungeachtet, wurde das Herauf-
beschwören florentinischer Palazzi des 15. Jahrhunderts mit Rustizierung und
Biforien als der neuen Verwaltung würdig befunden.12 Neben Räumlichkeiten
für die Landesverwaltung befanden sich hier u. a. ein Post- und Telegrafenamt,
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ein Katasterbüro, die Redaktion des Amtsblatts Sarajevski list, die Museums-
gesellschaft und das Oberste Gericht. Alles, wofür die Landesregierung stand
– Gerechtigkeit, Fortschritt, Kultur – war in einem der unzähligen Zimmer zu
finden.
Nun könnte man einwenden, dass der andalusisch-levantinische Neo-Stil ja
eigentlich auch erst nach dem Projekt für das Landesregierungsgebäude An-
wendung fand: nämlich erstmals im Fall der 1888 fertiggestellten, aber seit 1886
geplanten Scheriatsrichterschule, die inhaltlich die Emanzipation einer neuen

10 Zgrada Zemaljske vlade I, heute Präsidentschaftskanzlei.


11 Grundsätzliches bei Krzović, Ibrahim: Arhitektura Bosne i Hercegovine 1878–1918. Sara-
jevo: Umjetnička Galerija 1987, p. 15.
12 In der Reichshauptstadt wäre eine solche Stilwahl als unrepräsentative Ausnahme wahr-
genommen worden, zumal in der öffentlichen Stildebatte die römische Hochrenaissance
als monumentale Maxime galt. Ein näherer Verwandte des Regierungspalais ist das
Gebäude der k. k. priv. allgemeinen österreichischen Bodenkredit-Anstalt (1884–7, Arch.
Emil Förster und Alois Augenfeld) in der Löwelstraße 20 in Wien. Dessen „toskanischen
Palaststyle“ sah die Allgemeinde Bauzeitung (LIV [1889], pp. 5–8 und Tafeln 1–9) da-
mals als eine für Wien frappierende Neuheit: „Bei der Wahl dieses Baustyles mag dem
Architekten vorgeschwebt haben, dass die in den umpanzerten Tresorräumen bewahrten
Werthe und Dokumente ein wesentliches Charakteristikon eines Bank-Instituts bilden
und daher ein wahrer, widerstandsfähiger, gedrungener und geschlossener Stylcharak-
ter auch nach aussen hin dem Bank-Palaste entsprechend sein müsste.“ (ibid., p. 6) Das
Regierungspalais in Sarajevo orientiert sich zumindest stilistisch am nur wenige Jahre
jüngeren Bankgebäude und verzichtet auf für Wiener Repräsentationsbauten charakte-
ristische Elemente (z. B. Bauplastik, Säulenordnung, starke Rhythmisierung). Stattdessen
wird die Repräsentationskraft des Gebäudes durch eine gemäßigte Rhythmisierung der
Fassade durch Mittel- und Eckrisalite erhöht. Dadurch entfernt es sich gleichzeitig vom
toskanischen Vorbild zugunsten einer herrschaftlichen Gebärde. (Ich bedanke mich bei
Julia Rüdiger für die Diskussion.)

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Amtssprache Maurisch?255

bosnisch-islamischen Elite von osmanischen Anstalten befördern sollte.13 Umso


auffälliger ist, dass anlässlich des Projekts für das sogenannte Zweite Landes-
regierungsgebäude (1896, Arch. Carlo Panek)14 abermals auf die florentinische
Frührenaissance rekurriert wurde. Die voranschreitende Bürokratisierung des
Alltags im Okkupationsgebiet hatte schon nach wenigen Jahren ein weiteres
Amtsgebäude unerlässlich gemacht.
Doch selbst wenn man (zu Recht) einwenden würde, dass in diesem Fall der
benachbarte Vorgängerbau den Ausschlag für die Stilwahl gegeben hätte, ist es
abermals aussagekräftig, dass auch für das sogenannte Dritte Landesregierungs-
gebäude (1905, Arch. Karl Pařík)15 kein orientalisierender Gestus zur Anwen-
dung kam – sondern ein von barock-secessionistischen Elementen durchsetzter
Klassizismus, den man vielleicht als Verbeamtung des unscharf historistischen
Wiener Stadtbahnstils Wagners verstehen könnte. Das Dritte Landesregierungs-
gebäude in Sarajevo wäre im Wien der frühen 1900er-Jahre jedenfalls keines-
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wegs aufgefallen.
Zusammengefasst wäre es äußerst schwer zu argumentieren, dass die qua-
si-kolonial agierende Landesregierung den kakanischen Orientstil als Ausdruck
ihrer selbst verstand. Denn für die für ihre öffentliche Wahrnehmung zentralen
Bauprojekte bemühte sie stattdessen konsequent eine im Kernraum des Reichs
weitverbreitete, am abendländischen Kulturerbe orientierte Ästhetik. Diese su-
pranationale Formensprache hatte keine Kompromisse einzugehen. Sie vertrat
keine Partikularitäten.

Repräsentation mit Abstrichen?


Aber auch bei Regierungsprojekten für andere Nutzungen kam der Orientstil
nicht konsequent zur Anwendung. Das exzentrische Gymnasium in Mostar
(1898/1902, Arch. Franz Blažek) täuscht darüber hinweg, dass für habsburgzeit-
liche Schulbauten in Bosnien nahezu ausnahmslos in Mitteleuropa etablierte
Historismen verwendet wurden. Auch das ebenso repräsentative Aufnahmege-
bäude des Bahnhofs von Brod (1895–7, Arch. Hans Niemeczek) steht in deutli-
chem Kontrast zu seinen einfachen Entsprechungen im Rest des Lands. Weitere
Verbreitung fand der orientalisierende Stil bei den Funktionstypen Synagoge,
öffentliches Bad, und auch bei Wohn- und Geschäftshäusern; neben Gebäuden

13 Pařík, Karl: Die Scheriatsrichterschule in Sarajevo. In: Allgemeine Bauzeitung LXXXII


(1917), pp. 51–52 und Tafeln.
14 Zgrada Zemaljske vlade II. Aufstockung 1930, heute Außenministerium und Bahnverwal-
tung.
15 Heute Kantonsverwaltung und Verwaltung des Stadtbezirks „Centar“.

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256 Maximilian Hartmuth

für die muslimische Gemeinschaft (Moscheen, Glaubensschulen, Verwaltungs-


bauten) am konsequentesten aber bei Rathäusern.16
Wenngleich das Habsburgerregime in Bosnien-Herzegowina keinen Landtag
tagen ließ, was angesichts der de iure Zugehörigkeit der Provinz zum Osmani-
schen Reich bis zur Annexion 1908 wohl auch rechtlich problematisch gewesen
wäre,17 wurden bald nach der Okkupation wieder Gemeinderäte eingesetzt.18
Die Rathäuser, die häufig in den 1890ern einen Neubau bezogen, symbolisier-
ten gewissermaßen die einzige Ebene, auf der die einheimische Bevölkerung
Mitbestimmungsrechte hatte. Umso bedeutsamer ist die stetige Anwendung
des orientalisierenden Stils im Zusammenhang mit diesem Funktionstyp. Sollte
die letztlich das islamische Erbe akzentuierende Formensprache womöglich die
Kräfteverhältnisse innerhalb der Gemeinderäte widerspiegeln? Bosniens Städte
waren seit Jahrhunderten vom muslimischen Bevölkerungselement dominiert.
Das an Eigentumsverhältnissen orientierte habsburgische Kurienwahlrecht be-
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förderte diese Stellung weiter.


Der wohl eindrucksvollste Ausdruck dieser anscheinenden Verknüpfung von
Geste und Gehalt ist das ehemalige Rathaus („Vijećnica“) von Sarajevo. In seiner
heutigen Form geht es auf einen bereits Volumina und Raumprogramm vor-
gebenden Entwurf von 1891 zurück (Arch. Karl Pařík), der in Folge in orien-
talisches Gewand gekleidet (Arch. Alexander Wittek und Ćiril Iveković) und
1896 feierlich eingeweiht wurde.19 Gegenüber früheren Fantastereien sind der
Vijećnica bereits konkrete historische Vorbilder anzusehen. Wittek war zwei
Mal nach Kairo gereist, um sich von den dortigen Monumentalbauten Anleihen
zu holen, namentlich von der Sultan Hasan-Moschee sowie der Grabmoschee
des Sultan Qaitbay, also von Kult- und Memorialbauten.20 Trotzdem scheint
auch Andalusien deutlich durch – sicher auch deshalb, weil die dortigen isla-
mischen Monumentalbauwerke durch ihre risikolose Zugänglichkeit und de-

16 Für Abbildungen der meisten relevanten Bauwerke siehe Zäh 2013.


17 Interessanterweise hatten die Bosnier auch im osmanischen Parlament keine Vertretung,
denn es tagte 1878–1908 nicht. Vgl. Dazu Kayalı, Hasan: Elections and the electoral pro-
cess in the Ottoman Empire, 1876–1919. In: International Journal of Middle East Studies
XXVII (1995), nr. 3, pp. 265–286.
18 Siehe dazu Heuberger, Valeria: Politische Institutionen und Verwaltung in Bosnien und
der Hercegovina, 1878 bis 1918. In: Rumpler, Helmut / Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habs-
burgermonarchie 1848–1918, VII: Verfassung und Parlamentarismus, II: Die regionalen
Repräsentativkörperschaften. Wien: Verlag der ÖAW 2000, pp. 2382–2425.
19 Vgl. Dimitrijević, Branka: Der Architekt Karl Pařik. In: Österreichische Zeitschrift für
Kunst und. Denkmalpflege XLIV (1990), nr. 3–4, pp. 155–169, hier p. 157f.
20 Kreševljaković, Hamdija: Sarajevo za vrijeme austrougarske uprave (1878–1918). Saraje-
vo: Arhiv Grada Sarajeva 1969, p. 35; Anonym: Die österreichisch-ungarische Monarchie
in Wort und Bild [= Kronprinzenwerk]. Bosnien und Herzegowina. Wien: K. u. k. Hof- u.
Staatsdruckerei 1901, p. 434.

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Amtssprache Maurisch?257

taillierte Veröffentlichung einen besonderen Stellenwert im abendländischen


Orient-Recycling erworben hatten.

Wer spricht?
Vergessen werden sollte beim Betonen der „maurischen“ Komponente als lan-
desfremder Aufmachung allerdings auch nicht, dass aus Habsburg-Sicht ja herr-
schaftsideologisch nicht wenig für ein Propagieren dieses islamischen Erbes
gegenüber anderen gesprochen hätte. Im 16. und 17. Jahrhundert stand ein kurz
zuvor den „Mauren“ entrissenes Spanien unter der Herrschaft von Habsburgern.
Auch eine Auseinandersetzung mit dem Geerbten fand statt. Unter Kaiser Karl
V., gleichzeitig König Carlos I. von Kastilien, León und Aragón, wurde die Große
Moschee von Cordoba massiv umgebaut.21 Auf der Alhambra begann er, einen
Palast zu errichten, der als Regierungssitz gedacht war, allerdings nie fertigge-
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stellt wurde. Die achteckige Kapelle im Inneren hätte nach ihrer Überkuppelung
wohl an den Aachener Dom erinnern sollen, in dem er zum römisch-deutschen
Kaiser gekrönt worden war.
Leider gibt es nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die Dynastie oder
ihre Anwälte den „maurischen“ Stil aus derartigen Beweggründen proponiert
hätten. Verstanden wurde seine Anwendung in Bosnien eher als „Wiederbe-
lebung des arabischen Stils“,22 also von etwas im Lande vermeintlich bereits
Existentem – wenn schon nicht in tatsächlich gebauter Form,23 dann zumindest
in der Kulturgenetik politisch dominanter Einheimischer.
Die Fremdheit des „maurischen“ Formrepertoires in einem spät- oder post-
osmanischen Zusammenhang sollte ebenfalls nicht überbetont werden. Auch
in Istanbul tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hufeisenbögen
und Alhambra-Motive auf. Auch dort waren sie Teil eines Identitätsfindungs-
prozesses, der erst gegen die Jahrhundertwende eine Schärfung in Form einer
strenghistoristischen neo-osmanischen Stilvariante erfuhr. Das mittelalterliche
Spanien war gleichzeitig zu einer Art gesamtislamischen Erinnerungsort ge-
worden, das Recycling seines Kulturerbes folglich ein konsequentes Weiterden-

21 Ein Teil der Säulenhalle wurde demoliert, um Platz für ein Kirchenschiff zu schaffen. Vgl.
dazu auch Giese, Francine: Bauen und Erhalten in al-Andalus. Bau- und Restaurierungs-
praxis in der Moschee-Kathedrale von Córdoba. Bern et al.: P. Lang 2016, p. 188–195 und
Literaturverweise.
22 Siehe das Eingangszitat. Von einer „Erhaltung und Wiederbelebung des arabischen Sti-
les“ wird auch im Bosnien-Band von Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und
Bild (p. 434) geschrieben.
23 Bosnien, ungleich Spanien oder Ägypten, war niemals Zentrum eines islamischen Staats
und beherbergte folglich niemals einen einer monumentalen Residenz würdigen Souve-
rän.

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258 Maximilian Hartmuth

ken dieses Flirts. Dass europäische und armenische Architekten federführend


in diesem Revival waren, mag erwähnenswert sein, wahrscheinlich aber nicht
ausschlaggebend.

Akzeptanz eines Identitätsentwurfs oder Anbiederung an die


Obrigkeit?

Dass sich die Wahrnehmung des Stils durch Vertreter des ‘Zentrums’ recht gut
rekonstruieren lässt, habe ich bereits an anderer Stelle belegt.24 Zu wenig deut-
lich gestellt wird hingegen traditionell die Frage seiner Wahrnehmung durch
Vertreter der ‘Peripherie’. In der Literatur wird etwa keine einzige Äußerung
eines zeitgenössischen Einheimischen zitiert, die darüber Aufschluss geben
würde, wie der orientalisierende Stil von bosnischen Muslimen rezipiert wur-
de – obwohl er ja traditionell (und wohl auch zu Recht) als eine Geste in deren
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Richtung gedeutet wird. Offene Kritik tritt scheinbar eher in deutschsprachigen


Texten als in landessprachlichen zu Tage.25 Dass das in der Regel in den Jahren
vor dem Weltkrieg passiert, hat wohl mit der neuerlichen Verfügbarkeit nicht-
historistischer Modi einerseits zu tun, mit der besseren Bekanntheit tatsächlich
bosnischer Bautraditionen auf der anderen.
Zu wenig Beachtung wurde jedenfalls der Tatsache geschenkt, dass sich nicht
nur kakanische ‘Expats’ Wohnhäuser im orientalisierenden Stil planen ließen,26
sondern auch bosnische Muslime. Besonders spannend sind dabei Projekte im
Dunstkreis der Familie Fadilpašić; diese gehörte zu den wenigen Muslimen,
die während der österreichisch-ungarischen Herrschaft ihren Landbesitz so-
gar ausbauen konnten. Mustaj-beg (oder Mustafa) Fadilpašić gehörte trotz

24 Vgl. Hartmuth, Maximilian: Insufficiently Oriental? An early episode in the study and
preservation of the Ottoman architectural heritage in the Balkans. In: Ders. / Dilsiz, Ayşe
(Hg.): Monuments, Patrons, Contexts. Papers on Ottoman Europe presented to Machiel
Kiel. Leiden: Netherlands Institute for the Near East 2010, pp. 171–84; Ders.: K.(u.)k. colo-
nial? Contextualizing architecture and urbanism in Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In:
Ruthner, Clemens et al. (Hg.:) WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovi-
na, and the Western Balkans, 1878–1918. New York: P. Lang, 2015 (= Austrian Culture
Series), pp. 155–184; Ders.: Between Vienna and Istanbul. Imperial legacies, visual identi-
ties, and "popular" and "high" layers of architectural discourse in/on Sarajevo, c.1900 and
2000. In: Ders. / Sindbaek, Tea (Hg.): Images of imperial legacy. Modern discourses on the
social and cultural impact of Ottoman and Habsburg rule in Southeast Europe. Münster:
LIT 2011, pp. 79–104.
25 Siehe wiederum als Beispiel das Eingangszitat.
26 Man denke etwa an die frühe „Villa Hörmann“ (um 1890) des einstigen Landesmuse-
ums-Direktors oder die Villa des Uhrmachers Karl Langer (1893, heute Botschaft der
Türkei).

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Amtssprache Maurisch?259

seiner firmen Verortung in Strukturen und Institutionen des spätosmanischen


‘Zentrums’ und des Islams zu den bedeutendsten power brokers des späten 19.
Jahrhunderts in Bosnien. Er half, einen relativ reibungslosen Übergang von
osmanischer zu habsburgischer Landesherrschaft herbeizuführen und sicherte
sich damit einen Platz an der Sonne. Zwischen 1878 und seinem Tod im Jah-
re 1892 durfte der Großgrundbesitzer, der eine Abstammung vom Propheten
reklamierte, das Bürgermeisteramt in Sarajevo bekleiden. 1883 wurde er auch
zum Präsidenten der „Vakuf-Commission“ ernannt, deren Ziel die effiziente(re)
Verwaltung islamischer Stiftungsgüter war.27 Höher hinaus konnte man im
damaligen Bosnien als Muslim wohl nicht.
Das Wohnhaus am Miljacka-Ufer (Abb. 6–11), das sowohl ihm (obwohl bereits
verblichen) als auch seiner Witwe Nuri(hanuma) zugeschrieben wird, entstand
um 1903. Für die Pläne verantwortlich zeigte sich der aus dem Innviertel ge-
bürtige und an der Salzburger Kunstgewerbeschule als Architekt ausgebildete
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Ludwig Huber.28 Er gehörte zu jenen jungen Talentierten, die im Hochbaude-


partment der Baudirektion in Sarajevo unterkamen.29 Das Projekt für die Familie
Fadilpašić erledigte er augenscheinlich als Privatauftrag. Seine Bauzeichnungen
wurden 1908 in der Wiener Bauindustrie Zeitung veröffentlicht, wenngleich mit
falscher Ortsangabe (nämlich Travnik statt Sarajevo) und leider auch nahezu
kommentarlos.30 Sie zeigen ein auf die Miljacka orientiertes Wohnhaus mit drei
Geschossen (Keller, Hochparterre, Obergeschoss) und einem Haupteingang auf
einer Freitreppe an der dem Fluss abgewandten Gebäudeseite (Abb. 8). Das rela-
tiv flache, mit Tonziegeln gedeckte Dach erinnert nicht als einziges Element an
die Alhambra-Ästhetik. Zwillingsfenster und dekorativ aufgefüllte Rahmungen
(Spanisch alfiz) oberhalb der Fensteröffnungen sind ein noch deutlicherer Hin-
weis auf Hubers Ausrichtung auf dieses Formvokabular.
Das dekorative Füllmaterial gibt allerdings Rätsel auf. Die gerahmte Flä-
che oberhalb der Rundbögen ist mit Lilien bereichert (Abb. 9), einer bereits in
mittelalterlichen Ikonografien nachweisbaren Zwiebelpflanze, die schließlich
zum Symbol bosnischer Eigenheit stilisiert wurde.31 Ist diese Ikonografie mög-

27 Zu den Fadilpašići s. Kamberović, Husnija: Begovski zemljišni posjedi u Bosni i Hercego-


vini od 1878. do 1918. godine. Zagreb: Hrvatski Inst. za Povijest 2003, pp. 327 ff.; Donia,
Robert J.: Sarajevo. A Biografy. Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 2006, pp. 42–44 u. 74.
Zum bosnisch-islamischen Stiftungswesen und österreichisch-ungarische Zugänge vgl.
etwa Schmid 1914, p. 676–685.
28 Das scheint angesichts der häufigen Herkunft der in Sarajevo arbeitenden Architekten
aus den böhmischen und kroatischen Kronländern erwähnenswert.
29 Zu Huber und dem erwähnten Objekt siehe grundsätzlich Krzović 1987, pp. 131, 220, 248.
30 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XXV (1908), nr. 44., pp. 417–430.
31 Wegen ihrer Assoziation mit den bosnischen Muslimen lehnten bosnische Serben und
Kroaten allerdings zuletzt die Verwendung als Statussymbol ab.

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260 Maximilian Hartmuth

licherweise buchstäblich als Ausdruck der Akzeptanz einer von der Landes-
regierung propagierten gesamtbosnischen Identität (bošnjaštvo) zu verstehen,
die die Vereinnahmung der katholischen und orthodoxen Bevölkerung durch
kroatische und serbische Nationalismen abwenden sollte? Die dazugehörige Ge-
schichtstheorie wollte die bosnischen Beg-Familien als Nachfahren zum Islam
konvertierter Feudalherren der vorosmanischen Epoche verstehen – also quasi
als angestammte Adelige eines Bosnien, das sich durch diese Kontinuität seine
Eigenständigkeit von benachbarten Nationen bewahren konnte, und folglich
nicht auf legitime Weise durch diese vereinnahmt.32
Die Wiener Bauindustrie Zeitung klärt die Umstände der Verwendung dieses
Motivs jedenfalls nicht auf. Sie betont nur, dass es sich hierbei um ein „allen
Anforderungen westländischen Komforts entsprechende[s] Einfamilienhaus“
handelt, das „in den Schmuckformen der heimischen [!] Bauweise gehalten“
ist.33 Die Unterschiede zu ebendieser sind natürlich enorm, auch abseits der
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Dekorfolie. Statt einer Einsicht verunmöglichenden Mauer trennt das Privat-


grundstück vom öffentlichen Raum ein niedriger schmiedeeiserner Zaun auf
einer steinernen Einfriedung, der eine der Tradition entgegenlaufende Trans-
parenz zu schaffen scheint. Der althergebrachte Erker (Türkisch çıkma), der
unentdeckte Blicke vom privaten in den öffentlichen Raum gestattete, wird von
vergleichsweise exhibitionistischen Loggias mit Brüstungen (Hochparterre)
oder kunstvollen Steinbalustraden (Obergeschoss, Abb. 10) abgelöst. Das Sou-
terrain, das durch einen ebenerdigen Seiteneingang erschlossen wurde, war mit
Küche, Bad, Wäsche und Speicher wohl dem Personal vorbehalten. Die fehlende
Symmetrie wird vom Architekten geschickt dadurch kaschiert, dass der west-
liche Gebäudeteil zurückspringt, wobei seine vorgebliche Eigenständigkeit noch
durch getrennte Dachkonstruktionen unterstrichen wird.
Die Existenz von zwei Treppenanlagen im Gebäudeinneren (vgl. Abb. 11) –
eine dreiläufige im östlichen, repräsentativeren Hausteil, eine zweiläufige im
östlichen – mag zunächst den Schluss nahelegen, Letztere wäre dem Personal
vorbehalten gewesen. Tatsächlich mag es sich hier jedoch um eine Fusion von
zwei traditionellen Wohnkomplexhälften handeln: dem männlichen/öffent-
lichen (türk. selamlık) und dem weiblichen/privaten (haremlik). Angesehene
Muslime ließen auch unter habsburgischer Herrschaft nicht von dieser Konven-
tion ab und errichteten getrennte Stiegenhäuser.34 Im Hauptteil des Hauses öff-

32 Zur offiziösen Geschichtsthese vgl. Thallóczy, Ludwig von: Geschichte In: Kronprinzen-
werk 1901, pp. 179–276.
33 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XVI (1909), nr. 1, pp. 339–342.
34 Aufschlussreich hierzu die Erläuterungen zum Familienwohnhaus des Hamid-aga
Husedjinović in Banjaluka von Josip Vancaš. In: Bautechniker, XXXV (1915), nr. 25,
p. 193f.

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Amtssprache Maurisch?261

nen sich auf beiden Geschossen alle Zimmer auf einen zentralen Verteilerraum,
der auch auf den Planzeichnungen eindeutig als „Divanhana“ gekennzeichnet
ist. Dabei handelt es sich um einen im Türkischen eher als sofa bekannten gro-
ßen und in der Regel repräsentativen Binnenraum, wie er für spätosmanische
Notablenquartiere typisch ist.35 Dessen traditionelle Erweiterung in Richtung
eines durchfensterten Rezesses (türk. şahnişin) findet sich auch hier, ist nach
außen allerdings nicht als Erker, sondern als Loggia artikuliert. Die europä-
isch-orientalisierende Ästhetik der Fassaden täuscht also über ein konservatives
Raumprogramm hinweg.
Mitglieder der Familie gaben bei Huber auch ein Haus in Travnik in Auftrag,
das ebenfalls in der Wiener Bauindustrie Zeitung publiziert wurde.36 Sie besaßen
ein weiteres Haus im „maurischen“ Stil im Sarajevoer Kur- und Vorort Ilidža.37
Mehmed-beg Fadilpašić, ließ sich in Sarajevo um 1910 schließlich ein Haus im
aufkommenden bosnischen „Heimatschutzstil“ (landessprachl.: bosanski slog)
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planen. Das mag anzeigen, dass Identitätsangebote von außen im Kreis dieser
Familie weiterhin bereitwillig aufgenommen wurden.38

Schluss
Die eingangs angeführten Beispiele belegen, dass es im öffentlichen Baupro-
gramm keine konsequente Verwendung einer orientalisierenden Formenspra-
che gab. Vielmehr beschränkt sich die stetige Anwendung des Stils auf Bauten
für die muslimische Gemeinschaft einerseits, und andererseits auf die konkrete
Bauaufgabe ‘Rathaus’. Demgegenüber wurde er für ein breites Spektrum an
Funktionstypen angewandt, aber eben nicht konsequent. Man möchte sagen,
er stand in Bosnien neben mehreren Stilen einfach zu Verfügung. Welche Be-
deutung seine Verwendung hatte, wird in – bislang noch sehr spärlichen – Fall-
studien zu einzelnen Werken geklärt werden müssen. Pauschalurteile haben
sich in diesem Zusammenhang wiederholt als bedingt zielführend erwiesen.
Die anscheinend ausschließliche Verwendung des Stils durch den Staat und
aus der Restmonarchie Gebürtige sowie durch die Stiftungsverwaltung und bos-
nische Muslime, nicht aber durch die Katholiken und Orthodoxen des Landes
für private Projekte, suggeriert allerdings, dass der Stil sehr wohl bestimmte
Konnotationen gehabt haben dürfte; nämlich als Stil der Obrigkeit und ihres

35 Für ein im Balkanraum gut dokumentiertes Beispiel des 19. Jhs. siehe Kojić, Branislav:
Konaci i ćiflik Avzi paše u Bardovcu kod Skoplja. In: Zbornik zǎstite spomenika kulture
4–5 (1954), pp. 223–240.
36 In: Wiener Bauindustrie Zeitung XVI (1909), nr. 1, pp. 339–342.
37 Erwähnt, aber leider nicht abgebildet oder im Detail besprochen in Krzović 1987, p. 27.
38 Ibid., pp. 228, 245.

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262 Maximilian Hartmuth

Netzwerks. Er kam zwar gleichzeitig mit anderen zur Anwendung, aber eben
nicht außerhalb dieses Bedeutungszusammenhangs.
Die Fallstudie zum Wohnhaus der Fadilpašići am Miljacka-Ufer zeigt uns
schließlich, wie trügerisch eine nur oberflächliche Analyse wichtiger Bauten
sein könnte.39 In einem nach europäischem Geschmack durchorganisierten
Bauwerk verbirgt sich hinter einer Fassade im Stil des europäischen Orienta-
lismus eine Raumstruktur, die darlegt, wie anpassungsfähig und konsensfreu-
dig diese hybride Architektur sein konnte. Sie übersetzte Überliefertes in neue
Bautechniken und Modernitäten. Die maurisch-mamlukische Formensprache
als historisches Missverständnis der bodenständigen Tradition zu bezeichnen,40
verkennt einerseits die Internationalität dieses Stils, ungeachtet seiner dezent-
ralen Bedeutungserlangungen, andererseits die gleichzeitige Popularität dessel-
ben Repertoires in der Hauptstadt jenes Reichs, das für die bosnischen Muslime
weiterhin ein zentraler kultureller Bezugspunkt blieb.41
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Abbildungsteil:

Abb. 4. Sarajevo, Erstes Lan­


desregierungsgebäude („Re-
gierungs-Palais“), Ansicht
der Hauptfassade ­(Quelle:
Der Bautechniker XV [1895],
p. 416).

39 Für ähnliche Erkenntnisse im Rahmen einer Fallstudie zu einem nicht-orientalisieren-


dem Bauwerk vgl. Hartmuth, Maximilian: The Habsburg Landesmuseum in Sarajevo in
its ideological and architectural contexts. A reinterpretation. In: Centropa XII (2012), nr.
2, pp. 194–205. Weitere Fallstudien zum Thema werden im Rahmen des in Fußnote 1
erwähnten Projekts zwischen 2018 und 2023 erarbeitet.
40 Exemplarisch dazu Bublin, Mehmed: Gradovi Bosne i Hercegovine. Milenijum razvoja i
godine urbicida / The Cities of Bosnia and Herzegovina. A millennium of Development
and the years of urbicide. Sarajevo: Sarajevo Publ. 1999, p. 103.
41 Rezent dazu Anna MacSweeney: Versions and Visions of the Alhambra in the Nine-
teenth-Century Ottoman World. In: West 86th XXII (2015), nr. 1, pp. 44–69.

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Amtssprache Maurisch?263

Abb. 5. Sarajevo, Erstes Landesre-


gierungsgebäude, Grundriss Erdge-
schoss (Quelle: Der Bautechniker XV
[1895], p. 415).
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Abb. 6. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Fotografie (Quelle: Wiener Bau-


industrie Zeitung XXV [1908], p. 417).

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264 Maximilian Hartmuth
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Abb. 7. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Rückansicht (Quelle: Wiener


Bauindustrie Zeitung XXV [1908], p. 419).

Abb. 8. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Schnitt (Quelle: Wiener Bau-


industrie Zeitung XXV [1908], p. 421).

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Abb. 9. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Detail (Quelle: Wiener Bauindus-


trie Zeitung XXV [1908], p. 430).

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266 Maximilian Hartmuth
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Abb. 10. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Detail (Quelle: Wiener Bau-


industrie Zeitung XXV [1908], p. 428).

Abb. 11. Sarajevo, Einfamilienhaus Sadikbeg-Fadilpašić, Grundriss (Quelle: Wiener Bau-


industrie Zeitung XXV [1908], p. 421).

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ABBILDER
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Besetzungen (2)269

Besetzungen (2)

Anverwandlung der Orte, Neuformatierung der Fremde(n)

Clemens Ruthner (Dublin/Ljubljana)

Džemal Sokolović gewidmet

Einige Jahre nach der Jahrhundertwende kommt der Reichsdeutsche Bernhard


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Wieman auf Einladung eines österreichischen Freundes nach Bosnien-Herze-


gowina. Er schreibt über Konjic, eine Kleinstadt am Neretva-Fluss:
Das ist eine fremde, schöne Stadt, eine Stadt so ganz anders, als ich sie bislang ge-
sehen habe, eine schöne Sonnenstadt. Das Wasser der Narenta hat eine wunderbare
Bläue; aus weißen Steinhäusern mit grauroten Dächern leuchten die Minarets, und
eine hohe, vierbogige Brücke wird gleich unser Weg sein; jenseits des Flusses erheben
sich kleine, kahle Berge mit niedrigem Grün, und dahinter sehe ich höhere Gipfel vom
schimmerndem Himmel sich abheben.1

Hier steht pittoreske topografische Schönheit im Zentrum, und der romanti-


sierte k. u. k. Orient2 wird zu einem deutschen Postkartenidyll in geistiger Ver-
wandtschaft zu Karl May. Wieman schreibt weiter: „Die Hercegovina ist die lich-
te, ungemein reizvolle Schwester von Montenegro, eines finsteren Bruders.“3
Diese Gegenüberstellung mit der Nachbarregion Crna Gora scheint nicht zufäl-
lig: Erstere ist ‘unser’, letztere Feindterritorium; die „lichte“ ehemals osmanische
Provinz steht nämlich seit 1878 unter österreichisch-ungarischer Verwaltung,
die andere nicht und ist gleichsam noch den dark ages zugehörig.

1 Wieman, Bernard: Bosnisches Tagebuch. Kempten, München: Kösel 1908, p. 91.- Narenta
ist der italienische Name für die Neretva, den wichtigsten Fluss der Herzegowina.
2 Vgl. dazu Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late 19th-Cen-
tury Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson James et al. (Hg.): Deploying Orientalism
in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester: Cam-
den House 2013, pp. 148–165.
3 Wieman 1908, p. 214.

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270 Clemens Ruthner

In einer anderen, der Okkupation noch zeitnahen Quelle ist indes die Rede
davon, wie dieselbe Stadt wohl seit der Römerzeit bekannt, aber arg von einsti-
ger Größe herabgekommen sei:
Noch vor einigen Jahrzehnten erfreute sich Konjitza eines bedeutenden Handels, heu-
te führt es nur mehr seine Pferdedecken und sein treffliches Obst in jenen flachen
Booten bis Mostar hinunter. Auch seine Einwohnerschaft ist auf ungefähr 1500 See-
len zusammengeschmolzen, meist Türken und kaum 50 Katholiken und auch an den
Gebäuden sieht man bereits den Verfall, besonders am linken Ufer, im eigentlichen
türkischen Stadttheil.4

Dieses Zitat entstammt einem umfänglichen Reisebericht, den János von Asbóth
( 1845–1911), Sektionsrat im österreichisch-ungarischen Außenministerium und
Abgeordneter zum Budapester Parlament, 1888 veröffentlicht hat. Dabei han-
delt es sich um eine in mehrere Sprachen übersetzte Auftragsarbeit für seinen
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persönlichen Freund Benjamin von Kállay, den k. u. k. Finanzminister und lang-


jährigen Gouverneur der besetzten Gebiete auf dem Westbalkan, die wohl als
P.R.-Arbeit für die Notwendigkeit dieser Fremdadministration gedacht war.5
In Fortsetzung früherer bzw. paralleler imagologischer Arbeiten6 soll nun
die Generalthese meines Beitrags – die von ‘außen’ erfolgende hegemoniale

4 Asbóth, Johann [János] von: Bosnien und die Herzegowina. Reisebilder und Skizzen.
Wien: A. Hölder 1888, p. 238.
5 Vgl. dazu den Beitrag von Robert Donia zum vorliegenden Sammelband (S. 147).
6 Vgl. Ruthner, Clemens: Besetzungen. A Post/Colonial Reading of Austro-Hungari-
an and German Cultural Narratives on Bosnia-Herzegovina, 1878–1918. In: Ders. et
al. (Hg.): WechselWirkungen. Austro-Hungary, Bosnia-Herzegovina and the Wes-
tern Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015 (= Austrian Culture Series
24), pp. 221–242; Ders.: UmgangsFormen. Konstruktionen der bosnischen Fremde(n)
in österr. Kolonialtexten um 1900. In: Preljević, Vahidin et al. (Hg.): Nähe und Dis-
tanz in der Wiener Jahrhundertwende. Würzburg: Königshausen & Neumann i.V.
Vgl. auch Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethno-
grafischen Populärliteratur der Habsburger Monar­chie. In: Csáky, Moritz et al. (Hg.):
Habs­burg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck:
Studien­verlag 2003, pp. 259–288; Smolej, Tone: The Image of Bosnia and Herzegovina
(1875—1882) in Slovene Literature. In: Blažević, Zrinka / Brković, Ivana / Dukić, Davor
(Hg.): History as a Foreign Country / Geschichte als ein fremdes Land. Historical Imagery
in the South-Eastern Europe/Historische Bilder in Süd-Ost Europa. Bonn: Bouvier 2015,
pp. 147–162; Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur
imperialen österreichischen Literatur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018 (der vorl.
Beitrag ist leicht verändert Kap. C.2. dieser Monografie entnommen); Teller, Katalin: „Der
heißblütige Dalmatiner“. Reiseschriftsteller/innen in Dalmatien und Bosnien-Hercegovi-
na vom Ende des 19. bis zum frühen 20. Jh. In: Dies. / Millner, Alexandra (Hg.): Trans-
differenz und Transkulturalität. Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen
Österreich-Ungarns. Bielefeld: transcript 2018, pp. 361–378; Šístek, František: Under the
Slavic Crescent. Representations of Bosnian Muslims in Czech literature, travelogues and

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Besetzungen (2)271

Formatierung von ‘eingeborenen’ Topografien und ethnisierten Identitäten im


Zuge der k. u. k. Landnahme in Bosnien-Herzegowina 1878–1918 – aus Gründen
der Korpus-Übersichtlichkeit anhand eben jenes kleinen und verhältnismäßig
unbedeutenden Zwischen-Ortes exemplifiziert werden: Konjic(a)7 auf halbem
Weg von Sarajevo nach Mostar, eine „natürliche[.] Grenzstation zwischen Bos-
nien und der Hercegovina“8. An den Veränderungen in den erhalten gebliebenen
Stadtbeschreibungen in österreichischen und reichsdeutschen Texten wird nicht
nur ein genereller sozio-kultureller Wandel sichtbar, sondern auch das Wunsch-
denken der k. u. k. Besatzer, die sich die Stadt zumindest in der Darstellung
einverleibten und anverwandelten in Form eines symbolischen Kolonialismus
der Fremd-Bilder:9 ‘Besetzungen’ nicht nur im militärischen, sondern auch in
einem semantischen Sinne.
Dies wird im nächsten Zitat evident, das aus dem ersten österreichischen
Automobilreiseführer für die Region stammt, der ebenso wie Wiemans Buch
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1908 erschien, dem Jahr der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die Habs-
burger-Monarchie:
Konjica ist ein malerisches türkisches Nest: Moscheen, Minaretts, Basare, Mangel an
Reinlichkeit. Ueber eine aus mächtigen Quadern gefügte alte Türkenbrücke fuhren
wir in die Stadt ein.
,Ui jegerl, a Auto aus Wien!‘ klang es da. Ein Deutschmeister war es aus der dort la-
gernden Garnison, der offenbar aus der Nummer unseren Heimatsort erkannt hatte.10

Wohl wird Konjic hier ebenfalls als pittoresk konstruiert; die „fremde schö-
ne Stadt“ des Deutschen Wieman wird aber aus österreichischer Perspektive
zum „Nest“. Daneben kommt noch ein wichtiger propagandistischer Topos von

memoirs, 1878–1918. In: Ders. (Hg): Central Europe and Balkan Muslims. Relations and
Representations. New York: Berghahn i.V. [2018/19]; weiters Šísteks folgenden Beitrag im
vorl. Sammelband. Vgl. außerdem Justnik, Herbert / Floch, Veronika (Hg.): Gestellt. Foto-
grafie als Werkzeug in der Habsburgermonarchie [Ausstellungskatalog]. Wien: Österr.
Museum für Volkskunde 2014.
7 Die untersuchten Texte verwenden meist die alte Schreibweise mit einem –a am Ende.
8 Preindlsberger-Mrazović, Milena: Bosnisches Skizzenbuch. Landschafts- und Kultur-Bil-
der aus Bosnien und der Hercegovina. Illustr. von Ludwig Hans Fischer. Dresden, Leipzig:
E. Pierson 1900, p. 258.
9 Interessanter wäre in der Tat eine diachrone Analyse von imagines der Hauptstadt Sara-
jevo gewesen, das sich in den österreichischen und reichsdeutschen Texten vom Kriegs-
schauplatz 1878 zum Musterbeispiel einer mehr oder weniger gelungenen Synthese aus
Orient und Okzident um 1900 entwickelt. Da dies aus Platzgründen hier kaum zu leisten
wäre, wurde auf die Stadt und Region Konjic zurückgegriffen, zumal dort eine ähnliche
diskursive Entwicklung festzustellen ist.
10 Filius [pseud.]: Eine Automobilreise durch Bosnien, die Herzegowina und Dalmatien.
Reiseschilderung für Automobilisten mit 63 Abbildungen. Wien: Beck [1908], p. 56.

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272 Clemens Ruthner

Orient-Reiseberichten zum Einsatz: ,mangelnde Hygiene‘, die kontrastiert wird


mit dem Heimischen, dem Vertrauten – der Erleichterung, die Heimat und ihre
Sprache wieder zu finden, hier in Gestalt eines k. u. k. Besatzungssoldaten. Nicht
umsonst ist der Reiseführer bemüht darauf hinzuweisen, wie vorteilhaft sich die
österreichisch-ungarische Verwaltung auf die Sicherheitssituation ausgewirkt
habe, die eine nunmehrige touristische Befahrung mit dem Automobil erst er-
mögliche. Schon in Prijedor bemerkt der automobile Autor:
‘Hotel zum Kaiser von Oesterreich’: Wie wohltuend sich die Aufschrift auf dem mo-
dernen Hotel ausnahm. Aber die Enttäuschung folgte rasch: ‘Alles besetzt; vielleicht
in der Bahnhofrestauration.’ Wir fuhren mit gemischten Gefühlen dorthin, doch wir
fanden Zimmer, die zur Not ganz behaglich waren, das Essen war sogar ausgezeichnet,
und man schnitt uns nicht einmal die Gurgeln ab […]. 11

Einmal mehr wird hier klar, dass es den ‘Orient’ in zeitgenössischen westlichen
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Diskursen nicht nur immer als Plural stark divergierender Vorstellungen gibt,12
sondern auch als ambivalentes Kippbild im Auge des Betrachtenden, das wie bei
jedem othering in der abenteuerlichen Zirkelbewegung zwischen blutdürstigem
,Barbaren‘ und ,edlem Wilden‘, zwischen Anziehung und Abstoßung, zwischen
Angst und Begehren gefangen scheint.13
Die Anverwandlung und Eingemeindung des Fremden ins Heimische wird
indes auch im folgenden Textzitat aus dem Jahr 1896 thematisiert, wofür ebenso
das Motiv der Gastronomie strategisch eingesetzt wird:
Es haben sich in diesem einst durch den Fanatismus seiner Bevölkerung berüchtigten
Orte eine Menge Fremde niedergelassen und mehrere Gasthäuser (,Elephant‘, ,König
von Ungarn‘, ,Kaiser von Oesterreich‘ und besonders die Bahnhofsrestauration) bieten
eine ganz gute Verpflegung. Als ich im Jahre 1885 einmal in Konjica übernachte-
te, genoss das Gasthaus ,zum Kaiser von Oesterreich‘ durch seine dicke Wirtin, die

11 Vgl. ibid., p. 25.


12 Vgl. Stoll, André: Nachwort. In: Gustave Flaubert: Reise in den Orient. Hg. and übers.
Reinhold Werner and André Stoll. Frankfurt/M.: Insel 1996 (= it 1866), pp. 363–414; Said,
Edward: Orientalism. Western Conceptions of the Orient [1979]. Harmondsworth: Pen-
guin Books 21995; Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-mor-
genländischer Imagination im 19. Jh. Berlin, New York: de Gruyter 2005 (= Quellen und
Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35/269).
13 Vgl. dazu Ruthner, Clemens:“Stereotype as a Suture”. Zur literatur- und kulturwissen-
schaftlichen Konzeptualisierung ‘nationaler’ Bilderwelten. In: Fassmann, Heinz et al.
(ed.): Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989.
Transdisziplinäre Perspektiven. Göttingen: V&R unipress / Vienna University Press 2009,
pp. 301–322; Bhabha, Homi: The Other Question. Stereotype, Discrimination and the Dis-
course of Colonialism. In: Ders.: The Location of Culture. London, New York: Routledge
1994, pp. 94–120.

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Besetzungen (2)273

,Schmauswaberl‘, in der ganzen Hercegovina einen wohlverdienten Ruf. Nicht etwa


durch die Schönheit der Wirtin, denn diese war sehr negativer Natur, sondern durch
die vorzügliche Küche. Die Lachsforellen aus der Narenta wurden unter ihrer Hand
zu einer Delikatesse, welche das Herz jedes Feinschmeckers befriedigen musste.14

Hier wird der k. u. k. ‘Zivilisationsprozess’ bereits als nahezu abgeschlossene


success story erzählt, als eine gelungene gastronomische Amalgamierung näm-
lich. Das Fremde wird damit zumindest im Gasthaus dem Heimischen näher
gerückt und verschmilzt mit ihm, das „türkische Nest“ ist dadurch zumindest
teilweise (schon 12 Jahre vor Wieman und ,Filius‘!) ein zweites Zuhause gewor-
den – in einer Formulierung, die das Nörgeln des schlechten österreichischen
Nachkriegstouristen Travnicek in den Kabarett-Sketches von Helmut Qualtin-
ger und Gerhard Bronner aus den 1960er Jahren vorwegzunehmen scheint. Um
den Neretva-Fisch zur Delikatesse zu machen, bedarf es freilich der kundigen
Hand der dicken österreichischen Wirtin, der man(n) in der Fremde ihre Unan-
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sehnlichkeit nachsieht – in einer Form des gendering, das strukturbildend die


meisten Bilder des Eigenen und Anderen in kolonialen Diskursen intersektio-
nal durchzieht.15 Mit dem ehemaligen (männlichen?) „Fanatismus“ dieser exo-
tischen Peripherie kontrastiert jetzt zentraleuropäische (Frauen-)Häuslichkeit
und Küche – eine Sichtweise, die auch der Baedeker-Reiseführer jener Jahre zu
teilen scheint:
Konjica (279 m; gutes Bahnrest., mit zwei Z.), Bezirksort (2000 Einw.) in einem male-
rischen Talkessel an der Narenta (Forellen), über die eine alte türkische Steinbrücke
führt. Die Temperatur ist hier bereits im Durchschnitt 8° höher als in Sarajevo.
Jablanica […] Militärstation mit Kaserne r. oberhalb der Station. Vom Krstac, östl. in
1 St. auf gutem Wege zu ersteigen, schöner Rundblick.16

Auch die gebürtige Südslawin Milena Mrazović(-Preindlsberger), Journalistin


und Herausgeberin der Bosnischen Post, unterschreibt mit ihrer reiseliterari-
schen Annäherung gleichsam den Diskurs der k. u. k. „Kulturmission“: „Dem
kleinen, überwiegend muhamedanischen Städtchen kommen nur die Vorzüge
der eben durchwanderten Strecke zugute. Ernste, grüne Hänge, duftende Tha-
leinschnitte, in welchen die Rebe und aromatisches Obst gedeiht.“17 Die Autorin

14 Renner, Heinrich: Durch Bosnien und die Hercegovina kreuz und quer. Wanderungen
von H.R. Berlin: Reimer 1896, p. 230.
15 Vgl. exemplarisch etwa McClintock, Anne: Imperial Leather. London, New York: Rout-
ledge 1995; Stoler, Ann Laura: Carnal Knowledge and Imperial Power. Race and the In-
timate in Colonial Rule. Berkeley, Los Angeles, London: Univ. of California Press 2002,
2
2010.
16 [Anonym]: Oesterreich-Ungarn. Leipzig: Baedeker 281910, p. 407.
17 Preindlsberger-Mrazović 1900, p. 257.

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274 Clemens Ruthner

betont „das freundliche Aussehen des Ortes“ und seine „Holzindustrie“.18 Die
neue koloniale Infrastruktur wird in ihrer Darstellung zum zivilen Pazifizie-
rungsprojekt, das die Gewalttätigkeit und den Niedergang früherer (türkischer)
Zeiten beseitigt:
Und was der Türkei in jahrhundertelangen, blutigen Kämpfen nicht gelang, die fron-
dierende Hercegovina sich völlig zu unterwerfen, das gelang den modernen Kultur-
mitteln leicht. Es giebt keine Verkehrshindernisse mehr. [ ] Aus den halsstarrigen
Hajducken sind harmlose Eisenbahn-Passagiere geworden, aus den scheu gemiedenen
hercegovinischen Bergen ein modernes Touristengebiet.19

Doch die Region war eben nicht immer so friedlich, domestiziert und multikul-
turell, wie sich auch der Berliner Journalist Heinrich Renner in einem histori-
schen Rückgriff noch einmal hinzuzufügen beeilt:
Die erhoffte Ruhe trat nicht ein, und es währte nicht lange, so war die ganze Her-
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cegovina und mit ihr Konjica in der Gewalt der Türken. An die Stelle der christli-
chen Unduldsamkeit trat der mohammedanische Fanatismus. Aus den Wäldern und
Schluchten kamen die gehetzten Bogumilen zum Vorschein, sie wurden Islamiten und
erlangten die leitenden Stellungen. […] In Konjica war es auch, wo die zur Zeit der
Insurrektion von 1878 aus Sarajevo ausgewiesenen Oesterreicher mit dem General-
konsul Wassitsch in der Nacht aufgehalten und mit der Niedermetzelung bedroht
wurden.20

Neben dem Verweis auf den Aufstand gegen die Okkupation von 1878 kommt
eines der meiststrapazierten regionalen Narrative als spekulatives Erklärungs-
modell ins Spiel: die Bogumilen, eine manichäische christliche Sekte, die in
vortürkischen Zeiten religiös verfolgt wurde und die hier – nach der erfolgten
Zwangskonversion – als historische Folie für den besonderen islamischen Fun-
damentalismus der Einwohner von Konjic verantwortlich gemacht wird (wäh-
rend sie in anderen Texten als Beweisführung der unterschwellig christlichen
Haltung der Bevölkerung und einer dadurch vereinfachten neuerlichen Mission
instrumentalisiert wird).21

18 Ibid.
19 Ibid., p. 261.
20 Renner 1896, p. 231.
21 Zu den Bogumilen vgl. etwa Asbóth 1888, pp. 23–118; Fine, John: The Bosnian Church.
A New Interpretation. Boulder: East European Quarterly / New York: Columbia Univ.
Press 1975; Džaja, Srećko M.: Bogomilen. In: Hösch, Edgar / Nehring, Karl / Sundhaus-
sen, Holm (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. München: Oldenbourg 2004;
Imamović, Mustafa: Bosnia and Herzegovina. Evolution of its Political and Legal Institu-
tions. Sarajevo: Magistrat 2006, p. 76ff.

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Besetzungen (2)275

Wie auch immer, die neue Haut der ‘Zivilisation’, die über die grausame Ge-
schichte wächst, scheint mitunter dünn, d. h. man muss ihr zuarbeiten; dennoch
ist der Besitzerstolz unüberhörbar. Quasi als Kontrollmenge zum Sicherheits-
und Gastronomie-Diskurs der bereits erwähnten Texte sei auch noch Renners
Beschreibung des nahe gelegenen Ortes Jablanica zitiert:
Eine Kaserne beherbergt den bewaffneten Schutz, doch er ist bei der Bevölkerung
nicht mehr nöthig. […] Als ich vor langen Jahren nach Jablanica kam, sah es hier ganz
anders aus; in einem Han fand ich türkisches Unterkommen mit sehr viel Ungeziefer.
1885 traf ich ein grosses Truppenlager. Eine Kärntnerin hielt ein Gasthaus […]. 1894
hatte sich aus den provisorischen Fortschritten der dauernde entwickelt. Jablanica ist
ein Luftkurort ersten Ranges, und in vieler Hinsicht wird man an schweizerische und
Tiroler Sommerfrischen in den Hochalpen erinnert.22

In Texten wie diesem – aber auch den anderen erwähnten – wird also fast
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wie in einem reißerischen Verkaufsprospekt ein ,Vorher‘ und ,Nachher‘ erzählt:


aus der ungezieferverseuchten türkischen Hochburg ist nach der militärischen
Intervention eine k. u. k. Sommerfrische geworden; auch hier hat ein weiblich
geführtes Gasthaus seinen Einzug gehalten. So kann denn auch der Reiseführer
Dalmatien. Ein modernes Reiseziel (1908) auf einem empfohlenen Abstecher nach
Bosnien-Herzegowina schwärmen:
Die Sehenswürdigkeiten dieses Landes sind geeignet, jeden, selbst den verwöhntes-
ten Touristen vollends zu befriedigen und was die Unterkunfts-, Verköstigungs- und
Reiseverhältnisse betrifft, lassen diese nichts zu wünschen übrig. Die Landesregierung
errichtete an allen frequenten Punkten komfortable Hôtels, es existieren im Lande
zahlreiche Bahnverbindungen mit bequemen Durchgangs- und Schlafwagen, überall
sind gute Fiaker zu finden, und der Tourist kann im ganzen Lande, selbst in den früher
verrufensten Gegenden, unbewaffnet und ohne Bedeckung seinen Weg verfolgen.23

Die Folgen des Kulturkontakts und -transfers sind wie angedeutet Synkretismen
aller Art (die andere Autor/inn/en24 bei aller Freude über den Zivilisationspro-
zess wiederum den Verlust der autochtonen Exotik beklagen lassen – die klas-
sische Ambivalenz kolonialer Reiseliteratur). Als etwa der Militär Alfred Trendl

22 Ibid, p. 238.
23 [Anonym]: Dalmatien. Ein modernes Reiseziel. Wien: G. Gruber 1908, p. 24.
24 Vgl. etwa Preindlsberger-Mrazović 1900, p. 2 (über Sarajevo): „Fast enttäuscht merkt
dies der Fremde, der sich von dem ersten Schritte in Bosnien bereits die Sensation des
Fremden, Aussergewöhnlichen versprach. In den hohen, eleganten Räumen des mau-
risch-byzantinischen Bahnhofgebäudes, das den neuen bosnischen Baustyl repräsentiert,
der abendländischen Komfort in morgenländischer Art ausdrücken soll, umflutet vom
Auerlichte und dem gewohnten Bahnhoftreiben, wird man kaum durch mehr als verein-
zelt auftauchende orientalische Gewänder an den Osten gemahnt.“

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276 Clemens Ruthner

kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Konjic kommt, koexistieren die kulturellen
Medien des Abend- wie des Morgenlandes, der Moderne und Vormoderne schon
augenscheinlich gut neben- und miteinander:
Was soll ich noch erzählen von so manchem lustigen Vorfall in Konjica, wo wir oft
in türk. Kaffeehäuser sassen und Wiener Lieder sangen bis der Muezzin von einem
benachbarten Minarett die Gläubigen zum Gebet rief, dann schwieg der Gesang und
auch das Grammofon wurde abgestellt.25

Den oft formulierten Topos der ‘Zivilisierung durch Eisenbahnbau’ wird übri-
gens auch nach dem Ersten Weltkrieg noch der prinzipiell kritische deutsche
Sozialdemokrat Hermann Wendel auf seiner Reise durch Jugoslawien wieder-
holen. Wiewohl er prinzipiell Bosnien-Herzegowina als ehemalige „Kolonie“
sieht, „ein Stück Orient, künstlich von den Wiener Machthabern gehütet“,26 ist
Konjic doch auch so etwas wie eine Zivilisationsschwelle geworden, welche die
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mythische alte Wildnis, die im Hintergrund „dräut“, gleichsam in Schach hält:


Am Bahnhofsgebäude dort steht Konjic in Lateinschrift und Kyrillika; Trauben und
Aepfel und Zeitungen bieten sich zum Verkauf.
Erbarmungslosere Wildheit dräut; das ist der Hercegoviner Karst. Unten schlüpft blau,
grün und violett die Narenta, die Neretva durch Schluchten und Gründe; […] Ein zäh-
neknirschender Gott mit zusammengezogenen Brauen schuf dieses Land.27
*
Diese zugegebenermaßen etwas kursorische Aneinanderreihung von Beispie-
len, die keinerlei Anspruch auf repräsentative Vollständigkeit erheben darf,
zeigt dennoch, wie Städtebilder nicht nur durch spezifische historische Situ-
ationen und Prozesse, sondern vor allem durch eine zugrunde liegende poli-
tisch-narrative Rhetorik fast beliebig (re)konstruierbar bzw. umkodierbar sind;
das Ergebnis“selektive[r] Wahrnehmung”28 – wishful thinking – sind sie allemal.
Dabei kommt ein bestimmtes – und offenkundig transkulturelles – Archiv von
narrativen Topoi und Tropen gleichsam als Arsenal zum Einsatz.
Bei einer Sichtung der vorhandenen Texte vor allem aus dem Bereich der
Reiseliteratur über Konjic ist auffällig, dass die zugewiesenen Charakteristika

25 Trendl, Alfred: Meine Erinnerungen vom September 1911 bis November 1916. Wien: Pri-
vatbesitz [maschinschriftl. Abschrift durch den Autor von vier Kriegstagebüchern, un-
veröff.], s.p.- Ich danke Tamara Scheer für die Zugänglichmachung dieser Quelle.
26 Wendel, Hermann: Von Belgrad bis Bucari. Eine unphilosophische Reise durch Westser-
bien, Bosnien, Hercegovina Montenegro und Dalmatien. Frankfurt/M.: Societäts-Druck-
erei 1922, p. 58.
27 Ibid., p. 61.
28 Bernhard, Veronika: Österreicher im Orient. Eine Bestandsaufnahme österreichischer
Reiseliteratur im 19. Jh. Wien: Holzhausen 1996, p. 93.

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Besetzungen (2)277

bei Ortsbeschreibungen häufig (intertextuell?) koinzidieren, aber mitunter auch


innerhalb kurzer Zeitabstände so stark von einander abweichen können, dass
man den Eindruck erhält, es mit verschiedenen Orten zu tun zu haben. Eine
kritische Untersuchung dieser Rekodierungen kann indes deren ideologischen
Hintergrund sichtbar machen – in der Tat werden hier literarische Formen und
ihre Rhetorik im Sinne des New Historicism als ,gesellschaftliche Poetik‘ eines
österreichisch-ungarischen Ersatz-Kolonialismus lesbar.
Wie geht man nun mit der Disparatheit, Zirkularität und Intertextualität
dieser Bilder um? In vielen Fällen lässt sich die (kolonial)politische Motiviert-
heit dieser willkürlichen, von Außenbeobachtern projizierten Porträts zeigen,
in anderen nicht. Die Topik bzw. Tropologie dieser Beschreibung liegt nicht
unbedingt nur in der individuellen Psychologie, in der ,Subjektivität‘ schreiben-
der Subjekte begründet, sondern in einer präexistenten Rhetorik ideologischer
Narrative, welche die Autoren gleichsam im Rucksack mitbringen. Diese sind
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es, die eine kulturwissenschaftlich reorientierte Literaturwissenschaft zum Vor-


schein bringen kann, auch dort, wo sie im kulturellen Gedächtnis scheinbar
verschwunden sind.
Die Bilderwelten kultureller Narrative dienen freilich weniger der Darstel-
lung fremder Menschen und Orte, als vielmehr – wie bereits oben, im ersten
Teil angedeutet – eher der Selbstverständigung und Selbstversicherung der He-
gemonialkultur, die Ausgangspunkt der Darstellung ist. Aus den Bosnien-Dar-
stellungen österreichischer und reichsdeutscher Texte um 1900 erfahren wir
also weniger über das k. u. k. Okkupationsgebiet, als über die Befindlichkeiten
der Besatzer und Tourist/inn/en in ihrem Gefolge: über deren“politisches Un-
bewusstes” bzw.“soziales Imaginäres”.29 Gleichzeitig kann gezeigt werden, wie
ambivalent – d. h. von unterschwelligen Wünschen und Ängsten gezeichnet –
und instabil die angestrebte symbolische Gewalt der narrativen Konstruktionen
ist. Mit Bernhard Waldenfels ließe sich hier behaupten: „Jede Ordnung lässt in
ihrer unumgänglichen Begrenztheit einen Überschuß an Fremdem entstehen,
der in der jeweiligen Ordnung keinen Platz findet und zugleich verhindert, daß
diese in sich selbst zur Ruhe kommt“.30 So „dräut“ die ‘Wildnis’ auch weiterhin
– und sei sie nur Projekt bzw. Projektion von ‘Kultur’ und ‘Zivilisation’.

29 Zu diesen Begriffen s. Jameson, Frederick: Das politische Unbewußte. Literatur als Sym-
bol sozialen Handelns . Übers. von Ursula Bauer et al. Reinbek: Rowohlt 1988 (= rowohlt
enzyklopädie) bzw. Castoriadis, Constantin: L’institution imaginaire de la société. Paris:
Seuil 1975, p. 203.
30 Zit. n. Jamme, Christoph: Gibt es eine Wissenschaft des Fremden? Zur aktuellen Theo-
riedebatte zwischen Philosophie und Ethnologie. In: Därmann, Iris / Jamme, Christoph
(Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, pp.
183–208, hier p. 186.

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Der slawische Halbmond279

Der slawische Halbmond

Tschechische Darstellungen bosnisch-herzegowinischer


Muslime in Literatur, Reiseberichten und Memoiren (1878–
1918)

František Šístek (Prag)

Nach der Okkupation von 1878 waren von den drei großen ethnoreligiösen Ge-
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meinschaften Bosnien-Herzegowinas aus der Sicht tschechischer Beobachter


anfangs wohl die Muslime die kulturell fernsten, unbekanntesten, feindlichsten,
aber auch die exotischsten. Zugleich stellten die örtlichen Anhänger des Islam
aber auch die attraktivste und charakteristischste Besonderheit der besetzten
Gebiete dar. In diesem Sinne wird die nun anschließende Erörterung vor allem
auf die Diversifikation und Transformation jener Darstellungen bosnisch-her-
zegowinischer Muslime in tschechischer (Reise-)Literatur und Memoiren ab-
heben. Nach einem kurzen Überblick über einschlägige Bilder und Stereotypen
vor der Okkupation wird sich mein Aufsatz auf die ‘dunkle und blutige’ Zeit der
Eroberung und Befriedung konzentrieren. In einem weiteren Abschnitt über
das ‘goldene Zeitalter’ der habsburgischen civilizing mission zur Jahrhundert-
wende gilt meine besondere Aufmerksamkeit den existierenden Konzeptualisie-
rungen der religiösen und nationalen Identität der bosnisch-herzegowinischen
Muslime. Der letzte Abschnitt schließlich wird sich den Muslim-Bildern in den
Texten des Künstlers und Gelehrten Ludvík Kuba sowie des Gendarmen Fran-
tišek Valoušek widmen: zwei herausragende, wenn auch deutlich verschiede-
ne Persönlichkeiten, die einen reichhaltigen Einblick in die Darstellung der
Balkan-Muslime während der k. u. k. Herrschaft bieten. Abschließend wird die
These kritisch reflektiert, wonach sich die gegenseitige Wahrnehmung (und
Beziehung) der Tschechen und der Muslime, die sich nach 1878 plötzlich unter
dem gemeinsamen Dach der Doppelmonarchie gefunden hatten, in Folge ihrer
verstärkten Kontakte positiv von „Türken“ und „Schwaben“ hin zu „slawischen
Brüdern“ entwickelt1 habe.

1 Vgl. Ljuca, Adin: Turci a Švábové, nebo slovanští bratři? Český pohled na bosenské mus-
limy v letech 1878–1918. In: Moravcová, Mirjam / Svoboda, David / Šístek, František

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280 František Šístek

Tschechische Darstellungen der Balkan-Muslime vor der


Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878

Das tschechische Lesepublikum war sich der Existenz von Muslimen auf dem
Balkan schon vor 1878 bewusst; deren Darstellung lässt sich grob in mehrere
Gruppen einteilen:
Die tiefste Schicht war wohl mit dem kulturellen Gedächtnis der habsbur-
gisch-osmanischen Konflikte in der Frühneuzeit verbunden. So hatte im süd-
östlichen Mähren, nicht weit von den ungarischen Gebieten, die von den Türken
vor der Belagerung Wiens 1683 kontrolliert waren, die Erinnerung an osma-
nische Einfälle zahlreiche Spuren in der Folklore hinterlassen. Die Figur des
„Türken“ (ununterscheidbar von jener des Muslims) war in lokalen Sagen und
Volksliedern immer noch die Personifikation eines fremden, barbarischen und
mörderischen Eindringlings: Bilder und Narrative, die als klassische Beispiele
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eines „Frontier Orientalism“ angesehen werden können, wie er vom österrei-


chischen Anthropologen Andre Gingrich definiert worden ist.2 Das Königreich
Böhmen hingegen, das weiter im Nordwesten lag, hatte nie osmanische Angriffe
erlebt. In diesem vergleichsweise urbanen, früh industrialisierten und ‘national
erwachten’ Kronland waren Türkenbilder eher Gegenstand einer historischen
Dekontextualisierung und Neuinterpretation im 19. Jahrhundert. Zwar erschien
‘der Türke’ immer noch in böhmischen Legenden und bildlichen Darstellungen;
diese imaginäre Figur3 wurde aber eher humoristisch und grotesk – oder ein-
fach exotisch – porträtiert im Vergleich zum sprichwörtlichen Schreckbild der
mährischen Volkstradition und der klassischen „Türkenliteratur“ (turcica) der
Frühneuzeit.4
Die jüngste Schicht einschlägiger Darstellungen der Muslime ist hingegen
mit der Vorstellung slawischer Verwandtschaft und Solidarität verbunden, die
ein integraler Bestandteil nationalistischer Diskurse im 19. Jahrhundert war. Die
kollektive Selbstwahrnehmung der tschechischen Nation als Zweig einer weiter
gefassten sprachlichen, kulturellen und ‘rassischen’ Gemeinschaft aller Slawen
stimulierte auch ein andauerndes Interesse an den entsprechenden Balkanvöl-
kern, die von tschechischen Autoren oft als „unsere Brüder aus dem Süden“

(Hg.): Pravda, láska a ti na „Východě“. Obrazy středoevropského a východoevropského


prostoru z pohledu české společnosti. Prag: FHS UK 2006, pp. 122–134.
2 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular
Cultures of Central Europe. In: Baskar, Bojan / Brumen, B. (Hg.): Mediterranean Ethno-
logical Summer School. Piran: Institut za multikulturne raziskave, pp. 99–127, hier pp.
117 ff.
3 Vgl. Jezernik, Božidar (Hg.): Imaginary Turk. Newcastle: Cambridge Scholars 2010.
4 Vgl. Rataj, Jan: České země ve stínu půlměsíce. Obraz Turka v raně novověké literatuře z
českých zemí. Prag: Scriptorium 2002, pp. 289 ff.

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Der slawische Halbmond281

bezeichnet wurden. Der anti-osmanische „Befreiungskampf“ der christlichen


Südslawen wurde als eng verbunden mit den „nationalen Interessen“ (národní
zájem) der Tschechen interpretiert.5 Besonders in unruhigen Zeiten mit Auf-
ständen und anderen Konflikten wurden jedoch die Balkan-Muslime tendenziell
in stark negativer Färbung als Nachfahren asiatischer Invasoren und Orientalen
dargestellt, die nicht die Werte und Normen der europäischen Moderne teilen
würden.6 Zugleich waren sich viele Autoren durchaus der Tatsache bewusst,
dass die meisten Muslime auf dem Balkan die Nachfahren lokaler Konvertiten
waren, die üblicherweise die selbe oder zumindest eine ähnliche Sprache be-
nutzten wie ihre christlichen Nachbaren. Einige tschechische Autoren des 19.
Jahrhunderts verglichen nun diese ‘Renegaten’ und ‘Verräter’ gerne mit jenen
‘schwachen’ und ‘schlechten’ Tschechen, die dem Druck der Germanisierung
nachgegeben hatten; der Religionsübertritt zum Islam wurde so gemeinhin als
Wechsel der nationalen Identität interpretiert.
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Die tschechische Haltung gegenüber den Balkan-Muslimen wies aber ebenso


Elemente auf, die für den westlichen Orientalismus der Zeit charakteristisch
waren.7 So beruhte eine ganze Reihe von Texten und bildlichen Darstellungen
mit unverkennbar orientalistischen Tendenzen eher auf dem Hörensagen als
auf direkten Begegnungen und persönlichen Erfahrungen.8 Andere Autoren
wiederum schafften es, Berichte aus erster Hand mit dem orientalistischen Zeit-
geist zu kombinieren. So bietet etwa der Dichter und Journalist Jan Neruda
(1834–1891) mit seinem Feuilleton Na Uně [An der Una, 1868], das er später in
seine Sammlung Obrazy z ciziny [Bilder aus dem Ausland] aufnahm, nachgera-
de ein Bilderbuch-Beispiel für eine orientalistische Schwarz-Weiß-Malerei kurz
vor der k. u. k. Okkupation: Auf seiner Reise durch das habsburgisch-osmani-
sche Grenzland betont der Autor den Kontrast zwischen beiden Flussufern, die
aus seiner Sicht eine Zivilisationsgrenze darstellen. Trotz seiner Überzeugung,
dass die Menschen im osmanischen Bosnien wie im habsburgischen Kroatien
ebenso Mitglieder ein- und derselben ethnischen Gruppe (národ) wie auch die
Namen der Grenzorte auf beiden Seiten identisch seien (wie z. B. „Österrei-
chisch-Kostajnica“ gegenüber von „Türkisch-Kostajnica“), bleiben in Nerudas

5 Žáček, Václav et al.: Češi a Jihoslované v minulosti. Od nejstarších dob do roku 1918.
Prag: Academia 1975, p. 376.
6 Vgl. Sobotková, Hana: The Image of Balkan Muslims in Czech and French Journals
around 1900. In: Ellis, Steven G. / Klusáková, Luďa (Hg.): Imagining Frontiers, Contesting
Identities. Pisa: Edizioni Plus / Pisa Univ. Press, pp. 339–351, hier p. 342.
7 Vgl. ibid., p. 349.
8 Vgl. dazu Šístek, František: Naša braća na jugu. Češke predstave o Crnoj Gori i Crno-
gorcima, 1830–2006. Cetinje, Podgorica: Matica crnogorska 2009, p. 74f.; Ders.: Junáci,
horalé a lenoši. Obraz Černé Hory a Černohorců v české společnosti 1830–2006. Prag:
Historický ústav 2011[a], p. 77f.

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282 František Šístek

Augen die Unterschiede immens. Auf der habsburgischen (christlichen) Seite


ist alles sauber, ordentlich und gut organisiert; das „mohammedanische“ Fluss-
ufer indes ist bereits ein Vorposten des Orients, ein schmutziger Ort der Gewalt,
Unordnung und Anarchie.9
Die bildlichen Balkandarstellungen in der tschechischen Kultur (v. a. Bos-
nien-Herzegowina, Montenegro und Dalmatien) waren wiederum stark vom
Maler Jaroslav Čermák (1830–1878) beeinflusst. Der Künstler, der großteils in
Belgien und Frankreich lebte, hatte auch mehrere Jahre im ‘slawischen Süden’
verbracht und das Dorf Mandaljena bei Ragusa (Dubrovnik) zeitweilig zu sei-
nem Lebensmittelpunkt erkoren. Abgesehen von diversen Reisen in die Nach-
barregionen nahm er auch aktiv am bewaffneten Konflikt Montenegros mit dem
Osmanischen Reich 1862 teil und wurde von Fürst Nikola für seine Tapferkeit
ausgezeichnet. Čermák war vom zeitgenössischen Orientalismus Frankreichs
inspiriert, was in seinen Ölbildern offenbar wird, die Muslime und Orientsze-
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nen wie Haremssklavinnen oder die Entführung einer Christin durch türkische
bashibozuks thematisieren.10 Andere Maler, wie etwa Čermáks Schüler Josef
Huttary (1841–1890), der mit seinem Lehrer einige Zeit am Balkan verbrachte,
stellte die Südslawen noch bis zur Jahrhundertwende auf eine ähnliche orienta-
listische Weise dar. In den letzten Jahren der osmanischen Herrschaft schließlich
malte und zeichnete František Bohumír Zvěřina (1835–1908) attraktive Szenen
aus Bosnien-Herzegowina und anderen Regionen des Westbalkan für die tsche-
chische und deutschsprachige Presse, die realistische Motive von seinen Reisen
mit wilden Fantasien mischen.11
In der Zeit unmittelbar vor der Okkupation von 1878 verfolgte die tschechische
Öffentlichkeit intensiv und enthusiastisch den Aufstand in der Herzegowina
von 1875/76 und die diversen militärischen Konflikte mit dem Osmanischen
Reich von 1876–1878 auf der Balkanhalbinsel, die immer „Türken“ (Muslime)
als Kriegspartei inkludierten. Zahlreiche tschechische Freiwillige schlossen sich
den christlichen Aufständischen an, während Korrespondenten über die Ereig-
nisse in tschechischen Zeitungen berichteten, allen voran die jungen Schriftstel-
ler Bohumil Havlasa (1852–1877)12 und Josef Holeček (1854–1929). Holeček war
der einzige ausländische Journalist, der vom Feldzug der Montenegriner in der

9 Vgl. Neruda, Jan: Obrazy z ciziny. Prag: Československý spisovatel 1950 [1868], p. 281.
10 Siehe dazu Černý, Vratislav / Mokrý, František V. / Náprstek, Váša: Život a dílo Jarosla-
va Čermáka. Prag: Výtvarný odbor Umělecké besedy 1930; Soukupová, Věra: Jaroslav
Čermák. Prag: Odeon 1981; Borozan, Vjera: Černá Hora a Černohorci optikou obrazů
Jaroslava Čermáka. In: Moravcová, Svoboda & Šístek 2006, pp. 162–183.
11 Vgl. Dlábková, Markéta / Chrobák, Ondřej (Hg.): František Bohumír Zvěřina, 1835–1908.
Iglau: Oblastní galerie Vysočiny 2008.
12 Vgl. Havlasa, Bohumil: Divokou Hercegovinou. Prag: Ústřední legio-nakladatelství 1928.

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Der slawische Halbmond283

Herzegowina im Sommer 1876 berichtete.13 In den folgenden Jahrzehnten ver-


öffentlichte er eine Reihe von Reiseberichten und fiktionalen Texten, die große
Aufmerksamkeit den Balkan-Muslimen, ihrer Koexistenz mit den christlichen
Nachbarn sowie dem Problem der Islamisierung widmen.14 Holečeks Erlebnisse
in der Herzegowina trugen aber auch zu seiner konsequenten Opposition gegen
die österreichisch-ungarische Okkupation von 1878 bei.15
In den 1870er Jahren waren also die tschechische Darstellungen von Bal-
kan-Muslimen keineswegs uniform, sondern reichten von undifferenzierten
Bildern grausamer, uneuropäischer Türken, die man nach Asien zurücktreiben
solle, über Bilder islamisierter Slawen, die als nationale Renegaten und Verrä-
ter charakterisiert wurden und damit gemäß einer Redewendung „schlimmer
als die Türken selbst sind“ (poturčenec horší Turka), bis hin zu neutralen oder
sogar positiven Darstellungen einer kuriosen Gruppe ‘slawischer Brüder’, die
zufälligerweise einem exotischen Glauben anhängen. Dennoch herrschen – als
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Folge der Kriege und anderer traumatischer Ereignisse in der zweiten Hälfte der
1870er Jahre, welche die tschechische Öffentlichkeit genau verfolgte – negative
Bilder der Balkan-Muslime unmittelbar vor der Okkupation von 1878 vor.

Reflexionen der Okkupation – Etablierung einer neuen Ordnung


Die österreichische-ungarische Okkupation Bosniens und der Herzegowina im
Sommer 1878 weckte gemischte Gefühle in der tschechischen Gesellschaft. Ei-
nerseits nahmen etliche Soldaten aus den Ländern der böhmischen Krone aktiv
am Feldzug bzw. der „Befriedung“ der beiden osmanischen Provinzen teil. An-
dererseits verhehlten die Mitglieder stramm slawophiler Zirkel nationalistischer
Intellektueller, die generell dazu tendierten, die imperiale Politik Habsburgs
mit Misstrauen und Kritik als essenziell anti-slawisch anzusehen, nicht ihre
Ablehnung und Enttäuschung. Im Namen der „höheren Interessen des Slawen-
tums“ glaubten sie, dass die Provinzen zwischen den beiden christlich-slawi-
schen Staaten Serbien und Montenegro aufgeteilt werden hätten müssen. Ei-
nige tschechische Politiker und Unternehmer mit austroslawischer Gesinnung
hießen indes die Okkupation willkommen und unterstützten sie. Sie glaubten
nämlich, dass eine Zunahme des slawischen Anteils an der Gesamtbevölkerung
der Habsburger Monarchie infolge der neuen Gebietserwerbung schlussendlich
dazu beitragen würde, die politischen Forderungen der Tschechen durchzuset-

13 Vgl. Šístek, František: Češki pisac i novinar Josef Holeček. Kritički pogled na aus-
tro-ugarsku okupaciju Bosne i Hercegovine. In: Šehić et al. (Hg.): Bosna i Hercegovina u
okviru Austro-Ugarske. Sarajevo: Sarajevski univerzitet 2011[b], pp. 333–348, hier p. 336.
14 Vgl. Šístek 2009, pp. 81–112; Šístek 2011a, pp. 84–110.
15 Holeček, Josef: Bosna a Hercegovina za okupace. Prag: s.p. 1901.

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284 František Šístek

zen. Ebenso bedeutete die Okkupation in den Augen einiger Industrieller eine
Chance auf eine künftige Expansion der tschechischen Wirtschaft in Richtung
Südosteuropa.16
Die Bilder Bosnien-Herzegowinas und seiner muslimischen Bevölkerung in
tschechischer Literatur, in Reiseberichten und Memoiren präsentieren sich zur
Zeit des Eroberungsfeldzugs 1878 aber viel dunkler, blutiger und verstörender
als in späteren Texten aus der „goldenen Ära“ der habsburgischen mission civi-
lisatrice zur Jahrhundertwende. De facto können wir auch eine eigene Gruppe
von Quellen unterscheiden, die nicht die Okkupation selbst, sondern die darauf
folgende gewaltsame Durchsetzung der neuen Ordnung bis in die erste Hälfte
der 1880er Jahre thematisieren. Die Texte dieser Periode wurden meist von di-
rekten Beobachtern verfasst, die als Militärangehörige aktiv an der Okkupation
teilgenommen hatten. Der bewaffnete Widerstand gegen den k. u. k. Einmarsch,
die Unterdrückung der lokalen Bevölkerung durch die Besatzungstruppen sowie
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Revolten und ‘Banditentum’ (speziell während des Aufstands in der Herzego-


wina 1881) sind hier charakteristische Themen, was sie von später verfassten
Zeugnissen der ‘friedlichen’ k. u. k. Ära unterscheidet.
Die Muslime betrachteten jedenfalls die k. u. k. Armee mit Misstrauen und
leisteten auch vielerorts in Bosnien und der Herzegowina Widerstand gegen
die Okkupation. Es überrascht wenig, dass sie von vielen Beobachtern als feind-
selig charakterisiert wurden; ein vielsagendes Beispiel dafür ist ein Sammel-
band autobiografischer Texte über die Okkupation von 1878 und den Aufstand
von 1881, veröffentlicht von Jindřich Lemminger (1857–1906), Unternehmer
und später Abgeordneter zum böhmischen Landtag, unter dem Titel Episody
z bosenského povstání [Episoden aus dem bosnischen Aufstand]: Sie sind in
erster Linie aus der Sicht eines habsburgischen Soldaten geschrieben, der sich
mehr für die Alltagssorgen seiner Kriegskameraden interessiert als für die lo-
kale Bevölkerung. Wenn der Text allerdings vom blutigen Gefecht von Maglaj
im August 1878 handelt, beschreibt Lemminger den muslimischen Feind nicht
so negativ, wie zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen erwähnt er bewundernd
die kluge Strategie der „Türken“, die die überlegenen habsburgischen Truppen
in einen gut vorbereiteten Hinterhalt locken.17
Größtenteils werden diese „Türken“ freilich mittels Stereotypen und einfa-
chen Formeln charakterisiert, die jedem vertraut sein mussten, der die trans-
nationalen orientalistischen Diskurse der Zeit kannte. So steht im Zentrum
von Lemmingers Darstellung bosnisch-herzegowinischer Muslime doch das

16 Nečas, Ctibor: Balkán a česká politika. Pronikání rakousko-uherského imperialismu na


Balkán a česká buržoazní politika. Brünn: Univerzita J. E. Purkyně 1972.
17 Vgl. Lemminger, Jindřich: Episody z bosenského povstání. Kuttenberg: K. Šolc 1884, pp.
53 ff.

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Der slawische Halbmond285

vertraute Bild vom „grausamen Türken“.18 Abgesehen von der Folter und Er-
mordung ihrer Kriegsgefangenen behauptet Lemminger, die Insurgenten hätten
außerdem noch deren Leichen verstümmelt, um die Invasoren abzuschrecken.19
An einem bestimmten Punkt weigert er sich sogar, auf Einzelheiten einzugehen
– zu brutal seien die Details der psychologischen Kriegsführung; dennoch seien
diese unsäglichen Grausamkeiten von „Menschen verübt worden, die immer
noch ihren Platz im zivilisierten Europa hätten“.20 Hier liegt die Schlussfolge-
rung nahe, obwohl sie nicht ausgesprochen wird: Menschen, die einer europäi-
schen Armee mit so viel Barbarentum Widerstand leisten, verdienen es nicht,
zu Europa zu gehören. In dieser Argumentation hallen radikale antiosmanische
und -islamische Diskurse nach, wonach die Muslime als potenziell uneuropäi-
sche Fremde vom Kontinent zu vertreiben seien. Aus dieser Perspektive erschei-
nen also die De-Osmanisierung und De-Islamisierung als notwendige Schritte
hin zu einer „höheren“, „zivilisierten“, „europäischen“ Ordnung.
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Ein anderer Autor wiederum, Ignát Hořica (1859–1902), zeigt in seinen auto-
biografischen Texten, die 1909 postum in einem Band als „Traurige und lusti-
ge Geschichten aus Bosnien und der Herzegowina“ publiziert wurden,21 mehr
Aufmerksamkeit und Empathie für die örtliche Bevölkerung. Er hatte in der
Frühphase mehrere Jahre im Okkupationsgebiet zugebracht und war der Lan-
dessprache mächtig; 1884 verließ er die Armee und arbeitete als Journalist und
Autor. Als Vertreter der Jungtschechischen Partei (Mladočeši) wurde er 1897 als
Abgeordneter ins österreichische Parlament (den Reichsrat) und 1901 in den
Böhmischen Landtag gewählt.
Hořica versuchte, auf der Basis seiner persönlichen Erlebnisse einen ehrli-
chen Bericht von der „Pazifizierung“ und Einführung der „neuen Ordnung“ zu
geben. In den meisten seiner Erzählungen versucht er die Gefühle, Denkweisen
und Handlungen der Insurgenten ebenso wie der unzufriedenen Bevölkerung
zu verstehen. Das Buch ist freilich aus einer offen zwiespältigen Position heraus
geschrieben: Als Angehöriger der k. u. k. Armee fühlt sich der Erzähler zu Soli-
darität und Freundschaft seinen mitteleuropäischen Kameraden gegenüber ver-
pflichtet. Als überzeugter Slawophiler engagiert sich Hořica aber auch vor Ort,
um freundliche Beziehungen mit der örtlichen Bevölkerung aufzubauen. Seine
Texte sind dann von der schmerzhaften Erkenntnis gezeichnet, dass er bei aller
bemühten slawischen Solidarität von den Autochthonen in erster Linie als frem-

18 Vgl. Muršič, Rajko: On Symbolic Othering. „The Turk“ as a Threatening Other. In: Jezer-
nik 2010, pp. 17–26.
19 Vgl. Lemminger 1884, p. 160f.
20 Ibid., p. 161. [Alle Übersetzungen aus dem Tschechischen stammen vom Verf. bzw. dem
Übers. dieses Beitrags.]
21 Hořica, Ignát: Smutné i veselé z Bosny a Hercegoviny. Prag: J. Otto 1909.

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286 František Šístek

der Soldat wahrgenommen wurde. Sehr zum Missfallen vieler Tschechen ten-
dierten die Muslime und Orthodoxen Bosnien-Herzegowinas außerdem dazu,
jeden Angehörigen der Streitkräfte und der Administration einfach als Švabo
[„Schwabe“] zu bezeichnen, ein umgangssprachlicher südslawischer Terminus
für einen ‘Deutschen’, der sukzessive pejorative Konnotationen angenommen
hatte. Hořica musste also wiederholt zur Kenntnis nehmen, dass seine hohen
Ideale slawischer ‘Verwandtschaft’ und Solidarität nicht in den Denkweisen
und praktischen Alltagserfahrungen der Bosnier und Herzegowiner – mit ihren
spezifischen religiösen, lokalen und sozialen Antagonismen – einen positiven
Widerhall fanden.
Die Bosnier, einschließlich der Muslime, werden von Hořica aber generell
als Menschen mit einem hohen Ethos dargestellt. In einer Bosňácká morálka
[Bosniakische Moral] betitelten Geschichte, die in der Stadt Zenica im Februar
1879 spielt, erscheinen Bosnier als Menschen, die nicht nur nicht stehlen, son-
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dern auch Skrupel zeigen, einen am Wegrand gefundenen hohen Geldbetrag


mitzunehmen.22 Sie werden als den Besatzern moralisch überlegen gezeigt, als
ehrlicher und würdevoller als die Angehörigen der k. u. k. Armee (insbesondere
die Juden). Hořica lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass die Okkupation
oft brutal und traumatisch für beide Seiten war. Dennoch enthält sich der Au-
tor jeder Essenzialisierung der Muslime als grausamer und weniger zivilisiert
als die Eroberer. Stattdessen beschreibt er Gewalt und Grausamkeit auf beiden
Seiten und versucht klar zu machen, dass dies die Konsequenz des Krieges und
nicht verschiedener Mentalitäten, Kulturen oder Religionen ist.
In der Erzählung Něco o fanatismu thematisiert Hořica das Problem des an-
geblichen Fanatismus als einen der immer wiederkehrenden Züge, der den
Muslimen in zahllosen stereotypischen Darstellungen nachgesagt wird. Die
Geschichte spielt in Sarajevo im Sommer 1878 und beginnt mit einem natura-
listischen Bericht über einen Mordfall. Ein bosnischer Muslim, der ruhig vor
seinem Haus steht, greift plötzlich einen jungen Soldaten der k. u. k. Armee an
und ersticht ihn mit einem Messer. Der Täter läuft aber nicht weg; deshalb wird
er sofort von den Militärbehörden verhaftet und später standrechtlich erschos-
sen. Der Erzähler indes erklärt, dass der Mörder mehrere Familienmitglieder in
der k. u. k. Belagerung von Sarajevo verloren habe, so dass er sich nicht zurück-
halten hätte können, als ein Besatzungssoldat zufällig seine Straße hinunter
kam. Trotzdem erzählt derselbe Text auch von Grausamkeiten auf Seiten der
Invasoren, d. h. wie die habsburgischen Truppen, übermüdet und hungrig, wie
sie waren, oft überreagierten. Als etwa ein verwundeter alter Muslim unerwar-
tet einen von ihnen erschießt, lynchen ihn die Soldaten und mit ihm seinen

22 Ibid., p. 15.

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Der slawische Halbmond287

Enkel. Ohne schnelles Eingreifen ihrer Offiziere hätten sie auch noch in blin-
der Wut eine Gruppe wehrloser Kriegsgefangener massakriert.23 Folgt man
Hořica, so wurden gefangen genommene Muslime misshandelt und gefoltert,
zu langen Märschen gezwungen und es wurde ihnen auch Nahrung und Wasser
verweigert: „Der Krieg ungleicher Feinde ist schrecklicher und grausamer als
ein Krieg zwischen solchen auf gleichem Kulturniveau. Es gab Fanatismus und
Grausamkeit auf der einen Seite und wütende Vergeltung und Grausamkeit auf
der anderen.“24
Die Unmöglichkeit, das kulturell Trennende und die Feindseligkeit zwischen
den Besatzern und der lokalen Bevölkerung zu überwinden, bildet auch das
Herzstück einer tragischen Liebesgeschichte, die in Maglaj während der ersten
Monate der Okkupation spielt. Guřík, ein tschechischer Offizier der k. u. k. Ar-
mee, beauftragt, den Kontakt mit Vertretern der örtlichen Muslime herzustellen,
verliebt sich in eine verheiratete Frau, Fatica, und schleicht in ihr Haus, wann
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immer ihr Mann nicht zugegen ist. Nachdem ihre Verwandten dies heraus-
gefunden haben, machen sie keinerlei Anstalten, Guřík zu bestrafen, der die
mächtige Armee eines siegreichen Reichs von Ungläubigen repräsentiert. Fatica
indes wird dafür verantwortlich gemacht, das Tabu gebrochen zu haben, und
verschwindet. Eine Woche später wird die verstümmelte Leiche einer jungen
Frau von einer Militärpatrouille im Bosna-Fluss treibend gefunden, „ihre Zun-
ge, ihre Brüste und ihre Arme an den Ellbogen abgeschnitten“. Fatica ist somit
offenkundig das Opfer eines Verbrechens geworden, das man heute als ‘Ehren-
mord’ bezeichnen würde. Ihr untröstlicher tschechischer Geliebter stirbt nur
wenige Monate später, nachdem er eine kalte Nacht an ihrem Grab am Fluss-
ufer verbracht hat. Die wahren Schuldigen werden freilich weder ausgeforscht
und bestraft, noch wird wegen mangelnder Kooperation des örtlichen muktar
[Bürgermeister] von Maglaj die Identität des Opfers verifiziert.25
Im tschechischen Kollektivgedächtnis indes haben sich interessanterweise zwei
ziemlich bekannte Spuren der Okkupation und „Befriedung“ Bosnien-Herzego-
winas erhalten: ein Wort und ein Lied. Wie bereits erwähnt, gerieten die k. u. k.
Truppen (genauer gesagt: das 7. Husarenregiment, in dem auch etliche Männer
aus den Ländern der böhmischen Krone dienten) auf ihrem Vormarsch am 3.
August 1878 bei Maglaj in einen blutigen Hinterhalt, bei dem dutzende Militär-
angehörige ihr Leben verloren.26 Mit den Worten der Prager Zeitung Světozor
vom 23. August: „In Maglaj wurde zum ersten Mal das Blut österreichischer

23 Ibid., p. 45.
24 Ibid., p. 47.
25 Ibid., p. 113.
26 Vgl. dazu auch den Beitrag von Clemens Ruthner (Besetzungen 1) im vorl. Sammelband.

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288 František Šístek

Soldaten vergossen. Es war hier, wo klar wurde, dass aus einer friedlichen Be-
setzung, die jedermanns fester Wunsch gewesen war, blutige Eroberung werden
musste.“27 Die Details dieses überraschend heftigen Gefechts mit muslimischen
Aufständischen wurden schnell von Zeitungen, aber auch den betroffenen Teil-
nehmern verbreitet. Dadurch wurde auch der Name der bosnischen Stadt idio-
matisch eingemeindet: Das Substantiv maglajz (abgeleitet von Maglaj) ist heute
immer noch in der tschechischen (und slowakischen) Umgangssprache geläufig.
Es bezeichnet etwas Schlampiges, Unordentliches, Chaotisches, manchmal auch
etwas Anrüchiges oder Ekelhaftes.28 Obwohl der historische Kontext längst ver-
loren gegangen ist, kennt und benützt fast jeder dieses Wort, ohne zu wissen,
dass es aus einer blutigen Begegnung zwischen (teilweise tschechischen) k. u. k.
Soldaten und bosnischen Muslimen im Sommer 1878 hervorgegangen ist.
Das Hercegovina-Lied bezieht sich, wie schon sein Titel nahelegt, auf den
Aufstand in jener Region von 1881, der ebenso von habsburgischen Truppen
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niedergeschlagen wurde. Es existieren zahlreiche Text- und auch zwei Titel-


varianten, denn das Lied ist auch bekannt als Za císaře pána [Für den Kaiser] in
Bezug auf den ersten Vers: Za císaře pána a jeho rodinu / museli jsme vybojovat
Hercegovinu [„Für den Kaiser und seine Familie / mussten wir die Herzegowina
erobern.“]. Der Liedtext, verfasst von einem unbekannten Autor, legt ein Spott-
und Zerrbild des muslimischen Feindes nahe:
Támhle na stráni šnelcuk uhání,
tam na stráni jsou schováni mohamedáni.
Mohamedáni, to jsou pohani
kalhoty maj roztrhaný, smrkaj do dlaní.
Tyhle Turkyně, to jsou vám svině,
císař pán je narad vidí ve svý rodině.

[An jenem Abhang, wo ein Schnellzug vorbeirauscht,


An jenem Abhang, dort verstecken sich die Mohammedaner.
Die Mohammedaner, sie sind Heiden,
Sie tragen zerrissene Hosen und schnäuzen sich in die Hand.
Und diese türkischen Frauen, oh was für Schweine sind sie,
Der gute Kaiser ist nicht froh, sie in seiner Familie zu sehn.]29

27 Zit. n. Ljuca 2006, p. 125.


28 Vgl. Ljuca, Adin: Maglaj. Na tragovima prošlosti. Prag: Općina grada Maglaja 1999, p. 347.
29 Zit. n. Mücke, Pavel: Hercegovina. Musela ji vybojovat infantéria? In: Slabáková, Radmila
(Hg.): O exilu, šlechtě, Jihoslovanech a jiných otázkách moderní doby. Sborník k naroze-
ninám Arnošta Skoupého. Olmütz: Univerzita Palackého 2004, p. 232.- Eine Alternativ-
version des Liedes lautet: Tyhle Turkyně / tlustý jak dýně [Diese türkischen Frauen / fett
wie Kürbisse].

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Der slawische Halbmond289

Hercegovina war ursprünglich ein Militärlied. Laut dem Historiker Pavel Mücke
war es unter tschechischen Soldaten im Ersten Weltkrieg berühmt-berüchtigt
und blieb auch nach der Auflösung der Habsburger Monarchie populär. Herce-
govina / Für den Kaiser war aber auch ein Lieblingslied tschechoslowakischer
Piloten in der britischen Royal Air Force während des Zweiten Weltkriegs und
wurde bald auch von britischen Soldaten gesungen, die ihre Freizeit mit ihnen
verbracht hatten.30 In der kommunistischen Tschechoslowakei wiederum konn-
te das Absingen jenes „reaktionären Pro-Habsburg-Liedes“ während des Mili-
tärdienstes strenge Strafen nach sich ziehen. Nichtsdestotrotz hat Hercegovina
das turbulente 20. Jahrhundert überlebt und kann auch heute noch ziemlich oft
in Kneipen und bei diversen Festivitäten gehört werden.
Bis vor kurzem wurde das Lied in erster Linie freilich als witziges und nost-
algisches Relikt der ‘guten alten Zeit’ wahrgenommen. Das pejorative Bild der
„Mohammedaner“ wurde im kollektiven Gedächtnis mehr oder weniger dekon-
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textualisiert und in einen gleitenden Allzweck-Signifikanten verwandelt, denn


in der Praxis waren ja direkte Kontakte von Tschechen mit Bosnien-Herzego-
wina – ja mit Muslimen im Allgemeinen – im kurzen 20. Jahrhundert stark limi-
tiert. Urteilt man indes nach jüngsten Internet-Debatten und -Kommentaren, so
hat das alte Lied gerade wegen seiner anti-muslimischen Töne wieder Aufmerk-
samkeit auf sich gezogen. Zur Zeit erscheint es durchaus möglich, dass Herce-
govina eine neue Daseinsberechtigung aus einer zeitgenössisch islamophoben
Neuinterpretation heraus bekommt. Eine auf YouTube kursierende Version des
Liedes wurde bereits als der tschechische Remove Kebap Song31 bezeichnet, denn
ähnlich wie in anderen Ländern ist Döner ein Symbol für die subjektiv erlebte
‘Islamisierung’ eines ethnisch weitgehend homogenen Tschechien geworden, in
dem fast keine muslimischen Immigranten leben. Die Tatsache, dass Kebab im
Liedtext nicht vorkommt und auch keineswegs die Küche Bosnien-Herzegowi-
nas repräsentiert, scheint dabei von sekundärer Bedeutung zu sein.

Von bosnischen Muslimen zu Katholiken und ‘slawischen


Brüdern’?

In den 1880er und 1890er Jahren ließ sich neben Soldaten auch eine wachsende
Zahl tschechischer Verwaltungsbeamter, Polizisten, Ingenieure, Lehrer, Ärz-
te, Unternehmer, Musiker, Handwerker und Arbeiter in Bosnien-Herzegowina
nieder. Der Zensus von 1910 zählte 7.095 Tschechen, die hier lebten (d. h. zirka

30 Vgl. ibid., p. 233f.


31 Vgl. Czech Remove Kebap Song – Za císaře pána, https://www.youtube.com/
watch?v=AszJCpNmxOo.

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290 František Šístek

13 % aller Neuankömmlinge aus der Habsburger Monarchie). Personal aus den


Ländern der böhmischen Krone, das üblicherweise in beiden Verwaltungsspra-
chen Deutsch und Serbo-Kroatisch fließend war, machte sogar rund ein Viertel
aller in der habsburgischen Regionaladministration Tätigen aus.32 Ebenso wie
die Menge an Reiseberichten sowie anderer Texte über Land und Leute nahm
die Zahl tschechischer Touristen und anderer Besucher stetig zu. Auch wurde
die österreichisch-ungarische Politik vor Ort von tschechischen Liberalen und
Nationalisten häufig als kolonialistisch, antislawisch und autokratisch kriti-
siert. Dennoch priesen sogar die Kritiker den technischen, wirtschaftlichen und
kulturellen Aufschwung, den die Doppelmonarchie innerhalb kürzester Zeit in
Bosnien-Herzegowina erreicht hatte.33
Aber auch die kritischen Texte, Reden und Polemiken, die z. B. das Wesen
der „absolutistischen Herrschaft“ von Benjámin von Kállay (1839–1903), dem
k. u. k. Finanzminister und Gouverneur Bosnien-Herzegowinas, diskutierten,
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vermieden üblicherweise, über die Existenz der Muslime zu sprechen – wobei


es durchaus interessante Ausnahmen gab: 1899 publizierten drei tschechische
Abgeordnete zum Wiener Reichsrat – Emanuel Dyk (1852–1907), Max Há-
jek (1835–1913) und František König (1853-?) – einen Bericht über ihre Reise
durch die besetzten Gebiete mit dem sprechenden Titel Dvacet let práce kulturní
[Zwanzig Jahre Kulturarbeit]. Anders als jene tschechischen Autoren, die über-
aus kritisch der habsburgischen Herrschaft auf dem Balkan gegenüberstanden,
boten die drei Parlamentarier eine positivere Bewertung des allgemeinen Fort-
schritts, wie er unter der k. u. k. Herrschaft in den letzten zwanzig Jahren er-
reicht worden sei. Dyk, Hájek and König thematisieren aber auch explizit die
Muslime (mohamedáni):
Die slawische Presse macht einen schweren Fehler, wenn sie die Mohammedaner
praktisch ignoriert. Sie werden üblicherweise als quantité négligeable vorgestellt, trotz
der Tatsache, dass sie fast so zahlreich sind wie die Orthodoxen, und trotz der Tat-
sache, dass sie de facto Slawen sind, die ziemlich sicher und vielleicht schon nach
relativ kurzer Zeit das Joch des Islam abschütteln und sich ihren christlichen Brü-
dern anschließen werden. Wir haben uns daran gewöhnt, an das bevorstehende Ver-
schwinden ‘des Türken’ aus Europa zu glauben, und werfen damit die bosnischen
Mohammedaner [bosenské mohamedány] in denselben Topf wie die Türken, wobei
wir vergessen, dass sie eigentlich slawische Muslime [slovanští moslimové] und nicht
Osmanen sind.34

32 Hladký, Ladislav et al.: Vztahy Čechů s národy a zeměmi jihovýchodní Evropy. Prag:
Historický ústav 2010, p. 79.
33 Ibid., p. 83.
34 Dyk, Emanuel / Hájek, Max / König, František: Dvacet let práce kulturní. Cesta Bosnou a
Hercegovinou. Pilsen: J. Císař 1899, p. 17.

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Der slawische Halbmond291

In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts stand freilich das nationale Bewusst-
sein jener „Mohammedaner“ noch an seinem Anfang. Allerdings intensivier-
ten die vielfältigen Modernisierungsbemühungen unter habsburgischer Herr-
schaft die Kontakte der Muslime mit den anderen bosnisch-herzegowinischen
Gemeinschaften. Ihre angeblich konservative Grundeinstellung änderte sich;
immer mehr muslimische Kinder besuchten öffentliche Schulen und auch die
muslimischen Frauen unternahmen Versuche, aus ihrer sozialen Isolation aus-
zubrechen. Dyk, Hájek und König schreiben:
Slawischer Geist und slawisches Blut können nicht geleugnet werden. Trotz der Tat-
sache, dass sie über mehrere Jahrhunderte gläubige ‘Türken’ gewesen sind, wachen
sie daraus auf wie aus einem Zauberschlaf und beginnen sich mit ihrem Stamm zu
identifizieren. Das sind erst bescheidene Anfänge. Aber die Versuche der bosnischen
Mohammedaner, ihre nationale Farblosigkeit [národní bezbarvost] loszuwerden, wer-
den jedes Jahr mehr offenbar.35
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Ähnlich wie andere tschechische Autoren nehmen Dyk, Hájek und König eine
Verbindung zwischen religiöser Konversion und dem Wechsel der nationalen
Identität an: „Die Kontakte zwischen Christen und Mohammedanern sind heute
ohne Beschränkung, ja sogar freundlich geworden. Die Zeit, da die Frage sich
stellen wird, ob es nicht besser wäre, wenn die Mohammedaner in den Schoß
der christlichen Kirche zurückkehrten, ist vielleicht nicht allzu weit entfernt.“36
Obwohl sie nicht in der Lage sind, zwingende Beweise zu erbringen, die ihre
Vision einer bevorstehenden (Re-)Christianisierung der bosnisch-herzegowini-
schen Muslime erhärten würden, konzentrieren sich die Autoren auf die Frage,
welcher Kirche und Ethnizität sie in Zukunft wohl angehören sollten. Dyk, Há-
jek and König gehen so weit, zu argumentieren, dass die Muslime eine größere
Affinität zu den katholischen Kroaten als zu den orthodoxen Serben hätten:
Jüngst waren die Orthodoxen die größten Feinde der Türken, ob sie nun an der Drina
oder in den wilden Gebirgstälern Montenegros kämpften, Mann gegen Mann. Natür-
lich gab es auch viel Blutvergießen während der Okkupation, aber das wurde von
Ausländern getan, von den ‘Švabos’, nicht den Kroaten. Das Familiengedächtnis, das
die jüngsten Stammesfeindseligkeiten bewahrt, ist den Orthodoxen gegenüber vor-
eingenommen, nicht aber gegenüber den Kroaten.37

Als dominante Religion des Habsburger Reichs und seiner politischen Eliten
erfreute sich der Katholizismus ebenso eines höheren Prestiges. Deshalb wür-

35 Ibid., p. 15f.
36 Ibid., p. 17.
37 Ibid.

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292 František Šístek

den auch die Muslime „die früher der herrschenden Schicht angehörten, be-
vorzugen, der Konfession beizutreten, welche die Mehrheit in unserem Reich
repräsentiert.“38
Die Tatsache, dass die bosnisch-herzegowinischen Muslime nach der Okku-
pation zur lateinischen Schrift wechselten, wird als zusätzlicher Beweis ihrer
pro-katholischen Haltung zitiert. Dyk, Hájek and König geben aber zu, dass es
noch zu früh sei vorherzusagen, ob die bosnisch-herzegowinischen Muslime
schlussendlich Serben oder Kroaten werden wollten:
Trotzdem, ungeachtet des Ausgangs, können die Slawen hier nur gewinnen. Ob die
Mohammedaner nun Serben oder Kroaten werden, in jedem Falle wird dies die Wie-
derauferstehung eines toten Zweiges des slawischen Baums bedeuten. […] Wir heißen
die Tatsache willkommen, dass sich die Mohammedaner an die Kroaten angenähert
haben, was auch die Tür zu ihrer Konversion zum Katholizismus öffnet, den Glauben,
dem auch wir anhängen.39
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Ideen wie diese, die von den drei tschechischen Abegeordneten formuliert wer-
den, sind in der Frühphase der österreichisch-ungarischen Okkupation kein
Einzelfall: „To most Europeans, the Bosnian Muslims appeared doomed, as a
lagoon cut off from the receding tide of a shrivelling Ottoman sea“, formuliert
dies der britische Historiker Robin Okey.40 Ihm zufolge war nicht einmal der am
längsten von allen dienende Gouverneur Kállay, der immer wieder von seinen
Kritikern beschuldigt wurde, die Muslime zu bevorzugen, immun gegen der-
artige Überlegungen: „Kállay himself had reservations about Islam´s viability
in the modern world“;41 privat schloss er deshalb die Möglichkeit einer Massen-
konversion zum Christentum nicht völlig aus.42
Zehn Jahre später veröffentlichte der Geograf, Naturforscher und spätere tsche-
choslowakische Diplomat Jiří V. Daneš (1880–1928) eine weitere Zusammen-
schau von Bosnien-Herzegowinas aktuellen Problemen. Sein Buch ist über-
wiegend das Werk eines Gelehrten, der sich mit Geografie, demografischem
Wandel, Bevölkerungsdichte, Migration, Wirtschaft und anderen Themen aus-
einandersetzt. Daneš unterstreicht die vielfache und weitreichende Transforma-
tion der besetzten Gebiete unter habsburgischer Herrschaft. Er muss zugeben,
dass die Landesregierung in ihren Versuchen, Reformen durchzuführen und

38 Ibid.
39 Ibid., p. 18.
40 Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Misison’ in Bosnia,
1878–1918. Oxford, New York: Oxford Univ. Press 2007, p. 92.
41 Ibid., p. 98.
42 Vgl. ibid.

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Der slawische Halbmond293

Modernisierung zu stimulieren, gnadenlos effizient gewesen sei. Nichtsdesto-


weniger würde Bosnien-Herzegowina in allen praktischen Belangen wie eine
bloße Kolonie behandelt werden. Bei näherem Hinsehen seien viele positive
Entwicklungen und Zeichen des Fortschritts eigentlich nur Nebenerscheinun-
gen anderer Regierungsprojekte, deren primäres Ziel nichts als die Ausbeutung
des eroberten Gebietes sei.43 Daneš zufolge sei das ureigenste tschechische Na-
tionalinteresse in Bosnien-Herzegowina daher die Erhaltung und Stärkung der
slawischen Identität des Landes, die durch den Zustrom ausländischen – vor
allem deutsch-österreichischen und ungarischen – Kapitals, aber auch durch
die Ansiedlung deutschsprachiger Kolonisten und die Vormachtstellung der
deutschen Sprache in der Administration gefährdet sei.
Die Wichtigkeit religiöser Partikularidentitäten und nationaler Selbstidenti-
fikationen jedoch erschienen Daneš, der sein Buch drei Jahrzehnte nach der
Okkupation von 1878 und nur wenige Monate nach der Annexion von 1908
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verfasste, sekundär. Die Einwohner Bosnien-Herzegowinas werden bei ihm


wissenschaftlich als eine einzige Gruppe aufgefasst – sie seien allesamt Slawen
„serbo-kroatischer Nationalität“:
Dank ihrer körperlichen Stärke, ihrer unverfälschten Moral, der Reinheit ihrer Spra-
che und der Hingabe an althergebrachte Bräuche stellen diese Slawen den wahren
Kern der serbo-kroatischen Nation dar und werden als solche in Zukunft sicherlich
eine wichtige Rolle auf dem Gebiet der nationalen Erneuerung spielen. Ihr Missge-
schick liegt zumindest vorläufig in der Tatsache, dass sie in drei Elemente geteilt sind,
die sich scharf in historischen und politischen Traditionen sowie in ihren politischen
Zielen unterscheiden.44

Anders als Dyk, Hájek und König zehn Jahre zuvor gibt sich Daneš keinen Fan-
tasien und Spekulationen über eine mögliche Massenkonversion der Muslime
hin. Der Geograf interpretiert sogar den alten Topos des muslimischen ‘Fanatis-
mus’ positiv um: „Die Mohammedaner (muhammedáni) sind berühmt für die
Unverdorbenheit und Aufrichtigkeit ihres Charakters. Ihr religiöser Fanatismus
stellt einen Anker gegen die Verderbnis dar, die von der europäischen Kultur (z
kulturní Evropy) ausgeht.“45 Auch ein anderer Dauerbrenner aus dem Repertoire
der orientalistischen Klischees – der Topos der türkischen bzw. muslimischen
‘Dekadenz’ und ‘Degeneration’ – fehlt hier nicht; er ist jedoch exklusiv der
Darstellung der muslimischen Eliten Bosnien-Herzegowinas vorbehalten, ins-
besondere der alten Aristokratie, „die es häufig liebt, sich der vom Koran ver-

43 Daneš, Jiří V.: Bosna a Hercegovina. Prag: E. Grégr 1909, p. 3.


44 Ibid., p. 89.
45 Ibid., p. 92.

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294 František Šístek

botenen Genüsse zu erfreuen, und damit in moralischem und finanziellem Ruin


versinkt.46 Abgesehen von der relativ dünnen Oberschicht, die eng mit dem
alten osmanischen Regime assoziiert wird, werden die weitaus zahlreicheren
muslimischen Massen auf die gleiche Weise wie ihre orthodoxen oder katho-
lischen Nachbarn konzeptualisiert – als Repräsentanten des gesunden, vitalen
und „moralisch unverdorbenen“ Kerns der „serbo-kroatischen Nation“. Was
sie von den Serben und Kroaten zumindest vorläufig abhebt, ist ihr geringeres
Nationalbewusstsein: „Sie nennen sich noch immer Türken, aber sie sprechen
Serbisch und verstehen überhaupt kein Türkisch. Ihre Religion ist also ihre Na-
tionalität.“47 Die Identifizierung religiöser Zugehörigkeiten mit Nationalitäten
als charakteristische Tendenz im Selbstverständnis der bosnisch-herzegowini-
schen Muslime wird auch in anderen zentraleuropäischen Quellen der Epoche
erwähnt, wie etwa im Bosnien-Band des repräsentativen „Kronprinzenwerks“
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild.48
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Trotz beachtlicher Bemühungen der habsburgischen Administration, sich der


Loyalität und Kollaboration der Eliten zu versichern, behauptet aber Daneš, die
Muslime hätten sich im Allgemeinen nicht mit der Realität der neuen k. u. k.
Herrschaft abfinden können. Dafür macht er freilich die Landesregierung eher
verantwortlich als die angeblich „starrköpfigen“, „konservativen“ und „undank-
baren“ Muslime Bosnien-Herzegowinas, wie dies seine tschechischen Zeitge-
nossen49 taten. Daneš glaubt vielmehr, dass die unzureichende Integration und
Adaption der muslimischen Bevölkerung das Ergebnis der langen Ignoranz der
Landesregierung ihnen gegenüber sei.
Zur Jahrhundertwende hin variieren die tschechischen Texte über Bosnien-Her-
zegowina also ziemlich in ihrer Haltung der österreichisch-ungarischen Politik
gegenüber. Ebenso werden die „Mohammedaner“ aus verschiedenen Blickwin-
keln dargestellt. Ihre slawische Identität ist (ungeachtet der Tatsache, dass diese
in der Praxis nicht über vage sprachliche Affinitäten hinausgeht) das wichtigs-
te Element in fast allen tschechischen Darstellungen der späten Habsburger
Zeit, zumal sie als eine Art Verwandtschaft verstanden wurde, die die Muslime
sowohl mit ihren Mit-Südslawen als auch mit den Tschechen verband. Dies
erweckte das tschechische Interesse an diesem bosnisch-herzegowinischen Be-
völkerungssegment, das ansonsten ‘fremder’ und ‘ferner’ als die anderen beiden

46 Ibid.
47 Ibid.
48 Vgl. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild: Bosnien und Hercegovi-
na. Wien: Verlag der k. k.- Hof- und Staatsduckerei 1901, p. 4.
49 Vgl. etwa Zavadil, Antonín: Obrázky z Bosny. Trappisti, Turci, Židé, Cikáni. Prag: J. Pelcl
1911.

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Der slawische Halbmond295

ethno-religiösen Gruppen wirkte. Die Fantasie einer möglichen Konversion der


Muslime zum christlichen Glauben verflüchtigte sich indes schrittweise nach
der Jahrhundertwende. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich tschechi-
sche Autoren offen für ein zunehmendes Nationalbewusstsein im modernen
Sinn ein. Sie erwarteten, dass diese Entwicklung zur Versöhnung und Annähe-
rung zwischen Muslimen, Orthodoxen und Katholiken in Bosnien-Herzegowina
führen würde, dass man sich vereinen könne im Kampf gegen Kolonialherr-
schaft und kapitalistische Ausbeutung. Die Vorahnung, dass eine Stärkung des
Nationalbewusstseins und einer entsprechenden politischen Agenda die parti-
kularen Kollektividentitäten der Bosniaken, Serben und Kroaten eher stärken
als schwächen könnte, ist hingegen erstaunlich wenig präsent im tschechischen
Denken der späten Habsburger Monarchie.

Der Künstler und der Gendarm: bosnisch-herzegowinische


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Muslime in den Augen von Ludvík Kuba und František Valoušek

Gemäß der Inschrift auf seinem Grabstein war Ludvík Kuba (1865–1956) ein
„tschechischer Maler und slawischer Musikologe“. Auf der Gedenkplakette an
seinem Geburtshaus in der mittelböhmischen Stadt Poděbrady wird der „Na-
tionalkünstler Dr. phil. h. c. Ludvík Kuba“ charakterisiert als „Maler, Musiker,
Schriftsteller und Forscher auf dem Gebiet der slawischen Ethnografie“. Auf
jeden Fall war dieser veritable Renaissancemensch mit einem langen und pro-
duktiven Leben gesegnet und zweifelsohne einer der interessantesten Persön-
lichkeiten, die mit ihrem wissenschaftlichen und künstlerischen Werk zur Ent-
wicklung tschechischer Vorstellungen in Bezug auf die Südslawen, den Balkan
und die gesamte „slawische Welt“ beitrug.
In Erweiterung seines ursprünglichen Interessenschwerpunkts auf dem Ge-
biet der Musik(wissenschaft) studierte Kuba Malerei in Prag, Paris und Mün-
chen. Zwischen den 1880er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg unternahm er
eine Reihe von Studienreisen auf dem Balkan, sowie in Mittel- und Osteuropa.
Bosnien-Herzegowina besucht er erstmals in den frühen 1890er Jahren mit der
primären Absicht, dort Volkslieder zu sammeln. Neben dieser Kompilations-
arbeit, für die er von einem tschechischen Übersetzer begleitet wurde, verfasste
Kuba auch das Musik-Kapitel für den 1901 erschienenen Bosnien-Band des er-
wähnten „Kronprinzenwerks“.50
Kuba bezeichnet die Muslime Bosnien-Herzegowinas zumeist als „Türken“.
Dabei war er sich wohl bewusst, dass dies kein korrekter ethnischer Termi-

50 Kuba, Ludwig [sic]: Gesang und Musik. In: Die österr.-ungar. Monarchie in Wort und Bild
1901, pp. 376–390.

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296 František Šístek

nus war, sondern dass dessen Benutzung allein durch seine Geläufigkeit bei
den autochthonen Bevölkerungsgruppen – und nicht zuletzt bei den Muslimen
selbst – legitimiert war.51
Anders als die meisten tschechischen Autoren betont Kuba aber auch die
sog. Bogumilen-These bei seiner Darstellung der bosnisch-herzegowinischen
Muslime: Die stark bogumilisch beeinflusste Bosnische Kirche, die von den Ka-
tholiken jener Zeit als Häretiker angesehen wurde, war im spätmittelalterlichen
Königreich Bosnien sehr präsent. Laut Kuba hätten die Bogumilen und ihre
Nachfahren, die nach der osmanischen Eroberung meist zum Islam übertra-
ten, einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung einer spezifischen Identität
(vyhraněná osobitost) bei Land und Leuten gehabt: „Ein Drittel der Einwohner
– die reichsten und gebildetsten – konvertierten 1463 zum Islam, was nur ihre
Religion, nicht aber ihre Nationalität betraf.“52
Damit sah Kuba die muslimische Kultur und Religion in erster Linie nicht als
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ausländisches Implantat an; für ihn war vielmehr die Existenz einer spezifisch
bosnisch-muslimischen Gesellschaft und Kultur das natürliche Produkt einer
langen Entwicklung, die bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden konnte. Als
Resultat ihrer Konversion habe es die bosnisch-herzegowinische Aristokratie
geschafft, einen hohen Grad an Unabhängigkeit zu bewahren. Trotz ihrer viel-
fach bemerkten Loyalität zum Sultan und Islam hätten die örtlichen Muslime
gleichzeitig einen starken Regionalpatriotismus innerhalb des Osmanischen
Reichs kultiviert.
Kuba offeriert dieses deutlich positive Bild der Muslime insbesondere in sei-
nen Texten, die sich dem Ursprung und der Geschichte der Stadt Sarajevo wid-
men. Der Islam sei mit Gleichheit und Toleranz assoziiert worden; er habe zi-
vilisatorischen Fortschritt bedeutet, symbolisiert durch neue Brücken, Straßen,
Wasserleitungen und öffentliche Bäder, Besistans und Hans. Dementsprechend
beschreibt Kuba das osmanische Sarajevo nicht als finsteren und barbarischen
Ort, sondern als eine Stadt mit einem hoch entwickelten Sinn für Schönheit und
Ästhetik, für ethische und philantropische Werte.
Um während seiner Forschungsreisen weniger Aufmerksamkeit zu erregen,
war Kuba gewohnt, die örtliche slawische Kopfbedeckung auch selbst zu tragen;
für Bosnien-Herzegowina wählte er den Fez:
Ich entschied mich für den Fez, der in Bosnien die Köpfe von Katholiken, Orthodoxen
und Muslimen gleichermaßen bedeckt. Es gab mir das Aussehen eines ‘Türken’ und
manchmal, da ich Brillen trug, wurde ich für einen türkischen Arzt gehalten. […]

51 Kuba, Ludvík: Čtení o Bosně a Hercegovině. Cesty a studie z roků 1893–1896. Prag:
Družstevní práce 1937, p. 103.
52 Ibid., p. 60.

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Der slawische Halbmond297

Unter den örtlichen Bedingungen sah ich meine Entscheidung für den Fez als golde-
nen Mittelweg an, zumal nur die Orthodoxen und Katholiken einander hassten, aber
beiderseits gute Beziehungen zu den Türken unterhielten.53

Trotzdem brachte dieses going native auch Probleme und unliebsame Erfah-
rungen mit sich, „zuallererst seitens des westeuropäischen Elements“ (u našeho
západoevropského živlu);54 wie Kuba nämlich bald feststellen musste, ermög-
lichte ihm das Tragen örtlicher Kopfbedeckungen eine Erfahrung aus erster
Hand, was es bedeutete, ein ‘Eingeborener’ in einem besetzten Land zu sein.
So behandelten ihn vor allem Mitglieder der Intelligenzija aus anderen Teilen
der Habsburger Monarchie – jener Gesellschaftsschicht also, der Kuba selbst
angehörte – mit spezieller Ruppigkeit. Von den Türstehern und Dienern in den
neuen Hotels ‘europäischen’ Stils bis hin zu den Beamten der Administration:
so ziemlich jeder Neuankömmling in nur jeder denkbaren sozialen Position in
Bosnien-Herzegowina sah offenkundig in ihm einen Bürger zweiter Klasse, oder
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sogar weniger, wie sich Kuba erinnert:


Solange ich auf einem Pferd ritt, war es relativ erträglich. Ich konnte für einen pensio-
nierten Pascha durchgehen und wurde sogar gelegentlich mit einem gewissen Respekt
gegrüßt. Aber wann immer ich zu Fuß ging, war ich total verloren. Allgemein be-
trachtet wird einem Fußgänger auf dem Balkan ohnehin nicht viel Respekt entgegen
gebracht, aber ein Passant mit einem Schwabo-Anzug kombiniert mit einem Fez ver-
wirrte jeden, die Einheimischen wie die Ausländer.55

Auf seinen Reisen durch Bosnien-Herzegowina mit einem Fez auf dem Kopf
bemerkte Kuba nun, wie die meisten Neuankömmlinge, die sich in den be-
setzten Gebieten niederließen, automatisch fest und firm an die Überlegenheit
ihrer eigenen Kultur und Lebensart glaubten. Im Gegensatz dazu war Kuba ein
überzeugter Kulturrelativist, der die Idee einer Hierarchie der Kulturen und
Zivilisationen zurückwies: Sitten, Gebräuche und Haltungen, die zunächst selt-
sam, ja lächerlich wirkten, seien üblicherweise funktional und bedeutungsvoll
innerhalb der Kultur, aus der sie entsprängen, meint Kuba, der das Beispiel
muslimischer Ladenbesitzer aus Travnik verwendet, um dies zu illustrieren: Auf
den ersten Blick würden die unbeweglichen und stillen Geschäftsleute nämlich
lethargisch und faul erscheinen; auch die Reiseliteratur jener Zeit wiederholte
in der Tat immer wieder das Klischee vom „mohammedanischen Ladenbesitzer,
der wie ein Buddha inmitten seiner Waren“ säße. Ihre Immobilität und Reser-
viertheit sei aber, wie Kuba behauptet, kein Produkt „orientalischer Faulheit“. Es

53 Ibid., p. 102.
54 Ibid.
55 Ibid., p. 103.

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298 František Šístek

sei die türkische Kultur mit ihrer Wertschätzung für Ruhe und Zurückhaltung,
die den Gebrauch unnötiger Worte und Gebärden verbieten würde. Anstelle von
Faulheit und Degeneration entdeckt Kuba in dieser Stille und Gemütsruhe also
eine beeindruckende Würde.56
Mitte der 1890er Jahre entschied sich Kuba schließlich, für eine längere Zeit
ganz nach Mostar zu ziehen. Zuvor hatte er seine meisten Energien auf syste-
matische Reisen durch die ‘slawische Welt’ verwendet, um dort Volkslieder zu
sammeln sowie Skizzen und Aufzeichnungen anzufertigen. In Mostar lebte er
von 1895–96 mit seiner Frau, diesmal mit dem Ziel, seine Fertigkeiten und Repu-
tation als Maler weiter zu entwickeln; sein Vermieter und die meisten Nachbarn
waren Muslime. War schon Bosnien-Herzegowina generell „das malerischste
Land auf dem Balkan“, so war Mostar und seine Umgebung jetzt für ihn die
malerischste Gegend innerhalb dessen. Wie er sich später erinnerte, empfand er
die herzegowinische Landschaft und ihre Bewohner so, also ob sie geradewegs
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aus einem von Čermáks montenegrinischen Ölgemälden aus den 1860er und
70er Jahren entstiegen seien.57 In Mostar sah alles und jeder „monumental“ aus,
egal ob es sich um um Serben, „Türken“ oder Kroaten handelte.58
Trotz der Tatsache, dass Kuba Würde bei allen Einwohnern dieser Ecke der
Herzegowina vorgefunden haben wollte, verband er doch die noblen Werte
und Qualitäten, die er besonders bewunderte, mit den Muslimen. Der hohe
Grad an Würde und Moral, die er an ihnen wahrnahm, war, wie er glaubte, ein
direktes Resultat der einfachen, aber weisen Lehren des Islam. So schrieb Kuba
mit Zuvorkommenheit und Empathie über die Mitglieder der Oberschichten als
„die würdevollen Effendis: Begs, Agas, Hodschas und Hadschis“, aber auch über
die Mittelschicht und die armen Muslime, wie den selbstbewussten und stillen
Bettler von Mostar, „der an einer Straßenecke stand und einer römischen Sta-
tue ähnelte“.59 Im Kapitel Vznešený pohřeb [Ein sublimes Begräbnis] aus seiner
Sammlung von Reiseberichten und anderen Schriften zu Bosnien-Herzegowina
erinnert sich der Maler an die Beerdigung des Mufti von Sarajevo, der während
seines Besuchs in Mostar verstorben war; Beschreibungen der muslimischen
Haltung dem Tod und Schicksal gegenüber ebenso wie die Totenbräuche schie-
nen für ihn die für den Islam charakteristischen Hauptgedanken und Tugenden
ergreifend zu demonstrieren. Kuba fand muslimische Begräbnisse und Friedhöfe

56 Vgl. ibid. p. 114.


57 Kuba, Ludvík: Křížem krážem slovanským světem. Prag: Nakladatelství československých
výtvarných umělců 1956, p. 176.
58 Kuba 1937, p. 197.
59 Ibid., p. 196f.

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Der slawische Halbmond299

schön, tröstlich und würdevoll, indem sie die Gemeinschaft festigten und den
Trauernden den Weg zurück in den Alltag ebneten.60
Kuba stand mit seiner Bewunderung nicht allein da, denn die Mehrheit der
tschechischen Autoren, die zu jener Zeit über Bosnien-Herzegowina schrieben,
drückte ihre slawophilen Sympathien aus; dies wurde üblicherweise begleitet
von kritischen Bemerkungen über die habsburgische Politik in den besetzten
Gebieten. Dennoch konnten nur wenige Tschechen seiner Generation mit Kubas
Wissen aus erster Hand über die slawischen Völker und deren Länder mithal-
ten. Trotz dieser Qualifikationen und seiner Kritik an den negativen Aspekten
der Okkupation sind seine Darstellungen Bosnien-Herzegowinas mitunter eine
Echokammer des habsburgischen mainstream-Diskurses über die historische
Identität des Territoriums, wie ihn z. B. das repräsentative Kronzprinzenwerk
verkörperte, an dem er ja auch mitgearbeitet hatte. Die Bilder der Muslime, wie
man sie in seinen Texten und bildlichen Darstellungen finden kann, gehören
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jedenfalls zu den profundesten, detailliertesten und empathischsten Porträts


der Bevölkerung, die man im gesamten Korpus tschechischer Schriften zu Bos-
nien-Herzegowina finden kann.
Unsere zweite Fallstudie ist František Valoušek (1879–1961): Geboren ein Jahr
nach der Okkupation im Umland der mährischen Hauptstadt Brünn (Brno), ver-
sah er als Gendarm seinen Dienst in Ostbosnien während der letzten sechzehn
Jahre der habsburgischen Herrschaft. Es war ein entlegener und relativ unter-
entwickelter Landesteil, wo Valoušek vor allem als Kommandant verschiedener
Polizeistationen an der gebirgigen Grenze zu Serbien, dem Osmanischen Reich
(Sandschak von Novi Pazar) und Montenegro diente: unter anderem in Kame-
nica, Mioče und Metaljka; zur Zeit des Zusammenbruchs der Doppelmonarchie
1918 war er Polizeichef der Stadt Goražde. In diesen entlegenen ländlichen Re-
gionen fand er viel weniger Gelegenheit, den technologischen und kulturellen
Fortschritt zu beobachten, den man typischerweise mit der k.u.k. mission civili-
satrice verbindet. So bieten aus Valoušeks Perspektive sogar die kleinen Bezirks-
hauptstädte Ostbosniens wie Višegrad, Foča und Goražde eine bessere Lebens-
qualität gegenüber den isolierten Orten, in denen er seine meiste Dienstzeit
verbrachte: In seinen späteren Lebensjahren verfasste der gründliche Gendarm
nämlich detaillierte Memoiren über sein Leben speziell in Bosnien-Herzegowi-
na (3.600 Seiten von insgesamt 9.000, geschrieben 1933 und 1946–1949). Eine
Blütenlese aus dem Manuskript erschien zunächst auf Tschechisch (1998) und
später in einer bosnischen Übersetzung (2015).61 Bedauerlicherweise ist das Ori-

60 Vgl. ibid., p. 217.


61 Vgl. Valoušek, František: Vzpomínky na Bosnu. Brünn: Albert 1998; Ders.: Sjećanja na
Bosnu. Sarajevo: Bosanska riječ 2015.

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300 František Šístek

ginalmanuskript, das noch immer im Familienbesitz ist, seit damals nicht mehr
für Forscher einsehbar.62
Anders als die meisten tschechischen Autoren, die über Bosnien-Herzego-
wina schrieben, war Valoušek kein slawophiler Intellektueller. Seine Narra-
tion hält sich an die Fakten und ist frei von nationalistischer ebenso wie von
poetischer Exaltation, aber reich an Details und voll von Beobachtungen, Ge-
schichten und Anekdoten. Jahrelang verbrachte Valoušek einen Großteil seiner
Dienstzeit bei jedem Wetter im Freien und unterhielt für seine Berufsausübung
gute Alltagskontakte sowohl mit den Serben als auch den örtlichen Muslimen.
Obwohl er letztere auch „Türken“ nennt, wie es damals üblich war, unterschei-
det er sie doch von den „echten“, „asiatischen“ Türken, deren Sprache er vom
Imam Nurudin Hajdarbašić in Čelebići lernte, um mit den osmanischen Militärs
auf der anderen Seite der Grenze kommunizieren zu können. Während er aber
die bosnischen Muslime meist mit Sympathie darstellt – und wiederholt wie
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die meisten tschechischen Autoren der Zeit ihre „slawische Identität“ heraus-
streicht –, porträtiert er die „asiatischen“, Türkisch sprechenden Soldaten, die
ihren Dienst an der Peripherie des Osmanischen Reichs verrichteten, als grau-
sam, wild und habgierig. Dies beeinflusst freilich nicht seine prinzipiell positive
Einstellung dem Islam gegenüber, etwa wenn er den Propheten Mohammed
einen „für seine Zeit sehr weisen, vernünftigen, praktisch denkenden und klu-
gen Mann“ nennt.63 Trotz seines Lobs für die Lehren des Koran blieb Valoušek
aber zutiefst kritisch, wenn es um die Ungleichheit muslimischer Frauen im
bosnisch-herzegowinischen Alltag geht:
Es hat mich immer gestört, dass, wann immer ich im Dienst einen Türken traf und
er auf einem Pferd ritt, seine Ehefrau, auch wenn er ganz jung war, zu Fuß hinterher
hoppelte. Die Türken nehmen keine Rücksicht auf ihre Frauen, sie behandeln sie wie
Sklaven und missbrauchen sie. Auch die Orthodoxen sind nicht sehr galant zu ihren
Frauen, die alles, auch die schwerste Arbeit, mit ihnen gemeinsam machen müssen.
Trotzdem, wenn ein Orthodoxer irgendwo hinmusste und nur ein Pferd hatte, war es
immer die Frau, die ritt, und der Mann ging hintendrein.64

Wenn er hier ähnlich Erfahrungen wiedergibt, wie man sie auch in den Briefen,
Artikeln und Memoiren jener tschechischen Ärztinnen finden kann, die in Bos-
nien-Herzegowina vornehmlich Muslimas behandelten,65 so schließt Valoušek,

62 Vgl. Ljuca, Adin: František Valoušek – sudionik i svjedok zbivanja u istočnoj Bosni u
vrijeme aneksione krize. In: Šehić et al. 2011, pp. 349–355, hier p. 350f.
63 Valoušek 1998, p. 13.
64 Ibid., p. 85.
65 Vgl. Nečas, Ctibor: Mezi muslimkami: Působení úředních lékařek v Bosně a Hercegovině
v letech 1892 – 1918. Brünn: Masarykova univerzita 1992.

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Der slawische Halbmond301

dass diese die meisten ihrer Erwachsenenjahre in den Häusern ihrer Familie
eingekerkert, d. h. in finsteren Räumen ohne viel Sonnenlicht leben mussten,
geknechtet erst von ihren Eltern und dann von ihren Ehemännern: „Bevor sie
zwanzig werden, schauen sie gut aus, ja sind sogar schön, aber dann altern sie
sehr schnell. Im Alter von 30 bis 40 sehen sie bereits wie alte Damen aus. Sie
sterben relativ früh. Viele Eltern verheiraten sie schon, wenn sie zwölf sind.“66
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die vergleichsweise konservativere
Haltung muslimischer Männer gegenüber den Frauen ihrer Familie, die sie dem
Blick fremder Besucher entziehen und zu Hause einsperren, zu einem Standard-
motiv in Reiseberichten – was die Muslime von den anderen ethno-religiösen
Gemeinschaften Bosnien-Herzegowinas unterschied, mit denen sie sonst viel
von ihrem Lebensstil, ihren Bräuchen und Werten teilten. So riet etwa Ferdi-
nand Velc (1864–1920), der Autor des ersten tschechischen Reiseführers für Bos-
nien-Herzegowina, den Touristen, „die alten lokalen Bräuche zu respektieren
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und sich des Spotts zu enthalten".67 Beim Betreten eines „türkischen“ Hauses
solle man erst an die Tür klopfen, warten, bis das männliche Familienoberhaupt
öffne, ihm den Grund des Besuchs erklären und den Frauen genug Zeit geben,
sich zu verstecken.68 Bei František Valoušek hingegen werden die bosnisch-her-
zegowinischen Muslimas nicht nur als passive Opfer religiöser Unterdrückung
und patriarchalischer Mentalität dargestellt, sondern auch als intelligente Men-
schen, die sich sehr wohl ihrer Situation bewusst sind, sich nach Veränderung
sehnen und manchmal sogar aktiv für mehr Gleichheit kämpfen. Dies wird an
Valoušeks Erinnerung am Fall einer Frau ersichtlich, die ihren tyrannischen
Ehemann und dessen neue Lieblingsfrau im Schlaf tötet und dann etliche Meilen
im Tiefschnee wandert, um sich in der nächsten Polizeistation zu stellen und ein
Geständnis abzulegen.69 Trotz der grausigen Details sympathisiert der tschechi-
sche Gendarm in seinen Memorien offen mit dieser Frau, die ihr Schicksal in die
eigenen Hände genommen hatte.
Valoušeks Wahrnehmungen aus dem muslimischen Alltag im rauen östlichen
Grenzland Bosniens ist relativ frei vom üblichen Exotismus, poetischer Über-
treibung und den orientalistischen Assoziationen, denen man oft in den Texte
von Autoren begegnet, die sich auf die größeren, modernen Städte mit ihrem
attraktiven osmanischen Architekturerbe konzentrieren. Ein eindrucksvolles
Beispiel dieser anderen Perspektivik ist die Art und Weise, wie Valoušek über
Tod und Begräbnisrituale schreibt: Wird die muslimische Sepulkralkultur in den
Reiseberichten von Ludvík Kuba ebenso wie bei anderen Autoren üblicherweise

66 Valoušek 1998, p. 210.


67 Velc, Ferdinand: Průvodce Bosnou a Hercegovinou. Prag: Klub českých turistů 1907, p. 2.
68 Ibid.
69 Valoušek 1998, p. 83f.

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302 František Šístek

als würdige rites de passage beschrieben, sind vom Standpunkt des Gendarmen
indes die in Ostbosnien praktizierten Beerdigungen eher problematisch als ro-
mantisch. Gemäß den traditionellen Bräuchen wären nämlich die muslimischen
Gräber im Vergleich zu den christlichen einfach nicht tief genug. Deshalb sei es
auf dem Land, wie sich Valoušek in seinen Memoiren erinnert, ein Leichtes für
Füchse und andere wilde Tiere, die frischen Leichen wieder auszugraben. Es sei
ein schrecklicher Anblick und auch ein unangenehmes Erlebnis für die Nase,
wenn man auf einem muslimischen Landfriedhof auf halb verweste, halb aufge-
fressene Leichname stoße, die aus dem Erdreich ragen. Nicht zuletzt bedeutetet
aber die Fortführung dieser traditionellen Praktiken auch zusätzliche Arbeit
für den überbeanspruchten Polizisten, der jedes Mal dafür sorgen musste, dass
sich die Dorfbewohner doch dieses delikaten Hygieneproblems annahmen.70
Valoušek blieb empfänglich für die kleinen Unterschiede zwischen Musli-
men und Christen im täglichen Leben, wenn auch immer von der Warte eines
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Gendarmen: Morde und andere Kapitalverbrechen würden „in Bosnien täglich


vorfallen“, schreibt Valoušek. Und: „Die örtliche Bevölkerung ist leicht erreg-
bar, furchtlos und zumeist analphabetisch. Besonders unter den Türken ist
die Blutrache, die auf dem Prinzip ‘Auge um Auge’ beruht, weit verbreitet.“71
Muslimische Männer seien, motiviert von ihrem erhöhten Ehrgefühl, eher be-
reit, Verbrechen zu begehen, besonders wenn es um das heikle Thema der Ab-
schirmung ihrer Frauen gehe. Hier erscheinen die Muslime Ostbosniens extrem
konservativ. So führte etwa Eifersucht, erregt durch die Tatsache, dass ein ört-
licher k. u. k. Beamter während der Volkszählung 1904 zufällig einen Blick auf
eine unverschleierte Frau erhascht hatte, zu dessen sofortiger Ermordung durch
den Ehemann.72 Andere Männer indes zeigten eine liberalere Gesinnung, und
während der folgenden Jahre hatte Valoušek wiederholt die Gelegenheit, sich
mit muslimischen Frauen zu unterhalten. Im Haus seiner Freunde waren sie
nicht einmal während seiner Besuche verschleiert. Trotzdem hielten sich die
k. u. k. Gendarmen in Anbetracht der Wesensart der Ortsbevölkerung an die
Gepflogenheit, niemals allein, sondern immer zu zweit auf Streife zu gehen: „In
Bosnien hat ein einsamer Gendarm immer große Gefahren zu vergewärtigen.
Die Einheimischen sind leicht erregbar, rachsüchtig und immer kampfbereit.“73
Nichtsdestoweniger bleibt Valoušeks Bosnienbild im Großen und Ganzen ver-
ständnisvoll und positiv, und in vielen Passagen zeigt er die Ähnlichkeiten der
gesamten Bevölkerung in ihrem Gebaren auf, um dann zu schließen:

70 Ibid., p. 30.
71 Ibid., p. 32.
72 Ibid., p. 33.
73 Ibid.

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Der slawische Halbmond303

Ganz Bosnien und seine Menschen stellen ein großes Mysterium dar. Es gibt wahr-
scheinlich kein anderes Volk in Europa, das so primitiv und mit so wenig Ansprüchen
gelebt hat, und trotzdem sind die Menschen in Bosnien glücklich, zufrieden, frohge-
mut, gesund und schaffen es, ein hohes Alter zu erreichen.74

Valoušeks Memorien stellen jedenfalls ein einzigartiges Textzeugnis dar, das


auffallend wenig von der tschechischen Slawophilie jener Zeit, aber auch von
Romantik und Orientalismus beeinflusst ist. Seine farbenfrohe, manchmal
schroffe, dann wieder höchst verständnisvolle Darstellung der bosnischen Mus-
lime bzw. der Gesamtbevölkerung entzieht sich grob vereinfachenden Katego-
rien. Seine Bosnienbilder sind aber auch deshalb etwas Besonderes, weil er in
einem Landesteil seinen Dienst versah, der nur selten von seinen Landsleuten
besucht wurde. Wir können davon ausgehen, dass auch andere Tschechen, die
in Bosnien-Herzegowina unter habsburgischer Herrschaft lebten, auf der Basis
ihrer Erfahrungen ähnliche Einstellungen hatten – allein, von ihnen sind nicht
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wie im Fall des braven Gendarmen Valoušek schriftliche Zeugnisse erhalten.

Schluss
Die tschechischen Darstellungen der Muslime Bosnien-Herzegowinas sind in
den vier Jahrzehnten habsburgischer Herrschaft ziemlich reichhaltig und di-
vers. In der jüngsten Forschungsliteratur wird allgemein angenommen, dass
die Formation und Transformation dieser Bilder die generelle Intensivierung
der Kontakte, die schrittweise Verbesserung der gegenseitigen und das wach-
sende Vertrauen zwischen Tschechen und den bosnisch-herzegowinischen Mus-
limen widerspiegle. Aus der dieser Perspektive betrachtet, hätte es die öster-
reichisch-ungarische Okkupation der Gebiete auf dem Westbalkan den beiden
slawischen Völkern, die vorher kaum Kontakte und Wissen voneinander gehabt
hatten, ermöglicht, miteinander bekannt zu werden. Nachdem sie sich plötzlich
nach 1878 mehr oder weniger im selben Staat wiedergefunden hätten, so geht
die Geschichte, hätten beide Seiten ihre gegenseitigen Vorurteile aufgegeben. In
Bezug auf die wechselseitige Wahrnehmung seien die „Türken“ und „Schwaben“
der ersten Zeit durch die geteilte Erfahrung, unter ein und demselben impe-
rialen ‘Dach’ zu leben, diskursiv in „slawische Brüder“ verwandelt worden.75

74 Ibid, p. 41.
75 Vgl. Ljuca 2006 u. Hladký 2010.- Auch Edin Hajdarpašićs Konzept des „(br)other“ – eine
ambigue Figur, die weder ein Feind noch ein Verbündeter ist, aber potenziell beides wer-
den kann – das primär in Zusammenhang mit kroatischen und serbischen Diskurse über
die bosnisch-herzegowinischen Muslime entwickelt wurde, verdient hier wegen seiner
Ähnlichkeit mit den tschechischen Darstellungen erwähnt zu werden; vgl. Hajdarpašić,

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304 František Šístek

Diese Hypothese kann sicher auf die Tschechen angewandt werden, die mehr
oder weniger permanent in Bosnien-Herzegowina lebten. Allerdings hatten
auch viele Tschechen, die über jene Muslime schrieben, keinerlei persönlichen
Erfahrungen mit ihnen, die aus einem tatsächlichen Zusammenleben stammten.
Stattdessen scheint es, als ob die realen Kontakte zwischen Tschechen und den
örtlichen Muslimen bis zum Ersten Weltkrieg ziemlich limitiert gewesen wären.
Das simple historische Faktum, neben einander im selben Staat zu leben und
ähnliche Erfahrungen gemacht zu machen, genügt nicht, um die Transforma-
tion des Diskurses von einer vorherrschend negativen hin zu einer weitgehend
neutralen oder sogar positiven Position zu erklären.
Bei näherem Hinsehen ist es nicht immer möglich, geradewegs von einer
‘Evolution’ des ursprünglichen Bildes eines bedrohlichen, kulturell wie religiös
nicht-europäischen Anderen hin zu einem „slawischen Bruder“ und potenziel-
len Verbündeten im gemeinsamen Kampf aller slawischen Völker gegen die
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Fremdherrschaft zu sprechen. Die ‘alten’ Stereotypen verschwanden nie völlig


und tauchten zur Jahrhundertwende wieder auf.76 Wenn wir aber aus größe-
rem Abstand das greater picture zu rekonstruieren trachten, ist es nichtsdesto-
trotz möglich, einen generellen Trend hin zu einer positiven Darstellung und
Bildes vom Balkan-Muslim in tschechischen Texten zwischen den 1870er Jahren
und 1918 zu beobachten. Abgesehen von direkten Kontakten wurde diese Trans-
formation des Diskurses vor allem von der Dynamik der tschechischen Politik
sowie des Kultur- und Soziallebens im Beobachtungszeitraum motiviert; und zu
einem Teil war hier sicher auch der Wunsch der Vater des Gedankens.
Es ist nämlich offensichtlich, dass die Bedeutung religiöser Identitäten und
der Rolle der Religion im Alltagsleben in der tschechischen Gesellschaft seit
den späten 1870er Jahren generell im Abnehmen begriffen war. Auf der ande-
ren Seite war die Wichtigkeit nationaler Identifikationen in den Ländern der
böhmischen Krone stetig im Steigen begriffen. Die simultanen Prozesse der
Säkularisierung, der zunehmenden Nationalisierung und facettenreichen Mo-
dernisierung der tschechischen Gesellschaft hatten profunde Auswirkungen auf
die Neubestimmung und Neuverhandlung des Stellenwerts der tschechischen
Nation innerhalb der Habsburger Monarchie und weltweit. Das ist wahrschein-
lich der wichtigste Grund, der die Transformation der Darstellung des Balkans,
der Südslawen wie auch speziell der bosnisch-herzegowinischen Muslime er-
möglichte. Ihr Bild wurde in jener Ära auch gleichsam säkularisiert und ethni-
siert, wobei ihre slawische Identität unterstrichen wurde.

Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840–1914.
Ithaca, London: Cornell Univ. Press 2015, p. 16f.
76 Vgl. Ljuca 2006, p. 134.

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Der slawische Halbmond305

Die tschechische/n Haltung(en) den Muslimen Bosnien-Herzegowinas ge-


genüber stellen eine spezifische Variante in der Diversifikation von Einstellun-
gen dem muslimischen Anderen (den „Türken“ im alten Sinne) gegenüber dar.
Auch die Beobachtung von Andre Gingrich,77 wonach zwischen ‘guten’ und
‘schlechten’ Orientalen unterschieden werde, kann für unseren Fall nützlich
sein. Während das Bild des ‘echten’, „asiatischen“ oder „anatolischen“ Türken
in den letzten vier Jahrzehnten der Habsburger Monarchie weitgehend nega-
tiv blieb,78 wurden die Muslime Bosnien-Herzegowinas in den Rang ‘guter’
Orientalen erhoben. Aus der Perspektive von tschechischen Autoren, die selbst
in einem zunehmend hitzig nationalisierten Milieu des deutsch-tschechischen
Antagonismus lebten, wurde die Tatsache, dass ‘unsere’ Muslime doch auch
Slawen wären, mehr hervorgehoben als jene, dass die Tschechen und Bosnier/
Herzegowiner aller Konfessionen vom Schemen des selben Kaisers heimgesucht
wurden und unter den selben Gesetzen des selben Staates lebten. Das lebendige
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Interesse an anderen Slawen, inklusive der Muslime Bosnien-Herzegowinas,


war also verbunden mit der Suche nach potenziellen politischen, kulturellen
und ‘rassisch’ Verbündeten innerhalb und außerhalb der Habsburger Monar-
chie.
(Aus dem Englischen von Clemens Ruthner)

77 Gingrich 1996, p. 117.


78 Vgl. dazu auch Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Uses of Orientalism in the Late
19th-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson, James et al. (Hg.): Deploying
Orientalism in Culture and History. From Germany to Central and Eastern Europe. Ro-
chester: Camden House 2013, pp. 148–165.

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Nach Said307

Nach Said

Der k. u. k. Orientalismus, seine Akteure, Praktiken und


Diskurse

Johannes Feichtinger (Wien)

Das Titelbild der Bombe vom 28. Juli 1878 (s. o., p. 123, Abb. 1) visualisiert die Ok-
kupation Bosnien-Herzegowinas 1878, wie sie die satirische Wiener Wochen-
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zeitschrift sich und ihrer Leserschaft vorstellte: Den Weg des habsburgischen
Truppenkommandanten, Feldzeugmeister Joseph Philippovich von Philipps-
berg, und seiner Armee säumen drei halbnackte Frauengestalten, von denen
eine noch den Gesichtsschleier trägt. Die Karikatur1 zeigt, wie die besetzten
Gebiete von Anfang an orientalisiert wurden, damit sie nach dem Ende des
Feldzugs ‘zivilisiert’ werden konnten; es geht hier also auch um eine geistige
bzw. epistemologische Inbesitznahme.
Hundert Jahre nach der Okkupation Bosnien-Herzegowinas konzipierte der
vergleichende Literaturwissenschaftler Edward Said in seinem bahnbrechenden
Buch2 Orientalism als wirklichkeitskonstituierenden Diskurs der repräsentier-
ten Differenz. Der vorliegende Beitrag versucht, den dort nicht behandelten
Orientalismus in der späten Habsburgermonarchie zu charakterisieren; dabei
wird gezeigt, wie durch die Analyse sozialer Praktiken, die für Said noch keine
Rolle spielen, das Phänomen in neuem Licht erscheint. Der Blick richtet sich
auf drei Aspekte: (1) auf den Orientalismus, der im Zusammenhang mit der
Okkupation des alten osmanischen Vilâyet Bosna – der Provinzen Bosnien und
Herzegowina – durch habsburgische Truppen entwickelt wurde; (2) auf Wand-
lungsprozesse in den Orientkonstruktionen, die eine spezifische Form sichtbar
werden lassen, die als k.u.k. Orientalismus bezeichnet wird; (3) auf einen Orien-

1 Zeichner war der bekannte Budapester bzw. Wiener Karikaturist László von Frecskay
(1844–1916).
2 Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London, Henley: Rout-
ledge & Kegan Pau 1978 (Penguin 1995, 2003). Im vorl. Beitrag wird nach der deutschen
Ausgabe zitiert: Orientalismus. Übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt/M.: S. Fischer
2009.

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308 Johannes Feichtinger

talismusbegriff, der ausgehend von neueren Entwicklungen in der Wissensge-


schichte für ein erweitertes Verständnis des Phänomens Orientalismus („Said
and the Unsaid“) wirbt.3
Jürgen Osterhammel zufolge lässt sich der „orientalistische Diskurs“, von
dem Edward Said spricht, als ein „interessengestütztes Konstrukt definieren,
das in monologisierender Form die essentielle Andersartigkeit, oft sogar die
Minderwertigkeit des Fremdkulturellen bekräftigt und daraus häufig politische
Herrschaftsansprüche, mindestens aber die kulturelle Hegemonie des Westens
ableitet.4 Die zentrale Regel sei dabei „die Differenzkonstruktion“, die auf der
Vorstellung eines „zeitlosen ‚Wesens‘ des Orients“ beruhte,5 die von Said nicht
weiter kritisch reflektiert wird. Vielmehr betonte Said noch die Vorstellung von
dem Wesensunterschied und zeigte, „dass die europäische Kultur erstarkte und
zu sich fand, indem sie sich vom Orient als einer Art Behelfs- und sogar Schat-
tenidentität abgrenzte.“6 Dabei wurde im Zeitalter des Kolonialismus Europa
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die aktive, Asien die passive Rolle zugeschrieben. Das wesentliche Merkmal,
das Said zufolge den Orientalismus kennzeichnet, ist das konstruierte Bild vom
Orientalen, der nicht fähig ist, sich zu vertreten; denn der Orient würde, so Said,
gewiss selbst für sich sprechen […], wenn er nur könnte; da er dies aber nicht könne,
müssten westliche Sachwalter ihm diese Aufgabe wohl oder übel abnehmen. Wie
Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte feststellte, ,Sie können sich nicht
vertreten, sie müssen vertreten werden.‘7

Said beschränkte sich in Orientalism weitgehend auf die Dekonstruktion west-


licher Orientrepräsentationen. Wer sich aber wozu in der konkreten Praxis
ihren/seinen Orient konstruierte und wie dieser von wem vertreten wurde, war

3 Varisco, Daniel Martin: Reading Orientalism. Said and the Unsaid. Seattle, London: Univ.
of Washington Press 2007 (= Publications on the Near East); vgl. Schnepel, Burkhard
/ Brands, Gunnar / Schönig, Hanne (Hg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus. Ge-
schichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld: transcript 2011 (= Postcolonial Studies
6).
4 Osterhammel, Jürgen: Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens
bei Tzvetan Todorov und Edward Said. In: Ders.: Geschichtswissenschaft jenseits des
Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen:
V & R 2001 (= Krit. Studien zur Geschichtswissenschaft 147), pp. 240–265, hier p. 255.
5 Osterhammel, Jürgen: Edward W. Said und die „Orientalismus“-Debatte. Ein Rückblick.
In: asien afrika lateinamerika 25 (1997), pp. 597–607, hier p. 599f. Saids „orientalistischer
Diskurs“, so stellt Osterhammel fest, sei „unhistorisch und statisch“, „innere Veränderun-
gen dieses Diskurses werden wenig beachtet“ (ibid., 602).
6 Said 2009, p. 12; vgl. Heiss, Johann: Orientalismus. In: Lexikon der Globalisierung. Hg. v.
Fernand Kreff, Eva-Maria Knoll und Andre Gingrich. Bielefeld: transcript 2011, pp. 319–
323, hier p. 319.
7 Said 2009, p. 32.

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Nach Said309

für Said nicht der Rede wert, so dass ihm Kritiker wie der Sozialanthropologe
Michael Richardson schon 1990 „manifesten Idealismus“ vorwarfen. Stein des
Anstoßes war zum einen die Ausblendung der Funktionen, die Orientreprä-
sentationen, „a specific ideological construction“, erfüllten: „Such an ideology
has determined nothing, however, it is just a dangerous illusion to believe that
it ever has done. […] We need to understand how such representations have
functioned in practice“.8 Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass Said
durch seinen Orientalismusbegriff, der auf einer „ontologischen und epistemo-
logischen Unterscheidung“9 zwischen Okzident und Orient beruht, zwangs-
läufig den Blick auf Reziprozitäten verstellte. Michael Richardson bezichtigte
Said, jene Differenz, die er dekonstruiert, alternativlos zu behaupten: „Said may
be accused of engaging in a power relationship similar to the one he accuses the
orientalists of constructing. In denying the possibility of reciprocity between
subject and object, Said effectively makes it impossible for the object to develop
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alternative models.“10
Die Gefahr dieses Orientbegriffs liegt auf der Hand: Werden kulturelle Diffe-
renzen behauptet statt analysiert und dabei die Untersuchungen auf asymmet-
rische Repräsentationen beschränkt, Praktiken der Differenzkonstruktion aber
ausgeblendet, so droht das Konzept des Orientalismus wieder jener Polarisie-
rung Vorschub zu leisten, die Said vor 40 Jahren durch eine Diskursanalyse in
kritisch-polemischer Absicht zu dekonstruieren versuchte.
Edward Said hat in Orientalism freilich die orientalistischen Diskurse in
Deutschland und in Österreich-Ungarn ausgespart. Diese Lücke wurde seither
durch Arbeiten zum deutschen Orientalismus,11 zur Habsburgermonarchie12

8 Richardson, Michael: Enough Said. In: Macfie, Alexander Lyon (Hg.): Orientalism. A Rea-
der. New York: NYU Press 2000, pp. 208–216, hier p. 216 [Original in: Anthropology Today
6 (1990), pp. 16–19].
9 Said 2009, p. 11.
10 Richardson 2000, p. 208.
11 Marchand, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and
Scholarship (Publications of the German Historical Institute). Cambridge: Cambridge
Univ. Press 2009; Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-mor-
genländischer Imagination im 19. Jh. Berlin, New York: De Gruyter 2005 (= Quellen und
Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 35); Salaymeh, Lena / Schwartz, Yossef
/ Shabar, Galili (Hg.): Der Orient. Imaginationen in deutscher Sprache (= Tel Aviver Jahr-
buch für Deutsche Geschichte [Göttingen] 45 [2017]); Hodkinson, James / Walker, John /
Mazumdar, Shaswati / Feichtinger, Johannes (Hg.): Deploying Orientalism in Culture and
History. From Germany to Central and Eastern Europe. Rochester (NY): Camden House
2013.
12 Heiss, Johann / Feichtinger, Johannes: Distant Neighbors. Uses of Orientalism in the Late
Nineteenth-Century Austro-Hungarian Empire. In: Hodkinson 2013, pp. 148–165; Dies.:
Orient als Metapher. Wie Österreichs Osten vor, während und nach dem Ersten Welt-
krieg vorgestellt wurde. In: Haider-Wilson, Barbara / Graf, Maximilian (Hg.): Orient &

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310 Johannes Feichtinger

und durch neue länderübergreifende Konzepte wie dem „Grenzorientalismus“


gefüllt.13 Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein Versuch, den Orien-
talismus in der späten Habsburgermonarchie als k. u. k. Orientalismus neu zu
konzeptualisieren, zu beschreiben und zu analysieren.14

Habsburgs Orientalismus und Bosnien-Herzegowina


Im Anschluss an die Okkupation der benachbarten osmanischen Provinzen Bos-
nien und Herzegowina 1878 durch die österreichisch-ungarischen Landstreit-
kräfte entwickelten Politiker, Wissenschaftler und Publizisten einen orientalisti-
schen Diskurs, der in vielem Saids Orientalismus ähnlich war, sich in manchem
aber auch von ihm unterschied. Auch der habsburgische Diskurs beruhte auf
Differenzkonstruktionen, die Bosnien als (nahen) Orient erscheinen ließen. Hier
wurden zwei Grenzen gezogen: zum einen zwischen drückender osmanischer
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Fremdherrschaft und slawischer Ursprünglichkeit, zum anderen zwischen bos-


nischer Rückständigkeit und österreichisch-ungarischer Fortschrittlichkeit. Zu
zeigen sein wird, dass diese doppelte Differenzkonstruktion Habsburg zur im-
perialen Zivilisierungsmission ermächtigte, die ihm den Weg zur Kolonialmacht
bereitete.15 Im Folgenden wird also der konkrete Zusammenhang zwischen
Orientalismus, Kolonialismus und imperialer Selbstermächtigung erläutert.

Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten. Wien: Neue Welt
2016, pp. 53–77; Telesko, Werner: Colonialism without Colonies. The Civilizing Missions
in the Habsburg Empire. In: Falser, Michael (Hg.): Cultural Heritage as Civilizing Mis-
sion. From Decay to Recovery. New York, Wien: Springer 2015, pp. 35–48; Lemon, Robert:
Imperial Messages. Orientalism as Self-Critique in the Habsburg Fin de Siècle. Rochester
(NY): Camden House 2011 (= Studies in German literature, linguistics, and culture).
13 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World of Public and Popular
Culture in Central Europe. In: Baskar, Bojan / Brumen, Borut (Hg.): Mediterranean Eth-
nological Summer School, Piran/Pirano, Slovenia 1996. Ljubljana: Inštitut za multikult-
urne raziskave 1998 (= MESp. vol. II), pp. 99–127; Ders.: Grenzmythen des Orientalismus.
Die islamische Welt in Öffentlichkeit und Volkskultur Mitteleuropas. In: Mayr-Oehring,
Erika / Doppler, Elke (Hg.): Orientalische Reise. Malerei und Exotik im späten 19. Jh.
[Ausstellugskatalog]. Wien: WienMuseum 2003, pp. 110–129; Ders.: The Nearby Fron-
tier. Structural Analyses of Myths of Orientalism. In: Diogenes 60 (2015), nr. 2, pp. 60–66;
Ders.: Orientalismus. In: Ders. / Uhl, Heidemarie (Hg.): Habsburg neu denken. Vielfalt
und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte. Wien, Köln,
Weimar: Böhlau 2016, pp. 156–162; Fragner, Bert G.: Wir im Orient – der Orient in uns.
In: Haider-Wilson & Graf 2016, pp. 37–52.
14 Vgl. auch Feichtinger, Johannes: Komplexer k. u. k. Orientalismus. Akteure, Institutionen,
Diskurse im 19. und 20. Jh. in Österreich. In: Born, Robert / Lemmen, Sarah (Hg.): Orien-
talismen in Mitteleuropa. Diskurse, Akteure und Disziplinen vom 19. Jahrhundert bis
zum Zweiten Weltkrieg. Bielefeld: transcript 2014, pp. 31–63.
15 Schon unter Zeitgenossen war in Bezug auf Bosnien-Herzegowina von einer Kolonie
Österreich-Ungarns die Rede. Auch Historiker/innen bewerten das Verhältnis als ein

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Nach Said311

Als der Berliner Kongress 1878 Österreich-Ungarn das Mandat erteilte, die os-
manischen Provinzen Bosnien und Herzegowina zu besetzen bzw. zu verwalten,
und die habsburgische Armee im benachbarten Vilajet Bosna einmarschierte, er-
öffnete sich für die Habsburgermonarchie, die zuvor aus Italien (1859) und dem
Deutschen Bund (1866) verdrängt worden war, ein neuer Schauplatz imperialer
Machtpolitik. Die Arbeiten von Robin Okey, Robert Donia und Bojan Aleksov
zeigen,16 dass Bosnien-Herzegowina von der habsburgischen Zivilverwaltung,
angeführt vom Finanzminister Benjamin von Kállay, als Missionsland aufge-
fasst wurde. Sie legen den Schluss nahe, dass mit der Okkupation zumindest
drei politisch-strategische Ziele verfolgt wurden, nämlich (1) die Stabilisierung
und gleichzeitige Erneuerung der lokalen Gesellschaft durch (2) die Verbrei-
tung westlicher Zivilisation und (3) die Verhinderung eines Aufkommens von
Sprachnationalismen.17 Zweifelsohne erlaubte das „koloniale Experiment“18
die Demonstration der Vorzüge des integrativen habsburgischen Staatsnationa-
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lismus und gleichzeitig die Neutralisierung proto-nationaler Vorstellungen.19


Dafür bedurfte es folgender Voraussetzung: „Bosnians were among the most
closely watched people on the face of the earth.“20
Die zivile Verwaltung des Vilajet Bosna übernahm 1882 der k. u. k. Finanzmi-
nister Benjamin von Kállay, der sein Amt bis 1903 im Sinne eines Kolonialherrn
auffasste. Politik sollte der Besatzungsmacht vorbehalten bleiben. Zugleich soll-
te der Bevölkerung durch ihre Klassifizierung nach konfessionellen Zugehörig-

koloniales, beurteilen aber die Form des Kolonialismus differenziert. Sie sprechen von
einer „proximate colony“ (Donia) oder einer „semi“- beziehungsweise „quasi“-colony
(Detrez) und bezeichnen das Mandatsgebiet als Objekt einer „colonial governmentality“
(Aleksov); vgl. Reichspost, 29.07.1908, p. 1; Aleksov, Bojan: Habsburg’s ,Colonial Experi-
ment‘. In: Brunnbauer, Ulf et al. (Hg.): Schnittstellen. Gesellschaft, Nation, Konflikt und
Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm Sundhausen zum 65. Geb. München:
Oldenbourg 2007, pp. 201–216; Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzego-
vina under Austro-Hungarian Rule. In: Kakanien revisited, www.kakanien-revisited.at/
beitr/fallstudie/ RDonia1.pdf (2007); Detrez, Raymond: Colonialism in the Balkans. His-
toric Realities and Contemporary Perceptions. Online: Kakanien revisited (2002); Kolm,
Evelyn: Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus. Frank-
furt/M. et al.: P. Lang 2001 (= EHS S III: 900), p. 235–253; Scheer, Tamara: A Micro-His-
torical Experience in the late Ottoman Balkans. The Case of Austria-Hungary in Sanjak
Novi-Pazar (1879–1908). In: Yavuz, M. Hakan / Blumi, Isa (Hg.): War and Nationalism.
The Balkan Wars, 1912–1913, and their Sociopolitical Implications. Salt Lake City: The
University of Utah Press 2013, pp. 197–229.
16 Donia 2015; Aleksov 2007; Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Ci-
vilizing Mission’ in Bosnia, 1878–1914. Oxford: Oxford Univ. Press 2007.
17 Vgl. Okey 2007, p. 28.
18 Aleksov 2007, pp. 205–211.
19 Vgl. Okey 2007, pp. 57 u. 253.
20 Donia 2007, p. 4.

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312 Johannes Feichtinger

keiten in Orthodoxe (rund 43 %), Katholiken (rund 18 %) und Muslime (rund


39 %) eine spezifisch bosniakisch-nationale Identität aufgeprägt werden, die
die Religionsgemeinschaften umfasste.21 Okey interpretiert Kállays Vorhaben
wie folgt: „His strategy was a logical extension of the colonializing approach:
by deeming Bosnians to be only Orthodox, Catholics and Muslims, and not
proto-nations, he assigned them to the sphere of tradition and arrogated the
modernizing, legitimizing role to the Habsburg state.“22 Tatsächlich hielt sich
der Sprachnationalismus in Grenzen, während der staatlich geförderte Nationa-
lismus auf die Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zum Habsburgerreich abziel-
te.23 Ebenso wurde der Islam bosnischer Prägung in den Jahren 1912 und 1915
vom Wiener Reichsrat und Budapester Reichstag in progressiven Islamgesetzen
als Konfession staatlich anerkannt.24
Der kolonialistische Zivilisierungsdiskurs, der über Bosnien geführt wurde,
zeigt verblüffende Analogien zu dem, was Edward Said ‘Orientalismus’ nennt.
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Im Jahr 2003 zog Said etwa in einem Artikel in der London Review of Books
dessen beiden Funktionen in Betracht: die Vorstellung einer „imperial divide“,
mit der die kolonialistische Strategie der Differenzkonstruktion verbunden war;
sowie die Anerkennung von „shared experiences“,25 durch die Said 25 Jahre
nach Veröffentlichung von Orientalism den civilizing subjects eine Stimme gab.
„Shared experiences“ sind aber auch ein Merkmal des habsburgischen Orienta-
lismus; hier ermächtigen sie zur Zivilisierungsmission. So argumentierten zeit-
genössische politische Kommentatoren, dass aufgrund geteilter Erfahrungen,
d. h. sprachlich-kultureller, konfessioneller und ideeller Ähnlichkeiten zwischen
Bosnien-Herzegowina und Österreich-Ungarn die klare Trennlinie („imperial
divide“) zwischen osmanischer Unzivilisiertheit und habsburgisch-zentraleuro-
päischer Zivilisation überwunden werden könne. Bosnien erschien den damali-

21 Dazu ausführlich Okey 2007, pp. VII–XII, 26–29, 251–258; Donia 2007, p. 3; Hajdarpasic,
Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political Imagination in the Balkans, 1840–1914.
Ithaca (NY): Cornell Univ. Press 2015, pp. 161–198; zur konfessionellen Gliederung der
Bevölkerung vgl. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungari-
schen Epoche (1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. Mün-
chen: Oldenbourg 1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93), p. 39.
22 Okey 2007, p. 253.
23 Vgl. Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums 1740–1918. München: C.H.
Beck 2017, p. 423f.
24 Vgl. Fillafer, Franz L.: Österreichislam. In: Feichtinger & Uhl 2016, pp. 163–170; Feichtin-
ger, Johannes / Heiss, Johann: Konjunkturen einer verflochtenen Geschichte. Islam und
Türken in Österreich. In: Shakir, Amena / Galib Stanfel, Gernot / Weinberger, Martin M.
(Hg.): Ostarrichislam. Fragmente achthundertjähriger gemeinsamer Geschichte. Wien:
Al Hamra 2012, pp. 68–76.
25 Said, Edward: Always on the Top. In: London Review of Books 25.6 (20. 03. 2003), http://
www.lrb.co.uk/v25/n06/edward-said/always-on-top.

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Nach Said313

gen Publizisten zwar als andersartig und rückständig, zugleich jedoch aufgrund
von „shared experiences“ als zivilisierungsfähig. Hier ließ sich von den Ähnlich-
keiten der Auftrag zur Zivilisierungsmission ableiten.
Geprägt wurde dieser Diskurs von dem einflussreichen katholisch-konserva-
tiven und slawophilen Wiener Politiker, Publizisten, Historiker und Präsidenten
der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale,
Joseph Alexander von Helfert (1820–1910). In seinem Buch Bosnisches (1879)
heißt es: „Es waren blühende Länder, im Fortschritt begriffen wie irgend ein
anderes in jenem Jahrhundert, ehe sie von der Eroberung halbwilder Asiaten
überfluthet worden“ und „unter die Herrschaft des Halbmondes kamen“.26 Al-
lerdings hätten die Osmanen in Bosnien-Herzegowina „durch die ganze Zeit
der Türkenherrschaft“ „niemals Wurzel geschlagen“, sodass die Slawen ihre
„unverdorbene Ursprünglichkeit“ „selbständig unabhängig und unvermischt
von fremdartigen Elementen zu erhalten gewusst“ hätten.27 Helfert gab darin
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vor, zwischen zwei unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – „National-Tür-


ken“28 und autochthonen Slawen, dem „Volksstamm“ der „Serbo-Kroaten“29
– unterscheiden zu können; die „nationale Mischung“ war ihm zufolge „eine
verschwindend kleine“.30 Helfert akzentuierte diese Trennung, indem er in den
„nicht-islamistischen“ Bevölkerungsschichten „Türkenfurcht“ sowie einen „tief
gehenden Türkenhaß“ feststellte,31 die er darauf zurückführte, dass die Osma-
nen Bosnien-Herzegowina über die Jahrhunderte hinweg mit „Miswirthschaft“,
„lüderlichem Schlendrian“ und „muslimischer Tyrannei“ überzogen hätten.32
Die „Türken-Herrschaft“ sei, so meinte er, sogar „bei dem muhamedanisirten
Südslaven trotz der Gemeinschaft des Cultus nie beliebt“ gewesen, und der „Os-
manli“ sei dort „von jeher als ein fremdes Element angesehen“ worden.33 Hin-
zuzufügen bleibt, dass Helferts Darstellung der Verhältnisse in Bosnien und
der Herzegowina umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass er freimütig
zugab: „Ich war nicht dort.“34
Der springende Punkt war für Helfert, dass auch „der muslimische Bosnier
und Hercegove eines Stammes mit dem katholischen und dem orthodoxen“
war; denn er sprach „eine und dieselbe Sprache“ und teilte „einen großen Theil

26 Helfert, Frhr. [Joseph] von: Bosnisches. Wien: Manz 1879, p. 293.


27 Ibid., pp. 201 u. 258.
28 Ibid., pp. 240 u. 265.
29 Ibid., p. 240.
30 Ibid.
31 Ibid., p. 193.
32 Ibid., pp. 194, 273 u. 293.
33 Ibid., p. 258.
34 Ibid., p. 4.

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314 Johannes Feichtinger

seines Ideenkreises“ mit jenen.35 Seine Sprache, „obwohl etwas mit türkischen
Ausdrücken untermischt“, bewertete Helfert als „eine der wohllautendsten der
slavischen Race“.36 Helfert bezeichnete auch „das Land als ein durchaus Slawi-
sches“, als ein „einem und demselben Slawenstamme, dem serbisch-kroatischen
angehöriges“.37 Alles befände sich „da in einer Art Urzustand“, der hinreichend
Anlass gebe zu einer vorsichtigen, „in nichts aufdringlichen“ Zivilisierung.38
Das durch „bisherige Miswirtschaft“ erzeugte Chaos müsse wieder in Ordnung
gebracht werden: „Der Oesterreicher hat hier das Werk des Römers wieder auf-
zunehmen“, schrieb Helfert, und er müsse „wirthschaftlich, verkehrlich und ge-
sellschaftlich“ „einer neuen schöpferischen und gefälligeren Ordnung der Dinge
eine Stätte bereiten“.39
Diese Argumentation erlaubte Helfert nicht nur jene klare Trennlinie zwi-
schen dem zivilisierten Habsburg und dem nicht-zivilisierten Bosnien zu zie-
hen, die Said zufolge Voraussetzung für den Kolonialismus ist, sondern auch
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den guten, weil zivilisierungsfähigen, slawischen Muslim zu erfinden. Helferts


orientalistischer Diskurs beruhte auf einer doppelten Differenzkonstruktion:
zwischen dem grundverschiedenen Orient – der Türkei – und einem slawischen
Orient sowie zwischen diesem und Europa, dem Abendland. Diese doppelte
Grenzziehung schuf Zwischenräume – halb Orient, halb Okzident. Auf diese
Zonen des Übergangs erstreckten sich jene Zivilisierungsmissionen des späten
19. Jahrhunderts, die wie in Bosnien-Herzegowina mit kolonialen Handlungen
oder wie in der Bukowina oder in Galizien mit kolonialen Diskursen verknüpft
waren.40 Schriftsteller sprachen von „Halb-Asien“,41 Politiker und Publizis-
ten von „Übergangsstufen“42 oder „Uebergangsgebilden von bunter orienta-

35 Ibid. p. 259.
36 Ibid., pp. 259 u. 16.
37 Ibid., p. 240.
38 Ibid., pp. 17 u. 285.
39 Ibid., pp. 273 u. 21.
40 Vgl. Feichtinger, Johannes: Modernisierung, Zivilisierung, Kolonisierung als Argument.
Konkurrierende Selbstermächtigungsdiskurse in der späten Habsburgermonarchie. In:
Dejung, Christof / Lengwiler, Martin (Hg.): Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf
die europäische Geschichte (1800–1930) . Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016 (= Periphe-
rien. Neue Beiträge zur Europäischen Geschichte 1), pp. 147–181.
41 Franzos, Karl Emil: Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa. Stuttgart: Bonz
& Comp. 1888; vgl. Corbea-Hoisie, Andrei: Halb-Asien. In: Feichtinger & Uhl 2016, pp.
73–81.
42 Kállay, Benjamin von: Ungarn an den Grenzen des Orients und des Occidents. In: Unga-
rische Revue [Budapest] Juni 1883, p. 11.

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Nach Said315

lisch-occidentalischer Färbung“43; der habsburgische Zivilverwalter Kállay


sprach von einem „europäischen Orient“.44
Benjamin von Kállay war nicht nur Zivilverwalter von Bosnien-Herzegowi-
na, sondern auch der am längsten dienende k. u. k. Finanzminister und Verfas-
ser der Geschichte der Serben (1878). In seiner Budapester Akademierede 1883
stellte Kállay Ungarn, sein Herkunftsland, als ein Land vor, das berufen war,
den Zivilisierungsauftrag im Okkupationsgebiet zu erfüllen und die „Kultur-
grenze“ vorzuschieben. Da Ungarn zwischen „zwischen Asien und Europa“,
„an den Grenzen des Orients und Okzidents“, „zwischen Orient und Occident
getheilt“ lag, aber „in ununterbrochener und unmittelbarer Berührung mit der
Zivilisation des Westens“ gestanden habe,45 schien es ihm besonders befähigt,
beide – West und Ost – zu verstehen und von beiden verstanden zu werden. So
stellte Kállay sich und Ungarn – im Sinne von Saids Orientalismus – als jenen
Stellvertreter vor, der für diejenigen sprach, die nicht sprechen konnten. Von
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dieser Machtposition leitete er den Auftrag zur Zivilisierung Bosniens und der
Herzegowina ab:
Nicht ewig kann der Orient in starrer Abgeschlossenheit verharren. […] Voranzu-
schreiten in diesem großen geistigen Kampfe, den Ausgleich der tausendjährigen
Gegensätze zweier Welten zu versuchen, ist eine schwere, aber schöne und dankbare
Aufgabe. […] Und unser ist, wenn wir es wollen, die Führerrolle in der Lösung dieser
Aufgabe.46

Benjamin von Kállay war einer der führenden k. u. k. Zivilisierungsmissiona-


re, die das Ziel der Herstellung „wahrer Kulturzustände“ im Orient verfolg-
ten.47 Diese waren mit verschiedenen Visionen verknüpft, abhängig davon,
wer sprach und auf welchen Orient sie gerichtet waren.
Was den europäischen Orient, d. h. Bosnien und Herzegowina, betraf, verfolg-
ten konservative slawophile Akteure mit der Zivilisierungsmission das Ziel der
„Reoccupation von altersher uns zugehöriger Landschaften“.48 Dieses Ziel war
mit der Annexion der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina 1908
erreicht. Liberale Akteure verbanden mit der Zivilisierungsmission das Ziel der

43 Scala, Rudolf von: Über die wichtigsten Beziehungen des Orients zum Occidente in Mit-
telalter und Neuzeit, Vortrag gehalten im Orientalischen Museum am 26. Jänner 1887.
Wien: Verlag des Orientalischen Museums. Reisser & Werthner 1887, p. 5.
44 Kállay 1883, p. 3.
45 Ibid., p. 3f.
46 Ibid., p. 52f.
47 Habsburg, Rudolf von: Politische Denkschrift 1886. Skizzen aus der Österreichischen
Politik der letzten Jahre. In: Ders.: „Majestät, ich warne Sie …“. Geheime und private
Schriften. Hg. von Brigitte Hamann. München: Piper 21998, pp. 143–177, hier p. 159.
48 Helfert 1879, p. 172.

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316 Johannes Feichtinger

Sicherung der geopolitischen „Suprematie“ im europäischen Orient,49 das mit


der Verdrängung Russlands verknüpft war. Kronprinz Rudolf formulierte dies
in einem für den Kaiser bestimmten Politischen Bericht über die Orientreise 1884
klar und deutlich: „Wir werden Herren sein des europäischen Orients!“50 Und:
„Rußland kann nur Asien in den europäischen Orient tragen, denn es ist ja
selbst noch nicht kultiviert; wir aber arbeiten unter den Gesetzen einer hohen
kulturgeschichtlichen Mission, im Namen des europäischen Fortschritts.“51 Der
Kronprinz stellte Österreich als europäischen „Kulturstaat“ vor, dessen „wich-
tige“ und „eigentliche Aufgabe“ er darin sah, am Balkan „eine große zivilisato-
rische Rolle“52 zu übernehmen, nämlich „den Balkanvölkern ein Stück öster-
reichischer Ordnung, europäischer Kultur und vor allem moderner Toleranz zu
zeigen“ und „Träger zu sein der abendländischen Kultur nach dem Orient“.53
Schließlich, so sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, erzeugte Helferts
orientalistischer Diskurs der doppelten Differenz, nämlich zwischen der grund-
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verschiedenen Türkei und dem slawischen Orient sowie zwischen diesem und
Europa, noch einen äußeren, abgespaltenen nicht-europäischen Orient, der aus
seiner Sicht keinesfalls zivilisierungsfähig war. Damit schuf er sich in Wien
viele Feinde. Denn viele entdeckten gerade im Osmanischen Reich, wo sich so
vieles noch – wie es damals hieß – in „verwahrlostem Zustand“ befand,54 ein
Hoffnungsgebiet für den Handel, das durch Zivilisierungsmissionen erschlossen
werden musste. Als Drehscheibe wurde 1874 in Wien das Orientalische Museum
gegründet und die Oesterreichische Monatsschrift für den Orient veröffentlicht
(sie erschien bis 1918).55 Arthur von Scala, der Museumsdirektor, verlieh dem
Zivilisierungsauftrag in der ersten Nummer der Zeitschrift beredt Ausdruck:
„Oesterreich’s Mission als Träger europäischer Cultur und Sitte nach dem be-
nachbarten Osten schwebt uns vor Augen.“56 In Helferts Augen verkannten
diese „Turkophilen“ allerdings den wahren Charakter der Türken, nämlich ihr

49 Habsburg 1886, p. 159.


50 Kronprinz Rudolf: Politischer Bericht über die Orientreise 1884. In: Habsburg 1998,
p. 119–134, hier p. 134.
51 Kronprinz Rudolf: Polit. Denkschrift 1886. Skizzen aus der Österreichischen Politik der
letzten Jahre. In: Habsburg 1998, pp. 143–177, hier p. 160.
52 Kronprinz Rudolf: Politischer Bericht über die Orientreise 1884. In: Habsburg 1998,
p. 133.
53 Kronprinz Rudolf: Polit. Denkschrift 1886. In: Habsburg 1998, pp. 153 u. 160.
54 Oesterreichische Monatsschrift für den Orient 1 (15. Jänner 1875), p. 3f.
55 Vgl. Wieninger, Johannes: Das Orientalische Museum in Wien, 1874–1906. In: Austriaca
74 (2013) [Themenheft: Vienne – porta Orientis], pp. 143–158; Heiss, Johann / Feichtin-
ger, Johannes: Orient als Metapher. Wie Österreichs Osten vor, während und nach dem
Ersten Weltkrieg vorgestellt wurde. In: Haider-Wilson & Graf 2016, p. 56.
56 Ibid., p. 2.

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Nach Said317

„von dem europäischen so grundverschiedene[s] asiatische[s] Wesen“, das nur


„Wortbruch, Treulosigkeit und Verletzung der Verträge“ kannte.57
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass im Österreich des ausgehenden
19. Jahrhunderts ein orientalistischer Diskurs gepflegt wurde, der im Sinne von
Edward Saids Orientalismus funktionierte, aber auch Unterschiede aufwies. Das
späte Habsburgerreich war keine Kolonialmacht. Um eine solche zu werden,
d. h. Bosnien und Herzegowina zumindest vorübergehend wie eine Kolonie zu
führen, war dessen Orientalisierung unabdingbar. Die völlige diskursive Ab-
spaltung dieser osmanischen Provinzen hätte Habsburg zwar in den Status
einer Kolonialmacht erhoben, doch wäre sie der von Anfang an erwogenen
Annexion nicht dienlich gewesen. Tunlicher schien es Helfert daher, Bosnien
und Herzegowina als einen zivilisierungsfähigen Zwischenraum – halb Orient,
halb Okzident – zu konstruieren. Durch die Zivilisierungsmission ermächtigte
sich das habsburgische Imperium selbst zur vorübergehenden Kolonialmacht:
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„Taming Balkan Nationalism“, wie es Robin Okey nannte, war für konservati-
ve und liberale Akteure die Voraussetzung, sich als imperialer Machtfaktor zu
behaupten und einer künftigen Annexion den Weg zu bereiten. Im Rückblick
auf die Geschichte Habsburg-Zentraleuropas zeigt sich auch noch eine andere
Form des Orientalismus, der noch nicht gebührend Rechnung getragen wurde:
Sie wird im Folgenden skizziert.

K.u.k. Orientalismus
Die „Schlüsselprozedur des orientalistischen Monologs“ Said’scher Spielart
sieht Osterhammel in der „Konstruktion von Differenzen“,58 zwischen Okzi-
dent und Orient, uns und den anderen. Osterhammel zufolge sind es „binäre
Oppositionen“, „Gegensatzpaare“, die den „orientalistischen Diskurs“, wie ihn
Said analysierte, kennzeichnen.59 Zu fragen bleibt, ob diese methodologische
Voraussetzung hilfreich ist, das Phänomen des Orientalismus vollständig zu
erfassen. Said hatte einen mächtigen, auf die klassischen Kolonialmächte sich
beziehenden Diskurs im Auge, den er auf der Basis literarischer Zeugnisse ana-
lysierte. Noch nicht im Auge hatte er als Literaturwissenschaftler orientalische
Praktiken.

57 Helfert, Joseph Alexander von: Die weltgeschichtliche Bedeutung des Wiener Sieges
von 1683. Vortrag gehalten am 2. September 1883 in der Festversammlung des katho-
lisch-politischen Casinos der inneren Stadt Wien: F. Eipeldauer & Comp. 1883, p. 28–31;
vgl. Healy, Maureen: 1883 Vienna in the Turkish Mirror. In: Austrian History Yearbook 40
(2009), pp. 101–113, hier p. 111ff.
58 Osterhammel 2001, p. 253.
59 Ibid., p. 252.

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318 Johannes Feichtinger

Wenn aber heute die Konstruktion oder Dekonstruktion von kulturellen Dif-
ferenzen untersucht wird, wird das Hauptaugenmerk verstärkt auf Praktiken
gelegt. Wenn ich also von k. u. k. Orientalismus spreche, meine ich die Summe,
die sich aus diversen orientalistischen Praktiken in der späten Habsburgermo-
narchie und jenen Differenzkonstruktionen ergibt, die dem Said’schen Orien-
talismus analog erscheinen. Anzuführen ist (wie gezeigt) der zum Zweck der
Kolonisierung und Annexion geführte zivilisatorische Missionsdiskurs, der auf
der Ziehung kultureller Grenzen beruht. Bemerkenswert ist es aber, dass andere
habsburgische Akteure zur gleichen Zeit kulturelle Differenzen zu verringern
versuchten und die Verflechtungen zwischen Europa und der islamischen Welt
neu in den Blick rückten. Sie zeigten, dass die Trennung der Welt in Ost und
West Konjunkturen und Rezessionen unterlag. Auch sie verfolgten einen poli-
tischen Zweck, sei es die Delegitimation des liberalen Imperialismus oder – wie
zu zeigen sein wird – die Europäisierung des Orients.
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Zum Auftakt des 7. internationalen Orientalisten-Kongress, der 1886 in Wien


stattfand, musste der Minister für Kultus und Unterricht Paul Freiherr Gautsch
von Frankenthurn (1851–1918) kleinlaut den durch die „Colonisation“ bewirkten
Vorsprung anderer Staaten in der „Erforschung des Orients“ und des „Studiums
desselben“ zugeben und seine „aufrichtige Bewunderung“ für diese „unerreich-
ten Vorbilder“ anerkennen.60 Österreich, so der Minister, habe in der Vergan-
genheit „in erster Linie dem praktisch-politischen Bedürfnisse Genüge zu thun“
gehabt.61 Diese Anforderung hatte in der Vermittlung der Gegenwartssprachen
Arabisch, Persisch und Türkisch, der Anbahnung von Handelsbeziehungen und
einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit dem Islam bestanden.
Das osmanische Reich war der unmittelbare Nachbar, oft Feind, oft Freund. So
hatte die k. k. Akademie der morgenländischen Sprachen, die Maria Theresia auf
Vortrag des Ministers Wenzel Anton Fürst von Kaunitz 1754 in Wien errichtet
hatte, das Ziel verfolgt, „fähige Jünglinge in den nötigen Sprachen des Orients
wie des Okzidents“ auszubilden „und außerdem noch in allen Wissenschaften,
die zur Bewahrung der kommerziellen und politischen Interessen Österreichs
im Oriente“ von Bedeutung waren.62 Der Wiener Orientalist Joseph von Ham-

60 Anonymus: Siebenter internationaler Orientalisten=Congreß. In: Wiener Abendpost, 27.


09.1886, pp. 1–4, hier p. 1.
61 Ibid.
62 Babinger, Franz: Die türkischen Studien in Europa bis zum Auftreten Hammer-Purgs-
talls. In: Die Welt des Islams 7 (1919), nr. 3–4, pp. 103–129, hier p. 123. Dazu ausführlich
Petritsch, Ernst Dieter: Erziehung in guten Sitten, Andacht und Gehorsam. Die 1754 ge-
gründete Orientalische Akademie in Wien. In: Kurz, Marlene et al. (Hg.): Das Osmani-
sche Reich und die Habsburgmonarchie. Akten des int. Kongresses zum 150-jährigen Be-
stehen des Instituts für Österr. Geschichtsforschung, Wien, 22.-25. Sept. 2004, München:
Oldenbourg 2005 (=Mittelungen des Inst. für Österr. Geschichtsforschung, Erg.bd. 48) pp.

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Nach Said319

mer-Purgstall (1774–1856) hatte 1851 in seiner Akademierede zur „Vielsprachig-


keit“ auch die Errichtung von Universitätslehrstühlen für arabische, persische
und türkische Volkssprache gefordert, von denen er sich die Förderung des
„Handelsverkehrs im Morgenlande“ erhoffte.63 Mit dem politisch-praktischen
Auftrag der Vermittlung der drei orientalischen Gegenwartssprachen wurde die
1873 errichtete k. k. öffentliche Lehranstalt für orientalische Sprachen betraut.
In seiner Begrüßungsrede konnte Gautsch auch auf die wissenschaftliche
Erforschung des Islam verweisen, der Hammer-Purgstall ein dreiviertel Jahr-
hundert davor wesentliche Impulse gegeben hatte und die in der zweiten Hälf-
te des 19. Jahrhundert regelrecht aufblühte: „Ja gerade von Österreich aus ist
in jüngerer Zeit eine Richtung eingeschlagen worden, die durch das Erfassen
der herrschenden Ideen des Islam zu einem klaren Gesammtüberblicke seiner
Kulturerscheinungen zu gelangen bestrebt ist.“64 Gautsch spielte dabei auf den
Tagungspräsidenten, den österreichischen Diplomaten und Orientalisten Alfred
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Freiherr von Kremer (1828–1889), an, einem der größten Islamwissenschaftler


seiner Zeit, der als Diplomat in Kairo und Beirut die erste umfassende Geschichte
der herrschenden Ideen des Islams (1868, 1906 Calcutta, in englischer Überset-
zung) vorgelegt hatte. Kremer nahm den internationalen Orientalisten-Kongress
zum Anlass, um im Festsaal der Universität Wien in Anwesenheit der interna-
tionalen Autoritäten der Orientalistik deren Leitbild zu erneuern. Ausgehend
von „Thatsachen, […] die ebensowenig bekannt als bezeichnend sind für die
Bedeutung von Wien und Oesterreich und Ungarn als Vermittler zwischen dem
Morgenlande und Europa“,65 rekonstruierte er Europas lange Verflechtungs-
geschichte mit dem Orient als der Grundlage von „Civilisation“, die, so Kremer,
„nicht die That eines einzigen, wenn auch noch so begabten Volkes“ sei. „Sie
ist das Ergebniß des friedlichen Austausches der Ideen, der geistigen und auch
der materiellen Güter“.66 Tatsächlich stellte er einen „Austausch geistiger und
materieller Güter im größten Maßstabe“ fest, den er auch zu seiner Zeit noch
im Gange sah. Was sich in den letzten zwei Jahrhunderten im Verhältnis zum
Orient aber gezeigt habe, sei westliche Arroganz:

491–501; Ders.: Die Anfänge der Orientalischen Akademie. In: Rathkolb, Oliver (Hg.): 250
Jahre. Von der Orientalischen zur Diplomatischen Akademie in Wien. Innsbruck et al.:
Studienverlag 2004, pp. 47–64.
63 Hammer-Purgstall, Joseph Frhr. von: Vortrag über die Vielsprachigkeit, gehalten an der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien am 29. Mai 1852. In: Die Feierliche
Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien: k. k. Hof- und Staatsdru-
ckerei 1852, p. 99.
64 Anonymus, Siebenter internationaler Orientalisten=Congreß. In: Wiener Abendpost,
27.09.1886, pp. 1–4, hier p. 1.
65 Ibid., p. 3.
66 Ibid., p. 2.

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320 Johannes Feichtinger

Der Orient ward zuerst durch die Ueberheblichkeit der europäischen Waffen unter
den Einfluß der westlichen Kultur gebracht, große Länderstrecken geriethen unter
unmittelbare europäische Herrschaft. […] Überall dringen die Sprachen und Sitten des
Westens vor, bedrohen sogar zum Theile die einheimische althergebrachte Cultur und
drängen sich ihr oft mit ganz ungerechtfertigter Ueberhebung auf.67

Auftrag der Orientalisten sei es daher, dem Imperialismus entgegenzuwirken


und den Wechselwirkungen zwischen Orient und Okzident nachzugehen: „Nun
aber, gerade in dieser Richtung und mit Absicht auf dieses Ziel haben unsere
Studien und Arbeiten eine Bedeutung, deren ganze Tragweite und letzte höchs-
te Frucht sich vorläufig kaum noch ahnen läßt“.68
Neben Kremer erkannten auch noch zahlreiche andere österreichische Ori-
entforscher die Bedeutung des Austausches mit der islamischen Welt, so u. a.
der genannte Joseph von Hammer-Purgstall, Aloys Sprenger und Alois Musil.
Hammer nahm 1807 eine poetische Übersetzung des Koran in Angriff, dessen
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literarische Qualitäten davor nicht erkannt bzw. geschätzt worden waren.69 Zwi-
schen 1809 und 1818 veröffentlichte er die Zeitschrift Fundgruben des Orients (6
Bände), in der er Wissenschaftler aus Ost und West zu Wort kommen ließ: „Was
dieser [Zeitschrift] aber vor allen andern bisher bestandenen Zeitschriften eine
unterscheidende Eigentümlichkeit erteilen soll, ist die vielfältige unmittelbare
Berührung mit dem Orient, welche uns durch die Korrespondenz unserer dor-
tigen Freunde verschafft wird.“70 In den 1921 verfassten Bemerkungen erinnerte
Hugo von Hofmannsthal seine Leser, dass von Wien aus, „von Hammer-Purgs-
tall und seinen ‚Fundgruben des Orients‘ […] der Anstoß aus[ging], der Goethes
Orientalismus entfachte“,71 und – so sei hinzugefügt – diesem den Anstoß zum
West-östlichen Divan (1819) gab.
Hammer-Purgstalls Schüler Aloys Sprenger (1813–1893) erwarb sich im Auf-
trag der British East India Company außerordentliche Verdienste als Vorstand
des Delhi College, als er durch Übersetzung westlicher Lehrbücher und durch
die Veröffentlichung von Zeitschriften die Sprache Urdu zur Wissenschafts-

67 Ibid.
68 Ibid.
69 Vgl. Loop, Jan: Divine Poetry? Early Modern European Orientalists on the Beauty of the
Koran. In: Church History and Religious Culture 89 (2009), nr. 4, pp. 455–488.
70 Hammer(-Purgstall), Joseph: Mines de l’Orient, exploitées par une Société d’amateurs,
Vienne [mit den gleichrangigem arabischen und deutschen Titel Makhzan al-Kunuz
al-Mashriqiyya / Fundgruben des Orients]: Vienne: Antoine Schmid 1809, p. III.
71 Hofmannsthal, Hugo von: Bemerkungen. In: Ders.: Reden und Aufsätze II 1914–1924.
Frankfurt/M.: Fischer 1979, pp. 473–477, hier p. 474f.; Goethe, Johann Wolfgang von:
West-Östlicher Divan. Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Öst-
lichen Divans. In: Ders.: Ges. Werke. Hamburger Ausgabe, Bd 2. München: dtv 2000, pp.
126–268, hier p. 253f.

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Nach Said321

sprache Indiens aufwertete. Als Sammler von ca. 2000 indischen Handschrif-
ten, die er katalogisierte und nach Europa verfrachtete (Bibliotheca Orientalis
Sprengeriana), stellte er sich selbst als Vermittler dar, der durch seine private
Bibliothek islamischer Literatur Studierende dabei unterstützte, die „narrow
limits of European prejudices“ zu überschreiten und den Blick zu öffnen „to that
connection between the East and West, which is inevitable and is proceeding in
much more rapid strides than it is usually supposed.“72
Der Wiener Orientalist mährischer Herkunft Alois Musil (1868–1944), ein
Kusin des Autors Robert Musil, war als Priester und Forschungsreisender dem
Ursprung des Monotheismus auf der Spur und verbrachte die Zeit zwischen
1908 und 1915 als Co-Stammesführer der nordarabischen Rwala Beduinen.
Sheikh Musa al-Ruweili, wie er liebevoll von der lokalen Bevölkerung genannt
wurde, studierte den Gegenwartsislam der Beduinen und stellte dabei zahlreiche
Ähnlichkeiten zum Christentum fest, worauf er die Geschichte friedvoller Ko-
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existenz zurückführte.73
Obwohl reisende Orientalisten wie Musil um die Verbesserung des Verständ-
nisses des Islam in Europa bemüht waren, wurde die Welt des Islam auch in
Wien gleichsam zu einem Experimentierfeld für die Konstruktion von kulturel-
len Unterschieden. Diese Differenzkonstruktionen wurden aber gleichfalls in
Wien kritisch dekonstruiert. So stellte 1918 der Wiener Orientalist und Geograf
Hans von Mžik (1876–1961) die Frage: „Was ist Orient?“, um festzustellen: „ein
sehr schwankender Begriff – muß man zunächst antworten“.74 Das erstaunli-
che Ergebnis seiner Untersuchung, die er 60 Jahre vor Said durchgeführt hatte,
lautete, dass die Konstatierung eines „,Wesens‘ des Orients“, sei es „ethnisch“,
„rassisch“ oder „kulturell“, bloße „Konstruktionen, nicht Analysen“ wären.75 Im
Unterschied zu und 60 Jahre vor Said erkannte Mžik im Konzept Orient einen
jener „geschichtlichen Begriffe“, die „als Willensakte, bewußte oder unbewuß-
te, aufzufassen [wären], die ihrerseits wieder aus Absichten, Wünschen, Be-
fürchtungen usw.“ hervorgingen.76 Mžik zufolge lag „also in jedem historischen
Begriffe ein volitives oder – populär gesagt – ein Zweckmoment“, das er in
der Verwendung des Orientbegriffs „geradezu [als] ein programmatisches Mo-

72 Sprenger, Aloys: A Catalogue of the Bibliotheca Orientalis Sprengeriana. Gießen: W. Kel-


ler 1857, pp. IV u. VI.
73 Vgl. Kropáček, Luboš: Alois Musil on Islam. In: Archiv orientální 63 ( 1995), nr. 4, pp.
401–409.
74 Mžik, Hans von: Was ist Orient? Eine Untersuchung auf dem Gebiete der politischen
Geografie. In: Mitteilungen der k. k. Geografischen Gesellschaft in Wien 61 (1918), pp. 191–
208, hier p. 192; dazu ausführlich Heiss & Feichtinger 2016, pp. 54–56.
75 Mžik 1918, p. 201.
76 Ibid., p. 202f.

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322 Johannes Feichtinger

ment“ erkannte, geprägt durch den „Machtwillen des Subjekts“.77 Der Zweck des
Orientbegriffs war für Mžik ein „historisch-politischer“, „dessen Inhalt sich seit
dem Mittelalter in dem Gegensatze Islam – Christentum, Türkenreich – Europa
erschöpfte“.78
Mžiks Botschaft lautete, dass ein wesensverschiedener Orient dann konstru-
iert wurde, wenn diese Verschiedenheit eine politische Funktion erfüllte; wenn
nicht, war davon keine Rede. Der Orient war eine jener „Konstruktionen“, mit
denen seiner Ansicht nach der „feste Grund der Tatsachen verlassen und der
Boden des Dogmas oder emotioneller Betrachtungen“ betreten werde; für Mžik
brachte der Orientbegriff daher „kein Mehr an Erkenntnis“ ein.79
Zu dieser bemerkenswerten Erkenntnis kam Mžik, da sich das Forschungs-In-
stitut für Osten und Orient in Wien ab 1916 zur Aufgabe gemacht hatte, Europa
zu verschieben, nicht in den feindlichen Osten – Russland –, sondern in den
befreundeten Orient – das Osmanische Reich. Der neue Orientbegriff fasste
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insbesondere die Türkei als essenziellen Bestandteil Europas auf. Die Europäi-
sierung des befreundeten Orients setzte allerdings die Aufweichung zentraler
Unterscheidungskriterien wie der Religion voraus. In diesem Sinne betonte
der Wiener Orientalist Rudolf Geyer (1861–1929) in seinem Vortrag Die Zu-
kunftsfrage des Islam im Jahr 1916, dass „der gesamte Gedankeninhalt des Islam
keineswegs verschieden von jenem des Christentums“ sei.80 Den Islam cha-
rakterisierte er als die Form, „in welcher das Christentum in Gesamt-Arabien
Eingang gefunden hat.“81 In einer „Gesellschaftskarte des Orients von Erwin
Hanslik“, einem Wiener Anthropogeografen, „ausgeführt vom k. u. k. Militär-
geografischen Institute“, scheint ein „Europäisch-orientalisches Gesellschafts-
gebiet“ auf.82 Anno 1914 war die Türkei demnach ein Teil Europas – eine für
viele heute wieder undenkbare Vorstellung.
Im Zuge der geistigen Mobilmachung des Ersten Weltkriegs wurde der Orient
also von Wissenschaftlern neu konstruiert und geläufige kulturelle Unterschei-
dungskriterien eine Zeitlang weggeredet. Mžik mochte diese „Konstruktionen“
und Praktiken vor Augen haben, als er im Orientbegriff „ein Zweckmoment“ er-

77 Ibid., p. 203f.
78 Ibid., p. 199f.
79 Ibid., p. 208.
80 Geyer, Rudolf: Die Zukunftsfrage des Islam. 7. und 8. Vollsitzung am 24. und 31. Mai 1916.
In: Berichte des Forschungs-Institutes für Osten und Orient 1 (1917), p. 7–10, hier p. 8.
81 Ibid.
82 Als Heft 1 der von Erwin Hanslik und Edmund Küttler hg. Reihe „Schriften des Instituts“
erschien von Hanslik verfasst „Der nahe Orient, Indien und Ostasien. Kulturstudien mit
einer Kulturkarte des Orients“ Wien [1914] als „Sonderabdruck aus der Österreichischen
Monatsschrift für den Orient, Jahrgang 1914, Nr. 3–6“. Die „Kulturkarte“ trägt den Titel
„Gesellschaftskarte“.

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Nach Said323

kannte, dem zufolge sich die Orientrepräsentationen im habsburgischen Raum


zwischen 1914 und 1918 gravierend veränderten.

Für ein erweitertes Verständnis des Orientalismus


Der Orientalismus wurde von Said als diskursive Figur konzipiert. Dies ist,
wie Osterhammel schreibt, „den theoretischen Vorlieben und kulturkritischen
Stimmungslagen der siebziger Jahre“ verpflichtet,83 wenn Said das, was er im
Anschluss an Anouar Abdel-Malek Orientalismus nannte,84 in binären Op-
positionen beschrieb. Said berief sich auf Foucault, dessen Diskursbegriff er in
Orientalism anwandte.85 In Folie et déraison, seiner Geschichte des Wahns im
Vernunftzeitalter, schrieb Michel Foucault im Jahr 1961: „In der Universalität
der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient dar-
stellt.“86 Der Orient bleibe stets die Grenze, worin das Abendland sich gebildet
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habe, worin es aber auch eine Trennlinie gezogen habe. Der Orient sei für das
Abendland all das, was es selbst nicht sei, obwohl das Abendland im Orient
das suchen müsse, was seine ursprüngliche Wahrheit darstelle. Die Geschichte
dieser großen Trennung oder partage während der Entwicklung des Abendlan-
des müssten wir schreiben, so Foucault, und in ihrer Kontinuität und in ihrem
Wechsel verfolgen.87 Said beschränkte sich aber in Orientalism auf die De-
konstruktion diskursiver Repräsentationen des Orients, für deren Eingrenzung
auch er eine Trennlinie zwischen Ost und West zog. Wer sich wozu ihren/seinen
Orient konstruierte und zu welchem Zweck, war für Said kein Erkenntnisziel.
Die Trennlinie wurde vorausgesetzt, um den Gegenstand der Untersuchung ab-
zugrenzen, nämlich die westliche Repräsentation des Orientalen, der sich nicht
vertreten konnte und somit vertreten werden musste.
Im letzten halben Jahrhundert haben sich mit den kulturwissenschaftlichen
turns die Analyseperspektiven verschoben: Das Studium der Repräsentation
ist zwar noch hoch im Kurs, zunehmend wird aber Akteurinnen und Akteu-
ren, Praktiken, Artefakten und Austauschbeziehungen neue Aufmerksamkeit
geschenkt. In diesem Zusammenhang werden diskursive Repräsentationen
rückgebunden an die Erzeugungsverhältnisse und an Zweckgebundenheit und
Funktionalität. Machtrelationen werden als unumgängliche Voraussetzung be-

83 Osterhammel 2010, p. 252.


84 Abdel-Malek, Anouar: Orientalism in Crisis [EA 1963]. In: Macfie 2010, p. 47–56.
85 Said 1978, p. 11.
86 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter
der Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969 (= stw 37 ), p. 10 [bzw. Ders.: Folie et dérai-
son. Histoire de la folie à l'âge classique. Paris: Gallimard 1961, p. IV].
87 Vgl. ibid.

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324 Johannes Feichtinger

rücksichtigt. In der neuen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte lässt sich zu-


gleich eine perspektivische Verschiebung von der Repräsentation zur globalen
Interaktion feststellen. In diesem Bereich der Geschichtsschreibung haben sich
die dichotomischen Ontologien ‘West’ und ‘Ost’ als Analysekategorie mittler-
weile überlebt. Im neuesten Companion to the History of Science formuliert dies
Kapil Raj, einer der führenden Wissenschaftshistoriker der Gegenwart, wie
folgt:
Although most historians of science have yet to openly question this dichotomous
ontology […], social, economic, and cultural historians have in recent decades revi-
sited this all-to-often antagonistic vision of the world […]. Scholarly attention has
thus increasingly turned to global interconnections, intercultural encounter, and ne-
gotiation. […], new forms of relational history have emerged, that offer more organic
historiografical perspectives, such as history as ‘cross-roads’ (carrefour), connected
histories, histoire croisée, and circulation. […] These new approaches have striven to
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bring out the inextricably enmeshed nature of cultures across the world, the commo-
nalities on which intercultural contact is constructed and ways people or groups of
people cross cultural barriers.88

Auch in den Kulturwissenschaften richtet sich der Blick neuerdings verstärkt


auf verschränkte Wissenswelten (overlappings, entanglements, similarities), auf
go-betweens und Übersetzer, auf Rekonfigurationen (nicht-)wissenschaftlichen
Wissens sowie dessen Funktionen und Einsatz für Identitätsregulierung und
Normengenerierung. Der neue Akteurs- und Praktiken-basierte Zugang legt
zugleich jene Interaktionen zwischen verflochtenen Räumen – Austauschpro-
zesse – frei, die durch die Epistemologien des Kolonialismus, des Nationalismus,
des Kalten Krieges und der postkolonialen Welt aus dem Blick verloren wurden.
Mit dem Begriff des k. u. k. Orientalismus habe ich hier auf eine Praktik auf-
merksam gemacht, die Okzident und Orient in einem reziproken Handlungs-
zusammenhang begreift, Interaktionen neu ins Licht rückt und wechselseitige
Repräsentationen auf konkrete politische Zwecksetzungen überprüft. Wenn
diese epistemologische Neuperspektivierung ernst genommen wird, müssen
‘die Anderen’, wie sie genannt wurden, nicht mehr repräsentiert werden. Sie
können für sich selbst sprechen.

88 Kapil, Raj: Go-Betweens, Travelers and Cultural Translators. In: Lightman, Bernard (Hg.):
A Companion to the History of Science. Oxford 2016, pp. 39–57; vgl. Ders.: Beyond Post-
colonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science. In: Isis
104 (2013), pp. 337–347.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und
die Institutionalisierung der österreichischen
Volkskunde als Wissenschaft

Reinhard Johler (Tübingen)

In seinem am 21. März 1917 gegebenen „Jahresbericht für das Jahr [1916]“ muss-
te der langjährige Präsident der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, der Me-
diziner und Anthropologe Carl Toldt, vom Tod des alten Kaisers Franz Joseph,
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von den Friedensbemühungen des neuen Herrschers Karl, vor allem aber vom
Fortgang des Krieges und den damit verbundenen negativen Auswirkungen auf
die von ihm geleitete wissenschaftliche Gesellschaft berichten. Toldt kam dabei
wortgewaltig und vorwurfsvoll gleichermaßen auf die Kriegsziele der Entente
zu sprechen, die einen „ehrenvollen Frieden“ verhindern und mit ihrer Beto-
nung des „Nationalitätenprinzips“ die „dauernde Entkräftung Deutschlands“,
die „Zerstückelung der österreichisch-ungarischen Monarchie“ und die „Ver-
treibung der Osmanen aus Europa“ beabsichtigen würden.
Die „Vertreibung der Osmanen aus Europa“ – dies war gerade mit dem von
Toldt in seiner Rede angestrengten Blick auf die eigenen Verbündeten ein er-
staunliches Argument, das eine komplexe, im konkreten Fall wohl verbindend
gedachte, in historischer Perspektive aber doch auch trennende Geschichte in
Erinnerung rief. Es war dies die konflikthafte – und schließlich mit zum Krieg
führende – Geschichte zuerst der Besetzung, dann der Annexion von Bosni-
en-Herzegowina im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.
Mit dem Verweis auf Bosnien-Herzegowina meinte Toldt freilich nicht den
österreichisch-ungarischen Beitrag zur „Vertreibung der Osmanen aus Europa“,
sondern er zielte auf die dort von der Habsburgermonarchie seit Jahrzehnten
vorangetriebene „erfolgreiche Kulturarbeit“ ab und lieferte so in seiner Rede
eine wissenschaftlich legitimierte – sozusagen anti-nationale Begründung –
für den so herbei gesehnten Sieg und damit für den Fortbestand der multi-na-
tionalen Habsburgermonarchie.1 Diese „erfolgreiche Kulturarbeit“ wiederum,
so argumentierte Carl Toldt in seiner Jahresbilanz weiter, hinge eng mit den

1 Toldt, Karl: Jahresbericht für Jahr [1916]. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesell-
schaft in Wien XXXXVII (1917), pp. [16–22].

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326 Reinhard Johler

vielfältigen Aktivitäten der Anthropologischen Gesellschaft in Wien zusammen,


die dort seit der Okkupation 1878 durchgeführt und damit wesentlich zur wis-
senschaftlichen Erforschung und damit zur kulturellen Ausdeutung von Bos-
nien-Herzegowina in anthropologischer, prähistorischer und ethnografischer
Manier beigetragen hätten.
Und in der Tat: Die Okkupation und die 1908 folgende Annexion von Bosnien
und der Herzegowina hatten, wie wir aus den Untersuchungen von Moritz Csá-
ky2 wissen, die bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert in Österreich-Ungarn
gegebene, enorme soziale, kulturelle, religiöse und ethnische Pluralität noch
weiter gesteigert. Und sie hatten zudem nicht nur die Zusammensetzung der
slawischen Bevölkerung im Süden der Habsburgermonarchie erheblich ver-
schoben, sondern auch eine größere muslimische Bevölkerungsgruppe zum Teil
des gemeinsamen Staatswesens gemacht. Dies hat, folgt man etwa zahlreichen
Reiseberichten, die Erfahrung von Fremdheit und Differenz erhöht und nach
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kontinuierlicher wissenschaftlicher Erhebung, Sammlung, Sortierung und Ord-


nung, somit nach Vertrautmachung und Orientierung gerufen. Freilich war, wie
Pieter M. Judson argumentiert hat, die in der gesamten Monarchie beobachtete
und in Bosnien-Herzegowina noch gesteigert wahrgenommene Vielfalt vor al-
lem das Ergebnis von staatlich-bürokratischem Handeln einerseits und gleich-
zeitig Produkt des intellektuellen Schaffens der „Ideologen des Imperiums“ an-
dererseits. Zu diesen zählt Judson neben Künstlern und Schriftstellern vor allem
Ethnografen.3 Deren bald gehäufte Präsenz in Bosnien-Herzegowina kann so
mit einer Beobachtung erklärt werden, die der Wiener Kultur- und Sozialanth-
ropologe Andre Gingrich für die außereuropäische Völkerkunde festgehalten
hat: Die Vielfalt der Monarchie habe der „akademischen Welt“ ein „eigenständi-
ges Suchen“4 – eine anthropologische Zugangsweise – erlaubt und gefördert.
Man kann hinzufügen: Sie hat im ausgehenden 19. Jahrhundert gleichzeitig
ganz wesentlich zur Herausbildung und zur inhaltlichen Profilierung einer ös-
terreichischen Volkskunde beigetragen, die sich zunehmend als europäische

2 Csáky, Moritz: Die Vielfalt der Habsburgermonarchie und die nationale Frage. In: Alter-
matt, Urs (Hg.): Nation, Ethnizität und die nationale Frage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau
1996, pp. 44–64.
3 Judson, Pieter M.: Habsburg. Geschichte eines Imperiums. München: C.H. Beck 2017,
p. 349ff.
4 Gingrich, Andre: Kulturgeschichte, Wissenschaft und Orientalismus. Zur Diskussion
des „frontier orientalism“ in der Spätzeit der k. u. k. Monarchie. In: Feichtinger, Johannes
et al. (Hg.): Schauplatz Kultur – Zentraleuropa. Transdisziplinäre Annäherungen. Inns-
bruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2006, pp. 279–288.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 327

„Völkerkunde“ verstanden hat5 und damit eine eigenständige Subtradition6


innerhalb der deutschen, noch mehr aber der internationalen Fachentwicklung
ausgebildet hat.7
Diese österreichische Volkskunde ist im Zentrum der Habsburgermonarchie
in Wien etabliert worden, aber ihre Entstehung und ihre Ausrichtung hängen
eng mit der Okkupation und der Annexion von Bosnien und der Herzegowina
– und auch direkt mit den damit verbundenen Kriegen8 – zusammen: 1884 ist
von der Anthropologischen Gesellschaft in Wien die Ethnografische Commission
begründet worden, die neben der „allgemeinen Ethnologie“ und der „Ethno-
grafie Oesterreich-Ungarns“ auf die „Ethnografie der Balkanländer“ abzielte.
In deren Fortsetzung initiierte 1895/6 der Verein für österreichische Volkskunde
in Wien eine „Volkskunde des Occupationsgebietes“, die mit Beginn des Ersten
Weltkriegs schrittweise in eine „Volkskunde der besetzten Balkangebiete“ über-
führt worden ist.
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Österreichische Volkskunde verdankt daher – so die These dieses Aufsatzes


– ihre Etablierung als Wissenschaft der österreichisch-ungarischen „Kolonie“
Bosnien-Herzegowina. Bosnien-Herzegowina hat deswegen in vielerlei Hin-
sicht ihre Fachidentität geprägt: Ihre Gründungspersönlichkeiten (wie etwa Fer-
dinand Freiherr von Andrian-Werburg, Friedrich S. Krauss, Rudolf Meringer,
Arthur Haberlandt) waren in die militärische Eroberung, die Verwaltung bzw.
die wissenschaftliche Erforschung von Bosnien und der Herzegowina involviert.
Zentrale Studien und gewichtige Bücher des Faches haben daher Bosnien-Her-
zegowina in dieser Zeit zum Inhalt. Von dort stammen zudem unzählige Ob-
jekte, die im heutigen Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien bzw.

5 Vgl. dazu zusammenfassend Johler, Reinhard: Das Ethnische als Forschungskonzept. Die
österreichische Volkskunde im europäischen Vergleich. In: Beitl, Klaus / Bockhorn, Olaf
(Hg.): Ethnologia Europaea. Plenarvorträge. Wien: Verl. des Inst. für Volkskunde 1996,
pp. 69–101.
6 Stagl, Justin: Ethnologie und Vielvölkerstaat. In: Rupp-Eisenreich, Britta / Stagl, Justin
(Hg.): Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und ver-
wandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918. Wien: Böhlau 1994, pp. 22–27.
7 Dazu im Überblick Gingrich, Andre: The German Speaking Countries. In: Barth, Fredrik
/ Gingrich, Andre / Parkin, Robert / Silverman, Sydel: One Discipline, Four Ways. British,
German, French, and American Anthropology. Chicago, London: Univ. of Chicago Press
2005, pp. 62–153.
8 Dieser Beitrag geht zurück auf den Projektbereich E „Kriegserfahrungen in Humanwis-
senschaften“ des Tübinger SFB 473 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der
Neuzeit“ (2005–2008). Ich habe dort mehrere Projekte zu „Kriegserfahrung und Generie-
rung einer Wissenschaft (Volkskunde)“ geleitet. Das Projekt „Balkan-Expeditionen und
österreichische Volkskunde“ ist von Christian Marchetti bearbeitet und mit einer Publi-
kation abgeschlossen worden. Vgl. Marchetti, Christian: Balkanexpedition. Die Kriegs-
erfahrung der österreichischen Volkskunde – eine historisch-ethnografische Erkundung.
Tübingen: TVV 2013.

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328 Reinhard Johler

im MAK Wien (früher: k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie)


deponiert sind. Und es gibt zuletzt auch keinen Hinweis darauf, dass die damali-
gen österreichischen Volkskundler die Okkupation bzw. Annexion von Bosnien
und der Herzegowina kritisch gesehen oder gar abgelehnt hätten. Im Gegenteil:
Sie teilten mit großer Überzeugung die staatlich propagierte Okkupations- bzw.
Annexionsideologie und gingen in ihren Forschungen von der eigenen „wissen-
schaftlichen Kulturmission“ aus, die sie mit der „historischen Mission der Mo-
narchie“ im europäischen Südosten verbanden.9 Der langjährige Präsident des
Vereins für österreichische Volkskunde, Joseph Freiherr von Helfert, förderte etwa
Forschungen in Bosnien und der Herzegowina mit Nachdruck, sah er doch die
Okkupation als „ein Werk der Menschlichkeit, eine Aufgabe der Entwilderung
und Gesittung, die Oesterreich im Namen und Auftrage des gebildeten Europa
bei Besetzung der einem Systeme tyrannischer Willkür preisgegebenen Land-
striche übernommen [habe].“10
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Diese Wortwahl – wie überhaupt die Etablierung einer am Fremden interes-


sierten österreichischen Volkskunde – macht es auf den ersten Blick einfach,
der Leitidee des vorliegenden Sammelbands zu folgen und dabei jenes „Wissens-
regime“ zu rekonstruieren, das Bosnien-Herzegowina zur „k.u.k. Quasi-Kolonie“
gemacht hat. Mit Mitchell G. Ash und Jan Surman aber lohnt es sich, diesen
„colonialist discourse“ in einem von Nationalisierung des wissenschaftlichen
Wissens zwar angegriffenen, aber doch noch bestehenden „empire of science“11
etwas differenzierter zu sehen.12

K.u.k. koloniale Wissenschaften


Die 1878 erfolgte Okkupation hat in der Haupt- und Residenzstadt Wien zü-
gig zu einer intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bosnien-Herze-
gowina geführt und ab 1880 herum ein Netzwerk einander sich ergänzender,
aber auch um die etwa durch das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht

9 Ramhardter, Günther: Propaganda und Außenpolitik. In: Wandruschka, Adam / Urba-


nitsch, Peter (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VI.1: Die Habsburgermo-
narchie im System der internationalen Beziehungen. Wien: Verlag der Österr. Akademie
der Wissenschaften 1989, pp. 496–536.
10 Helfert, Joseph Alexander Freiherr von: Bosnisches. Wien: Manz 1879, p. 157.
11 Ash, Mitchell G. / Surman, Jan: The Nationalization of Scientific Knowledge in Nine-
teenth-Century Central Europe. An Introduction. In: Dies. (Hg.): The Nationalization of
Scientific Knowledge in the Habsburg Empire (1848–1918). Basingstoke et al.: Palgrave
Macmillan 2012, pp. 1–29.
12 So würde es sich lohnen, Galizien mit Bosnien zu vergleichen; siehe dazu Kaps, Klemens
/ Jan Surman: Postcolonial or Post-Colonial? Post(-)colonial Perspectives on Habsburg
Galicia. In: Historyka. Studia Metodologiczne XLII (2012), pp. 7–35.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 329

vergebenen Fördermittel miteinander konkurrierender Institutionen entstehen


lassen. Die Anthropologische Gesellschaft in Wien ist bereits genannt worden.
Von ihr sind ab 1880 zum Teil geförderte ethnografische (Felix von Luschan),
archäologische (Moritz Hoernes) und anthropologische Untersuchungen ausge-
gangen, über die in den Monatssitzungen regelmäßig berichtet worden ist.13 Von
großer Bedeutung waren zudem die ab 1884 vom Völkerkundler Franz Heger
geleitete Anthropologisch-ethnografische Abtheilung des k.k. Naturhistorisches
Museum sowie – auch in ethnografischer Hinsicht – die k.k. Geografische Ge-
sellschaft in Wien.14 1894/95 ist der von Michael Haberlandt und Wilhelm Hein
gegründete Verein für österreichische Volkskunde hinzugekommen. Und 1897 hat
der Slawist Vatroslav Jagić mit der von ihm begründeten Balkankommission die
Aktivitäten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften gebündelt und lang-
fristig gesichert.
Bedingt durch die gemeinsame, vom österreichisch-ungarischen Finanzmi-
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nisterium durchgeführte Verwaltung von Bosnien-Herzegowina ist in Budapest


eine Parallelstruktur zu den Wiener Initiativen und Gründungen entstanden.
So sind – was hier nur erwähnt werden kann – in den ab 1887 von der Gesell-
schaft für die Volkskunde Ungarns herausgegebenen Ethnologischen Mitteilungen
aus Ungarn regelmäßig Forschungsberichte zur Volkskunde Bosniens enthalten,
die von ungarischen Volkskundlern, aber auch von Friedrich S. Krauss oder
Ćiro Truhelka, dem Mitarbeiter des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums
stammen.15
Mit dem 1888 in Sarajevo eröffneten Landesmuseum (Zemaljski Musej Bosne
i Hercegovine) ist jene vom langjährigen Landesverwalter, dem gemeinsamen
Finanzminister Benjámin v. Kállay, initiierte und gegenüber den beiden Haupt-
städten nur wenig verzögert realisierte, wissenschaftliche Infrastruktur ange-
sprochen, die in Bosnien-Herzegowina dazu beitragen sollte, eine bosnische
Landesidentität (bošnjaštvo) auszubilden.16 Dieser Aufgabe folgte auch das 1904
vom Archäologen Carl Patsch – er war gleichfalls Mitarbeiter am Bosnisch-her-

13 Vgl. dazu Pusman, Karl: Die „Wissenschaften vom Menschen“ auf Wiener Boden (1870–
1959). Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die anthropolog. Disziplinen im
Fokus von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts- und Verdrängungspolitik. Wien,
Berlin: LIT Verlag 2008, p. 105ff.
14 Heger, Franz: Die Entwicklung der ethnografischen Forschung in den Jahren 1848–1899.
In: Mittheilungen der Kais. Königl. Geografischen Gesellschaft in Wien XLI (1898), pp. 71–
82.
15 Vgl. etwa Truhelka, Ćiro: Die Ethnografie auf der Millenniums-Ausstellung. I. Bosnische
Abteilung. In: Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn 5 (1896), pp. 49–53.
16 Brunnbauer, Ulf / Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Ditzingen: Reclam 2018,
p. 167.

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330 Reinhard Johler

cegovinischen Landesmuseum – begründeten Institut für Balkanforschung


(Bosanskohercegovački institut za istraživanje Balkana).17
Zwischen den Zentren Wien bzw. Budapest und der Peripherie in Sarajevo
stand Bosnien-Herzegowina zudem in Prag, Graz, Ljubljana und Zagreb (aber
oft in Konkurrenz natürlich auch in Belgrad und Moskau) im Mittelpunkt von
sprachwissenschaftlichen, archäologischen, historischen und ethnografischen
Forschungen von Universitätsinstituten und anderen akademischen Einrich-
tungen. Nimmt man die ausgesprochen wichtigen Naturwissenschaften noch
hinzu, dann war das bosnisch-herzegowinische Feld mit sammelnden und
forschenden Botanikern, Zoologen und Geologen, mit Geografen, Linguisten
und Prähistorikern, mit Anthropologen, Kunsthistorikern und Volkskundlern
ausgesprochen dicht bestückt – und von einer „Kolonialisierung der Wahr-
nehmung“18 geprägt. Zum überwiegenden Teil folgten die Forscher jedenfalls
mit ihren Untersuchungen den politischen Vorgaben des österreichisch-unga-
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rischen Modernisierungsprojektes in Bosnien-Herzegowina und trugen damit


ohne Zögern zur angestrebten ökonomischen und kulturellen Integration des
Okkupationsgebietes in die Gesamtmonarchie bei.19
Im Bemühen um die verordnete Herstellung einer bosnischen Landesidenti-
tät waren Historiker und Archäologen deutlich wichtiger und nützlicher als
Ethnografen. Trotzdem aber überrascht der hohe Stellenwert, der in Politik
und Gesellschaft der Ethnografie zugewiesen wurde, obwohl der Begriff – wie
wir noch sehen werden – uneinheitlich verstanden und mit „vaterländischer
Ethnologie“, „österreichischer Ethnologie“ oder auch „Volkskunde“ gleichgesetzt
worden ist. Seine aktuelle Popularität hing zunächst mit dem Kaiserhaus selbst
zusammen. Kronprinz Rudolf hatte nämlich in der 1887 erschienenen „Einlei-
tung“ des ersten Bandes des von ihm initiierten 24-bändigen, in Deutsch und
Ungarisch erscheinenden Sammelwerkes Die österreichisch-ungarische Monar-
chie in Wort und Bild die wissenschaftliche und auch staatspolitische Bedeutung
der Ethnografie betont, die in „objectiver Vergleichung“ und „ferne von unreifen
Theorien und von allen Parteileidenschaften“ ein „umfassendes Gesammtbild

17 Vgl. dazu ausführlich: Marchetti, Christian: „Frontier Ethnografy“. Zur colonial situation
der österreichischen Volkskunde auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg. In: Ruthner, Cle-
mens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegowina, and the
Western Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015, pp. 363–381.
18 Calic, Marie-Janine: Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. München 2016, p. 398.
19 Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München: C.H.Beck
2010, p. 398ff.; Suppan, Arnold: Zur Frage eines österreichisch-ungarischen Imperialis-
mus in Südosteuropa. Regierungspolitik und öffentliche Meinung um die Annexion Bos-
niens und der Herzegowina. In: Wandruschka, Adam et al. (Hg.): Die Donaumonarchie
und die südslawische Frage. Wien: Verlag der Österr. Akademie der Wissenschaften 1978,
pp. 103–129.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 331

unseres Vaterlandes und seiner Volksstämme“ zeichnen würde – und deswegen


als neue Wissenschaft besonders zu fördern sei:20 Dies umso mehr, als Ethno-
grafie es ermögliche, Völker „besser miteinander bekannt zu machen“ und so
– was gerade für Bosnien-Herzegowina besonders zentral war – zur Überwin-
dung nationaler und religiöser Differenzen beizutragen.21
Als mehr als ein Jahrzehnt nach dem Tod des Kronprinzen im Jahr 1901 der
Band Bosnien und Herzegowina22 als einer der letzten der Reihe veröffentlicht
worden ist, war die große, in Ethnografie gesetzte, völkerverbindende Hoffnung
schon deutlich abgekühlt. Diese ist aber 1910 vom Prager Völkerkundler Moriz
Winternitz – wohl nicht zufällig in seiner Rezension der Slavischen Volksfor-
schungen von Friedrich S. Krauss – noch einmal in Erinnerung gerufen worden:
Eines aber haben die volkskundlichen Forschungen in unserer nächsten Nachbarschaft
von denen unter fernen Naturvölkern sogar voraus. Sie haben auch eine praktische,
politische Bedeutung. Der Westen Europas, der so oft durch den ‚Wetterwinkel‘ im
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Balkan beunruhigt wird, vor allem Österreich, das berufen ist, die Südslawen kennen
und verstehen zu lernen. ‚Man höre den Guslaren und seine Lieder‘, sagt Krauss, dann
wird man den Südslawen verstehen. Ich möchte hinzufügen: Und wenn unsere Poli-
tiker die Südslawen verstünden, würden sie mit ihnen auch leichter auskommen.23

Der von Winternitz angesprochene Begriff „Volkskunde“ hat sich in den 1890er
Jahren – nicht zuletzt durch die Mitte des Jahrzehnts erfolgte Gründung des
Vereins, der Zeitschrift und des Museums für österreichische Volkskunde – durch-
gesetzt und dabei die im österreichischen Monarchieteil lange gebräuchliche
„Ethnografie“ abgelöst. Dort war der Terminus Ethnografie zum einen mit der
österreichischen Statistik und der 1857 erschienenen, zweibändigen „Ethnogra-
fie der Oesterreichischen Monarchie“24 von Karl Freiherr von Czoernig verbun-
den. Diese bildete die Vorlage für eine historisch orientierte, völkerbeschreiben-
de Zugangsweise, die von den sich ethnografisch gerierenden Fächern Slawistik
und Germanistik an den österreichischen Universitäten fortgeschrieben wur-

20 Erzherzog Rudolf: Einleitung. In: Übersichtsband, 1. Abt.: Naturgeschichtlicher Theil.


Wien: K.-K. Hof- u. Staatsdruckerei 1887, pp. 5–17.
21 Johler, Reinhard: Vom Leben, Nachleben und Weiterleben des ‚Kronprinzenwerks‘ in Ös-
terreich. In: Fikfak, Jurij / Johler, Reinhard (Hg.): Ethnografie in Serie. Zu Produktion und
Rezeption der „österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild“. Wien: Verlag
des Inst. für Volkskunde 2008, pp. 291–325.
22 Bosnien und Herzegowina. Wien: K.-K. Hof- u. Staatsdruckerei 1901.
23 Winternitz, Moriz: Rezension von Krauss: Slavische Volksforschungen. In: Mitt. der An-
thropolog. Ges. in Wien XXX (1910), p. 64.
24 Czoernig, Karl Frhr. v.: Ethnografie der Oesterreichischen Monarchie. I. Bd. 1. Abth.,
Wien: K.-K. Hof- u. Staatsdruckerei 1857.

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332 Reinhard Johler

de.25 Zum anderen aber meinte Ethnografie auch in Österreich die außereuropäi-
sche Völkerkunde, wie sie etwa von dem an der Wiener Universität lehrenden
Sprachwissenschaftler Friedrich Müller bekannt gemacht wurde: Er hatte 1868
den ethnografischen Berichtsband zur österreichischen Novara-Weltumseglung
verfasst26 und 1873 sein Standardwerk zur „Allgemeinen Ethnografie“ veröffent-
licht.27
Die damit angedeutete, schrittweise vollzogene Trennung von Volks- und
Völkerkunde mag mit einer Beobachtung erklärt werden, die vom amerika-
nischen Kulturanthropologen George W. Stocking gemacht worden ist. Er
hat argumentiert, dass im „Empire-Building-Prozess“ befindliche Staaten wie
Frankreich, England, Spanien oder Italien im ausgehenden 19. Jahrhundert eine
auf das außereuropäisch ‘Fremde’ zielende Anthropologie entwickelt hätten.
Dagegen hätten die nord- und mitteleuropäischen „Nation-Building-Staaten“
(also etwa Deutschland, Schweden, Serbien, etc.) eine auf das jeweilig konkret
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‘Eigene’ konzentrierte und somit primär national ausgerichtete Volkskunden fa-


vorisiert und außereuropäische Völkerkunde nur peripher gefördert.28 Die mul-
ti-nationale österreichisch-ungarische Monarchie – und damit die im Entste-
hungsprozess befindliche österreichische bzw. ungarische Volkskunde – nahm
dabei eine Zwischenposition ein, die mit der Besetzung und der Annexion von
Bosnien-Herzegowina noch verstärkt wurde, befand man sich doch damit in
der Rolle eines internal colonizers innerhalb der eigenen staatlichen Peripherie.
Die österreichische Volkskunde bildete daher, was bereits als Subtradition der
internationalen Fachentwicklung bezeichnet worden ist, eine „Völkerkunde“
– zuerst des cisleithanischen Monarchieteils, dann in Ansätzen Europas – aus.
Kein Wunder also, dass sie gerade in Bosnien-Herzegowina immer wieder in
eine heftige, persönlich wie auch inhaltlich ausgetragene Konkurrenz mit der
gleichzeitig im Rahmen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien bzw. der
Anthropologisch-ethnografischen Abtheilung des k.k. Naturhistorischen Museums
entstehenden Völkerkunde geriet. Letztere unterlag, als 1884 der Schwerpunkt
der neu eingerichteten Ethnografischen Commission auf das Studium der Mon-

25 Bockhorn, Olaf: „Volkskundliche Quellströme“ in Wien. Anthropo- und Philologie,


Ethno- und Geografie. In: Jacobeit, Wolfgang / Lixfeld, Hannjost / Bockhorn, Olaf (Hg.):
Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österr. Volkskunde
in der ersten Hälfte des 20. Jhs. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994, pp. 417–424.
26 Müller, Friedrich: Einleitung in die Ethnografie. In: Mittheilungen der k. k. geografischen
Gesellschaft in Wien XII (1869), pp. 482–504.
27 Müller, Friedrich: Allgemeine Ethnografie. Wien: Hölder 1873.
28 Stocking, George W.: After Tylor. British Social Anthropology, 1888–1951. London:
Athlone 1996.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 333

archie und der benachbarten Balkenländer gelegt wurde,29 und sie konnte sich
auch im Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen, als es galt, die „besetzten Balkan-
länder“ zu erforschen. Denn es gelang – so Christian Marchetti bilanzierend
– „dem Volkskundemuseum im Krieg“ mit inhaltlicher Begründung, die „Reprä-
sentationshoheit über die Balkangebiete vor dem Hofmuseum“ durchzusetzen.30
Bojan Baskar hat der hier als Subtradition ausgemachten österreichischen
Volkskunde eine weitere Variante hinzugefügt und damit Stocking im Ansatz
korrigiert: „Small Ethnologies“, wie etwa die slowenische, würden in „supra-
national Empires“ nicht zwangsläufig einen nationalen Weg wählen, sondern
zuweilen selbst imperial agieren. So konnten auch „kleine Ethnologien“ eigene,
eben „kleine Kolonialismen“ entwickeln.31

Habsburg colonial
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Solche „kleinen Kolonialismen“ – Stefan Simonek hat sie als „Mikrokolonia-


lismen“32 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt – waren in unter-
schiedlichsten Formen in der Habsburgermonarchie zu beobachten. Sie ent-
standen meist selbständig, verbanden sich miteinander, gerieten aber oft auch in
Konkurrenz zueinander bzw. – noch stärker – zu jenem „internal colonialism“,
der das diversity management der Monarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert
prägte: die Herstellung von (nationaler) Differenz zum einen und deren gleich-
zeitigem Schutz als „Einheit in der Vielfalt“ durch Staat und Herrscher zum
anderen.33 An die Stelle eines „dominanten, zentralistischen und reichüber-
greifenden ‚Kolonisierungsdiskurses‘“ – so ist Peter Stachel recht zu geben –

29 Ranzmeier, Irene: Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Eta-
blierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien, 1870–1930. Wien, Köln,
Weimar: Böhlau 2013, p. 73f.
30 Marchetti, Christian: Wiener Ethnografen im Ersten Weltkrieg. In: Mitt. der Anthropolog.
Ges. in Wien 136/137 (2006/2007), pp. 241–259.
31 Baskar, Bojan: Small National Ethnologies and Supranational Empires. The Case of the
Habsburg Monarchy. In: Nic Craith, Máiréd / Kockel, Ullrich / Johler, Reinhard (Hg.):
Everyday Culture in Europe. Approaches and Methodologies. Aldershot: Burlington
2008, pp. 69–80.
32 Zum Begriff vgl. Simonek, Stefan: Möglichkeiten und Grenzen postkolonialistischer Lite-
raturtheorie aus slawistischer Sicht. In: Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky,
Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Inns-
bruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2003, pp. 129–140, hier p. 131.
33 Verdery, Katherine: Internal Colonialism in Austria-Hungary. In: Ethnic and Racial Stu-
dies 2 (1979), pp. 378–399.

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334 Reinhard Johler

traten stattdessen mit Blick auf Bosnien-Herzegowina „vielfach miteinander


verschränkte regionale ‚Mikrokolonialismen‘.“34
So unterschiedlich diese „Mikrokolonialismen“ konstituiert waren, hatte
doch der in der österreichisch-ungarischen Öffentlichkeit „gefühlte Kolonialis-
mus“35 – in den Worten von Clemens Ruthner: in „Kakaniens kleinem ‚Orienta-
lismus‘“36 – erhebliche historische und mental empfundene Gemeinsamkeiten,
die auch die wissenschaftliche Wahrnehmung der bosnisch-herzegowinischen
Wirklichkeit ab der Okkupation dauerhaft steuerten. Diese diskursive Prägung
hing ursächlich mit den großen Themensetzungen des 19. (und auch des 20.
Jahrhunderts) – der Konstruktion des Balkans, der Frage nach dem Islam in
Europa, der Identität Europas – zusammen. Diese können hier nur knapp und
zusammenfassend mit zentralen theoretischen Konzepten näher gefasst und
für die folgenden Kapitel in Bezug auf die österreichische ethnografisch-volks-
kundliche Forschung in Bosnien-Herzegowina auf den Punkt gebracht werden.
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Der von Edward Said 1978 geprägte Begriff des „Orientalismus“ kann hier
vorausgesetzt werden: Er beinhaltet die in den westlichen Zentren im 18. und
19. Jahrhundert von Intellektuellen geschaffene und mit Macht durchgesetz-
te Vorstellung, dass Orient und Okzident voneinander scharf getrennte und
nicht kompatible Welten – mit anderen Worten: höchst konträre, wenngleich
imaginäre Anti-Welten – sind.37 Dieses Orientalismus-Konzept ist 1997 von
Maria Todorova auf den „Balkanismus“ übertragen und modifiziert worden.
Auch dieser ist zunächst im Westen von Intellektuellen kreiert, dann allerdings
am Balkan auch selbst übernommen worden. Wichtiger aber sind andere Unter-
scheidungen: Todorova versteht den „Balkanismus“ nicht als Sub-Kategorie des
„Orientalismus“, sondern als etwas Originäres. Denn Balkan bedeutet für sie
nicht Opposition, sondern Ambiguität; er ist nicht imaginierte „Anti-Welt“, son-
dern innerhalb Europas konkrete „Brücke“ und „Übergang“, bezieht er sich doch
gleichzeitig auch auf die imperial-kolonialistische Unterwerfung des Balkans
durch das nahe Osmanenreich. Kurz: Balkanismus ist dadurch kulturell als „the
Other within“, als der „unvollständig Andere“ konstruiert worden.38

34 Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosnien-Herzegowina in der ethnografischen Po-
pularliteratur der Habsburgermonarchie. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 259–275.
35 Ruthner, Clemens: ‚K.u.k. Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Ver-
such einer weiteren Klärung. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 111–128, hier p. 115.
36 Ruthner, Clemens: Kakaniens kleiner Orient. Post/koloniale Lesarten der Peripherie Bos-
nien-Herzegowina (1878–1918). In: Hárs, Endre/Müller-Funk, Wolfgang/Reber, Ursula
(Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen:
A. Francke Verlag 2006, pp. 255–283, hier p. 268.
37 Edward Said: Orientalism. New York: Pantheon Books 1978.
38 Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford Univ. Press 1997.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 335

Der von Andre Gingrich geprägte Begriff „frontier orientalism“ schließt in-
haltlich genau an diesem Punkt der „Grenz-Nähe“ zum Orient an, stellt dieser
doch ein spezifisches Muster der europäischen Auseinandersetzung eben mit
diesem Orient dar. In Europa, so Gingrich, bestehen erstens Staaten wie Frank-
reich und England, die in der islamischen Welt in Übersee einen bedeutenden
Einfluss ausübten, zweitens Länder wie etwa die Habsburgermonarchie, die
einen gewissen kolonialen Einfluss in den Gebieten der islamischen Peripherie
ausübten, und drittens Staaten, die überhaupt keine kolonialen Beziehungen mit
der islamischen Welt hatten. Viertens gibt es auch solche Länder vornehmlich
am Balkan, die selbst als Kolonien Teil eines islamischen Reiches waren.
Zur zweiten Gruppe gehören nach Gingrich Österreich-Ungarn, aber auch
Spanien und bis zu einem gewissen Grad zudem Russland. Diese Länder waren
zwar nie klassische Kolonialmächte in islamisch besiedelten Übersee-Gebie-
ten, übten aber über längere Zeit an ihren Peripherien eine mehr oder minder
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dauerhafte Herrschaft über islamische Grenzländer aus: Spanien in Nordwest-


afrika, Russland in Zentralasien sowie am Kaukasus und Österreich-Ungarn in
Bosnien-Herzegowina.
Österreich-Ungarns Kolonialgeschichte am (zumindest teilweise islamisch
besiedelten) Balkan ist daher ein Beispiel innerhalb einer sehr heterogenen
europäischen Geschichte – und stellt eine spezifisch grenznahe Kontaktform
einer kolonialen Begegnung mit der islamischen Welt dar. Diese besondere Be-
gegnung war nach Gingrich von mehreren Merkmalen geprägt: Erstens fand
sie in den Peripherien der jeweiligen Imperien an einer meist umstrittenen,
aber gemeinsamen Grenze statt. Zweitens bezieht sich der „frontier orientalism“
zwar auf konkrete koloniale Erfahrungen, weist aber deutlich in länger dau-
ernde, vorkoloniale Traditionen und populäre Mythen (etwa die Türkenkriege)
zurück. Bedingt durch seine lange Entstehungsgeschichte ist der „frontier orien-
talism“ drittens ein wichtiger Teil von intellektueller und politischer Deutung.
Durch Symbole und Legenden vermittelt, ist er darüber hinaus auch zum Teil
der Volkskultur geworden. Und viertens unterscheidet der „frontier orientalism“
den ‘guten islamischen’ – sprich: den ‘österreichischen’ – „Bosnier“ vom ‘bösen
Türken’, ist aber sonst kulturell nicht binär organisiert, sondern hebt ausgespro-
chen viele innere Differenzen hervor.39
Die von Gingrich betonte Grenz-Nähe hat den amerikanischen Historiker
Robert J. Donia dazu gebracht,40 das von Österreich-Ungarn besetzte Bosni-
en-Herzegowina als „proximate colony“ zu sehen. Die geografische Nähe zwi-

39 Gingrich, Andre: Frontier Myths of Orientalism. The Muslim World in Public and Popular
Culture in Central Europe. In: Baskar, Bojan (Hg.): Mediterranean Ethnological Summer
School. Ljubljana: Institut za Multikulturne Raziskave 1996, pp. 99–127.
40 Vgl. Donias Beitrag zum vorl. Sammelband.

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336 Reinhard Johler

schen Wien und Sarajevo – eine Distanz, die durch den schnell einsetzenden
Eisenbahnbau noch weiter verkürzt worden ist – hätte zwischen „colony“ und
„colonizer“ eine höchst ambivalente „colonial situation“ geschaffen. Denn zum
einen sei Bosnien-Herzegowina den Habsburgern bereits einigermaßen bekannt
gewesen, als diese es 1878 besetzt hatten. Dies und der Umstand, dass Serben
und Kroaten beiderseits der Grenze siedelten, hätte zudem zu einem besseren
Verstehen der Menschen vor Ort geführt, als dies in den klassisch kolonialen
Überseegebieten möglich gewesen wäre. Doch was damit auf den ersten Blick
ein Vorteil schien, sollte sich in Folge schnell als unüberbrückbarer Nachteil
erweisen, bezog doch die Monarchie sofort die multi-ethnische Bevölkerung
ihrer neuen „Kolonie“ in die heftig schwelenden europäischen Konflikte des
endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit ein.41
Die Nähe Bosnien-Herzegowinas und die erwähnte Konstruktion des ‘guten
Bosniers’ boten aber direkte Anknüpfungspunkte für die österreichisch-unga-
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rische Herrschaft und eröffneten der neu eingerichteten Verwaltung die Mög-
lichkeit, ökonomische Ziele mit kulturellen Maßnahmen zu verbinden und so
auch die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. So sollte etwa die Förderung
der Industrie durch eine schnelle Reform der lokalen Hausindustrien erreicht
werden. Benjámin von Kállay, der als gemeinsamer Finanzminister das Okkupa-
tionsgebiet verwaltete, setzte bereits 1882 die dafür notwendigen Maßnahmen,
in dem er drei Institutionen in Sarajevo gründen ließ: das Bosnisch-hercegovini-
sche Landesmuseum, die Fachschulen für Kunstgewerbe in Sarajevo sowie ein
Büro zur Wiedererweckung und Entwicklung des bosnisch-hercegewowinischen
Kunstgewerbes. Diana Reynolds Cordileone hat deswegen zu Recht von einem
kolonialistischen „exhibitionary complex“ gesprochen, da diese eng mit dem
Zentrum Wien verbundenen Institutionen eine spezifische Rolle in der Peri-
pherie zugeschrieben bekommen hätten: „In Wien übten die Österreicher ihre
Position als Großmacht mit einer Art von künstlerischem Kolonialismus aus. In
Sarajevo wurde der neue Bosnier als Zögling der Monarchie (in künstlerischem
wie in politischem Sinne) erzogen.“42
Die österreichische Ethnografie bzw. Volkskunde war über die Sammlung,
Erforschung und Ausstellung von Volkskunst und Tracht in vielfältiger Weise
in diesen kunstgewerblichen „exhibitionary complex“ integriert. Kein Wunder
daher, dass ihre disziplinäre Institutionalisierung mit der Okkupation von Bos-
nien und der Herzegowina so eng verbunden war. Ihr anfängliches Profil sollte
sie jedenfalls in dieser heftig umkämpften, gleichzeitig ausgesprochen diversen

41 Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegowina under Austro-Hungarian


Control. In: Ruthner et al. 2015, pp. 67–82.
42 Reynolds, Diana: Kavaliere, Kostüme, Kunstgewerbe. Die Vorstellung Bosniens in Wien
1878–1900. In: Feichtinger et al. 2003, pp. 243–255.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 337

Region erhalten, in der für sie ‘Fremdes’ mit ‘Eigenem’ in bislang unbekannter
Weise vermischt war. Ihr weiteres Geschick hing daher tatsächlich mit dem
weiteren Geschehen in Bosnien und der Herzegowina zusammen.

Die Ethnografische Commission


In dem in den Mittheilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien ver-
öffentlichten „Bericht über die Versammlung österreichischer Anthropologen
und Urgeschichtsforscher am 28. und 29. Juli 1879 zu Laibach“ war auch ein
Referat des Mediziners, Archäologen und Anthropologen Felix von Luschan
über „altbosnische Gräber“ enthalten. Luschan war als Militäroberarzt bei der
Besetzung von Bosnien und der Herzegowina beteiligt gewesen und hatte in
der Folge – finanziell unterstützt von der Anthropologischen Gesellschaft in
Wien – dort archäologische und ethnografische Studien durchgeführt. Seinen
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Bericht leitete er mit überraschend kritischen Worten ein: Die „Literatur über
Bosnien“ sei zwar „gerade in den letzten Jahren in ganz abenteuerlicher Weise
angewachsen“, doch wären die „Bücher über dieses interessante Land“ oft nicht
durch einen Besuch vor Ort, sondern von Wien aus mit „Scheere und Kleister“
verfasst – also abgeschrieben – worden.43
Damit beschrieb von Luschan eine gängige Publikationspraxis, benannte da-
bei aber auch Gründe für die bis dahin eher bescheidene Bilanz ethnografischer
Forschungen in Bosnien-Herzegowina – und darüber hinaus in der ganzen Mo-
narchie. Denn auch die Anthropologische Gesellschaft in Wien – sie war am 13.
Februar 1870 zur Förderung von Anthropologie, Urgeschichte und eben der Eth-
nografie gegründet worden – sah diese junge Disziplin in ihren eigenen Reihen
inhaltlich nur schwach verankert und auch in den Mittheilungen der Anthropolo-
gischen Gesellschaft in Wien waren in den ersten zehn Jahren ihres Erscheinens
nur vereinzelt einschlägige Aufsätze (etwa des Völkerkundlers Felix Philipp
Kanitz) erschienen. Es fehlte an geeigneten Autoren – und nicht am Bedarf des
Vielvölkerstaates.44 Kein Wunder daher, dass in der am 8. Februar abgehaltenen
Jahresversammlung dieser Mangel mit drastischen Worten beklagt wurde. Es
sei zu bedauern, „dass die Culturzustände der Völker Oesterreichs noch immer
keinen Beobachter in unserem Kreise gefunden haben, und dass ihr sowohl an
sich, als auch für die Erkenntnis der Vergangenheit so wichtiger Besitz volks-
thümlicher Kunst und Gewerbe-Erzeugnisse noch immer keine Stätte findet,

43 Much, M.: Bericht über die Versammlung österreichischer Anthropologen und Urge-
schichtsforscher am 28. und 29. Juli 1879 zu Laibach. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in
Wien X (1880), pp. 104–114.
44 Ranzmeier 2013, p. 73ff.

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338 Reinhard Johler

wo er dauernd der Zukunft erhalten würde, obwohl ihn jeder Tag unserer in
vollständigem Umschwung begriffenen Zeit auf das Empfindlichste schmälert.“45
Es war kein Geringerer als der aus einem alten österreichischen Adelsge-
schlecht stammende und 1882 zum Präsidenten gewählte Ferdinand Freiherr
von Andrian-Werburg, der, begründet durch seine Mitgliedschaft im „Redacti-
ons-Comité“ des Kronprinzenwerks, zum entscheidenden Förderer der Ethno-
grafie wurde. Andrian-Werburg hatte in Wien Geologie studiert, war daraufhin
an der k.k. geologischen Reichsanstalt beschäftigt und war, wie es in der 1914 von
Leopold von Schroeder zu dessen Tod verfassten „Gedenkrede“ heißt, 1879 „über
direkte Initiative Sr. Majestät des Kaisers in das Reichsministerium berufen und
mit der Organisation des gesamten Berg- und Forstwesens im Okkupationsge-
biet betraut“ worden. Das „Zusammenwachsen von Bosnien und der Herzego-
wina mit Oesterreich“ lag ihm, so schreibt von Schroeder weiter, so am Herzen,
dass er zur „naturwissenschaftlichen und ethnografischen Durchforschung des
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Okkupationsgebietes“ selbst beigetragen und „verschiedene größere wissen-


schaftliche Unternehmungen dortselbst in Bewegung gesetzt“ hat.46
Zu diesen Unternehmungen gehörte vor allem die 1884 im Rahmen der An-
thropologischen Gesellschaft in Wien erfolgte Gründung der Ethnografischen
Commission. Deren Einsetzung hatte Andrian-Werburg in der Ausschusssit-
zung am 8. Jänner 1884 mit der Begründung beantragt, dass es Aufgabe der
Gesellschaft sei, „neben der allgemeinen Ethnologie das Studium der Ethno-
grafie Oesterreich-Ungarns und die Ethnografie der Balkanländer auf’s Kräf-
tigste zu fördern.“47 In der Ausschusssitzung am 10. Februar erfolgte einstimmig
die Konstituierung der Ethnografischen Commission, zu deren Obmann der von
1870 bis 1887 agierende Vizepräsident der Gesellschaft, der bereits genannte
Sprachwissenschaftler Friedrich Müller und zu dessen Stellvertreter der eben-
falls schon angeführte Völkerkundler und eben ins Amt gesetzte Leiter der
Anthropologisch-ethnografische Abtheilung des k.k. Naturhistorischen Museums
Franz Heger gewählt worden waren .48 Die Zusammensetzung der gleichzei-
tig eingesetzten Commission war durchaus prominent, wenngleich nur wenige
Mitglieder – neben Heger und von Luschan vor allem der bereits recht betagte

45 Protokoll der Jahresversammlung der Anthropologischen Gesellschaft am 8. Februar


1881. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XI (1881), pp. 337–338.
46 Ferdinand von Andrian. Gedenkrede, gehalten von Prof. Dr. Leopold v. Schroeder in der
außerordentlichen Versammlung am 13. Mai 1914. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien
XLV (1915), pp. 1–11.
47 Ausschusssitzung am 8. Jänner 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p.
[6].
48 Ausschusssitzung am 12. Februar 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884),
p. [16]f.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 339

Balkanforscher Felix Philipp Kanitz49 sowie der 1882 in Wien promovierte Phi-
lologe und Folklorist Friedrich S. Krauss – tatsächlich einschlägig ausgebildet
und tätig waren.50
Wirklich aktiv wurde in der Ethnografischen Commission aber nur die „Sub-
commission für österreichische Ethnografie“, die am 13. Mai 1884 „nach ein-
gehender Debatte“ die „Drucklegung und Versendung der von Dr. Friedr. S.
KRAUSS verfassten ‚Fragebögen über die Ethnografie der Südslaven‘“ beschlos-
sen hatte.51 Krauss sollte mit seinen langen Reiseberichten, seinen vielen Vor-
trägen und seinen zahlreichen Veröffentlichungen über die „Ethnografie der
südslavischen Länder“ die, wie sie 1885 bezeichnet wurde, „Sub-Commission
für österreichische Ethnografie“ fast vollkommen bestimmen. Die darüberhi-
nausgehenden Pläne von größeren „ethnografischen Arbeiten in Österreich“
dagegen kamen, trotz des 1885 vollzogenen Obmannwechsels, aber nur zaghaft
in die Gänge.52
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Derart war, wie in der Jahresversammlung 1888 festgehalten worden war,


eine recht eigentümliche Situation entstanden. Die „vaterländische Ethnolo-
gie“ hatte dank des in schneller Folge erscheinenden ‚Kronprinzenwerks‘ einen
„bemerkenswerthen Aufschwung“ erlebt. Die 1884 zu deren Förderung eigens
eingerichtete „Commission für österreichische Ethnografie“ dagegen musste –
trotz der intensiven wissenschaftlichen Behandlung „speciell der Südslaven“
– von der Anthropologischen Gesellschaft in Wien aber zu diesem Zeitpunkt
schon wieder neu belebt werden.53 Die „Förderung der Ethnografie in unserem
Vaterlande“ wurde mit dem 1892 gegründeten Comité für das Studium des Bau-
ernhauses auf neue – und weniger problematische – Beine gestellt.54 Dies war

49 Zu Kanitz vgl. Johler, Reinhard: Die ‚kleinen‘ Ethnologien und das ‚neue‘ Europa oder:
Perspektiven eines bulgarisch-österreichischen Wissenschaftskontaktes. In: Beitl, Klaus
/ Johler, Reinhard (Hg.): Europäische Ethnologie an der Wende. Perspektiven – Aufga-
ben – Kooperationen. Bulgarisch-österreichisches Kolloquium. Kittsee: Ethnografisches
Museum 2000, pp. 47–64.
50 Jahresversammlung am 12. Februar 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV
(1884), pp. [17]-[21].
51 Ausschusssitzung am 13. Mai 1884. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p.
[68].
52 Jahresversammlung am 13. Jänner 1885. In: Mitt. der anthropolog. Ges. in Wien XV (1885),
p. [7].
53 Jahresversammlung am 14. Februar 1888. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVIII
(1888), p. [21]-[29].
54 Jahres-Versammlung am 8. März 1892. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXII (1892),
p. [27].

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340 Reinhard Johler

auch darum notwendig geworden, weil 1889 Friedrich S. Krauss im Unfrieden


aus der Anthropologischen Gesellschaft in Wien ausgetreten war.55
Zum 25-jährigen Gründungsjubiläum der Anthropologischen Gesellschaft in
Wien kam Andrian-Werburg in seiner „Festrede“ trotzdem mit höchst loben-
den Worten auf das publizistische Wirken von Krauss zu sprechen. Durch eine
„1883 erfolgte Verbindung“ mit ihm habe die österreichische Volkskunde „eine
nachdrücklichere Vertretung in unserer Mitte als bisher“ erreicht.56 Krauss
hatte seinerseits 1885 im Vorwort seines Buches Sitte und Brauch der Südslaven
dieses Zusammentreffen mit Andrian-Werburg – und damit dem Beginn seiner
„südslavischen Volkskunde“ – mit warmen Worten beschrieben:
Im Mai des Vorjahres kam ich mit Empfehlungen von meinem hochverehrten Leh-
rer Prof. Friedrich Müller und dem leider zu früh verstorbenen v. Hochstetter, Ihrer
Freunde, zu Euer Hochwohlgeboren, als dem Präsidenten der anthropologischen Ge-
sellschaft in Wien. Ich wollte eine ethnografische Forschungsreise zu den Südslaven
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unternehmen und suchte um ein Empfehlungsschreiben der Gesellschaft an. Euer


Hochwohlgeboren liessen sich auf ein Gespräch mit mir über die Ziele meiner Stu-
dien ein und beauftragten mich, ein Werk über das Gewohnheitsrecht der Südslaven
auszuarbeiten.57

Friedrich S. Krauss
Im Jahr 1884 sind von Friedrich S. Krauss in zwei Bänden die „zum großen
Teil aus ungedruckten Quellen“ stammenden Sagen und Märchen der Südslaven
herausgegeben worden. Dem ersten Band war, wie der Autor in dem seinem
universitären Lehrer Friedrich Müller gewidmeten Vorwort des zweiten Ban-
des mit Stolz erläuterte, ein großer Erfolg beschieden gewesen. Er war so gut
wie ausverkauft – und Krauss scheute sich daher angesichts des im selben Jahr
in den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien erschienenen
Aufsatzes Die südslavischen Hexensagen auch nicht, in einen überschwängli-
chen, programmatischen Ton zu verfallen, der recht treffend die folgenden Jah-
re – Krauss‘ unbändiger Elan ebenso, wie heftige inhaltliche und persönliche
Konflikte, in die er verwickelt war – vorwegnahm. Krauss, der sich als „Mann
der Wissenschaft“ sah, wandte sich zum einen – und mit besonderem Blick auf

55 Daxelmüller, Christoph: Friedrich Salomo Krauss (Salomon Friedrich Kraus[s]) (1859–


1938). In: Jacobeit et al. 1994, pp. 461–476.
56 Festrede des Präsidenten Ferdinand Freiherr v. Andrian-Werburg. In: Mitt. der Anthropo-
log. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [17–24].
57 Krauss, Friedrich S.: Sitte und Brauch der Südslaven. Nach heimischen gedruckten und
ungedruckten Quellen. Wien: Hölder 1885, pp V-XXVI.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 341

seine „südslavischen Brüder“ – gegen jede wie auch immer geartete „nationale
Tendenz“. Zum anderen aber musste er „vom ethnografisch-anthropologischen
Standpunkte aus“ gegen heftige Kritik etwa des äusserst renommierten Wiener
Slawisten Vratolsav Jagić sein neues Forschungsfeld und seinen methodischen
Zugang begründen. Krauss sah die „Überlieferung der Volksliteratur“ auf der
gleichen Stufe wie die „höfische Kunstliteratur“ angesiedelt und versprach, ers-
tere „dem Volke getreu nachempfunden und nacherzählt“ wieder zu geben. Die
damit eng miteinander verbundene „Slavische Cultur und Literaturgeschichte“
versuchte er gleichzeitig wortgewaltig als „Gegenstand“ an der Wiener Univer-
sität zu etablieren. Seine dafür gegebene Begründung führt direkt nach Bosnien
und Herzegowina. Es lohnt sich daher, seiner Argumentation genau zu folgen:
Bei der Occupation Bosniens büßten zehntausend58 österreichische Söhne diesen
Irrtum mit ihrem Leben. Hundert Million Gulden wurden dem Staatsschatz entrissen.
Land und Leute von Bosnien waren zur Zeit der Occupation den Österreichern weni-
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ger bekannt als Tonking. Durch Waffengewalt kann wohl ein Land erobert und zeit-
weilig in Zaum gehalten werden, in dauernden Besitz kann man es nur dann behalten,
wenn man die Interessen der neuen Mitbürger zu den eigenen zu machen versteht.
Wo besteht an einer deutschen Universität in Österreich ein Lehrstuhl für slavische
Literatur und Culturgeschichte? Nirgends. Wider ihren eigenen Willen sehen sich die
Südslaven Rußland in die Arme gedrängt. Und Rußland weiß diesen Vorteil gut auszu-
beuten. Die besten Kräfte werden unserem Staatswesen entzogen. Wenn man sich bei
uns nicht bei Zeiten aufrafft, so wird es mit den südslavischen Provinzen nicht anders
ergehen, als es uns mit unseren ehemaligen Errungenschaften in Italien ergangen ist.59

1884 war es für Krauss aber trotzdem ein wichtiger Schritt, dass in der Wiener
Anthropologischen Gesellschaft eine „Heimstätte österreichischer Ethnografie“
geschaffen worden war, die „zugleich das südslavische Volksthum gebührend“
würdigte60 und ihm selber nach Jahren der Unsicherheit erstmals berufliche
Perspektiven als Forscher eröffnete.
Friedrich S. Krauss war 1859 im slawonischen Požega als Sohn eines jüdi-
schen Kaufmanns und Bauernwirtes geboren worden. Die Zugehörigkeit zum
mosaischen Glauben und die ärmliche Herkunft aus der Provinz haben ihn,
wie Bernd-Jürgen Warneken überzeugend argumentiert hat, gleich mehrfach
marginalisiert – und sein weiteres Leben in Wien nachhaltig geprägt.61 Krauss

58 Diese Zahl ist deutlich zu hoch gegriffen, Vgl. den Beitrag von Clemens Ruthner zum
vorl. Sammelband (Besetzungen I)
59 Krauss 1885, p. XLI.
60 Krauss Friedrich S.: Sagen und Märchen der Südslaven. Zum großen Teil aus ungedruck-
ten Quellen. Leipzig: W. Friedrich 1884, pp. VII–LII.
61 Warneken, Bernd-Jürgen: Negative Assimilation. Der Volkskundler und Ethnologe Fried-
rich Salomo Krauss. In: Raphael, Freddy (Hg.): „…das Flüstern eines leisen Wehens…“ Bei-

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342 Reinhard Johler

studierte ab 1877 an der Wiener Universität klassische Philologie und wurde


dort im Jahre 1882 auch promoviert. In dieser Zeit begann er sich für die münd-
liche Tradition der „Südslaven“ zu interessieren. Über Vermittlung seines Leh-
rers Friedrich Müller kam Krauss in direkten Kontakt zu Ferdinand Frhr. von
Andrian-Werburg, der ihn seinerseits Kronprinz Rudolf vorstellte. In der am 8.
Mai 1883 stattfindenden Ausschusssitzung wurde der als „Schriftsteller in Wien“
geführte Friedrich S. Krauss als ordentliches Mitglied in die Anthropologische
Gesellschaft in Wien aufgenommen.62
Krauss war – das ist bereits dargestellt worden – in diesen Jahren publizistisch
ausgesprochen produktiv und auch sein Engagement in der Anthropologischen
Gesellschaft in Wien war mit in deren Mittheilungen veröffentlichten Vorträgen,
Reiseberichten, Rezensionen und Publikationen so überbordend, dass er mit
seiner „südslavischen Volkskunde“ fast alleine die Agenda der 1884 begründeten
Ethnografischen Commission bestritt. Die Ethnografische Commission ihrerseits
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wiederum förderte ihr Mitglied Krauss in unterschiedlicher, aber finanziell er-


heblicher Weise. So finanzierte sie seine von Mai 1884 bis August 1885 dauernde
„Reise nach Bosnien und der Hercegowina“. In seinem ausführlichen Bericht
stellte er sein Vorgehen ebenso detailliert vor wie die durch Feldforschung er-
zielten Ergebnisse.63 Diese waren für die Anthropologische Gesellschaft in Wien
– folgt man dem von dessen Präsidenten Andrian-Werburg für 1885 gegebenen
Jahresbericht – in jederlei Hinsicht so ertragreich, dass nicht nur deren „verglei-
chende Verarbeitung“ eine der „empfindlichsten Lücken der österreichischen
und europäischen Völkerkunde“ schließen, sondern dass „unser Beispiel die
südslavischen berufenen Kräfte anregen wird, mit streng wissenschaftlicher
Methode bei der Erforschung ihres Volksthums sowohl der Gegenwart als der
Vergangenheit nach“ mitzuarbeiten. „Welch fruchtbarer Boden in diesen Län-
dern vorhanden“ sei – und damit wurde ein zweiter Förderschwerpunkt der
Ethnografischen Commission aufgeführt –, bewiesen „die zahlreichen, meist
brauchbaren Antworten, welche auf unseren südslavischen Fragebogen einlau-
fen; letzterer wurde in‘s Russische und in’s Italienische übersetzt.“64
Die Hervorhebung der Übersetzungen des Fragebogens lässt auf dessen Er-
folg schließen – und so wurde er in der Anthropologischen Gesellschaft in Wien
auch immer wieder gefeiert. Bei der am 9. Februar 1886 stattgefundenen Jah-

träge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden. Konstanz: UVK 2001, pp. 149–170.
62 Ausschusssitzung am 8. Mai 1883. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XIII (1883),
p. 148.
63 Krauss, Friedrich S.: Ueber seine Reise in Bosnien und der Hercegowina. In: Mitt. der
Anthropolog. Ges. in Wien XV (1885), pp. 84–87.
64 Jahresbericht am 9. Februar 1886. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVI (1886), p.
[17]f.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 343

resversammlung etwa berichtete der Philologe Friedrich Müller davon, dass


die „anthropologische Gesellschaft in London unseren Fragebogen für die Er-
forschung des indischen Volksthums“ überarbeiten werde. Und während Prof.
Auguste Gittée zu Ath den Fragebogen für die „französische und holländische
Volkskunde“ bearbeitete, sorgten der für die Bosanska Vila arbeitende Lazar
Tadić für eine serbische und der in Mostar beheimatete Prof. Fran Radić (Glas
Hercegova) für eine kroatische Übersetzung und ermöglichten so Antworten
aus der Region:
Neben zahlreichen kleineren Einläufen als Antworten auf den Fragebogen müssen
wir besonders mit Dank der höchst werthvollen Einsendungen unseres bosnischen
Correspondenten Herrn Toma Dragičević gedenken. Allein an mahomedanisch[si-
c]-slavischen, bisher unbekannten Guslarenliedern verdanken wir Herrn Dragičević
an 25.000 Verse. Sehr schätzbar sind desselben Beiträge über Volksmedicin und ande-
ren Volksglauben.65
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Trotz dieser positiven Meldung aber war dem Fragebogen – er gehörte freilich
zu den ersten in der Anthropologie überhaupt – kein großer Erfolg beschieden.
Dies lag ein Stück weit in dessen Konzeption begründet. In der Ausschuss-
sitzung der Anthropologischen Gesellschaft in Wien am 13. Mai 1884 wurde der
von der Subcommission für österreichische Ethnografie eingereichte Antrag auf
Drucklegung und Versendung der von „Dr. FRIEDR. S. KRAUSS verfassten ‚Fra-
gebögen über die Ethnografie der Südslaven‘“ nach eingehender Debatte ange-
nommen.66 Der Fragebogen umfasste 740 umfangreiche Fragen, die neunzehn
Themenbereiche – von der Sprache über den Volksglauben bis hin zur Haus-
gemeinschaft reichend – abdeckten. Nicht alle Fragen, so gestand Krauss zu,
müssten beantwortet werden, aber alle Mitteilungen würden zu regelmäßig ver-
öffentlichten Berichten führen. Bei Bedarf könne der Fragebogen unentgeltlich
in kroatisch-serbischer Sprache zugesandt werden. Krauss bat daher – bevor es
zu spät sei – „die intelligenten Kreise des slavischen Südens unsere rein wissen-
schaftlichen Bestrebungen für die Erweiterung der Kenntnis des südslavischen
Volksthums ehestens und bereitwilligst“ um Unterstützung.67
Der Misserfolg mit dem Fragebogen leitete für Krauss eine Phase erheblicher
persönlicher wie auch wissenschaftlicher Rückschläge ein. 1887 scheiterte sein
Versuch einer kumulativen Habilitation – und damit der angestrebten Erlan-

65 Jahresversammlung am 8. Februar 1887. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XVII
(1887), p. [10]f.
66 Ausschusssitzung am 13. Mai 1884. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XIV (1884), p.
[68].
67 Krauss, Friedrich S.: Ethnografische Fragebögen der Anthropologischen Gesellschaft in
Wien. 1: Die Südslaven. Wien: Hölder 1884.

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344 Reinhard Johler

gung einer venia legendi für das „Fach der slavischen Literatur mit bes. Hervor-
hebung der Volksliteraturen“ – an der Universität Wien. Er machte dafür eine
philologisch dominierte und mit „chrowotischen Akademikern“ unter Führung
von Vratoslav Jagić besetzte Kommission verantwortlich. Da Krauss mit dem
Selbstmord von Kronprinz Rudolf einen bedeutenden Förderer und mit dem
krankheitsbedingten, langsamen Ausscheiden von Friedrich Müller aus dem
Vorstand der Anthropologischen Gesellschaft seinen wichtigsten Mentor verlor,
entschied er sich nach heftig geführten inhaltlichen Debatten 1889 zum Austritt.
Seine wissenschaftlichen Interessen veränderten sich zunehmend in Richtung
einer ethnologischen Sexualwissenschaft, sein „südslavisches“ Forschungsfeld
sollte aber ein Leben lang dasselbe bleiben.68
1893 sollte Friedrich S. Krauss in seiner eigenen, 1890 gegründeten Zeitschrift
Am Ur-Quell eine pessimistische Prognose für die Zukunft seiner Disziplin gege-
ben: „Geben wir uns keiner Selbsttäuschung hin, sondern gestehen wir es offen
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und unumwunden ein, dass Volkskunde noch gegenwärtig in Europa eine der
unpopulärsten und am wenigsten beachteten Wissenschaften ist.“69 Dies aber
sollte sich schnell mit einem Wissenschaftler ändern, der gleichfalls Mitglied
der Anthropologischen Gesellschaft in Wien – nicht aber in deren Ethnografischen
Commission – war: Michael Haberlandt.

K.k. österreichische Volkskunde


Der 1860 in Ungarisch-Altenburg geborene Michael Haberlandt hatte an der
Wiener Universität Indologie studiert und war 1882 dort auch promoviert wor-
den. 1884 wurde er zum Kustos an der Anthropologisch-ethnografischen Abtei-
lung des k.k. Naturhistorischen Museums ernannt. Unterstützt und gefördert
von seinem Lehrer Friedrich Müller wurde Haberlandt – wenige Monate nach
Friedrich S. Krauss – am 11. November 1884 Mitglied der Anthropologischen
Gesellschaft in Wien. Wie Krauss nahm auch Haberlandt ausgesprochen rege
am Vereinsleben teil, hielt Vorträge zu seinen indologischen Themen und veröf-
fentlichte diese in den Mittheilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien.
1887 lassen sich dort daher nicht zufällig – Haberlandt hatte sich zunehmend
mit ethnografischen Themen beschäftigt – kontroverse Diskussionen mit Krauss
verfolgen. Dass Krauss, wie wiederholt vermutet worden ist, deswegen aus der
Wiener Anthropologischen Gesellschaft ausgetreten ist, dürfte aber nicht richtig

68 Zur Biografie siehe Burt, Raymond L.: Friedrich Salomon Krauss (1859–1938). Selbstzeug-
nisse und Materialien zur Bibliografie des Volkskundlers, Literaten und Sexualforschers
mit einem Nachlassverzeichnis. Wien: Verlag der ÖAW 1983.
69 Krauss, Friedrich S.: Rezension der Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn 1893. In: Am
Urquell 4 (1893), pp. 151–152.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 345

sein, denn in einer 1890 erschienenen Rezension lobte er eine Veröffentlichung


von Haberlandt euphorisch und bezeichnete ihn als „geistvollen und scharf-
sinnigen“ Forscher.70
Man wird aber mit der Beobachtung nicht fehlgehen, dass Haberlandt tat-
kräftig und mit viel Geschick jene Lücke ausgefüllt hat, die mit dem Austritt
von Krauss aus der Anthropologischen Gesellschaft in Wien entstanden war.
Haberlandt, dessen Konkurrenz zum völkerkundlichen Leiter der Anthropolo-
gisch-ethnografischen Abteilung des k.k. Naturhistorischen Museums Franz Heger
bereits erwähnt wurde, wurde 1890 zum Ausschussrat gewählt und 1892 an
der Universität Wien mit einer Schrift über „Die Cultur der Eingeborenen der
Malediven“ habilitiert. Er erhielt die venia legendi für „Allgemeine Ethnografie“
verliehen und begann regelmäßig Vorlesungen zu halten. Haberlandt hatte sich
damit in kurzer Zeit als der Vertreter der Ethnografie in der Anthropologischen
Gesellschaft in Wien durchgesetzt. Gemeinsam mit dem Orientalisten Wilhelm
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Hein setzte er 1894/95 – in weiterer Abgrenzung zur gleichzeitig entstehenden


Völkerkunde – den nächsten Schritt und gründete in Wien den Verein, die Zeit-
schrift und das Museum für österreichische Volkskunde.71
Haberlandt hatte diesen Institutionen eine patriotisch-monarchietreue
Zielsetzung gegeben, die mit Blick auf die „Erforschung und Darstellung des
Volksthums der Bewohner Österreichs“ vornehmlich vergleichend – und da-
mit politisch ausgleichend – realisiert werden sollte, wobei er eine „volle Un-
befangenheit in nationalen Dingen“ schon dadurch gegeben sah, dass es der
österreichischen Volkskunde in evolutionärer Manier um ein „tieferes Entwi-
cklungsprincip als das der Nationalität“ ginge. Österreichische Volkskunde kon-
zentrierte sich somit in deutscher Publikationssprache auf den cisleithanischen
Landesteil, verfolgte eine gesamt-„österreichische Idee“ und sah sich daher auch
eher als komparative Völker-, denn als nationale Volkskunde. Ihre Institutionali-
sierung ist jedenfalls auch als Reaktion auf die innerhalb der Monarchie – etwa
in Böhmen und Mähren oder in Galizien – sich etablierenden nationalen Volks-
kunden zu sehen.
Tatsächlich waren die Optionen für diese eben gegründete österreichische
Volkskunde recht begrenzt: Sie konnte erstens dem Vorbild der anderen natio-
nalen Volkskunden folgen und – was außerhalb der Haupt- und Residenzstadt
Wien auch tatsächlich passierte – als deutsche Volkskunde die deutschsprachi-
gen Gebiete innerhalb der Monarchie in ihr Visier nehmen. Zweitens konnte

70 Krauss, Friedrich S.: Rezension von M. Haberlandt: Ueber tulapurusha der Inder. In: Am
Ur-Quell 1 (1890), p. 35.
71 Vgl. zu Michael Haberlandt und zu den genannten Gründungen Nikitsch, Herbert: Auf
der Bühne früher Wissenschaft. Aus der Geschichte des Vereins für Volkskunde (1894–
1945). Wien: Selbstverl. des Vereins für Volkskunde 2006.

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346 Reinhard Johler

sie sich – wie pragmatisch nach der Jahrhundertwende verstärkt realisiert – als
Wiener „Vermittlungsstelle“ zwischen den „nationalen Betriebsstellen der hei-
mischen Volkskunden“72 positionieren, und drittens konnte sie, wie zu Beginn
in Angriff genommen, eine über-nationale, den cisleithanischen Landesteil ab-
bildende Disziplin werden, die ihre durchaus hegemonialen Zielsetzungen in
den entfernteren Kronländern, noch mehr aber in der okkupierten Peripherie
von Bosnien-Herzegowina mit einer eigenen „bosnischen Volkskunde“ durch-
zusetzen versuchte.
In seiner 1895 zum 25-jährigen Bestand der Anthropologischen Gesellschaft
in Wien gehaltenen Rede hatte deren Präsident Ferdinand von Andrian-Wer-
burg die Gründung eines eigenständigen Vereins für österreichische Volkskunde
zwar mit anerkennenden Worten begrüßt, deren Initiatoren aber mit auf den
Weg gegeben, „dass die österreichische Volkskunde den Zusammenhang mit
der allgemeinen Ethnografie, welcher die Grundlage ihrer Entwicklung bietet,
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niemals verlieren möge.“73 Gemeint war damit die weitere Anbindung an die
Anthropologische Gesellschaft zum einen und die Fortführung der in der Ethno-
grafischen Commission begonnenen Forschungen zum anderen. „Die Volkskun-
de“, so hat Michael Haberlandt auf diese Mahnung geantwortet, sei zwar eine
„junge Wissenschaft“, doch „durch das Zutreten der Ethnografie gefestigt und
ausgebildet“. Ihre Methoden gehörten noch „vielfach verfeinert und verbessert“,
aber im Moment fehle es in der „volkskundlichen Schulung“ vor allem an „kun-
digen Beobachtern“ – und zwar auf dem „volkskundlichen Gebiet in Bosnien“
ebenso „wie andernwärts auch“.74 An einer Weiterführung dieser Forschungen
aber ließ Haberlandt keinen Zweifel. Diese sollten gemeinsam mit den Kollegen
in Sarajevo als „bosnische Volkskunde“ bzw. von Wien aus als „Volkskunde des
Occupationsgebietes“ betrieben und somit die „vergleichende Richtung“ der ös-
terreichischen Volkskunde gestärkt werden.75 Michael Haberlandt hatte dafür in
seiner „Vorerinnerung“ im zweiten Jahrgang seiner Zeitschrift für österreichische
Volkskunde 1896 die Richtung vorgegeben:
Die Volkskunde des Occupationsgebietes, auch in wissenschaftlicher, wie in ökono-
mischer Beziehung des Hinterlandes von Dalmatien, fügt sich neu in den Rahmen
unserer Aufgaben ein. Das südslawische Volksthum, welches sich in verschiedenen
Färbungen von dem Friaulanischen Gebirge bis über den Balkan erstreckt, schließt die

72 Haberlandt, Michael: Der Verein für österreichische Volkskunde. 1894–1904. In: Zeit-
schrift für österreichische Volkskunde 10 (1904), pp. 177–181.
73 Festrede des Präsidenten Ferdinand Freiherr v. Andrian-Werburg. In: Mitt. der Anthropo-
log. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [17–24].
74 Ibid.
75 Haberlandt, Michael: Rezension Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der
Herzegowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 2 (1896), pp. 117–127.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 347

bosnisch-herzegowinische Volksart als eine ganz besonders charakteristische Nuance


ein, die sich in der Abgeschlossenheit des Landes ungebrochen und rein bis zum heu-
tigen Tage erhalten hat. Gerade für die bosnische Volkskunde, die im Landesmuseum
zu Sarajevo für die ethnografischen Aufgaben eine so berufene Pflegestätte besitzt,
wird die vergleichende Richtung unserer Arbeit etwas Ersprießliches leisten können.76

Im selben Jahrgang der Zeitschrift für österreichische Volkskunde war eine Ab-
bildung der Aladža-Moschee in Foča zu sehen. Trotzdem sollte es aber in der
Folge schwer fallen, die gemachten Ankündigungen für eine „Volkskunde des
Occupationsgebietes“ in die Tat um zu setzten. Was aber auffällt, ist eine deutli-
che Verschiebung: Konzentrierten sich die Forschungen von Friedrich S. Krauss
noch auf die Sammlung mündlicher Überlieferungen der „Südslaven“, so war die
österreichische Volkskunde ab Mitte der 1890er Jahre mehr an Objekten – und
damit an einer stärkeren Integration von Bosnien-Herzegowina in die mate-
rielle Repräsentation der österreichisch-ungarischen Monarchie – im Wiener
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Museum für österreichische Volkskunde interessiert.77 Während derart jährlich


oft Hunderte von Trachtenstücken oder Volkskunstgegenständen von Bosni-
en-Herzegowina nach Wien verschickt wurden, war die in der eigenen Zeit-
schrift für österreichische Volkskunde bis 1904 erschienenen Publikationen über
das „Occupationsgebiet“, wie Michael Haberlandt zum 25-jährigen Bestehen
seines Vereins eingestehen musste, äusserst bescheiden: Hatten etwa 49 Beiträge
Niederösterreich zum Thema, handelten nur sechs von Bosnien-Herzegowina.78
Die Gründe dafür waren vielfältig: Trotz des „volkskundlichen Reichthums
des Occupationsgebietes“ war, wie Michael Haberlandt immer wieder beklag-
te, die am Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseum eingefahrenen „ethnologi-
schen Ernten“ karg und das dortige Interesse an Volkskunde über Jahre hinweg
bescheiden.79 Man verfügte im Haus – so wie im Übrigen vor allem im Wiener
Volkskunde-Museum auch – über keinen ausreichend großen Stamm an sprach-
kundigen und fachlich qualifizierten Wissenschaftlern. Wirkliche Experten für
Bosnien-Herzegowina waren zwar oft fachnah und herausragende Mitglieder
des Vereins für österreichische Volkskunde, insgesamt aber doch – mit Schwer-
punkt Slawistik – anderen Disziplinen zugehörig. 1901 etwa hatte der an der

76 Haberlandt, Michael: Vorerinnerung. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 2 (1896), pp.1–2.
77 Vgl. dazu mit Blick auf die materielle Kultur Marchetti, Christian: Von hybriden Pflügen
und kultureller Neugestaltung. Volkskunde und Kolonialismus im Habsburgerreich. In:
Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 9 (2009), nr. 2, pp. 98–118.
78 Haberlandt, Michael: Der Verein für österreichische Volkskunde. 1894–1904. In: Zeit-
schrift für österr. Volkskunde 10 (1904), pp. 177–181.
79 Haberlandt, Michael: Rezension von Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und
der Herzegowina, 6. Bd., Wien 1899. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), pp.
38–39.

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348 Reinhard Johler

Universität Wien lehrende Sprachwissenschaftler Rudolf Meringer ein Buch


über „Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien zum Hausrath“
veröffentlicht, das, unterstützt von der bosnischen Landesregierung, im Auf-
trage der kaiserl. Akademie der Wissenschaften entstanden war.80 Mit der Bau-
ernhausforschung hatte sich zudem der seit 1902 als Professor für slawische
Philologie lehrende Slowene Matthias (Matja) Murko beschäftigt, der 1905 in
den Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien ausführlich „Zur
Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Südslawen“ Stellung bezogen
hatte.81 Und 1912 begann darüberhinaus die Karriere des 1886 in Mähren ge-
borenen Edmund Schneeweis – er sollte zu einem der führenden, volkskund-
lich inspirierten Slawisten der Zwischen- und Nachkriegszeit werden – mit
einer vom Verein, 1913 dann vom k. k. Ministerium für Kultus und Wissenschaft
subventionierten Studienreise nach Bosnien-Herzegowina, Serbien, Bulgarien,
Dalmatien und Kroatien.82
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Trotz dieser prominenten Gelehrten gelang es der österreichischen Volkskun-


de aber nicht, einheimische Forscher in Bosnien-Herzegowina als Mitarbeiter
zu gewinnen. Sie musste sich stattdessen auf Personen stützen, die der aus der
ganzen Monarchie zugewanderten Okkupationsgesellschaft angehörten und
die als Dilettanten ethnografische Beschreibungen des bosnisch-herzegowini-
schen „Volkslebens“ für die Zeitschrift für österreichische Volkskunde lieferten.
So beschrieb etwa Luise Schinnerer, die als Lehrerin an der k. k. Fachschule für
Kunststickerei in Wien unterrichtete, 1897 in einem Aufsatz „Einiges über die
bosnisch-herzegowinischen Strick- und Häkelarbeitern“.83 1900 veröffentlichte
der am Obergymnasium Sarajevo unterrichtende Emanuel (Emilian) Lilek seine
Beobachtungen zum „Familien- und Volksleben in Bosnien und der Herzegowi-
na“84 und 1902 fasste Maryan Udziela in seinem „Beitrag zur Volksthierkunde“

80 Meringer, Rudolf: Die Stellung des bosnischen Hauses und Etymologien zum Hausrath.
Wien: C. Gerold's Söhne 1901. Vgl. dazu auch die 1902 erschienene Rezension von Micha-
el Haberlandt in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde.
81 Murko, Matthias: Zur Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Südslawen. In: Mitt.
der Anthropolog. Ges. in Wien XXXV (1905), pp. 308–330.
82 Zu Schneeweis zusammenfassend vgl. Johler, Reinhard Johler: Einbegleitung. Wissen-
schaftsbeziehungen. In: Čapo Žmegač, Jasna / Johler, Reinhard / Kalapoš, Sanja / Nikitsch,
Herbert (Hg.): Kroatische Volkskunde/Ethnologie in den Neunzigern. Ein Reader. Wien:
Selbstverl. des Inst. für Volkskunde 2001, pp. 9–27.
83 Schinnerer, Luise: Einiges über die bosnisch-herzegowinischen Strick- und Häkelarbei-
ten. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 4 (1898), pp. 13–18.
84 Lilek, Emanuel (Emilian): Familien- und Volksleben in Bosnien und der Herzegowina. In:
Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), pp. 23–30, 164–172, 202–225.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 349

jene Eindrücke zusammen, die er von 1892 bis 1893 als Bezirksarzt in Kotor-Va-
roš gesammelt hatte.85
Zu den wenigen Ausnahmen gehörte im Umfeld der österreichischen Volks-
kunde die 1863 im kroatischen Bjelovar geborene Journalistin und Schriftstel-
lerin Milena Preindlsberger-Mrazović: Sie war eine doppelte Ausnahme – sie
war Frau und sie war landes- und sprachkundig. Preindlsberger-Mrazović war
nämlich mit ihrer Familie unmittelbar nach der Okkupation nach Sarajevo ge-
kommen. Dort arbeitete sie als Lehrerin und veröffentlichte etwa in der Bosni-
schen Post. Ihr Interesse aber galt der Ethnografie. Preindlsberger-Mrazović wird
zum Gründerkreis des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums gezählt. 1889
wurde sie als eine der ersten Frauen überhaupt als Mitglied in die Anthropologi-
sche Gesellschaft in Wien aufgenommen und hielt im Februar 1896 im Verein für
österreichische Volkskunde in Wien einen Vortrag über Bosnien-Herzegowina.86
Ihr 1900 erschienenes Bosnisches Skizzenbuch87 wurde daher von Michael Ha-
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berlandt auch sofort mit lobenden Worten rezensiert:


Auf Grund genauester Kenntnis von Land und Leuten unternimmt hier die rühmlichst
bekannte Verfasserin mit gewandter Feder eine Schilderung des Occupationsgebietes
nach seiner landschaftlichen und culturellen Seite. Ein Kind des Landes, seine Sprache
als ihre Muttersprache gebrauchend, hat sie Zugang zum Volksthum und seinen in-
timsten Besonderheiten wie nicht leicht ein anderer Schilderer, und ihre umfassende,
geradezu wissenschaftliche Bildung vermittelt ihr überall die zutreffende allgemeine
Beurtheilung der zahllosen interessanten und altüberlieferten Besonderheiten des
Landes und seiner Bewohner.88

Eben diese Kenntnis konnte Haberlandt aber bei den meisten seiner Autoren
nicht voraussetzen. Und zudem verlagerte sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahr-
hunderts das Fachinteresse von Bosnien-Herzegowina zunehmend in Richtung
oberer Adria-Raum89 bzw. – politisch bedingt – nach Albanien. Und dies trotz
der 1908 erfolgten „Annexion der Occupationsländer“, die die „Aufgabe“ der
österreichischen Volkskunde in einer intensiv fortgesetzten „Ethnografie“ und

85 Udziela, Maryan: Ein Beitrag zur Volksthierkunde. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 8
(1902), pp. 105–118.
86 https://en.wikipedia.org/wiki/Milena_Mrazović.
87 Milena Preindlsberger-Mrazović: Bosnisches Skizzenbuch. Landschafts- und Culturbilder
aus Bosnien und der Herzegowina. Illustrirt von Ludwig Hans Fischer. Dresden: E. Pier-
son 1900.
88 Haberlandt, Michael: Rezension von Preindlsberger-Mrazović: Bosnisches Skizzenbuch.
In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 6 (1900), p. 255.
89 Johler, Reinhard: A local construction – or: What have the Alps to do with a global rea-
ding of the Mediterranean. In: Narodna Umjetnost. Croatian Journal of Ethnology and
Folklore 36 (1999), pp. 87–102.

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350 Reinhard Johler

„musealen Vertretung“ dieser „noch höchst primitiven Gebiete“ sah.90 Es war


daher ein besonderer Erfolg, dass das 1913 vom Kustosadjunkten des Landes-
museums Vejsil Curčić verfasste Buch über „Rezente Pfahlbauten von Donja
Dolina in Bosnien“91 als XI. Ergänzungsband in der Schriftenreihe des Museums
für österreichische Volkskunde erschienen war. Denn damit, so hielt Michael Ha-
berlandt in seinem 1914 publizierten „Jahresbericht aus dem Verein für Volks-
kunde für das Jahr 1913“ fest, wünscht „unsere Gesellschaft ihr bereits 1896
für die Volkskunde des Annexionsgebietes bestätigtes lebhaftes Interesse aufs
neue nachdrücklich zu bekunden. Gerade für die bosnische Volkskunde hat die
vergleichende, auf die kulturhistorischen Zusammenhänge dringende Richtung
unserer Arbeiten besondere Bedeutung.“92

Das Bosnisch-hercegovinische Landesmuseum


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Am 1. Februar 1888 wurde das Bosnisch-hercegovinische Landesmuseum feierlich


in Sarajevo eröffnet. Es verfügte über eine eigene Fachbibliothek sowie zwei
Abteilungen: eine naturwissenschaftliche und eine archäologisch-kunsthistori-
sche, die auch eine in den letzten Jahren zusammen getragene ethnografische
Sammlung mit zahlreichen Kostümen und Gegenständen des Kunstgewerbes
enthielt. Als Museumsleiter wirkte von 1895 bis 1904 der 1850 im kroatischen
Bjelovar geborene Constantin (Kosta) Hörmann. Ihm zugeordnet waren für
den naturwissenschaftlichen Bestand Othmar Reiser, für die Archäologie und
Ethnografie Ćiro Truhelka. Das Museum – und insbesondere die im 2. Stock
befindliche „ethnografische Costüm-Sammlung“ – stieß beim Publikum von
Anfang an auf große Zustimmung, wobei bei den Öffnungszeiten Rücksicht
auf die religiösen Verpflichtungen von Juden und Muslimen genommen wurde.
Neben der eigenen Dauerausstellung zeigte das Bosnisch-hercegowinische Lan-
desmuseum Teile seiner Sammlung auch immer wieder auswärts (wie etwa bei
der ungarischen Millenniums-Ausstellung in Budapest).93
Das Museum gab seit 1889 die Glasnik zemaljskog muzeja za Bosnu i Herz-
egovinu und ab 1893 die Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und der
Hercegowina heraus. Deren erster und zweiter Band wurde vom Sekretär der
Anthropologischen Gesellschaft in Wien, dem Prähistoriker Josef Szombathy ein-

90 Tätigkeitsbericht des Museums für österreichische Volkskunde für das Jahr 1909. In: Zeit-
schrift für österr. Volkskunde 16 (1910), pp. 65–77.
91 Curčić, Vejsil: Rezente Pfahlbauten von Donja Dolina in Bosnien. Wien: Gerold 1913.
92 Jahresbericht aus dem Verein für Volkskunde für das Jahr 1913. In: Zeitschrift für österr.
Volkskunde 20 (1914), pp. 63–68.
93 Hörmann, Constantin: Zur Geschichte des Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseums.
In: Wissenschaftliche Mittheilungen aus Bosnien und der Hercegowina 1 (1893), pp. 3–23.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 351

gehend besprochen. Dabei ging er von jenen „wissenschaftlichen Pfadfindern


aus den gelehrten Kreisen unserer Monarchie aus“, die bereits „während der
Occupationskämpfe und unmittelbar nach ihnen“ das Land forschend durch-
zogen und „manches interessante Stück nach Wien“ geliefert hätten. Die beiden
nun „vorliegenden Prachtbände“ würden daher eine erste „stattliche Abschlag-
zahlung“ für die bisher geleisteten Bemühungen darstellen:
So groß die Hartnäckigkeit war, mit welcher sich das bosnisch-hercegowinische Ge-
biet, als die Spitze des vom islamitischen Osten gegen die westliche Cultur vorge-
triebenen Keiles, bis in das letzte Viertel unseres Jahrhundert alle Segnungen der
Neuzeit zu verschliessen verstand, so bewunderungswürdig und geradezu beispiellos
ist die Schnelligkeit, mit welcher in dem durch unsere Waffen occupirten Lande die
geistige Occupation von einer in ihren Zielen und ihren Mitteln klaren und sicheren
Verwaltung durchgeführt wird. Durch die schmerzlose Einimpfung aller guten Säfte
der modernen Verwaltungskunst wird dem Lande eine Erziehung zu materiellem und
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geistigem Wohlstande gegeben, wie es sonst noch keinem Volke sonst zutheil ward.
Es erscheint als ein Zug vornehmster Dankbarkeit, dass das Land durch seine er-
leuchtete Regierung bereits dahin geführt wird, dem Westen als Abschlagzahlung für
die empfangenen culturellen Werthe ein durch einen Stab überaus eifriger Gelehrter
frisch erschürftes wissenschaftliches Material darzubieten.94

Damit war ein – wenn man will: kolonialer – Deutungsrahmen vorgegeben, der
bis zum Beginn des Weltkriegs von Seiten der österreichischen Forscher nicht
mehr hinterfragt wurde. Österreichische Volkskundler, wie der Ko-Gründer des
Vereins und des Museums für österreichische Volkskunde Wilhelm Hein, fügten
dem neben der vielbeschworenen Vielfalt der „ethnografischen Verhältnisse der
Bevölkerung“ noch die „seltene Gelegenheit“ hinzu, in Bosnien-Herzegowina
„altherbrachte Sitten und Gewohnheiten bis in die frühesten Zeiten verfolgen
und in ihrer Reinheit studiren zu können“.95 Und eben diese spezifische Ver-
knüpfung von eigener, in kurzer Zeit im Bosnisch-hercegowinischen Landesmuse-
um vollbrachter Zivilisationsleistung mit der exotisch-bunten Rückständigkeit
des umgebenden Okkupationsgebietes sollte auch die Wahrnehmungsfolie für
die in den 1890er Jahren gehäuft stattfindenden Besuche verschiedener wis-
senschaftlicher Gesellschaften in Sarajevo bilden. So fand dort vom 15. bis 21.
August 1894 eine „Archäologen- und Anthropologen-Versammlung“ statt. Die
Teilnehmer besuchten nach ihrer Ankunft gleich das Landesmuseum, lobten die
„mächtig anwachsenden Sammlungen“ sowie die hohe Qualität der am Museum

94 Szombathy, Josef: Rezension der Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und der
Hercegowina, 1. Bd., 1893, 2.Bd. 1894. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXIII (1893),
pp. 226–230.
95 Ibid., p. 230.

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352 Reinhard Johler

herausgegebenen Schriften und sahen dies als Ergebnis der großen „Thatkraft
der Forscher“ – und als eindeutiger Beweis dafür, was „wir während der 15
Jahre unserer Occupation in dem Lande gethan haben“.96 Denn die geschaffenen
„modernen Einrichtungen“ stünden für alle Teilnehmer im deutlichen Gegen-
satz zum später besuchten „Fest al la turca“.97
Recht ähnlich war auch der Verlauf der vom 2. bis zum 7. September 1895
nach Sarajevo führenden „Excursion der Anthropologischen Gesellschaft nach
Bosnien und der Hercegowina“, an der neben Michael Haberlandt, Franz Heger
und dem Prähistoriker Matthäus Much auch der berühmte deutsche Anthropo-
loge Rudolf Virchow teilnahm. Man besuchte in der Umgebung einen Bogu-
milen-Friedhof und wohnte der Vorführung eines Kolo-Tanzes bei. In Sarajevo
zeigte eine Stadtbesichtigung den Teilnehmern die „Sitten und Gewohnheiten
des Orients“. Und wiederum war das Bosnisch-hercegowinische Landesmuseum
nicht nur Beleg für die „Fürsorge einer weisen Regierung“, sondern auch der
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Beweis für das milde „Scepter eines grossen Culturstaates“. Franz Heger, von
dem dieser Bericht stammt, fügte hinzu, dass das Museum „das ureigenste
Werk des Reichs-Finanzministers v. KALLAY“ sei, „der demselben eine ganz
modern-wissenschaftliche Grundlage gab und zu dessen Lieblingsschöpfungen
es auch zählt.“98
Volkskundler, wie Michael Haberlandt, beklagten zwar im ersten Jahrzehnt
des 20. Jahrhunderts immer wieder, dass ihr Fach im Bosnisch-hercegowinische
Landesmuseum und den dort herausgegebenen Schriftenreihen nur ein „beschei-
denes, aber wohl ausgefülltes Plätzchen eingeräumt“ bekommen hätte99, aber sie
lobten gleichzeitig den von Benjámin v. Kállay initiierten und von der Monar-
chie vorangetriebenen „Wandel der Dinge“ – im Okkupationsgebiet und ab 1908
im annektierten Reichsland.100 Der Grund dafür war einfach: Der gemeinsame
Finanzminister hatte 1882, wie bereits erwähnt, Strategien entworfen, um Bos-
nien-Herzegowina zu modernisieren. Zu diesen zählten neben mehreren schar-
fen Verboten auch die angestrebte Schaffung einer gemeinsamen bosnischen
Landesidentität, die die Loyalität der serbischen, kroatischen und muslimischen

96 Sombathy, Josef: Die Archäologen- und Anthropologen-Versammlung in Sarajevo, 15. bis


21. August 1894. In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXIV (1894), pp. [202–213].
97 Ibid.
98 Heger, Franz: Bericht über die Excursion der Anthropologischen Gesellschaft nach Bos-
nien und der Hercegovina nebst Aufenthalt in Spalato und Pola (1. bis 16. September
1895). In: Mitt. der Anthropolog. Ges. in Wien XXV (1895), pp. [83–89].
99 Ob diese Klage berechtigt war, braucht hier nicht weiter geklärt werden. Immerhin aber
hatte der Direktor des Museums einschlägig publiziert. Vgl. Hörmann, Constantin: Na-
rodne pjesme Muhamedovaca u Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Landesdruckerei 1888/89.
100 Haberlandt, Michael: Rezension der Wissenschaftlichen Mittheilungen aus Bosnien und
der Hercegowina, Bd. 5. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 4 (1898), pp. 158–159.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 353

Bevölkerung sichern sollte. Eine Maßnahme dafür war, wie Diana Reynolds
Cordileone aufgezeigt hat, die kunstgewerbliche Schaffung eines verbinden-
den „bosnischen Stils“, der zwischen den Fachschulen und Museen in Wien
und Sarajevo erfunden werden sollte.101 Eine andere, aber durchaus ähnliche
Maßnahme war die von Wien aus geplante Etablierung einer über-nationalen
und über-konfessionellen „bosnischen Volkskunde“. Diese erschien den Wiener
Volkskundlern nämlich – so wie sie Bosnien-Herzegowina als Verkleinerung
des cisleithnischen Landesteils sahen – wie eine Miniatur der österreichischen
Volkskunde.
So wie die politischen Bemühungen für die Herstellung eines bosnischen
Landesbewusstseins scheiterten und auch die Erfindung eines „bosnischen Stils“
keinen Erfolg hatte, gelang es auch der österreichischen Volkskunde nicht, eine
„bosnische Volkskunde“ dauerhaft in Sarajevo zu etablieren. Die Gründe für
ihr Scheitern ähnelten dabei jenen, die den zeitgleich in Tirol unternommenen
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Versuch, eine Italiener und Deutsche gemeinsam behandelnde „welschtirolische


Volkskunde“ zu begründen, zum Misserfolg machten – und sie waren auch
nicht sehr unterschiedlich zum Bedeutungsverlust jener „südslavischen Volks-
kunde“, die Anfang der 1880er Jahre Friedrich S. Krauss zu initiieren suchte. Als
über-nationale Volkskunden – und so war letztlich auch das Schicksal der k. k.
österreichischen Volkskunde – scheiterten sie an den von Tag zu Tag dominan-
ter werdenden nationalen Wirklichkeiten.

Volkskunde der besetzten Balkangebiete


Im Jahr 1908 hatte Erzherzog Franz Ferdinand das Protektorat über den Verein
und das Museum für österreichische Volkskunde übernommen. Mit kaiserlichem
Beschluss vom 3. August 1911 durfte das Museum zudem den ehrenden Zu-
satz „kaiserlich-königlich“ führen. Was sich somit als positive Entwicklung der
österreichischen Volkskunde abzeichnete, wurde am 28. Juli 1914 aber abrupt
unterbrochen: Das Museum für österreichische Volkskunde bedauerte sofort den
Tod „seines unvergeßlichen Protektors, der als Beschirmer des österreichischen
Staatsgedankens und der österreichischen Kulturmission der Mordkugel von
Sarajevo zum Opfer“ gefallen war.102 Die österreichische Volkskunde nutzte in
der Folge – ein weiteres Mal – eine Chance, die diesmal allerdings der Kriegs-

101 Reynolds, Diana: Die österreichische Synthese. Metropole, Peripherie und die kunst-
gewerblichen Fachschulen des Museums. In: Noever, Peter (Hg.): Kunst und Industrie.
Wien: Hatje Cantz, pp. 203–217.- Vgl. dazu auch den Beitrag von Maximilian Hartmuth
im vorl. Sammelband.
102 Haberlandt, Michael: Tätigkeitsbericht des k. k. Museums für österreichische Volkskunde
für das Jahr 1914. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 21–22 (1915–16), pp. 26–30.

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354 Reinhard Johler

verlauf auf dem Balkan eröffnete und ihr Untersuchungsfeld auf die von der
k. u. k. Armee besetzten Balkanländer erweitert hatte.103 Deren „wissenschaft-
liche Erforschung“ sah man ganz in der Tradition jener „Pflege der Volkskunde
und Volkskunst der Okkupationsgebiete“, wie sie „seit Dezennien“ von Verein
und Museum betrieben worden war.104 Dabei kam dem Sohn von Michael Ha-
berlandt, dem 1889 geborenen, 1911 promovierten und 1914 an der Universität
Wien habilitierten Arthur Haberlandt eine besonders große Bedeutung zu. Er
sollte von diesen Forschungen so nachhaltig geprägt werden, dass er sein gan-
zes Leben ein „intensives Verhältnis vor allem zur slawischen Volkswelt“ haben
sollte.105
Arthur Haberlandt war als Kriegsfreiwilliger an der Balkanfront zweimal
leicht verwundet worden, bekam dann aber – unterstützt von seinem Vater – die
Gelegenheit, sich an wissenschaftlichen Unternehmungen am Balkan beteiligen
zu können. Die wohl wichtigste war die 1916 vom k. k. Ministerium für Kul-
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tus und Unterricht initiierte und von der kaiserl. Akademie der Wissenschaften
in Wien entsandte „kunsthistorisch-archäologisch-ethnografisch-linguistische
Balkanexpedition nach den von den österreichisch-ungarischen Truppen be-
setzten Gebieten des südöstlichen Kriegsschauplatzes: Montenegro, Albanien
und Serbien.“ An dieser dreimonatigen „Expedition“ nahmen neben Haberlandt
auch Linguisten, Archäologen, Slawisten und Kunsthistoriker teil. Der Ertrag
dieser interdisziplinären Erhebungen – für die Volkskunde waren dies vor allem
fotografische und künstlerische Dokumentationen, Objekte und anthropologi-
sche Messungen – war entsprechend der gestellten „Aufgabe der Expedition in
ethnografischer Hinsicht“ vorgegeben:
eine Orientierung über die wichtigsten Bevölkerungsverschiebungen während des
Krieges zu erlangen; Vorarbeiten zur Anfertigung einer einwandfreien, die gegen-
wärtigen Verhältnisse wiedergebenden ethnografischen Karte, beziehungsweise
Kontrollierung des vorhandenen ethnografischen Kartenmaterials, besonders für die
serbisch-montenegrinisch-albanischen Grenzgebiete; Feststellung der Stammesbezie-
hungen und Blutracheverhältnisse; Orientierung über bedrohte volkskünstlerische
Denkmäler und entwicklungsfähige Hausindustrien.106

103 Zur Rolle der Volkskunde bzw. Anthropologie im Ersten Weltkrieg vgl. Johler, Reinhard /
Marchetti, Christian / Scheer, Monique (Hg.): Doing Anthropology in Wartime and War
Zones. World War I and the Cultural Sciences in Europa. Bielefeld: transcript 2010.
104 Zur wissenschaftlichen Erforschung der besetzten Balkanländergebiete. In: Zeitschrift für
österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 91–92.
105 Schmidt, Leopold: Arthur Haberlandt zum Gedächtnis. Nachruf und Bibliografie. In: Ös-
terr. Zeitschrift für Volkskunde XVII/67 (1964), pp. 217–271.
106 Österreichische Balkanexpedition. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 21–22 (1915–16),
p. 176.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 355

Diese auf Verwaltung, Wiederaufbau und militärische Kontrolle verweisenden


Zielvorgaben wurden von Seiten des Wiener Museum für österreichische Volks-
kunde noch um einen weiteren, wichtigen Punkt ergänzt: Kriegspropaganda.
So organisierte das Museum 1916 im k. k. Österreichischen Museum für Kunst
und Industrie eine aus eigenen Beständen zusammengestellte „Ausstellung von
Volksarbeiten aus den Balkanländern“107. Und Anfang 1918 wurde im Festsaal
der Wiener Universität mit großem Erfolg und unter Teilnahme von promi-
nenten Gästen die Ausstellung „Zur Volkskunde der besetzten Balkangebiete“
gezeigt. Diese stellte den materiellen Ertrag der „Balkanexpedition“ dar, ließ die
Veranstalter aber auch auf jene „Früchte eines Zusammenwirkens von Front
und Wissenschaft“ verweisen, „wie es vor dem Weltkriege nie gedacht werden
konnte.“108
Damit direkt angesprochen war der enge, gerade am Balkan realisierte Zu-
sammenhang von österreichischer Volkskunde und Krieg.109 Dies betraf die Or-
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ganisation und die Durchführung der „Balkanexpedition“, waren doch die betei-
ligten Forscher vom Kriegsdienst freigestellt worden. Gleichzeitig nutzten diese
in vielfältiger Weise während ihrer Erhebungen militärische Einrichtungen und
versuchten dabei, mit ihren Ergebnissen gleichzeitig auch den Militärs nützlich
zu sein. Dies zeigt sich etwa in einer an das Wissenschaftliche Komitee des k. u. k.
Kriegsminsteriums gerichteten „Denkschrift“ in der die für das Kriegsgeschehen
am dringlichsten scheinenden volkskundlichen Aufgaben aufgezählt wurden:
Namentlich wird auch auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, die gewonne-
nen ethnografischen und geografischen Erfahrungen zur Verbreitung eines grösseren
Wissens über die Ländergebiete unter allen Gebildeten auszuwerten, und zwar 1.
durch Aufnahme kurzer Aufsätze über Land und Leute auf der Balkanhalbinsel in die
Lehrbücher der militärischen Schulen; 2. Herstellung von Kinematogrammen und
Lichtbildern für Unterrichtszwecke; 3. Verbreitung kleiner lesbarer Leitfäden über
Land und Leute zum Gebrauch für Offiziere und Verwaltungsbeamte.110

Solche Intentionen einer „praktischen Volkskunde“ sind von Direktor des Mu-
seums für österreichische Volkskunde, Michael Haberlandt noch weiter verstärkt

107 Ausstellung von Volksarbeiten aus den Balkanländern. In: Zeitschrift für österr. Volkskun-
de XXI-XXII (1915–16), pp. 201–202.
108 Volkskundliche Ausstellung des Kaiser Karl-Museums aus den besetzten Balkangebieten.
In: Zeitschrift für österr. Volkskunde 24 (1918), pp. 52–53.
109 Marchetti, Christian: Mobilisierung und Disziplinierung. Volkskunde und Balkanexpe-
dition im 1. Weltkrieg. In: Johler, Reinhard / Matter, Max / Zinn-Thomas, Sabine (Hg.):
Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung.
Münster et al.: Waxmann 2011, pp. 418–424.
110 Zur wissenschaftlichen Erforschung der besetzten Balkanländergebiete. In: Zeitschrift für
österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 91–92.

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356 Reinhard Johler

worden. Haberlandt hatte nämlich 1918 für die Österreichische Waffenbrüder-


liche Vereinigung eine Broschüre über „Die nationale Kultur der österreichi-
schen Völkerstämme“ verfasst. Diese sollte in großer Auflage an der Front zur
Verbreitung gelangen. Deren propagandistischer Inhalt erwies sich durch das
schnelle Kriegsende zwar als obsolet, beinhaltete aber doch noch einmal die
wesentlichen Punkte der k. k. österreichischen Volkskunde: ein staatstragendes
Verständnis, das die Habsburgermonarchie durch Natur und Geschichte, aber
auch durch ihre multi-nationale Vielfalt begründet sah; eine evolutionistisch
konzipierte und weiträumig vergleichende Ausrichtung; eine behauptete wis-
senschaftliche Unparteilichkeit und Neutralität; eine gewollte „deutsche kultu-
relle Führung der Stämme Österreichs“ und damit die Betonung ihrer „Kultur-
mission“ – in der Monarchie im Ganzen und auf dem Balkan im Besonderen.111

Bosniens volkskundliches Erbe


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Noch während des Krieges hatte Arthur Haberlandt nicht nur erste „Berichte“
seiner „ethnografischen Arbeiten im Rahmen der historisch-ethnografischen
Balkanexpedition“112, sondern 1917 in Buchform auch bereits seine „Kultur-
wissenschaftlichen Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und
Serbien“113 veröffentlicht. 1919 ließ er die „Volkskunst der Balkanländer in ihren
Grundlagen erläutert“114 folgen. Von gleicher wissenschaftlicher Betriebsamkeit
war auch sein Vater Michael Haberlandt geprägt. Er publizierte 1920 sein Buch
Die Völker Europas und des Orients.115
Diese Veröffentlichungen sind noch ganz im Kontext einer, trotz des Krieges
im Aufschwung befindlichen österreichischen Volkskunde zu verstehen. Das
lange in einem Provisorium existierende Museum für österreichische Volkskunde
konnte 1917 in das Palais Schönborn übersiedeln und hatte gleichzeitig die Er-
laubnis bekommen, sich Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde zu

111 Haberlandt, Michael: Die nationale Kultur der österreichischen Völkerstämme. Heraus-
gegeben von der Österreichischen Waffenbrüderlichen Vereinigung. Wien et al.: Fromme
1918.
112 Haberlandt, Arthur: Bericht über die ethnografischen Arbeiten im Rahmen der histo-
risch-ethnografischen Balkanexpedition. In: Mitteilungen der Geografischen Gesellschaft
in Wien LIX (1916), pp. 736–742.
113 Haberlandt, Arthur: Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro,
Albanien und Serbien. Wien: Verein für öster. Volkskunde 1917.
114 Haberlandt, Arthur: Volkskunst der Balkanländer in ihren Grundlagen erläutert. Wien:
Schroll 1919.
115 Haberlandt, Michael: Die Völker Europas und des Orients. Leipzig, Wien: Bibliografi-
sches Institut 1920.

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Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die österreichische Volkskunde 357

nennen.116 Kein Wunder daher, dass man sich angesichts des ersehnten Sieges
erhoffte, die eigene „Balkan-Abteilung“ zu einer „kulturwissenschaftlichen Zen-
trale für alle Balkanländer und deren Bevölkerung sich beziehenden Aktionen
und Arbeiten“ machen zu können.117
Die Kriegsniederlage und der Untergang der Habsburgermonarchie haben
diesen Träumen ein schnelles Ende bereitet. „Der große Angriff nach dem Süd-
osten“, so hat der Doyen der österreichischen Volkskunde Leopold Schmidt in
seiner 1960 veröffentlichten Geschichte des Österreichischen Museums für Volks-
kunde festgehalten, „musste Stückwerk bleiben“ und war ebenso „utopisch“ wie
das mit der Ethnografischen Commission118 begonnene Wiener Bemühen um eine
„europäische Völkerkunde“.119 Paradoxerweise hat die österreichische Volks-
kunde ihre universitäre Etablierung auch erst unter nationalstaatlicher Flagge
in den 1920er und 1930er Jahren des 20. Jahrhunderts als „deutsche Volkskunde“
gefunden. Erst dadurch hat sie sich von der internationalen anthropologischen
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Wissenschaftsentwicklung abgeschnitten, die ihren Anfang so stark geprägt


hat.120
Was aber geblieben ist, sind die in Wiener Museen aus Bosnien-Herzegowina
gesammelten Musemsobjekte.121 Manche von diesen sind im 1917 eröffneten
Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde gezeigt worden. 1920 dienten
sie und das Museum dann dazu, „als Wahrzeichen Deutsch-Österreichs und
seiner kulturellen Mission in seiner bisherigen Völkerumwelt“122 herzuhalten
und 1930 bildeten sie im Raum X „Jugoslawien“ den „bosnischen Teil“.123 Heute
sind sie nach der 1994/95 gezeigten Ausstellung Bosnien. Zwischen Okkupation

116 Haberlandt, Michael: Das Kaiser Karl-Museum für österreichische Volkskunde. In: Zeit-
schrift für österr. Volkskunde 23 (1917), pp. 1–6.
117 Tätigkeitsbericht des K. k. Kaiser Karl-Museums für österreichische Volkskunde für das
Verwaltungsjahr 1917. In: Zeitschrift für österr. Volkskunde (24) 1918, pp. 57–68.
118 Schmidt, Leopold: Das österreichische Museum für Volkskunde. Werden und Wesen
eines Wiener Museums. Wien: Bergland 1960.
119 Vgl. dazu im Kontext europäischer Museumsentwicklung: Johler, Reinhard: The Inven-
tion of the Multicultural Museum in the Late Nineteenth Century: Ethnografy and the
Presentation of Cultural Diversity in Central Europe. In: Austrian History Yearbook XLVI
(2015), pp. 1–17.
120 Gingrich, Andre: Science, Race, and Empire. Ethnografy in Vienna before 1918. In: East
Central Europe 43 (2016), pp. 41–63.
121 Vgl. dazu auch: Marchetti, Christian: Kriegserfahrung und museale Sedimente. Das Mu-
seum für österreichische Volkskunde. In: Kott, Christina / Savoy, Bénédicte (Hg.): Mars
und Museum. Europäische Museen im Ersten Weltkrieg. Köln, Weimar, Wien: Böhlau
2016, pp. 69–82.
122 Führer durch das Museum für Volkskunde. Wien: Eigenverlag 1921.
123 Haberlandt, Arthur: Führer durch das Museum für Volkskunde. Wien: Eigenverlag 1930.

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358 Reinhard Johler

und Attentat. Die Bosniensammlung des Österreichischen Museum für Volkskunde


fast ausnahmslos im Depot.
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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“359

„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“

Zur Internationalisierung des bosnischen Wortschatzes nach


der k. u. k. Okkupation

Nedad Memić (Wien)


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1. Einführung
Die österreichisch-ungarische Epoche in Bosnien-Herzegowina dauerte relativ
kurz. In nur 40 Jahren (1878–1918) erlebte aber das ganze Land einen starken
Emanzipationsprozess, dessen Folgen auch fast hundert Jahre danach in vielen
Lebensbereichen dieses Balkanstaates sichtbar sind. Die österreichisch-unga-
rische Verwaltung hat das Aussehen vieler bosnisch-herzegowinischer Städte
nicht nur nachhaltig verändert, sie hat auch eine für die damalige Zeit fort-
schrittliche mitteleuropäische Lebensweise in die vormals von den Osmanen
regierten Provinzen Bosnien und die Herzegowina gebracht. Es wäre an dieser
Stelle schier unmöglich, alle Reformen zu erwähnen, welche die k. u. k. Adminis-
tration in Bosnien-Herzegowina durchführte, um das Land in den Apparat der
Donaumonarchie einzugliedern: Straßen wurden nummeriert, die Verwaltung
neu organisiert, das erste staatliche Schulsystem des Landes errichtet und Glau-
bensgemeinschaften reformiert. All das geschah parallel zur Industrialisierung
des Landes. Obwohl der administrative Status Bosnien-Herzegowinas bis zur
Annexion 1908 unklar war und die Donaumonarchie relativ wenig tat, um die
politische Situation im Lande nachhaltig zu konsolidieren, wurde Bosnien-Her-
zegowina unmittelbar nach der Okkupation in die k. u. k. Zollverwaltung ein-
gegliedert; in der neuformierten Administration fanden aber fast ausschließ-
lich nur Beamte einen Platz, die aus anderen Teilen der Donaumonarchie nach
Bosnien-Herzegowina zuzogen.1 Beide Provinzen wurden schließlich zu einem
„Reichsland“ erklärt und direkt dem österreichisch-ungarischen gemeinsamen
Finanzministerium unterstellt.

1 Für einen kompakten Überblick über die Geschichte Bosniens unter k. u. k. Verwaltung
vgl. Malcolm, Noel: Geschichte Bosniens. Frankfurt/M.: Fischer 1996, hier p. 170.

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360 Nedad Memić

Die zugezogenen Beamten und Offiziere stammten mehrheitlich aus anderen


südslawischen Gebieten der Donaumonarchie. Nach manchen Schätzungen ka-
men während der gesamten Okkupations- und Annexionszeit mehr als 100.000
von ihnen ins Land.2 Ihr Lebensalltag war bereits mitteleuropäisch geprägt und
sie begannen ihn nun auch in Bosnien-Herzegowina zu praktizieren. So waren
bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erste Anzeichen eines mitteleuro-
päisch ausgerichteten Kulturlebens in den bosnisch-herzegowinischen Städten
spürbar. Eine neue autochtone Intelligenzija war im Entstehen begriffen. Dazu
trugen insbesondere die Bemühungen der Okkupationsverwaltung bei, ein
Schulsystem im Land zu errichten. So wurde im November 1879 – nur ein Jahr
nach der Okkupation – das erste Gymnasium österreichischen Typs eröffnet:
das erste öffentliche Realgymnasium in Sarajevo, das dann 1883 in ein klassi-
sches Gymnasium umgewandelt wurde. In Mostar entstand wenige Jahre später
(1893) ebenfalls ein klassisches Gymnasium.3 Die k. u. k. Verwaltung bemühte
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sich zwar nicht um die Errichtung einer Universität in Bosnien-Herzegowina,


in den 1880er Jahren wurde aber die erste wissenschaftliche Institution des
Landes eröffnet – das Landesmuseum. Dieser Institution und ihren Mitarbeitern
ist zu verdanken, dass insbesondere das archäologische, botanische und ethno-
grafische Material aus der Geschichte und Gegenwart Bosnien-Herzegowinas,
aber auch des gesamten Balkanraums gut erforscht und dem wissenschaftlichen
Publikum in der ganzen Welt zugänglich gemacht worden ist.4
Doch das ist nicht alles. Die österreichisch-ungarische Präsenz in Bosni-
en-Herzegowina stärkte auch Nationalbewegungen der bosnisch-herzegowini-
schen Volksgruppen – es wurden erste Kulturvereine eröffnet: 1892 der jüdische
Kulturverein „La Benevolencija“, 1902 der serbische „Prosvjeta“, es folgten die
bosnischen Muslime (im weiteren Text Bosniaken) mit dem Verein „Gajret“
(1903) und die Kroaten mit „Napredak“ im Jahre 1904. Es wurden Kulturzei-
tungen und -zeitschriften ins Leben gerufen; die meisten entstanden in den
Kulturvereinen, wie Behar bei den Bosniaken oder Bosanska vila und Zora bei
den Serben bzw. Bosanac bei den Kroaten. Besonders populär war aber die in-
terkonfessionelle Zeitschrift Nada, deren Gründung aus einer Initiative des ge-

2 Ibid.
3 Siehe Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche
(1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München: Oldenbourg
1994, p. 76.
4 Die Entstehung dieses Beitrags ist ebenfalls dem Landesmuseum Bosnien-Herzegowinas
in Sarajevo zu verdanken, das in seiner bestandsreichen Bibliothek auch jene Ausgabe
der Zeitung Bosnische Post aufbewahrt, die als Quelle für die sprachliche Analyse heran-
gezogen wurde. Deshalb ist dieser Aufsatz auch dieser wertvollen Institution gewidmet,
die seit der Unterzeichnung des Daytoner Abkommens immer wieder um ihre Existenz
bangen muss.

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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“361

meinsamen Finanzministers Kállay resultierte. Es kam zur Entfaltung des Thea-


terlebens; Gesangsvereine und andere Kulturträger wurden ins Leben gerufen.

2. Zur Sprachfrage während der k. u. k. Zeit


Während der osmanischen Herrschaft entwickelten sich in Bosnien-Herzegowi-
na unterschiedliche schriftsprachliche Traditionen. Sie waren ausschließlich an
die jeweilige Religionsgemeinschaft gebunden.5 Unmittelbar vor der Okkupa-
tion wurde die erste Staatsdruckerei gegründet, die die erste bosnische Zeitung,
den Bosanski vjestnik, herausbrachte. Die Druckerei wurde 1866 auf Einladung
des liberalen türkischen Statthalters Topal Osman-Pascha vom Semliner Dru-
cker Ignaz Sopron eröffnet.6 Obwohl der Bosanski Vjestnik im ersten Jahr ge-
rade einmal fünf Monate lang erschien (25 Nummern) und im darauffolgenden
Jahr (1867) nicht einmal drei Monate lang (12 Nummern), ist seine Existenz für
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die Auseinandersetzung mit der Sprachpolitik in Bosnien-Herzegowina vor der


k. u. k. Okkupation wichtig. Eine der wichtigsten Charakteristika der Sprache im
Bosanski Vjestnik ist die Übernahme der reformierten kyrillischen Orthografie
des serbischen Sprachreformators Vuk Karadžić durch Ignaz Sopron, der die
ersten 19 Nummern redigierte, bzw. durch seinen Nachfolger, den Journalisten
Miloš Mandić. Bosnien-Herzegowina war somit das erste Land des ehemaligen
serbokroatischen Sprachraums, das die Vuksche Rechtschreibung inoffiziell ein-
geführt hat.7 Offiziell gültig wurde die reformierte Rechtschreibung erst zur
Okkupationszeit im Jahre 1883. Kroatien schloss sich der reformierten Recht-
schreibung sogar erst 1892 an.
Die k. u. k. Okkupationsverwaltung fand somit 1878 in Bosnien-Herzegowina
folgende Sprachsituation vor: Die seltenen Periodika, die in der Landessprache
gedruckt wurden, folgten der Vukschen Rechtschreibung (jedoch nicht ein-
wandfrei). Die orthodoxe Bevölkerung benutzte im Schriftverkehr die Kyrilliza
und die sog. phonologische (reformierte) Rechtschreibung. Die katholische Be-
völkerung bediente sich der lateinischen Schrift und schrieb etymologisch, ob-
wohl bei manchen Autoren auch die phonologische Schreibung anzutreffen war.

5 Zur sprachlichen Situation in Bosnien-Herzegowina vor der k. u. k. Okkupation vgl.


Okuka, Miloš: Eine Sprache – viele Erben. Sprachpolitik als Nationalisierungselement
in Ex-Jugoslawien. Klagenfurt: Wieser 1998 (= Österreichisch-bosnische Beziehungen 4),
p. 41ff.
6 Vgl. Neweklowsky, Gerhard: Zur Sprache des Bosanski Vjestnik 1866. In: Ders. (Hg.):
Herrschaft, Staat und Gesellschaft in Südosteuropa aus sprach- und kulturhistorischer
Sicht. Erneuerung des Zivilisationswortschatzes im 19. Jahrhundert. Akten des Int. Sym-
posiums 2.-3. März 2006. Wien: Verlag der ÖAW 2007 (= Schriften der Balkan-Kommis-
sion 48), pp. 197–209.
7 Vgl. Okuka 1998, p. 52.

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362 Nedad Memić

Die muslimische Bevölkerung benutzte die Arabica (die bosniakische Variation


der persisch-arabischen Schrift) und bosnische Kyrilliza (auch Bosančica, Bego-
vica oder bosnische Schrift genannt) und schrieb meist phonologisch. Jedoch
schien sich die arabische Schrift nicht durchzusetzen.8 Noch interessanter war
die Benennung der Landessprache: Man stieß schon damals auf Begriffe wie Il-
lyrisch, Slawisch, usw., aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine
ethnisch differenzierte Sprachbenennung eindeutig im Vormarsch: So benann-
ten die Serben ihre Sprache vorwiegend Serbisch, die Kroaten Kroatisch und die
Bosniaken variierten zwischen Serbisch und Kroatisch, entschieden sich aber
meist für die Bezeichnung Bosnisch, die in ihrer schriftsprachlichen Tradition
und als offizielle Sprachbezeichnung zur osmanischen Zeit bereits verankert
war. Schon damals kursierte aber auch die Bezeichnung Serbo-Kroatisch.9
Während der österreichisch-ungarischen Zeit konnte man nach Milan Šipka
vier Phasen der k. u. k. Sprachpolitik feststellen.10 Sie widerspiegelten sich in
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erster Linie in der Benennung der Landessprache.


• Unmittelbar nach der Okkupation zeigt sich in der Sprachpolitik eine pro-
kroatische Haltung: die Landessprache wurde als „Kroatisch“ bezeichnet und
die Schreibweise im administrativen Gebrauch war etymologisch geprägt.
Dies ist General Joseph von Philippovich, dem Oberbefehlshaber der Okku-
pationstruppen, zu verdanken, der Kroate war.
• Nachdem 1882 Benjamin von Kállay zum Gemeinsamen Finanzminister Ös-
terreich-Ungarns ernannt worden war, versuchte er in Bosnien-Herzegowina
die politische Idee eines integralen Bosniertums (bošnjaštvo) zu propagieren.
Dementsprechend forcierte er stark die Benennung „bosnische Sprache“ in
der lokalen Verwaltung. Während eine solche Idee in einigen bosniakischen
Intellektuellenkreisen begrüßt wurde, stieß sie auf heftigen Widerstand unter
serbischen und kroatischen Intellektuellen. Einige Serbokroatisten und ju-
goslawische Historiker behaupten, sogar Frane Vuletić, der Autor der ers-
ten Grammatik der bosnischen Sprache (1890), die für interkonfessionelle

8 Vgl. Okuka, Miloš: Književnojezička situacija u Bosni i Hercegovini za vrijeme austrou-


garske vladavine [Die literatursprachliche Situation in Bosnien-Herzegowina zur Zeit
der österreichisch-ungarischen Verwaltung]. In: Ders. / Stančić, Ljiljana: Književnijezik u
Bosni i Hercegovini od Vuka Karadžića do kraja austrougarske vladavine [Die Literatur-
sprache in Bosnien-Herzegowina von Vuk Karadžić bis Ende der österreichisch-ungari-
schen Zeit]. München: Slavica 1991 (= Geschichte, Kultur und Geisteswelt der Südslawen
N.S. 2), p. 53.
9 Ibid., p. 53.
10 Šipka, Milan: Standardni jezik i nacionalni odnosi u Bosni i Hercegovini. Dokumenti
[Standardsprache und nationale Beziehungen in Bosnien-Herzegowina]. Sarajevo: Insti-
tut za jezik 2011 (= Posebna izdanja Instituta za jezik 11), p. 28ff.

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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“363

Schulen vorgesehen war und im Auftrag der bosnischen Landesregierung


verfasst wurde, habe gegen die Bezeichnung „Bosnisch“ protestiert und woll-
te schließlich als Autor derselben nicht genannt werden.11 Ihnen gegenüber
zeigt Muhamed Šator in seiner späteren Analyse des Originalmanuskripts der
Gramatika bosanskoga jezika, dass es keine festen Indizien dafür gibt, dass
Vuletić seine Autorenschaft verweigerte. Außerdem seien damals Lehrbücher
üblicherweise ohne Autorennamen veröffentlicht worden.12
• Die dritte Phase trat im Jahre 1907 ein, als unter Kállays Nachfolger Stephan
Burián die bosnische Idee für gescheitert erklärt wurde und „Serbo-Kroa-
tisch“ als offizielle Amtsbezeichnung in den Schulen und öffentlichen Insti-
tutionen eingeführt wurde. Damit wurde Bosnien-Herzegowina zum ersten
Balkanland, dessen Sprache offiziell „Serbo-Kroatisch“ genannt wurde. In
ganz Jugoslawien wurde diese Bezeichnung erst 47 Jahre danach – im Jahre
1954 – nach dem sog. Novisader Sprachabkommen eingeführt.
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• Schließlich spricht man von einer vierten Phase nach 1914, die sich durch
eine serbenfeindliche Haltung auszeichnete – die kyrillische Schrift wurde
verboten, die Sprachbezeichnung blieb aber weiterhin „Serbo-Kroatisch“.
Trotz der gespannten sprachpolitischen Lage zur k. u. k. Zeit in Bosnien-Herze-
gowina hat die damalige Landesregierung einige zukunftsweisende Beschlüsse
gefasst. So entschied sie sich im Jahre 1883 offiziell für die Einführung der pho-
nologischen Rechtschreibung nach dem Prinzip Vuk Karadžićs. Es wurde eine
Kommission aus Vertretern aller drei Konfessionen ins Leben gerufen, die sich
um die Sprache in den Schulbüchern kümmern sollte. Nach den Empfehlun-
gen dieses Gremiums wurde auch die besagte erste bosnische Grammatik von
Vuletić verfasst. Somit ist diese Grammatik eines der ersten modernen Sprach-
handbücher, die im sog. „Süddialekt“ („Južno narječje“) geschrieben wurde, also
im Neustokawischen als Basis der späteren serbokroatischen/kroatoserbischen
Sprache bzw. des heutigen Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und
Serbischen.13
Parallel zur Diskussion um den Status der Landessprache, deren Benennung
und die Sprachpolitik im Allgemeinen befand sich die Sprache in Bosnien-Her-
zegowina einer starken Internationalisierung ihres Wortschatzes ausgesetzt.
Mit der Etablierung der neuen k. u. k. Verwaltung, zahlreichen Reformen und
nicht zuletzt mit der Einführung eines westlich geprägten Lebensstils wurden

11 Vgl. Okuka 1998, p. 55.


12 Vgl. Šator, Muhamed: Bosanski/hrvatski/srpski jezik u BiH do 1914 [Bosnische/kroati-
sche/serbische Sprache in Bosnien-Herzegowina bis 1914]. Mostar: fhn 2004, p. 103.

13 Vgl. Okuka 1991, p. 55.

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364 Nedad Memić

auch zahlreiche Ausdrücke und Fachtermini ins einheimische Idiom übernom-


men. In diesem Prozess spielte Deutsch als Lingua franca der Habsburgermon-
archie eine führende Rolle. Deutsch war während der gesamten k. u. k. Zeit die
Sprache des inneren Amtsverkehrs der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung.
Im Konkreten bedeutete dies, dass die Finanz-, Gerichts- und Zivilverwaltung in
Bosnien-Herzegowina nach dem sog. österreichischen Modell eingerichtet wur-
de, und da dieses Land als Reichsland direkt dem Gemeinsamen Finanzministe-
rium in Wien unterstellt war, in dem Deutsch als Amtssprache fungierte, schlug
sich das auch auf das Amtswesen in Bosnien-Herzegowina nieder. Die Okku-
pationsverwaltung schuf allmählich einen komplett neuen Verwaltungsapparat,
in dem Beamte aus der Monarchie die Schlüsselpositionen einnahmen. Eine
der Bedingungen für die Aufnahme in die Landesverwaltung war die Kennt-
nis der „Landessprache“, jedoch war dies nicht in allen Fällen obligatorisch,
so dass nach Bosnien-Herzegowina auch viele Beamte kamen, die des lokalen
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Idioms nicht mächtig waren.14 Was den Parteienverkehr betraf, so wurde die
Verwendung der Amtssprache(n) nicht systematisch geregelt, sondern durch
entsprechende Erlässe in der Justiz, im Gerichts- sowie im Schulwesen separat
definiert. Seit Anbeginn wurde mit der lokalen Bevölkerung in der Landesspra-
che kommuniziert; Anträge konnten aber außer in der Landessprache auch auf
Deutsch, Ungarisch und Türkisch gestellt werden.15 Außerdem mussten alle
Gerichtsbeamten des Deutschen mächtig sein.
Eine gewisse Verfestigung des Deutschen als Amtssprache trat nach dem
Rücktritt der Okkupationsverwaltung General Philippovichs bzw. nach der
Übernahme des Gemeinsamen Finanzministeriums durch Benjamin Kállay ein.
Im provisorischen Regierungsstatut vom 16. Februar 1879 wurde festgelegt, dass
die Amtskommunikation der Landesregierung mit den Magistraten in den Städ-
ten auf „Serbo-Kroatisch“, mit Bezirken und höheren Verwaltungsebenen aber
auf Deutsch zu vollziehen wäre.16 Dazu war Deutsch seit 1881 die Amtssprache
des inneren Gerichtsverkehrs und die Dienstsprache in der k. u. k. Armee. So
musste die Korrespondenz sämtlicher Verwaltungsebenen mit dem Militär auf
Deutsch geführt werden. Die Kommunikation der bosnischen Landesregierung

14 Vgl. Juzbašić, Dževad: Jezička politika austrougarske uprave i nacionalni odnosi u Bosni
i Hercegovini [Die Sprachpolitik der österreichisch-ungarischen Verwaltung und natio-
nale Beziehungen in Bosnien-Herzegowina]. In: Ders.: Politika i privreda u Bosni i Her-
cegovini pod austrougarskom upravom [Politik und Wirtschaft in Bosnien-Herzegowina
unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung]. Sarajevo: Akademija nauka i umjet-
nosti Bosne i Hercegovine 2002 (= Odjeljenje društvenih nauka 35), p. 386.
15 Ibid., p. 390.
16 Vgl. ibid., p. 392.

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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“365

mit anderen Ministerien aus der Monarchie verlief ebenfalls auf Deutsch (außer
mit Dalmatien).17

3. Auf der Spur eines Artikels in der Bosnischen Post


Die Bosnische Post war das einflussreichste deutschsprachige Blatt für Politik
und Wirtschaft im k. u. k. Bosnien-Herzegowina. Das Blatt erschien in Sarajevo
34 Jahre lang – von 1884 bis 1918 – und ist somit eines der wichtigsten Medien
der Epoche. Das Blatt wurde drei bis vier Mal pro Woche publiziert, seine Auf-
lage belief sich auf 960 Exemplare im Jahre 1907.18
In ihrer Nummer. 2 vom 9. Jänner 1889 veröffentlichte die Bosnische Post auf
der Seite. 2 einen Artikel mit dem Titel „Tagesbericht“ und dem Untertitel „Neue
Worte in Bosnien und der Hercegovina“ mit einer Liste von 183 Wörtern, die
angeblich seit dem Beginn der österreichisch-ungarischen Okkupation nach
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Bosnien-Herzegowina eingedrungen waren. Diese Zusammenstellung beruhte


allerdings auf einem Artikel in einer kroatischen Zeitung. Im Vorwort dieser
Liste steht: „In einer seiner letzten Nummern bringt Obzor eine ganze Reihe von
Worten welche die bosnisch-herzegowinische Bevölkerung erst seit der Occu-
pation gelernt hat, und die in der That hier zu Lande bereits gang und gäbe sind.“
Anschließend folgt die Liste, die folgende Wörter beinhaltet; die Schreibung und
Zeichensetzung des Originals wurden beibehalten:
Situacija. Civilizacija. Diplomacija. Korespondencija. Intervencija. Inteligencija. Kon-
ferencija. Konvencija. Proklamacija. Okupacija. Simpatija. Dinastija. Amnestija. Depu-
tacija. Aristokracija. Instrukcija. Audijencija. Interpelacija. Organizacija. Birokracija.
Procedura. Reforma. Protekcija. Koncesija. Privilegija. Statut. Dekret. President. Šef. Ek-
selencija. Adlatus. Direktor. Hofrat. Regirungsrat. Sekretär. Koncept. Kancelist. Koncepist.
Diurnist. Dragomanat. Agjutant. Kataster. Presidium. Registratura. Arhiva. Ekspedici-
ja. Administracija. Pensija. Financija. Garancija. Kaucija. Ekonomija. Eksproprijacija.
Limitacija. Likvidacija. Kolaudacija. Kvita. Paušal. Culag. Foršus. Profit. Eksekucija.
Konfuzija. Skandal. Mobilizacija. Intendanzija. Licitacija. Lieferacija. Špekulacija. Ko-
munikacija. Vadium. Akcija. Kultura. Industrija. Literatura. Akademija. Preparandija.
Realka. Gimnazija. Knabenpensionat. Stipendija. Student. Profesor. Justicija. Kombina-
cija. Apelacija. Debata. Auskultant. Intabulacija. Advokat. Profit. Ekstra. Prokuratura.
Provizorium. Specijalitet. Demokracija. Magistrat. Inžinir. Arhitekt. Central. Teritorium.
Kanalizacija. Remiza. Tratuar. Vagun. Kondukter. Stacija. Policija. Denuncija. Peršup.
Filozofija. Fantazija. Fisikus. Analizacija. Demoliranje. Konzistorium. Instalacija. Cere-
monija. Triumpf. Propaganda. Germanizam. Magyarizam. Despotizam. Apsolutizam.
Feudalizam. Turkofil. Karakter. Ferdehter. Lojalitet. Material. Original. Definitivum.

17 Ibid., p. 393.
18 Džaja 1994, p. 94.

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366 Nedad Memić

Transport. Transenal. Urlaub. Konzorcija. Restauracija. Koncert. Tribuna. Tombola.


Rezerva. Revizija. Rekurirati. Režija. Deložirati. Fakelzug. Festzug. Arsenal. Artilerija.
Infanterija. Kavalerija. Asentirung. Ženija. Fortifikacija. Inspekcija. Adresa. Element.
Nihilist. Panslavizam. Socialist. Komunist. Atentat. Dinamit. Bomba. Idea. Konstitucija.
Liberacija. Autonomija. Monarhija. Anarhija. Elaborat. Resultat. Memorandum. Aneksi-
ja. Opozicija. Demonstracija. Konferencija. Ultimatum. Agitacija. Natirlih. Servus. Fertik.
Ecetera.

Die aufgelisteten Wörter weisen keine bewusste Selektierung hinsichtlich des


Sachgebietes auf. Sie dürften willkürlich aus Zeitungen und Zeitschriften bzw.
aus der Sprachkompetenz des Listenverfassers heraus empirisch gesammelt und
niedergeschrieben worden sein. Das erklärt bestimmte Aneinanderreihung von
Wörtern, die einer Wortgruppe zugeordnet werden können, wie z. B. Konferen-
cija. Konvencija. Proklamacija oder Akademija. Preparandija. Realka. Gimnazija.
Knabenpensionat. Stipendija. Student. Profesor, ferner Despotizam. Apsolutizam.
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Feudalizam. oder Artilerija. Infanterija. Kavalerija. Asentirung. usw.

3.1. Semantische Klassifizierung des Wortschatzes


Bei einer oberflächlichen Sichtung dieser Liste stellt man fest, dass es sich bei
den meisten Wörtern um den sog. Zivilisations- bzw. Bildungswortschatz han-
delt. Dieser war eine Folge der Okkupation: statt einer osmanisch geprägten
Amts- und Bildungssprache führte man Begriffe ein, die einer europäischen
Staats- und Gesellschaftstradition entsprachen. Nach einer genaueren Wort-
schatzanalyse lassen sich folgende semantisch-pragmatische Gruppen konst-
ruieren:
1. Zivilisationswortschatz im engeren Sinne – Begriffe, die unabhängig
vom Charakter der neu geschaffenen österreichisch-ungarischen Verwal-
tung eine Annäherung an europäische gesellschaftlich-politische Traditio-
nen signalisieren, z. B.: Adresa. Akcija. Arhitekt. Arhiva. Audijencija. Bom-
ba. Ceremonija. Civilizacija. Debata. Dinamit. Direktor. Ekonomija. Element.
Garancija. Idea. Instrukcija. Inteligencija. Intervencija. Inžinir. Kanalizacija.
Kaucija. Komunikacija. Koncert. Kondukter. Konferencija. Konvencija. Kore-
spondencija. Kultura. Literatura. Material. Okupacija. Original. Profil. Prokla-
macija. Propaganda. Protekcija. Reforma. Remiza. Resultat. Režija. Simpatija.
Stipendija. Student. Šef. Transport. Tratuar. Ultimatum. Vagun. usw.
2. Allgemeiner Staats- und Verwaltungswortschatz – Begriffe, welche
zeitgenössische Staats- und Gesellschaftsstrukturen am Ende des 19. Jahr-
hunderts widerspiegeln: Administracija. Advokat. Amnestija. Anarhija. Ape-
lacija. Apsolutizam. Artilerija. Aristokracija. Autonomija. Birokracija. Dekret.
Despotizam. Dinastija. Diplomacija. Ekselencija. Eksproprijacija. Feudalizam.

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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“367

Finansija. Infanterija. Interpelacija. Justicija. Kavalerija. Komunist. Koncesija.


Konstitucija. Licitacija. Mobilizacija. Monarhija. Opozicija. Panslavizam. Pen-
sija. Policija. Procedura. Propaganda. Revizija. Sekretär. Socialist. Statut usw.
3. Spezifischer k. u. k. Verwaltungswortschatz – Begriffe, die nur für den
österreichisch-ungarischen Verwaltungs- und Gesellschaftsapparat charak-
teristisch sind: Adlatus. Asentirung. Auskultant. Culag. Foršus. Gimnazija.
Hofrat. Kancelist. Knabenpensionat. Koncepist. Magistrat. Paušal. Preparandi-
ja. Realka. Regirungsrat.
4. Allgemeiner Wortschatz – Begriffe, die einen neuen, mitteleuropäischen
Lebensstil repräsentieren, jedoch nicht unbedingt zum Zivilisations- bzw.
Staatswortschatz gehören: Ecetera. Fertik. Karakter. Kvita. Natirlih. Servus.
Simpatija. Situacija. Ženija usw.

3.2. Orthografie
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Hinsichtlich der Orthografie weisen die Wörter eine breite Vielfalt auf. Das ist
auf mehrere Gründe zurückzuführen: Wie bereits festgestellt wurde, hat man
in den ersten Jahren der k. u. k. Herrschaft die reformierte phonologische Recht-
schreibung nur bedingt angewendet – in Bosnien-Herzegowina spürte man
auch Einflüsse einer etymologischen Schreibung, die damals in Kroatien im Ge-
brauch war. Andererseits war zur damaligen Zeit die phonologische Schreibung
unter kroatischen Sprachwissenschaftlern ebenfalls auf dem Vormarsch, was
erklärt, warum jene Schreibweise nur bei einer äußerst geringen Anzahl der
Wörter festzustellen ist. Zudem führte die Übernahme fremdsprachlicher und
internationaler Lexik (insbesondere aus dem Deutschen bzw. über das Deutsche
als Vermittlersprache) zu einer gewissen Verunsicherung bei der Schreibung
bzw. zur Übernahme der Fremdschreibung (insbesondere aus dem Deutschen).
Interessanterweise werden alle angeführten Wörter großgeschrieben und nicht
– wie es bei einer Aufzählung üblich ist – mit Komma, sondern mit Punkt von-
einander getrennt. Die Großschreibung könnte unter Umständen darauf hin-
deuten, dass der Listenverfasser unter einem starken Einfluss des Deutschen
stand, zumal auch manche Wörter in der Liste ohne jegliche Adaption aus dem
Deutschen übernommen wurden. Dementsprechend lässt sich das Material or-
thografisch in folgende Gruppen einteilen:
1. Phonologische Orthografie: Die reformierte Rechtschreibung Vuk
Karadžićs findet bei den meisten Wörtern ihre Anwendung, z. B.: Aneksija.
Apsolutizam. Audijencija. Culag. Eksproprijacija. Fantazija. Ferdehter. Fertik.
Filozofija. Foršus. Justicija. Konferencija. Konzorcija. Policija. Specijalitet. Ženi-
ja usw.

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368 Nedad Memić

2. Etymologische Schreibung. Dieser Orthografie-Usus ist relativ schwach


vertreten, was klar darauf hinweist, dass bis 1889 die phonologische Schrei-
bung in der Schriftsprache bereits Fuß gefasst hat. Eines der Zeichen der
etymologischen Schreibung ist das Grafem <gj> für das heutige <đ>, das
aber von der Sprachkommission der Landesregierung 1883 vorgeschrieben
und in einem Bericht an das Gemeinsame Finanzministerium in Wien auch
bestätigt wurde:19 Agjutant, Magjarizam (heute schreibt man überall <đ>).
Sonstige Fälle der etymologischen Schreibung beziehen sich auf die Auslas-
sung des Halbvokals <j> im Hiatus – Diurnist (statt dijurnist), Provizorium
(heute provizorij bzw. provizorijum), genauso: Idea, Konzistorium, Material,
Socialist, Teritorium, Vadium – bzw. auf den Verzicht auf die sog. Assimilation
nach Stimmhaftigkeit: Eksekucija (heute egzekucija).
3. Fremdschreibung: Wie bereits erwähnt, wurden bei einigen Wörtern
fremdsprachige Schreibweisen (in erster Linie aus dem Deutschen) beibe-
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halten. Es handelt sich dabei meistens um Neologismen oder sogar Okka-


sionalismen, deren Orthografie durch keine Sprachpraxis gebildet wurde:
Festzug, Knabenpensionat, Resultat, Sekretär, Triumpf. Gleichzeitig schreibt
man bereits eingebürgerte deutsche Transferwörter (Lehnwörter) durchaus
phonologisch: Culag (dt. Zulage), Ferdehter (Verdächtiger), Foršus (Vorschuss),
Natirlih (natürlich), Paušal (Pauschale), Peršup (Verschub), Servus.
4. Hybridschreibung: Bei einigen Fremdwörtern findet man eine partielle
orthografische Adaption. Der Grund könnte in der noch nicht normierten
Fremdwortschreibung bzw. in einem zu starken Einfluss des Deutschen auf
die Orthografiegewohnheiten des Listenverfassers liegen: Fakelzug (dt. Fa-
ckelzug) statt fakelcug, Intendanzija (Intendanz) statt intendancija, Lieferacija
(Lieferung) statt liferacija, President (dt. etymologische Schreibung: Präsident)
statt adaptiert prezident, Stacija (Station) statt štacija usw.
5. Statistisch gesehen überwiegt die phonologische Schreibung mit 155 Wör-
tern eindeutig. Etymologische und Fremdschreibung ist bei zwölf Wörtern
anzutreffen, während die Hybridschreibung in 15 Wörtern enthalten ist. Das
Lexem Profit ist im Verzeichnis doppelt angeführt und wird als ein Eintrag
berücksichtigt.

19 Vgl. Papić, Mitar: O srpskohrvatskom jeziku i pravopisu u Bosni i Hercegovini u pe-


riodu austrougarske okupacije (1878–1918) [Zur serbokroatischen Rechtschreibung in
Bosnien-Herzegowina zur Zeit der österreichisch-ungarischen Okkupation]. In: Okuka
& Stančić 1991, p. 60.

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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“369

3.3. Etymologie
Hinsichtlich der Etymologie entstammen die meisten Wörter dem Lateinischen
bzw. Griechischen, eine gewisse Anzahl sind auch französischer oder deutscher
Herkunft. Was aber aufgrund der Schreibung bzw. der Morphologie sichtbar
ist, ist die Rolle des Deutschen – bzw. des österreichischen Deutsch – als Ver-
mittlersprache, die man auch im administrativen Bereich beobachten kann. Der
Wortschatz der k. u. k. Beamtensprache verfügte im Vergleich zum damaligen
reichsdeutschen administrativen Wortschatz über mehr Lexeme lateinischer
Herkunft, weil der Wiener Hof – im Unterschied zum Berliner Hof – sogar
bis zum Ersten Weltkrieg Latein als offizielle Briefsprache beibehielt.20 Diese
Charakteristik der österreichischen Verwaltungssprache ist bis heute erhalten
geblieben.
Im Folgenden werden die Lexeme samt Herkunftsangaben – gruppiert nach
Herkunftssprachen – angeführt. Als Quelle für die Etymologie wird das Fremd-
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wörterbuch von Anić/Goldstein21 verwendet. Die meisten dieser Lexeme sind


über Vermittlersprachen (meistens Deutsch, aber auch Französisch oder Italie-
nisch) in die damalige bosnisch-herzegowinische Landessprache eingedrungen.
Dort, wo man aber sprachlich oder außersprachlich eine direkte Rolle des Deut-
schen als Vermittlersprache feststellen kann, wird dies entsprechend vermerkt;
in diesem Fall wird als Quelle der DUDEN (Deutsches Universalwörterbuch 2001)
herangezogen.22 Andere Wörterbuchquellen oder sonstige Belege werden beim
jeweiligen Lexem extra angeführt:
1. Aus dem Lateinischen: Adlatus (dt. Adlatus < lat. ad + latus), Administra-
cija, Advokat (dt. Advokat < lat. advocatus), Agitacija, Agjutant (dt. Adjutant
< lat. adiutans), Akcija, Aneksija, Apelacija, Apsolutizam (dt. Absolutismus <
lat. absolutus), Audijencija, Auskultant (dt. Auskultant < lat. ausculbans), Cen-
tral, Ceremonija, Definitivum, Dekret, Demonstracija, Denuncija, Deputacija
(dt. Deputation < lat. deputare), Direktor, Ecetera (lat. et cetera), Eksekucija,
Ekselencija, Ekspedicija, Ekstra, Elaborat, Element, Financija (dt. Finanz < fr.
finances < lat. finis), Fisikus, Fortifikacija, Industria, Inspekcija, Instalacija, In-
strukcija, Intabulacija, Interpelacija, Intervencija, Inteligencija, Justicija (dt.
Justiz < lat. Iustitium), Kataster (dt. Kataster < lat. capitastrum), Kaucija (dt.
Kaution < lat. cautio), Kolaudacija, Kombinacija (dt. Kombination < lat. com-

20 Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das
Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter 1995, p. 179.
21 Vgl. Anić, Vladimir/Goldstein, Ivo: Rječnik stranih riječi [Fremdwörterbuch]. Zagreb:
Novi Liber 1999.
22 Vgl. DUDEN Universalwörterbuch. Hrsg. von der Dudenredaktion. Mannheim et al.: Bi-
bliografisches Institut & Brockhaus 42001.

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370 Nedad Memić

binatio), Komunikacija, Koncept (dt. Konzept > lat. conceptus), Koncesija (dt.
Konzession < lat. concessio), Konferencija (dt. Konferenz < lat. conferentia),
Konfuzija, Konstitucija, Konvencija, Konzistorium, Konzorcija, Koresponden-
cija, Kultura, Liberacija, Licitacija, Likvidacija, Limitacija, Literatura, Magis-
trat (dt. Magistrat < lat. magistratus), Material (dt. Material < lat. materiale),
Memorandum (dt. Memorandum < lat. memorandus), Mobilizacija, Okupacija
(dt. Okkupation), Opozicija, Organizacija (dt. Organisation < lat. organisatio),
Original (dt. Original < lat. originalis), Pensija (dt. Pension < fr. pension < lat.
pensio), Preparandija (dt. Präparandschule < lat. praeparandus), President (dt.
Präsident < praesidens), Presidium, (dt. Präsidium < lat. praesidium), Privilegi-
ja, Procedura (dt. Prozedur < fr. procedure < lat. procedere), Profesor, Profit (dt.
Profit < fr. profit < lat. profectus), Proklamacija, Propaganda (dt. Propaganda <
lat. Congregatio de propaganda fide), Protekcija, Provizorium (dt. Provisorium
< lat. provisum), Reforma, Rekurirati (dt. rekurrieren < lat. recurrere), Restau-
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racija, Resultat (dt. Resultat < fr. résultat < lat. resultatum), Revizija, Sekretär
(dt. Sekretär < lat. secretarius), Servus (dt. servus < lat. servus), Situacija, Statut,
Stipendija, Student (dt. Student < lat. studens), Špekulacija (dt. Spekulation
< lat. speculatio), Teritorium, Transport (dt. Transport < fr. transport < lat.
transportare), Tribuna, Triumpf (dt. Trumpf und Triumph < fr. triumphus),
Ultimatum (dt. Ultimatum < lat. ultimus).
2. Aus dem Griechischen: Akademija (lat. academia < griech. akadḕmeia),
Amnestija, Analizacija, Anarhija, Arhiva (dt. Archiv < griech. arkheȋon), Ar-
hitekt (dt. Architekt < lat. architectus < griech. arkhitéktón), Aristokracija,
Autonomija, Bomba (span. bomba < lat. bombus < griech. bómbos), Demokra-
cija, Despotizam (dt. Despotismus < griech. despótēs) Dinastija, Ekonomija,
Fantazija, Filozofija, Gimnazija, Idea, Karakter, Monarhija, Policija (dt. Polizei
< fr. police < lat. politia < griech. politeía), Simpatija, Skandal (dt. Skandal <
lat. scandalum < griech. skándalon).
3. Aus dem Französischen: Adresa, Arsenal, Artiljerija, Birokracija, Civilizaci-
ja (dt. Zivilisation < fr. civilisation), Debata (dt. Debatte < fr. débat), Deložirati
(dt. delogieren < fr. déloger), Demoliranje, Diplomacija, Eksproprijacija (dt. Ex-
propriation < fr. expropriation), Garancija, Inžinir, Komunist (dt. Kommunist
< fr. communiste), Kondukter (dt. Kondukteur < fr. conducteur), Kvita (dt. quitt
< fr. quitte), Lojalitet (dt. Loyalität < fr. loyal), Profit, Remiza (dt. Remise < fr.
remise), Rezerva (dt. Reserve, fr. réserve), Režija (dt. Regie < fr. régie), Šef (dt.
Chef < fr. chef), Tratuar, Ženija (dt. Genie < fr. génie)
4. Aus dem Deutschen: Asentirung, Atentat, Culag, Diurnist, Fakelzug, Fertik,
Festzug, Feudalizam (dt. Feudalismus < lat. feud < ahd. feod), Foršus, Germa-
nizam, Hofrat, Intendanzija, Kanalizacija, Kancelist, Knabenpensionat, Konce-
pist, Konzert (dt. Konzert < ital. concerto), Lieferacija, Natirlih, Nihilist, Paušal,

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„Diese Worte sind […] bereits gang und gäbe“371

Peršup, Realka, Regirungsrat, Registratura, Socialist, Specijalitet, Stacija, Trans-


enal, Urlaub, Verdehter. Einige Wörter aus dieser Gruppe stammen zwar aus
den klassischen Sprachen, sind aber eindeutig über die deutsche Vermittlung
ins Bosnische gekommen.
5. Aus anderen Sprachen. Arabisch: Dragomanat, Vadium (engl. wady < arab.
vadi), Englisch: vagun, Italienisch: Infanterija, Kavalerija, Prokuratura (dt.
Prokuratur < ital. procuratura), Tombola.
6. Andere bzw. hybride Herkunft: Dinamit, Magjarizam, Panslavizam, Tur-
kofil.

3.4. Die gesichteten Lexeme im gegenwärtigen bosnischen Wortschatz


Die meisten auf dieser Liste befindlichen Lexeme sind ein fester Bestandteil des
gegenwärtigen bosnischen Wortschatzes und werden in den jeweiligen Wörter-
büchern der bosnischen Sprache angeführt.23 In Abschnitt 3.2. wurden schon die
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häufigsten Abweichungen von der gegenwärtigen Orthografie festgehalten; wir


konzentrieren uns nun auf die Wörter, die im Zuge der späteren Standardisie-
rung des Serbokroatischen bzw. Bosnischen einer morphologischen Änderung
unterzogen worden sind. Meistens handelt es sich dabei um die Änderung des
grammatischen Morphems bzw. seiner Anpassung an die Wortbildungsregeln
der Standardsprache. Bei einem kleineren Teil der Lexeme ist auch eine phono-
logisch bedingte Änderung des lexikalischen Morphems feststellbar. Als Wör-
terbelege werden das bereits angesprochene Wörterbuch der bosnischen Spra-
che von Čedić (2007) sowie das sechsbändige Wörterbuch der serbokroatischen
Literatursprache der Matica Srpska / Matica Hrvatska (1967–1976)24 benutzt.
1. Lexeme mit morphologischen Änderung: Analizacija (heute analiza),
Arhitekt (heute auch arhitekta), Aristokracija (heute auch aristokratija), Ar-
tilerija (heute artiljerija), Birokracija (heute auch birokratija), Diplomacija
(heute auch diplomatija), Fisikus (heute fiskus), Intendanzija (heute inten-
dantura), Inžinir (heute inženjer), Kataster (heute auch katastar), Konzorcija
(heute konzorcij), Lieferacija (heute üblicher liferovanje), Lojalitet (heute üb-
licher lojalnost), Sekretär (heute sekretar), Tratuar (heute trotoar), Tribuna
(heute tribina), Triumpf (heute trijumf), Vagun (heute vagon),

23 Für diese Analyse wurde folgendes Wörterbuch der bosnischen Sprache benutzt: Čedić,
Ibrahim/Kršo, Aida/Kadić, Safet/Hajdarević, Hadžem/Valjevac, Naila: Rječnik bosanskog
jezika [Wörterbuch der bosnischen Sprache]. Sarajevo: Institut za jezik 2007.
24 Stevanović, Mihajlo (Hg.): Rečnik srpskohrvatskog književnog jezika [Wörterbuch der
serbokroatischen Literatursprache]. Novi Sad, Zagreb: Matica Srpska/Matica Hrvatska
1967–1976 (Nachdr. 1990).

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372 Nedad Memić

2. Lexeme mit keinem Wörterbuchbeleg – diese Lexeme können als archa-


isch bzw. okkasionalistisch bezeichnet werden: Central, Culag, Definitivum,
Ecetera, Fakelzug, Festzug, Peršup, Regirungsrat, Transenal. Die Lexeme Diur-
nist und Koncepist findet man zwar im Wörterbuch der Matica Srpska und
Matica Hrvatska, sie gelten aber im Gegenwartsbosnisch als veraltet und
außer Gebrauch.

4. Schlussfolgerung
Die österreichisch-ungarische Epoche in der Geschichte Bosnien-Herzegowinas
brachte neben einer starken Urbanisierung und Industrialisierung des Landes
einen starken kulturellen Wandel mit sich, der sich auch in der Landessprache
niederschlug. Mit der Annäherung des Landes an die mitteleuropäische Kul-
tur und den Lebensstil kamen zahlreiche neue Wörter ins einheimische Idiom
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– ein wesentlicher Teil der Neologismen entfiel auf den sog. zivilisatorischen
Wortschatz, da insbesondere auf die Administration. Wie unsere Liste von 183
Wörtern aus einem Artikel der Tageszeitung Bosnische Post zeigt, zählen viele
dieser Neologismen zu den sog. Internationalismen (Latinismen, Gräzismen),
die meistens über die deutsche Sprache ins Bosnische kamen; ein kleinerer Teil
davon sind französischer oder deutscher Herkunft. Die meisten dieser Wörter
wurden bereits in der reformierten phonologischen Schreibung Vuk Karadžićs
ins Bosnische übernommen, bei einem kleineren Teil behielt der Listenverfasser
die etymologische oder sogar Fremdschreibung (aus dem Deutschen) bei. Ein
Großteil der angeführten Lexeme ist bis heute ein fester Bestandteil des bosni-
schen Wortschatzes geblieben.

Abkürzungsverzeichnis:
ahd. – Althochdeutsch
arab. – Arabisch
dt. – Deutsch
fr. – Französisch
griech. – Griechisch
ital. – Italienisch
lat. – Lateinisch

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“373

„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“

Literatur, Kultur und Widersprüche der imperialen


Konstellation im habsburgischen Bosnien-Herzegowina um
1900

Vahidin Preljević (Sarajevo)


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1. Zur Einführung: Literatur und politische Kämpfe in Bosnien-


Herzegowina um 1900

Als Idee kommt Kultur an vier historischen Krisenpunkten zur Geltung: wenn sie die
einzige sichtbare Alternative zu einer degenerierten Gesellschaft wird; wenn es so
aussieht, daß Kultur als Kunst und gutes Leben ohne tiefgreifenden sozialen Wandel
nicht mehr möglich ist; wenn sie die Begriffe vorgibt, nach denen eine Gruppe oder
ein Volk die politische Emanzipation erstrebt; und wenn eine imperalistische Macht
gezwungen ist, mit der Lebensweise der von ihr Unterjochten zurechtzukommen.
Die zwei letztgenannten Punkte dürften es gewesen sein, die die Idee der Kultur zum
vorrangigen Thema des 20. Jahrhunderts gemacht haben.1

Unser moderner Kulturbegriff, so bringt es Terry Eagleton auf den Punkt, wurde
seit der Moderne entscheidend von Nationalismus und Kolonialismus und einer
imperialen Anthropologie geprägt. Genau diese Momente findet man in ihrer
Zuspitzung, wie auch in ihrer inneren Widersprüchlichkeit, in bosnisch-herze-
gowinischen Kultur-Diskursen der habsburgischen Zeit (vor allem in der Lite-
ratur, wie auch in der Kunst, in der Linguistik, Wissenschaft und natürlich in
politischen Redeweisen); dieser Konflikt zwischen Nation und Imperium, der
nach Eagleton das 20. Jahrhundert dominieren wird, erfährt seine symbolische
Verkörperung und Narrativierung in den Schüssen des Gavrilo Princip vom 28.
Juni 1914.2

1 Eagleton, Terry: Was ist Kultur? München: C.H. Beck 2009, p. 39f.
2 Vgl dazu Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens (Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914.
Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen: Francke 2016.

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374 Vahidin Preljević

Die Entstehung der modernen bosnischen Literatur ist ein Ergebnis der
imperialen Konstellation. Um die Jahrhundertwende, also während der öster-
reichisch-ungarischen Besatzungszeit, konstituiert sich zum ersten Mal ein
Literaturbetrieb, es erscheinen Zeitschriften mit regelmäßigen literarischen
Beiträgen, Anthologien und Bücher werden veröffentlicht.3 Zum ersten Mal
treten auch Schriftsteller als selbständige bürgerliche Individualitäten auf, die
sich immer mehr von der Geistlichkeit als bis dato führender intellektueller
Schicht ablösen. Die Epoche 1878–1918 erscheint in vielerlei Hinsicht eine der
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.4 Einerseits bedeutet sie einen deutlichen
Säkularisierungsschub in Kultursphären, und trotzdem gehört nach wie vor
der dominante Anteil der schriftstellerischen Produktion etwa dem Bereich der
religiösen Erbauungsliteratur an, was freilich damit zu tun hat, dass zu osma-
nischer Zeit der Bildungsbereich fast vollständig im Zuständigkeitsbereich der
Religionsgemeinschaften lag.5 Erst mit der österrechisch-ungarischen Verwal-
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tung bilden sich Voraussetzungen für die Entstehung neuer kultureller Eliten,
die zwar nicht alle völlig unabhängig vom Klerus agieren, deren Tätigkeitsfeld
nun aber im weiteren Sinne durchaus als ein säkulares anzusehen ist. So wird
erst in dem neuen staatspolitischen Rahmen ein Interesse an der Volkskultur
geweckt und erst hier bilden sich nationalpolitische Diskurse ab, in denen die
Kultur von zentraler Bedeutung wird. Diese Tendenzen gibt es vereinzelt auch
in der Spätphase des Osmanischen Reichs, z. B. bei dem Franziskaner Ivan Fran-
jo Jukić, oder sie machen sich in den kulturpolitischen Einflüsse aus Serbien
oder dem südslawischen Teil der Donaumonarchie bemerkbar; doch erst nach
der Okkupation werden diese Bemühungen systematisch und konkret. Neben
dem späten volksaufklärerischen literarischen Diskurs (etwa bei Mehmed-beg
Kapetanović-Ljubušak)6 meldet sich auch schon die hochsensible individualis-

3 Siehe dazu Gesamtdarstellungen in den Standardwerken von Tomić-Kovač, Ljubica: Poe-


zija austrougarskog perioda. Sarajevo: Institut za književnost/Svjetlost 1991, pp. 7–29;
Lešić, Zdenko: Pripovjedačka Bosna I. Sarajevo: Institut za književnost/Svjetlost 1991.
4 Siehe dazu (grundsätzlich am Beispiel der bosniakischen Literatur) Duraković, Enes:
Obzori bošnjačke književnosti. Sarajevo: Dobra knjiga 2012. Zur literaturhistorischen
Konstellation um 1900 vgl. Kodrić, Sanjin: Književnostsjećanja. Kulturalno pamćenjei
reprezentacija prošlosti u novijoj bošnjačkoj književnosti. Sarajevo: Slavističkikomitet
2012, pp. 201–384.
5 Siehe die systematische Untersuchung von Bogićević, Vojislav: Pismenost u Bosni i Her-
cegovini. Оd pojave slovenske pismenosti u 9.v. do kraja austrougarske vladavine u Bosni
i Hercegovini 1918. godine. Sarajevo: Veselin Masleša 1975, p. 243ff., sowie von Papić,
Mitar: Školstvo u Bosni i Hercegovini za vrijeme austrougarske okupacije 1878–1918.
Sarajevo: Veselin Masleša 1972.
6 So veröffentlicht 1888 Kapetanović, der später auch Bürgermeister von Sarajevo werden
sollte, seine Sammlung Narodno blago [„Volksschatz“], die volkstümliche Lieder, Sprich-
wörter und kurze Geschichten enthält. Der prohabsburgische Intellektuelle führt Patrio-

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“375

tische Avantgarde, die das Phänomen des intellektuellen Bohemiens, etwa in


der Gestalt der Autoren wie Musa Ćazim Ćatić oder Aleksa Šantić hervorbringt,
neben patriotischen Pamphleten die ästhetizistische Reflexionslyrik; die beiden
Diskurse findet man nicht selten bei ein und demselben Autor. Die Moder-
nisierung des literarischen Feldes, das auch auf dem Prinzip der ästhetischen
Autonomie aufbaut, wird gleichzeitig von einer gegenteiligen Tendenz begleitet,
wonach die Literatur als kulturpolitisches Mittel im Kampf um die nationale
Emanzipation eingesetzt wird. Es sieht damit so aus, als würde die bosnische
Literatur in vierzig Jahren die vorhergehenden 150 Jahre der westeuropäischen
Etntwicklung nachholen wollen.
Die neue imperiale Konstellation, oder der Wechsel von einem feudal gepräg-
ten und zunehmend schwächelnden theokratischen System der osmanischen
Herrschaft zum europäischen Habsburger Reich nach der Okkupation Bosniens
und der Herzegowina 1878 bringt es mit sich, dass die Entstehung der moder-
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nen Literatur in diesem Land mit dem nation building, also dem Kampf eines
Teils der intellektuellen Eliten gegen die österreichisch-ungarische Monarchie
und um die Bildung einer politischen Identität, in eins fällt. Darin, wie noch zu
zeigen sein wird, spielt die Kultur – und insbesondere Literatur und Sprache –
eine zentrale Rolle. Dabei ist die Lage keineswegs überschaubar: es bilden sich
einerseits spezifische Diskurse, die den Anspruch erheben, jeweils die Interes-
sen einer ethnoreligiösen Gruppe (serbisch-orthodox, katholisch-kroatisch und
bosnisch-muslimisch) oder einer Schicht innerhalb dieser Gruppe repräsentie-
ren wollen; andererseits sind auch gesamtbosnische wie auch transreligiöse
jugoslawische oder protojugoslawische Positionen vertreten. Vereinzelt melden
sich in dieser Gemengelage auch sozialistische Stimmen. Gemeinsam ist ihnen
allen, dass sie 'die Kultur' als entscheidende identitätsstiftende Kategorie ein-
setzen. Vor allem Literatur wird darin zu einem Medium der nationalen Eman-
zipation. Das ästhetische Bewusstsein ist in diesem Sinne in den meisten Fällen
vom Nationalbewusstsein kaum zu trennen. Literatur, Kultur und ihre Diskurse
werden damit zu einer Waffe im Kampf um die nationalpolitischen Ziele, zum
privilegierten Medium des politisch Imaginären.

tismus und Heimatliebe als seine Beweggründe an; gleichzeitig kritisiert er bosnische
Muslime, die ihre Kinder nicht auf neue Schulen (vor allem Gymnasien) schicken wollen
und sogar Land auswandern; vgl. Kapetanović -Ljubušak, Mehmed-beg: Narodno Blago.
Sarajevo: Sejtarija 1997, p. 9f. Er ist dabei nicht der einzige, der nationalen Patriotismus
mit Kaisertreue zu verbinden versucht.

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376 Vahidin Preljević

2. Eine Skizze der imperialen Konstellation: von der militanten


„Zivilisierung“ bis zum Ideal der Heterogenität

Nun bleibt die politische Imagination der intellektuellen Eliten in Bosnien zwi-
schen 1878 und 1918 – wie auf der anderen Seite auch die Kultur- und Identi-
tätspolitik der österreichisch-ungarischen Verwaltung – keineswegs konstant,
sondern durchläuft mehrere Phasen. Grob lassen sich insgesamt fünf unter-
scheiden: die Anfangsphase zwischen 1878 und 1882, dann die zwar strenge,
aber zugleich kulturpolitisch fruchtbarste Regierungszeit Benjamin Kállays von
1882 bis 1903, die Periode bis zur Annexion 1908, die durch eine Liberalisierung
gekennzeichnet ist, dann die Zeit bis zum Attentat von Sarajevo und schließ-
lich die Kriegszeit. Während die Konstitutionsphase der Okkupationsherrschaft
zwar von raschen infrastrukturellen Veränderungen begleitet wurde (Bau der
Straßen und Eisenbahnstrecken), war sie kulturpolitisch von einem eher rigi-
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den eurozentrischen Zivilisierungsparadigma geprägt, wobei insbesondere das


Islambild als ein äußerst ungünstiges dargestellt wird; so wird diese Religion
im Reisebericht des österreichischen Reiseschriftstellers und Korrespondenten
Amand Schweiger-Lerchenfeld als „Hindernis der Cultur“7 bezeichnet, und da
sie „in Europa keine eigentliche Heimstätte hat, so muss er in seiner schädigen-
den Starrheit gebrochen werden oder überhaupt vom Schauplatze verschwin-
den.“8 Dabei müsste man ihn, so Schweiger-Lerchfeld, „im Geiste der abendlän-
dischen Culturarbeit modificiren“, oder er muss „als staatlicher Factor mit all
seiner dogmatischen Präpotenz zu existieren aufhören.“9
Robuste Töne wie diese des regierungsnahen Publizisten waren charakte-
ristisch für die ersten Jahre der Okkupation. Dabei etabliert sich vor allem ein
Narrativ: Die vierhundert Jahre der osmanisch-islamischen Zivilisation werden
als verlorene Zeit für das Land angesehen. Ergänzt werden diese sicher auch
taktisch gestreuten antitürkischen Ressentiments teilweise auch durch die pro-
kroatische Propaganda. Ein beredtes Zeugnis davon legen die ersten Nummern
der Bosnisch-Herzegowinischen Zeitung (Bosansko-Hercegovačke novine), des offi-
ziellen Organs der Okkupationsregierung, ab. In der Ausgabe vom 8. September
1878 wird etwa in einem Artikel mit der Überschrift „Ein wenig mehr Geduld!“
die Unsicherheit der ersten Monate gerechtfertigt: „Gott hat die Welt in sieben
Tagen geschaffen. Das ist euch, Bosniaken und Herzegowinern, wohl bekannt.
Genauso wird den Scharfsinnigen unter Euch klar sein, dass man all das, was in

7 Schweiger-Lerchenfeld, Amand Frhr. von: Bosnien, das Land und seine Bewohner. Ge-
schichtlich, geografisch, ethnografisch un social-politisch. Wien: L.C. Zamarski 1878.
p. 145f.
8 Ibid.
9 Ibid.

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“377

Bosnien und der Herzegowina in den 400 Jahren vernachlässigt, verdorben und
verwahrlost worden ist, nicht in einem Tag, einer Woche oder in einem Monat
berichtigen und nachholen kann.“10
Solche Töne werden seit Anfang der achziger Jahre seltener. Zwar bleibt das
Zivilisierungsparadigma als Leitlinie der österreichischen Kulturpolitik in Kraft,
und auch das Narrativ von den dunklen vier Jahrhunderten taucht gelegentlich
auf. Doch die militante kolonialistische Rhetorik wird gemildert, so dass sich
die Einschätzung des ungarischen Historikers, Ethnologen und Gesandten der
k. u. k. Regierung Adolf Strausz11 einige Jahre später wie eine Selbstkritik liest:
Aber gerade die rasche äussere Veränderung, der stürmische Fortschritt ist es, welcher
die ernsteste Erwägung erheischt. Ist dieser Fortschritt nicht blos ein äußerlicher, ist
er wirklich in das innere Leben des Volkes eingedrungen? Ist er wahr und natürlich
oder nur ein bunter Blüthenstaub, den ein leichter Wind fortwehen kann, als wäre er
niemals dagewesen?12
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Denn, um das Innere der „Leute“ zu erreichen, kann man, so Strausz, nicht
einfach nur Verordnungen erlassen, will man „das in geistiger Finsternis da-
hinvegetierende Volk auf den Pfad der Civilisation und des Fortschritts“13
bringen. Vielmehr muss sich die Herrschschaftsmethode an die Gegebenhei-
ten anpassen: „Man darf dort nicht nach fremden Mustern regieren, wo man
gegen alles Fremde unsagbaren Hass empfindet.“ Strausz empfiehlt sogar eine
Schritt-für-Schritt-Methode, sogar eine taktische Orientalisierung der österrei-
chisch-ungarischen Politik, um das langfristige Ziel einer inneren Eroberung
zu erreichen: „Nicht der Occident, sondern der Orient muss der Regierung die
leitenden Principien bieten, denn es gilt den letzteren mit der Civilisation zu
verbinden Wenn die Regierung im orientalischen Geiste geleitet wird, wird
man sie nicht als eine fremde, sondern als eine nationale ansehen“14. Strausz
setzt sich hier für soft power ein, die sich dann in der kulturpolitischen Praxis

10 Anonym: „Jošt malo strpljenja!“ In: BHN 03 vom 08.09.1918, p. 1.- In derselben Ausgabe
im Feuilleton wird in einem Text, der halb Humoreske und halb politisches Pamphlet ist,
unter dem Titel „Turci u Zagrebu!“ gegen die bösen Türken gewettert, die die Masse zum
Aufstand gegen die Besatzung aufgewiegelt hätten, und nun viele dabei gestorben sind,
„statt in einer besseren Zukunft als Mitbürger des kroatischen Volkes zu leben“ (ibid.).
11 Paládi – Kovács, Attila: István Györffy – der ungarische Forscher in der Dobrudscha und
in Kleinasien. In: Grenzüberschreitungen. Traditionen und Identitäten in Südosteuropa.
Festschrift für Gabriella Schubert. Hg. von Wolfgang Dahmen, Petra Himstedt-Vaid und
Gerhard Ressel. Wiesbaden: Harrasowitz, pp. 439–446, hier p. 439.
12 Strausz, Adolf: Bosnien. Land und Leute. Historisch-ethnografisch-geografische Schilde-
rung.Wien: Gerold 1884, p. iv.
13 Ibid., p. v.
14 Ibid., p. vf.

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378 Vahidin Preljević

der Kállay-Periode niederschlagen sollte: in der Ausbildung auch einer inneren


Infrastruktur, des modernen Schulwesens, der ersten wissenschaftlichen Ein-
richtungen und auch sogar der Förderung der „kulturellen Emanzipation“ aller
drei oder vier ethno-religiösen Gruppen – freilich immer bis zu einer Grenze, die
der Politik der österreichisch-ungarischen Regierung nicht gefährlich werden
konnte. Jedenfalls kann ein anonymer Autor, hinter dem sich wohl Benjamin
Kállay selbst oder jemand aus seinem engsten Umkreis verbergen dürfte, nach
etwa zwanzig Jahren den Erfolg vermelden und unter anderem auch die Thesen
von Schweiger-Lerchfeld dementieren:
Eisenbahnzüge brausen darin, Kunststrassen durchschneiden die Höhen der Gebirge,
christliche Architekten studieren fern im Osten die dem Geschmack der Rechtgläu-
bigen entsprechenden Vorbilder, katholische und orthodoxe Kirchen lassen ihre Glo-
cken ertönen, ohne aber den abendlichen Gebetsruf des Mohammedaners verstum-
men zu machen. Es ist da wie eine zauberhafte Mischung von Ost und West. Darum
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ist uns dieses Land nicht mehr völlig fremd.15

Hier hat eine folgenreiche Verschiebung stattgefunden: Das aggressive kolonia-


listische Zivilisierungsparadigma wird abgeschwächt und durch das zweifellos
ebenso imperiale Ideologem der Heterogenität ersetzt. Zwar gibt der Autor zu,
dass es darum ging, das Land dahingehend zu verändern, damit das Eindringen
der „Ideen des Westens“ ermöglicht wird, doch diese galt es „derart zu ver-
pflanzen, dass sie in einer östlichen Umgebung heimisch werden können.“16 Um
dieses Ziel zu erreichen, so heißt es in diesem Buch weiter, konnte man zwei
Methoden wählen: „Entweder wir machen Tabula rasa und rotten alles aus, was
der Entwicklung unseres Setzlings schaden könnte, oder wir trachten unsere
Ideen mit den bereits lebenden Bäumen des betreffenden Bodens anzufreun-
den und schonen die schon vorhandenen Elemente, um nicht den ersten Weg
einschlagen zu müssen.“17 Der Autor geht sogar so weit, die westlich geprägte
Wahrnehmung des Orients und auch Bosniens als solche in Frage zu stellen, und
damit über die Grundbedingungen des othering zu reflektieren: „Ohnehin haben
die Ideen des Westens schon soweit Macht über uns gewonnen, dass wir den
Orient ausschließlich durch die Brille der abendländischen Theorien betrach-
ten, oder wenn wir das Augenglas ablegen, mit freiem Auge gar nicht mehr gut
sehen und uns darein ergeben, dass der Orient Recht hat.“18

15 Anonym: Die Lage der Mohammedaner in Bosnien. Von einem Ungarn. Wien: Adolf
Holzhausen 1900, p. 5.
16 Ibid.
17 Ibid.
18 Ibid., p. 6.

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“379

3. Die Zeitschrift Nada: ein paradoxes Beispiel der liberalen


Kulturpolitik des Okkupationsregimes

Diese Methode mag einen machtpolitischen Hintergrund gehabt haben, doch sie
hat ganz konkrete kulturpolitische Fakten geschaffen, die sich von ihrer ange-
nommenen ursprünglichen Intention emanzipiert haben und entscheidend zur
Ausdifferenzierung und sogar zur Autonomisierung der Kultursphären beige-
tragen haben. Diese Ausdifferenzierung hat weit über die österreichisch-ungari-
sche Periode das Kultur- und Wissenschaftsleben des Landes geprägt und stellt
bis heute ihre eigentliche Grundlage dar. Die Gründung zahlreicher Einrich-
tungen, insbesondere des Landesmuseums, die Förderung der ethnologischen
Studien, die Tätigkeit von wichtigen Kulturträgern wie Konstantin Hörmann
und Lajos Thallóczy19 etc. stecken den Rahmen ab, in dem selbst die autonomen
nationalen Kulturvereine wie die serbische Prosvjeta (1902), der bosnisch-mus-
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limische Gajret (1903), der kroatische Napredak (1902) und die jüdische La Be-
nevolencia (schon 1892) entstehen und eine rege Tätigkeit entfalten konnten.20
Es entstehen auch Literatur- und Kulturzeitschriften, die durchaus ein breites
Spektrum poetischer und politischer Optionen bieten, die gemäßigt serbischen
Bosanska vila (Sarajevo)21 und Zora (Mostar)22, die sich vor allem für kulturelle
Autonomie einsetzen, ebenso wie der bosnisch-muslimische Behar (Sarajevo)23
und später eher kulturislamische Biser (Sarajevo)24, der nationalbosniakische

19 Zu Letzterem vgl. die komplexe Würdigung in einem von der bosnischen Akademie der
Wissenschaften herausgebrachten Sammelband von Juzbašić, Dževad / Ress, Imre (Hg.):
Lajos Thallóczy, der Historiker und Politiker. Die Entdeckung der Vergangenheit von
Bosnien-Herzegowina und die moderne Geschichtswissenschaft, Sarajevo/Budapest:
ANU BiH 2010.
20 Siehe dazu exemplarisch Kemura, Ibrahim: Uloga „Gajreta“ u društvenom životu Musli-
mana Bosne i Hercegovine. Sarajevo: Svjetlost 1986.
21 Zur Entstehung und Entwicklung der Vila siehe die ausführliche Monografie von
Đuričković, Dejan: Bosanska vila. Književnoistorijska studija. Sarajevo: Svjetlost 1975.
22 Um die kurzlebige Zora versammelten sich die wichtigsten Mostarer Autoren, insbeson-
dere Svetozar Ćorović, der vielleicht wichtigste bosnisch-herzegowinische Prosaist der
Jahrhundertwende, der sensible Spätromantiker Aleksa Šantić und der formstrenge Mo-
dernist Jovan Dučić. Vgl. dazu Lešić 1991, pp. 381–406.
23 Zur komplexen und grundlegenden Rolle des Behar, einer Zeitschrift, die wie die Vila
nach 1990 wiederbelebt wurde, vgl. die Studie von Rizvić, Muhsin: Behar. Književnohis-
torijska monografija. Sarajevo: Svjetlost 2000. Zur Entwicklung in den anderen Künsten,
z. B. in der Malerei, vgl. Mladenović, Ljubica: Građansko slikarstvo u Bosni i Hercegovini
u XIX vijeku. Sarajevo: Veselin Masleša 1982.
24 Zu den vielen Paradoxien auf den ersten Blick gehört der Umstand, dass die „panis-
lamische“ Kulturzeitschrift von Musa Ćazim Ćatić, einem der wichtigsten Dichter der
Dekadenz, der berüchtigt für seine Alkoholexzesse war, geleitet wurde; zur Rolle der
Zeitschrift vgl. Tomić-Kovač 1991, pp. 399–419.

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380 Vahidin Preljević

und offen proösterrreichische Bošnjak (Sarajevo)25, der auch von der Landes-
regierung massiv unterstützt wurde, und in der späteren Phase die radikal anti-
österreichische Otadžbina des bosnisch-serbischen Autors und Volkstribuns
Petar Kočićs26, von dem im letzten Abschnitt ausführlicher die Rede sein wird,
und noch viele mehr.27 Dabei verdient ein Periodikum einen besonderen Ex-
kurs, da es offenbar als Versuch, den ethnonationalen Projekten von oben eine
Alternative entgegenzusetzen, und die Kultursphäre wie auch die Diskurse des
Eigenen – also die Politik der Identität – den Händen des Nationalismus zu
entreißen: selbstverständlich nicht aus irgendwelchen idealistischen Vorstellun-
gen, sondern aus machtpolitischem Kalkül heraus. Es handelt sich hierbei um
Nada [„Hoffnung“], die wahrscheinlich seriöseste und jedenfalls bestredigierte
bosnisch-herzegowinische Literatur- und Kulturzeitschrift der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts.
Die treibende Kraft hinter der Gründung war Konstantin (Kosta) Hörmann,
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eine der prägendsten Persönlichkeiten des bosnischen Kulturlebens der k. u. k.


Periode; er war Beauftragter der Landesregierung, sehr lange zusammen mit
Ćiro Truhelka die treibende Kraft des Landesmuseums und Chefredakteur der
ersten modernen bosnischen wissenschaftlichen Zeitschrift Glasnik Zemaljsk-
og muzeja. Der „allmächtige Kuferaš“, wie ihn der bosnisch-kroatische Gegen-
wartsautor Miljenko Jergović in einer Glosse bezeichnet,28 ist zum Synonym
der kulturellen Modernisierung – wenn das auch Ausdifferenzierung und Auto-
nomisierung bedeutet – geworden. Gleichzeitig ist Hörmann prominent ge-
worden als ein wichtiger Herausgeber und Anthologist. Die 1887 veröffent-
lichte Sammlung muslimischer Volkslieder wird bis heute von der Bosnistik als
Grundlagenwerk geschätzt.29
Nada erschien jedenfalls von 1895 bis 1903, in insgesamt neun Jahrgängen,
halbmonatlich und bezeichnenderweise bis 1902 parallel in lateinischer und
kyrillischer Schrift.30 Als Herausgeber fungiert die Landesregierung selbst und
die Publikation wurde auch in der Landesdruckerei gedruckt, was ihren staatli-
chen Charakter noch mehr unterstreicht. Man kann sie also durchgehend als ein
habsburgisches Regierungsprojekt der Landesverwaltung ansehen. Am Ende

25 Zum Bošnjak s. Tomić-Kovač 1991, pp. 217–232; Lešić 1991, pp. 323–341.
26 Vulin, Miodrag M.: Kočićeva Otadžbina I–II. Sarajevo: Svjetlost 1991.
27 Zur Pressevielfalt in der Zeit zwischen 1878 und 1918 siehe Pejanović, Đorđe: Bibliogra-
fija š tampe u Bosni i Hercegovini 1850–1941. Sarajevo: Veselin Masle š a 1961, pp. 16–91.
28 Jergović, Miljenko: Kosta Hörmann – svemogući kušeraš, https://www.jergovic.com/aj-
felov-most/kosta-hormann-svemoguci-kuferas/, 30.11.2015.
29 Hörmann, Kosta: Narodne pjesme Muslimana u Bosni i Hercegovini. Sarajevo: Svjetlost
1976.
30 Diese kulturausgleichende Technik wird später die im Zweiten Weltkrieg gegründete
und bis heute tonangebende bosnische Tageszeitung Oslobođenje übernehmen.

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“381

des Jahrgangs 1903 hielt die Redaktion fest, dass in Ermangelung des Interesses
unter den Abonnenten die kyrillische Ausgabe eingestellt werde, was schon als
erstes Signal für den Entzug der politischen Unterstützung gedeutet werden
könnte. Mit dem Tod Benjamin Kállays, der für politische Rückendeckung sorg-
te, wird auch die Zeitschrift – wie es offiziell hieß – aus finanziellen Gründen
eingestellt.31
Schon ein oberflächlicher Blick auf die Zeitschrift verrät, wie sich Nada be-
müht, ihre ambitionierten Forderungen zu erfüllen: Unter den regelmäßigen
Mitarbeitern finden sich Vertreter aller vier bosnisch-herzegowinischen Kon-
fessionen: von den muslimisch-bosniakischen Schriftstellern wirken dabei die
prominentesten Autoren wie Safvet-Beg Bašagić, Mehmedbeg Kapetanović-
Ljubušak und Edhem Mulabdić mit; unter serbisch-orthodoxen finden sich so-
wohl die schon erwähnte Aleksa Šantić als auch Jovan Dučić oder Svetozar
Ćorović, und von den kroatisch-katholischen Autoren Josip Milaković, aber
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auch zahlreiche modernistische Autoren aus Kroatien, wie Silvije Strahimir


Kranjčević, dem man nachsagt, er wäre der wahre Chefredakteur der Zeitschrift
gewesen. Der Schwerpunkt liegt auf südslawischen literarischen Originalbei-
trägen; bei den Übersetzungen überwiegt die Lyrik, also Nachdichtungen, in
denen ein künstlerischer Eigenbeitrag unterstrichen wird; im übrigen erschei-
nen die Nachdichtungen keineswegs vorwiegend aus dem Deutschen, sondern
auch aus anderen Sprachen der Monarchie, aber auch aus orientalischen Spra-
chen (hier fungiert als Übersetzer vor allem Bašagić). In der Rubrik Kulturchro-
nik überwiegen Berichte aus anderen Ländern der Monarchie, aus Lemberg,
Prag, Brünn, Zagreb, Novi Sad: Es geht eindeutig dabei um die Schärfung des
Bewusstseins für die Zugehörigkeit zu Österreich-Ungarn und eine intensive
Arbeit an der Schaffung eines gemeinsamen Kulturraums. Weltliterarische und
andere kunsthistorische Tendenzen werden aufgegriffen und tendenziell positiv
bewertet, was auch in der deutschsprachigen Literatur dieser Zeit noch keine
Selbstverständlichkeit war. Es erschienen fundierte und fast proto-literaturwis-
senschaftlich zu nennende Aufsätze zu Victor Hugo, Gabriele D´Annunzio, Emi-
le Zola, Leo Tolstoi, Henrik Ibsen, Friedrich Nietzsche; der Naturalismus, aber
auch die Dekadenzliteratur wurden essayistisch reflektiert. Es findet sich auch
ein affirmatives Feuilleton des Mitarbeiters Boško Petrović (aus Novi Sad) über
Jung-Wien, ein Aufsatz über Hermann Bahr etc. Häufig werden auch anthropo-
logische oder folkloristische Aufsätze abgedruckt, wobei jedoch der Kolonisie-
rungsgestus fast verschwunden ist. Nada ist das Prestigeprojekt, das offenbar
implizit eine gesamtbosnische oder sogar südslawische Idee im Rahmen der

31 Zum Hintergrund und zur Entstehung des Nada-Projekts vgl. Ćorić, Boris: Nada. Književ-
noistorijska monografija 1895–1903. Sarajevo: Svjetlost 1978.

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382 Vahidin Preljević

Monarchie verfolgt. Doch diese politische Botschaft wird nie explizit; sie steckt
allein schon in der Bestrebung, einen Kultur- und Kunstbegriff jenseits von
ethnonationalen Separatismen zu schaffen, auch sogar jenseits von Politik. Es
geht um einen kospomolitischen, „neutralen Boden“ und damit mittelbar um
eine Autonomie der ästhetischen Sphäre.32
Nada hat ein Bosniertum und ein gegennationalistisches Jugoslawentum im
öffentlichen kulturellen Diskurs zu etablieren versucht, das gleichzeitig die ös-
terreichisch-ungarische Monarchie als eigenen staatlichen Rahmen anerkannte.
Dieses Experiment weist auf die später Franz Ferdinand zugeschriebenen Pläne
einer stärkeren Berücksichtigung und Integration der südslawischen Kompo-
nente in die staatliche Struktur voraus. Dieser habsburgische kulturelle Jugos-
lawismus ist ein interessantes Projekt, doch bekanntlich nur eine Fußnote der
Geschichte geworden, trotz des hohen Ansehens, das Nada in intellektuellen
Kreisen genoss. Die nationalistisch-separatistischen Tendenzen nahmen dann
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endgültig nach 1908 eindeutig überhand ebenso wie die Radikalisierung in der
jungbosnischen Bewegung. So wurde Nada nach 1918 als Regimeprojekt der
Schaffung einer „künstlichen“ bosnischen Nation belächelt und als solche vom
letztlich siegreichen Nationalismus verworfen.
Ein ungewöhnlicher und äußerst wichtiger Nebeneffekt des Projekts besteht
jedoch darin, dass Nada einen modernen, d. h. autonomistischen Literatur- und
Kulturbegriff durchsetzt. Das ist ein sehr bemerkenswertes Paradoxon, dass
ausgerechnet das tendenziell eher konservative Okkupationsregime die offens-
te und liberalste Kulturzeitschrift des Landes ins Leben gerufen hat, d. h. eine
liberale Kulturpolitik betreibt, die vor avantgardistischen Tendenzen keines-
wegs zurückschreckt, sondern diese auch noch fördert, oder vielmehr erst im
kulturellen Bewusstsein etabliert.
Die These von der kulturellen Kolonialisierung muss also angesichts des-
sen wenigstens kritisch ergänzt werden. Das Projekt der Nada jedenfalls setzt
auf das Gegenteil der kulturellen Fremdbestimmung: die intensive Pflege des
Eigenen wie auch eine Entideologisierung der kulturellen Sphäre. Dass dies
vor allem bedeutete, die Trennung von Kultur und Nationalstaatprojekten vo-
ranzutreiben, entsprach wiederum der Rahmenidee einer überkonfessionellen
Monarchie. Es ist eigentlich bis heute nicht ganz gelungen (bis auf wenige Pha-
sen in der jugoslawischen Literatur der 1970-er Jahre), das südslawische ästhe-
tische Feld von nationalistischer Agitation zu befreien bzw. wieder autonom

32 Siehe dazu den Aufsatz von Aida Gavrić, der zum ersten Mal einen entideologisierten
Blick auf die Zeitschrift wagt: Kosmopolitizam kao vid ispoljavanja višestrukog/sloje-
vitog identiteta pod imperijom u časopisu Nada (1895–1903). In: Sarajevske sveske 51
(2017), http://www.sveske.ba/bs/content/kosmopolitizam-kao-vid-ispoljavanja-visestru-
kogslojevitog-identiteta-pod-imperijom-u-casopis.

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“383

zu machen. Nada, ironischerweise eine Zeitschrift der Okkupatoren, hat diese


Modernitätsanomalie zu korrigieren versucht.

4. Gegenbeispiele: die nationale Eroberung der Literatur


Schon auf Grund dieser situativen Komplexität, in der die Folgen des (semi)
kolonialen Gestus allzu schnell mit deren vermuteter dahinterliegenden Absicht
kurzgeschlossen und identifiziert werden, muss die Frage, ob Bosnien-Herze-
gowina eine Kolonie gewesen sei33, und ob demzufolge der am Beispiel von
Petar Kočić zu analysierende Kampf gegen Österreich-Ungarn tatsächlich als
Antikolonialismus zu verstehen ist, umstritten bleiben. Gerade im Fall von Bos-
nien-Herzegowina muss die „Kolonisierung“ nicht so sehr als ein realgeschicht-
licher objektiver Zustand aufgefasst, sondern auch und vor allem an die Selbst-
wahrnehmung und -imaginierung des Subjekts (kollektiver oder individueller
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Art) gebunden werden – auf beiden Seiten der imperialen Konstellation. In of-
fensichtlicher Anlehnung an Hegels Herr-Knecht-Dialektik sieht Frantz Fanon
das Verhältnis von kolonisiertem Subjekt und kolonialistischer Macht als eine
Dynamik des Imaginären, in der der kolonisierte Intellektuelle davon träumt, an
die Stelle des Kolonialherrn zu treten.34 Sobald er sich selbst als den Kolonisier-
ten erkannt hat, strebt er danach, sich zu befreien, indem er die Machtverhält-
nisse umkehrt: Das kolonisierte Subjekt wird zu einem solchen, erst indem es
sich als solches erkennt. Kolonisierung gibt es demnach nicht an sich, sondern
nur insoweit man dieser bewusst ist und sie als solche imaginiert. Daraus folgt,
dass eine koloniale Konstellation keineswegs nur auf das äußere Verhältnis be-
schränkt werden kann, sondern sich, sozusagen, innerlich fortzeugt. Mit ande-
ren Worten: die Befreiung, d. h. die Umkehrung des ursprünglichen Machtver-
hältnisses, könnte durchaus zu einer neuen Kolonisierung führen. Es ist derselbe
imaginäre Raum der (Kultur)Herrschaft, der ständig befreit und erobert wird. Es
gilt ebenso hier an die Anfangsüberlegungen anzuknüpfen, dass es bei diesen
Motiven der „Besetzung“ und „Befreiung“ auf allen Seiten um ein othering, und
damit auch um eigene Identitätszuschreibungen und -codierungen geht. Dabei
zeigt sich, dass diese beiden Momente ständig ineinander übergehen und ein-
ander konterkarieren. Denn die Rhetorik der Befreiung von der vermeintlichen

33 Vgl. die zahlreichen Arbeiten auf der Forschungsplattform Kakanien revisited und die
Sammelbände der Reihe Kultur – Herrschaft – Differenz im Francke-Verlag, insbes. die
Beiträge von Clemens Ruthner. Siehe dazu v. a. seine neueste Monografie: Habsburgs
Dark Contintent. Postkoloniale Lektüren zur imperialen österreichischen Literatur und
Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018.
34 Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von Jean-Paul Sartre. Frankfurt/M:
Suhrkamp 1981, S. 51.

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384 Vahidin Preljević

Fremdherrschaft, wie sie in der patriotischen bosnisch-herzegowinischen Lite-


ratur der Postokkupationszeit dominiert, zieht nach sich, dass der befreite Raum
nun neu besetzt und neu geordnet, dass also eine Hierarchie, ein Zentrum und
eine Grenze etabliert werden muss. So inszenieren viele kroatisch-patriotisch
gesinnte Intellektuelle Bosnien als ein „kroatisches Land“, und die muslimischen
Bosnier sogar als das reinste kroatische Geschlecht. Unter vielen sei hier auf
das Beispiel des schon erwähnten einflussreichen Kulturträgers Ćiro Truhelka
verwiesen, der 1907 ein antiserbisches Pamphlet unter dem Titel Das kroatische
Bosnien. Wir und 'die da drüben'35 veröffentlicht, das den kroatischen Anspruch
auf Bosnien-Herzegowina historisch, geografisch und sogar rassisch begründen,
und eine harte zivilisatorische Grenze zu Serbien markieren will. Dabei ver-
bindet er geschickt großkroatische und promonarchistische Positionen, ähnlich
wie Safvet Beg-Bašagić, der in einem im Bošnjak veröffentlichten Gedicht den
bosnischen Serben und Kroaten jede ethnonationale Individualität abspricht
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und sie als Eindringlinge sieht:


Erkenne, mein Bosniake, es ist nicht lange her,
Bei meiner Seel´, nicht mal fünfzehn Jahr',
Da war in unsrem stolzen Bosnien
Und heldenhaften Herzogsland
Von Trebinje bis Brod und seinen Toren
Kein einziger Serbe oder Kroate,
Und heute breiten sich mutwillig die beiden Fremden aus
Als wären sie im eigenen Land.36

Wir wollen nun diese Tendenzen an einem prominenten und exemplarischen


Fall detaillierter rekonstruieren: an der literarischen und publizistischen Tätig-
keit des bosnisch-serbischen Dichters und Politikers Petar Kočić.

5. Petar Kočić: Satire als Modernekritik


Petar Kočić (1877–1916) ist in diesem Zusammenhang eine besonders interes-
sante Gestalt, weil sich an ihm jene Doppelung von literarischer und politischer
Öffentlichkeit deutlich zeigen lässt. Er war Schriftsteller, Publizist, der promi-
nenteste politische Gefangene seiner Zeit und Abgeordneter im bosnisch-her-

35 Truhelka, Ćiro: Hrvatska Bosna. Mi i „oni tamo“. Preštampano iz Hrvatskog Dnevnika.


Sarajevo: Vogler 1907.
36 Beg-Bašagić, Safvet: Bošnjaku. In: Bošnjak, Nr. 2 v. 16.07.1891, p. 2.- Im bosnischen Ori-
ginal lauten die Zeilen: „[…]Znaš Bošnjače, nije davno bilo/Sveg mi sv'jeta! Nema pet-
nest ljetam,/Kad u našoj Bosni ponositoj/I juna č koj zemlji Hercegovoj,/Od Trebinja do
brodskijeh vrata/Nije bilo Srba ni Hrvata./A danas se kroza svoje hire/Oba stranca ko u
svome šire. […]“

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“385

zegowinischen Landtag (Sabor), der dort mitunter für Tumulte sorgte.37 Er ist
der repräsentativste Fall eines Autors, der die Literatur konsequent als eine
nationale Praxis versteht, die in erster Linie dazu dient, eigene Volksgenossen
zur Freiheit zu führen. Jovan Dučić wird sein Werk als die „patriotischste Lite-
ratur in unserer Schriftlichkeit“ bezeichnen, die, so setzt der Dichter noch eine
nietzscheanische Wendung dazu, mit „Blut und Gift“ geschrieben würde.38
Kočićs bekanntestes und bedeutendes Werk ist das satirische Drama Der
Dachs vor dem Gerichtshof [Jazavac pred sudom, 1902]39, in dem das Rechts-
system der Landesregierung einer kritisch-ironischen Betrachtung unterzogen
wird. Die Hauptfigur David Štrbac, ein scheinbar naiver und ungebildeter ser-
bischer Bauer, bringt einen absurden Rechtsfall vor das Gericht: Er kommt zum
Gericht und bringt einen Dachs mit, den er verklagt, sein Korn aufgefressen zu
haben. Auf die Nachfrage des Richters, warum er den Dachs nicht sofort an Ort
und Stelle getötet hätte, erklärt Štrbac, er wisse nicht, was er nun tun dürfe und
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was nicht, er kenne sich in Gesetzen nicht mehr aus, was eine Anspielung da-
rauf ist, dass die Rechtslage durch österreichisch-ungarische Bürokratisierung
und Paragrafisierung unübersichtlich geworden war. Was dann folgt, verwan-
delt sich immer mehr in einen Prozess gegen das k. u. k. Rechtssystem selbst. Die
eigentliche außertextuelle Referenz ist die prekäre Lage des serbischen Bauern,

37 Es sei aus dem folgenden Zeitungsbericht zitiert „Die Serben warfen den Moslims Illoya-
lität vor, und als diese dagegen protestierten, warf der serbische Abgeordnete Professor
Petar Kocic den Pultdeckel gegen den moslemischen Abgeordneten Mustaj-Beg Mute-
velic, der ihn glücklicherweise nicht traf, sondern an ihm vorbeit in das Fenster schlug.“
(Neues Wiener Tageblatt v. 02.02.1911, p. 5)
38 Dučić, Jovan: Petar Kočić. In: Bosanska vila 7/8 (1911), pp. 97–101, hier p. 98.- Auch die
jungbosnischen Autoren erkl ärten Kočić zu ihrem Vordenker und großen Vorbild. Der
einflussreiche Ideologe der jungbosnischen Bewegung, Vladimir Gaćinović, schreibt
schon 1907, dass Kočić zu den wenigen gehöre, die die „zitternde und bangende Volkssele
entdeckt haben, alle Schmerzen und Regungen des Volks in der Masse“ (Gaćinović, Vla-
dimir: Pripovijetke Petra Kočića. In: Palavestra, Predrag (Hg.): Književnost Mlade Bosne
II. Sarajevo: Svjetlost 1965, pp. 253–256, hier p. 256. Vom selben Autor hei ßt es ein Jahr
später: „Das Werk Petar Kočićs ist für mich die kräftigste Satire unserer Generation. Es
hat Farbe, Sarkasmus, Schmerz und Herz. Es ist volle Seele unserer Rasse, die aus jeder
Ader dieses Werks hervorsprießt.“ (Gaćinović, Vladimir: Petar Kočić kao satiričar. In: Pa-
lavestra 1965, pp. 257–258, hier p. 258). Auch von Jovo Varagić gibt es auch einen hymni-
schen Artikel von 1914 (wiederabgedr. in Palavestra 1965, pp. 225–228). Dennoch gibt es
auch differenziertere Beitr äge. So wird in einer Notiz in der Bosanska vila neben allem
Lob auch kritisch angemerkt, dass das Werk noch unausgewogen sei und dass manchmal
die „Tendenz zu sehr hervorlugt“ (M., D. (Mostar): Naš književni rad. In: Bosanska vila
9/1907, p. 138.
39 Kočić, Petar: Jazavac pred sudom. In: Ders.: Sabrana djela. Knjiga 1. Sarajevo: Svjetlost
1967, pp. 171–199.

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386 Vahidin Preljević

das Ergebnis eines ungerechten Systems, das darüber hinaus ein wesentlich
volksfremdes ist.
Einen Hintergrund bildet die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Landesregie-
rung, die anachronistische Agrar- und Kmetenfrage zu lösen. Ein sekundäres,
wenn auch ganz wichtiges Thema ist in diesem Stück wie auch im thematisch
verwandten Werk Sudanije die künstliche und unverständliche Sprache der
neuen Bürokratie, deren Vertreter zum großen Teil nach Bosnien aus anderen
slawischen Ländern der Donaumonarchie gekommen sind. Der Text oder viel-
mehr seine Hauptfigur ist in manchen intellektuellen proserbischen Kreisen
paradigmatisch geworden: ein einfacher Bauer, der über eine natürliche Intel-
ligenz verfügt,40 bezwingt mit seiner primordialen Logik eine moderne fremde
Rechtsordnung und legt ihre Absurditäten bloß. Es handelt sich eindeutig um
einen antikolonialen Gestus, zugleich aber auch um eine Modernitäts- und Zivi-
lisationskritik und einen Ausdruck der Sehnsucht nach vormodernen einfachen
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Verhältnissen. 41

6. Dichter als Märtyrer und Heiler der Volksseele


All dies entspricht einigen neoromantischen Figuren, die in den Essays von
Petar Kočić noch deutlicher zum Ausdruck kommen. Besonders bemerkens-
wert ist dabei sein Dichterbild: In einem Aufsatz über den serbischen Poeten
Đuro Jakšić42 wird Kočić den romantischen Dichter des 19. Jahrhunderts als
eine Märtyrerfigur inszenieren, die sich trotz des romantischen Subjektivitäts-
modells, dem er verhaftet ist, zur Inkarnation des Völkischen erheben kann.
Dieser Widerspruch wird in Kočićs Argumentation durch eine bemerkenswerte
Strategie aufgelöst. Kočić zitiert dabei einen serbischen Kritiker, der Jakšić von
der „engen, kranken heineschen Subjektivität“ distanzieren will, jener Subjekti-
vität, „deren Quelle die Eitelkeit ist, wo der Dichtername in jedem Vers erwähnt
wird, und wo seine Qualen oder Freuden der ganzen Welt zur Klage oder zum
Genuss aufgezwungen werden, wo man, so zu sagen, die subjektive Tendenz
spürt.“ (p. 172) Dagegen wird die Stimme des Dichters, auch wenn sie einsam

40 Siehe dazu Moravčevich, Nicholas: The Village Story in Serbian Literature. The Peasant
in the Prose of Petar Kočić. In: The Slavic and East European Journal 21.4 (Winter 1977),
pp. 506–516.
41 Zur Modernekritik als antikolonialer Figur in der bosnisch-herzegowinischen Literatur
und auch bei Kočić siehe die sehr aufschlussreiche Studie von Vervaet, Stijn: " Naš car
ima za svašta zakon ". Kolonijalna modernost i nacionalni identitet u bosanskohercegova
č koj književnosti austrougarskog razdoblja. In: Slavistična revija 57.3 (2009), pp. 467–481.
42 Kočić, Petar: O lirici Đure Jakšića. In: Ders. Sabrana djela. Knjiga 2. Sarajevo: Svjetlost
1967, pp. 167–174.- Alle weiteren Quellennachweise zu diesem Werk erfolgen nach dieser
Ausgabe im Lauftext.

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“387

erklingt, als visionär aus der Tiefe des Kollektivs kommend dargestellt. Er ist
„schon immer seinem Volk treu gewesen“ (ibid.), und steigert sich damit zum
mythischen epischen Sänger, indem der komplexe Individualismus der Roman-
tik aufgehoben wird. Er wird damit zum Medium der heiligen Wahrheit des
Volkes. Am Ende des Essays skizziert er eine utopische Vision der Befreiung:
Es kommt vielleicht eine Zeit, mein Dichter und Märtyrer, in der für meinen und
deinen Märtyrer, den bosnischen Bauern […], die schöneren Tage kommen werden,
wenn jeder Flecken seiner Erde auch tatsächlich sein eigen sein wird. Und nun schlaf,
du lichtvollle und edle Inkarnation der höchsten Empfindungen der menschlichen und
serbischen Seele. (p. 174)

In einem anderen Aufsatz, den er 1907 in der von ihm selbst gegründeten Zeit-
schrift Otadžbina ["Vaterland"] veröffentlicht, räsoniert Kočić über die Rolle der
Dichter unter kolonialen Bedingungen. Zunächst stellt er fest, dass“wir schon
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seit dreißig Jahren unter einem strengen und gnadenlosen absolutistischen Re-
gime leben.”43“In diesem langen und finsteren Zeitabschnitt”, sagt er weiter,
habe das Volk große Übel erdulden müssen.
Die Volksseele und der Volkskörper erlitten viele Verfolgungen und Ungerechtigkei-
ten, lechzend und stöhnend in seiner unerhörten Betrübnis und Ohnmacht wie kaum
ein anderes Volk. Die Schreie […] der zertretenen und verletzten Volksseele und des
männlichen Stolzes erfüllten mit ihren zitternden und unschönen Lauten […] unser
Land und unsere Luft. (p. 211)

Das Bild eines zerschundenen Volkskörpers und einer zertretenen Volksseele44,


das hier gezeichnet wird, soll die eigene Tätigkeit legitimieren. Der Dichter ist
der Arzt, der Körper und Seele heilen bzw. die Zerstückelung wieder aufheben
soll. Kočić kritisiert jene Dichter, die
nicht fühlen und nicht sehen, dass der Körper unseres Volkes voll von schweren und
blutigen Wunden ist, welche Schmerzen unser Land leidet, wie wir von Leid und Harm
gelähmt, langsam den letzten Atem aushauchen, in Schande und Sklaverei. O wie das
schmerzt, in Schande und Sklaverei! (p. 214)

Der Dichter ist der Heiler, der Heilende, der die Befreiung als Erlösung bringen
soll. Das Bild noch einmal gesteigert, und der Dichter wird zum Messias:“Trotz
allem, erwarten wir sehnlichst und voller Wünsche den großen Dichter, wir
erwarten seine vollen und lauten Worte, auf dass das Horn von Jericho durch

43 Kočić, Petar: Naša poezija pod apsolutizmom. In: Kočić 1967, vol. 2, pp. 211–215.
44 Zu den typischen Figuren des balkanischen Nationalismus, insbesondere zum Motiv der
verletzten Volksseele, siehe Hajdarpašić, Edin: Whose Bosnia? Nationalism and Political
Imagination in the Balkans, 1840–1914. Ithaca, New York: Cornell University Press 2015.

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388 Vahidin Preljević

dieses geschundene Land ertöne, und erstorbene und vereiste Gefühle in unse-
rer Brust entflamme. Er wird kommen, er muss kommen!” (ibid.)
In diesen Worten lassen sich unschwer vertraute Figuren und Wendungen der
europäischen Romantik, aber auch des Dichterkultes im europäischen Ästheti-
zismus wiederfinden – also gerade jener Bewegung, gegen welche sich das lite-
raturkritische Engagement Kočićs richtet. Die Dichterberufung, die ästhetisierte
Messias-Erwartung, das Anbrechen eines Goldenen Zeitalters sind Topoi, derer
sich auch beispielsweise Hölderlin oder Novalis bedient haben.45 Doch es gibt
einen bemerkenswerten Unterschied: Während in der europäischen Romantik
das Schicksal der Menschheit als Bezugsrahmen diente, haben wir es hier mit
der Eingrenzung des Pathos auf das jeweils eigene Volk zu tun. Wo dieser Kon-
text gegeben ist, kann die Freiheit nicht die Freiheit der ganzen Welt meinen,
sondern nur eine nationale. Das Phantasma der“fremdländischen Macht”, die
ständig “wertvolle Eigenschaften der eigenen Seele” zu bedrohen oder letztlich
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zu ersticken im Begriff ist, wird zum Motor der Befreiung, die – wie schon ge-
sagt – zugleich auch Rückeroberung des Herrschaftsraums ist. Die Austreibung
des Fremden aus dem Raum des Eigenen wird zum wichtigsten Inzentiv des
anstehenden Freiheitskampfes.

7. Phantasma der Authentizität: Sprache als heiliges Zentrum der


Nation

In Ermangelung der fehlenden politischen Macht entwickelt sich die Kultur


(und dabei vor allem die Sprache und die Literaturkanonisierung) zu wich-
tigsten Schauplätzen des anti-'kolonialen' Freiheitskampfes. Kočić, wie viele
andere meist serbische Intellektuelle dieser Zeit, sah die einheimische Kultur
durch die Okkupation bedroht. Dabei trat vor allem die gefährdete Reinheit der
Volksprache in den Vordergrund. In mehreren Aufsätzen analysiert Kočić den
vermeintlichen Sprachverfall durch Neologismen und fremartige Wendungen,
die die rechtliche und sonstige Praxis der Landesverwaltung mit sich gebracht
habe. In dem Pamphlet mit dem Titel Für die serbische Sprache (1911)46 bringt
Kočić den fortschreitenden Sprachverfall ausdrücklich mit der imaginierten
kolonialen Konstellation in den Zusammenhang: „Es erfasst uns“, sagt er dort,
„ein Zorn, dass wir in dieser Verunstaltung und Zermürbung unserer glänzen-
den und freien Sprache unsere koloniale Gefangenschaft und Unterlegenheit

45 Vgl. Mähl, Hans Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien
zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen
Voraussetzungen. Heidelberg: C. Winter 1965.
46 Kočić, Petar: Za srpski jezik. In: Kočić 1967, vol. 2, S. 242–251.

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„Zauberhafte Mischung“ und „reine Volksseele“389

spüren.“ ( p. 248) Eine tiefe Trauer empfindet der Autor, der auch hier wie sonst
im Plural, im Namen eines Kollektivs spricht, angesichts der „Profanierung und
Entheiligung unserer großen und gewaltigen Sprache“, die vor allem in der
Volksdichtung, in den Epen, mit ihrer „kristallenen Reinheit“ und „natürlicher
Frische“ glänzt, und die die Gemeinschaft „ermutigt, auf dem Lebensweg nicht
aufzugeben“ (ibid.). Dieses „Sprachmonster“ schufen dem Autor zufolge einer-
seits die Fremden, vor allem Vertreter anderer slawischen Gruppen, darunter
vor allem Polen und Tschechen, die nach Bosnien-Herzegowina als Beamte
gekommen sind, andererseits aber auch „unsere Leute“, die dieses „Monstrum“
als Standardsprache angenommen hätten. Darin kritisiert Kočić vor allem die
kroatische Variante, die seiner Meinung nach „unter dem Einfluss der deutschen
Kanzleisprache“ (p. 243) entstanden sei.47 Auch hier kommen die gewohnten
Vorstellungen von Reinheit, Natur- und Lebensnähe zum Zuge, durch welche
sich im Gegensatz zur Künstlichkeit dieses Idioms die (serbische) Volksspra-
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che auszeichne. Das vorgestellte Eigene wird dadurch mit dem Prädikat der
Authentizität ausgezeichnet, welche es vor fremder Kolonisierung zu retten
oder wenigstens zu restaurieren gilt. Doch auch hier zeigt sich die Tücke der
Befreiungsrhetorik in der kolonialen Konstellation: Die eigene Freiheit wird
erkauft durch die Knechtschaft der Anderen.
Der Sturz eines Imperiums ruft nationale Miniimperialismen auf den Plan.
Denn dass Kočić seine eigene Sprache als serbisch bezeichnet, ist natürlich noch
keine imperiale Rhetorik, doch sein Vorschlag die serbische Sprache und die
kyrillische Schrift als die einzige offizielle Sprache einzuführen, kann nur als
die Negation der konkurrierenden Bezeichnungen „Kroatisch“, und „Bosnisch“
verstanden werden. Doch er bleibt dabei nicht stehen, sondern spricht bestimm-
ten Mundarten, wie dem Kajkavischen und Čakavischen sowie der kroatischen
Variante des Schtokavischen überhaupt das Recht ab, eine Volkssprache zu sein.
So heißt es wörtlich in einem späteren Artikel:
Wir wollten […] in erster Linie darauf aufmerksam machen, dass unsere wohklin-
gende und gottgegebene Sprache bedroht wird vom deutschen Geist – Gott weiß, ob
es überhaupt der deutsche ist -, der sich in das arme und trockene Kajkavische und
Čakavische eingeschlichen hatte, aus denen sich wiederum das falsche und nicht ori-
ginelle Schtokavische, das Kroatisch genannt wird, ergeben hat. Dieses […] ist auch
die Amts- und Unterrichtssprache in unserem Land geworden. […] Man muss dem ein
Ende setzen, auf welche Art und Weise auch immer!48

47 Zu den Sprachtransfers in der k. u. k. Ära vgl. den Beitrag von Nedad Memić zum vorl.
Sammelband.
48 Kočić, Petar: Jedna korisna ustanova. In: Kočić 1967, vol. 2, pp. 216–220.

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390 Vahidin Preljević

Wir sehen, dass trotz der Berufung auf das Volkstümliche, auf die Einheit der
einheimischen Bevölkerung, die im Widerstand gegen die Fremdherrschaft ins
Feld geführt wird, die als konkurrierend empfundenen volkstümlichen Ele-
mente als unecht und dem authentischen Zentrum nicht zugehörig diffamiert
werden. Dieselbe Strategie wendet Kočić auch in Bezug auf die Kanonisierung
der einheimischen Literatur an: Projekte von Kapetanović-Ljubušak und Josip
Milaković, in denen das Serbische nicht als das Zentrum des Eigenen positio-
niert wird, werden ebenfalls abgelehnt.49
Mit Homi Bhabha könnten wir in diesem Zusammenhang von einem internen
Imperialismus sprechen.50 Das kolonisierte Subjekt trägt die koloniale Kons-
tellation nach innen, wo gerade eine neue Hierarchie gebildet wird. Dieselbe
Struktur bedeutet aber keineswegs dieselbe Semantik. Während der ‘fremd-
ländische’ österreichisch-ungarische Imperialismus den Ort der Macht mit den
Codes der ‘Zivilisierung’ und ‘Pazifisierung’ belegt, und zunehmend, wie wir in
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ausgewählten Texten gesehen haben, in diesem Rahmen gerade auf die Hetero-
genität als identitätsstiftendes Motiv zurückgreift, wird in den einheimischen
Phantasmen der Befreiung der imaginierte Ort dieser Freiheit um die Achse
der jeweiligen reinen „Volkseele“ hierarchisch eingerichtet. Je näher man dem
Zentrum dieser Achse ist, desto größer das Recht, frei zu sein.

49 Siehe den Text Bošnjakluk und die Polemik mit Milaković in Kočić 1967, vol. 2, pp. 175–
202 u. 226–231.
50 Vgl. Bhabha, Homi: The Location of Culture. London, New York: Routledge 2004, pp. ix-
xxxi.

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Serbischer Okzidentalismus?391

Serbischer Okzidentalismus?

Anti-westliche Rhetorik in Bosnien-Herzegowina während der


österreichisch-ungarischen Besatzung

Stijn Vervaet (Oslo)


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1. Einleitung
Im Zentrum der folgenden Untersuchung stehen die Ursachen sowie die spe-
zifischen Merkmale des Anti-Habsburg-Diskurses, der zur Zeit der österrei-
chisch-ungarischen Okkupation und Annexion von Bosnien-Herzegowina ent-
stand (1878–1918). In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, die mit der
Besetzung einhergehenden kolonialen Verhältnisse zu berücksichtigen. Zeit-
historiker haben Österreich-Ungarn auf der Grundlage der Postcolonial Studies
als Pseudo-Kolonialreich beschrieben, das zwar nicht über Überseegebiete ver-
fügte, dafür aber bestimmte Teile seines Gebietes in Zentral- und Südosteuropa
als interne Kolonien behandelte.1 So bezeichnete etwa der amerikanische His-
toriker Robert Donia Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarischer
Herrschaft als proximate colony.2 Kulturwissenschaftler wie unter anderen
Clemens Ruthner zeigten wiederum einen klar ausgeprägten Kolonialdiskurs
als wichtiges Charakteristikum der österreichisch-ungarischen Herrschaft in
Bosnien-Herzegowina auf, der das Land als abgelegenen und exotischen Ort

1 Für einen detaillierten Überblick der Debatte, die auf Plattformen wie Kakanien revisi-
ted sowie in verschiedenen Buchpublikationen geführt wurde, siehe Ruthner, Clemens:
K. u. K. ‚Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren
Klärung. In: Kakanien Revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner3.pdf
[29.01.2003] sowie Ruthner, Clemens: Habsburgs 'Dark Continent'. Postkoloniale Lektü-
ren zur österreichischen Literatur und Kultur im langen 19. Jh. Tübingen: Francke 2018.
2 Donia, Robert J.: The Proximate Colony. Bosnia-Herzegovina under Austro-Hungari-
an Rule. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/rdonia1.pdf
[11.09.2007].

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392 Stijn Vervaet

imaginiert, der durch das Habsburger Reich noch zivilisiert werden muss.3 Diese
Darstellung stimmt großteils mit dem Orientalismus-Diskurs überein, wie ihn
Edward Said in seiner grundlegenden Studie analysierte.4
Während dem österreichisch-ungarischen Kolonialdiskurs in Bosnien-Her-
zegowina bereits ausführliche und grundlegende Studien gewidmet wurden,5
fanden die (diskursiven) Reaktionen auf die k. u. k. Herrschaft in Bosnien-Her-
zegowina selbst bislang kaum Beachtung. Wie ich zeigen werde, erweist sich
der Anti-Habsburg-Diskurs in den meisten Fällen als durchdrungen mit Okzi-
dentalismen, d. h. es handelt sich über weite Strecken um einen anti-westlichen
Diskurs.6 Ich werde im Folgenden daher untersuchen, auf welch unterschied-
liche Art und Weise sich okzidental(istisch)e Vorstellungen in Bosnien-Herze-
gowina unter österreichisch-ungarischer Herrschaft manifestierten und dabei
sowohl auf die ersten serbisch-bosnischen Literatur- und Kulturzeitschriften
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3 Vgl. Ruthner, Clemens: ‚K.u.k. (post-)colonial‘? Prolegomena zu einer neuen Sichtweise


Österreich-Ungarns in den Kulturwissenschaften. In: Müller-Funk, Wolfgang / Plener,
Peter / Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der
österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: A. Francke 2002, pp. 93–103 sowie in:
http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner1.pdf [01.10.2001]; Ders.: Kulturelle
Imagines und innere Kolonisierung. Ethnisch kodierte Selbst- und Fremdbilder in der
k. u. k. Monarchie– eine Projektskizze. In: Zeyringer, Klaus/Csáky, Moritz (Hg.): Insze-
nierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder I. Innsbruck, Mün-
chen: StudienVerlag. 2002, pp. 30–53; Ders.: Kakaniens kleiner Ori­ent. Post/koloniale
Lesarten der Peripherie Bos­nien-Herzegowina 1878–1918. In: Hárs, Endre / Mül­ler-Funk,
Wolfgang / Reber, Ursula / Ruthner, Clemens (Hg.): Zen­tren, Peri­phe­rien und kollektive
Identitäten in Österreich-Ungarn. Tübingen, Basel: Francke 2006, pp. 255–283 sowie (er-
weiterte Fassung auf Englisch) in http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/CRuthner5.
pdf [22.05.2008].
4 Said, Edward: Orientalism. London: Routledge & Kegan Paul 1978.
5 Vgl. Ruthner 2001/2002, 2002, 2006/2008; Stachel, Peter: Der koloniale Blick auf Bosni-
en-Herzegowina in der ethnografischen Populärliteratur der Habsburgermonarchie. In:
Feichtinger, Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg postcolonial.
Machtsstrukturen und kollektives Gedächtnis. Gedächtnis – Erinnerung – Identität, 2.
Innsbruck: StudienVerlag 2003, pp. 259–275. Concetti, Riccardo: Der gerettete Orient. Zu
Robert Michels Novellensammlung Die Verhüllte. In: Müller-Funk, Wolfgang / Wagner,
Birgit (Hg.): Eigene und andere Fremde. ‚Postkoloniale‘ Konflikte im europäischen Kon-
text. Wien: Turia + Kant 2006, pp. 195–206.; Ruthner, Clemens et al. (Hg.): WechselWir-
kungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the Western Balkans, 1878–1918.
Ney York: P. Lang 2015.
6 Angeregt von Saids Orientalismus haben Ian Buruma und Avishai Margalit Okziden-
talismus als Diskurs von Vorurteilen und negativen Stereotypen über die westliche Zi-
vilisation und ihre vermeintlichen kulturellen und moralischen Werte beschrieben (The
West in the Eyes of its Enemies. New York: Penguin 2004). Für einschlägige Fallstudien
im südosteuropäischen Bereich siehe den aufschlussreichen Sammelband von Schubert,
Gabriella / Sundhaussen, Holm (Hg.): Prowestliche und antiwestliche Diskurse in den
Balkanländern/Südosteuropa. München: O. Sagner 2008.

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Serbischer Okzidentalismus?393

eingehen als auch Schriften der Mitglieder des Jungen Bosnien (Mlada Bosna)
berücksichtigen. In meinen Ausführungen wird deutlich werden, dass im Fall
Bosnien-Herzegowinas der anti-westliche Diskurs in hohem Maße von der Art
und Weise der k. u. k. Herrschaft und deren kolonialen Charakteristika bestimmt
bzw. vielmehr provoziert wurde.

2. Antimodernistische Rhetorik in der Frühphase der


Literaturzeitschrift Bosanska vila

Wie Ian Buruma und Avishai Margalit ausführen, lässt sich Okzidentalismus in
der Regel als Reaktion einer traditionsgebundenen, monotheistischen Gesell-
schaft auf westliche Modernität verstehen.7 Dieser Befund trifft zweifellos auf
die ersten kulturellen und literarischen Zeitschriften in Bosnien-Herzegowina
zu, in denen sich zugleich eine erste Welle anti-westlicher Rhetorik findet. Wäh-
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rend der Zeit der österreichisch-ungarischen Okkupation kommt es nämlich


zu einem signifikanten Anstieg von Zeitschriften und literarischen Periodika.
Um eine neue Zeitung oder Literaturzeitschrift zu gründen, musste der an-
gehende Verleger ebenso wie in den anderen Gebieten der Monarchie eine Kon-
zession bei den k. u. k. Behörden beantragen, die nur durch eine aufwändige
Prozedur zu erlangen war. Die Behörden behielten sich freilich das Recht vor,
die Genehmigung zu widerrufen. Zusätzlich strebten sie eine Medienkontrolle
durch Präventivzensur an. Wie in allen wichtigen Fragen wurden auch hier die
Entscheidungen vom Gemeinsamen Finanzministerium getroffen und von der
Landesregierung in Sarajevo exekutiert.8 Vor allem die politisch engagierten
Zeitungen wie Srpska riječ oder Hrvatski dnevnik wurden so streng zensuriert,
dass Ausgaben oft leere Seiten enthielten, da die Redaktion nicht mehr in der
Lage gewesen war, die vom Zensor inkriminierten Passagen zu ersetzen; Li-
teraturzeitschriften wie Bosanska vila scheinen aber meistens der Schere ent-
gangen zu sein, obwohl in den ersten Jahren der Okkupation auch fiktive Texte
zensuriert wurden.9
Dies bedeutet freilich nicht, dass in Folge Schriftsteller immer die Zensur zu
unterlaufen vermochten; eher das Gegenteil ist der Fall. Außerdem wurden Au-
toren, die wie Petar Kočić in der Tagespolitik eine wichtige Rolle spielten, von
Spitzeln überwacht, und dies zusätzlich zu ihrer strengen Zensur. So vermerkt

7 Vgl. Buruma & Margalit 2004.


8 Vgl. Kruševac, Todor: Bosanskohercegova č ki listovi u XIX veku. Sarajevo: Veselin Mas-
leša 1978, p. 71f.
9 Vgl. Vervaet, Stijn: Cultural Politics, Nation Building and Literary Imagery. In: Kakanien
revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/SVervaet2.pdf, pp. 6 f.

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394 Stijn Vervaet

etwa der Zensor über Kočićs Drama Jazavac pred sudom (von dem noch die
Rede sein wird10), dass etliche Passagen durchaus als „antiösterreichisch“ inter-
pretiert werden könnten. Trotzdem kommt er zum Schluss, dass die Grundlage
für rechtliche Schritte zu gering und der Autor nicht für die Aussagen seiner
fiktiven Figuren zu belangen sei. Anstelle dessen verbieten die Behörden einfach
eine Aufführung des Stücks in Bosnien-Herzegowina.11
Die meisten dieser Literaturzeitschriften dienten allerdings unterschiedlichen
nationalen Ideologien, d. h. die Kurzgeschichten, Gedichte und anderen publi-
zierten Texte hatten vor allem eine moralisch-didaktische Funktion.12 In der
ersten Literaturzeitschrift, die unter dem Titel Bosanska vila [‚Bosnische Fee‘]
erschien, versuchten bosnisch-serbische Intellektuelle die Massen für die von
ihnen vertretene nationale Sache zu gewinnen.13 Dies traf insbesondere auf
die Frühphase ihrer Publikation von 1886 bis 1904/05 zu. In der Folge wandte
sich der Fokus der Zeitschrift eher ästhetischen Fragen der Literatur zu. An den
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folgenden Beispielen sollen nun zentrale Charakteristika dieses anti-westlichen


Diskurses dargestellt werden.
Dass die patriotischen Intellektuellen dieser Zeit ihre Abneigung gegenüber
dem Modernisierungsprozess (und dessen moralische Konsequenzen), der mit
der k. u. k. Besetzung des Landes begann, kaum verbargen, verdeutlicht bereits
ein kurzer Blick auf die ersten Kurzgeschichten in der frühen Bosanska vila. Die-
se Haltung wird etwa durch die Bemerkung des Erzählers in der Kurzgeschichte
„Sie haben sich versöhnt“ (Izmirili se) von Manojlo Đ. Prizrenac illustriert, mit
der er die Leser folgenderweise anspricht:
Ihr seid also auf dem Weg euch zu ‚zivilisieren‘, um Menschen von ‚Welt‘ zu werden.
Niemand hat etwas dagegen – alle sollten sich von Herzen darüber freuen. Wir hoffen
nur, dass eure ‚Zivilisation‘ nicht kopfüber daherkommt. Das wäre wirklich fürchter-

10 Vgl. auch den Beitrag von Vahidin Preljević im vorl. Sammelband.


11 Vgl. Kruševac, Todor (Hg.): Petar Kočić. Dokumentarna građa. Sarajevo: Muzej književ-
nosti Bosne i Hercegovine 1967, pp. 109–115.
12 Lešić, Zdenko: Književni časopisi kao novi medij umjetničke komunikacije. In: Juzbašić,
Dževad (Hg.): Prilozi historiji Sarajeva. Radovi sa znanstvenog simpozija Pola milenija
Sarajeva, održanog u Sarajevu od 19. do 21. marta 1993. godine. Sarajevo: Institut za is-
toriju 1997, pp. 319–324; Vervaet, Stijn: Centar i periferija u Austro-Ugarskoj. Dinamika
izgradnje nacionalnih identiteta u Bosni i Hercegovini od 1878. do 1918. godine na prim-
jeru književnih tekstova. Sarajevo, Zagreb: Synopsis 2013, pp. 127–220.
13 Eine detailliertere Untersuchung der Gründer und ersten Herausgeber der Bosnischen Fee
findet sich in: Đuričković, Dejan: Bosanska vila. Književnoistorijska studija. Sarajevo:
Svjetlost 1975, vol. I, pp. 19–49. Diese zweibändige Monografie umfasst auch eine voll-
ständige Bibliografie der in der Zeitschrift erschienenen Beiträge. Für eine Analyse des
Programms der Zeitschrift siehe Vervaet 2013, pp. 130–143.

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Serbischer Okzidentalismus?395

lich. Was dieser Parasit ‚Zivilisation‘ [civilizaciona nalepa] angerichtet hat, ist weit
schlimmer als die Gewalt und Brutalität eines ausländischen Feindes.14

Es wird sehr schnell deutlich, dass Österreich-Ungarn als der Westen wahr-
genommen wird oder zumindest als Importeur (oder Träger) von Modernität.
In einer weiteren Kurzgeschichte, die neue Formen von Zeitvertreib wie „Pick-
nicks, Bälle, Tanzschulen und andere Unterhaltungen“ kommentiert, seufzt der
Erzähler schließlich: „Wo sind die guten Zeiten geblieben, als wir nichts von
diesem schwäbischen Müßiggang wussten!“15
Die Zeitung Bosnische Post veröffentlichte 1889 eine Liste von Neologismen,
die in Bosnien erst während der Herrschaft der Habsburger, die zu dem Zeit-
punkt zehn Jahre gedauert hatte, Teil der Alltagssprache geworden waren – in-
teressanterweise befindet sich auch Zivilisation unter den neu geprägten Wör-
tern.16 De facto übernahm die Bosnische Post diesen Text von der kroatischen
Zeitung Obzor, die ihn einige Tage zuvor publiziert hatte.17 Die mit 186 Einträ-
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gen beeindruckende Liste umfasst eine Reihe von Germanismen, Lehnwörtern


aus dem Ungarischen sowie typisch bürokratische Ausdrucksweisen. Neben
inteligencija, diplomacija, intervencija, monarhija finden sich aber auch Begriffe
wie anarhija, atentat, bomba, autonomija, demonstracija und civilizacija. Wie
der Kommentar der Zeitung feststellt, handelt es sich um „eine ganze Reihe von
Worten, welche die bosnisch-hercegovinische Bevölkerung erst seit der Occupa-
tion gelernt hat, und die in der That hier zu Lande bereits gang und gäbe sind“.18
Der Kommentar macht zunächst einen ‚zivilisatorischen‘ Diskurs sichtbar, der
das ‚Lernen‘ dieser Wörter an sich schon als kulturelles Ereignis begreift; doch
erweist sich als nicht weniger von Interesse, dass der diesem Diskurs inhären-
te Widerstand mit ‚importierten‘ Begriffen wie „Anarchie, Attentat, Bombe,

14 Eröffnungstext in der ersten Bosanska vila 1/1885, Nr. 1, p. 2: „Vi ste dakle na putu da se
‚civilizirate‘, da postanete ljudi od ‚svijeta‘. Nitko nema ništa protivu toga, već se mora
radovati tome iz sveg srca. Samo neka ta ‚civilizacija‘ [sic] ne dođe kod vas s repom na-
prijed. To bi bilo grdno zlo. Što učini takova ‚civilizacijona‘ [sic] nalepa, mnogo je crnje i
gore od tuđinske sile i obijesti.“ [alle Hervorh. St.V.]
15 Bosanska Vila 2 (1887), Nr. 24, p. 371: „Dođe vrijeme piknika, balova, tancšula i dru-
gijeh zabava […] Kamo ono sretno doba, kada za ove bresposlice švapske ne znados-
mo!“ Zoran Konstantinović hat darauf hingewiesen, dass das Wort Schwabe/schwäbisch
(Švaba/švapski) als abwertende Bezeichnung nicht nur für Deutsche und Österreicher
verwendet wurde, sondern auch für Serben oder Kroaten der Habsburger Monarchie:
Konstantinović, Zoran: ‚Nemac‘ und ‚Švaba‘ in der serbischen Literatur. In: Schubert, Ga-
briella / Dahmen, Wolfgang (Hg.): Bilder vom Eigenen und Fremden aus dem Donau-Bal-
kan-Raum. München: Südosteuropa-Gesellschaft 2003, pp. 169–178, insbes. p. 170f.
16 Bosnische Post, 09.01.1889, Nr. 2, p. 2.
17 Obzor, 01.01.1889, Nr. 1, p. 1.
18 Ibid. [Hervorh. St.V.]- Nedad Memić beschäftigt sich in seinem Beitrag zum vorl. Sammel-
band ausführlich mit diesem Themenbereich.

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Autonomie, Demonstration“ in vielen Publikationen der noch jungen Provinz


offensichtlich ebenfalls gegenwärtig war. Die Tatsache indes, dass besagte Liste
zuerst in einer Zagreber Zeitung erschienen war, spricht ebenso Bände, näm-
lich dass kurz nach der Okkupation von Bosnien und der Herzegowina viele
kroatische Journalisten, Schriftsteller, Intellektuelle und Politiker diese Gebiete
offenkundig immer noch als rückständig und ‚türkisch‘ ansahen.19
Doch welche Aspekte des westlichen bzw. österreichisch-ungarischen Mo-
dernismus (oder: Zivilisation) erregten die größte Sorge? Wie dies häufig auf
Autoren zutrifft, die okzidentale Diskurse und Stereotypierungen bemühen,
lehnten sie alles Neue sowie jede Entwicklung ab, die mit einer modernen urba-
nen Kultur in Verbindung gebracht werden konnte – von Kleidung über neue
Moden bis hin zur Emanzipation der Frau. Ein Zitat aus der ersten Ausgabe der
Kulturzeitschrift Bosanska Vila illustriert die immense Bedeutung, die Frauen im
Kampf gegen Neuerungen bzw. für den Erhalt der Tradition zukam:
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Was die heutige Mode betrifft, so fehlen mir die Worte, mein Bruder. Wenn ich unsere
Frauen in diesen Lumpen und Fetzen und Putzlappen sehe – ich habe keine Ahnung
wie man all diese teuflischen Dinge nennt – statt in unserer schönen traditionellen
Kleidung, und wenn sie auf ihren Köpfen diese Hüte und komplette Heuhaufen tragen
statt die serbischen Flechten, die in unseren Liedern besungen werden, dann gerät
meine Seele in Unruhe und ich habe keine anderen Worte als: Schäme Dich im Ange-
sicht Gottes und ehrenvoller Leute! Es ist eine Schande für Deine serbische Religion
und die Milch Deiner serbischen Mutter, dass Du das reine serbische Blut besudelt
hast!20

In den Beiträgen der frühen Bosanska vila stand der serbische Nationalismus
zumeist in enger Verbindung mit traditionellen patriarchalen Werten, die deren
Autoren in der ‚authentischen‘, ‚reinen‘ Dorfkultur verkörpert sahen. Solcher-
weise erhielt alles Bekannte, Traditionelle und Serbische ‚von uns‘ eine positive
Bewertung, während alles Neue, Unbekannte und Fremde/‚Schwäbische‘ nega-
tiv beschrieben bzw. sogar als ‚Schande‘ bezeichnet wurde. Konsequenterweise

19 Zum Stellenwert Bosnien-Herzegowinas im kroatischen Nationalismus des 19. Jhs. vgl.


Stehlík, Petr: Između hrvatstva i jugoslovenstva. Bosna u hrvatskim nacionalno-integ-
racijskim ideologijama 1832–1878. Zagreb: Srednja Europa 2015. Über die kroatischen
Reiseberichte von Matija Mažuranić (1842) und Ivan Kukuljević-Sakcinski (1858), vgl.
ibid., pp. 26 ff. u. 57 ff.
20 Bosanska Vila 1 (1886), Nr. 13, p. 193: „O današnjoj modi ne mogu brate ni prosloviti. Kad
vidim na našim ženama onolike krpe i zakrpe i nekake penjge i pripenjge – ne znam
kako vi one đ avole zovete – umjesto lijepoga našeg starinskoga odijela, i one na glavama
konđei čitave plastove nose na mjesto srpskih pletenica, što ‘no se u pjesmama pjevaju,
smuti mi se u duši, pa vam ne mogu ništa reći, nego: crn vam obraz i pred Bogom i pred
poštenim ljudima! Jazuk vam bila srpska vjera i srpsko mlijeko, što opoganiste čistu krv
srbinjsku!“

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Serbischer Okzidentalismus?397

wurden daher in erster Linie die Fremden beschuldigt, die Mode und die guten
Sitten der bis dahin ehrenvollen serbischen Frauen zu verderben. Allerdings
konnten sich offensichtlich auch Männer nicht den negativen Seiten moderner
Zivilisation entziehen:
Ich bitte Dich also, zeige mir einen einzigen unserer serbischen Brüder, der, nach der
Arbeit, wenn er sein Geschäft abgeschlossen hat, sofort nach Hause geht. Ich gebe
Dir einen Pfennig, wenn Du einen einzigen für mich findest. Alles ist abartig – ich
meine, alles ist zivilisiert. Jeder, der ein wenig Rückgrat zu haben glaubt, geht direkt in
ein Gasthaus, danach zum Billard, danach zu seiner Kartenrunde oder spielt Domino,
und ein wenig später besucht er sogar noch andere Etablissements. Du weißt sehr gut,
welche Orte ich meine.21

Die Autoren der frühen Bosanska vila warnten ihre Leser nicht nur vor den
negativen Seiten der Moderne, sondern betonten zudem, dass die Leser tradi-
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tionelle, sogenannte orthodox serbische Werte bewahren sollten. Dies ist ein
Anliegen, das in erster Linie die familiäre und gesellschaftliche Position von
Frauen betrifft, obwohl im folgenden Ausschnitt aus der Bosanska Vila vor allem
der pater familias direkt angesprochen wird:
Vor allem erziehe Deine Töchter zu guten Frauen und Müttern. Auch wenn es lächer-
lich anmutet, so sage ich Dir: Gnade dem Volk, das keine richtigen Frauen hat. […]
Achtet auf Eure Frauen, damit sie nicht sündigen – es ist grauenhaft, wenn eine Frau
keine Frau ist. Es gibt genügend Beispiele in der zivilisierten Welt – in der Gesellschaft,
in der Familie, überall wo zwei Frauen zusammenkommen. Es ist ein Unheil, das das
Leben und den Frieden einer Familie zerstört, Bekannte und Freunde zum Streiten
anstiftet, die Gemeinde und den Staat vernichtet.22

Es ist bemerkenswert, dass die Frau hier nicht nur als Hüterin traditioneller
Werte und als Stütze der Familie vorgestellt wird, sondern dass ihre Stellung
letztlich über Sein oder Nicht-Sein des Staates entscheidet. Darüber hinaus wird
deutlich, dass vor allem Frauen die Neigung zugeschrieben wird, besonders
anfällig für bestimmte moralisch verwerfliche Seiten der neuen Zivilisation zu

21 Bosanska vila 1 (1886), Nr. 13, p. 194: „A deder ti sad upri prstom u brata Srbina, koji
ćeti, kad dućan zatvori i posao ostavi pravo kući. Evo ti groš ako mi ga nađeš. Sve se to
izopačilo, hoću reći, civiliziralo. Ko je malo pojačih leđa taj ide pravo u kafanu, pa u bili-
jar, karte i domine, a malo poslije i po drugim mjestima. Ti već znaš gdje.“
22 Bosanska vila 1 (1886), Nr. 1, p. 2 [Hervorh. St.V.]: „I to učite u prvom redu vaše šć eri, da
budu dobre žene i prave matere. Jer, ma koliko da će izgledati smiješno, ja ću vam reći:
teško narodu koji nema pravih žena. […] Čuvajte dakle vaše žene, da negrješe dušu, –
strašno je kad žena – nije žena! A toga ima dosta međ civilizovanim svijetom – u društvu,
u porodici gdje god stanu dvije žene zajedno. To je zlo, koje ruši porodični život i mir;
koje zavađa rođake i prijatelje; koje ruši opštinu i – državu.“

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398 Stijn Vervaet

sein. Dazu zählt die Mode ebenso wie neue Umgangsformen mit dem anderen
Geschlecht bzw. ganz allgemein Sitten, die nicht nur in Mädchenpensionaten,
sondern auch von populären Romanen vermittelt worden seien. Diese Auffas-
sung wird auch von einem der prominentesten Autoren der Bosanska vila ver-
treten, nämlich von Hadži Savo Kosanović, der unter dem Pseudonym ”Neter
de” publizierte.23 Kosanović wurde der erste bosnische Metropolit, nachdem
er 1882 seinem phanariotischen Vorgänger, dem Griechen Mtimos, nachgefolgt
war. Er war eine bekannte öffentliche Persönlichkeit und insbesondere unter
der orthodoxen Bevölkerung populär.24 Er verfasste unter anderem eine Ge-
schichte über ein bosnisches Mädchen, das ein Verhältnis mit einem österrei-
chischen Offizier hat. Obwohl die Moral der Geschichte keinerlei Zweifel offen
lässt – flirte nicht mit Ausländern –, fühlte sich der Autor dennoch bemüßigt,
den folgenden Kommentar über den schlechten Einfluss moderner Erziehung
auf die Sitten junger Mädchen hinzuzufügen:
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Es ist kein Vergnügen, ein Dutzend alter, mittelalterlicher Romane zu lesen, in denen
der unglückliche Liebhaber durch Feuer und Wasser gehen muss, bis er endlich in die
Arme irgendeiner Rosinante oder Dulcinea fällt. Alles Heimatliche ist natürlich nicht
gut genug – weder die Art, einer den Hof zu machen, noch die anderen Bräuche; die
einheimischen Burschen sind zu grob, aber ein Offizier – oh, das ist etwas anderes,
weil er mit den Frauen zu reden und sie zu unterhalten versteht.25

An den angeführten Beispielen fällt also auf, dass der anti-westliche Diskurs
in hohem Maß via den Körper und die Sitten der Frauen argumentiert. Zusam-
menfassend kann festgestellt werden, dass der Okzidentalismus in den frühen
bosnisch-serbische Literaturzeitschriften als Reaktion gegen die Urbanisierung
und Modernisierung entstand, die als Bedrohung traditioneller Werte und Sitten
erfahren wurden.

23 Vgl. Đuričković 1975, vol. II, p. 13.


24 Vgl. Okey, Robin: Taming Balkan Nationalism. The Habsburg ‘Civilizing Mission’ in
Bosnia, 1878–1918. Oxford: Oxford University Press 2007, pp. 34–41. Zum Leben von
Kosanović siehe auch Ljubibratić, S.: Arhiepiskop i mitropolit Sava Kosanović. In:
Dušanić, Svetozar (Hg.): Spomenica povodom osamdesetogodišnjice okupacije Bosne i
Hercegovine 1878–1958, pedesetogodišnjice aneksije 1908–1958 i četrdesetogodišnjice
oslobođenja i ujedinjenja. Belgrad: Srboštampa 1959, pp. 76–82.
25 Bosanska Vila 6 (1891), Nr. 15, p. 228: „Nije ni šala pročitati nekoliko tuceta starih srednje
vjekovnih [sic] romana, u kojima nesretni ljubavnik mora proći kroz vatru i vodu, dok
najposlije ne padne u zagrljaj kakvoj Rozinandi ili Dulcineji. Sve što je domaće naravno
da ne valja, ni razgovor ni običaji, momci su suviše prosti, a kakav oficir – o to je što
drugo, taj se zna razgovarati, pa zabavljati žensku.“

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Serbischer Okzidentalismus?399

3. Antikoloniale Satire: Savo Skarić und Petar Kočić


Eine humorvollere, aber durchaus ähnliche Form des okzidentalistischen Dis-
kurses findet sich in den satirischen Kolumnen von Savo Skarić, die von 1906
bis 1909 in der Zeitschrift Srpska riječ [‚Das Serbische Wort‘] unter dem Titel
Zembilj [‚Die Tasche‘] veröffentlicht wurden. Skarić machte den Begriff kuferaš
populär: ein Spottname, der metonymisch auf die zahlreichen Beamten und öko-
nomischen Immigranten und Einwanderer im Allgemeinen verweist, die seit der
Besetzung von allen Teilen der Monarchie nach Bosnien-Herzegowina gekom-
men waren (etymologisch kann der Begriff kuferaš auf das deutsche Wort Koffer
zurückgeführt werden). Skarić beschreibt diese Koffer-Träger folgenderweise:
Ein kuferaš ist jeder, der mit seinem Koffer nach Bosnien kam, auf Kosten dieses Vol-
kes lebt und ihm etwas anderes wünscht als es sich selber wünscht. Ein Mann jedoch,
der die Ideale von diesem Volk als seine Ideale anerkennt, ist kein Koffer-Träger, auch
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wenn er von weither kommt.26

Eine seiner Kolumnen verfasste Skarić in Form einer ironischen Glückwunsch-


adresse nicht zum dreißigsten, sondern zum 29. Jubiläum der Besetzung, mit
der er eine Interpretation der sogenannten österreichisch-ungarischen ‚Kul-
turmission‘ vorträgt, die einigermaßen von der Sichtweise der habsburgischen
Verwaltungsbeamten abwich. Mit einigem Zynismus erinnert er daran, wie im
Zuge der militärischen Besetzung die ersten kuferaši in Bosnien auftauchten
und mit ihnen negative Stereotype wie ‚dumme Bosnier‘ und die Emanzipation
bosnischer Mädchen. Seither, so Skarić, seien die bosnischen Wälder von Arbei-
tern und Polizisten statt von Wölfen und Haiduken27 bevölkert:
Vor genau 29 Jahren betrat der erste Koffer Bosnien und damals tauchte auch die
Interjektion Dummer Bosniak auf. […] Vor der Besetzung weinten unsere Frauen und
Mädchen unter der Knechtschaft von Halstüchern oder anderen Bändern mit golde-
nen venezianischen Dukaten, Thalern und Zwanzigern, und nun werden sie zum Stolz

26 Skarić, Savo: Izabrana djela. Zembilj, šala i maskara. (Hg. von Dejan Đuričković) Sara-
jevo: Svjetlost 1982, p. 163 [erstmals veröffentlicht in Srpska riječ 1908, Nr. 9]: „Kuferaš je
svaki onaj, koji je došao sa koferom u Bosnu, živi od ovoga naroda, a želi mu nešto drugo,
nego što narod sam sebi želi. Onaj čovjek, opet, koji u idealima ovoga naroda nalazi i
svoje ideale, nije kuferaš niti može biti, pa ma on bio čak iz Čina i Mačina.“
27 Als Haiduken (auch Hajduken, Haiducken, Heiducken) wurden im südosteuropäischen
Raum Straßenräuber und Briganten bezeichnet, die seit dem späten 16. Jahrhundert (als
eine Art Sozialbanditentums [social bandits], um Hobsbawms zutreffenden Ausdruck zu
leihen) gegen die osmanische Herrschaft kämpften. In der Balkanepik und in der ro-
mantischen Literatur erscheinen sie als Rebellen und Freiheitskämpfer, de facto raubten
sie aber nicht nur Vertreter der osmanischen Herrschaft, sondern auch lokale Händler
und Reisende aus. Vgl. Hösch, Edgar et al. (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas.
Wien: Böhlau 2004, p. 269f.

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400 Stijn Vervaet

des zwanzigsten Jahrhunderts ‚frei‘. Die Arbeiterklasse, die zuvor wie Aschenputtel
zu Hause saß, geht jetzt – Gott sei gedankt – in Amerika an die frische Luft. Unsere
Wälder, in denen bis dahin wilde Wölfe und Haiduken lebten, werden jetzt von zah-
men ausländischen Arbeitern [škutori] [der Firmen, S.V.] Steinbeis28 und Ortlieb29
bewohnt. Es lebe die Landesregierung!30

Skarić teilte offensichtlich die politischen Ansichten der Zeitschrift Srpska riječ.
In seinen Beiträgen lassen sich grundsätzlich drei Stereotype unterscheiden,
die auch für den Grundton der Zeitschrift charakteristisch sind. Lešić zufolge
können diese wie folgt zusammengefasst werden: 1) Der Katholizismus wird als
Brücke zur permanenten Annexion Bosnien-Herzegowinas durch die österrei-
chisch-ungarische Monarchie gesehen; aus diesem Grund sind Erzbischof Josip
Stadler und andere kuferaši bzw. ‚Kulturträger‘ aus Kroatien die bevorzugten
Angriffsziele von Skarićs erbitterten Satiren. 2) Bosnische Muslime stellen eine
einzigartige ethnische Gruppe dar, mit denen die Serben eine Gemeinschaft
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bilden sollten; diese Haltung findet sich in Skarićs Angriffen auf die Zeitung
Bošnjak sowie auf den erfolgreichen Unternehmer Ademaga Mešić, der mehrere
muslimische Zeitungen besaß. 3) Das Hauptziel der oppositionellen Kräfte in
Bosnien-Herzegowina sollte darin bestehen, sich im Rahmen der Autonomie-
bewegung in Bezug auf Religion und Bildung für gleiche Bürgerrechte einzu-
setzen. Auf diesen Beweggrund lässt sich schließlich Skarićs Kritik an Bildungs-
instanzen und Zensur zurückführen.31 Bemerkenswerterweise erörtert Skarić
jedoch nicht Fragen der Landreform oder der Bauernrechte, aber auch an der
Arbeiterklasse zeigt er kein besonderes Interesse; dennoch wäre es verfehlt,
ihn als glühenden Befürworter der serbischen nationalen Sache zu betrachten.
Ähnlich wie die Autoren der frühen Bosanska vila lehnt Skarić alle Neuerun-
gen ab, die seine Sarajevoer Mitbürger/innen von den österreichischen Beset-

28 Bosnische Forstindustrie A/G Otto Steinbeis, Eigentümer der Eisenbahn von Ribnik nach
Knin, von der das Holz zum dalmatinischen Hafen von Šibenik transportiert wurde.
29 Eissler und Ortlieb waren große Holzunternehmen mit Sitz in Zavidović .
30 Skarić 1982, p. 163: „Evo se navršilo ravno igrmi dokuz sene [29. godine], kako je u Bosnu
unišo prvi kufer i kako je postala uzrječica Dume[r] Bošnjak.[…] Naše su stare žene i dje-
vojke prije okupacije pištale u groznim okovima od ogrlica počelica sa rušpama, talirima
i cvancikama, a sada su na ponos dvadesetog vijeka, postale ‚slobodne‘. Radna snaga
narodna, koja je prije ko ćućumisla čuvala kućne pragove, sad fala Bogu ide na promjenu
vazduha u Ameriku. Gore naše, koje su do sada skrivale bijesnog vuka i hajduka, sad skri-
vaju pitome Štajnbajsove i Ortlibove škutore. […] Šifio zemaljska vlada!“ (Hier sei noch
darauf hingewiesen, dass Skarić – wie auch Kočić – häufig die von Deutschsprachigen
in der Regel eher stimmlos ausgesprochenen, aber im Serbo-Kroatischen stimmhaften
Konsonanten ž und v karikiert darstellt: z. B. ‚šifio‘ statt dem korrekten ‚živio‘.)
31 Lešić, Zdenko: Pripovjedačka Bosna. Bd. II: Pripovjedači do 1918. Sarajevo: Institut za
književnost / Svjetlost 1991, p. 188f.

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Serbischer Okzidentalismus?401

zern übernahmen. In seiner Beschreibung des Korsos von Sarajevo kontrastiert


er etwa durchaus amüsant neue, urbane Gepflogenheiten der Verführung mit
dem traditionellen Brauch des ašikovanje (Hofmachen, Flirten). Den Korso be-
zeichnet er als „einen Turtel-Jahrmarkt“ (jedan ašikluk-bezistan) bzw. als „einen
Liebesmarkt“ (jedna ljubavna markala) – als einen Platz also, wo „verheira-
tete Frauen auf den Mann anderer Frauen ein Auge werfen, und verheiratete
Männer auf die Frauen von anderen“ und wo „ganz allgemein der Grund für
eine Scheidung auftaucht“.32 Ähnlich wie die Autoren der Bosanska vila tendiert
Skarić dazu, patriarchale Idylle gegen neue Gewohnheiten zu verteidigen. So
warnt er die Mädchen von Sarajevo, nicht vor der attraktiven ‚schwäbischen‘
Mode zu kapitulieren, wobei er die traditionellen ‚serbischen‘ Sitten gegen die
Sittenlosigkeit der modernen Städte und der aufkommenden bürgerlichen Kul-
tur verteidigt: „Frauen, bewahrt den guten alten Ruf, den Sarajevo dank seiner
Mädchen und ihres Fleißes, ihrer Sparsamkeit und Sauberkeit immer hatte.“33
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Allerdings hatte der Einzug der Modernität in Bosnien-Herzegowina nicht


nur neue Gewohnheiten, neue Moden oder neue moralische Standards zur Fol-
ge, sondern auch die Herausbildung eines modernen Rechtssystems, die Ein-
führung des verpflichtenden Militärdienstes sowie die Schaffung eines bis da-
hin unbekannten bürokratischen Systems. Die Konfrontation des bosnischen
Bauern mit den Disziplinierungsmechanismen des Habsburger Reiches war
ein bevorzugtes Thema von Petar Kočić, einem glühenden serbischen Nationa-
listen und erbitterten Gegner der k. u. k. Herrschaft in Bosnien-Herzegowina.
Bereits in seiner ersten Kurzgeschichte mit dem Titel Tuba schildert Kočić die
Einberufung zum Militärdienst in einer Weise, als würden die Rekruten direkt
in den Krieg geschickt werden – mit einer dieser Darstellung entsprechenden
Atmosphäre im betreffenden Dorf. Als einer der Protagonisten im Lauf der Ge-
schichte in den Baracken von Graz stirbt, verflucht seine Verlobte die Stadt
mit den Worten „Graz ist ihr Name – sie soll brennen!“34 In seinem satirischen
Theaterstück Jazavac pred sudom ('Der Dachs vor Gericht', 1902) präsentiert er
den Habsburger Modernismus als hohle Bürokratie, wobei er insbesondere die
herablassende Behandlung bosnischer Bauern durch österreichische Beamte
hervorhebt.35

32 Skarić 1982, p. 68f.: „udate žene namiguju na tuđe muževe, a oženjeni ljudi na tuđežene“;
„gdje uopće teku razlozi za razvod braka.“
33 Skarić 1982, p. 70: „Ženskadijo [sic], čuvaj onaj stari dobri glas, kojega je Sarajevo uvijek
imalo radi svojih djevojaka i njihove vrednoće, tedaruća i čistine.“
34 Kočić, Petar: Sabrana djela. 3 Bände. Sarajevo, Belgrad: Svjetlost, Prosveta 1967, vol. I,
p. 40: „E, jes’, Grac mu se rekne, vatra ga sagorela!“
35 Zu Kočić siehe auch den Beitrag von Vahidin PreljeviĆ im vorl. Sammelband.

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402 Stijn Vervaet

Interessanterweise zeigen Kočićs Geschichten eine weitere Perspektive des


Okzidentalismus, auf den Buruma und Margalit hinwiesen: die Überzeugung,
dass der moderne, aber materialistische Westen die moralischen Werte und
das ethische Bewusstsein des Ostens niemals verstehen würde.36 Diese Ansicht
findet sich in Geschichten wieder, in denen die starke emotionale Verbindung
bosnischer Bauern mit der Natur als zentrales Motiv eingesetzt wird. Kočić
verweist immer wieder auf die Unvereinbarkeit traditioneller Werte mit den
‚unmenschlichen’ österreichisch-ungarischen Gesetzen, wobei er betont, dass
die Urheber der k. u. k. Verwaltung die Weltanschauung der bosnischen Bauern
nicht begreifen würden. Aus diesem Grund kann auch David Štrbac, der Prota-
gonist des Stücks Der Dachs vor Gericht, das Feld, auf dem der Dachs gefangen
wurde, nicht benennen oder genau bezeichnen. Deshalb sagt er, dass das Feld
„weder dem Zar noch dem Spahi noch David“ gehöre.37 Auf diese Weise verdeut-
licht er, dass die Verbindung, die er mit seinem Land hat, nicht in der Sprache
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der kolonialen Verwaltung zum Ausdruck gebracht werden kann, die zwar ra-
tional, aber unmenschlich ist.38
In einer anderen Geschichte, Vukov gaj (‚Vuks Hain‘, 1910), beschreibt Kočić
den Konflikt zwischen Gesetz und menschlichen Gefühlen als Konfrontation
zwischen (bosnischen) geistigen Werten und Naturverbundenheit einerseits
und (österreichisch-ungarischer) materialistischer Habsucht andererseits. Eine
Schlüsselrolle in dieser Geschichte spielt ein Hain, den der titelgebende Prota-
gonist Vuk seit seiner Kindheit gepflegt hat. Es handelt sich wiederum um einen
Ort, „der allen und niemandem“39 gehört. Der Erzähler betont Vuks innige Na-
turverbundenheit: „er liebte diese Buchen und Ahornbäume, als wären sie seine
Verwandten, er sprach mit ihnen wie mit seinem Bruder oder seiner Schwester“
und ihr Flüstern „wiegte ihn in Träume und machte ihn trunken vor Freude“.40
Die Dorfbewohner achten Vuks Liebe für den Hain und behandeln diesen wie
ein Allerheiligstes.41 Doch dann verkauft der Spahi den kleinen Wald an ein aus-

36 Buruma & Margalit 2004, pp. 75–99.


37 Kočić 1967, vol. I, p. 178: „[ona nije] ‘ni carska, ni spa’ijska, ni Davidova.“
38 Young hat darauf hingewiesen, dass Kolonialismus ein neues Verständnis von Land im
Sinne von Privateigentum mit sich brachte: „In colonialism, therefore, we often have
a conflict between societies that do and do not conceive of land as a form of private
property: at one level indeed, colonialism involves the introduction of a new notion of
land as property, and with it inevitably the appropriation and enclosure of land. This
develops into a larger system of the imposition of economic roles and identities.“ (Young,
James: Colonialism and the Desiring Machine. In: Castle, Gregory [Hg.]: Postcolonial
Discourses. Oxford: Oxford Univ. Press 2001, p. 84f.)
39 Kočić 1967, vol. II, p. 56: „bila je svačija i ničija“.
40 Ibid., p. 56f.: „[t]e bukve i javorovi su mu mili i dragi kao nešto svoje rođeno što mu je
priraslo za dušu i srce.“ „[njihovo šuštanje] mu je uvijek dušu zanosilo i opijalo“.
41 Ibid., p. 58: „k’o svetinja jedna“.

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Serbischer Okzidentalismus?403

ländisches Holzunternehmen, das die Bäume abholzen und verkaufen will. Der
Protest der Dorfbewohner gipfelt in einem Aufruhr und endet in einer Schlacht
mit der Polizei, die die Holzfäller – Tagelöhner, die für die Arbeit, die keiner der
Einheimischen machen wollte, angestellt wurden – zu beschützen versucht. Der
Erzähler fasst die Situation kurz wie folgt zusammen: „Die eine Seite führte das
Gesetz ins Feld, die andere Gott und seine Wahrheit.“42 Allerdings wird schnell
deutlich, welche Seite den Streit gewinnt: Vuk und einige andere Dorfbewohner
sterben in der Auseinandersetzung, und der Wald wird schlussendlich abge-
holzt. Das Welt- und Lebensverständnis von Kolonisatoren und Kolonisierten
stehen einander diametral gegenüber, der Erzähler sympathisiert jedoch deut-
lich mit Letzteren.

4. Heroischer Okzidentalismus: ‘Junges Bosnien’ (Mlada Bosna)


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Die Mitglieder der revolutionären Studentenorganisation ‚Junges Bosnien‘


(Mlada Bosna) können in gewisser Weise ebenfalls zu den Okzidentalisten ge-
zählt werden. Allerdings erinnern die Schriften dieser aufständischen Schüler
und Studenten weniger an die moralisch-didaktischen Werke der anti-moder-
nistischen Autoren der frühen Bosanska vila als vielmehr an die Texte russischer
Revolutionäre oder anderer radikaler Kämpfer gegen den Westen.43
Die ‚Jungen Bosnier‘ kritisierten die österreichisch-ungarische Herrschaft
ebenso sehr wie die ‚Passivität‘ der meisten serbischen Händler, die sie be-
schuldigten, feige und opportunistisch zu sein – mit anderen Worten: es mangle
ihnen an Heroismus. Die Bereitschaft der ‚Jungen Bosnier‘, sich selbst ‚für die
Sache der Nation‘ zu opfern, lässt sich daher eher als ‚heroischer Okzidentalis-
mus‘ bezeichnen. Oder, um die Haltung in den Worten von Vladimir Gaćinović,
dem führenden Ideologen des ‚Jungen Bosnien‘ zu illustrieren: „entweder wir
sterben im Leben oder wir leben im Tod“.44 Derartige Ideen gewannen unter
jungen Universitätsstudenten insbesondere nach einigen Attentatsversuchen
an hochrangigen habsburgischen Verwaltungsbeamten in Bosnien-Herzegowi-
na und im benachbarten Kroatien an Popularität. Überzeugt, dass die heiligen
Ziele, für die sie kämpften, alle Mittel rechtfertigen, bewunderten sie Bogdan
Žerajić für sein 1910 versuchtes (und gescheitertes) Attentat auf den bosni-
schen Statthalter General Marijan Varešanin sowie Luka Jukić für seinen 1912
unternommenen Versuch, den Gouverneur (ban) von Kroatien, Slavko Cuvaj,
zu ermorden. Angespornt durch diese und andere Attentatsversuche (in Italien,

42 Ibid., p. 61: „Prva se strana poziva na zakon, a druga na ime boga i božju pravdu.“
43 Vgl. Buruma & Margalit 2004, insbes. pp. 49–73.
44 Zit. n. Čerović, Božidar: Bosanski omladinci i Sarajevski atentat. Sarajevo: Trgovačka
štamparija 1930, p. 16: „ili u životu mreti, ili u smrti živeti“.

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404 Stijn Vervaet

Russland), begannen einige von ihnen ein Attentat auf den Thronfolger Ös-
terreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand, zu planen und am 28. Juni 1914
auszuführen.
Vor allem Gaćinović stellte Žerajić als Helden und als Vorbild für die ‚Jungen
Bosnier‘ dar. In einem Žerajić gewidmeten Text mit dem Titel „An die zukünf-
tige Generation“ (Onima koji dolaze) präsentiert Gaćinović die letzten Worte
Žerajićs in pathetischem Stil als dessen Testament bzw. als heiliges Testament,
das er für seine revolutionären Brüder hinterlassen habe:
Die Jugend jener Völker, die noch nicht aufgewacht sind, so sprach er begeistert,
müssen ein großes Herz haben, […] und ihre ganze Arbeit muss zutiefst dem Leben
[unserer] Rasse zugetan sein […]. Aufgerichtet durch ihre Ideen, heiter und bebend
wie die erste Frühlingssonne, sollte die Jugend ihre Seele und ihr Blut den Gefallenen
und Hungrigen geben. Wie Christus sollten sie ihnen mit Liebe begegnen – selbst
wenn die härtesten und grimmigsten Kräfte gegen sie wüten. […] Wir, die Jüngsten,
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müssen anfangen, eine neue Geschichte zu schaffen.45

Gaćinović zufolge betrachtete Žerajić „die Lage des Serbentums als große
Schande. Einer gewalttätigen Kraft ausgesetzt, hatte er den Zusammenbruch der
serbischen Rasse gefühlt. Er träumte von einem großen Ereignis, das unser gan-
zes Blut versammeln und die Grundlagen für ein neues Leben legen würde. […]
Er war überzeugt, dass die Jugend zu großen Opfern bereit sein sollte.“46 Auch
der spätere jugoslawische Diplomat und Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić,
der damals Mitglied des ‚Jungen Bosnien‘ war, verhehlte seine Begeisterung für
den Attentatsversuch an Slavko Cuvaj zumindest in seinem Tagebucheintrag
vom 8. Juni 1912 nicht:
Heute verübte Jukić einen Mordanschlag auf Cuvaj. Wie großartig ist es doch, wenn
sich die geheimen Fäden der Verschwörung und Revolution zusammenziehen! Wie
glücklich erahne ich die Tage der großen Arbeit! Lang mögen sie leben, die auf den
Bürgersteigen sterben, im Schießpulver und ohnmächtig vor Wut, krank von der ge-
meinsamen Schande. Lang mögen sie leben, die im Geheimen, schweigsam in dunklen

45 Gaćinović, Vladimir: Ogledi i pisma. (H. von Todor Kruševac) Sarajevo: Svjetlost 1956,
p. 66f.: „Omladina neprobuđenih naroda, govorio je oduševljeno, mora imati široko srce
[…]. Ceo njen rad mora biti u dubokom slaganju sa životom [naše] rase. Uzdignuti svo-
jom idejom, vedri i treperavi kao proletnje sunce, mladi moraju davati duše i krvi izglad-
nelim i palim. Kao Hristos moraju imati velike ljubavi prema njima, -- pa makar se na nju
odgovaralo najgrubljim i najsvirepijim životnim silama. […] Mi, najmlađi, moramo početi
stvarati novu istoriju.“
46 Ibid., p. 68f.: „U stanju srpstva video [je] mnogo sramote. Osećao je da se lomi srce srpske
rase, i da to propadanje biva pred brutalnom silom. Sanjao je o jednom velikom događaju
koji će prikupiti svu našu krv i postaviti temelje novom životu. […] [Verovao je] da se
omladina mora spremiti na velike žrtve.“

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Serbischer Okzidentalismus?405

Kammern, eine Rebellion planen und sich immer neue Listen ausdenken. Ich bin nicht
einer von ihnen. Aber mögen auch sie leben.47

Der Erfolg Serbiens in den Balkan-Kriegen ermutigte die Mitglieder des ‚Jun-
gen Bosnien‘, ihren Kampf um die ‚Befreiung des Volkes‘ aus der Herrschaft
der Habsburger weiterzuführen, wie der folgende Ausschnitt eines Briefes von
Borivoje Jevtić verdeutlicht:
Wir hatten den Balkan-Krieg nötig, um wieder nüchtern zu werden, um an die tat-
sächliche Stärke unserer Streitkräfte zu glauben. Denn es war eine Zeit gemeinsamer
Erschöpfung, als sogar unser größter nationaler Optimist ohne Hoffnung in die Zu-
kunft blickte. […] Sie schlugen uns und wir hielten uns ruhig. Für uns hatten sie die
beleidigendsten und beschämendsten Worte, die ein Herr zu seinem Sklaven sagen
kann. Und jene, die gekommen waren, um sich von unserem Brot zu ernähren und
sich an den Früchten unserer Arbeit zu erfreuen, die wir unter Blut und Schweiß
vollbrachten, sie ließen sich nicht einmal dazu herab, Mitleid mit uns zu haben oder
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uns anzulächeln mit dem verächtlichen Lächeln der Überlegenen. Nicht einmal ein
verächtliches Lächeln schenkten sie uns!48

Das Zitat verdeutlicht nicht nur die zentrale Rolle, die die Balkankriege bei
der Herausbildung des heroischen Okzidentalismus bei den ‚Jungen Bosniern‘
spielten; aus dem Zitat spricht zudem ein tiefsitzendes Ressentiment, das Jevtić
(nicht zufällig im Geist Nietzsches, dessen Schriften die Jungbosnier lasen und
übersetzten)49 als das Verhältnis von Herr und Knecht (Österreicher-Bosnier/
bosnische Serben) darstellt und damit den Gegensatz zwischen Kolonisatoren
und Kolonisierten dezidiert hervorhebt. In den Texten der ‚Jungen Bosnier‘ be-
kommt dieses auf Oppositionen beruhende Herrschaftsverhältnis eine nationale
Färbung: Sie rufen die (bosnisch-)serbische Jugend zur ‚geistigen Revolution‘
gegen ein ‚antinationales Regime‘ auf, und fordern von ihr zugleich die Bereit-

47 Tagebuch, 08.06.1912, zit. n. Čerović 1930, p. 253f.: „Danas je Jukić počinio atentat na
Cuvaja. Kako je lepo, da se zatežu konci dela i bune. Kako radosno slutim dane velikih
dela. Neka žive oni, koji umiru po trotoarima onesvešteni od srd ž be i baruta, bolni od
sramote zajedničke. Neka žive oni, koji povučeni, ćutljivi u mračnim sobama spremaju
bunu i smišljaju uvek nove varke. A ja to nisam. A neka žive i oni.“
48 Palavestra, Predrag: Književnost Mlade Bosne. Sarajevo: Svjetlost 1965. Vol. II: Hresto-
matija, p. 16f.: „Potreban je bio balkanski rat da nas rastrezni, da nas uveri u stvarnu moć
naše snage. Jer je bilo u nas jedno vreme kad je duhovima zavladala sveopšta klonulost,
kad su naše najjače nacionalne optimiste gledale mračno u budućnost. […] Tukli su nas i
mi smo ćutali. Imali su za nas najpogrdnije, najsramotnije što možereć i gospodar robo-
vima. I oni, koji su došli da se hrane našim hlebom i uživaju plodove koje smo mi stekli
krvlju svojom i znojem svojim, nisu se udostojili da se na nas sažale i osmehnu prezirnim
osmehom nadmoćnoga! Ni jednim prezirnim osmehom!“ (EA 1913 unter dem Titel Ideje
i dela in der Zeitschrift Srpska omladina.)
49 Palavestra 1965, vol. I, pp. 200, 202, 209, 216.

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406 Stijn Vervaet

schaft, für diesen nationalen Kampf Opfer zu bringen. Der nationale Heroismus
des ‚Jungen Bosnien‘ impliziert demzufolge deutlich eine märtyrerhafte Grund-
haltung.

5. Schlussbemerkung
Die anti-westliche Rhetorik in serbisch-bosnischen Literaturzeitschriften wäh-
rend der österreichisch-ungarischen Zeit der Besetzung tauchte ursprünglich
als konservative Reaktion gegen die Folgen der beschleunigten Urbanisierung
und Industrialisierung des Landes auf. Zunächst stellte diese Rhetorik einen
fruchtbaren Boden für die Stereotypisierung des (habsburgischen) Anderen dar
und generierte solcherweise ein diskursives Bollwerk für den serbischen Natio-
nalismus in Bosnien-Herzegowina. Schlussendlich – und das ist die Ironie der
Geschichte – fungierte der Okzidentalismus aber als einflussreicher Gegenpol
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und in gewisser Weise als Spiegelbild des österreichisch-ungarischen Koloni-


al-Diskurses.
(Aus dem Englischen von Veronika Zangl)

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„Das war ein Stück Orient“407

„Das war ein Stück Orient“

(Post-)koloniale Ambivalenzen und Fantasien in Robert


Michels Die Verhüllte1

Anna Babka (Wien)

So komplex, wie die Definition und Theoretisierung des Kolonialismus selbst,


ist die Frage zu beantworten, wie „das Paradigma ‚Kolonialismus‘ in Hinblick
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auf „Kakanien operationalisiert“2 werden kann. Ist es möglich, „die österrei-


chisch-ungarische Doppelmonarchie […] als ein[en] quasi-koloniale[s] Herr-
schaftskomplex [zu] begreifen, in dem die hegemoniale Kultur sich beständig
durch Grenzziehungen zu ihrem kulturell-zivilisatorischen ‘Anderen’ legiti-
miert, […]“?3 Clemens Ruthners Parcours durch Begriffsbestimmungen und
Zuschreibungen entwirft mehrere Szenarien: So wird etwa – historisch-sozial-
wissenschaftlich – „Österreich-Ungarn als (Pseudo-)Kolonialmacht“ betrachtet,
„die sich anderssprachiger Territorien imperialistisch bemächtigt hat, um sie zu
beherrschen und ökonomisch auszubeuten“, oder aber spricht er von „symboli-
schen Formen ethnisch differenzierender Herrschaft“ in Bezug auf „kulturellen
Formatierungen und Bilderwelten“,4 womit Ähnlichkeiten zu überseeischen Ko-

1 Dieser Text ist eine stark überarbeitete Fassung von Babka, Anna: „Das war ein Stück
Orient“. Raum & Geschlecht in Robert Michels Die Verhüllte. In: Müller-Funk, Wolfgang/
Bobinac, Marijan (Hg.): Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion
des südosteuropäischen Raums und ihr deutschsprachiger Kontext. Tübingen: Francke
2008, pp. 121–132.
2 Ruthner, Clemens: Habsburgs ‚Dark Continent‘. Postkoloniale Lektüren zur österreichi-
schen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018, p. 37.
3 Uhl, Heidemarie: Zwischen ‘Habsburgischem Mythos’ und (Post-)Kolonialismus. Zent-
raleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne. In: Kakani-
en Revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/HUhl1.pdf (2002), p. 2, eingesehen
am 04.04.2018. Vgl. dazu auch Ruthner, Clemens: ‘K.(U.)K. Postcolonial’? Für eine Lesart
der österreichischen (und benachbarter) Literatur/en. In: Kakanien revisited, http://www.
kakanien.ac.at/beitr/theorie/CRuthner1.pdf (2001), sowie Müller-Funk, Wolfgang/Plener,
Peter/Ruthner, Clemens (Hg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der
österreichisch-ungarischen Monarchie. Tübingen: Francke 2002 (= Kultur – Herrschaft –
Differenz 1).
4 Ruthner 2018, p. 37.

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408 Anna Babka

lonialreichen sichtbar werden. Genau diesen kulturellen Formatierungen wid-


met sich die hier vorliegende Analyse eines Textes, der dieser Monarchie als
‘quasi-kolonialem Herrschaftskomplex’ entsprang, in dem das kulturell-zivili-
satorisch ‘Andere’ – mit Said gesprochen, das ‘Orientalische’ – eine bedeutende
Rolle spielt. Die zentrale theoretische Fragestellung ist, ob neben dem expliziten
kolonialen Gehalt des Textes auch seine impliziten kolonialen oder postkolo-
nialen Strukturen lesbar und exponierbar werden oder immer schon exponiert
sind. Die Möglichkeit einer postkolonialen Lesart würde bedeuten, dass es sich
um einen Text handelt, in dem vielfältige, prozesshafte Identitätskonzepte les-
bar sind, binäre Oppositionsstrukturen unterlaufen werden und sich Räume
der Hybridität eröffnen, wie sie u. a. mit Homi K. Bhabhas Konzept des ‘Dritten
Raumes’ theoretisierbar sind.
*
Robert Michel (1876–1957), Autor der Novelle Die Verhüllte5 (1907) und Sol-
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dat dieses gleichsam kolonialen Herrschaftskomplexes – eine Kombination, die


ihm die Markierung ‘Soldatenschriftsteller’ eingetragen hat – zählt zu den lang
fast vergessenen, jüngst mit etwas mehr Aufmerksamkeit bedachten Schrift-
steller_innen des 20. Jahrhunderts.6 Seine Themen wie auch seinen Stil fand er,
so Riccardo Concetti in einer autobiografisch orientierten Deutung des Textes,
„weit weg von Wien, infolge der Erlebnisse in der rückständigen österreichi-
schen ‘Kolonie’ Bosnien-Herzegowina“7.
Die hier vorliegende Lektüre widmet sich Fragen (post-)kolonialer Ambi-
valenzen und Fantasien im Zusammenhang mit rassistischen und sexuellen
Stereotypisierungen der kolonisierten Subjekte im Text sowie der Semantisie-
rung von Räumen als ‚Orientalisierung‘. Letztere Zuschreibung erfolgt entlang
Edward Saids Studie Orientalism; deren diskursanalytischer Ansatz geht davon
aus, dass die beiden geografischen und kulturellen Pole ‘Orient’ – ‘Okzident’
und das binäre Verhältnis zwischen ihnen sozial konstruiert sind (eine Ein-

5 Michel, Robert: Die Verhüllte. Novellen. Berlin: Fischer 1907, pp. 9–40.- Die hier ana-
lysierte Novelle Die Verhüllte ist Teil der Novellensamnlung gleichen Namens und wird
nachfolgend mit Seitenzahl im Lauftext zitiert.
6 Vgl. Concetti, Riccardo: Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen
Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens 2018, sowie das Symposium Robert Michel,
Offizier & Autor (1876–1957), 17.-18. November 2017, Musej Hercegovine, Mostar, Bos-
nien-Herzogewina, organisiert von Ibrahim Dizdar, Vahidin Preljević und Clemens Ru-
thner.
7 Concetti, Riccardo: Muslimische Landschaften. Hugo von Hofmannsthals Auseinander-
setzung mit der Prosa Robert Michels. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/
beitr/fallstudie/RConcetti1.pdf (2002), p. 5. Concetti unternimmt eine historische Kon-
textualisierung sowohl des Autors als auch der Novellensammlung selbst und erarbeitet
zugleich biografische Bezüge zwischen dem Autor und der literarischen Szene seiner
Zeit.

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„Das war ein Stück Orient“409

sicht, die, wie es Andrea Polaschegg herausarbeitet, die Forschung seit dem
Erscheinen von Orientalism prägt und die sich in „der Rede vom Orient als west-
licher Erfindung und Imagination, als Fiktion oder Konstruktion durch Titel
und Einleitungen der einschlägigen Studien“8 niederschlägt). Der Orient wurde
ja, wie Said argumentiert, nicht orientalisch vorgefunden, sondern orientalisch
gemacht, d. h. orientalisiert.9
Jener Diskurs über den Orient ist nun besonders durch den Ort seiner Pro-
duktion gekennzeichnet. Dieser Ort ist in erster Linie ein Text des Westens im
Westen, er ist, mit Said gesprochen, eine Idee, die eine Geschichte hat, eine
Denktradition; er umschließt Vorstellungen und Bilder sowie ein Vokabular,
das ihm Realität und Präsenz im und aus dem Westen hervorgehend verliehen
hat.10 Said spricht hier eine wirklichkeitserzeugende Bilder- und Gedankenwelt
an sowie ein spezifisches Vokabular, aufgehoben im (literarischen) Text. Dieser
kann als Ort der Herstellung sowohl des Orients als auch des Okzidents gelten.11
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Das Diktum des vom Westen im Westen gemachten Orients deutet koloniale
Machtverhältnisse als einseitige und führt zu einem der wesentlichen Kritik-
punkte Homi Bhabhas an Said. Bhabha geht mit Foucault davon aus, dass Macht
als ‘unsichtbare’ Disziplinarmacht nicht in eine einzige Richtung wirkt. Sie geht
von multiplen, miteinander verknüpften Machtzentren aus, die alle gesellschaft-
lichen Beziehungen – den Gesellschaftskörper und den Körper des Individuums
– durchdringen, diskursiv konstituieren und zugleich kontrollieren. Nach Bhab-
ha befinden sich „Subjekte […] durch die symbolische Dezentrierung multipler
Machtrelationen, die sowohl als Stützpunkte als auch als Zielscheibe oder als
Widerpart fungieren, immer in disproportionaler Nähe zu einer Position von

8 Ibid., p. 16.
9 Said, Edward W.: Orientalism. New York: Pantheon Books 1978, p. 6.- Was nicht bedeu-
tet, dass der Orient ausschließlich eine Idee ist und dass es keinerlei Referenzpunkte zu
einer ‘Realität’ des Orients geben könne. Doch, wie es Said formuliert, „the phenomenon
of Orientalism as I study it here deals principally, not with a correspondence between
Orientalism and Orient, but with the internal consistency of Orientalism and its ideas
about the Orient (the East as career) despite or beyond any correspondence, or lack the-
reof, with a ‘real’ Orient.“ (ibid., p. 5) Das heißt, dass Said den Diskurs über den Orient
am Konstruierten festmacht, an den Ideen über den Orient und nicht an seiner schieren
Existenz.
10 Vgl. ibid., p. 5.
11 Bereits Frantz Fanon hat in seinem Buch Die Verdammten dieser Erde Europa als Produkt
des modernen Kolonialismus bezeichnet (vgl. Kossek, Brigitte: Post/koloniale Diskurse
und die De/Kolonialisierung von Identitäten. In: Zips, Werner (Hg.): Afrikanische Dia-
spora. Out of Africa – into new worlds. Münster: LIT 2003, pp. 91–112., hier p. 95; vgl.
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, p. 83: „Europa
ist buchstäblich das Werk der Dritten Welt.“).

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410 Anna Babka

Opposition und Herrschaft“12. Diese dezentrierten Strukturen von Macht deuten


zudem auf die „unbewusste Szenerie des latenten Orientalismus“13 hin. Hier
spielt Bhabha auf Saids Differenzierung und zugleich Dichotomisierung in Kate-
gorien, wie dem latenten und dem manifesten Orientalismus an und formuliert
damit einen weiteren Kritikpunkt an Said. Für Said erweist sich diese Opposi-
tionsbildung als wesentlich für sein Verständnis der kulturellen Konstruktion
des Orients und dessen semantischer Sexualisierung durch Schriftsteller_innen.
Unter manifestem Orientalismus versteht Said die frei abgehandelten Ausfüh-
rungen über den Orient, den latenten Orientalismus hingegen korreliert er mit
unbewussten Aussagen und der androzentrischen Konzeption des Orients. Der
literarische Text erweist sich für Said als der Ort, an dem seine Lesart besonders
deutlich wird: „This is especially evident in the writing of travellers and nove-
lists: women are usually the creatures of a male power-fantasy“.14
Homi Bhabhas Kritik an Saids Trennung zwischen dem von Said als manife-
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sten Orientalismus bezeichneten „offen dargelegten Erkenntnissen und Ansich-


ten über den Orient“ und dem latentem Orientalismus als einer „unbewußten
Positivität“ liegt darin begründet, dass Said, obwohl er mit dem Begriff des
latenten Orientalismus die Bedeutung des Unbewussten, der Träume und der
Fantasie anerkennt, eine unzulässige Scheidelinie zieht und damit zugleich „eine
Binarität in die Argumentation einführt“.15 Neben dem Historischen lässt er
der Fantasie als der Szene des Verlangens zu wenig Beachtung zukommen. Be-
wusstes, also der historisch und diskursiv determinierte, diachronische Aspekt,
der die Form und damit den manifesten Orientalismus bezeichnet, und Unbe-
wusstes, das den Inhalt des Orientalismus, „also das unbewußte Arsenal von
Phantasie, imaginativen Schriften und essentiellen Ideen“, ausmacht, sind zwar
unterscheidbar, jedoch, wie die Psychoanalyse zeigt, nicht voneinander zu tren-
nen.16 Der manifeste und latente Orientalismus stehen demnach in einer sich
gegenseitig konstituierenden Beziehung. Saids Orientalismus ist, wie Bhahba
in seiner Kritik weiter akzentuiert, zudem geprägt durch den Begriff der In-
tentionalität, d. h., dass dem „Subjekt der kolonialen Äußerung“ Einheitlichkeit
und Einheit mit sich selbst unterstellt wird. Brigitte Kossek formuliert Bhabhas
Kritik an Said folgendermaßen:
Zu erforschen sind nicht einheitliche Bestrebungen der Unterwerfung von anderen
Menschen […], sondern vielmehr Fantasien und die Funktionen der Ambivalenz, die

12 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen.
Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, p. 106.
13 Ibid.
14 Said 1978, p. 207.
15 Bhabha 2000, p. 106.
16 Ibid., p. 106.

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„Das war ein Stück Orient“411

durch die im kolonialen Diskurs produzierten Stereotypen zum Ausdruck gelangen.


Die Ambivalenz – das Schwanken zwischen Begehren und Verachten – erlangt im
kolonialen Diskurs deshalb eine besondere Wirkung, weil dadurch Identifikations-
ebenen für das konstruierende (und das konstruierte) Subjekt ermöglicht werden.17

Die Möglichkeit der Identifizierung und der Hervorbringung von Subjektivität


erfolgt in einem Prozess der Ambivalenz, also in einem Verlauf, der durch Mehr-
deutigkeit und Vielfältigkeit des Erkennens gekennzeichnet ist. Das Stereotyp
als Fetisch spielt dabei bei Bhabha ein bedeutende Rolle:
Der Fetisch – oder das Stereotyp – gewährt Zugang zu einer ‘Identität, die ebenso sehr
auf Herrschaft und Lust wie auf Angst und Abwehr basiert: in seiner gleichzeitigen
Anerkennung und Ableugnung der Differenz stellt er eine Form von multiplem und
widersprüchlichem Glauben dar. Dieser Konflikt zwischen Lust/Unlust, Herrschaft/
Abwehr, Wissen/Verleugnung, Absenz/Präsenz hat für den kolonialen Diskurs eine
fundamentale Bedeutung.18
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Der Ort der Identifizierung, der Äußerungsraum des Subjekts also, ist, wie Bhab-
ha sich auf Lacan beziehend schreibt, „ein Raum der Spaltung“, ein hybrider
Raum, ein Raum, der zur Vorbedingung wird für die Artikulation kultureller
Differenz.19 Und Bhabha argumentiert:
Erst wenn wir verstehen, dass sämtliche kulturelle Aussagen und Systeme in diesem
widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen
wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit
oder ‘Reinheit' von Kulturen unhaltbar sind, und zwar schon bevor wir auf empi-
risch-historische Beispiele zurückgegriffen haben, die ihre Hybridität demonstrie-
ren.20

Sämtliche kulturellen Äußerungen und Darstellungen, sämtliche Sprechakte,


die performativ an der Hervorbringung von Subjektivität beteiligt sind, finden
in einem Raum statt, der selbst durch Widersprüchlichkeit und Ambivalenz ge-
kennzeichnet ist. Dieser produktive Zwischenraum wird zudem häufig – auch
in der Lesart von Karl-Heinz Magister und Ute Riese (mit Marie Louise Pratt)
– als Raum gedacht, in dem die zueinander in einer machtpolitisch konträren
Bewegung befindlichen kolonialen und postkolonialen Strukturen eine „con-

17 Kossek 2003, p. 105.


18 Bhabha 2000, p. 110.
19 Vgl. ibid., p. 58.
20 Ibid., p. 57.

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412 Anna Babka

tact zone“21 erzeugen, in der verschiedene Kulturbestände in Austausch treten


können – dies im Hinblick auf ein „Miteinander, Ineinander und Gegeneinander
unterschiedlicher Kulturen und kultureller Schichtungen“22.
*
In Bezug auf Michels Novelle kann also gefragt werden: Wo und wie ereig-
nen sich diese verschiedenen Prozesse der Hybridisierung im Text, wie werden
Räume, Zwischenräume erzeugt? Welche Fantasien wirken im Text und wie
artikuliert sich die Ambivalenz sexueller und ethnischer Differenz? Was macht
die Fremdheit des Anderen aus und wie fremd ist das Eigene? Welche ambiva-
lenten Identifikationsprozesse werden im Text für das stereotypisierende bzw.
das stereotypisierte Subjekt lesbar?
Dazu der Einstieg in Michels Novelle Die Verhüllte: Inhaltlich geht es im
ersten Teil um die Beziehung des Ich-Erzählers, eines Soldaten in Wien, zum
Franzosen Rêvignies, einem blonden Schönling und Freund des Ich-Erzählers.
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Die beiden jungen Männer, der eine Student, dem die Welt des Militärs nicht
geläufig ist, der andere ein erfahrener Soldat, lehren einander die jeweilige
Muttersprache und stellen Überlegungen über den Orient an – dies besonders
motiviert durch die Präsenz der muslimischen Soldaten aus Bosnien-Herzego-
wina, die in Wien stationiert sind.23 „Den jungen Rêvignies interessierten meine
bosnischen Soldaten. Er sagte, dass er sie früher nie so lange und von so nahe
hätte betrachten können, und er versuchte bei jedem Einzelnen Zug um Zug
das Orientalische seines Ausdrucks zu erklären“ (p. 11). Das Orientalische wird
vom Ich-Erzähler nicht wirklich beschrieben, die „großen roten Hände“ werden
es wohl nicht sein und auch nicht die „Verlegenheit“ der Soldaten angesichts
dieser unverblümten Musterung (ibid.). Aber die „großen roten Hände“ stehen
im Gegensatz zur hellhäutigen Schönheit von Rêvignies, der als hegemonialer
Beobachter fungiert, vorerst, wohlgemerkt. Der Dunkelhäutige, der ‘Andere’,
kann hier zu Beginn zugleich als Objekt der Neugier wie auch des Verlangens
oder auch der Träumereien Rêvignies gedeutet werden – wie sein Name, dieser
Anklang an das französische Verb rêver, auch deutlich suggeriert.
Die „staunende Neugier“ liegt, folgt man dem Ich-Erzähler, dann aber auch
auf Seiten der sogenannten Orientalen, der in der Fremde stationierten bos-

21 Pratt, Marie Louise: Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. London, New
York: Routledge 1992, p. 4.
22 Magister, Karl-Heinz / Riese, Ute: Eine kleine Genealogie des Begriffs ‘postkolonial’. In:
Drexler, Peter / Schnoor, Rainer (Hg.): Against the Grain/Gegen den Strich gelesen. Stu-
dies in English and American Literature and Literary Theory. Festschrift für Wolfgang
Wicht. Berlin: trafo 2004, pp. 261–281, hier p. 277.
23 Wenn der Ich-Erzähler von ‚seinen‘ bosnischen Soldaten spricht, hat er wohl einen höhe-
ren militärischen Rang, der jedoch nicht spezifiziert wird. Nach seiner Versetzung nach
Mostar wird er als Kommandant bezeichnet.

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„Das war ein Stück Orient“413

nisch-herzegowinischen Soldaten in Anbetracht des Äußeren Rêvignies. Der


Ich-Erzähler beschreibt Rêvignies Aussehen als ungewöhnlich, hatte er doch
„auffallendes, sehr lichtes Blondhaar und von solchem Reichtum, dass es wie
eine Perücke aussah. Auch alles Übrige im Gesicht war so licht, dass die hellen
blauen Augen ganz dunkel zu sein schienen“ (p. 12). Der Ich-Erzähler erzeugt
hier eine weitere Differenz, die Differenz in der Differenz, und er feminisiert
Révignies über das auffallende und reiche Blondhaar. Rêvignies scheint noch
lichter, heller, außergewöhnlicher im Abstand und Unterschied zu den Orienta-
len, aber auch zum Ich-Erzähler selbst, er erscheint so hell, dass selbst die hel-
len Augen dunkel wirken. Im Anschluss an diese Szene gesteht Rêvignies dem
Ich-Erzähler seine Schwärmerei für den Orient. Genau dann findet ein Ereignis
statt, das als Prolepse dieser Konstruktion des Orients im Text als Text verstan-
den werden kann, als Fantasie, in der das ‚Eigene‘, der Okzident, orientalisiert
wird und somit die multiplen und dezentrierten Strukturen der Oppositionen
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ins Spiel kommen, die eine postkoloniale Leseweise zulassen. Eingeleitet wird
dieses Ereignis dadurch, dass Rêvignies in Anbetracht der sich vor den bei-
den Männern ausbreitenden, überwältigenden Wiener Szenerie, die Hand des
Ich-Erzählers ergreift – eine Geste, die zugleich die homoerotischen Fantasien
der Erzählerfigur konnotiert:
Da erfasste Rêvignies plötzlich meine Hand; und ich verstand gleich: Die Sonne zeigte
eben noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand.
Zu beiden Seiten dieser Kuppel ragten, schlanken Minaretten gleich, hohe Fabrik-
schlote. Diese Moschee beherrschte mit ihrer Pracht das ganze Bild. Der übrige Ho-
rizont zeichnete sich nur in undeutlichen Umrissen, die der Einbildungskraft weiten
Spielraum ließen, und die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem abendlichen
Meer zu entsteigen schien. In der Nähe das Neugebäude mit den runden Türmen
störte durchaus nicht und noch weniger störten die Soldaten im Fez. Das war ein
Stück Orient. (p. 12)

Diese Sequenz gerät zu einem fast plakativen postkolonialen Moment des Tex-
tes. Hier ereignet sich die Orientalisierung des Okzidentalen, der Text entwirft
einen neuen Raum, in dem ein Zusammenspiel zwischen Identität und Alterität,
Zentrum und Peripherie evoziert wird. Dieser neue Raum kann nun thesenhaft
über den ‘dritten Raum der Äußerung’24, die zentrale Denkfigur Homi Bhabhas,
beschrieben werden. Nach Endre Hars entwirft dieser Bhabasche Zwischenraum
die
Vorstellung eines Ortes, eines Raums, der sich zwischen den Extremen, den Fest-
gestelltheiten, zwischen den zwei Seiten einer Grenze befindet – mit der Örtlichkeit

24 Vgl. Bhabha 2000, p. 56.

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414 Anna Babka

eines Zwischenraums und Übergangs, dessen Erkenntnisgewinn darin besteht, dass


man Unverträgliches, Verschwiegenes, Unbewußtes ansichtig wird.25

Der beschriebene Ort befindet sich tatsächlich, wenn man so will, zwischen
zwei Seiten einer Grenze. Der innere Kolonialismus ist damit angesprochen,
die Grenzziehungen, Überschneidungen und Zwischenräume innerhalb einer
vermeintlichen Entität, wie sie die Habsburgermonarchie darstellt. Die Fabrik
wird zur Moschee; sie befindet sich nicht im umschwärmten Orient, der doch
eigentlich Teil des Habsburgerreichs ist, nicht an der Peripherie, sondern mitten
im Zentrum, in Wien! Vielleicht wird die Schaffung des Orts in der Phantasie
der beiden Protagonisten auch erst durch die Präsenz der sogenannten orientali-
schen Soldaten möglich, denn noch weniger als das Neugebäude mit den runden
Türmen ‚störten‘, so sagt es der Text, die Soldaten im Fez. Im Gegenteil – der
Fez als orientalische Markierung wird erst im Zusammenhang mit der phantas-
tischen Hervorbringung der Moschee erwähnt. Diese Hervorbringung, dieser
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phantasmatische Raum ermöglicht, wie es scheint, auch die einzige physische


Geste der Zuneigung zwischen den beiden Männern, ist es doch ein Raum „in
dem kulturelle [und sexuelle, A.B.] Differenzen aus der Perspektive von minori-
tären Gruppen artikuliert werden können“26. Der Dritte Raum schafft, wie oben
beschrieben, die Bedingungen dafür, dass kulturelle Symbole nie einheitlich und
fixiert festgelegt sind, sondern mit neuen Bedeutungen ausgestattet, neu inter-
pretiert, übersetzt oder verhandelt werden (können).
Der Ich-Erzähler wird nach Mostar versetzt und kann nicht umhin, seinen
Freund Rêvignies dorthin einzuladen, verspricht er sich doch einen „großen
Genuß davon, wie diese sehr orientalische Stadt auf Rêvignies wirken würde,
der für alles Orientalische zu empfänglich war“ (p. 14). Mostar war einer der am
weitesten südlich gelegenen großen Außenposten des Habsburger Reiches zu
dieser Zeit. Es lag damit im Grenzraum zwischen habsburgischem und osma-
nischem Herrschaftsgebiet und demzufolge im Spannungsfeld von mindestens
zwei Hegemonieansprüchen, einem westlichen, und dem sogenannten östli-
chen, orientalischen, beide mit ihren kulturellen und religiösen Besonderheiten.
Gerade aber diese Lokalisierung an der Grenze erzeugte ein Konglomerat von
Kulturen und Religionen: Die Brücke von Mostar galt als Symbol dieser kul-
turellen Diversität und der Völkerverständigung, einer Verbindung zwischen
Orient und Okzident, zwischen verschiedenen Ethnien, Religionen und Welt-

25 Hárs, Endre: Hybridität als Denk- und Auslegungsfigur. Homi K. Bhabhas theoretisches
Engagement. In: Kakanien revisited, http://www.kakanien.ac.at/beitr/theorie/EHars1.pdf
(2002), p. 2, eingesehen am 04.04.2018 .
26 Birk, Hanne / Neumann, Birgit: Postkoloniale Erzähltheorie. In: Nünning, Ansgar (Hg.):
Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002, pp. 115–152, hier p. 127.

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„Das war ein Stück Orient“415

anschauungen, dabei nicht nur zwischen der Welt des Christentums und der
islamischen Welt, sondern auch zwischen den katholischen Kroaten und ortho-
doxen Serben.27
Mostar selbst möchte ich entlang einer Denkfigur Bhabhas und in Anleh-
nung an Heidegger als „Brücke“ lesen, „die sammelt als der überschwingende
Übergang“28, oder als „Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen“,
als kulturelles „Treppenhaus“29, als Ort, so suggeriert es der Text Michels ein-
dringlich, in dem auch der Tür oder der Schwelle ein gewichtiges Moment, eine
bedeutsame Markierung in der Hervorbringung und im gleichzeitigen Entzug
des Orientalischen beikommt. Gleich auf dem ersten Weg, wenn der Ich-Erzäh-
ler und sein Gast gemeinsam durch die Stadt gehen und der Ich-Erzähler sei-
ne Freude daran hat, „wie Rêvignies alle Besonderheiten dieser merkwürdigen
Stadt und ihrer Menschen sah“ (p. 14), spielt das Tor beziehungsweise die Tür
eine wichtige Rolle. Was Rêvignies sieht (und der Schein wird ihn mehrfach
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getrogen haben), ist eine „Türkin“30, die neben einem Haustor steht, darauf
wartend, dass die Gasse, in der eben noch Schafe und Pferde ihr den Weg ver-
stellt hatten,31 wieder frei werden würde. In einem schreckhaften Moment
tat sie mit beiden Armen eine rasche Bewegung gegen das scheuende Pferd, durch
welche sich ihr Mantel für einige Augenblicke weit öffnete. Aber Rêvignies war die
kurze Enthüllung nicht entgangen; und wäre die Türkin nicht gleich in dem Tore ver-
schwunden, so hätte er wohl getrachtet, noch einmal unter diesen hässlichen Mantel
zu sehn. Jung war sie und schön; ihre Haut war so weiß und durchsichtig, wie sie
wohl nur in der Verschlossenheit des Harems gedeihen kann. Aber auch ihr Gewand
war schön; das Bruststück war mit leuchtenden Seiden bestickt und von Gold durch-
wirkt. (p. 17)

Der Körper der „Türkin“ selbst wird nur kurz sichtbar, der Mantel, das Tor
zu ihrer Schönheit, öffnet sich für einen Augenblick. Die Enthüllung währt

27 Vgl. den Wikipedia-Eintrag zu Stari most (https://de.wikipedia.org/wiki/Stari_most).


28 Bhabha 2000, p. 7.
29 Ibid., p. 5.
30 Der Begriff "Türkin" steht hier umgangssprachlich für eine örtliche bosnische Muslima,
was eine weitere interessante Wendung im Hinblick auf Identitätskonstruktionen im
Text darstellt.
31 Auch die herumstreunenden Tiere in der Gasse haben Teil an der Konstruktion einer
Art Orientalismus/Balkanismus. Vgl. zu dieser Allusion und deren signifikanter Ausprä-
gung Babka, Anna: Den Balkan konstruieren. Postkolonialität lesen. Ein Versuch mit
Karl Mays Kara Ben Nemsi Effendi aus In den Schluchten des Balkan. In: Schmidt, Mat-
thias/Finzi, Daniela/Müller-Funk, Wolfgang (Hg.): Narrative im (post-)imperialen Kon-
text. Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen
Habsburg und Hoher Pforte in Mittel- und Südosteuropa. Tübingen: Francke 2015, pp.
103–116.

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416 Anna Babka

nicht lange, die orientalische, die „verwahrte Frau“, wie es Rêvignies gleich an-
schließend ausdrückt, also der geheimnisvolle Teil des Orients, dem in dieser
Beschreibung qua Körperlichkeit Merkmale zukommen, wie sie Rêvignies selbst
charakterisieren, nämlich die weiße, gleichsam durchsichtige Haut, ist nicht
feststellbar und verschwindet gleich wieder in dem Tor. Stereotype Merkmale
der ‚Orientalin‘, wie sie oft über die Zuschreibung der dünkleren oder dunklen
Hautfarbe erzeugt werden, erscheinen im Text konterkariert, um sich auf andere
Weise wieder zu manifestieren. Nach diesem Ereignis etwa sprechen die beiden
Freunde „nur mehr über die mohammedanischen Frauen“. Rêvignies reflektiert
dabei die Art und Weise, „wie die Frau bei den Mohammedanern gehalten wird“
(p. 17). Er, der diese Art selbst immer als rückständig betrachtet habe, habe je-
doch auch einsehen müssen, „dass durch eine Änderung dieser Sitte der Orient
stark einbüßen müsse an Poesie“ (ibid.):
Nicht weil der Mohammedaner die Frau als tiefer stehend, als eine Art Sklavin ansieht
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oder als nicht tüchtig genug, es mit dem Leben aufzunehmen, sperrt er sie ein, und
auch nicht aus niedriger Eifersucht; sondern er verwahrt sie in seinem Harem mit
der Sorgfalt und unter dem Schutze, wie man das Kostbarste seines irdischen Besitzes
bewahren muß. (p. 18)

Rêvignies vergleicht nun das Werden der mohammedanischen Frau mit dem
Heranreifen einer Perle in einer Muschel, die dann „die eigenste und wert-
vollste Offenbarung des Orients sein [mag]“ (p. 18). Er kommt zu dem Schluss,
dass „durch den vollständigen Besitz einer solchen Frau [einem] alle tiefsten
Geheimnisse des Orients wie mit Zauberschlüsseln mit einem Mal erschlossen
werden [müssten]“ (ibid.). Die Ausführungen Rêvignies erscheinen auf den ers-
ten Blick als kolonial-hegemonial im klassischen Sinne und könnten mit Spivak
als worlding beschrieben werden, also als ein Prozess, in dem der koloniale
Raum erzeugt und in die Welt gesetzt wird als Text, der aus der Perspektive
der Kolonialmacht geschrieben ist.32 Worlding kann demnach als eine Art von
Schrift oder auch ‘Inschrift’ des imperialen Diskurses in den kolonialen Raum
betrachtet werden, hinter dem keine originären Tatbestände, authentische oder
außerdiskursive Wahrheiten stehen – wie eben die ‘wahre orientalische Frau’,
der ‘richtige’ Orient etc. Doch in Michels Text werden die Schlüssel nicht sper-
ren, die Türen fallen immer wieder zu, weder der Orient noch die Frau(en)
werden sich Rêvignies erschließen. Das Auslöschen und Überschreiben der Ge-
schichte und Stimmen von kolonialisierten beziehungsweise subalternen (weib-

32 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: The Rani of Sirmur. In: Barker, Francis (Hg.): Europe
and its Others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature. Col-
chester: Univ. of Essex 1985, hier p. 128.

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„Das war ein Stück Orient“417

lichen) Subjekten gelingt nicht, oder gelingt nicht zur Gänze oder wird immer
wieder konterkariert durch den Entzug, der, im Sinne einer kontrapunktischen
Lektüre nach Said, als widerständige Geschichte, als Gegenstimme gelesen wer-
den kann. Said schreibt:
Beginnen wir damit, das kulturelle Archiv nicht als univokes Phänomen zu lesen,
sondern kontrapunktisch, mit dem Bewußtsein der Gleichzeitigkeit der metropolita-
nen Geschichte, die erzählt wird, und jener anderen Geschichten, gegen die (und im
Vergleich mit denen) der Herrschaftsdiskurs agiert.33

Kurz nach der Szene also, die den Besitz der Frau mit Zauberschlüsseln in Zu-
sammenhang bringt, die den Orient buchstäblich entschlüsseln könnten, bricht
die Erzählung gleichsam entzwei. Die beiden Männer trennen sich, weil der
Ich-Erzähler den Wachdienst antreten muss, während der andere, Rêvignies,
auf Entdeckungsreise geht.
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Während dieses Wachdienstes denkt der Ich-Erzähler viel an Rêvignies und


erwägt, „welch tiefen Zauber Mostar in dieser märchenhaften Beleuchtung auf
Rêvignies ausüben müsse“ (p. 19). Die Beschreibung dessen, was dieser in dem-
selben Moment erfährt und sieht, ähnelt sehr der Szene in Wien, in der die
Fabrik zur Moschee wird: „Es war wie ein Stück Märchenland, jenseits dessen
Horizonten vorläufig nur bläulicher Dunst ist, bis die satte Phantasie sich von
hier abwendet und dort ein neues Land schafft“ (ibid). Auch die Szene in Wien
war phantasmatisch und semantisch ähnlich angelegt: „Die Sonne zeigt eben
noch die obere Hälfte, die einer kostbaren Kuppel ähnlich am Horizonte stand
[…] die Stadt selbst lag im violetten Dunst, der einem abendländischen Meer zu
entsteigen schien. Das war ein Stück Orient“ (p. 12).
Hier treten die Räume in wechselseitigen Bezug. Die Grenzen von Orient und
Okzident erscheinen permeabel. Durch die Beschreibung wird eine Art Über-
gang geschaffen, der die räumlichen und kulturellen Festgestelltheiten vorüber-
gehend verwischt, „die mondbeglänzten Minarette“ in Mostar, die aus dem Dun-
kel, aus der dunklen Hälfte der Talsohle ragen, stehen in engem Bezug zu den
Fabrikschloten in Wien, die, „schlanken Minaretten gleich“ unter der „kostbaren
Kuppel“, der oberen Hälfte der Sonne, zu sehen sind. Die Landschaftsbeschrei-
bung schließt mit der bereits erwähnten Brücke von Mostar: „Und dort, wo die
Rodobolje mit zierlichen Wasserfällen einmündet, lag über den Abgründen der
Narenta die alte kunstvolle Brücke wie ein versteinerter Halbmond.“ (p. 20)
Auch der Ich-Erzähler versteinert förmlich, als er von der Wache zurück-
kommt und ihm ein Brief übergeben wird. Rêvignies schreibt ihm, dass er eine

33 Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der
Macht. Frankfurt/M.: Fischer 1994, p. 92.

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418 Anna Babka

„Türkin“ entführt habe, dass schreckliche Dinge passiert seien und er abreisen
habe müssen, sich jedoch bald wieder melden würde, um die Verwirrungen auf-
zuklären. Der Ich-Erzähler erhält über einen längeren Zeitraum hinweg jedoch
keinen weiteren Brief von Rêvignies und beginnt sich die Geschichte, die ihm
durch Rêvignies vorenthalten wurde, selbst zusammenzureimen, sie gänzlich
und bis in die kleinsten Einzelheiten zu erfinden. Die erzählte Figur, Rêvignies,
wird durchgängig im semantischen Feld der (Tür-)Schwelle lokalisiert und ver-
bleibt damit in einer Schwellensituation, einem Schwellenraum. Der Orient, das
Orientalische ist immer schon dabei, sich zu ver- und enthüllen, sich zu offen-
baren und gleichzeitig zu entziehen:
Weiterhin fand Rêvignies einen jungen Menschen, der vor einer Haustür stand und
sich gegen die schmalgeöffnete Türspalte presste. Rêvignies schlich langsam näher,
um besser sehen zu können. Er kam gerade nahe genug, dass er beobachten konnte,
wie eine Hand in der Türspalte zurückgezogen wurde, während sich die Tür voll-
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kommen schloß. Erst glaubte er, dass seine Nähe bemerkt worden sei; aber der junge
Bursch drehte sich gar nicht um, sondern sprach mit flüsternden Worten, aus denen es
wie Flehen und Beschwören klang, gegen die verschlossene Tür. […] Endlich tat sich
die Tür wieder ein wenig auf und das Mädchen streckte einen Finger hervor, den der
junge Türke inbrünstig zwischen die Hände nahm, und nach einigem Flehen bekam
er die ganze Hand. (p. 27)

Was hier ‘gegeben’ wird, d. h. was der junge Mann bekommt, ist dürftig und
volatil. Rêvignies beobachtet bei dieser Szene, was er selbst begehrt und was
ihm auch selbst bereits widerfahren ist. Beide, er selbst und der junge Orientale,
bleiben ausgeschlossen, beide Männer stehen vor der Tür, das Geheimnis des
Orients ist weiblich und hält sich im Verborgenen. Später, auf der Suche nach
einem Arzt, tritt Rêvignies in ein Haus ein, öffnet eine Türe und erblickt, auf
einem Teppich sitzend, drei Frauen, „liegend und hockend, die ihr Gesicht gleich
in den Händen verbargen“ (p. 35). Seinen Rückzug begleiten die Männer des
Hauses mit vielen Flüchen, das Tor wird hinter ihm zugestoßen (p. 36). Türen
öffnen und schließen sich, die Vertreibung und der Ausschluss zeigen sich als
konstitutiv für die Geschichte, das ‘Weibliche’, das von Rêvignies als Schlüssel
zum Orient bezeichnet wird, gerät zum Schwellenraum beziehungsweise zum
Wechselspiel zwischen Verhüllung und Enthüllung, auch in Bezug auf die Ein-
deutigkeit des Geschlechts. Selbst dieses erschließt sich Rêvignies nicht immer,
sieht er doch „einige Schritte vor sich eine dunkle Gestalt über die Gasse hu-
schen. Es war so finster in der Gasse, dass er nicht zu unterscheiden vermochte,
ob es ein Mann oder eine Frau sei.“ (p. 30) In seinem Verlangen nach Erleben
(ibid.) erkennt er im Schein einer Laterne eine Gestalt, von der er glaubt, dass
sie eine „Türkin“ sei. Beim Näherhinsehen glaubt er zu erkennen, „dass sie den

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„Das war ein Stück Orient“419

Schlitz des Mantels ein wenig öffne“ (p. 31). Er versucht, sein Verlangen zu be-
kämpfen, doch
[a]ls sich aber der lange Mantel noch weiter geöffnet hatte, ließ der Widerstand […]
gleich nach und mit einem Sprunge war er dicht an ihr. Ohne an die Gefahr zu denken,
der er sich wohl durch eine solche Handlung aussetzte, riß er den Mantel auseinander
und presste sie an sich. (p. 32)

Rêvignies nimmt sich, was er begehrt. Obwohl er kurz zuvor Erleichterung


darüber verspürt hatte, endlich aus „einem Märchenland in die Wirklichkeit
zurück[zu]kehren“ (p. 30), überwältigt ihn der Anblick der „Türkin“ dann doch,
zieht ihn das vermeintlich Orientalische wieder in den Bann. Doch der Zwang
verschafft ihm keinen Sieg, der Orient ist schwer zu fassen, Rêvignies verhed-
dert sich im Feld der binär aufgespannten Oppositionen, weder das orientalische
Märchenland noch die ‘Wirklichkeit’, gleichgesetzt mit der Straße, in der wieder
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„europäisch gekleidete Menschen“ zu sehen waren, vermag er zu ergründen,


die Orientalin selbst entwischt ihm wieder: „Obwohl sie sich erst willig zeigte,
wehrte sie ihn gleich darauf wieder ab. Und plötzlich hatte sie sich geschickt
entwunden und lief gegen die Hauptstraße.“ (p. 32) Nur mit einem gewaltsamen
Akt verschafft er sich ihre Nähe. Er drängt sie in eine Kutsche, küsst sie immer
wieder und nimmt ihr damit fast den Atem, doch gibt ihm, wie der Text sagt,
ihr helles Lachen die Zuversicht, „dass er gesiegt hatte und dass sie nun sein
war“ (ibid.). Doch eigentlich versteht er nicht, was sie spricht, nimmt sich auch
selbst nicht die Mühe, sich verständlich zu machen. Was er von sich gibt, sind
Huldigungen, die auch sie nicht versteht.
Im Lager angekommen, trägt er sie in sein Zimmer: „Hier nahm er ihr den
Mantel ab und konnte sie eigentlich erst jetzt ordentlich sehen.“ (p. 33) Erst in
seinem eigenen Bezugsrahmen, im Lager des Freundes, der ihm dort ein Zimmer
beschafft hatte, verliert sie das Schemenhafte. Rêvignies nimmt sich erstmals
Zeit, während er bis dahin hektisch bemüht war, die Entführte unter Kontrolle
zu bringen. Zugleich ist er voll von Angst, sie könne wieder fliehen. Um dies zu
verhindern, versucht er sie gleichsam durch Küsse zu ‘betäuben’. Er zieht sie
aus, hebt sie aufs Bett und schreckt aus den Liebkosungen empor in dem Mo-
ment, als er bemerkt, „dass ihre Lippen seinen Küssen nicht mehr antworteten
und dass nach einer krampfhaften Umschlingung ihr ganzer Körper in starrer
Unbeweglichkeit blieb“ (p. 34). Sie entzieht sich ihm, indem sie unbeweglich,
starr wird, sich gleichsam, ungeachtet ihrer Nacktheit, wieder verhüllt – „und
nun lag ihr Körper wie entseelt da und ihn dünkte, als hätte sein Verlangen ihr
die Seele, die er in ihr gesucht hatte, geraubt. (p. 34) Rêvignies, der ‘zivilisierte’
Europäer, hat die orientalische Seele gesucht. Seine sexuellen Fantasien ent-
zünden sich am ‘Anderen’, an der ‘Anderen’, der orientalischen oder besser der

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orientalisierten bosnischen Frau, die, wie der Text dann ironischer Weise endet,
gar keine Mohammedanerin war. Die vermeintlich Anderen werden zu seiner
Projektionsfläche, werden „zum Träger [von] Gedanken und Wünsche[n]“34,
werden allererst als das Andere erzeugt. Die rassistische Stereotypisierung be-
ruht ganz grundsätzlich, so Brigitte Kossek mit Frantz Fanon und Homi Bhabha,
auf der Verleugnung und Verschiebung von (verbotenen, verachteten) sexuellen Fan-
tasien auf den ‘Anderen’. […] Der/die ‘Andere’ ist nicht bloß als Kehrseite des Selbst
aufzufassen, sondern als ein abgespaltener Teil eines gespaltenen Subjekts, das eige-
nes Begehren und Verachtung verleugnet, in den Anderen verschiebt und an diesem
beherrscht.35

Die rassistische Stereotypisierung, die sowohl auf Ähnlichkeiten, als auch auf
Differenzen beruht, bezieht weitere subjektkonstitutive Faktoren, wie Sexuali-
tät, Gender etc. mit ein. Das so konstruierte Subjekt wird zum ambivalenten und
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widersprüchlichen Objekt, das von den Konstruierenden zugleich begehrt wie


auch verachtet wird. „Zur bloßen Projektionsfläche gemacht, wird das andere
Subjekt in seiner Eigenständigkeit ausradiert und gezwungen, Begehren und
Ängste des Konstrukteurs oder der Konstrukteurin zu spiegeln – ein doppeltes
Negativ des ‘Originals’ zu sein.“36
Was bedeutet das, was heißt das für unseren Text? Die Projektionsfläche, die
gemachte ‘Türkin’, die eigentlich keine ist, spiegelt den machtvollen Blick von
Rêvignies, spiegelt seine Ängste, sein Verlangen und seinen Misserfolg. Die
als orientalisch Konstruierte interveniert mit ihrem Blick und ihrem Verhalten
in Identitätsbildungsprozesse seitens des Konstruierenden, seitens Rêvignies.
Seine originäre Identität, seine Okzidentalität werden jedoch durch die Spie-
gelung der Differenz, die nur annähernd absolut ist, aber nicht ganz absolut
ist, angegriffen. Die Frau spiegelt damit Reviginies’ verzerrtes Image und stellt
seine Überlegenheit und seine Macht in Frage. Bhabha: „[I]n der Identifikation
der imaginären Beziehung gibt es immer auch den entfremdeten Anderen (oder
Spiegel), der unvermeidlich sein Bild auf das Subjekt zurückwirft.“ Es kommt
zu einer „bedrohliche[n] Umkehrung (return) des Blicks“37. Rêvignies zieht die
Konsequenzen aus dieser Bedrohung und reist überstürzt ab.
Die koloniale Macht wird also auf der Ebene der Repräsentation im Text
nicht nur hergestellt, sondern auch unterbrochen und unterlaufen. Das Subjekt
der kolonialen Äußerung, dessen Position im Text sowohl vom Ich-Erzähler als
auch von Rêvignies eingenommen wird, ist nicht als einheitlich erfahrbar. Es

34 Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, p. 120.
35 Kossek 2003, p. 107.
36 Ibid.
37 Bhabha 2000, p. 120.

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„Das war ein Stück Orient“421

ist selbst gespalten und entfremdet. Das vom Erzähler aufgeschriebene Erlebte
gerät gleichsam zu einer Szenerie der Fantasie und des Verlangens. Das Erlebte
erscheint – Traumsequenzen gleich – in einer sich gegenseitig konstituierenden
Beziehung an der Schnittstelle zwischen latentem und manifestem Orientalis-
mus angesiedelt und zwischen Begehren und Verachten oszillierend. Die ver-
meintlich kolonisierte Orientalin, die im Text an der Schnittstelle von sexueller
und ethnischer Differenz inszeniert und aufgeführt wird, also im Sinne des
Orientalismus nach Said im Text gemacht wird, spiegelt das Andere im Eigenen
und vice versa. Sie führt so die Reziprozität und gegenseitige Durchdringung
dieser Kategorien vor Augen, gleich wie die multiplen und ambivalenten Be-
ziehungen und Richtungen von Macht. ‘Das Stück Orient’ befindet sich immer
schon zwischen zwei Seiten einer Grenze, ver- und enthüllt, als Schwellenraum
denkbar.
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Robert Michel, oder:423

Robert Michel, oder:

Wie die literarische Entdeckung Bosniens-Herzegowinas weder


zu Ruhm noch zu politischer Hellsicht führen kann

Riccardo Concetti (Perugia)


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I. K. u. k. „künstlerische Kolonialpolitik“
Am 11. August 1918 würdigte das Neue Wiener Journal Robert Michel (1876–
1957) – den aus Böhmen stammenden k. u. k. „Dichter-Offizier“1 – mit einem ihm
gewidmeten Porträt:2 Nie zuvor war ihm das Glück beschert worden, dermaßen
die Aufmerksamkeit der Wiener Presse auf sich zu ziehen, obwohl er seit der
Jahrhundertwende literarisch tätig war und sich in Fachkreisen einigermaßen
einen Namen gemacht hatte. Der Anlass, der ihn aus den kleineren Zirkeln der
Literaturfreunde plötzlich an die Öffentlichkeit brachte, war seine Ernennung
– neben Hermann Bahr – zum Vertreter des Hoftheater-Generalintendanten
Leopold von Andrian.3 Dass diese prominente Anstellung von besonders kurzer
Dauer war, versteht sich von selbst, wenn man die Situation bedenkt, d. h. den
unmittelbar bevorstehenden Novemberumsturz. Auch war diese Karrierephase
von sonst keiner großen Bedeutung; sie ist hier nur im Zusammenhang mit
diesem Zeitungsartikel erwähnt, dem ein besonders bezeichnender Passus ent-
nommen wird:
[Robert Michel] war viele Jahre in Bosnien und aus dem karstig-steinigen Erdreich
ist für Michel ein reiches, unendlich dankbares künstlerisches Schaffen erblüht. Die
karge Landschaft wurde für ihn zu einem fruchtreichen Ackerboden dichterischer

1 Zu diesem Begriff vgl. Danzer, Carl M.: Ein neuer Dichter-Offizier. Die Verhüllte. Novel-
len von Robert Michel. […]. In: Danzer’s Armee-Zeitung, 20. 06. 1907, p. 10; Zoff, Otto:
Drei Dichter in Kaisers Rock. In: Der Merker 2 (1910/11), p. 418.
2 Dietrichstein, Egon: Robert Michel. Ein Porträt. In: Neues Wiener Journal, 11. 08. 1918,
p. 6.
3 Vgl. Concetti, Riccardo: Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen
Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens 2018, p. 96f.

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424 Riccardo Concetti

Aussaat. Man kann wohl sagen, daß er dieses Land eigentlich entdeckte und durch
seine Schilderungen mit Romantik füllte.4

Dieser knappen Beschreibung kommt eine doppelte Bedeutung zu: Zum Einen
wird hier Michel zum wegweisenden Schriftsteller gekürt, der quasi als Erster
das Sujet Bosnien-Herzegowina zum Thema der modernen deutschsprachigen
Literatur tauglich gemacht habe:5 Diesem Aspekt wird der erste Teil dieses
Beitrages gewidmet sein, wobei die psychologischen, kulturellen und medialen
Koordinaten Erwähnung finden, an denen sich Michel bei seinen persönlichen
Bosnien-Erlebnissen orientiert hat. Zum Anderen verweist die Boden-Meta-
phorik, die in der zitierten Passage heraufbeschworen wird, auf jene literatur-
geschichtliche Rezeptionsschablone, die letztendlich Michel ermöglichte, seine
zuerst durchaus k. u. k.-treue Poetik im Laufe der 1930-er und 40-er Jahre völ-
kisch-nationalistisch zu übertünchen, wobei sich Michel geschickt zuerst der
austrofaschistischen Österreich-Ideologie, dann dem nationalsozialistischen
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Expansionismus anzupassen wusste.


Nach dem Sommer 1918 ist es nämlich um den Bekanntheitsgrad Michels wo-
möglich noch schlechter bestellt: Sein Name ist nur mehr wenigen Spezialisten
ein Begriff und dieser Autor nimmt unverrückbar seinen wenig ruhmreichen
Platz unter den „Verschollenen“6 der österreichischen Literatur ein. Es scha-
det also nicht, einige biografische Eckdaten zu fixieren:7 Michel wurde 1876 in
Chabeřice im Mittelböhmen geboren. Er entstammte einer Familie, die väter-
licherseits deutsch, mütterlicherseits tschechisch war, besuchte die Prager Ka-
dettenschule, diente von 1896 bis 1918 in der k. u. k. Armee und lebte nach dem
Umsturz der Donaumonarchie als freier Schriftsteller in Wien, wo er 1957 starb.
Die Karriere Michels nahm unter den besten Voraussetzungen ihren Anfang.

4 Ibid.
5 Dieser Originalitätsanspruch ist nicht ganz begründet. Zumindest sind zwei Autorinnen
zu nennen, die sich vor ihm ebenfalls südslawischen bzw. bosnischen Stoffen gewidmet
hatten: Mara (Marie) Čop-Marlet und Milena (Preindlsberger-)Mrazović. Vgl. Matl, Josef:
Südslawische Studien. München: Oldenbourg 1965, p. 394f., und Frindt, Andrea: Über-
nationale Haltung und Vermittlung slawischer Landschaft und Kultur im Werk Robert
Michels (1876–1957). Berlin: Magisterarbeit [unpubl.] 1996, p. 39; Stančić, Mirjana: Ver-
schüttete Literatur: Die deutschsprachige Dichtung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugo-
slawien von 1800 bis 1945. Wien: Böhlau 2013, pp. 121–133.
6 Vgl. Hahnl, Hans Heinz: Hofräte, Revoluzzer, Hungerleider. Vierzig verschollene öster-
reichische Literaten. Wien: Atelier 1990, pp. 152–157.
7 Werk- und Lebenschroniken existieren bereits, vgl. Delle Cave, Ferruccio: Robert Mi-
chel. Eine monografische Studie. Innsbruck: Phil. Diss. 1978, pp. 142–176; Džambo, Jozo:
Ein Dichter in des Kaisers Rock. Robert Michel (1876–1957). München: Adalbert Stifter
Verein 1993; Concetti, Riccardo: Einleitung. In: Hofmannsthal, Hugo v./Michel, Robert:
Briefe. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 13 (2005), pp. 11–167, hier pp. 11–29.

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Robert Michel 425

Im Alter von noch nicht ganz 20 Jahren lernte er in der Habsburger Hauptstadt
den bereits erwähnten Leopold von Andrian kennen, dessen impressionistische
Novelle Der Garten der Erkenntnis (1895) zu den repräsentativsten Werken der
Wiener Moderne zählt. Durch ihn kam Michel mit den profiliertesten Vertretern
der neuen Literatur in Verbindung, allen voran mit Hugo von Hofmannsthal,
der ihn in das Berliner Verlagshaus S. Fischer einführte, aber auch mit Hermann
Bahr, Arthur Schnitzler und Felix Salten. Diese Begegnungen wirkten auf den
jungen Michel höchst stimulierend und regten ihn zum Schreiben an. Seine
allererste Kurzgeschichte, Osmanbegović, erschien 1898 in Bahrs Zeitschrift Die
Zeit: Wie schon der Titel andeutet, spiegelt sie die Erfahrungen des Autors
als Leutnant eines bosnisch-herzegowinischen Infanterieregiments wider und
bringt seine ganze Faszination für die ihm fremde Kultur der Balkan-Muslime
zum Ausdruck.8 Als Michel im gleichen Jahr nach Mostar versetzt wurde, wo
er zuerst bis 1901 blieb, ließ er sich erst recht auf eine Welt ein, die ihm wie ein
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„Bilderbuch von Tausendundeiner Nacht“9 erschien.


Michels Arbeiten tragen das Zeichen dieser für ihn schicksalhaften Begeg-
nung, die jedoch in einem machtpolitischen Rahmen stattfand, der ihn nicht
zum neutralen Betrachter reifen ließ, sondern seiner Produktion eine grundle-
gende Ambivalenz verlieh. Einerseits sind seine Texte durch den geschichtlichen
Erzählrahmen der Okkupation (1878) bzw. Annexion (1908) Bosnien-Herzego-
winas gekennzeichnet, ohne sie aber jemals in Frage zu stellen oder politische
Streitfragen auch nur ansatzweise anzudeuten. Als k. u. k. Offizier war seine
Haltung gegenüber der Staatsobrigkeit dezidiert affirmativ. Kennzeichnende
Beispiele sind in den überlieferten Amtsschriften zu finden, in denen Michel
– um sich von seiner besten Seite zu zeigen – seine schriftstellerische Neben-
tätigkeit quasi als patriotischen Beitrag beschreibt und beteuert, durch sein
Werk „künstlerische Kolonialpolitik“ betreiben zu wollen – ja, er versteigt sich
bis dahin, sich als Akteur einer „geistigen Eroberung der jüngsten Länder [sei-
ner] Majestät“ zu sehen.10 Andererseits schrieb er in der Zeit von 1898 bis
1905 Novellen, deren Protagonist meist ein junger, psychologisch noch unreifer
Offizier ist, der nach Bosnien-Herzegowina abkommandiert wird und an den
dortigen für ihn befremdenden Lebensbedingungen erkrankt. Im Spiegel der

8 Vgl. Concetti, Riccardo: Der gerettete Orient. Zu Robert Michels Novellensammlung ‘Die
Verhüllte’. In: Müller-Funk, Wolfgang/ Birgit Wagner (Hg.): Eigene und andere Fremde.
„Postkoloniale“ Konflikte im europäischen Kontext. Wien: Turia+Kant 2005, pp. 195–206.
9 Michel, Robert: Geleitwort zu einem neuen Buch [08. 03. 1948], S. 3 [unveröffentl.]. In:
Österreichisches Literaturarchiv (im Folgenden: ÖLA), Konvolut 125/W407 Lit.
10 Michel, Robert: Bittschrift an den Kaiser vom 02. 06. 1903. In: Concetti 2018, p. 43f. Es
handelt sich dabei um den Antrag auf Bewilligung zur Heirat, den Offiziere von der mili-
tärischen Behörde einzuholen verpflichtet waren.

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426 Riccardo Concetti

fortschrittlichsten Tendenzen der zeitgenössischen österreichischen Literatur


behandelt Michel das Thema der Anwesenheit im fremden Land als psychische
Grenzerfahrung (im doppelten Sinne des Wortes), bei der die oft nur phanta-
sierte Begegnung mit dem Fremden bedrohliche Prozesse des Ich-Verfalls oder
sexuelle Verwirrungen auslöst. Diese Erzählungen wurden 1907 unter dem Titel
Die Verhüllte bei S. Fischer in Berlin als Buch veröffentlicht. In ihnen zeigen
sich die Aporien des Fremdlands als Konstrukt, das sich der Vorstellungskraft
des schreibenden Kolonisators umso mehr entzieht, je heftiger es begehrt wird,
wobei es die tiefenpsychologischen Triebe an die Oberfläche auftauchen lässt.11
Dagegen ist die Produktion der folgenden Jahre durch den Versuch charakte-
risiert, den Blick von den verhängnisvollen Wechselwirkungen zwischen dem
Orient und dem modernen „unrettbaren Ich“12 abzuwenden, um eine konventio-
nellere, nüchternere und sachlich wirkende Kenntnis Bosnien-Herzegowinas zu
vermitteln. In diesem Bemühen fand der Autor, der inzwischen nach Österreich
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zurücktransferiert worden war und nun in Innsbruck und dann in Wien dien-
te, wirksame Unterstützung in der Ethnografie und in deren Studien über die
bosnische Volksdichtung. Bei der neuen Poetik, an der Michel arbeitet, kommt
dem visuellen Moment größere Bedeutung zu: An die Stelle der stets frustrier-
ten persönlichen Kontaktaufnahme mit dem fremden Menschen tritt nunmehr
das Bild, das für eine richtige (und schmerzfreie) Wahrnehmung jener Essenz
des Landes sorgt. In einer Welt, die zusehends von den neuen Technologien
der visuellen Reproduzierbarkeit (Fotografie und später Film) bestimmt wird,
sucht das moderne Subjekt einen neuen Zufluchtsort in der Phänomenologie
der Bilder. Denn gerade jene von modernen Abstraktionstechniken erzeugten
visuellen Produkte täuschen eine Objektivität vor, die – anders als die moderne
Literatur oder die Philosophie – ein einheitliches, unmittelbares Verständnis
der Wirklichkeit verspricht. Aber wohlgemerkt: Michels neue Poetik der Bilder,
obwohl sie eine radikale Kehrt- und Abwendung von der „Nervenkunst“13 der
früheren Werke darstellt, ist nicht als Rückzugsmaßnahme zu deuten; sie muss
vielmehr als Reaktion auf neue mediale und kulturelle Bedingungen gelesen
werden. Dieser neuen Einstellung entstammen nämlich zwei Bücher, Mostar aus
dem Jahr 1909 und das spätere Fahrten in den Reichslanden (1912), die geo-eth-

11 Für eine ausführliche Lektüre dieser Texte, in denen Michel übrigens viele Topoi der exo-
tischen Konsumliteratur seiner Zeit kritisch verwertet, vgl. Concetti 2005.- Siehe auch
den vorangegangenen Beitrag von Anna Babka im vorl. Sammelband.
12 Vgl. Mach, Ernst: Antimetaphysische Vorbemerkungen. In: Wunberg, Gotthart (Hg.): Die
Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart: Reclam
1981, pp. 137–145, hier p. 142.
13 Vgl. Worbs, Michael: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhun-
dertwende. Frankfurt/M.: Europ. Verl.-Anst. 1983.

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Robert Michel 427

nografische Beschreibungen und Reiseberichte enthalten, die sich durch die


Besonderheit auszeichnen, dass sie neben dem Text auch Fotografien (im ersten
Buch) oder Lithografien enthalten.14
Die Abbildungen in Mostar zeigen beispielsweise bukolische Landschaften,
Szenen aus dem Alltagsleben oder auch berühmte Kunstdenkmäler, die eine
Ursprünglichkeit vortäuschen, die in Wirklichkeit das Ergebnis einer fotografi-
schen Inszenierung ist. Sie dienen dazu, den ethno- bzw. geografischen oder
kulturgeschichtlichen Befund in einprägsame Ikonen zu verwandeln, die ein
Bosnien-Herzegowina medial produzieren, das seine (vermeintliche) Eigenart
umso effektvoller zur Schau stellen kann, je enger diese mit dem Korrelat der
Fremdartigkeit verbunden wird.
Mit seinem preisgekrönten15 Roman Die Häuser an der Džamija von 1915 setzt
Michel seiner durch und durch konstruierten Vision Bosnien-Herzegowinas das
vielleicht beeindruckendste und künstlerisch gelungenste Denkmal. In diesem
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Buch schlägt er dezidiert den Weg der Mythologisierung ein, den die verträumte
Atmosphäre der Lithografien Max Bucherers aus Fahrten in den Reichslanden
bereits vorweggenommen hatte. Besonders beeindruckt, dass der Text inhaltlich
aus der Zusammenstellung und erzählerischen Kontextualisierung all jener In-
formationen über Folklore, Bräuche und Sitten der bosnisch-herzegowinischen
Muslime besteht, die Michel seinen gelehrten Quellen entnahm. Darunter sind
zu erwähnen: Anton Hangis’ Studien16 und die Wissenschaftlichen Mitteilungen
aus Bosnien und der Herzegowina, das Organ des Sarajevoer Landesmuseums.
Von großer Bedeutung ist ferner Kosta Hörmanns Volksliedsammlung,17 der
Michel wesentliche Anregungen für den Hergang und die Charakteristik der
Hauptfigur entnimmt. Diese Texte stellen aus philologischer Sicht natürlich
sehr wichtige Quellen dar, ihre zentrale Bedeutung ist hiermit jedoch nicht
ausgeschöpft. Denn sie signalisieren darüber hinaus, dass Michels Produktion
„orientalistisch“ nicht nur der Thematik oder der Atmosphäre wegen ist, son-

14 Michel, Robert: Mostar. Mit fotografischen Aufnahmen von Wilhelm Wiener. Prag: C.
Bellmann 1909; Ders.: Fahrten in den Reichslanden. Bilder und Skizzen aus Bosnien und
der Hercegovina. Mit 25 Zeichnungen von Max Bucherer. Wien, Leipzig: Deutsch-Ös-
terreichischer Verl. 1912.- Vgl. dazu: Concetti, Riccardo: Halbmond über der Narenta im
medialen Wandel. Robert Michels Produktion zwischen Roman und Film. In: Ruthner,
Clemens et al. (Hg.): WechselWirkungen. Austria-Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the
Western Balkans, 1878–1918. New York et al.: P. Lang 2015, pp. 263–282.
15 Im Juni 1915 erhielt Michel den mit 1.000 Mark dotierten Kleist-Preis.
16 Hangi, Anton: Die Moslim’s in Bosnien-Hercegovina. Ihre Lebensweise, Sitten und Ge-
bräuche. Sarajevo: Kajon 1907.
17 Hörmann, Kosta (Hg.): Narodne pjesne Muhamedovaca u Bosni i Hercegovini. 2 Bde.
Sarajevo: Zemaljska štamparija 1888/89.

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428 Riccardo Concetti

dern gerade in dem von Edward W. Said18 ersonnenen spezifischen Sinn: weil sie
direktes und indirektes Produkt jener politischen und kulturellen Institutionen
des modernen Staates sind, dem Bosnien-Herzegowina zwangsweise (aber nicht
nur zu seinem Nachteil) einverleibt wurde.
Noch ein weiterer Aspekt soll herausgestellt werden: Als Monumente der
Folklore und des Lokalkolorits kommt allen Werken Michels aus dieser Zeit
die Funktion eines virtuellen Museums zu. Dies zeigt sich auch am Beispiel der
Spielfilme, Die Wila der Narenta und Der Schatzgräber von Blagaj, die Michel
im Auftrag des Armeeoberkommandos noch im Juni 1918 in der Herzegowina
drehte.19 Sie kombinieren Folkloristisches mit Erzählerischem und gleichen
dem Genre des documentaire romancé, das Georges Méliès mit seinen auf Tahiti
und Neuseeland gedrehten Streifen eingeführt hatte.20
Mit seinem Musealisierungs- (und mitunter auch Verkitschungs-)programm
behauptete Michel, jenem Verfall der alten Bräuche entgegenzuwirken, dem der
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Einbruch der Modernität Vorschub geleistet hatte. Bereits 1909 hatte Michel in
seinem Mostar-Buch die modernen Bauten (das Bahngebäude, die Magazine, Ka-
sernen, Schulen, das Hotel Narenta usw.), die zur Zeit der Okkupation errichtet
worden waren, wegen der roten Ziegeldächer als „völlig stillos, so ganz euro-
päisch“21 kritisiert, weil sie wie ein Dorn im Auge zu den traditionellen grauen
Steindächern der übrigen Häuser, Moscheen und Friedhöfe kontrastierten. In
der Nachkriegszeit mehrten sich seine Sorgen um den Erhalt der traditionellen
Sitten, und er schrieb:
Ähnlich zerstörend wirkt sich die Wirtschaftsnot, oder besser gesagt die Härte und
Nüchternheit der Nachkriegszeit, auch auf anderen Gebieten aus. Man könnte ein
Buch ausfüllen mit Beispielen von diesem langsamen Abbröckeln, das sich aus dem
ständigen Kampf des Alten mit dem Neuen ergibt, der ja hier noch dazu ein Kampf
des Orients mit dem Okzident ist.22

18 Said, Edward W.: Orientalismus. Übers. von Hans Günter Holl. Frankfurt/M.: Fischer
2009.
19 Vgl. Concetti, Riccardo: Von Feen und Schatzgräbern. Über die Filmversuche Robert Mi-
chels. In: Stifter-Jahrbuch 22 (2008), pp. 153–172; kroatische Übersetzung in: Hrvatski
Filmski Ljetopis 52 (2007), pp. 55–64.
20 Vgl. de Brigard, Emilie: The History of Ethnografic Film. In: Hockings, Paul (Hrsg.): Prin-
ciples of Visual Anthropology. Berlin, New York: Mouton de Gruyter 32003, pp. 13–43,
hier p. 18f.
21 Michel 1909, p. 7.- Wohl handelt sich bei dieser Kritik um Gemeinplätze, die auch bei
anderen Autoren, die sich mit Bosnien-Herzegowina befasst haben, aufzufinden sind,
vgl. Džambo, Joso: Bosna i Hercegovina u njemačkim tekstovima. Imagološka skica. In:
Forum Bosnae 18 (2002), pp. 149–198.
22 Michel, Robert: Die bosnische Königsstadt. In: Neue Freie Presse, 03. 08. 1934, p. 1.

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Robert Michel 429

Literatur, Fotografie und Film hatten mithin die Aufgabe, pittoreske Bilder zu er-
zeugen, die, an ein Publikum von großstädtischen Touristen gerichtet, einerseits
deren Reiselust in das Randgebiet Bosnien hervorrufen sollten.23 Andererseits,
so Michels Hoffnung, hätten sie für die Bosnier/innen als Zeitzeugen dienen
sollen, die ihr Bewusstsein (sprich: eine Politik) für die Erhaltung des kulturellen
Erbes entgegen des notgedrungen Modernisierungsdrangs initiieren konnte. In
einer (wohl) unveröffentlichten Schrift aus dem Jahr 1946, die allem Anschein
nach als Einleitung zur Neuauflage des Sammelbandes Halbmond über der Na-
renta24 geschrieben wurde – bringt dies Michel auf den Punkt:
Es steht mir nicht zu, mich zum Richter über all diese Wandlungen und ihre Ursachen
aufzuwerfen und eine Entwicklung zu bedauern, die vielleicht unausbleiblich war.
Meines Amtes ist nur, die große Harmonie von Landschaft, den menschlichen Sied-
lungen und den eigenartigen Einwohnern und ihrer Schicksale von einst aufzuzeigen.
[…] Auch dieses Buch möge zur Erhaltung alles schönen Alten und der Eigenart des
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Landes auf seine Weise beitragen. Wenn es deutschen Lesern und Reisenden das Ver-
ständnis für diese merkwürdige südslawisch-orientalische Welt erleichtert und ihre
Freude daran den Einheimischen erkennbar wird, dürfte dies ihr Selbstbewußtsein
und die eigene Schätzung ihres wunderbaren Erbes steigern.25

II. Faschistische Umformulierungen


Wie man sieht, spielen in diesem Diskurs hegemoniale Verhältnisse von Zen-
trum (die „deutschen Leser“) und Peripherie (die „Einheimischen“ der „süds-
lawisch-orientalische[n] Welt“) eine maßgebliche Rolle. Wie problematisch
Michels Beweisführung ist – die im Grunde ganz darauf aus ist, die Relevanz
der eigenen Produktion hervorzuheben, indem die Bosnier quasi als der Be-
vormundung bedürftig erklärt werden, als seien alleine sie nicht fähig, ihr
­eigenes Kulturgut zu bewahren – zeigt erst eine Analyse der Produktion aus
den 1930er und 40er Jahren, als die Radikalisierung der politischen Szene jene
verfänglichen und überaus peinlichen ideologischen Verstrickungen offenlegte,
die Michels Schaffen – wie im Allgemeinen der westlichen Idee des Fremden –
inhärent sind.

23 Noch in einem späten Zeitungsartikel aus dem Jahr 1941 schreibt Michel: „Jugoslawien
ist für jeden Entdeckungsfreudigen ein Paradies“ (Michel, Robert: Grenzscheide zwi-
schen Westen und Orient. Streifzug durch Jugoslawien – Im Land der bäuerlichen Hel-
den. In: Hannoverscher Anzeiger, 22./23. 03. 1941, s. p. Als Zeitungsausschnitt überliefert
in: ÖLA, Konvolut 125/S598).
24 Michel, Robert: Halbmond über der Narenta. Erzählungen aus Bosnien und der Herzego-
wina. Wien: Wiener Verl. 1947.
25 Michel 1948, p. 11.

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430 Riccardo Concetti

Dies soll der Übersichtlichkeit halber soweit wie möglich in chronologischer


Reihenfolge belegt und an einem Schlüsseltext erprobt werden, der in zwei-
facher Hinsicht mit der vorhergehenden Produktion verbunden ist: Einerseits
thematisch, da er ein südslawisches Motiv bearbeitet; andererseits medial, da
es sich dabei um ein Radio-Hörspiel handelt, das von Michels ungebrochenem
Interesse für die neuen Medien zeugt.26 Gemeint ist Eugen vor Belgrad, ein 1933
„im Auftrag“27 des nationalen Radiosenders RAVAG geschriebenes und am 14.
Oktober 1933 mit Ewald Balser in der Hauptrolle und unter der Spielleitung
Aurel Nowotnys28 übertragenes Hörspiel, das die Belagerung und Einnahme
Belgrads im Sommer 1717 durch Prinz Eugen zum Inhalt hat.29 Der Anlass
dieses Werkes ist das 250. Jubiläum des Sieges Österreichs über die Türken 1683,
das in der RAVAG zum Anlass für mehrere Vorträge ausgenützt wurde.30 In
diesem Sinne berichtet die RAVAG-Wochenschrift Radio Wien über das Hörspiel
als über ein Dokument des kulturellen Gedächtnisses:
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Der Querschnitt, den der heimische Dichter und bekannte Schriftsteller Robert Michel
geschaffen hat, läßt die Taten des Prinzen und seiner Tage wieder lebendig werden.
Vor dem inneren Auge des Hörers ziehen in abwechslungsreicher Fülle die Bilder aus
der ruhmreichen Vergangenheit des Vaterlandes vorüber, für die der Name Eugen von
Savoyen von tiefer, gleichnishafter Bedeutung wurde.31

Die Prägnanz des Textes liegt allerdings nicht darin, sondern vielmehr in dem
kontemporären Zeitbezug: Denn das Hörspiel, das im Jahr der Machtübernah-
me Hitlers in Deutschland verfasst wurde, fällt in eine Zeit, als sich Österreich
gegen verstärkte Annexionspläne zur Wehr setzen musste und der nunmehr
ausgerufene Ständestaat, der um seine Existenzberechtigung rang, einer na-
tionalen Mythologie bedurfte. In dieser Konstellation spielte Michel quasi den
Hofdichter, der auf den Wunsch der Machthaber einen patriotischen Text lie-
ferte, mit dem sich der Ständestaat gegen äußere und innere Feinde zur Wehr

26 Michels erste Bekanntschaft mit dem Medium Radio datiert einige Jahre zuvor, als er im
Oktober 1928 eine Radio-Tournée machte, bei der er aus seinen Geschichten von Insekten
(Berlin: S. Fischer 1911) las. Vgl. Michel, R.: Mein erster Rundfunk. In: Tages-Post (Linz),
08. 05. 1929, p. 1.
27 Vgl. Michel, R.: Mein Weg als Dramatiker. [Unveröffentlichtes Typoskript zu einem am
17. 5. 1946 abgehaltenen Vortrag am Zentralinstitut für Theaterwissenschaft im Kainzsaal
der Wiener Hofburg]. In: ÖLA, 125, W403 Lit, p. 26.
28 Vgl. Zeitungsnotizen in: Radio Wien, 06. 10. 1933, p. 8, und 13. 10. 1933, p. 20.
29 Vgl. ÖLA, Konvolut 125/W427/1 bis W427-Beil. Lit.
30 Vgl. Höck, Michaela: Medienpolitik im „Ständestaat“ oder die politische Einflußnahme
auf die Österreichische Radioverkehrs A.G. (RAVAG). Wien: Dipl. Arb. der Univ. Wien
2003 (unveröff.), p. 140.
31 Anonym: Eugen von Savoyen. Aufführung am Samstag, 14. Oktober. In: Radio Wien,
06.10.1933, p. 6.

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Robert Michel 431

setzen wollte. Vor allem die Figur Prinz Eugens lässt sich unschwer als Gegen-
entwurf zu Hitler lesen: Der Protagonist ist zwar selbstbewusst und souverän,
aber gleichzeitig humorvoll und volksnah. Er ist keineswegs blutrünstig, viel-
mehr bestraft er jeglichen martialischen Übereifer. Er ist zwar Feldmarschall,
aber kein Führer, sondern einfach „der erste Soldat des Kaisers“ und „auch sein
mutigster Soldat“.32 Das Ideal, das sein Tun bei der Kriegsführung beflügelt,
drückt Michels Prinz Eugen wie folgt aus:
Ich stehe jetzt schon eine Stunde vor dieser Wandkarte Europas und der Stern an
der Mündung der Save, der Belgrad bedeutet, brennt mir in die Augen. Tiefer denn
je prägt sich mir die Überzeugung ein, daß die Eroberung dieser Stadt ein wichtiger
Schlußstein zu dem Bau sein wird, an dem ich seit Jahrzehnten arbeite. Hier unten
gegen den Balkan müssen wir eine sichere Basis haben; dann steht der Bau der Mo-
narchie endlich fest. […] ein Österreich, groß und mächtig, gut in sich geschlossen,
das sehe ich dahier an der Donau von Passau bis Belgrad. Schau dir nur an, wie ein
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merkwürdiges sitzendes Lebewesen, durchaus organisch, sieht es auf der Landkarte


aus. Wien ist sein Herz und die Donau die Lebensader. Böhmen ist der Kopf, Prag das
Auge. Die Karpathen sind die Wirbelsäule; die darf nicht bloßliegen, ein Polster von
Fettansatz ins polnische Land muß ihr guttun. Der Rücken rundet sich um Sieben-
bürgen hinab. Die vorderen Gliedmaßen reichen bis an den Bodensee. So sitzt es,
gestützt von der Adria über den Balkan, und bequemer wäre seine Lage, wenn es sich
an das Schwarze Meer lehnen könnte. Das ist das endgültige Österreich als Teil des
römisch-deutschen Reiches, wie es mir vorschwebt. Eine wunderbare Legierung vieler
Völkerschaften. Ein Staat soll aus einem Volk bestehen; zwei Völker vertragen sich
im gleichen Staat nie untereinander; aber die Mischung mehrerer Völker kann auch
ein glückliches Ganzes ergeben, besonders wenn es von der Natur so begünstigt und
durch eine kraftvolle Führung geeint ist.33

Hier, durch die Metapher des Körpers („ein merkwürdiges sitzendes Lebewe-
sen“) wird Österreich als neuer body politic statuiert, wobei die moderne Vor-
stellung nicht auf biblisch-typologischem Denken, sondern auf biologistischem
Gedankengut fußt, das den unentwirrbaren Konnex zwischen Staat, Kultur und
Land geltend macht. Obwohl man es hier mit der „katholisch-nationale[n] Va-
riante der ‘Reichsidee’“34 zu tun hat, zeigt sich anhand dieser Metaphorik, in-

32 Michel, Robert: Eugen vor Belgrad [Unveröffentl. Hörspiel]. In: ÖLA, Konvolut 125/
W427/1 bis W427-Beil. Lit, p. 34.
33 Michel, R.: Aus der Novelle ‘Eugen von Belgrad’ (nach den Studien zu einem bereits auf-
geführten Hörspiel, als Novelle noch nicht veröffentlicht). In: Bekenntnisbuch österrei-
chischer Dichter. Hg. v. Bund deutscher Schriftsteller Österreichs. Wien: Krystall-Verlag
1938, pp. 71–72.
34 Müller, Karl: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Ös-
terreichs seit den 30er Jahren. Salzburg: O. Müller 1990, p. 300.

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432 Riccardo Concetti

wiefern sie der völkischen Ideologie nah war. Auch wird etwas verständlicher
werden, warum ihre Vertreter im Zuge der politischen Zuspitzung in das mag-
netische Anziehungsfeld des Nationalsozialismus gerieten.
Ähnlich erging es nämlich einem der prominentesten Schriftsteller im Stän-
destaat, dem sich Michel, wie der Briefwechsel attestiert,35 in den 1930er und
40er Jahren besonders verbunden fühlte: Gemeint ist Max Mell, der „vor als
auch nach 1938 und nach 1945 zum deutschsprachigen Dichter-Establishment“36
gehörte. Es bleibe dahingestellt, inwieweit Mells Positionen angesichts der poli-
tischen damaligen Entwicklung einen Einfluss auf das opportunistische, lieb-
äugelnde Verhältnis Michels zum Nationalsozialismus hatten. Fest steht jedoch,
dass, obwohl Michel nie NS-Parteimitglied war,37 er seinen Namen oft unter den-
jenigen der Sympathisanten drucken ließ, sich an manch verfänglicher kulturel-
ler Aktion beteiligte, während des Kriegs bei völkischen Wiener Verlagen wie
dem A. Luser-Verlag oder dem Zsolnay-Verlag publizierte und stets versuchte,
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sich gegenüber den braunen Machthabern, wie wir zum Schluss sehen werden,
als sozusagen integrierter Intellektueller auszuweisen.38
Diese Entwicklung soll an einem Beispiel nachgezeichnet werden, das nur
scheinbar von Bosnien-Herzegowina wegbringt, und in Wirklichkeit die Am-
bivalenz und politische Verworrenheit dieses geschichtlichen Augenblicks in
vollem Umfang verdeutlicht. Am 23. Juli 1938 ergeht ein Brief der Düsseldorfer
Nachrichten an Michel, in dem nach Max Mells „künstlerische[r] Zuverlässig-
keit unter den neuen Verhältnissen“ gefragt wird.39 Warum man Michels Be-
ratung in solcher Angelegenheit wünscht, erklärt sich daraus, dass er schon
seit 1933 eine Firma betrieb, die RO-MI, die zwischen Autoren und Zeitschrif-
ten vermittelte und darauf spezialisiert war, Feuilletons in der reichsdeutschen
Presse unterzubringen. Mit dieser Agentur übernahm Michel das Geschäft Cä-
cilie Tandlers, die schon seit den 20er Jahren in diesem Bereich tätig war, als
Jüdin aber nicht länger mit Deutschland hätte arbeiten können.40 Nach Mi-

35 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/B407/1 bis B407/29 Lit, sowie 125/B88/1 bis B88/43 Lit.
36 Müller 1990, p. 287.
37 Vgl. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, ehem. Berlin Document Center, Reichsschrift-
tumskammer (im Folgenden RSK), Michel, Robert, 24. 02. 1876.
38 Bei seiner Aufnahme in die RSK wurde von Max Stebich, dem damaligen österreichi-
schen Landesleiter der RSK, am 15. 11. 1938 folgende Bescheinigung ausgestellt: „Er hat
sich immer im nationalsozialistischen Sinne, wenn auch nur illegal und im kleineren
Kreise, betätigt“ (ibid.).
39 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/B407/1 bis B407/29 Lit.
40 Cäcilie Tandler, geb. Pinker, *17.09.1893, Wien – †25.04.1946, Wien (ich danke Peter Mi-
chael Braunwarth für die vollständigen Geburt- und Sterbedaten).- Vgl. Concetti, Riccar-
do: Der Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal und Robert Michel 1898–1929.
Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2. Wien: Phil. Diss. der Univ. Wien 2003, p. 364.

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Robert Michel 433

chels eigenen Angaben und aus verschiedenen konvergierenden Gegebenheiten


zu schließen, war Cäcilie Tandler immer noch am Steuer der Firma, während
Michel nur formell, der Nazis wegen, als Chef auftrat. Verblüffend ist jedoch,
welche Umstände Michel in seinem Rückschreiben vom 25. Juli an die Düssel-
dorfer Nachrichten beleuchtet, um für Mells und seine eigene kulturpolitische
Gesinnung zu verbürgen:
Wir nationalbetonten Schriftsteller versuchten bald nach der Machtergreifung in
Deutschland uns zu einem „Ring deutscher Schriftsteller in Österreich“ zu vereini-
gen, woran wir aber verhindert wurden. Beim zweiten Versuch zu einem solchen
Zusammenschluß wählten wir Max Mell zu unserem Führer […] und unter seiner
Leitung entstand der „Bund der deutschen Schriftsteller in Österreich“, der nach dem
Umbruch den ersten Unterbau für die Errichtung des österreichischen Zweigs der
Reichsschrifttumkammer bildet.41
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Die zentralen kulturpolitischen Ereignisse, auf die Michel hier hinweist und
die zu einer kulturellen Gleichschaltung Österreichs noch vor dem sogenann-
ten Anschluss führten, sind hinlänglich von Gerhard Renner, Klaus Amann
und anderen42 rekonstruiert worden, weshalb hier nicht auf sie eingegangen
werden soll. Zu hinterfragen wäre aber, was denn Michel mit seinem „wir“
wirklich meinte: Ob er tatsächlich eine aktive Rolle bei den nachgezeichneten
Entwicklungen spielte, oder ob er sich eine solche Rolle nur aus taktischen
Überlegungen heraus zuschreibt, soll hier dahingestellt bleiben. Tatsache ist,
dass sowohl Michel als auch Mell sich 1938 an einer berühmt-berüchtigten Pub-
likation beteiligten, mit welcher der oben erwähnte Bund der deutschen Schrift-
steller Österreichs den (fatalen) Augenblick feierte, da „Österreich durch die
Tat des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler heimgekehrt in das Deutsche
Reich“43 ist: Es handelt sich um das berüchtigte Bekenntnisbuch österreichischer
Dichter. Was Michels eigenen Beitrag angeht, so besteht die Pointe darin, dass
der von ihm eingereichte Probetext ein Auszug aus der novellistischen Fassung
von Eugen vor Belgrad ist, und zwar der Auszug, der den oben zitierten Traum
Prinz Eugens beinhaltet. Die durch den Feldmarschall proklamierte, zuerst aus-
trofaschistisch gefärbte, also quasi ‘aktualisierte’ altösterreichische Staatsidee
wird nun braun übermalt und nationalsozialistisch dekliniert, da im Grunde ge-

41 Vgl. ÖLA, Konvolute 125/B407/1 bis B407/29 Lit.


42 Renner, Gerhard: Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus (1933–1940):
Der „Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs“ und der Aufbau der Reichsschrift-
tumskammer in der „Ostmark“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), pp.
195–303. Amann, Klaus: Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich.
Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte. Frankfurt/M.: Athenäum 1988.
43 Stebich, Max: [Widmung]. In: Bekenntnisbuch 1938, p. 7.

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434 Riccardo Concetti

nommen beide Ideologien um die Errichtung eines Großreiches unter der Füh-
rung des Deutschtums wetteiferten und sich auf dieselben historischen Figuren
berufen konnten. Was in unserem Kontext aber als das Wichtigste erscheint,
ist, dass Michel diese Doppelbödigkeit der politischen Repräsentation in Kauf
nimmt: Die politische Aussagekraft seines Textes war so beschaffen, dass sie in
Deutschland auf eine Weise, in Österreich aber als ihr Gegenteil gelesen werden
konnte. Er nutzt diese Zweideutigkeit aus, um nach beiden Seiten hin gut dazu-
stehen. Er sprach bewusst mit der Doppelzüngigkeit der Höflinge.
Diese Haltung findet sich in dem letzten brisanten Dokument wieder, das hier
vorgestellt werden soll. Am 26. April 1939 schreibt Michel an den S. Fischer Ver-
lag – den Verlag seiner literarischen Anfänge, der nunmehr von Peter Suhrkamp
geleitet wurde – und trägt diesem seinen Plan vor, seine belletristischen Arbei-
ten mit bosnisch-herzegowinischem Sujet in einen Sammelband zu vereinen:
Die immer stärker ausgreifenden Interessen nach dem Südosten reifen in einer Art
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aus, dass sich von selbst der Gedanke aufdrängt, ob es nicht geboten wäre, mein Werk,
das sich auf Bosnien und die Herzegowina bezieht, gesammelt herauszustellen. Ihrem
literarischen Werte nach und ebenso ihrer Wahrhaftigkeit wegen und ihrer Echtheit
und Vollständigkeit in der Widerspiegelung alles Landschaftlichen und Volkhaften
jener Länder würden es meine epischen Arbeiten an sich verdienen, gesammelt für
die Zukunft erhalten zu werden. Hierzu kommt noch der Vorzug, dass sie so ziemlich
einzig dastehen in der deutschen Literatur auf diesem Gebiet.
Und nun wäre durch die politische Entwicklung wohl für Jahrzehnte lang das allge-
meine Interesse des deutschen Publikums für eine solche Lektüre gesichert. Da könnte
sich also wohl der Verlag, der die Entwicklung dieser meiner dichterischen Durch-
dringung jenes merkwürdigen slawisch-orientalischen Milieus glücklich gefördert
hat, dazu entschliessen, diese schöne Verlagstat zu vollführen. Geschäftlich wäre es
kaum ein Risiko, da sich so ein Sammelwerk als ein dichterischer Baedeker für alle
Reisenden in jenen Ländern einbürgern könnte, und wenn das Werk auch nicht ganz
in die gegenwärtige Linie des Verlages passen sollte, so wäre die Herausgabe doch
aus den angeführten Gründen berechtigt. Bei genauerer Prüfung des Materials würde
sich aber auch herausstellen, dass meine Art der Darstellung den Forderungen der
deutschen Gegenwart durchaus gerecht wird.44

Wie man sieht, schlägt hier Michel larmoyant alle möglichen Töne an, um seine
Bitte vorzutragen und dabei eine positive Resonanz zu erzeugen: Er verweist
stolz auf die literarische Bedeutung seiner Werke und unterstreicht deren Ein-
maligkeit. Er attestiert ihnen Wirtschaftlichkeit, indem er sie als touristische
Ratgeber ausgibt. Im Anschluss an die Zeitungstitel, die anlässlich des Staats-
besuchs des jugoslawischen Außenministers Aleksander Cincar-Marković die

44 Vgl. ÖLA, Konvolut 125/B207 Lit.

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Robert Michel 435

„deutsch-jugoslawische Freundschaft“ proklamierten,45 stellt er sein Buch quasi


als Feierbuch zur politischen Annäherung Jugoslawiens an das Dritte Reich hin.
An diesen Tagen war die braune Balkanpolitik freilich in aller Munde und
selbst ein bulgarischer (nationalsozialistischer) Autor wie Janko Janeff begrüßte
im Völkischen Beobachter die „wirtschaftliche, politische und geistesgeschicht-
liche Eingliederung des gesamten südöstlichen Lebensbereiches in die neuent-
standene mitteleuropäische Front des Friedens.“46 In diesem politischen Klima
und auf die negative Resonanz hin, auf die er bei S. Fischer und anderen Ver-
lagen, an die er sich gewandt hatte, gestoßen war, entschloss sich Michel, aus-
gerechnet an den Reichsminister Goebbels zu schreiben. Damit entstand eine
verhängnisvolle programmatische Schrift, mit welcher er alle unterschwelligen
Hegemonialdiskurse, die sein Schreiben stets charakterisiert haben, unverhüllt
ans Licht treten lässt. Ja, Michel bietet hier eine braune „Umdeutung der öster-
reichischen Kulturideologie“,47 die sich verbal noch zu den k. u. k. Werten der
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Verständigung und Versöhnung bekennt, tatsächlich aber nur noch schieren


Imperialismus vor allem angesichts des sich abzeichnenden Krieges, verbreitet:
Wien […] am 20. Juni 1939.
Herr Reichsminister!
In der Voraussetzung, dass sich ein deutscher Schriftsteller an den Schirmherrn des
Schrifttums mit einer Anregung wenden darf, möchte ich nicht allein für mich, son-
dern für eine ganze Gruppe von Schaffenden […] das Wort an Sie richten. Ich spreche
da von jenen Schriftstellern, die ihrem Erleben gemäß, das manchmal über die deut-
schen Sprachgrenzen hinüberlangte in benachbartes Land, die Vorwürfe zum Schaffen
nicht immer aus dem deutschen Volksleben allein schöpfen, sondern oft auch aus dem
Leben und den Ländern der Nachbarvölker, in deren Wesen sie sich einzufühlen ver-
mögen. In den Zeiten des innerpolitischen Sturmes und Dranges in Deutschland mag
solche Stoffwahl nicht zweckdienlich gewesen sein, aber angesichts der gegenwärti-
gen weltpolitischen Lage dürfte die Einschränkung in der dichterischen Durchdrin-
gung nur auf das deutsche Leben allein nicht mehr im gleichen Ausmaß geboten sein.
Jetzt sollten jene geistigen Kolonisatoren – wenn dieser Ausdruck gestattet ist – an den
Grenzen Deutschlands wieder freieren Spielraum bekommen, damit im Gefolge der
politischen Siege des Reiches auch jene geistigen Brücken von Volk zu Volk geschlagen
werden, die für dauerhafte ersprießliche Beziehungen unerlässlich sind. Selbst dort,
wo sich vorerst die Anwendung von harten Machtmitteln als notwendig erweist,
kann ein entgegenkommendes Verständnis für die fremde Volksseele die Nachgiebig-

45 Vgl. Wiener Neueste Nachrichten, 26.04.1939, p. 1.


46 Vgl. Völkischer Beobachter, 05.05.1939, p. 6.
47 Amann, Klaus: Die Brückenbauer. Zur „Österreich“-Ideologie der völkisch-nationalen
Auto­ren in der dreißiger Jahren. In: Ders./Berger, Albert (Hg.): Österreichische Literatur
der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse. Institutionelle Voraussetzungen. Fallstu-
dien. Wien, Köln: Böhlau 21990, pp. 60–78, hier p. 74.

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436 Riccardo Concetti

keit und Anpassungsfähigkeit anlehnungsbedürftiger Nachbarvölker wunderwirkend


beeinflußen. [… Im Osten und Südosten] leben jungen Völker, die sich dem mächtig
emporstrebenden Deutschland hingedrängt fühlen werden, um von ihm zu lernen.
Dort gibt es noch viel geistiges Brachland, das aus den eigenen Gehirnen nicht urbar
gemacht wurde. Wenn deutscher Geist aus der Überfülle seiner Schöpferkraft dort ko-
lonisatorisch eingreift, wird er für diese noch unreifen Völker ein großer Schenkender
werden und gleichzeitig seinen Volksgenossen das Wesen dieser anlehnungsbedürf-
tigen Völker erschließen und dadurch auf weite Sicht hinaus fruchtverheißende Vor-
arbeit leisten. Die Schaffenden, die sich auch solchen Aufgaben zuwenden, würden es
gewiß verdienen, daß sich ihren Werken, sofern sie weltanschaulich und künstlerisch
entsprechen, die Volksbibliotheken öffnen und daß den Verlegern, Bühnenleitern und
Sendern die eingefleischte Ängstlichkeit gegenüber diesen verkannten Mitarbeitern
am Ruhme Großdeutschlands genommen wird. […]
Heil Hitler!48
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Dieses unheilvolle Zeitzeugnis wirft ein schiefes Licht auf Michels gesamtes
Schaffen: Denn dass er gerade seine besten Arbeiten über Bosnien-Herzegowi-
na dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda anbietet und dabei den
unmöglichen Spagat versucht, die Ideale der Völkerverständigung mit jenen der
militärischen Eroberungen zu verbinden, bringt auf besonders schroffe Weise
die ideologischen Verstrickungen zu Tage, die seiner ganzen Poetik zu Grunde
liegen. Denn de facto legt hier Michel den Konnex bloß, der die literarische
Aufwertung der Kultur fremder Völker mit der Gewalt des Krieges verbindet,
auf die letztendlich – zumal im Falle eines Offiziers – der Kontakt der österrei-
chischen mit der bosnischen Kultur zurückzuführen ist. Dabei erscheint Michels
eigene auktoriale Rolle als Instanz, die mit dem Rekurs auf verschiedene Medien
für die „Echtheit und Vollständigkeit in der Widerspiegelung alles Landschaft-
lichen und Volkhaften jener Länder“49 bürgen soll, wesentlich verfänglicher, als
man sonst gemeint hätte.

48 Als Beilage zum Brief Michels an Suhrkamp vom 21.06.1939 erhalten, in: Deutsches Lite-
raturarchiv Marbach, A: S. Fischer [Hervorh. vom Verf.]. Der Antwortbrief vom Reichs-
ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, datiert vom 02. 08. 1939: „Zu Ihrem
Schreiben betreffend das Schrifttum über fremdvölkische Themen, wird Ihnen mitgeteilt,
daß gerade der deutsche Verleger bekannt dafür ist, daß er für die Verbreitung der Kennt-
nis fremder Völker und Staaten sich zu allen Zeiten eingesetzt hat. Die Bereitschaft des
deutschen Verlegers ist auch heute auf diesem Gebiete nicht geringer geworden. Wenn
Sie mit Ihrem Werk bei einzelnen Verlegern auf eine geringe Aufnahmefähigkeit, ja sogar
auf Widerstände gestossen sind, so gilt dies nicht für die Mehrzahl der deutschen Ver-
lage. / Sie werden gebeten, zu Ihrem Schreiben einzelne konkrete Angaben zu machen. //
Im Auftrag gez. Schlecht.“ In: ÖLA, Konvolut 125/B264 Lit.
49 Vgl. Brief vom 26. 04. 1939 an den S. Fischer Verlag. In: ÖLA, Konvolut 125/B207 Lit.

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Robert Michel 437

Als Nachklang zu diesem Zeitzeugnis kann man schließlich hinzufügen, dass


der so heiß ersehnte Sammelband Halbmond über der Narenta schließlich 1940
bei dem völkisch-national (und nationalsozialistisch) ausgerichteten Traditions-
haus Adolf Luser (später in „Wiener Verlag“ umbenannt) erschien.50 Ironischer-
weise ist es immer noch das einzige – antiquarisch noch beziehbare – Buch des
Autors, das eine Übersicht über seine Bosnien-Texte ermöglicht.
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50 Vgl. Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Bd. 2: Belletristische


Verlage der Ersten Republik. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1985.- Michels Brief an die Wiener
Verlagsgesellschaft vom 26. April 1939 war mit dem an Goebbels teilweise gleichlautend,
vgl. ÖLA, Konvolut 125/B450/1 bis B450/4 Lit. Laut Vertrag vom 12. 12. 1939 erschien das
Buch in einer Auflage von 3.000 Stück. Im Jahre 1943 wurde eine Neuauflage (Pappband)
besorgt, von der im März 1943 bereits 5.159 Exemplare verkauft wurden. Vgl. ÖLA Kon-
volut 125/B450/1 bis B450/4 Lit.

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NACHWIRKUNGEN
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„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“441

„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“

Erinnerungen bosnischer Waffen–SS–Soldaten an die


österreichisch-ungarische Herrschaft im Ersten Weltkrieg

Franziska Zaugg (Bern/Dublin)

Bosnisch-herzegowinische Truppen waren im Ersten Weltkrieg Teil der öster-


reichisch-ungarischen Vielvölkerarmee und wurden bis 1918 als ‘Bosniaken’
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bezeichnet.1 Im ersten Kriegsjahr 1914 wurden zahlreiche Soldaten aus diesen


ehemaligen osmanischen Provinzen an der Ostfront eingesetzt. Für 36 Divisio-
nen werden Bataillone genannt, die sich aus Bosniern und Herzegowinern rek-
rutierten. Zwar sind diese Einheiten auf Fotografien an ihrem Fez gut erkennbar,
allerdings ist es heute schwierig, mit letzter Sicherheit festzustellen, wo sie
überall gekämpft haben, da sie oft in anderen Garnisonen Österreich-Ungarns
untergebracht waren und die Regimenter nur teilweise geschlossen zum Einsatz
kamen. Außerdem legt der Fez die falsche Vermutung nahe, die meisten von
ihnen wären Muslime gewesen. Insgesamt war aber nur rund ein Drittel dem
islamischen Glauben verpflichtet.2
Schon während des habsburgischen Einmarsches 1878 waren auf beiden Sei-
ten Bosnier und Herzegowiner zu finden: Während Joseph Freiherr Philippović
von Phillipsberg, Sprössling einer christlich-altbosnischen Familie, den Ober-
befehl über die vorrückenden österreichisch-ungarischen Truppen hatte,
leisteten in Ostbosnien führende Geistliche wie etwa der Mufti von Taslidža
(heute Pljevlja in Montenegro), Mehmed Nurudin Vehbi-efendi Šemsekadić,
Widerstand.3 Gut zwanzig Jahre später, im langen Vorfeld des Ersten Welt-

1 Bereits zwanzig Jahre später hatte sich eine Begriffsverschiebung vollzogen: Bis heute
versteht man unter ‘Bosniaken’ die muslimische Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas.
Um Verwechslungen vorzubeugen, wird in diesem Aufsatz der Begriff nur für die bos-
nisch-herzegownischen Soldaten bis 1918 verwendet.
2 Vgl. Neumayer, Christoph / Schmidl, Erwin A. (Hg.): Des Kaisers Bosniaken. Die bos-
nisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. Wien: Militaria 2008, pp. 95 u.
128.
3 Vgl. Wohnout, Helmut: Die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878. In: Neumayer &
Schmidl 2008, pp. 14–39, hier pp. 23 u. 26 f.

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442 Franziska Zaugg

kriegs, wurde aber auch in muslimischen Kreisen rekrutiert. Die Beziehung


zwischen der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung und den Vertretern Ös-
terreich-Ungarns hatte sich in dieser Zeitspanne verändert. Es stellt sich daher
die Frage, wie es der Besatzungsmacht gelungen war, die ihnen oft feindlich
gesinnten Landesbewohner zu beschwichtigen und für sich zu gewinnen? Mehr
noch, in meinen Archivrecherchen der vergangenen Jahre, die sich insbeson-
dere der Rekrutierung albanischer und bosnisch-herzegowinischer Muslime in
die Waffen-SS widmeten, kam in den Quellen immer wieder die Sympathie zur
Sprache, welche Bosnier, Herzegowiner und Albaner den „Reichsdeutschen“,
also Deutschen und Österreichern, im Zweiten Weltkrieg entgegenbrachten.4
Die Frage drängte sich auf: Weshalb hatten sie – d. h. vor allem auch die bos-
nisch-herzegowinischen Muslime – die ehemalige Besatzungsmacht in so guter
Erinnerung? Auf den nächsten Seiten soll versucht werden, auf diese Frage eine
Antwort zu geben.5
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Sympathien für die Besatzer


Aus dem Ersten Weltkrieg sind heute für die Kriegsschauplätze Ost- und Süd-
osteuropa zahlreiche Gräueltaten der habsburgischen und der deutschen Armee
an Zivilisten wie auch an Soldaten aus den eigenen Reihen belegt.6 Auf der
anderen Seite scheint es Bevölkerungsschichten gegeben zu haben, die von der
österreichisch-ungarischen Besatzung profitierten oder sie zumindest in den
eigenen Erinnerungen positiv konnotierten.7 Diese lässt sich auch bei den

4 Vgl. Zaugg, Franziska / Młynarczyk, Jacek Andrzej (Hg.): Ost- und Südosteuropäer in
der Waffen-SS. Kulturelle Aspekte und historischer Kontext. Sonderausg. der Zeitschrift
für Geschichtswissenschaft 7/8 (2017); Dies.: Albanische Muslime in der Waffen-SS. Von
„Großalbanien“ zur Division „Skanderbeg“. Paderborn: Schöningh 2016.
5 Ausführlich zu den wichtigsten Figuren in der Zusammenarbeit mit den deutschen Be-
satzern und in Zusammenhang mit den Rekrutierungen bosnischer Muslime in die Waf-
fen-SS vgl. Motadel, David: Islam and the Nazi Germany’s War. Cambridge, MA: Harvard
Univ. Press 2014, pp. 200–207; Hoare, Marko Attila: The Bosnian Muslims in the Second
World War. A History. New York: Oxford Univ. Press 2014; Bougarel, Xavier: Islam, a
,Convenient Religion‘? The Case of the 13th SS Division Handschar. In: Bougarel, Xavier
/ Branche, Raphaëlle / Drieu, Cloé (Hg.): Combatants of Muslim Origin in European Arm-
ies in the Twentieth Century. Far from Jihad. London et al.: Bloomsbury Academic 2017,
pp. 137–159.
6 Vgl. beispielsweise Mitrovi ć, Andrej: Serbia’s Great War 1914–1918. London: Hurst &
Co. 2007; Gumz, Jonathan E.: The Ressurection and Collapse of Empire in Habsburg Ser-
bia, 1914–1918. New York: Cambridge Univ. Press 2009.
7 Vgl. Scheer, Tamara: A Reason to Break the Hague Convention? The Habsburg Occupa-
tion Policy toward Balkan Muslims in World War I. In: Yavuz, Hakan M./ Ahmad, Feroz
(Hg.): War and Collapse. World War I in the Ottoman State. Salt Lake City: Univ. of Utah
Press 2016, pp. 1008–1022. Vgl. auch Neumayer & Schmidl 2008, pp. 95 f. u. 99.

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„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“443

Muslimen feststellen, die im Zweiten Weltkrieg für die deutsche Waffen-SS an-
geworben wurden.
1943 schreibt der bosnische SS-Brigadeführer Nedim Salihbegović in seinem
„Bericht zur Lage“ im NDH8-Staat, dass die Deutschen bei der slawischen
Bevölkerung vor dem Balkanfeldzug 1941 eine besonders hohe Sympathie ge-
nossen hätten:
Die [slawische] Bevölkerung nach dem Anschluss Österreichs war der Meinung, dass
Deutschland auch das geschichtliche Erbe Österreichs angetreten und somit die Ver-
pflichtungen gegen loyale österreichische Untertanen aus dem [Ersten] Weltkrieg
übernommen hätte. Aus dieser Überzeugung sehnte die Bevölkerung den Einzug der
deutschen Truppen herbei.9

Die Herrschaft Österreich-Ungarns verband Salihbegović mit „Ruhe, Sicher-


heit und Gerechtigkeit der damaligen Verwaltung“ sowie mit „gesicherten wirt-
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schaftlichen Verhältnisse[n], wo jeder, der arbeitswillig war, sein Brot verdienen


konnte.“10
Diese positive Ausgangslage für zukünftige Rekrutierungen wurde jedoch
von den Ereignissen des Balkanfeldzugs 1941 überschattet. Vom neu errichte-
ten kroatischen Ustaša-Staat (NDH) sahen sich viele Bewohner Kroatiens und
Bosnien-Herzegowinas nicht repräsentiert. So wurde beispielsweise die von
Vladimir Maček angeführte kroatische Bauernpartei aus der Regierung aus-
geschlossen und ihr wurde jegliche politische Aktivität untersagt, da sie nicht
zur Kollaboration mit den Deutschen bereit war.11 Noch schlimmer traf es ser-
bische, jüdische und teilweise auch muslimische Bevölkerungsteile, die fortan
zu den Verfolgten des NDH-Staates gehörten.12 Trotz der Zusammenarbeit der
Deutschen mit Ante Pavelić, dem faschistischen kroatischen Führer (Poglavnik),
wurde der Beitritt zur Waffen-SS vor allem für Teile der muslimischen Bevöl-
kerung Bosniens zur letzten Option, da man sich dort Schutz, Bewaffnung und
militärische Ausbildung versprach und die nationalsozialistische Besatzung in
einer Tradition mit der Herrschaft Österreich-Ungarns sah. Zu dieser prekären
Situation meldete SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Ernst Fick
im März 1944 Heinrich Himmler, dem Chef der deutschen SS und Polizei: „Die

8 Bezeichnung für “Nezavisna Država Hrvatska“; dieser „Unabhängige Staat Kroatien“


existierte von Hitlers Gnaden 1941–1945.
9 Nedim Salihbegovic: Bericht zur Lage, 25.9.1943. BArchB, NS 19/2601, Bl. 29.
10 Ibid.
11 Vgl. ibid.
12 Vgl. hierzu ausführlich Korb, Alexander: Im Schatten des Weltkriegs. Massengewalt der
Ustaša gegen Serben, Juden und Roma in Kroatien 1941–1945. Hamburg: Hamburger
Edition 2013.

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444 Franziska Zaugg

Mohamedaner, die im Allgemeinen von Cetniks [sic] und Ustaschas [sic] be-
kämpft wurden, gehen z.T. zwangsläufig zu den Freiw[illigen] Verbänden der SS
oder den Partisanen, um nicht weiterhin von Ustaschas, Cetniks und Partisanen
gemordet zu werden.“13
Diesen Umstand versuchten die Nationalsozialisten nun, indem sie sich als
Erben der Donaumonarchie ausgaben, für ihre Zwecke auszunutzen: Hermann
Neubacher, „Sonderbeauftragter Südost“ des Dritten Reiches schrieb nachträg-
lich, dass sich Adolf Hitler auf dem Balkan für eine „positive Muselmanen-
politik“ aussprach und „damit in die Fußstapfen des Wiener Ballhausplatzes14
[trat], dessen Politik im okkupierten Bosnien-Herzegowina von peinlicher
Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeit der islamischen Welt diktiert war“.15
In der Tat war die habsburgische Politik vom Grundsatz geprägt, die musli-
mischen Eliten nicht zu verärgern.16 Bereits bei der Okkupation 1878 prokla-
mierte Franz Joseph I.: „Eure Gesetze und Einrichtungen sollen nicht willkürlich
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umgestoßen, Eure Sitten und Gebräuche sollen geschont werden.“17 Bereits vor
der Einführung der Wehrpflicht 1881/82 hatte sich das Reichskriegsministerium
bei anderen europäischen Armeen über den Umgang mit Muslimen informiert.
Zu den bestehenden Regelungen und Vorschriften für die Behandlung von Sol-
daten traten spezifische für die „eingereihten Mohammedaner“; diese betrafen
vor allem Gebetszeiten, Feiertage und Ernährungsgewohnheiten. Obwohl die
Einführung der Wehrpflicht zuerst einen militärischen Aufstand zur Folge hatte,
änderte sich das Verhältnis zwischen Muslimen und ihren österreichisch-un-
garischen militärischen Vorgesetzten rasch: Bereits in den letzten Jahren des
ausgehenden 19. Jahrhunderts galt letzteren die Verlässlichkeit muslimischer
Bosniaken als besonders hoch.18
Dass das oben genannte kaiserliche Versprechen wie auch die spezifischen
Vorschriften für Muslime zumindest teilweise umgesetzt und auf religiöse Sitten
der Soldaten Rücksicht genommen wurde, davon zeugen nicht nur die positiven
Erinnerungen ehemaliger k. u. k. Bosniaken, sondern auch die Nachahmungs-
versuche der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. SS-Gruppenführer und
Generalleutnant der Waffen-SS Artur Phleps wollte unbedingt an diese Traditio-

13 Schreiben von SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS Ernst Fick an Himmler,
16.3.1944. BArchB, NS 19/2601, Bl. 82.
14 Dies war der Sitz des k. u. k. Außenministeriums gewesen.
15 Neubacher, Hermann: Sonderauftrag Südost 1940–1945. Bericht eines fliegenden Diplo-
maten. Göttingen: Musterschmidt 1956, p. 33.
16 Vgl. Neumayer & Schmidl 2008, p. 96.
17 Die Proclamation. In: Sammlung I (1880), p. 3f, entnommen der Wiener Zeitung Nr. 172
vom 28.07.1878, zit. n. Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-un-
garischen Epoche (1878–1918). München: Oldenbourg 1994, p. 58.
18 Vgl. Neumayer & Schmidl 2008, pp. 99 u.103.

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„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“445

nen anknüpfen, denn: „Der Muselmane erinnert sich mit größter Achtung und
Dankbarkeit der Verwaltung im alten Okkupationsgebiet der österreichisch-un-
garischen Monarchie. Was in Bosnien und der Herzegowina geschaffen wurde,
das mit Kultur und Zivilisation in Zusammenhang steht, ist das Verdienst dieser
Verwaltung.“19 Selbst Himmler wusste, dass diese Verbindung aufrecht erhalten
werden musste, wollte man das bestehende positive Image für eigene Zwecke
nutzen. Am 13. Februar 1943 befahl er, dass die neu aufzustellende 13. Waf-
fen-Gebirgs-Division der SS (später Division „Handschar“20 genannt) „tunlichst
aus Bosniaken mohamedanischer Religion zu bestehen“ habe. Weiter beauftrag-
te er Phleps damit, „den Bosniaken im Rahmen unserer Division die alten Rech-
te, die diese in der österreichisch-ungarischen Armee hatten, verbindlich [zu]
zusagen, freie Religionsausübung, Tragen des Fez“.21 Bereits 1942 umschrieb
H. Hollmatz das später von Himmler angestrebte Vorgehen mit folgenden Wor-
ten: „Es ist eine bekannte Tatsache, dass sich bereits das alte Österreich durch
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weitgehendes Verständnis für die religiösen Bedürfnisse der in seinen Grenzen


lebenden mohammedanischen Bevölkerung auszeichnete. Die Nachfolgestaaten
haben die Tradition übernommen.“22
In der muslimischen Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas, im Sandschak und
in den nordöstlichen Teilen „Großalbaniens“23 herrschte also weitgehend die
Annahme vor, die deutschen Besatzer würden Rücksicht auf ihre traditionelle
Lebensweise nehmen24 – genau dasselbe Versprechen, das bereits die österrei-
chisch-ungarischen Besatzer bei der Invasion 1878 abgegeben hatten. Anderer-

19 Schreiben Phleps an Himmler, 5.11.1943. BArchB, NS19/3893, p. 1.


20 „Handžar“ ist die Bezeichnung für einen (ursprünglich arabischen) Krummdolch.
21 Funkspruch Himmler an Divisionskommandeur der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division
„Prinz Eugen“, SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Artur Phleps,
13.2.1943. BArchB, NS 19/2601, Bl. 2.
22 In: Danziger Vorposten, Nr. 265, 14.10.1942. BArchB, NS5-VI/16961.
23 Als „Großalbanien“ wurde der zwischen 1941 und 1944 existierende albanische Staat
bezeichnet, der de iure bis zur Kapitulation Italiens am 3. September 1943 italienisches
Protektorat war und danach als „neutraler Staat“ bezeichnet wurde. De facto duldete aber
die albanische Regierung eine mannigfaltige militärische, wirtschaftliche und politische
deutsche Einflussnahme. Geografisch bestand „Großalbanien“ aus „Neualbanien“, d. h.
Mittel- und Südkosovo sowie mazedonischen und montenegrinischen Grenzgebieten,
und „Altalbanien“. Nach dem Jugoslawienfeldzug im April 1941 verblieben Nordkosovo
und der Sandžak bei Serbien und kamen unter deutsche Militärverwaltung. Die Idee,
ein „Großalbanien“ unter italienischer Herrschaft einzurichten, taucht aber bereits im
August 1939 in den Quellen auf. Vgl. Curt Heinburg, Vortragender Legationsrat Südost-
europa, an Konsulate in Tirana, Athen, Sophia zu Telefonat Gesandtschaft Tirana bez.
Versprechen des italienischen Außenministers Galeazzo Ciano für ein „Großalbanien“ an
den Präfekten von Tirana, 22.8.1939. PAAA, R103286, Bl. 264.
24 Im Falle Kosovos und Nordalbaniens beispielsweise handelte es sich um in „Kanuns“ je
nach Region unterschiedlich ausgestaltete Formen des Gewohnheitsrechts. Vgl. hierzu

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446 Franziska Zaugg

seits rührte die positive Grundhaltung gegenüber den Invasoren auch von den
Erinnerungen an die österreichisch-ungarische Armee vor und während dem
Ersten Weltkrieg: Zahlreiche ehemalige Bosniaken waren von der österreichi-
schen Militärdisziplin noch zwanzig Jahre später überzeugt. So beschreibt etwa
der „Kriegsberichter“ Willibald Kollegger, ein gebürtiger Österreicher, solche
Sympathien gegenüber den ‘Deutschen’ anhand einer Begegnung in Boga in
den Bergen Nordalbaniens an der Grenze zu Montenegro Anfang der 1940er
Jahre: „Hier oben treffen wir den Bruder eines albanischen Ministers, der hoch-
erfreut ist, einen Deutschen zu treffen. Als er erfährt, dass sein Deutscher dem
ehemaligen Österreich entstammt, kennt seine Begeisterung keine Grenzen
mehr. ,Ja, die Österreicher, die haben wir in guter Erinnerung‘, sagt er in ge-
brochenem Deutsch, das er noch aus der Weltkriegszeit her beherrscht, als die
k. u. k. Armeen die Hälfte Albaniens besetzt hielten.“25
Persönliche Erinnerungen an die eigene Zeit in der österreichisch-ungari-
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schen Armee oder an deren Präsenz waren also mit ausschlaggebend für den
Umgang mit den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg. Zvonimir Bern-
wald etwa, der in der 13. Waffen-Gebirgs-Division der SS diente, war durch die
Erinnerungen seines Vaters geprägt worden, denn dieser habe „im Ersten Welt-
krieg, zusammen mit vielen Kroaten, Serben und Muslimen, in der k. u. k. Armee
gedient. Wir Kinder haben uns oft seine und seiner Kameraden Erlebnisse von
der russischen Front an der Dobrudscha und vom italienischen Kriegsschau-
platz an der Piave 1918 angehört, die er zusammen mit einem Serben und einem
Kroaten in der feuchtfröhlichen Weinrunde erzählte.“26

Nationalsozialistische Instrumentalisierung des positiven Images


Doch nicht nur viele Bosnier waren den deutschen Besatzern freundlich ge-
sinnt. Auch die Deutschen hegten aufgrund des geleisteten Kriegsdiensts der
Bosniaken in der österreichisch-ungarischen Armee Sympathie. Laut Bernwald
soll Himmler auch nach einer gescheiterten Meuterei innerhalb der Division
„Handžar“ an seinem Glauben an die Loyalität der bosnischen Soldaten fest-
gehalten haben: „Ich wusste, dass die Möglichkeit bestand, einige Verräter in
die Division einzuschleusen, aber ich habe nicht den geringsten Zweifel über
die Loyalität der Bosnier. Diese Truppen waren gegenüber ihrem Obersten Be-

ausführlich Elsie, Robert: Der Kanun. Das albanische Gewohnheitsrecht nach dem so-
genannten Kanun des Lekë Dukagjini. Berlin: OEZ 2014.
25 Kollegger, Willibald: Albaniens Wiedergeburt. Wien: Wiener Verlagsgesellschaft 1942,
p. 38.
26 Bernwald, Zvonimir: Muslime in der Waffen-SS. Erinnerungen an die bosnische Division
Handžar (1943–1945). Graz: Ares 2012, p. 15.

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„Ruhe, Sicherheit und Gerechtigkeit“447

fehlshaber vor 20 Jahren [gemeint sind die Bosniaken in der k. u. k. Armee, F.Z.]
stets loyal; weshalb sollten sie das heute nicht auch sein?“27 Und Muslime, die
in faschistischer Uniform patrouillierten, erinnerten den Österreicher Kollegger
an „deutsche Werte“ wie „tadellose Ordnung“ und „soldatische[n] Geist“.28
In seinen Memoiren hält Hermann Neubacher,“Sonderbeauftragter Südost”
im Dritten Reich, die Tatsache fest, dass sowohl die deutsche Wehrmacht als
auch die Verbände der Waffen-SS von vielen Südosteuropäern mit der österrei-
chisch-ungarischen Armee aus dem Ersten Weltkrieg in Verbindung gebracht
wurden.29 Die personellen Verflechtungen zwischen Bosniern und Österrei-
chern bzw. Ungarn, die in beiden Waffenverbänden, zuerst in der österreichi-
schen Armee und später in der Waffen-SS dienten, waren zahlreich. Ein an-
schauliches Beispiel ist der Kommandeur des Pionier-Bataillons der bosnischen
Waffen-SS-Division, SS-Hauptsturmführer Oskar Kirchbaum, der sowohl in der
k. u. k.-Armee als auch in der jugoslawischen Armee der Zwischenkriegszeit
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und später in der 13. Waffen-Gebirgs-Division diente.


Gerade in den vier südosteuropäischen Divisionen „Handžar“, „Kama“, „Skan-
derbeg“ und „Prinz Eugen“30 wurden von den Nationalsozialisten auch Kom-
mandeure eingesetzt, die in der habsburgischen Armee bereits Erfahrungen
im südosteuropäischen Raum gesammelt hatten; so etwa Artur Phleps, der
als Berufsoffizier in der Donaumonarchie Karriere gemacht und sich auf Ge-
birgskriegführung spezialisiert hatte. Im Zweiten Weltkrieg war er zuerst als
Divisionskommandeur der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division „Prinz Eugen“
eingesetzt und ab Mitte 1943, mit dem Aufbau des V. SS-Gebirgskorps, war ihm
auch die bosnische Division „Handžar“ unterstellt. Auch in Wirtschafts- und
diplomatischen Belangen waren ehemalige k. u. k. Militärs gern gesehen: So
der bereits erwähnte Neubacher, der vor seinem Einsatz als „Sonderbeauftrag-
ter Südost“ von März 1938 (dem ‘Anschluss’) bis Dezember 1940 Bürgermeis-
ter Wiens gewesen war und im Ersten Weltkrieg als Offizier eine aus Kroaten
bestehende Kompanie befehligt hatte, oder Franz von Scheiger, der als Gene-
ralstabsoffizier in der österreichisch-ungarischen Armee gedient hatte, später
Handelsattaché der deutschen Gesandtschaft in Tirana wurde und schließlich
politischer Berater für albanische Angelegenheiten beim deutschen Auswär-

27 Ibid., p. 132.
28 Kollegger 2012, p. 57f.
29 Vgl. Neubacher 1956, p. 108.
30 Auch bei den Namen dieser Divisionen versuchten die Nationalsozialisten, Verbindun-
gen zu Geschichte und Tradition herzustellen: “Kama” bezeichnet, wie „Handžar“, einen
traditionellen Dolch, “Skanderbeg” ist der Namen des albanischen Nationalhelden Iskan-
der Beg, und mit “Prinz Eugen” versuchten die Vertreter des Dritten Reiches einen Bezug
zu Prinz Eugen Franz von Savoyen-Carignan herzustellen, der mit kaiserlich österreichi-
schen Truppen die Festung Belgrad 1717 von den Osmanen erobert hatte.

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tigen Amt.31 Dieses Vorgehen zeigt, dass die Nationalsozialisten Wert darauf
legten, eine Kontinuität zu Österreich-Ungarn aufrechtzuerhalten und so das
Vertrauen der Bosnier (und Albaner) zu gewinnen.

Schlussbetrachtungen
Letztlich war die Gewalterfahrung, die der Zweite Weltkrieg mit sich brachte,
noch um vieles brutaler als jene des Ersten Weltkriegs – wenn sich kriegeri-
sche Gewalt überhaupt in solchen Skalen messen lässt. Bernwald beschreibt die
daraus resultierende Erfahrung und Erinnerung der in die Kriegshandlungen
Österreich-Ungarns im Ersten und des Dritten Reichs im Zweiten Weltkrieg
involvierten Bosnier und Kroaten folgendermaßen: „Was war der Unterschiede
zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg? Der Erste Weltkrieg be-
stand, bezogen auf die russische Front, gemäß den Erzählungen und aus der
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Sicht meines Vaters, aus einer Reihe verbissen geführter Kampfhandlungen,


aus denen aber die Menschlichkeit noch nicht ganz verbannt war. Der Zweite
Weltkrieg hingegen, den ich selbst miterlebt habe, war erbarmungslos, grausam
und unmenschlich.“32
Wie gut 25 Jahre vorher die österreichisch-ungarische Armee waren auch die
deutsche Wehrmacht und Waffen-SS dem Untergang geweiht: Im Herbst 1944
setzten in der bosnischen Waffen-SS-Divisionen „Handžar“ Massendesertionen
ein.33 Auch hier hatten wohl einige der Deserteure, die in letzter Minute ihr
Leben zu retten versuchten, noch das Scheitern und den Untergang der Donau-
monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs vor Augen.

31 Vgl. ibid., p. 107. Vgl. auch Kasmi, Marenglen: Deutsche Besatzung in Albanien. Potsdam:
ZMSBw 2013, p. 13.
32 Bernwald 2012, p. 15.
33 So meldete Horst Wagner im Oktober 1944„Zersetzungserscheinungen“ in der Bosnia-
ken-Division (Leiter Referatsgruppe Inland II Horst Wagner an Gesandtschaft Budapest,
6.10.1944. PAAA Inland IIg R100998). Die Überreste der Division „Hand ž ar“ sollten auf-
gelöst, die Werbung eingestellt werden; vgl. Gesandter Kasche an AA, 27.10.1944. PAAA
Inland IIg R100998, H297359.

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Auf der Drinabrücke449

Auf der Drinabrücke

Die Geschichte eines Chronotopos

Wolfgang Müller-Funk (Wien)

Vorbemerkung
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Ivo Andrić (1892–1975), der Nobelpreisträger, Humanist und Diplomat, der kein
serbischer Nationalist im Sinne von Slobodan Milošević gewesen ist, sondern
mit den in seinem Roman Na Drini Ćuprija entfalteten Narrativen ein zukünfti-
ges Jugoslawien antizipieren wollte,1 entzweit heute die Völker des ehemaligen
südslawischen Staates. Während ihn vor allem die Serben als einen der Ihren
feiern, soll die Lektüre seines bekanntesten Romans in bosnisch-muslimischen
Schulen wenigstens zeitweise untersagt worden sein. Das muss nicht mit dem
Autor und seinen heute historisch gewordenen Intentionen zusammenhängen,
sondern hat ganz offenkundig damit zu tun, dass die Stadt Višegrad, die Stadt
an der Drina-Brücke, infolge der Vertreibungen der ansässigen muslimischen
Bevölkerung heute beinahe eine rein serbische Stadt ist. Mittlerweile wurde
ein neuer Stadtteil auf Betreiben des Filmregisseurs Emir Kusturica Andrićgrad
benannt.2

Die Brücke als Chronotopos


Chronotopos, Zeit-Raum, nennt Michael Bachtin jene Schnittstelle zwischen
Raum und Zeit, in der sich beide verschränken und dadurch verdichten: die
Zeit, der ein konkreter Raum zugewiesen wird, in der sie zum Ereignis wird, der

1 Kodrić, Sanjin: „Überschwang und Martyrium“. Das Attentat von Sarajevo und seine Re-
flexionen im literarischen Werk von Ivo Andrić. In: Preljević, Vahidin / Ruthner, Clemens
(Hg.): The Long Shots of Sarajevo 1914. Ereignis – Narrativ – Gedächtnis. Tübingen:
Francke 2016 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 22), pp. 405–422.
2 Vgl. http://www.andricgrad.com.

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450 Wolfgang Müller-Funk

Raum, der durch die Zeit gefüllt und konkret wird.3 Unabhängig voneinander
sind beide entweder unermesslich oder leer. Der russische Theoretiker gibt auch
Beispiele für prominente Chronotopoi, die das Genre und die narrative Struktur
prägen: den Weg und die Straße, die Schwelle und damit verbundene Phäno-
mene (Treppe, Vorzimmer, Korridor), die Provinzstadt, den Platz, das Schloss.4
Andere ließen sich hinzufügen: die moderne Großstadt, das Haus und eben die
Brücke. Nicht wenige, wenn auch nicht alle dieser Chronotopoi sind passager;
in ihnen obwaltet die Bewegung im Raum, während Schloss und Haus stationär
sind und ihre Dynamik dem Umstand verdanken, dass sie zugleich Orte der Er-
innerung sind, deren Vektor in die Vergangenheit weist.
Die Brücke, die in Andrićs Roman mehr ist als ein Thema, ist zweifelsohne
ein solch passagerer Ort. Mit der Straße hat sie gemein, dass sie ein Unterwegs
von einem zum anderen Ort impliziert; sie führt tiefer in das Osmanische Reich
hinein. Vornehmlich aber ist sie eine Schwelle, ein Übergang von einem Raum
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zum anderen, der durch eine Grenze markiert ist, hier einen Fluss, die Drina,
den sie überwindet; zugleich bestätigt sie gleichsam die Trennung von zwei
Räumen, denen im Roman von Andrić eine soziale und symbolische Bedeutung
zukommt.5 Das wird ganz zu Anfang des Romans von ihrem Chronisten auch
betont, wenn es heißt, dass die christlichen Kinder, die auf dem linken Dri-
na-Ufer geboren sind, schon in den ersten Tagen ihres Lebens über die Brücke
zur Taufe in die Kirche gebracht werden. Auf der rechten Seite der Drina be-
findet sich also das Zentrum der Stadt und damit neben der Moschee auch die
christliche, orthodoxe Kirche. So spiegelt sich, wie in allen vormodernen Raum-
ordnungen, der soziale und symbolische Raum im Territorium, lässt diesen als
gleichsam objektiv erscheinen.
Georg Simmel hat in seiner essayistischen Miniatur Brücke und Tür die pa-
thetische Ambivalenz der Brücke als eine „spezifisch menschliche Leistung“ des
Wegebaus beschrieben:
Im Bau der Brücke gewinnt diese Leistung ihren Höhepunkt. Hier scheint nicht nur
der passive Widerstand des räumlichen Auseinander, sondern der aktive einer be-
sonderen Konfiguration sich dem menschlichen Verbindungswillen entgegenzustel-

3 Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik.
Übers. von Michael Dewey. Frankfurt/M.: Fischer 1989, p. 8.
4 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Tübingen: Francke/UTB 22010, pp. 311–331.
5 Vgl. Previšić, Boris: ‚Broken Imperial Narratives’ als Raumstruktur. Ivo Andrić und Jo-
seph Roth. In: Babka, Anna / Finzi, Daniela / Ruthner, Clemens (Hg.): Die Lust an der Kul-
tur/Theorie. Transdisziplinäre Interventionen. Für Wolfgang Müller-Funk. Wien: Turia +
Kant 2012, pp. 450–461.

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Auf der Drinabrücke451

len. Dieses Hindernis überwindend, symbolisiert die Brücke die Ausbreitung unserer
Willenssphäre über den Raum.6

Was aber die Besonderheit der Brücke ausmacht, ist, dass man sie nicht nur wie
jede Schwelle, wie jede Raumöffnung so schnell wie möglich passiert, sondern
sich auch auf ihr aufhält, was der serbokroatische Titel Na Drini Ćuprija [auf
der Drina-Brücke] akzentuiert. Man verweilt nämlich auf dieser Brücke, diesem
Weltwunder des Osmanischen Reiches, weil – wie die genaue Beschreibung
erläutert – die Brücke in der Mitte eine platz- und terrassenartige Weitung
hat, die Kapija. Diese bildet eine eigentümliche zweite Mitte der Doppelstadt,
einen öffentlichen Ort, auf dem Kinder spielen, Menschen Kaffee trinken und
miteinander sprechen, aber auch öffentlich hingerichtet werden. Viel mehr als
die vergleichweise abseitige Strudlhofstiege in Heimito von Doderers gleichna-
migem Wien-Roman ist die Brücke die Bühne des Lebens einer Stadt, das es im
Hinblick auf das hintergründige Thema, die Geschichte Bosniens von 1516 bis
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1914, verhandelt. Rhetorisch gesprochen hat die Brücke, das eigentliche Zent-
rum der kleinen Stadt Višegrad, eine metaphorische und eine metonymische,
genauer: synonymische Bedeutung. Sie steht als Metapher für das Verhältnis
der Ethnien in der Region, sie ist aber auch eine Welt im Kleinen, die Teil der
großen Welt ist.
Im Roman finden sich, der Brücke zugeordnet, noch weitere Chronotopoi:
der Clan, eine Karawanserei, die erst in der Zeit der österreichischen Besatzung
endgültig verschwindet und durch eine Kaserne ersetzt wird, das Hotel der ga-
lizischen Jüdin Lottika, die mit der österreichisch-ungarischen Armee ins Land
kommt, Kaffeehäuser und Geschäfte. Aber die Brücke, die zugleich ein Platz ist,
steht zweifelsohne im Zentrum des Geschehens. Der Originaltitel, der ein altes,
aus dem Türkischen stammendes Wort für Brücke (ćuprija) statt des geläufigen
(most) bewendet, macht von Anfang an die ethnische Zugehörigkeit der Brücke
sinnfällig.7
Die Besonderheit dieses zugleich historischen Romans besteht nicht zuletzt
darin, dass der Chronotopos hier zum eigentlichen Helden wird, wobei Erzähler
und Autor diesem Helden durchaus ambivalent gegenüberstehen. Nach einem
klassischen Modell wird die Geschichte einer Epoche mit dem menschlichen
Leben in Analogie gebracht, so auch die Brücke, die metaphorisch und meto-

6 Simmel, Georg: Brücke und Tür. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 12: Aufsätze und Abhand-
lungen 1908–1918 I. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, p. 56.
7 Vgl. hierzu Bergman, Gun: Turkisms in Ivo Andrićs Na Drini Ćuprija Examined from the
Points of View of Literary Style and Cultural History. Uppsala: Aktiebolag/Acta Univer-
sitatis Upsaliensis 1969, p. 21. Mit Berufung auf Vladam Nedić meint Bergman, der Titel
des Romans stamme von einem muslimischen Volkslied; „Veće hajde gradu Višegradu,/
Da se gradi na Drini Ćuprija./ Osta danas na Drini Ćuprija/ Osta danas, osta dovijeka.“

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452 Wolfgang Müller-Funk

nymisch für die regionale Geschichte einer Region im Schnittpunkt verschie-


dener Kulturen steht. Was der Roman erzählt, ist die Geburt und das Leben der
Brücke in osmanischen Zeiten, ihre kulturelle Adaptierung und Erneuerung
unter den Österreichern, die gerade den konservativen Muslimen als ein Frevel
erscheinen muss, sowie ihre Zerstörung zu Beginn des Ersten Weltkriegs infolge
des Beschusses der serbischen Angreifer. Parallel dazu wird ein Erzählbogen
gespannt, der von der machtvollen, von christlich-serbischen Widerstand be-
gleiteten Manifestation türkischer Herrschaft über die österreichisch-ungari-
sche Besatzungszeit bis zum Kriegsjahr 1914, der Zerstörung der Brücke, der
Besetzung der Stadt durch Serben reicht und mit dem Tod des konservativen
muslimischen Kaufmanns Alihodscha endet.
So wie die Brücke hat auch der Roman eine ganz eigene symmetrische Archi-
tektur, besteht er doch aus drei Teilen, die eben genau diesen Einschnitten ent-
sprechen und die vierundzwanzig Kapitel in exakt drei Teile gliedern. Wie im
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historisch-literarischen Genre nicht unüblich, beschleunigt sich der Roman bis


zur nahen Vergangenheit (1914). So sind die ersten 350 Jahre der Brücke in drei
Kapitel komprimiert, wobei der Bau der Brücke einen gewaltigen Umfang des
ersten Teils einnimmt. Der zweite Teil spielt zwischen 1878 und 1908, während
sich der dritte Teil auf die sechs Jahre von der staatsrechtlichen Annexion bis
zum Kriegsausbruch konzentriert.
Die Geschichte der Brücke, dieses scheinbar unzerstörbare steinerne Manifest
einer machtvollen imperialen Kultur: das sind auch die vielen kleinen Geschich-
ten und Episoden, die sich auf der Brücke, um sie herum, ereignet haben. Diese
Menschen kommen und gehen, aber die Brücke, die zum Erinnerungsmonu-
ment avanciert, bleibt bestehen.

Eine gewaltsame Geburt


Dass alle großartigen Werke der Kultur auch solche der Barbarei seien, diese
Einsicht von Benjamin und Brecht, ist gleichsam in die ersten Kapitel über die
Entstehung der Brücke als Gründungsnarrativ eingeschrieben, in dem es um
Blut- und Bauopfer geht. Diese Gewalt trägt natürlich einen Namen: Es ist das
Osmanische Reich, das sich in der Brücke manifestiert und präsentiert und so
dem Kultprojekt eine zusätzliche Bedeutung verleiht – Symbol einer absoluten
Herrschaft zu sein, mit der nicht zu spaßen ist und die keinen Widerstand dul-
det. So ist die Geschichte der Brücke von Anfang an mit dem verbunden, was
man seit Edward Said als Orientalismus begreift, der sich hier aber als anti-im-
perial versteht. Die eigentliche Geschichte der Brücke beginnt nämlich längst
vor ihrer Erbauung, mit dem Jahr 1516, mit visionärem Blick in die Tiefen der
Geschichte:

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Auf der Drinabrücke453

Das erste Bild einer Brücke, dem es bestimmt war, verwirklicht zu werden, leuchtete,
natürlich noch völlig unbestimmt und nebelhaft, in der Phantasie eines zehnjährigen
Jungen aus dem benachbarten Dorfe Sokolowitschi an einem Morgen des Jahres 1516
auf, als man ihn auf dem Wege von seinem Dorf zum fernen, strahlenden und frucht-
baren Stambul dort vorüberführte.8

Dieser Kinderzug nach Istanbul ist ein kollektives Opfer, eine militärisch er-
zwungene Maßnahme, eine „festgesetzte Zahl christlicher Kinder für den Blut-
zoll, den Adschami-Oglan“, einzusammeln, wie es im Roman (p. 22/21) heißt.
Das muslimische Herrschaftssystem schreibt sich durch die Zwangsbeschnei-
dung kleiner Christen und ihre Trennung von ihrem realen und symbolischen
Raum in die Körper der Untertanen ein, denn dieser Akt an den nach Istanbul
pilgernden Kinder ist nichts als die Unterwerfung unter ein symbolisches Ge-
setz, das hier das Stigma des Fremden und Inhumanen trägt. Die Beschneidung
bildet imaginär wie real eine Trennungslinie zwischen den Ethnien; die Kastra-
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tion der christlichen Kinder spiegelt die Schmach der marginalisierten Kultur
wider.
Aber dieser beschnittene, seinem symbolischen Raum gewaltsame entrissene
Mensch, wird, in einer augenfälligen Kehrwendung, zu einem großen Staats-
mann, zum Schwiegersohn des Sultans. Als Mechmet Pascha Sokoli wird er
zum Erbauer eben jener Brücke oder genauer zu jenem Politiker, der in seiner
Heimat ein Denkmal nicht nur der osmanischen Herrschaft errichten lässt, son-
dern auch ein Erinnerungswerk für seine Landsleute setzt. Aber damit wird er
als Held dieser Geschichte vollends ambivalent, denn man weiß nicht, wer der
Vater der Brücke ist, ein Muslim oder ein Christ. So verherrlicht die Brücke in
der Gestalt des christlichen Bauernbuben, der zum islamischen Würdenträger
aufsteigt, beide Seiten: man weiß nicht, wem sie gehört. Man kann sie mehrfach
deuten: auch als eine klammheimliche Rache, als einen Kassiber des muslimi-
schen Würdenträgers, der insgeheim ein kleiner serbischer Bub geblieben ist.
Insofern kann seine Tat im Sinne einer blutigen Machterhaltung, aber auch im
Sinn eines verschwiegenen Gründungsmythos gelesen werden, eben unter den
extremen Bedingungen einer brutalen ‘orientalischen’ Fremdherrschaft.
Die Brücke trennt und verbindet die widerstrebenden Teile auf eine asymmet-
rische, machtförmige Weise. Wie die Topografie von Stadt und Brücke illustriert,
markiert die kulturelle und religiöse Differenz auch eine soziale. „Türken“ – so
werden die muslimischen Bewohner der Stadt im Roman durchgängig genannt

8 Andrić, Ivo: Die Brücke über die Drina. Übers. von Ernst J. Jonas. Frankfurt/M.: Suhr-
kamp 1962, p. 20 / bzw. Ders.: Na Drini Ćuprija. Belgrad: Prosveta 1963, p. 19.- Im Folgen-
den werden die Seitennachweise für beide Ausgaben in dieser Reihenfolge im Lauftext
angegeben.

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454 Wolfgang Müller-Funk

– und Christen sind auf verschiedene Räume und Raumdimensionen verteilt,


die miteinander kontrastieren: Stadt und Land, Macht und Ohnmacht, Reich und
Arm, Oben und Unten, Rechts und Links. In diese doppelte Raumordnung ist
auch die Geschichte der Konversion eingeschrieben, des Übertritts der autoch-
thonen Bevölkerung zum Islam, der als eine opportunistische Geste gegenüber
der fremden Macht interpretiert wird: „Schön ist es, dem herrschenden, wahren
Glauben anzugehören“ (p. 31/29). Demgegenüber sind die Fronarbeiter, die die
Brücke in härtester Mühsal bauen müssen, Rajas, Christen, Serben, darunter
auch der heldische Bauer Radislaw.
Die Geschichte der gewaltsamen Errichtung der Brücke und ihrer Opfer wird
zweifach erzählt, in Gestalt eines historischen Geschehens und einer mythi-
schen Erzählung, die den Widerstand der christlichen Bevölkerung überhöht.
Vom Chronisten wird dieser Mythos durchaus aus dem Wunschdenken – Macht,
Größe, Stolz – kritisch erklärt und dessen Pathos damit gemäßigt. Der Mythos
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vom serbischen Helden weist metakritisch auf die Intensität der Erinnerung
und damit des Erinnerten. Sie gleichen sich aber darin, dass sie Opfernarrative
darstellen. Dies kulminiert in der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen
dem grausamen Brückenbauer Abidaga und dem einfachen Bauern Radislaw,
der, lange unbemerkt, zusammen mit Freunden den Brückenbau in der Nacht
zerstört. Er wird auf dem Plateau der Brücke öffentlich gepfählt und stunden-
lang gequält. „Türken auf der Brücke… wie Hunde sollt ihr verrecken… wie
Hunde umkommen…!“ (p. 57/49) Auf den Tod des Märtyrers folgt als Gottes-
gericht tiefer Frost, der jeden Weiterbau an der Brücke zunächst verhindert.
Die Geschichte der Opfer, die dieser Bau fordert, beginnt mit dem Blutzoll
des späteren Mechmet Pascha und findet ihre Fortsetzung in der Fronarbeit der
christlichen Bevölkerung Višegrads und der Hinrichtung des widerständigen
Radislaw. Sie endet mit der Ermordung desjenigen, der die Brücke in seinem
Kopf erbaut hatte: Mehmet Pascha. Mit dem Bau der Brücke ist indes ein kol-
lektives Trauma beschrieben, das zwar in den folgenden Kapiteln beiseite ge-
schoben, aber anscheinend nicht vergessen ist.
So ist die Brücke Teil einer Herrschaftsgeschichte, die auf der symbolischen
Ebene von der Islamisierung begleitet ist und die doch auch eine utopische Di-
mension, wie sie in der Brückenfunktion symbolisch enthalten, hat. So steht im
Hintergrund der Geschichte der Brücke stets auch ein Kampf zwischen Serben
und Türken, der im 19. Jahrhundert wieder entflammt.
Der Chronist der Brücke ist auch insofern ambivalent, als er zuweilen im
Hinblick auf die Bevölkerung der Stadt an der Brücke, deren Namen nur ge-
legentlich genannt wird, die erste Person Plural – „wir“, die „Unsrigen“ – ver-
wendet und vornehmlich im im letzten Teil des opus magnum doch offen lässt,
inwieweit er die als „Türken“ bezeichnete Bevölkerung der Stadt in dieses mit

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Auf der Drinabrücke455

einbezieht. Es ist wohl kein Zufall, dass im letzten – achten – Kapitel des ersten
Teils, die Geschichte einer stolzen und vornehmen muslimischen Frau erzählt
wird, die sich lieber von der Kapija aus in die Drina stürzt als die Ehefrau eines
ungeliebten Mannes zu werden: Die Geschichte der schönen Fata wird als Teil
des kollektiven Gedächtnisses beschrieben.

Habsburg imperial/kolonial
Im zweiten Teil des Romans verändert sich die narrative Matrix, die auch die
Geschichte von Opfern und Tätern ist, schlagartig. Wenn die beiden islamischen
Würdenträger, Mullah Ibrahim und der Muderis Hussein Effendi, der Pope Ni-
kola und der Rabbiner David Levy auf der Kapija 1878 die Ankunft des k. u. k.
Heeres erwarten, so geschieht dies schon im Geist einer resignativen Einmütig-
keit. Nach dem Gespräch mit dem österreichischen Obersten befinden sie alle:
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‚Ein abscheulicher Kerl, hol´s der Teufel.’


Aus der Stadt hörte man eine Trommel und dann die Trompete der Jägerabteilung,
durchdringend und siegreich, mit einer neuen, ungewohnten Melodie. (p. 166/141)

Die territoriale Kolonialmacht eint die bislang zerstrittenen Lager, wenn auch
nicht – auch nicht im Roman – auf Dauer:
Überall sind bei allen Furcht. Die einrückenden Schwaben fürchten einen Hinterhalt.
Die Türken fürchten sich vor den Schwaben, die Serben vor Schwaben und Türken.
Die Juden fürchten sich vor allem und jedem, denn besonders in Kriegszeiten ist jeder
stärker als sie. (p. 153/130)

Aber immerhin erwächst aus dieser neuen Situation – der Besetzung durch
eine ganz andere Macht – die Möglichkeit der Verständigung, wie sie in diesem
frühen ökumenischen Gespräch zutage tritt und auf ein jugoslawisches Ge-
meinschaftsnarrativ verweist, das ideologisch verschieden besetzt werden kann,
liberal und marxistisch.
Mit außereuropäischen kritischen Kolonialisierungsnarrativen gemeinsam
hat dieser Teil, dass er die Besatzungszeit als Triumph einer fremden techni-
schen, von den Bewohnern unverstandenen Zivilisation beschreibt, die Stra-
ßenbeleuchtung, Straßenreinigung oder Hausnummerierung einführt und vor
allem Schule und Bildung fördert. Die ökonomische Situation wird zwiespäl-
tig beschrieben, im Sinne eines steigenden Wohlstandes, aber auch steigender
Steuern und Preise. Das Bild der neuen Fremdherrscher wird dabei durchaus
differenziert gezeichnet; die Bandbreite reicht von Überheblichkeit bis Gut-
mütigkeit. In der Figur der jüdisch-galizischen Hoteldirektorin Lottika hat der

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456 Wolfgang Müller-Funk

Chronist sogar eine sympathische Figur der fremden Macht geschaffen.9 Viele
der neuen Errungenschaften, die vor allem von der muslimischen Oberschicht
beargwöhnt werden, werden vom Chronisten auch aus einem imperialistischen
Kalkül erklärt, nämlich die neuen Untertanen zu integrieren und zu kontrollie-
ren. Mit der Besatzungsmacht kommen andere Völker in die Stadt, die durch die
Okkupation multikulturell wird. Vereinfacht gesprochen, kann man sagen, dass
die muslimische Bevölkerung, vor allem die ältere Generation, eher zivilisatori-
schen Ungehorsam übt, die serbische Bevölkerung indes zunehmend nationalen
Widerstand leistet.
Im dritten Teil, der mit der Annexionserklärung Kaiser Franz Josephs 1908
beginnt, verschärfen sich die Gegensätze nach allen Richtungen: Während die
muslimische Bevölkerung an ihren alten Privilegien festhalten möchte und sich
mit der österreichisch-ungarischen Herrschaft arrangiert hat, streben die gut
ausgebildeten serbischen jungen Leute, die außerhalb Bosniens studieren, zu
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neuen politischen Ufern, die vom Gegensatz von Sozialismus und Nationalis-
mus geprägt sind. Es ist ein burgenländisch/westungarisch-serbischer Student,
Tomas Galus, der seinem muslimischen Gegenüber Fechim Bachtijarewitsch ein
neues nationales Befreiungsnarrativ10 verkündet, in dem die Nationsbildung
das beinahe messianische Versprechen der Wende zum ganz Anderen in sich
trägt:
,Du wirst sehen, Fechim’, versicherte der hingerissene Galus seinem Freunde, als sei
das eine Angelegenheit dieser Nacht oder des morgigen Tages, ‚du wirst sehen, wir
gründen einen Staat, der der wertvollste Beitrag zum Fortschritt der Menschheit sein
wird, in dem jede Mühe gesegnet, jedes Opfer heilig, jeder Gedanke eigenwüchsig,
getragen durch unsere Sprache und jedes Werk mit dem Siegel unseres Namens ge-
zeichnet sein wird. Dann werden wir Werke schaffen, die das Ergebnis unserer freien
Arbeit und Ausdruck unseres Rassengenius sein werden, Werke, denen gegenüber
alles, was in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft geleistet wurde, wie kleinliche
Spielerei erscheinen wird. Wir werden breitere Flüsse und tiefere Abgründe überbrü-
cken. Wir werden neue, größere und bessere Brücken bauen, und sie werden nicht
fremde Zentren mit unterjochten Provinzen, sondern unsere Gebiete untereinander
und unseren Staat mit der ganzen übrigen Welt verbinden.’ (p. 315f./ 268)

Tomas’ humanistisch inspirierter Wiedergeburts-Nationalismus versucht, die


soziale mit der nationalen Vision eines zukünftigen, mehr oder minder homo-
genen postimperialen Staates zu verschränken. Aus dieser Teilperspektive, die
indes dem Roman eine stringente narrative Matrix liefert, ist der Untergang der

9 Zum „matriarchalen“ Charakter dieser Figur vgl. Previšić 2012, p. 456.


10 Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New
York: Springer 22008, pp. 225–249.

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Auf der Drinabrücke457

muslimischen Welt und der Drina-Brücke kein Drama, sondern ganz im Gegen-
teil Zeichen einer neuen Zeit. Die nationale Revolution wird so die Schmach der
Geburt, die mit dem Bau der Brücke untrennbar verbunden ist, tilgen. Der sym-
bolische Tod der Brücke ist aber auch Teil eines nach-hegelianisch gedachten
Geschichtsprozesses. In diesem Sinn wird sie durch den Roman „aufgehoben“:
Die große steinerne Brücke, die nach der Absicht und der frommen Entscheidung des
Wesirs aus Sokolowitschi wie eines der Kettenglieder des Reiches die beiden Teile
der Türkei verbinden und ‚zu seinem Seelenheil’ den Übergang zwischen Westen
und Osten erleichtern sollte, war nun wirklich von Ost wie von West gleichermaßen
abgeschnitten und wie ein gestrandetes Schiff oder eine verödete heilige Stätte sich
selbst überlassen. Mehr als drei Jahrhunderte hatte sie alles ausgehalten und überlebt
und unverändert getreu ihre Aufgabe erfüllt, aber die Bedürfnisse der Menschen hat-
ten sich gewandelt und die Dinge verändert; jetzt war ihre eigene Aufgabe ihr untreu
geworden. Ihrer Größe, Festigkeit und Schönheit nach hätten noch jahrhundertelang
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Heere über sie hinwegziehen und Karawanen sich auf ihr aneinanderreihen kön-
nen, aber im ewigen und unvorausschaubaren Spiel der menschlichen Beziehungen
war nun plötzlich die Stiftung des Wesirs verworfen und wie durch Zauber aus dem
Hauptstrom des Lebens herausgerissen. Die heutige Bedeutung der Brücke entsprach
in nichts ihrem ewig jungen Aussehen und ihren riesenhaften und doch harmonischen
Ausmaßen. (p. 292/249)

Der Zerstörung der Brücke, dieses ambivalenten „jugoslawischen“ Helden, voll-


zieht sich in zwei Etappen. Zuerst erfolgt ihr symbolischer Tod, durch die Im-
plosion des Osmanischen Reiches und durch die – zu militärischen Zwecken –
baulichen Veränderungen seitens der habsburgischen Macht. Wenn diese die
Brücke dann im letzten Kapitel zerstört, serbische Freiheitskämpfer die Stadt
einnehmen und der muslimische Würdenträger dramatisch effektvoll stirbt,
dann signalisiert das, unausgesprochen, das Ende einer Epoche, den endgültigen
Tod der Brücke des Mechmet Pascha Sokoli. Das ist ein starkes Ende, aber wie
jedes ein vom Erzähler selbst gewähltes, das Bedeutung erzeugt.

Nachsatz
Der Roman endet 1914, obschon er erst 1945 beendet wurde.11 Die Zeit, von der
aus der Chronist erzählt, wird nicht abgelichtet. Die dreißig Jahre dazwischen
sind ausgespart, und es ist nicht müßig, sich die Frage zu stellen, warum diese
Auslassung erfolgte, die immerhin das Scheitern der von Tomas formulierten
Utopie eines neuen serbisch geführten Nationalstaates am Balkan, die Verbre-
chen neuer Besatzer – der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten – und

11 Zur Entstehung des Romans vgl. Previšić 2012, p. 452.

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458 Wolfgang Müller-Funk

einen blutigen Bürgerkrieg umfasst. Aber vielleicht lebte der von Andrić ge-
schaffene Mythos von der Brücke an der Drina, der nach 1945 durch den Par-
tisanenmythos Titos überlagert wurde, gerade von diesen Auslassungen. Zeit-
weilig kann auch gemeinsames Vergessen – oder vielmehr: Schweigen – einen
Zusammenhalt gewähren. Das Vergessen ist ein paradoxer und zugleich unver-
zichtbarer Aspekt des Erzählens: das gilt übrigens für Andrić wie für Doderer.
Andrićs Roman verkörpert, aus der Autor- und der Erzählerperspektive be-
trachtet, einen humanen, gemäßigt-liberalen Nationalismus des Rinascimento,
der zeitweilig mit Titos Sozialismus kompatibel gewesen ist. Dass für die musli-
mische Bevölkerung die narrative Matrix von Andrić´ Roman heute inakzepta-
bel erscheint, mag, gerade literarisch, als provokant und undankbar erscheinen,
ist aber letztendlich mit Blick auf die große Erzählung des Romans durchaus
verständlich. Denn in der Geschichte, die 1914 endet und danach wieder be-
ginnt, ist für sie eigentlich kein Platz vorgesehen, außer einem Anschluss, der
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alle eigenen Spuren verwischen würde.


Der Autor und sein Roman tragen keine Verantwortung dafür, was in den
blutigen frühen 1990er Jahren in Bosnien geschehen ist, aber die Tatsache, dass
Višegrad heute eine fast rein serbische Stadt und Teil einer serbischen Entität
innerhalb eines kleinen, fragilen Landes – Bosnien-Herzegowina – ist, machen,
politisch betrachtet, zentrale Elemente der Erinnerungsarchitektur des Romans
für den jetzigen Staat dysfunktional. Kritisch, das heißt nicht im Sinne einer Er-
findung einer kleinen bosnischen oder einer etwas größeren serbischen Nation
gelesen, besitzt der Roman durchaus ein beträchtliches Kapital, insbesondere
im Hinblick auf das Thema von Trauma, Gewalt und Erinnerung. Gerade weil
er keiner multiethnischen Romantik huldigt, lässt er sich als Medium einer
Kulturanalyse begreifen, in der der Konnex von Macht, Gewalt, Trauma und
Erinnerung, wie er beinahe (und doch zugleich beängstigend) aus dem 19. ins
21. Jahrhundert weht, begreifen. Der Engel der Geschichte kann zuweilen sehr
grausam sein; diesem Aspekt des Benjamin'schen Philosophems haben wir bis-
lang zu wenig Augenmerk geschenkt.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer
Reflexion

Ingeborg Bachmanns Aufarbeitung des (post)imperialen


südslawischen Erbes in Drei Wege zum See

Boris Previšić (Luzern)

Den wohl wichtigsten Wendepunkt zwischen habsburgischem Mythos und Pe-


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ter Handkes ‚Bekehrung‘ zu einer landschaftlich induzierten Poetologie bildet


Ingeborg Bachmanns letzter Text, die Erzählung Drei Wege zum See.1 Bereits
im Roman Malina kommt die Titelfigur zwar von der jugoslawischen Grenze,
doch ist die genaue geografische Herkunft noch nicht von Belang. Vielmehr
muss diese im Unbekannten belassen werden, damit sie die Rolle des Exotischen
und Liminalen übernehmen kann. Im Unterschied zur unvollendet gebliebenen
Skizze Gier handelt es sich beim ‚Miniaturroman‘ Drei Wege zum See innerhalb
des Todesarten-Zyklus und der Simultan-Erzählungen um ein Vermächtnis der
Autorin, welches sie vor ihrem Tod in Rom am 17. Oktober 1973 als letztes ent-
worfen und noch abgeschlossen hat.2 Darin spielt die topografische Verortung
der Sehnsuchtsrichtung eine wichtige Rolle, denn sie ermöglicht einen ellipti-
schen Umgang mit der Zeit, bei dem die spezifische österreichische Erfahrung
der beiden Weltkriege in einer scheinbaren nostalgischen Utopisierung der ka-
kanischen Peripherie im Süden kulminiert.
Die Zeitlücke im Text, d. h. die historische Auslassung der fünfzig Jahre zwi-
schen 1918 und 1968, korreliert mit einer topografischen Projektionszone. Ob-
wohl biografische Spuren auf Stationen eines Lebensrückblicks der Autorin
verweisen, steht die personale Erzählerin, die international zwischen Wien,
Paris und New York tätige Fotojournalistin Elisabeth Matrei zur Autorin und zu

1 Zitiert wird nach Bachmann, Ingeborg: Drei Wege am See. In: „Todesarten“-Projekt. Kri-
tische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht und Dirk Gött-
sche. Bd. 4: Der ‘Simultan’-Band und andere späte Erzählungen. München, Zürich: Piper
1995. Im Folgenden im Lauftext mit der Sigle TP 4 angegeben.
2 Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheim-
nisses. München: dtv 2003, p. 398.

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460 Boris Previšić

anderen Gestalten der Fiktion in einem kontrafaktischen Verhältnis.3 Die Figu-


ren und Ereignisse sind verschiedentlich verklausuliert; entsprechend vorsich-
tig ist die Erzählung vor dem biografischen Hintergrund zu deuten. Für unseren
Kontext als fruchtbarer erweist sich der poetologische Bezug der Sprachfindung,
welche aber ihrerseits auf die topografische Induktion, die das Motto der Erzäh-
lung vorgibt, angewiesen ist.
Zum Leben der Protagonistin im internationalen Kontext, der meist negativ
konnotiert ist, bildet der regionale Bezug zur österreichischen Provinz, zu Kla-
genfurt, wohin sie, ungefähr fünfzig Jahre alt, für eine Woche zurückkehrt, um
ihren verwitweten Vater aufzusuchen, den Kontrapunkt. Die Entfremdung vom
Kindheitsort reflektiert sich in Rückblenden auf das bisherige Leben, auf ver-
flossene und immer öder werdende Liebesbeziehungen und vor allem in einer
profunden Sprach-, Lebens- und Moralkritik an ihrer Tätigkeit als Journalistin.
Ein eigener preisgekrönter Artikel über Abtreibung bildet den Gegenstand ihres
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Überdrusses an automatisierten Aussagen und Themen (vgl. TP 4, p. 420). Damit


verortet die Erzählerin ihre Erzählzeit in der Jetztzeit mit dem Stichdatum 1968,
indiziert sowohl durch die Wanderkarte als auch durch die politischen Ereig-
nisse in Paris. Die journalistische Abgebrühtheit, welche die Medien im Umgang
mit dem Elend dieser Welt auszeichnet, ist für die Erzählerin Indiz für die mo-
ralische Abstumpfung. Zwar vermitteln Augenzeugenberichte aus Algerien und
Indochina das aktuelle Zeitgeschehen – es geht um die kolonialen Ablösungen
und die Stellvertreterkriege in der Dritten Welt –, doch sie erfassen die Essenz
eines historischen Bewusstseins nicht.
Dank Jean Amérys Essay Über die Tortur gelangt die Protagonistin zur Ein-
sicht, dass man „durch die Oberfläche entsetzlicher Fakten zu dringen“ brau-
che: „[…] [U]m diese Seite zu verstehen, die wenige lesen würden, bedurfte es
einer anderen Kapazität als der eines kleinen vorübergehenden Schreckens,
weil dieser Mann [= Améry, B.P.] versuchte, was mit ihm geschehen war, in
der Zerstörung des Geistes aufzufinden und auf welche Weise sich wirklich ein
Mensch verändert hatte […]“ (TP 4, p. 389f.). Im Nachruf Jean Amérys in seiner
Rezension vom 8. November findet man eine Replik auf diese Textstelle.4 Da-

3 „Paris wirkt wie ein überdimensioniertes Wien und New York wie eine Potenzierung von
Paris.“ (Reitani, Luigi: „Heimkehr nach Galicien“. Heimat im Werk Ingeborg Bachmanns.
In: Agnese, Barbara/ Pichl, Robert (Hg.): Topografie einer Künstlerpersönlichkeit. Neue
Annäherungen an das Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg: Königshausen & Neu-
mann 2009, pp. 31–46, zit. p. 40.)
4 Vgl. Améry, Jean: Trotta kehrt zurück. Über Ingeborg Bachmanns Novellenband „Simul-
tan“. In: Die Weltwoche 45/40, 8. November 1972. Vgl. Weigel 2003, p. 331; vgl. auch Höller,
Hans: Ingeborg Bachmann. Reinbek: Rowohlt 1999, p. 161. „Der Tag, an dem Jean Améry
in Salzburg den Freitod wählte, war der 17. Oktober 1978, genau der fünfte Todestag
Ingeborg Bachmanns.“

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion461

bei werden personale Erzählinstanz und Autorin deckungsgleich, und es wird


deutlich, wie sich Ingeborg Bachmann gerade mit dieser Erzählung einerseits in
Absetzung von den „poetische[n] Verfahren der Enthistorisierung ihrer frühen
Lyrik“,5 andererseits in einer bewussten Distanzierung von einem zu oberfläch-
lichen Aktualitätsbezug in die Geschichte einschreibt. Dazu greift die Erzählerin
auf Personen wie Trotta zurück, welcher als Randfigur immer schon gerade
wegen des Geschichtsgangs exterritorialisiert ist. Der Selbstmord dieser großen
Liebe Elisabeths lässt sich ebenso auf den Freitod Paul Celans im April 1970
wie auf denjenigen Peter Szondis im November 1971 münzen.6 Damit sei nur
angedeutet, in welchem Spannungsfeld und mit welch akribischer Genauigkeit
die historische Faktualität zur Sprache gebracht wird, auch wenn sie – gerade
wegen des Parlando-Stils der Erzählung – „nur“ innerhalb eines imaginären
Projektionsraums poetologisches Potential entwickeln kann, welches wiederum
seinerseits zu entschlüsseln ist.
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Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht neben dem in der Litera-


turwissenschaft schon gut aufgearbeiteten intertextuellen Bezug zu Joseph
Roths Imaginationen Österreich-Ungarns in den beiden Romanen Radetzky-
marsch (1932) und Die Kapuzinergruft (1938)7 vorab der dadurch induzier-
te südslawische Aspekt, der relativ vage und oftmals scheinbar unvermittelt
auftaucht. Die imperiale Reminiszenz, welche Franz Joseph Eugen Trotta mit
sich bringt, den Elisabeth in Paris kennenlernt und dessen Name schon für
sich spricht, ist zunächst als obligater Abgrenzungsreflex Österreichs gegen-
über Deutschland zu verstehen. Dabei geht es nicht einfach um die allgemein
bekannte nostalgische Bezugnahme auf die Reichsgeschichte vor 1918, um die
Opferrolle im Zusammenhang mit dem Anschluss 1938 an Nazi-Deutschland zu
unterstreichen, sondern um eine noch tiefer greifende Vision von Deutschlands
sprachlicher Vernichtung einerseits und um seine ökonomische Omnipräsenz

5 Weigel 2003, p. 243.


6 Trotta sei eine „vage Literarisierung Paul Celans“, s. Reitani, Luigi: Annäherung und Wi-
derstand. In: Burdorf, Dieter (Hg.): „Im Geheimnis der Begegnung“. Ingeborg Bachmann
und Paul Celan. Iserlohn: Inst. für Kirche und Gesellschaft 2003, pp. 87–95.
7 Offensichtlich war dieser intertextuelle Bezug nicht in die ursprüngliche Konzeption der
Erzählung eingeplant, deren erster Titel noch „Abschied vom See“ lautete (TP 4, p. 593).
Die Forschungsliteratur zur Intertextualität zu Joseph Roth umfasst inzwischen folgende
Titel: Omelaniuk, Irena: Ingeborg Bachmann’s Drei Wege zum See. A Legacy of Joseph
Roth. In: Seminar 19/4 (1983), pp. 246–264; Lensing, Leo A.: Joseph Roth and the Voices
of Bachmann’s Trottas. Topografy, Autobiografy, and Literary History in ‘Drei Wege
zum See’. In: Modern Austrian Literature 18/3–4 (1985), pp. 77–90; Dollenmeyer, David:
Ingeborg Bachmann Rewrites Joseph Roth. In: Modern Austrian Literature 26/1 (1993), pp.
59–74; Dippel, Almut: „Österreich – das ist etwas, das immer weitergeht für mich“. Zur
Fortschreibung der ‘Trotta’-Romane Joseph Roths in Ingeborg Bachmanns ‘Simultan’. St.
Ingbert: Röhring 1995.

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462 Boris Previšić

im Nachkriegsösterreich andererseits. Sollte es nach Trotta gehen, hätte in Jalta


beschlossen werden müssen, dass die Deutschen „nicht mehr deutsch sprechen
dürfen“, sondern nur noch englisch oder russisch. Zu „peinlich“ seien die festen
Wendungen, zu sehr „steckt“ dieser „Jargon“ „in ihnen“ (TP 4, p. 395). Mit die-
sem Gedankenspiel folgt Trotta wohl am radikalsten Adornos Forderung, nach
Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch.
Elisabeths Vater wiederum klassifiziert sowohl die deutschen Neuzuzüger
als auch die deutschen Touristen als „Okkupanten“ (TP 4, p. 435): „Den Krieg
hatte sie verloren, aber nur scheinbar, jetzt eroberten sie Österreich wirklich,
jetzt konnten sie es sich kaufen, und das war schlimmer […]“ (TP 4, p. 446f.).
Mit solchen Aussagen erinnert der Vater Elisabeth an Trotta, der aber selbst mit
seiner eigenen Erfahrung nach 1938 die Österreicher nicht in Schutz nimmt. Der
habsburgische Mythos dient in diesem Fall nicht mehr dazu, den Opfer-Mythos
im Zusammenhang mit Österreichs Anschluss zu legitimieren. Im Gegenteil:
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Wenn er von seiner Entnazifizierungs-Erfahrung als Zwanzigjähriger, als fran-


zösisch naturalisierter Soldat im besetzten Heidelberg erzählt, dann attestiert er
den „prominenten Mördern“ nicht mehr als „Idiotie“: Die Deutschen seien „nur
völlig verdaddert und bieder gewesen, wirkliche Biedermänner, bei denen […]
ein Kurzschluß nach dem anderen eintreten kann“ (TP 4, p. 396). Bei den Inter-
views, die er für die Franzosen dolmetscht, tauchen auch zwei Österreicher auf;
„denen war die Gemeinheit, der Genuß an jeder erdenklichen Brutalität, wirk-
lich in die Visagen geschrieben […]“ (TP 4, p. 396). Gerade der habsburgische
Mythos, die Herkunft „aus einem Operettenland“, macht in den Augen Trottas
– im Unterschied zur Einschätzung der französischen Entscheidungsträger mit
ihrer „logique française“ (TP 4, p. 396f.) – die Opferrolle nicht gerade einfach,
denn „es war eben kompliziert zu sagen, auf welche Weise, mit welcher Ge-
schichte, dieser amputierte Staat ein Opfer geworden war“ (TP 4, p. 397).
Damit rückt zusehends der Protagonist Trotta und dessen Perspektive in den
Vordergrund. Den Auftritt als siegreicher französischer Soldat im Nachkriegs-
deutschland nimmt er mit Humor: „ausgerechnet ich, ein Trotta, wo wir die
geborenen Verlierer sind […]“ (TP 4, p. 396). In dieser Selbstanspielung wird
die Ambiguität der österreichischen Opferrolle manifest: Einerseits themati-
siert sie das militärische Schicksal der Monarchie, die Niederlage von Solferino
1859, aus der paradoxerweise das Geschlecht der Trottas siegreich hervorgeht
und in den Adel aufsteigt, weil der Bruder des Großvaters vom Ich-Erzähler in
der Vorgeschichte zum Roman Die Kapuzinergruft „dem Kaiser Franz Joseph
[…] das Leben gerettet hat“: er ist der „Held von Solferino“.8 Andererseits sind

8 Roth, Joseph: Die Kapuzinergruft. Roman. Berlin: Verl. der Nation 1990, p. 6. Im Folgen-
den im Text mit der Sigle KG nachgewiesen.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion463

gerade die Verwandtschaftsverhältnisse wiederum verwickelt und ausschlagge-


bend dafür, in welcher Genealogie sich Elisabeths Trotta einordnen lässt. Nach
seinem „Selbstmord“ in Wien taucht bei der noch nichts ahnenden Elisabeth
der Journalist Mühlbauer9 auf, der vermutet, „Graf Trotta“ sei der „Ururenkel
des Helden von Solferino“. Der habsburgische Mythos wird in diesem journa-
listischen Diskurs implizit als Einheit zwischen Volk und Elite, zwischen den
einzelnen Völkern und zwischen Beherrschenden und Beherrschten gewertet.
Dagegen hält Elisabeth „ärgerlich, es habe nie irgendwelche Grafen Trot-
ta gegeben, und falls er [der Journalist] diese sagenhaften Trotta meine, die
geadelt worden waren, eines Mißverständnisses wegen, dann seien die längst
ausgestorben, schon 1914, und es gebe natürlich Nebenlinien, aber die seien
nicht adlig, und einige sollen noch da unten leben in Jugoslawien […]. Was für
ein Unsinn, sein Großvater war ein Rebell und kein treuer Diener seines Herrn
wie die Solferino-Nachkommen“ (TP 4, p. 404f.). Damit entwirft die Erzählerin
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nicht einfach eine Gegengeschichte, sondern beruft sich auf die genauen Ver-
wandtschaftsverhältnisse bei Joseph Roth. Dort ist der Vater des Ich-Erzählers
„ein Rebell und ein Patriot“, der eine slowenische Partei zu gründen beginnt
und Österreich-Ungarn reformieren will: „Er träumte von einer Monarchie der
Österreicher, Ungarn und Slawen“ (KG, p. 6f.). Die trialistische Neuordnung, der
sich auch Thronfolger Franz Ferdinand verschreibt und dennoch (wohl absur-
derweise und aus Ahnungslosigkeit) dem Attentat in Sarajevo zum Opfer fällt,
scheint die Lösung des gordischen Knoten darzustellen.
Damit setzt die Erzählerin von Bachmanns opus ultimum die Vision Joseph
Roths fort, an welche der Autor selbst nach dem Niedergang der Monarchie
nicht mehr zu glauben vermochte, welche aber seine Figuren in direkten Reden
formulieren. Zentral sind die Äußerungen des polnischen Grafen Chojnicki,
welcher den Zusammenhalt des Reiches über die Peripherie definiert. Es seien
„die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus
Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Ma-
ronibrater aus Mostar, die Gott erhalte singen“ (KG, p. 16). Dagegen würde die
deutschsprachige Bevölkerung „die Wacht am Rhein“ intonieren. Was Joseph
Roth angesichts des Anschlusses Österreichs Chojnicki sagen lässt – „Österreich
wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehen […]“ (ibid.)10 – entspricht der
Folie, auf der die Erzählung Ingeborg Bachmanns operiert.

9 Der Journalist Mühlbauer entspricht in seiner Funktion dem fast gleichnamigen Journa-
listen Mühlhofer, welcher in Malina den Erzähler interviewt. Vgl. Bachmann, Ingeborg:
Werke III: Todesarten. Malina und unvollendete Romane. Hg. von Christine Koschel, Inge
von Weidenbaum und Clemens Münster. München, Zürich: Piper 1978, p. 90.
10 Interessanterweise lassen sich alle idealisierten Peripherieorte im slawischen Raum und
davon mehr als die Hälfte im südslawischen Raum lokalisieren.

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464 Boris Previšić

Entscheidend ist nicht die nostalgische Rückwendung, sondern das neue Le-
bensgefühl, welches der Pariser Trotta Elisabeth vermittelt. In ihrer Kindheits-
landschaft, „auf dem Höhenweg Nummer. 1“, erinnert sie sich an die „große
Liebe, die unfaßlichste, schwierigste zugleich, von Mißverständnissen, Streiten,
Aneinandervorbeisprechen, Mißtrauen belastet“ (TP 4, p. 383). Die topografi-
sche Erkundung korreliert so in erster Linie – wie das die Wegbezeichnung sug-
geriert – mit der zentralen und zugleich komplizierten Figur Trotta, welche „sie
zum Bewußtsein vieler Dinge brachte, seiner Herkunft wegen“ (TP 4, p. 383).
Doch der Erinnerungsort induziert gerade nicht ein neues oder zumindest neu
codiertes Heimatgefühl und eine neue Verortung. Die Liebe zu Trotta, zum aus
„Anschluss-Österreich Exilierten“11, macht sie selber, zuvor „eine Abenteuerin“
der großen Welt und der Welt der Großen, zur „Exilierte[n]“ (TP 4, p. 383f.).
Mit dieser Fremderfahrung koinzidiert die Familiengeschichte Elisabeths,
der Matreis. Ihr Vater ist nur noch „ein Relikt“ im neuen Österreich, ihr Bru-
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der geht dank seiner Heirat in England „noch sicherer in […] Distanz“: „[W]
as sie zu Fremden machte überall, war ihre Empfindlichkeit, weil sie von der
Peripherie kamen und daher ihr Geist, ihr Fühlen und Handeln hoffnungs-
los diesem Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung gehörten […]“ (TP 4,
p. 366f.). Was aber in Bezug auf Trotta verbalisiert wird, bleibt bei der nächsten
Liebe, bei „ihrer ganz großen Liebe“, zu Manes aus Zlotogrod, zum „falsche[n]
Franzose[n]“ (TP 4, p. 407ff.) unartikuliert: „[E]s bleibt ihm verborgen, wie ihr
Abschied von Trotta und ihre Auferstehung durch ihn und ein Wort wie Zlo-
togrod ineinandergegriffen hatten.“ (TP 4, p. 412) Der ironisierende Rückgriff
auf den Trotta-Nachfolger Manes und damit auf den Juden Manes Reisinger,
den Fiaker Joseph Roths, bleibt in seinem ungelösten Affekt symptomatisch
für die ganze Erzählung, welche das jüdische Thema, das in der intertextuellen
Vorlage omnipräsent ist, ansonsten systematisch ausklammert. Die trialistische
Topografierung Wiens, Galiziens und Sloweniens in Form der „drei Wege“ der
Erzählung wird um „dieses Land“, „die nördliche Schwester Sloweniens“12, um
das „biblische Land“ „Galicien“13 gekappt.
Der Blick der Erzählerin nach Süden impliziert somit immer auch jenen nach
Norden bzw. in den „fernen Osten der Monarchie“;14 der intertextuelle Bezug
ist somit nur als Übernahme einer ihr bereits eingezeichneten Topografie samt
ihrer Stereotypen zu verstehen. Wenn Elisabeth „auf den See“ schaut, „der diesig
unten lag und über die Karawanken hinüber, wo gradewegs in der Verlängerung
einmal Sipolje gewesen sein mußte“, welche gemäß dem Pariser Trotta „so ver-

11 Weigel 2003, p. 405.


12 Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, p. 123.
13 Höller 1999, p. 24.
14 Roth, Joseph: Das falsche Gewicht. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990, p. 11.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion465

flucht gesund seien“ (TP 4, p. 391), dann geht es weniger um ein Slowenien, das
„im Unterschied zu dem es umgebenden Nationen mit keiner aufdringlichen
Hypothek von Geschichte, Kultur und Tradition belastet sei“,15 als vielmehr um
einen gedoppelten Bezugsrahmen, einerseits um Joseph Roths Figur des Vetters
Joseph Branco (vgl. KG, p. 12), welche quasi eine Generation später nochmals
in der Schlusspassage der Erzählerin auftaucht, andererseits um den unterge-
gangenen Ort Sipolje, der wie Zlotogrod „nicht mehr existiert“ (KG, p. 24) und
schon bei Roth unter „imaginärer Ort“ zu rubrifizieren ist.16
Der nostalgische Blick auf das „Dreiländereck“, „wo es noch Bauern und Jäger
gab“, romantisiert nicht; die ‚Unvernunft‘ der Monarchie, wo selbst „die Revo-
lutionäre […] ganz erschrocken gewesen [seien], wie es dann dieses verhaßte,
aber mehr noch geliebte Riesenreich nicht mehr gab“, induziert vielmehr „ihre
Moral“, welche aus der südöstlichen Peripherie kommt (vgl. TP 4, p. 417). Das
Land der Gegenwart „Jugoslawien“ (TP 4, p. 404) verklärt die Erzählerin im
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Unterschied zu Peter Handkes Figuren gerade nicht; obwohl es nur marginal er-
scheint, so tritt es nicht das imperiale habsburgische Erbe an. Wenn von „Moral“
die Sprache ist, dann geht es um eine verdeckte Hypothek – die in den bisheri-
gen Forschungsarbeiten zu dieser Erzählung noch nicht formuliert worden ist.
Sie lässt sich zwar an die intertextuelle Verbindung zu Joseph Roth anschließen,
erweitert aber den Komplex erheblich. „Auf dem Höhenweg 1 kam sie wieder
zur Zillhöhe […], schaute kurz auf den See hinunter, aber dann hinüber zu
den Karawanken und weit darüber hinaus, nach Krain, Slawonien, Kroatien,
Bosnien, sie suchte wieder eine nicht mehr existierende Welt […].“ Der Erinne-
rungsakt selber ist in eine iterative Struktur der Wanderungen am Kindheitsort
einerseits und der Suche nach dem nostalgischen Ort andererseits eingebunden.
Doch dazwischen erweitert sich der Blick vom Sichtbaren, vom „See“ und von
den „Karawanken“, zum Unsichtbaren, zu den südslawischen Provinzen Öster-
reich-Ungarns, zunächst zum cisleithanischen „Krain“, dann zum transleithani-
schen „Slawonien“ und „Kroatien“ und schließlich zum gemeinsam von Wien
und Budapest verwalteten „Bosnien“. Die Trennung vom Pariser Trotta schreibt
sich in die „Geistersätze […] von dort unten, aus dem Süden“ ein.
Im Erinnern imaginiert sich nochmals das Verschwinden, dessen Reste an den
Vater geknüpft sind, denn seine Hochzeitsreise führt ihn „durch das Rosental
und über den Loiblpass nach Bled“, und „[s]eine letzte Reise hatte er allein und
nach Sarajevo gemacht mit siebzig Jahren“ (TP 4, p. 414). In der Textstufe II
führt die Hochzeitsreise noch unverdächtig „zu Fuß durch die Wachau“, wobei

15 Šlibar, Neva: Das Eigene in der Erfindung des Fremden. Spiegelgeschichten. Rezeptions-
geschichten. In: Brandtner, Andreas / Michler, Werner (Hg.): Zur Geschichte der österrei-
chisch-slowenischen Literaturbeziehungen. Wien: Turia + Kant 1998, pp. 367–387, p. 379.
16 Müller-Funk, Wolfgang: Joseph Roth. München: Beck 1989, p. 60.

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466 Boris Previšić

Elisabeths Mutter tschechischstämmig ist, welche, neu übersiedelt nach Gmünd,


Österreicherin bleibt. Für Herrn Matrei stellt es „den dümmsten Fehler aller
Zeiten“ dar, dass Österreich im Unterschied zur Sowjetunion nicht mehr als
Vielvölkerstaat weiterbestehen ‚darf‘; und in seinen Augen „bestand die Ge-
schichte aus den diffizilen Problemen um die Dobrudscha [heutige rumänische
und bulgarische Schwarzmeerküste] und die sieben jugoslawischen Provinzen
[der Zwischenkriegszeit: Slowenien, Kroatien und Slawonien, Dalmatien, Bos-
nien-Herzegowina, Serbien, Vojvodina und Montenegro, B.P.]“ (TP 4, p. 315).17
Damit bleibt die (süd)slawische Affizierung des Vaters noch unfokussiert – im
Gegensatz zu seinen Ausführungen über seine letzte Reise nach „Sarajewo“
in derselben Textstufe: „[W]ie voller Gastfreundschaft dieses neue Land noch
war, aber am liebsten hielt er sich in Sarajewo auf und beschrieb ihr sachlich,
wie er sich alles hatte erklären lassen und genau die Stelle, an der es geschehen
war, und wie anders sich das an dem Ort ausnahm als in den Beschreibungen,
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die nicht zureichend waren, obwohl er viele kannte“ (TP 3, p. 323). Offenbar
interessiert Herrn Matrei in erster Linie das für ihn und die ganze Doppelmo-
narchie traumatische Attentat auf Franz Ferdinand am 28. Juni 1914. So erfährt
die Imagination der Erzählerin durch den Vater einen konkreten Beweggrund.
Die Sehnsucht scheint zwar klar in eine Richtung zu zielen, aber in ihrer
Aussagekraft dennoch vage zu bleiben und ein Bild stereotypisierter südslawi-
scher Figuren als Resultat einer (post)kolonialen Imagination zu perpetuieren.
Im kritischsten und kulturalistisch wohl avanciertesten Beitrag zum Todesar-
ten-Projekt ordnet Zorana Gluscevic sämtliche Personen aus dem jugoslawi-
schen Bereich in eine Reihe ein, welche nur so von Primitivität strotze: von
Franza über Mihailovics und Sascha bis hin zu Branco Trotta. „The majority of
South Slavs […] are depersonalized, dislocated, postcolonial subjects.“18 Das
Urteil über Ingeborg Bachmann selbst fällt entsprechend hart aus: „Thus while
Bachmann did attempt to challenge gender roles, she nevertheless reinforced
racial, and national ones.“19 So richtig die Beobachtung auch sein mag, so falsch
liegt die Analyse in ihrer Schlussfolgerung. Denn in ihrer berechtigten Brisanz
unterschlägt sie geflissentlich, aus welcher Perspektive die Figuren beschrieben
werden und in welchem funktionalen Zusammenhang eines übergeordneten
Narrativs (der bei Ingeborg Bachmann nicht gerade leicht zu bestimmen ist) sie
stehen könnten.

17 Vgl. dazu auch den Kommentarteil: TP 4, p. 630.


18 Gluscevic, Zorana: Ingeborg Bachmann’s Sentimental Journey through the „Haus Öster-
reich“ and (Post)Colonial Discourse in ‘Drei Wege zum See’. In: Seminar 38/4 (2002), pp.
344–363, p. 353.
19 Ibid., p. 363.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion467

Damit wird der südslawische Aspekt der Erzählung Drei Wege zum See ohne
den intratextuellen Bezug zur ausgelagerten und Fragment gebliebenen Bin-
nenerzählung um Elisabeth Mihailovics (Gier) nicht zur Gänze verständlich.
Elisabeth Matrei begegnet auf dem Rückweg von einer ihrer Wanderungen Eli-
sabeth Mihailovics mit einem jungen Mann, „der angezogen war wie ein Förster,
etwas primitiv aussah“ (TP 4, p. 392) – eine typische Stereotypisierung, die aber
gerade nicht auf das Konto Ingeborg Bachmanns verbucht werden darf – und
erfährt wenige Tage darauf aus der Lokalpresse vom „Eifersuchtsdrama auf
[der] Millionärsvilla“, bei dem Bertold Rapatz, „einer der drei reichsten Männer
Österreichs, wenn nicht der reichste“, „seine [dritte] Frau [Elisabeth Mihailo-
vics] und irgendeinen slowenischen Forstgehilfen […] und sich selber“ erschießt
(TP 4, p. 449f.).20 Dieser Vorfall wirkt in der Erzählung Drei Wege zum See ledig-
lich handlungsmotivierend, insofern Elisabeth Matrei darauf beschließt, schleu-
nigst wieder aus Klagenfurt abzureisen. Dennoch fällt ihr beispielsweise auf,
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dass Rapatz als „Schutzwall gegen Neugierige“ „fast nur Slowenen [und] einige
Kroaten“ angestellt hat (TP 4, p. 454). Entscheidend ist aber, dass sie gegen die
Medienberichterstattung Sturm läuft – was ihr Vater wiederum nicht nach-
vollziehen kann: „[U]nsere brave Gendarmerie wird nie herausfinden, was da
wirklich los war, denn es stimmt alles nicht, was die sich in ihren beschränkten
Hirnen zusammenreimen, da stimmt überhaupt nichts“ (TP 4, p. 452). Dieser
Zornausbruch wird aber nicht weiter begründet, bleibt völlig in der Luft hängen
und lässt sich höchstens in den allgemeinen Kontext der Medienkritik einord-
nen. Doch das ist nicht das Gelbe vom Ei. Vielmehr ertönt an dieser Stelle eine
Stimme, welche an die Gegenwelt im Traumkapitel von Malina erinnert, an
das vielsprachige Nein, welches einen Akt der letzten Verzweiflung darstellt.21
Andeutungsweise klärt sich der Sachverhalt im Fragment Gier, dessen Ver-
öffentlichung bereits geplant war.22 Obwohl davon auszugehen ist, dass die
überlieferte Version eine Fassung ‚vorletzter Hand‘ darstellt, ist die Erzählung
schon so weit fortgeschritten, dass zwar nicht aus der logischen Abfolge der
äußeren Handlung, sondern vielmehr „in der Zusammenschau der scheinbar

20 Es ist davon auszugehen, dass die Anfänge der Erzählung Drei Wege zum See „in einem
engeren motivischen Zusammenhang mit der anderen ‚Kärntner‘ Erzählung Gier“ steht
(vgl. TP 4, p. 594).
21 Bachmann, Werke III, p. 176.
22 Ingeborg Bachmann stellt die endgültige Ausarbeitung dieser Erzählung noch zurück,
da sie von einer Aufnahme in den Simultan-Band absieht. Noch anfangs 1973 gibt es
Verhandlungen mit dem Suhrkamp-Verlag für eine Einzelveröffentlichung. Vgl. Pichl,
Robert: Editorische Notiz. In: Höller, Hans (Hg.): Der dunkle Schatten, dem ich schon
seit Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu einer neuen Lektüre des Werks.
Mit der Erstveröffentlichung des Erzählfragments Gier. Wien, München: Löcker 1982, pp.
63–69, hier p. 63.

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468 Boris Previšić

disparatesten Ereignisse“ einer inneren Handlung die Bluttat von Rapatz er-
klärbar wird.23 Der Fragment-Charakter unterstreicht in dem Fall eine Lektüre-
haltung, welche sich nicht primär auf eine handlungsorientierte und handlungs-
motivierende Sequenzierung als vielmehr auf eine ars combinatoria stützt, bei
der die einzelnen Mosaiksteinchen ein gewisses Bild der historischen Realität
durchscheinen lassen.
In Gier ist die Protagonistin Elisabeth Mihailovics; offenbar wird hier Eli-
sabeth Matrei ‚slawisiert‘ bzw. in der Werkabfolge vom Fragment zur fertig-
gestellten Erzählung Drei Wege zum See ‚deslawisiert‘. Elisabeth Mihailovics
ist eingebunden in eine Dreiecksgeschichte zwischen dem habgierigen, reichen
und skrupellosen Rapatz, der sich neben Frauen und Alkohol fast nur für die
Jagd interessiert, und dem Gastarbeiter Sascha aus Montenegro. Offenbar steht
hinter dieser Umschreibung des jugoslawischen Kontrahenten vom sloweni-
schen „Jaslo soundso“ – aus der Perspektive Elisabeth Matreis in Drei Wege zum
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See (TP 4, p. 450) – zum ‚syphilitischen‘ sowie „schlechteste[n] und ungelerntes-


te[n] Förster“ – in der Wahrnehmung von Bertold Rapatz –, „den man einfach
Sascha nannte, weil er einen unaussprechlichen Namen hatte“ (TP 4, p. 493),
eine noch stärkere Stereotypisierung. Gleichzeitig zeigt sich daran deutlich, dass
je nach Fokalisierung sogar scheinbar objektive Kriterien wie die Herkunft Än-
derungen unterworfen sind. Das Figurenkabinett um Rapatz wird ergänzt durch
einen kroatischen Abwart und dessen slowenische Gattin, die er beide ausnützt.
Wie der Entwurf der Verlagsankündigung deutlich macht, steht die Figur Ber-
thold Rapatz für „ein[en] Typus unserer Zeit“: „Rapatz will alles und bekommt
alles. Seine Gier ist Gier nach Geld, nach Macht, nach dem Besitz von Frauen,
nach Leben.“24 Strukturell kommt dieser Typus der ökonomischen Okkupation
Österreichs durch die Deutschen gleich, verortet man ihn in der Jetztzeit der Er-
zählung. Doch historisch gesehen, entpuppt sich diese Nachkriegskonfiguration
als (post)koloniales Erbe, welches sich noch auf den Eisenbahnbau zu Zeiten
der Monarchie beruft. Je nach Textstufe hat sich der Großvater bzw. der Vater
in diesem Bereich ausgezeichnet und wurde dafür auch geadelt (TP 4, p. 478
bzw. p. 484). So wenig aber Rapatz etwas auf den Adelstitel hält, so egalitär
herablassend verhält er sich gegenüber dem neuen System der Ersten Republik
(vgl. TP 4, p. 485). Seine Jagdobsession, seine unternehmerische Tätigkeit im
Holzhandel und seine südslawische Entourage überführen kolonial-imperiale

23 Vgl. ibid., p. 65. Der Herausgeber des Fragments beruft sich bei dieser Argumentation auf
die Vorrede zum Fall Franza, wo zu lesen ist: „Die wirklichen Schauplätze, die inwendi-
gen, von den äußern mühsam überdeckt, finden woanders statt.“ (Bachmann: Werke III,
p. 342)
24 Maschinenschriftl. Entwurf der Verlagsanzeige für den Suhrkamp-Prospekt mit Korrek-
turen fremder Hand abgebildet bei Höller 1982, p. 60.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion469

Muster direkt in ein scheinbar provinziell orientiertes Lebensmuster in Kärnten.


Dieser Befund wäre weiter nicht von Bedeutung, stünde er nicht in Korrelation
mit einem weiteren Indiz, welches wiederum in der Erzählung Drei Wege zum
See zu finden ist.
Denn kaum von der Londoner Hochzeit ihres Bruders mit Liz in Klagenfurt
angelangt, schenkt Elisabeth Matrei ihrem Vater „ein Buch, das sie zufällig ge-
funden hatte […], ‚Die Straße nach Sarajewo‘, […] und er blätterte darin still,
denn das ging ihn etwas an“ (TP 4, p. 368). Obwohl auch hier zunächst nicht
nur der Eindruck von belangloser Kontingenz hinterlassen wird, sondern auch
so getan wird, als handle es sich um einen nostalgischen Rückbezug auf das
Sarajevo der Doppelmonarchie, so handelt es sich hier um eine äußerst kritische
Sichtung der österreichisch-ungarischen Besatzung Bosnien-Herzegowinas aus
der Feder des umstrittenen und umtriebigen Historikers Vladimir Dedijer unter
dem Titel The Road to Sarajevo, ein Buch, das sich auch in Ingeborg Bachmanns
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Bibliothek wiederfindet.25 Mit anderen Worten: Die Autorin war sehr wohl in-
formiert über die kolonialen Zustände in Bosnien-Herzegowina während der
Okkupation, aber auch nach der Annexion durch Österreich-Ungarn.
So akribisch genau die historische Abhandlung von Dedijer die Ereignisse um
das Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand in den Blick nimmt, so um-
fassend kontextualisiert sie diese innerhalb der neu gegründeten südslawischen
Bewegungen, allen voran natürlich der Mlada Bosna, welche sich – und auch
das scheint der Autorin nicht entgangen zu sein – unter anderem für die Gleich-
stellung und Emanzipation der Frauen einsetzt. Alle Parameter der Binnenkolo-
nialherrschaft gelangen ungeschönt und manchmal vielleicht auch übertrieben
zur Darstellung – so der Eroberungskrieg, bei dem während über dreier Monate
200.000 Soldaten eingesetzt wurden, da man nach dem Berliner Kongress 1878
unerwartet auf Widerstand insbesondere der einfachen Bevölkerung gestoßen
war; dabei die Anwendung von brutaler Gewalt, z. B. die Auslöschung ganzer
Ortschaften; die Unterdrückung von Aufständen vor allem seitens der Serben
und Muslime im Jahre 1881 und 1882 in der Herzegowina, Südbosnien und in
Süddalmatien; das konsequente ethnische Divide et impera; die systematische
Repression gegen die wenigen Intellektuellen, welcher noch stark in der eigenen
Scholle verwurzelt sind; eine erschreckend hohe Analphabetenrate noch im
Jahre 1910; die einseitige Infrastruktur, welche vor allem für militärische und

25 Dedijer, Vladimir: The Road to Sarajevo. New York: Simon & Schuster 1966. Erwähnt im
Kommentarteil: TP 4, p. 630. Von diesem Buch gibt es auch eine deutsche Übersetzung:
Die Zeitbombe – Sarajewo. Übers. von Tibor Simányi. Wien, Frankfurt, Zürich: Europa
1967. Der Historiker Vladimir Dedijer (1914–1990) ist vor allem darum so umstritten,
weil er in seinem Buch The Yugoslav Auschwitz (1987) die Anzahl der in Jasenovac um-
gekommenen Serben nach heutigen Erkenntnissen deutlich zu hoch angesetzt hat.

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470 Boris Previšić

wirtschaftliche Zwecke bestimmt ist zur Verteidigung der Südostgrenze und zur
Erschließung von Rohstoffen wie Eisen und Holz.26 Letztlich handelt es sich
bei der Aufzählung um Faktoren einer kolonialistischen Einverleibung, welche
den Nährboden für den Attentäter Gavrilo Princip bilden.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die heftige Reaktion Elisabeths auf die
falsche Zuordnung Trottas durch den Journalisten oder das Aufbegehren gegen
das vermeintliche Eifersuchtsdrama um Rapatz. Die andere Geschichte impli-
ziert somit explizit keinen Habsburgermythos, wie man aus der Anlehnung an
Roths Vorlage vermuten könnte, sondern um eine komplexe Unterdrückungsge-
schichte, welche den Frauen weitere Opfer hinzufügt. Die Erzählung ist weder
positiv noch negativ zu werten, wie sich das beispielsweise im Vergleich mit der
Verfilmung von Michael Haneke aus dem Jahre 1976 anbieten würde. Der Film
konzentriert sich auf den Pariser Trotta und hebt seine Strukturparallele zum
Vater hervor, wie die Elisabeth übergeordnete Erzählinstanz verlauten lässt:
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„Beide hatten die Zukunft nicht akzeptiert, weil sie nicht einmal wussten, was
sie an der sogenannten Zukunft hatten, wie sie in die geraten waren, und worauf
sie hätten hoffen sollen.“27
Im Film erhält der gemeinsame Ausflug der Erzählerin mit dem Vater an
den See durch die langsamen Einstellungen großes Gewicht; dagegen fällt die
letzte Begegnung mit dem Vetter Trottas, mit Branco, am Wiener Flughafen ab:
„die traurig süße Abschiedsbegegnung einer wieder einmal versäumten Lie-
be“.28 Die filmische Perspektive, die über der personalen Erzählinstanz steht,
verstärkt die Eigenreflexion der Hauptprotagonistin Elisabeth und somit ihre
Krise. Daraus kann man aber nicht rückschließen, dass „Elisabeth Matrei in
der Erzählung durch ihre Vergangenheitsbewältigung einen neuen identitäts-
stiftenden Weg finden kann“.29 Dazu sind die einzelnen Handlungsmomente
am Schluss der Erzählung zu heterogen und zu vielschichtig angelegt. Kann der
Pariser Trotta Elisabeth Matrei noch vom Plan abbringen, als Fotojournalistin in
Algerien tätig zu sein, so gelingt dasselbe in der Schlusssequenz nach der Rück-
kehr der Protagonistin nach Paris und nach der Begegnung mit Branco Trotta
ihrem gegenwärtigen Liebhaber Philippe, der sowieso abspringt, nicht mehr. Sie
nimmt den mörderischen Auftrag Andrés an, vom Vietnamkrieg zu berichten.
Die „Selbstfindung“ in einer dichterischen Sprache, mit der die Vergangenheit
verarbeitet werden könnte, ist ebenso trügerisch.

26 Vgl. die Einleitung von Clemens Ruthner zum vorliegenden Sammelband.


27 Haneke, Michael: Drei Wege zum See (1976), Einstellung 121.
28 Filmfest München. Das Programm 1994. Die Filme – die Regisseure. Katalog. München
1994, p. 166.
29 Ruttner, Lothar: Kritische Analyse der Verfilmung von Ingeborg Bachmanns Erzählung
‘Drei Wege am See’. Wien: Diplomarbeit der Univ. Wien 2002, p. 102.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion471

Das „Topografische“ hingegen, wie es im Motto zum „Ursprung dieser Ge-


schichte“ deklariert wird (TP 4, p. 361), bietet in dem Sinne keine Lösung, auch
keinen utopischen Projektionsraum, wie man vermeinen könnte, sondern ein
Dispositiv, auf dessen Grundlage die historischen Vernetzungen und deren Dar-
stellungsweise aufgezeigt und problematisiert werden können. Schon der Vater,
mit dem sowohl Figuren wie Motive verknüpft sind, kann weder einfach einer
biografischen noch einer allegorischen Interpretation unterzogen werden. Viel-
mehr spannt sich der Bogen vom leiblichen Vater, der als Lehrer schon 1932 der
damals noch illegalen NSDAP beitritt, über ihren literarischen und deutsch-
national gesinnten Mentor Josef Friedrich Perkonig und dem fiktiven Vater
im zentralen Kapitel „Der dritte Mann“ in Malina30 bis hin zur intertextuellen
Anspielung auf die Hauptfigur in Hofmannsthals Der Schwierige, auf Hans Karl
Bühl, der sich nach dem Ersten Weltkrieg auch nicht mehr zurechtfindet.31
Ausschlaggebend für die Erzählung Drei Wege zum See ist, dass das „Pano-
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rama historischer Gewalt“32 nicht mehr explizit und exklusiv dem Vater über-
antwortet wird; insofern sind in der letzten Erzählung Ingeborg Bachmanns
versöhnliche Töne zu vernehmen. Die Kontinuität von Machtstrukturen über
die großen Zäsuren der jüngeren Geschichte Österreichs 1918 und 1938 hinweg
lagern sich zwar in anderen Motiven und Figuren an, doch scheint der Vater
von Elisabeth Matrei – im Unterschied zum Pariser Trotta – durch seine Un-
kenntnis in dieselben eingebunden zu sein. Gerade darum sind auch die „drei
Wege“ – abgesehen von ihrer topografischen Signatur in der „Wanderkarte für
das Kreuzberglgebiet“ – historisch nicht eindeutig zu lokalisieren, auch wenn
beispielsweise schon vorgeschlagen worden ist, die drei Wege stünden für die
drei politischen Systeme von realsozialistischem Ostblock, westlichem Kapita-
lismus und dem durch das Tito-Jugoslawien initiierte Projekt der Blockfreien.33
Es könnte einer Überlegung wert sein – die zwar um einiges komplexer, aber
der Erzählung wohl angemessener ausfallen würde, da sie nicht nur allegorisch
wäre – die drei Frauengestalten mit demselben Vornamen für drei verschiedene
Optionen, mit der Vergangenheit umzugehen, einzusetzen. Dazu gibt es eine
Schlüsselstelle, an welcher nach der Begegnung mit Elisabeth Mihailovics die
drei Frauen in Verbindung gebracht werden:
Bevor sie [= Elisabeth Matrei, B.P.] einschlief, dachte sie noch, daß es etwas viel war,
jetzt noch eine Elisabeth zu treffen, sie war schon verstört gewesen, als Liz [die Frau

30 Höller 1999, p. 24f.


31 Bannasch, Bettina: Von vorletzten Dingen. Schreiben nach ‘Malina’. Ingeborg Bach-
manns ‘Simultan’-Erzählungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, p. 146.
32 Höller 1999, p. 35.
33 Dippel 1995, p. 59f.

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472 Boris Previšić

ihres Bruders Robert] auf dem Registry Office mit vollem Namen genannt wurde, Eli-
zabeth Anne Catherine, mit einem Familiennamen dazu, den Elisabeth sofort wieder
vergessen durfte, weil sie ihn vorher nicht gewußt hatte und er jetzt keine Rolle mehr
spielt, für die neue Frau Matrei (TP 4, p. 393f.).

Der eine Weg (derjenige von Liz) wäre der Weg des Ignorierens und Verges-
sens, der zweite Weg (von Elisabeth Matrei) der Weg der ‚Verstörung‘ und des
Vermittelns, und der dritte Weg (von Elisabeth Mihailovics) der Weg des ah-
nungslosen Opfers. Alle Wege brechen ab, man gelangt auf keinem zum See;
gerade die topografische Bruchstelle, welche durch den Eingriff der Moderne,
durch den Bau der Autobahn in Kärnten, entsteht, ermöglicht gleichzeitig die
mnemonische Sehnsuchtsrichtung über die Karawanken hinweg ins ‚Neunte
Land‘. Die topografische Ausrichtung der modernen Verkehrsmittel steht ihr
diametral entgegen. Klagenfurt ist „angeschlossen […] an das internationale
Eisenbahnnetz und Flugnetz mit je einem Zug und einem Flugzeug, mit dem
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man, aus unerfindlichen Gründen, über Frankfurt nach London fliegen konnte.
Zwischen Kärnten und England bestanden keine Beziehungen, es hätte welche
nach dem Süden und Osten gebraucht […]“ (TP 4, p. 426).
Damit schreibt sich die letzte Erzählung Ingeborg Bachmanns in eine „nicht
offizielle, ins Unbewußte verdrängte Geschichtsschreibung“, in eine „verstören-
de Wiederkehr der ausgelöschten Geschichte“ ein.34 Die zufällige Begegnung an
einem ‚Nicht-Ort‘ (Marc Augé), dem Flughafen Wien, mit Branco Trotta – sie
auf der Rückkehr nach Paris, er auf Reise nach Moskau –, das Nicht-Verbalisie-
ren ihrer „Hingabe“ bildet ein kleines (Zeit-)Fenster zu jener Utopie historischer
Versöhnung, die in der Erzählung möglich wird. Branco Trotta stellt die einzige
Figur dar, welche das „Vordergrundgeschehen“ in Klagenfurt und die verschie-
denen „Erinnerungsebenen“ biografischer und historischer Natur in Verbindung
bringt, und ermöglicht, „in der Verfremdung selbst heimisch zu werden“, indem
die Geschichte als schwebende Parabel mit offenem Schluss endet.35 In der Text-
stufe IV und V heisst es noch, dass für diese Begegnung nur „das Wort ‚nichts
ist geschehen‘ das richtige sein konnte, denn sie würde Branco nie wiedersehen,
und sie würde dorthin gehen, wohin sie nicht gehen wollte, denn unter ihrem
Kopfpolster lag der kleine Zettel, eine Flaschenpost, die nach soviel Jahren von
ihr gefunden worden war.“ (TP 4, p. 467) So wird das ungesprochene Wort in
Form des Zettels von Branco Trotta, worauf „Ich liebe Sie. Ich habe Sie immer

34 Höller 1999, p. 42.


35 Pichl, Robert: Verfremdete Heimat – Heimat in der Verfremdung. Ingeborg Bachmanns
‚Drei Wege zum See‘ oder die Aufklärung eines topografischen Irrtums. In: Shichiji, Yos-
hinori (Hg.): Sektion 15. Erfahrene und imaginierte Fremde (Bd. 9). München: iudicium
1991, pp. 447–454, 453 f.

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Das „Topografische“ als Ausgangspunkt historischer Reflexion473

geliebt“ steht (TP 4, p. 460), am Nicht-Ort gleichzeitig zum Nicht-Ereignis und


zur dichterischen Botschaft, welche als Flaschenpost „irgendwo und irgend-
wann an Land gespült“ wird – „an Herzland vielleicht“.36
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36 Celan, Paul: Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der freien
Hansestadt Bremen. In: Ders.: Gesammelte Werke III. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986,
p. 186.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’475

Das ‘Wir’ im ‘Ich’

Zum Problem der Identitätskonstruktion im Bosnien-


Herzegowina der Gegenwart

Ana Mijić (Wien)

Während sich die meisten Beiträge in diesem Band – unter verschiedenen


Schwerpunkten – mit dem Bosnien-Herzegowina der Vergangenheit beschäfti-
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gen, um z.T. von dort den Blick in die Gegenwart zu richten, liegt der Fokus der
folgenden Überlegungen auf dem heutigen Staat. Immer wieder wird sowohl
von wissenschaftlicher als auch von journalistischer oder politischer Seite kon-
statiert, dass diese Gegenwart trotz einiger zentraler Fortschritte seit der Unter-
zeichnung des ‘Allgemeinen Rahmenabkommens von Dayton für einen Frieden
in Bosnien und Herzegowina’ im Jahr 1995 auch heute noch durch prekäre
politische Strukturen sowie durch eine prekäre ökonomische und soziale Lage
geprägt ist. Bosnien-Herzegowina ist bis zum heutigen Tag ein Problem, sowohl
für die Internationale Gemeinschaft als auch für die Menschen im Lande selbst.
In regelmäßigen Abständen werden von wissenschaftlicher Seite ‘ernüchternde
Bilanzen’ publiziert und von Seiten der internationalen Politik Sorgen ob der
schwierigen Situation in Bosnien-Herzegowina bekundet. Der Fokus der fol-
genden Ausführungen liegt nicht auf einer solchen Bilanzierung. Im Zentrum
der folgenden Überlegungen steht vielmehr die Frage nach den Besonderheiten
der Identitätskonstruktionen in der bosnisch-herzegowinischen Nachkriegszeit.
Auch hier stellt sich jedoch ganz wesentlich die Frage nach der Rolle der
‘Internationalen Gemeinschaft’ sowie der internationalen Öffentlichkeit als
einer außenstehenden ‘dritten’ Partei, die zwar vergleichsweise unbeteiligt er-
scheint, doch de facto mit ihren eigenen Wahrheiten interveniert. Es ist davon
auszugehen, dass die Selbst-Bilder in der Region sowie die damit im Zusammen-
hang stehenden ethnischen oder nationalen Grenzziehungen stark durch die
an die Menschen von außen herangetragenen Fremdbilder beeinflusst werden.
Dies zeigte sich bereits während der österreichisch-ungarischen Herrschaft.
Für den vorliegenden Kontext wichtig erscheint vor allem, dass der Blick der
‘westlichen’ Welt auf den gesamten Südosten Europas – damals wie heute – we-

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476 Ana Mijić

sentlich durch eine post/koloniale Verzerrung geprägt wurde und wird, welche
die bulgarische Historikerin Maria Todorova in Anlehnung an Edward Saids
„Orientalismus“ (1978) als „Balkanismus“ bezeichnet:
By the beginning of the twentieth century Europe had added to its repertoire of
Schimpfwörter or disparagements, a new one which turned out to be more persistent
than others with centuries old traditions. ‘Balkanization’ not only had come to denote
the parcelization of large and viable political units but also had become a synonym for
a reversion to the tribal, the backward, the primitive, the barbarian.1

In der Habsburger Monarchie wurde die dem Balkan zugeschriebene Rück-


ständigkeit vor allem auf den nicht-europäischen Einfluss während des osma-
nischen Reiches zurückgeführt. Das k. u. k. Kaiserreich hatte es sich zur Aufgabe
gemacht, Bosnien wieder zu ‘europäisieren’ und zu ‘zivilisieren’.2 Durch den
Zerfall Jugoslawiens und die darauf hin folgenden Kriege bekam die sich nahezu
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über ein Jahrhundert erhaltene Balkanvorstellung einen neuen Aufwind, indem


sie von vielen JournalistInnen, PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen unre-
flektiert reproduziert wurde. Die wesentliche Ursache des Krieges glaubte man
in der Irrationalität und dem Anachronismus der Menschen zu erkennen, in
ihrer rückwärtsgewandten, gar ‘archaischen’ und äußerst gewaltbereiten ‘Na-
tur’.3 Bis in die Gegenwart hinein hat sich an dieser Imagination des Balkans
nicht viel verändert; noch heute lassen sich außenstehende KommentatorInnen
im Hinblick auf die Menschen in Bosnien-Herzegowina zu eben jenen hier-
archisierenden ingroup-outgroup-Unterscheidungen hinreißen, die sie bei den
Menschen selbst als illegitim bewerten: Nur wird hier die Grenze nicht durch
ethnische Zugehörigkeit markiert, sondern durch den ‘zivilisierten’ Westen

1 Todorova Maria: Imagining the Balkans. New York: Oxford University Press 2009, p. 3.
2 Rathberger, Andreas: Balkanbilder. Vorstellungen und Klischees über den Balkan in der
Habsburgermonarchie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: http://www.kakanien-­
revisited.at/beitr/fallstudie/ARathberger1.pdf v. 07.04.2009, p. 7; Ruthner, Clemens:
K. u. k. ‚Kolonialismus‘ als Befund, Befindlichkeit und Metapher. Versuch einer weiteren
Klärung. In: http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/CRuthner3.pdf v. 29.01.2003
sowie Uhl, Heidemarie: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post-)Kolonialimus.
Zentraleuropa als Paradigma für Identitätskonstruktionen in der (Post-)Moderne. In:
http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/HUhl1.pdf v. 19.05.2002.
3 Wenig hilfreich sind in diesem Zusammenhang, wie Slavoj Žižek zu Recht bemerkt, bei-
spielsweise die Filme des international erfolgreichen serbischen Regisseurs Emir Kustu-
rica. Seines Erachtens verstärkt Kusturica „the innocent gaze of liberal and democratic
Europe on the Balkans – this gaze in which the Balkans appear as a kind of exotic spec-
tacle that should either be tamed or quarantined; the place where the progress of history
is suspended and where one is caught in the circular repetitive movement of savage
passions.“ (Žižek, Slavoj: Underground, or Ethnic Cleansing as a Continuation of Poetry
by Other Means. In: InterCommunication 18 [1996], p. 4)

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’477

auf der einen Seite und das ‘unvollkommene Eigene’ auf der anderen. Es kann
plausibel angenommen werden, dass dieses stigmatisierende (Fremd‑)Bild4
die Identitätskonstruktion der Menschen in der Region auf die eine oder andere
Weise beeinflusst, dass die Betroffenen dieses Bild entweder annehmen und ihr
Verhalten diesem Bild entsprechend anpassen;5 oder aber, dass es ihnen ge-
lingt, dieses Bild abzuwehren, indem sie etwa jenen, die ihnen die Bestätigung
eines positiven Selbstbildes verweigern, durch Delegitimierung – beispielsweise
durch moralische Disqualifikation – die Definitionsmacht entziehen.6 Eine
weitere potentielle Strategie besteht wohl darin, dass die Menschen diese pe-
jorative Balkanvorstellung zwar übernehmen, sich jedoch weigern, sich selbst
zum Balkan zu zählen. Diesen Abwehrmechanismus bringt der Philosoph Slavoj
Žižek treffend zum Ausdruck:
If you ask, ‘Where do the Balkans begin?’ you will always be told that they begin
down there, towards the south-east. For Serbs, they begin in Kosovo or in Bosnia whe-
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re Serbia is trying to defend civilised Christian Europe against the encroachments of


this Other. For the Croats, the Balkans begin in Orthodox, despotic Byzantine Serbia,
against which Croatia safeguards Western democratic values. For many Italians and
Austrians, they begin in Slovenia, the Western outpost of Slavic hordes. For many Ger-
mans, Austria is tainted with Balkan corruption and inefficiency; for many Northern
Germans, Catholic Bavaria is not free of Balkan contamination. Many arrogant Fren-
chmen associate Germany with Eastern Balkan brutality – it lacks French finesse.
Finally, to some British opponents of the European Union, Continental Europe is a
new version of the Turkish Empire with Brussels as the new Istanbul – a voracious
despotism threatening British freedom and sovereignty.7

Das Augenmerk soll nun im Folgenden auf die Frage gerichtet werden, wie die
Akteure auch vor diesem Hintergrund eines verzerrten Fremdbildes ihr (ethni-
sches) ‘Selbstbild’ und damit aber auch das Bild der (ethnisch) jeweils Anderen
im ‘Nachkrieg’ gestalten und mit welchen Schwierigkeiten diese Konstruktions-
prozesse verbunden sind.8 Diese Frage ergibt sich m. E. notwendigerweise,

4 Goffman, Erving: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Englewood


Cliffs: Prentice Hall 1963.
5 Elias, Norbert/Scotson, John L.: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/M.: Suhrkamp
1990; Merton, Robert K.: Die self-fulfilling prophecy. In: Soziologische Theorie und sozia-
le Struktur. Berlin: de Gruyter 1990, pp. 399–423.
6 Schimank, Uwe: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurstheoretische Sozio-
logie. Weinheim: Juventa 2010, p. 130.
7 Žižek, Slavoj: „You May!“ Slavoj Žižek writes about the Post-Modern Superego. In: Lon-
don Review of Books, 21.6 (1999), pp. 2–6.
8 Dieser Frage ging ich im Rahmen meines Dissertationsprojektes empirisch nach; vgl.
Mijiċ, Ana: Verletzte Identitäten. Der Kampf um den Opferstatus im bosnisch-herzegowi-
nischen Nachkrieg. Frankfurt, New York: Campus 2014; vgl. auch Soeffner, Hans-Georg

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478 Ana Mijić

wenn man eine wissenssoziologische Perspektive einnimmt und aus dieser


Perspektive einen Blick auf die heutige bosnisch-herzegowinische Nachkriegs-
gesellschaft richtet.

Der bosnisch-herzegowinische ‘Nachkrieg’: Legitimation und


Delegitimation hierarchisierender Ethnizität

Zahlreiche soziologische, sozial-psychologische oder auch psychologische Stu-


dien beschäftigen sich mit dem Phänomen der ‘ethnischen Identität’ bzw. der
Mobilisierung ethnischer Differenzen im Zusammenhang mit Konflikt, Gewalt
und Krieg. Auch die Persistenz dieser Phänomene ist Gegenstand wissenschaft-
licher Beschäftigung. Was jedoch typischerweise aus dem Blick gerät, ist die
Frage nach den Spezifika der Identitätskonstruktion, d. h. nach den Besonder-
heiten der Konstruktion des ‘Selbst’ und damit auch des oder der ‘Anderen’ im
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Zuge von Nachkriegstransformationsprozessen.


Ein solcher Prozess, wie er etwa in Bosnien-Herzegowina stattfindet, ist da-
durch charakterisiert, dass hier im Vorfeld sowie während der kriegerischen
Auseinandersetzungen zunächst ein Selbst konstruiert wird, welches durch eine
Reduktion auf die ethnische Zugehörigkeit charakterisiert und im Zuge dessen
in besonders ausgeprägtem Maße über hierarchisierende ethnische ingroup-out-
group-Differenzierungen strukturiert ist. Die Reduktion auf die Zugehörigkeit
zu einer ethnischen oder nationalen Gruppe bringt die kroatische Schriftstel-
lerin Slavenka Drakulić in ihrem Essay Vom Nationaldenken überwältigt (1992)
mit folgenden Worten prägnant zum Ausdruck:
Ich lebe in einem Land, das viele blutige Kriegsmonate hinter sich hat; ihnen [= mei-
nen Freunden im Ausland, A.M.] fällt es schwer, zu verstehen, dass es mir zum Schick-
sal geworden ist, Kroatin zu sein. Wie kann ich ihnen erklären, dass ich in diesem
Krieg über meine Nationalität definiert werde, und zwar einzig und allein darüber?
[…] Zusammen mit Millionen anderen Kroaten wurde ich an die Wand der Natio-
nalitätenfrage gedrängt – nicht allein aufgrund des äußeren Drucks durch Serbien
und die Bundesarmee, sondern auch durch die innere nationale Homogenisierung
in Kroatien. […] Ich bin niemand mehr, weil ich keine Person mehr bin. Ich bin eine
von 4,5 Millionen Kroaten. […] Ich fühle mich wie eine Waise, weil der Krieg mich
des einzigen wahren Besitzes beraubt hat, den ich in meinem Leben erworben hatte,

/ DGS (Hg.): Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der


Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt/M. 2010. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften 2013 (CD-Rom).

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’479

meiner Individualität. […] Ich habe jedoch keine Wahl, jetzt nicht mehr. Ich denke
niemand hat eine Wahl.9

Der Nationalismus auf dem Balkan seit Mitte der 1980er Jahre hatte, so Michael
Ignatieff, zur Folge, „daß es am Ende keinem Bewohner des Balkans mehr mög-
lich war, sich von der Fiktion einer ‘reinen’ ethnischen Identität frei zu ma-
chen“.10 Diese Reduktion der eigenen Identität auf die ethnische Zugehörigkeit
ist verbunden mit einer hierarchisierenden Unterscheidung zwischen ‘Uns’ und
‘den Anderen’, gekennzeichnet durch abwertende Zuschreibungen gegenüber
der ethnischen Fremdgruppe und aufwertenden Zuschreibungen gegenüber der
Eigengruppe.11 Das eigene ‘Gruppencharisma’ wird, um es mit Norbert Elias
auszudrücken, der fremden ‘Gruppenschande’ gegenübergestellt.12 Die Reduk-
tion der Identität auf die ethische Zugehörigkeit sowie die damit verbundene
wertgeladene Definition der Grenzen zur je anderen ethnischen Gruppe, d. h.
die hierarchisierende ethnische ingroup-outgroup-Differenzierung, sind charak-
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teristisch für die ethnische Mobilisierung im Vorfeld des Krieges sowie während
der kriegerischen Auseinandersetzungen.
Nach Beendigung des gewaltsamen Konfliktes, d. h. im konkreten Fall nach
dem Friedensabkommen von Dayton mit dem daran anschließenden Prozess
der Neuorganisation Bosnien-Herzegowinas, werden die Akteure nun aber mit
einer neuen Situation konfrontiert, welche von ihnen eine neue Definition der
Situation abverlangt. Diese neue Situationsdefinition wird aus zwei Gründen
erforderlich: Die hierarchisierende Ethnizität wird einerseits im Lichte ‘von
außen’ herangetragener normativer Standards delegitimiert bzw. gerät unter
‘neuen’ Legitimierungszwang – hier stellt sich vor allem die Frage nach der Rol-
le der Internationalen Gemeinschaft als einer ‘dritten Partei’. Andererseits ste-
hen diese hierarchisierenden ethnischen ingroup-outgroup-Differenzierungen
einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess – jenseits der ethnischen
Vergemeinschaftung – entgegen. Das Dilemma zeigt sich, wie der Historiker

9 Drakulić, Slavenka: Sterben in Kroatien. Vom Krieg mitten in Europa. Reinbek: Rowohlt
1992, p. 84ff.
10 Ignatieff, Michael: Reisen in den neuen Nationalismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996,
p. 33.
11 Der Fall Bosnien-Herzegowina kann dabei, wie Ignatieff zu Recht feststellt, als ein her-
vorragendes Beispiel dafür gesehen werden, was Sigmund Freud als den „Narzissmus des
kleinen Unterschieds“ bezeichnet hat: „Freud hat einmal gesagt, je kleiner der wirkliche
Unterschied zwischen zwei Völkern sei, desto größer und bedrohlicher werde er sich in
ihrer Vorstellung ausnehmen […]. Daraus folgt, daß Feinde einander brauchen, um sich
daran zu erinnern, wer sie eigentlich sind. Demnach ist ein Kroate jemand, der kein Serbe
ist. Ein Serbe ist jemand, der kein Kroate ist. Ohne gegenseitigen Haß gäbe es kein klar
definiertes nationales Ich, das man verstehen und anbeten könnte.“ (Ignatieff 1996, p. 28)
12 Elias/Scotson 1990, p. 16ff.

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480 Ana Mijić

Wolfgang Höpken aufzeigt, zentral bei der Frage nach dem Umgang mit der
Vergangenheit:
[…] vor allem der Umstand, dass – anders als im deutschen Beispiel – Opfer und
Täter auch nach den Erfahrungen von Massengewalt weiterhin eine gemeinsame
Staatlichkeit teilen müssen, beschwört erinnerungskulturelle und gedächtnispoliti-
sche Dilemmata herauf, die es innerhalb der einzelnen ethnischen Gruppen und erst
recht zwischen ihnen bislang verhindert haben, zu einem konstruktiven Vergangen-
heitsdiskurs zu gelangen […]. Jede ethnische Gruppe bezieht ihre Identität ganz aus
ihrer jeweiligen Perspektive der Vergangenheit, kaum jedoch aus einer Berufung auf
eine gemeinsame Geschichte ihres formal noch gemeinsamen Staates.13

Im Zuge des Nachkriegstransformationsprozesses steht damit eine vormals


weitgehend gültige Deutung hierarchisierender ethnischer Differenz nunmehr
in Opposition zu einer quasi wertneutralen Deutung von Ethnizität. Vor dem
Hintergrund dieser Annahmen kann systematisch betrachtet davon ausgegan-
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gen werden, dass hier eine strukturelle Spannung vorliegt, insofern die in einem
Deutungsangebot als legitim institutionalisierten Handlungsgründe in einem
anderen Deutungsangebot (bzw. Deutungsgebot) als illegitim institutionalisiert
sind.
Die Spannung von Legitimierung und Delegitimierung hierarchisierender
ethnischer Differenzierung kann auch umschrieben werden als Spannung
zwischen einer Deutung von ethnischer Zugehörigkeit als Dimension sozia-
ler Ungleichwertigkeit und der Deutung von Ethnizität als Dimension sozialer
Unterschiedlichkeit. Die Deutung von Ethnizität als Dimension sozialer Unter-
schiedlichkeit ist nicht per se als problematisch zu betrachten. Doch kategoriale
Unterschiede, wie etwa Ethnizität oder Religion, bergen die Gefahr, hierarchi-
sierend ausgelegt zu werden.14 In diesem Fall wird dann die Unterschiedlichkeit
zur Ungleichwertigkeit. Und diese Deutung von Ethnizität hat desintegrative
Folgen, steht also einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess entgegen.
Sighard Neckel und Ferdinand Sutterlüty erklären diese desintegrative Wirkung
so genannter ‘kategorialer Klassifizierungen’ unter Rückgriff auf die Konflikt-
theorie von Georg Simmel:

13 Höpken, Wolfgang: Innere Befriedung durch Aufarbeitung von Diktatur und Bürger-
kriegen? Probleme und Perspektiven im ehemaligen Jugoslawien. In: Kenkmann, Alfons/
Zimmer, Hasko (Hg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als
internationales Problem – Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Essen:
Klartext 2006, pp. 153–191, hier p. 173f.
14 Neckel, Sighard/Sutterlüty, Ferdinand: Negative Klassifikationen und die symbolische
Ordnung sozialer Ungleichheit. In: Neckel, Sighard/Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Mitten-
drin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext. Wiesbaden: VS Ver-
lag für Sozialwissenschaften 2008, pp. 15–98, hier p. 19f.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’481

Da es ihnen [den kategorialen Klassifizierungen, A.M.] an ‘teilbaren’ Werten mangelt,


repräsentiert ihre Gebrauchsweise die ‘dissoziative’, also die Gegensätze hervorbrin-
gende Dimension von Konflikten, die Georg Simmel mit dem Konflikttypus gewalt-
trächtiger Kämpfe bis hin zum Krieg verbunden hatte. Dies ist der Grund, weshalb
negative Klassifikationen, die Ungleichwertigkeitsurteile zum Ausdruck bringen, dem
für den Zusammenhalt moderner Gesellschaft zentralen Mechanismus der ‘konflikt-
vermittelten Integration’ nicht zugänglich sind. Sie zielen nicht auf soziale Konflikte
– obgleich ihr praktischer Gebrauch solche zur Folge haben kann –, sondern auf Ex-
klusion, um Konflikte möglichst gar nicht austragen zu müssen.15

Der gesamtgesellschaftliche Integrationsprozess wird jedoch nicht zuletzt von


der Internationalen Gemeinschaft forciert. Für die Mitglieder der jeweiligen
ethnischen Gruppen stellt sich dieser forcierte Transformationsprozess als pro-
blematisch dar, weil er die Legitimität der positiven Selbstzuschreibung, d. h.
die Legitimität des eigenen ‘Gruppencharisma’ in Frage stellt. Zusammenfas-
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send lässt sich also festhalten, dass das Deutungsangebot der hierarchisierenden
ethnischen ingroup-outgroup-Differenzierung (Ungleichwertigkeit) sowie das
Deutungsangebot der wertneutralen ethnischen Grenzziehung (Unterschied-
lichkeit) trotz ihrer Widersprüchlichkeit nebeneinander bestehen und zumin-
dest potentiell aufgrund dessen zu strukturellen ‘Brüchen’ oder ‘Verletzungen’
in Identitätsbildungsprozessen führen können.
Exemplarisch lässt sich diese Spannung am Beispiel des Umgangs mit Kriegs-
verbrechen verdeutlichen. Dieser Umgang gestaltet sich insofern als schwierig,
als einige, als ‘nationale Helden’ gefeierte Mitglieder der ethnischen Eigen-
gruppe in der Nachkriegssituation als ‘Verbrecher’, als ‘Schuldige’ klassifiziert
wurden. So etwa vom International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia
(ICTY): ‘Hag’ – so die gängige Abkürzung, nicht nur für die niederländische
Stadt Den Haag, sondern gleich auch für das dort ansässige Kriegsverbrecher-
tribunal – ist bis vor kurzem in Serbien, Kroatien sowie Bosnien-Herzegowina
allgegenwärtig und mit einem emotionalen Gehalt verbunden gewesen, der
manchen Außenstehenden verwundern mag. Die Thematik findet auch in der
so genannten ‘patriotischen’ Populärkultur ihren Niederschlag, so etwa in den
Texten des kroatischen Sängers Miroslav Škoro:

15 Ibid., p. 20f. Vgl. Simmel, Georg: Der Streit. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über
die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 [EA 1908], pp. 284–
382.

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482 Ana Mijić

Sie richten über mich / weil ich das Meine liebe / am meisten liebe und weil ich es
verteidigt habe, mein Allerliebstes. / Sie richten über mich / die Feinde, meine Liebe /
doch sie wissen nicht, dass die Wahrheit ein tiefes Wasser ist.16

Dieses Sude mi betitelte Lied, in dem Škoros Freund Marko Perković alias „Thom-
pson“17 einen Gastauftritt hat, widmeten seine Fans dem ehemals in Den Haag
inhaftierten kroatischen General Ante Gotovina. Erkennbar ist eine ausgeprägte
Identifizierung mit den Helden, die zu Verbrechern werden: „Sude mi“, d. h. „sie
richten über mich“, weil ich Kroate/Serbe/Bosniake bin. „Der Widerstand gegen
das Tribunal“, so Drakulić, „wurde zum Maßstab des Patriotismus“.18 Dort wur-
de, so die verbreitete Annahme, nicht über Individuen gerichtet, sondern über
das ganze jeweilige Volk, wie auch in den folgenden Zeilen eines offensichtlich
ironisch gebrochenen Liedes von Škoro sehr deutlich wird:
Hag ist unsere letzte Chance / Von wegen München, Wien oder Prag / Volk, macht
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euch bereit, denn die Kutsche fährt ab, die uns alle bringt nach Hag.19

„Wer bin ich?“: Theoretische Überlegungen zu einer


fundamentalen Frage

Die eingangs formulierte Frage, wie Individuen im Kontext des Nachkriegs ihr
Selbstbild und damit auch das Bild der jeweils anderen konstruieren, kann nun
unter Berücksichtigung der erfolgten Ausführungen spezifiziert werden: Es
geht um die Erforschung des Prozesses der Konstruktion des ‘Selbst’ und des
‘Anderen’ im Kontext der strukturellen Spannung von gleichzeitiger Legitimie-
rung und Delegitimierung hierarchisierender ethnischer Differenzierung. Eine
Antwort auf diese Frage kann letztlich nur eine empirische Analyse bringen, die
auf eine Rekonstruktion der Prozesse angelegt ist, durch die soziale Wirklichkeit
in ihrer sinnhaften Strukturierung hergestellt wird. Im Zentrum zu stehen hat

16 „Sude mi / Zato što svoje volim / Volim najviše što sam branio moje najdraže / Sude mi /
Dušmani moja ljube / Ali ne znaju da je istina voda duboka.“
17 Škoro verbindet eine enge Freundschaft mit dem umstrittenen Sänger Marko Perković,
bekannt unter dem Namen „Thompson“. Perković gerät international immer wieder auf-
grund nationalistischer Tendenzen in seinen Texten in die Kritik. Und doch gelingt es
ihm, weltweit ganze Stadien zu füllen – soweit die Konzerte genehmigt werden. Von mit
seiner Musik sympathisierenden Kroaten wird Thompson immer nur als „heimatliebend“
beschrieben.
18 Drakulić, Slavenka: „Wenn Helden zu Mördern werden“. Spiegel v. 02. Juli 2005. Online
unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,350151,00.html [Stand: 29.05.2009]
19 „Hag je naša posljedna šanca / Ma kakvi Munchen, Beč ili Prag / Spremi se narode jer
diližansa / Kreće što vozi sve nas za Hag“.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’483

damit die Rekonstruktion von in der empirischen Wirklichkeit bereits erfolg-


ten sozialen Konstruktionen. Eine solche empirische Analyse erfolgte etwa im
Rahmen des Projektes „Verletzte Identitäten“.20 Hierfür wurden zwischen 2007
und 2009 in verschiedenen Regionen Bosnien-Herzegowinas insgesamt 30 the-
menzentrierte narrative Interviews geführt. Die Datenauswertung orientierte
sich an dem Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik, welche auf
die Rekonstruktion der so genannten latenten Sinnstrukturen zielt.21 Mittels die-
ser Analyse konnten schließlich soziale Deutungsmuster identifiziert werden,
Wissensbestände, die vor dem Hintergrund kollektiver, d. h. gesellschaftlicher
Problemkonstellationen entstehen. Diese ragen als Handlungsprobleme in die
Alltagspraxis von Individuen hinein und müssen in der Alltagspraxis von den
AkteurInnen bewältigt werden.22 Es handelt sich also um ursprüngliche Krisen-
lösungen, die, insofern sie sich als zuverlässig erwiesen haben, verbindliche
Routinen für die alltägliche Bewältigung bestimmter, wiederkehrender Proble-
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me innerhalb eines Kollektivs zur Verfügung stellen.


Verbindlich sind soziale Deutungsmuster nicht zuletzt insofern, als sie – hat
man sie im Rahmen von Sozialisationsprozessen einmal verinnerlicht – weit-
gehend unbewusst das Handeln von AkteurInnen strukturieren.23 Zentral ist
dabei die Vorstellung, dass es sich bei sozialen Deutungsmustern nicht einfach
um eine Ansammlung von Einzelerfahrungen oder Einzeldeutungen handelt.
Diese Wissensbestände sind durch eine Struktur gekennzeichnet. Situationsge-
bundene Einzeldeutungen, die von AkteurInnen in Handlungszusammenhänge
abgerufen werden, leiten sich aus diesem strukturierten Grundstock an Wissen
ab.24 In ihrer bestehenden Form werden soziale Deutungsmuster solange re-

20 Mijić 2014
21 Vgl. z. B. Oevermann, Ulrich/Allert, Tilman/Konau, Elisabeth/Krambeck, Jürgen: Die
Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische
Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Interpretative
Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler 1979, pp. 352–434.
22 Das Deutungsmusterkonzept wurde von dem Frankfurter Soziologen Oevermann in
die deutschsprachige sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt und seit Mitte der
1970er Jahre auf verschiedenste Weise aufgegriffen, modifiziert und erweitert. Vgl. Oe-
vermann, Ulrich: Kommentar zu Christine Plaß und Michael Schetsche: „Grundzüge
einer wissenssoziologischen Theorie sozialer Deutungsmuster“. In: Sozialer Sinn (2001)
Heft 3, pp. 537–546, hier p. 536.
23 D.h. aber auch, dass Deutungsmuster typischerweise nicht explizit abgefragt werden
können; es handle sich vielmehr, so Oevermann, um ein „tacit knowledge“, um ein
„schweigendes Wissen“. Vgl. Oevermann, Ulrich: Die Struktur sozialer Deutungsmuster
– Versuch einer Aktualisierung. In: Sozialer Sinn (2001) Heft 1, pp. 35–81, hier p. 41.
24 Solche Einzeldeutungen sind dann (idealerweise) sowohl mit den bis dahin gemachten
Erfahrungen als auch mit den Deutungen des Kollektivs, dem die AkteurInnen angehö-
ren, vereinbar.

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484 Ana Mijić

produziert, wie sie sich bewähren. Tauchen in Handlungssituationen Proble-


me auf, für deren Deutung die vorhandenen, eingeschliffenen Interpretationen
nicht ausreichen, drängt der Handlungsdruck der Alltagspraxis zu Lösungen,
die sich im Rahmen des bis dahin gültigen Deutungsmusters nicht begründen
lassen.25 Die Folge ist, dass Elemente eines Deutungsmusters einer Revision
unterzogen werden. Deutungsmuster sind jedoch in der Regel nie vollständig
neu entwickelte Programmatiken, sondern gehen typischerweise immer aus der
Transformation vorausgehender Deutungsmuster hervor;26 das ‘Neue’ muss
sich diesem Verständnis zufolge aus dem Alten entwickeln.27 Der Soziologe
Ulrich Oevermann selbst spricht in diesem Zusammenhang von einem histo-
risch-genetischen Spiralmodell.28

Identität als soziales Produkt


Die gesellschaftliche Problem- oder Krisenkonstellation, die es mit dem hier
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zur Debatte stehenden Deutungsmuster zu bewältigen gilt, lässt sich mit einer
ebenso simplen wie komplexen Frage umreißen: Wer bin ich? Es ist die Frage
nach der Konstitution des Selbst. Dass es sich bei dieser Frage um eine ‘soziale’
Problematik handelt, liegt in dem hier vertretenen Verständnis von Identität be-
gründet: Ihm zufolge ist Identität per se als sozial zu verstehen. Die Vorstellung
der Identitätsbildung über Vergesellschaftungprozesse geht unter anderem auf
den Chicagoer Sozialpsychologen George Herbert Mead zurück:29 Die Identität
konstruiert und rekonstruiert sich im ständigen Prozess der Abarbeitung am
Sozialen, d. h. im Prozess der permanenten Wechselwirkung von Gesellschaft-
lichem und Individuellem. Ihren systematischen Niederschlag findet diese so-

25 Vgl. Oevermann, Ulrich: Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern. In:
Sozialer Sinn (2001), Heft 1, pp. 3–33, hier p. 22.
26 Vgl. Oevermann 2002, p. 44.
27 Meuser, Michael/Sackmann, Reinhold: Zur Einführung. Deutungsmusteransatz und em-
pirische Wissenssoziologie. In: Dies. (Hrsg.): Analysen sozialer Deutungsmuster. Bei-
träge zur empirischen Wissenssoziologie. Pfaffenweiler: Centaurus 1992, pp. 9–37, hier
p. 20ff.
28 Oevermann 2001, pp. 20 f.- Darin liegt nun aber auch die Tatsache begründet, dass sich
gesellschaftliche Umbruchssituationen oder Krisenkonstellationen, in denen typischer-
weise von einer Modifikationen sozialer Deutungsmuster auszugehen ist, besonders
zu einer Deutungsmusteranalyse eignen, denn hier ist auf Seiten der AkteurInnen eine
erhöhte Reflexivität notwendig, die eine zumindest zeitweise Manifestierung von Deu-
tungsmustern mit sich bringt; vgl. Meuser/Sackmann 1992, p. 20f.
29 Mead, George Herbert: Mind, Self and Society. Chicago: The University Press 1934. Vgl.
auch Goffman, Erving: The Presentation of Self in Everyday Life. New York: Doubleday
1956; Strauss, Anselm L.: Mirrors and Masks. The Search for Identity. San Francisco: The
Sociology Press 1959.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’485

zialkonstruktivistische Grundannahme in der von Peter L. Berger und Thomas


Luckmann formulierten „fundamentalen Dialektik des Sozialen“:
Gesellschaft hat eine Geschichte, in deren Verlauf eine spezifische Identität entsteht.
Diese Geschichte machen jedoch Menschen mit einer spezifischen Identität. Hat man
diese Dialektik vor Augen, so kann man die irreführende Vorstellung einer ‘kollekti-
ven Identität’ fallen lassen, ohne zur Einzigartigkeit der individuellen Existenz, sub
specie aeternitatis, Zuflucht nehmen zu müssen.30

Unter welchen Voraussetzungen, so kann nun gefragt werden, wird Identität


problematisiert? Die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich, so die Soziologen Berger
und Luckmann, „einfach weil zwei konkurrierende Antworten zur Wahl ste-
hen“31 – konkurrierende Antworten von konkurrierenden ‘Anbietern’. Diese
sind im vorliegenden Fall die Trägergruppen der oppositionell zueinander ste-
henden Deutungsoptionen. Sie liefern verschiedene „objektive Wirklichkeiten“,
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d. h. solche, die durch Institutionalisierungsprozesse strukturell verfestigt und


durch Legitimierungen, zu welchen beispielsweise auch kollektive Narrative zu
zählen sind, abgesichert werden. Die objektive Wirklichkeit wird dem Individu-
um im permanenten Prozess der Sozialisation vermittelt, d. h. im selben Prozess,
in welchem sich auch die Identität entwickelt.
Eine zentrale Rolle spielen dabei konkrete Bezugspersonen: „Die signifikan-
ten Anderen sind im Leben des Einzelnen die Starbesetzung im Spiel um seine
Identität.“32 Sie bringen die ausdrückliche und gefühlsgetragene Gewissheit
darüber, dass man ist, und auch wer man ist. Die Gruppe der signifikanten
Anderen ist in diesem Sinne die primäre Instanz zur Vermittlung der eigenen
Wirklichkeitsbestimmung. Bestehen wie in dem hier diskutierten Fall konkur-
rierende Wirklichkeitsbestimmungen nebeneinander, „so duldet man alle Arten
von Sekundärgruppen-Beziehungen der Konkurrenten, solange fest etablierte
Primärgruppen-Beziehungen vorhanden sind, in denen die jeweils eine Wirk-
lichkeit gegenüber ihrer Konkurrenz behauptet wird.“33
Damit lässt es sich erklären, dass in der heutigen bosnisch-herzegowinischen
Gesellschaft vielfältige wirtschaftliche und andere Formen nicht-intimer sozia-
ler Kontakte bestehen, während aber etwa ‘gemischte’ Ehen typischerweise zu-
mindest einer Art von Rechtfertigungszwang unterliegen. Auch das Phänomen
der ethnisch getrennten Schulen – die Schule ist als eine zentrale Sozialisations-
instanz zu betrachten – wird dadurch analytisch erfassbar.

30 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.


Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Fischer 1996, p. 185.
31 Ibid., p. 178.
32 Ibid., p. 161.
33 Ibid., p. 163; Hervorhebung im Original.

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486 Ana Mijić

Ethnizität – nicht ohne „den Anderen“


Wie ‘Identität’, kann auch ‘Ethnizität’ nicht als ein ursprüngliches und unverän-
derliches Element menschlichen Daseins betrachtet werden. Das entscheidende
Kriterium bei der Identifikation ethnischer Gruppen sind Prozesse der situati-
ven Selbst- und Fremdzuschreibung, d. h. die ethnische Grenzziehung.34 Diese
kann sich zu unterschiedlichen Zeiten verschieden gestalten – weshalb auch
zu betonen ist, dass Ethnizität im Allgemeinen in ihrer Relevanz für Identitäts-
bildungsprozesse graduell verstanden werden muss. Ihr Gewicht ist situations-
gebunden, d. h. vom spezifischen Kontext abhängig. Im hier diskutierten Fall
ist auf Grund der kriegerischen Gewalt in jüngster Vergangenheit von einer
zentralen Bedeutung ethnischer Selbst- und Fremdzuschreibungen auszugehen.
Die Ethnisierung der Identität verfestigte sich, wie oben beschrieben, im Kon-
fliktverlauf gar zu einem wesentlichen Bestandteil des ‘Selbst’. Es ist davon
auszugehen, dass der Konnex zwischen ethnischer Zugehörigkeit und Iden-
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tität typischerweise mit einer ausgeprägten Identifikation mit der jeweiligen


ethnischen Gruppe einhergeht. Diese Verwobenheit des ‘Ichs’ mit dem ‘Wir’
beschreibt Norbert Elias folgendermaßen:
Das Wir-Bild und das Wir-Ideal eines Menschen ist ebenso ein Teil seines Selbstbildes
und Selbstideals wie das Bild und Ideal seiner selbst als einzigartiger Person, zu der
er ‘Ich’ sagt.35

In dieser Identifikation mit der jeweiligen ethnischen Gruppe liegt die potentiel-
le Verletzlichkeit der Identität durch die Infragestellung des ‘Gruppencharisma’
begründet. Die Identifikation mit den ‘Kriegshelden’, um nochmals auf das oben
angeführte Beispiel zurückzugreifen, bringt es mit sich, dass die Infragestellung
ihres Status’ als Held, Auswirkungen auf das individuelle ‘Selbstbild’ hat und
das ‘Selbstideal’ erschüttert, so wie es das ‘Wir-Ideal’ erschüttert. Dieser hier
formulierten Annahme der Verletzlichkeit der Identität liegt kein statisch-es-
sentialistisches Identitätsverständnis zugrunde. Identität soll, wie oben bereits
ausgeführt, als ständiger Prozess der Abarbeitung am Gesellschaftlichen ver-
standen werden, und insofern unterliegt auch die Identität einer permanenten
Veränderung. Nichtsdestotrotz ist die Identität nicht beliebig formbar. Unter be-
stimmten Umständen kann es zu Brüchen sowie emotionalen Verletzungen der
an die individuelle Biografie gekoppelten Identität kommen. Der Frage, unter
welchen Umständen es zu solchen ‘Brüchen’ kommen kann und ob diese Um-
stände im Nachkriegs-Bosnien-Herzegowina potentiell gegeben sind, soll im

34 Barth, Fredrik (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture
Difference. Oslo: Universitetsforlaget/ Scandinavian Univ. Press 1969.
35 Elias/Scotson 1990, p. 44.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’487

Folgenden nachgegangen werden. Hierfür wird der Blick auf die problematische
‘objektive Wirklichkeit’ der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft sowie den
Prozess der Internalisierung dieser Wirklichkeit im Rahmen von Sozialisations-
prozessen gerichtet.

Das Problem mit der „objektiven Wirklichkeit“ in Bosnien-Herzegowina


Die von Berger und Luckmann herausgearbeitete fundamentale Dialektik des
Sozialen verläuft in einem Dreischritt von ‘Externalisierung’, ‘Objektivierung’
und ‘Internalisierung’. Jedes dieser Elemente ist ein wesentliches Merkmal der
sozialen Wirklichkeit:
Gesellschaft ist ein menschliches Produkt. Gesellschaft ist eine objektive Wirklichkeit.
Der Mensch ist ein gesellschaftliches Produkt.36

Oben wurde Identität als ein soziales Produkt bezeichnet. Identität, respektive
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Menschen mit spezifischen Identitäten, sind aber diesem Verständnis zufolge


nicht nur Produkte, sondern auch Produzenten sozialer Wirklichkeit. Diese
Wirklichkeit wird im permanenten Prozess der Entäußerung geschaffen. Zur
objektiven Wirklichkeit wird das Produkt menschlicher Entäußerung im Prozess
der Objektivierung.
Richtet man nun den Blick auf die Nachkriegssituation in Bosnien-Herze-
gowina, kann zunächst festgestellt werden, dass im Hinblick auf die Relation
zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen unterschiedliche ‘objektive
Wirklichkeiten’ nebeneinander bestehen. Es sind die objektiven Wirklichkeiten
genau dieser ethnischen Gruppen. Verfestigt haben sich diese im Verlauf der
kriegerischen Auseinandersetzungen. In der Nachkriegssituation werden die
Menschen in Bosnien-Herzegowina mit einer weiteren Wirklichkeitsbestim-
mung konfrontiert. Es ist die Deutung der Wirklichkeit etwa der „Internatio-
nalen Gemeinschaft“. Diese Deutung der Wirklichkeit ist jedoch nicht aus der
Gesellschaft heraus gewachsen, sondern wurde von außen auferlegt. Während
also von einer weitreichenden Symmetrie zwischen der subjektiven Wirklich-
keit der Menschen in Bosnien-Herzegowina mit den objektiven Wirklichkeiten
ihrer jeweiligen ethnischen Gruppe ausgegangen werden kann, ist von einer
Asymmetrie zwischen diesen subjektiven Wirklichkeiten und einerseits den
von außen herangetragenen objektiven Wirklichkeiten sowie andererseits den
objektiven Wirklichkeiten der je anderen ethnischen Gruppe auszugehen. Diese
Asymmetrie führt, so die These, zu strukturellen „Verletzungen“ oder Brüchen
von auf pragmatische Konsistenz angelegten Identitätsbildungsprozessen.

36 Berger/Luckmann 1969, p. 65.

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488 Ana Mijić

Sozialisation als Internalisierung „objektiver Wirklichkeit“


Im permanenten Prozess der Sozialisation wird die sozial konstruierte objektive
Wirklichkeit internalisiert, so Berger und Luckmann. Im Lichte der durch die In-
ternalisierung zur subjektiven Wirklichkeit werdenden objektiven Wirklichkeit
konstruieren Individuen ihr Selbstbild: „Die subjektive Aneignung der eigenen
Identität und die subjektive Aneignung der sozialen Welt sind nur verschiedene
Aspekte ein und desselben Internalisierungsprozesses.“37 Dieser Prozess der
Internalisierung verläuft nach Berger und Luckmann typischerweise in zwei
von einander zu unterscheidenden Phasen: der primären Sozialisation und der
sekundären Sozialisation. Unter primärer Sozialisation versteht man zuallererst
die erste Phase, in der ein Kind zum Mitglied der Gesellschaft wird, während
unter sekundärer Sozialisation „jeder spätere Vorgang [zu verstehen ist], der
eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer
Gesellschaft einweist“.38 Die Sozialisation wird in diesem Sinne als niemals
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abgeschlossen betrachtet. Die subjektive Wirklichkeit unterliegt einem steten


Transformationsprozess.
Diese Transformationen lassen sich jedoch nach dem Grad der Modifikation,
die sie mit sich bringen, differenzieren. Am einen Ende einer Skala sind dabei
die Transformationen anzusiedeln, welche durch solche sekundären Sozialisa-
tionsprozesse hervorgerufen werden, die unmittelbar an die primären Interna-
lisierungen anschließen. In diesem Fall wird die im Rahmen der primären So-
zialisation inkorporierte Wirklichkeit im weiteren Sozialisationsverlauf immer
nur bestätigt. Am anderen Ende steht die ‘Verwandlung’, d. h. die Übernahme
einer neuen, gänzlich differenten subjektiven Wirklichkeit. Die zentrale Voraus-
setzung für eine Verwandlung sind Re-Sozialisationsprozesse, die jenen „der
primären Sozialisation ähnlich sind, da sie radikal neue Wirklichkeitsakzente
setzen müssen.“39 Sekundäre Sozialisationsprozesse
setzen auf der Grundlage der primären Internalisierungen an und vermeiden im all-
gemeinen krasse Brüche in der subjektiven Lebensvorstellung. Das Resultat ist die
Schwierigkeit, den Zusammenhang zwischen früheren und späteren Elementen der
subjektiven Wirklichkeit zu sichern. Dieses Problem – das bei der Resozialisation in
dieser Art nicht vorkommt, da sie die subjektive Biografie auseinanderreißt und die
Vergangenheit neu aufrollt, statt sie mit der Gegenwart abzustimmen –, wird dring-
licher, je näher die sekundäre Sozialisation der Resozialisation kommt, ohne tatsäch-
lich in sie umzuschlagen. Resozialisation heißt: Man durchschneidet den gordischen

37 Ibid., p. 143.
38 Ibid., p. 141 [Hervorhebung A.M.].
39 Ibid., p. 168.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’489

Knoten des Zusammenhangsproblems, indem man die Suche nach Zusammenhängen


aufgibt, und die Wirklichkeit neu konstruiert.40

Im Falle der Verwandlung haben auch die signifikanten Anderen gewechselt,


denen im Prozess der Resozialisation eine zentrale Bedeutung als Vermittler
der neuen Wirklichkeit zukommt: „Die neue Plausibilitätsstruktur muss dem
Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer
tiefen Identifikation kommen muss.“41 Und gerade aufgrund dieser Bindung
sind „Identifikation, Entidentifikation und Verwandlung von emotionalen Kri-
sen begleitet.“42

Wege aus der Spannung – Einige abschließende Gedanken zu


möglichen Bewältigungsstrategien
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Unter Berücksichtigung der theoretischen Überlegungen im vorhergehenden


Teil, sollen nun abschließend im Hinblick auf die Frage, wie Individuen im
Kontext der strukturellen Spannung gleichzeitiger Legitimierung und Delegiti-
mierung hierarchisierender ethnischer ingroup-outgroup-Unterscheidungen ihr
Selbst konstruieren, unter Rückgriff auf das empirische Material einige Thesen
formuliert werden.
Geht man von den beiden Extremen ‘Resozialisation’ sowie der bruchlos auf
primären Internalisierungen aufbauenden Sekundärsozialisation aus, könnte die
angenommene Spannung zwischen gleichzeitiger Legitimierung und Delegiti-
mierung (idealtypisch) zu zwei Seiten hin aufgelöst werden: Auf der einen Seite
stünde dabei eine den ‘neuen’ Deutungsangeboten gänzlich trotzende ungebro-
chene Ratifizierung wertgeladener ethnischer Differenzierung; auf der ande-
ren Seite eine prinzipielle Delegitimierung der wertgeladenen Differenzierung,
durch die Entkoppelung der Kriegsvergangenheit vom Gegenwartshorizont. Im
letzteren Fall bedarf es einer Resozialisation.
Empirisch werden sich diese Typen in ihrer ‘Reinform’ nicht identifizieren
lassen. Gegen eine ungebrochene Ratifizierung sprechen etwa von außen in-
itiierte gesamtgesellschaftliche Transformationen sowie die damit gegebenen
strukturellen Rahmenbedingungen. Die unveränderte Aufrechterhaltung des ei-
genen ‘Gruppencharisma’ sowie der ‘Gruppenschande’ der ethnischen Außen-
gruppe bedarf zumindest einer neuen Form der Legitimierung. Gegen eine prin-
zipielle Delegitimierung vormals konstitutiver Deutungen spricht die Tatsache,

40 Ibid., p. 172f.
41 Ibid., p. 168.
42 Ibid., p. 183.

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490 Ana Mijić

dass sich neue Deutungen prinzipiell transformatorisch aus alten entwickeln


müssen. ‘Konversionen’ im vollendeten Sinne sind als soziale Randerscheinun-
gen zu betrachten. Zwischen der Sekundärsozialisation, wie sie hier beschrieben
wurde, und der Resozialisation gibt es in der Praxis zahlreiche Zwischentypen .43
Eine Orientierung, die der Verwandlung nahe kommt, findet sich beispiels-
weise in einem Prozess, der als Pan-Ethnisierung bezeichnet werden kann.
Diese Orientierung steht mit der Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen
Integration im Einklang, dafür aber, aufgrund der Abkoppelung der (Kriegs-)
Vergangenheit vom Gegenwartshorizont, im Spannungsverhältnis zu den Er-
fahrungen der 1990er Jahre. So zeigt die Interpretation der im Rahmen des For-
schungsprojektes in Bosnien-Herzegowina erhobenen Interviews etwa, dass im
Zuge interethischer Kommunikation das Wissen über die Kriegsvergangenheit
aufgrund pragmatischer Überlegungen oft nicht mobilisiert wird. Ein Interview-
partner sagte:
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[…] Nach einer so kurzen Zeit, es vergingen keine paar Monate, nachdem der Krieg
aufhörte, fingen wir an, zueinander zu gehen. […] Als sei nichts gewesen […] Als hätte
dieses Loch nie existiert. Als hätten die Linien nie existiert. (Interview 1, Zeile 81 ff.)

Darüber hinaus wird der Krieg regelmäßig als nicht von Menschen gemacht,
sondern als ein übermenschliches, die Menschen vernichtendes und verfeinden-
des Phänomen beschrieben:
Als Tito starb, als Jugoslawien zerfiel, […] kam dieser verdammte Krieg, welcher an-
gerichtet hat, was er angerichtet hat: uns alle verfeindet. (Interview 2, Zeile 11 ff.)

Der Krieg tritt in der Gestalt eines vom Handeln menschlicher Subjekte un-
abhängigen Geschehens auf, ähnlich einer Naturkatastrophe, oder gar als aktiv
handelnd – quasi als Subjekt. Die Konsequenz dieser Perspektive ist, dass der
Krieg letztlich nicht zum Objekt ethischer Überlegungen gemacht werden kann
und menschliches Handeln von jeder Verantwortung befreit wird. Die Funktion
dieses Deutungsmusters in Bezug auf den hier verhandelten Fall ist evident:
Indem man den Krieg personifiziert, geht man einerseits selbst in Distanz zum
Geschehenen und schützt damit sein Wir-Ideal. Gleichzeitig bietet man diese
Möglichkeit auch dem Gegenüber an. Dahinter verbirgt sich sehr wahrschein-
lich der kleinste gemeinsame pan-ethnische Nenner, denn die Subjektivierung
des Krieges erleichtert es, die unmittelbare Kriegsvergangenheit vom Gegen-
wartshorizont abzukoppeln, um an eine genuin positiv bewertete Vorvergan-
genheit – der gemeinsamen jugoslawischen Lebenswirklichkeit mitsamt ihrer

43 Ibid., p. 172.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’491

Plausibilitätsstrukturen – anzuschließen.44 Vor allem jene, die erfolgreich (und


anhaltend) ins sozialistische System des ehemaligen Jugoslawien sozialisiert
wurden, scheinen auf dieses Deutungsmuster, mit welchem stets auch gewisse
jugo-nostalgische Narrationen einhergehen, zurückzugreifen. Dabei zeigt sich,
dass diese Narrationen oder die Erzählungen von dem, was war, gleichzeitig
Erzählungen sind, von dem, was sein soll; es wird deutlich, dass im Vergangenen
stets auch – wenn nicht gar vor allem – Zukünftiges verhandelt wird.
Ein empirisch beobachtbarer Fall, der der ungebrochenen Ratifizierung wert-
geladener ethnischer ingroup-outgroup-Differenzierung sehr nahe kommt, ist
dagegen die Viktimisierung der ethnischen Eigengruppe. Dabei verläuft die
Identitätskonstruktion über die Konstruktion des Selbst als Opfer. Dies ge-
schieht jedoch durchaus im Lichte des neuen Begründungszwangs. Die De-
legitimierung der wertgeladenen ethnischen Grenzziehung wird unter Beru-
fung auf das erfahrene Leid infragegestellt. ‘Opfer-Sein’ und ‘Verantwortung
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tragen’ werden als sich gegenseitig ausschließende Kategorien gesehen und


die Anerkennung als Opfer widerspricht dieser Wahrnehmung zufolge der Zu-
schreibung von (Mit-)Verantwortung. Die Selbstviktimisierung basiert auf dem
Glauben an die Rechtmäßigkeit der eigenen Ziele; sie dient der moralischen
Rechtfertigung und damit auch einer Stärkung des eigenen Gruppencharisma,
welche typischerweise einhergeht mit der Betonung der Illegitimität der Ziele
des ethnischen Gegenübers und einer Akzentuierung der fremden Gruppen-
schande. Es geht im Wesentlichen um die Demonstration der eigenen morali-
schen und zivilisatorischen Überlegenheit.
Dort wo die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Auseinander-
setzung mit der eigenen Täterrolle erzwingt, kommt es typischerweise zu einer
Umschichtung der Prioritäten. Die eigene Täterrolle wird im kollektiven Ge-
dächtnis zugunsten einer Selbstdefinition als Opfer in den Hintergrund ge-
drängt. Exemplarisch zeigt sich eine solche Umkehrung in der folgenden Inter-
view-Sequenz:
Frage: Ich habe noch eine Frage. Hier in Banja Luka leben mehrheitlich Serben, oder?

Antwort: Ja, ja, mehrheitlich ja. Aber es sind auch viele Muslime zurückgekehrt. Etwas
weniger Kroaten, weil die Kroaten haben sich an anderen Orten niedergelassen. (3)
Wissen sie, wenn jemand 10–15 Jahre irgendwo lebt, findet er sich dort zurecht und

44 An diesem Beispiel wird nun aber auch sehr deutlich, dass unterschiedliche Strategien,
die Spannung aufzulösen, wahrscheinlich auch von biografischen Daten abhängig sind.
So wird sich etwa die Jugo-Nostalgie vor allem innerhalb der Generation identifizieren
lassen, die in den 1960er und 1970er Jahren primär sozialisiert wurden, oder eben auch
bei Kindern aus ‘gemischten’ Ehen.

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492 Ana Mijić

will später gar nicht zurückkommen. Aber das Eigentum wurde zurückgegeben. Alles.
Sarajewo ist, sagen wir mal, eine ethnisch gesäuberte muslimische Stadt. Tuzla genau-
so. Zenica genauso. (2) Von daher…Prijedor ist (.) vor allem Serben sind dort. Doch
auch dorthin sind viele Muslime zurückgekehrt. (Interview 3; Zeile 94 ff.)

Hier wird durch den Interviewten die moralische Überlegenheit seiner ingroup
– in diesem Fall der Serben – sowie das amoralisch Verhalten der outgroup –
hier vor allem der Bosniaken – sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Ist auf
der einen Seite die Rede davon, dass „hier“, also in Banja Luka und in Prijedor
(beide Städte liegen in der sog. Republika Srpska), vor allem Serben leben, und
dass es dem freien Willen der Anderen obliegt, ob sie zurückkehren oder nicht,
spricht er andererseits im Zusammenhang mit den Städten Sarajevo, Tuzla und
Zenica von „ethnisch gesäuberten muslimischen Städten“. Konfrontiert mit dem
sozial-historischen Kontext ist es vor allem im Hinblick auf Sarajevo, das von
1992 bis 1996 von serbischen Truppen belagert wurde, doch recht befremdlich,
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wenn hier von einer „ethnisch gesäuberten muslimischen Stadt“ gesprochen


wird. Die Täterrolle der „Wir-Gruppe“ wird an dieser Stelle sehr deutlich in
den Hintergrund gedrängt und der Sachverhalt, dass in Sarajevo gegenwärtig
relativ wenige SerbInnen leben, nicht auf die Verbrechen von Mitgliedern der
ingroup zurückgeführt, sondern auf als Verbrechen deklariertes Verhalten von
Mitgliedern der bosniakischen respektive der „muslimischen“ outgroup.
Die Anerkennung des je eigenen Opferstatus wird auch von Dritten ein-
gefordert. So wird etwa vom ICTY erwartet, dass es die Version der Wahrheit
vertreten soll, welcher zufolge die ingroup insgesamt als Opfer betratet wird.
Wird die Erwartung enttäuscht, wird dies als ein Angriff auf die eigene Identi-
tät betrachtet. Aufgrund der starken Identifikation mit den Angeklagten ist die
Annahme verbreitet, dass vor dem Tribunal nicht über Individuen gerichtet
wird, sondern über die gesamte ethnische Gruppe. Insofern erscheint es recht
plausibel davon auszugehen, dass das Tribunal auch als eine Kampfarena zur
Bewahrung der eigenen Identität und der eigenen Wirklichkeitsperspektive be-
trachtet wird. Da jede Gruppe sich selbst als primäres Opfer des Krieges bzw.
der Anderen betrachtet, bleibt das Spannungsverhältnis zum Anspruch auf die
gesamtgesellschaftliche Integration in ausgeprägter Form bestehen.45

Fazit
Einleitend wurde dargelegt, dass das ‘westliche’ Bild vom ewig gestrigen Balkan
sehr wahrscheinlich auch Konsequenzen hinsichtlich der Selbstwahrnehmung

45 Höpken 2005, p. 175.

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Das ‘Wir’ im ‘Ich’493

der Menschen vor Ort zeitigt. Angesichts der Ergebnisse der hermeneutischen
Analyse kann abschließend plausibel angenommen werden, dass die Selbstvikti-
misierung auch ein Resultat dieser Fremdbilder ist: „[D]ie Protagonisten werden
nicht ernst genommen. Das heisst, sie werden nur ernst genommen, wenn sie
die Rolle von hilflosen Opfern spielen, die der Westen dann rettet“, so etwa Sla-
voj Žižek (2010) in einem Interview mit der NZZ.46 In den vergangenen Jahren
wird darüber hinaus vor allem von Seiten populistisch argumentierender westli-
cher PolitikerInnen auch vor einer zunehmenden Islamisierung Bosnien-Herze-
gowinas und dem Einfluss islamischer Staaten auf das Land gewarnt. Vor allem
in Österreich wird das Deutungsmuster einer drohenden islamischen Gefahr
auf dem Balkan gerne mobilisiert: Heute wie damals vor einem Jahrhundert
tritt ‘der Westen’ als ‘Helfer in der Not’ in Erscheinung und trägt damit nicht
nur zu einer Stabilisierung der Selbst-Viktimisierung und der gegenwärtigen
Verhältnisse bei sondern auch zu einem anhaltend verzerrten Balkanbild – cha-
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rakterisiert durch Rückständigkeit, Barbarei und Primitivismus.

46 Ernst, Andreas: „Der Balkan verschwindet.“ Gespräch mit Slavoj ŽiŽek. In: NZZ, 22.11.2010,
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/der-balkan-verschwindet-­1.8447698. –
Die Wirkung dieser Fremdbilder geht vermutlich noch sehr viel weiter. Das Struktur-
muster der Selbstviktimisierung reproduziert sich zwar über das gesamte Datenmaterial
hinweg; der kontrastierende Vergleich der Interviews offenbart jedoch auch ethnisch
spezifische Ausprägungen dieser Selbstviktimisierung. Es liegt sehr nahe, davon auszu-
gehen, dass sich die jeweilige Erscheinungsform der Selbstviktimisierung, d. h. die Art
und Weise der Argumentation und der Legitimation des eigenen Opferstatus’, der Tat-
sache verdankt, mit welchem Fremdbild sich die Akteure jeweils konfrontiert sehen. Die
internationalen Akteure – sowohl die politischen Akteure als auch die internationale
Öffentlichkeit – halten nicht alle am Krieg Beteiligten oder vom Krieg Betroffenen glei-
chermaßen für Opfer. Vielmehr unterscheiden auch sie zwischen jenen, die den Krieg
und die damit verbundenen Verbrechen primär zu verantworten haben, und jenen, die
den Gräueltaten der anderen zum Opfer gefallen sind. Diese Differenzierung verläuft
dabei nicht selten pauschalisierend entlang ethnischer Grenzziehungen. Vgl. dazu Mijić
2014, pp. 405–414.

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Ethnonationalismus in der longue durée?495

Ethnonationalismus in der longue durée?

Vermessungen der historischen und aktuellen Widersprüche


Bosnien-Herzegowinas

Vedran Džihić (Wien)

Die Geschichte Bosnien-Herzegowinas ist eine Geschichte der Widersprüche. In


den letzten beiden Jahrhunderten wechselten sich Phasen des friedlichen Mit-
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einanderlebens mit Perioden tiefen Misstrauens und blutig ausgetragener Kon-


flikte ab. Das heutige Post-Dayton-Bosnien scheint vor allem die negative und
konfliktgeladene Dimension internalisiert zu haben, in der das Ethnische als das
Trennende gilt und das Gemeinsame im Rahmen des hegemonialen Diskurses
als ein naiver und idealisierter Topos der angeblichen Realitätsverweigerer ab-
getan wird. Die heutige Gegenwart ist deprimierend: die staatliche Konstruktion
von Dayton funktioniert nicht und produziert permanent neue Konflikte; das
Land befindet sich im Würgegriff der ethnonationalen politischen und öko-
nomischen Eliten, denen die eigenen Interessen längst wichtiger sind als die
Interessen der Menschen; die ökonomische und soziale Lage für die Mehrheit
der Bevölkerung ist trist. Schließlich werden auch die Bürgerinnen und Bürger
Bosnien-Herzegowinas immer apathischer, von denen sich sehr viele längst
mit der Post-Dayton-Realität abgefunden zu haben scheinen. Das Heute und
Jetzt kann als ein Zeitalter der permanenten Gegenwart und des permanent
Ethnischen betrachtet werden, aus dem heraus betrachtet alle Widersprüche
der Geschichte verwischt und zum ethnonationalen Einheitsbrei vermischt
werden, der keinen Widerspruch duldet und den Anspruch auf Unendlichkeit,
Unzerstörbarkeit und ewige Existenz erhebt. Ein solches ethnonationalisiertes
Bosnien-Herzegowina ist in seiner eigenen und vom Dayton-Paradigma be-
stimmten Selbstreferenzialität gefangen.
Auch die Geschichte Bosniens und der Herzegowina ist längst zu einer regel-
rechten Kampfarena geworden. Das heutige Land als ein Gebilde, in dem sym-
biotisch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen, generiert einen
wichtigen Teil seiner Existenz und Macht aus der bewussten und beliebigen
Verzerrung der Historie durch seine Protagonisten, die ethnonationalistischen

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496 Vedran Džihić

Politiker und die jeweiligen politischen und ökonomischen Eliten. Überlässt


man ihnen dieses Feld, akzeptiert man auch ihre Macht. Eine demystifizierende
und die exklusiven ethnonationalen Narrative dekonstruierende Auseinander-
setzung mit der Geschichte und der Entwicklung der nationalen Frage, eine
Form von longue durée, wie sie in diesem Beitrag versucht wird, verlangt nach
einer Hinterfragung der scheinbar gegebenen historischen Umstände, sucht zu
enttarnen, was als Ergebnis verzerrter und manipulierter Geschichtsdeutungen
entlarvt werden kann.1 Dies ist vor dem Hintergrund der heute fast monoli-
thisch dastehenden, ethnonational geprägten und stets exklusiven „(National)
Geschichten“ eine wichtige Aufgabe.
In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Beitrag als eine um Objektivie-
rung bemühte Skizze der Widersprüchlichkeit der bosnisch-herzegowinischen
Geschichte, als ein Gang durch die wesentlichen Eckpunkte des heute geschicht-
lich Umstrittenen und eine Hinterfragung, wie sich die Spuren der Geschichte
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des 20. Jahrhunderts in der Gegenwart widerspiegeln. Der Beitrag verweist


damit auf jene geschichtlichen – politischen und gesellschaftlichen – struktu-
rellen Merkmale der Gewachsenheit Bosnien-Herzegowinas, die man durchaus
im Sinne von longue durée der Annales-Schule verstehen kann. Der Anspruch
des Beitrags liegt aber auch implizit in einem Versuch der Dekonstruktion der
heutigen ‘permanenten Gegenwart’, des Ethnonationalismus und der Ethno-
politik sowie entsprechender (geschichtlicher und aktueller) Narrative.
Der Beitrag teilt sich in mehrere größere Abschnitte: Zuerst wird die struktu-
relle Formation der Widersprüche des interethnischen Lebens – oder des Ethni-
schen in einem breiteren Sinne (im 20. Jahrhundert) – beginnend mit der späten
Phase des Osmanischen Reiches über die Zeit der Okkupation / Annexion durch
Österreich-Ungarn bis hin zur Entstehung des ersten Jugoslawien – anhand des
Gegensatzes zwischen ethnonationaler Gruppenbildung einerseits und den das
Ethnische transzendierenden Konzepten wie jenem des komšiluk untersucht.
Dann wird kurz die Entwicklung der nationalen Frage während der sozialisti-
schen Zeit sowie jene Phase der bosnisch-herzegowinischen Geschichte in den
späten 1980er und frühen 1990er Jahren geschildert, in der es zur konflikthaften
Aktualisierung der ethnonationalen Frage kam, die als zentrale Rahmenbedin-
gung für das Verständnis der heute gültigen Form der Ethnostaatlichkeit nach
dem Daytoner Muster definiert wird. Abschließend wird die spezifische Form
der institutionalisierten Einschreibung des Ethnischen in Staat und Gesellschaft

1 Vgl. dazu die Anmerkung des bosnischen Geschichtswissenschaftlers Srećko M. Džaja,


der in der Einleitung zu seinem Buch über die Geschichte Bosnien zwischen 1463 und
1804 auf dieses Dilemma hinweist. Vgl. Džaja, Srećko M.: Konfessionalität und Nationali-
tät Bosniens und der Herzegowina – Voremanzipatorische Phase 1463–1804. München:
Oldenbourg 1984.

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Ethnonationalismus in der longue durée?497

nach Dayton als Ausgangspunkt für einige kritische Betrachtungen über das
neue ethnonationale (Macht-)Narrativ und seine realpolitische Begleitung in
Form von Ethnopolitik genommen.

1. Bosnien-Herzegowina am Ende des 19. und zu Beginn des 20.


Jhs.: ethno-religiöse Vergemeinschaftung und komšiluk

Der Prozess der ethnischen Differenzierung der drei großen Gemeinschaften


verlief bis ins 19. Jahrhundert nach keinem klaren Muster: Es gab seitens aller
drei religiösen Gemeinschaften passiven und aktiven Widerstand gegen das
Osmanische Reich, gleichzeitig auch viele Formen des Arrangements mit dessen
Strukturen, in denen bestimmte Gruppen – und hier v. a. jene Schichten, die
den Islam als Religion annahmen – im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben
des Reiches aktiv partizipierten und so durchaus ihre sozioökonomische Lage
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verbessern konnten.
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts organisierten sich die Juden und die beiden
christlichen Kirchen in Form von milets (religiöse Gemeinschaften mit weitge-
hender Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches). Damit zeigte sich die
bosnische Gesellschaft das erste Mal in ihrer Geschichte als ethnisch-religiös
‘vergemeinschaftet’: milets agierten in vielen Bereichen unabhängig von der
staatlichen Macht und konnten eigene Formen der Verwaltung für die Mitglie-
der der eigenen Gemeinschaft entwickeln. Durch sie kommt es auch zu einer bis
ins 20. Jahrhundert wirksamen Aufteilung bestimmter Stadtteile oder Gewerbe
nach ethno-religiösen Grundsätzen.
Gleichzeitig – und dies ist eines der zentralen Elemente für das Verständnis
der Widersprüchlichkeit der nationalen Verhältnisse – wird hier das Element
des komšiluk zum ersten Mal relevant: In diesem Begriff, das mit dem Konzept
gutnachbarschaftlicher Beziehungen nur annähernd charakterisiert werden
kann, offenbart sich die ganze Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Ver-
hältnisses zwischen den drei Gemeinschaften. Komšiluk stammt aus dem Türki-
schen und steht für ‘Nachbarschaft’, bedeutet aber in Bosnien-Herzegowina viel
mehr, nämlich jenes System, mit dem die Kohabitation zwischen unterschied-
lichen ethno-religiösen Gemeinschaften geregelt wurde. In der Darstellung von
Xavier Bougarel heißt es:
Dieses Miteinander-Leben manifestiert sich im Kern in der gegenseitigen Hilfe im all-
täglichen Leben und in der Arbeit, in den gegenseitigen Einladungen zu den religiösen
Feiern und durch freundschaftliche Zusammenkünfte während der Familienfeiern. In
diesen drei Bereichen unterliegt das System des Miteinander-Lebens strengen Regeln
der Achtung und der Reziprozität. Komšiluk symbolisiert oft der gezuckerte Kaffee,

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498 Vedran Džihić

den der Nachbar aus Fildzan (Porzellantassen ohne Henkel) am gemeinsamen Tisch
trinkt.2

Komšiluk als ein im Alltag und abseits der staatlich geregelten Beziehungen
der ethno-religiösen Gemeinschaften funktionierendes System produzierte in
seiner Praxis während der osmanischen Herrschaft einen hierarchischen und
nicht-territorialen Pluralismus, der zur harmonischen, friedlichen und stabilen
Ausgestaltung der Alltagsbeziehungen zwischen unterschiedlichen Gemein-
schaften führte. Gerade in der Stärke des komšiluk-Systems im Bereich der All-
tagsbeziehungen liegt auch seine Fragilität und sein „Ausgeliefertsein“ an die
Ebene des Politischen begründet. Dazu Bougarel:
Diese alltägliche Bestätigung des stabilen und friedfertigen Charakters der zwischen-
nationalen Beziehungen funktioniert so lange, so lange der Staat in der Lage ist, mit
seiner Politik diesen stabilen und friedfertigen Charakter zu garantieren. Hört der
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Staat auf dies zu tun, oder sobald er Gemeinschaften gegeneinander positioniert, ver-
schiebt das auch das System des komšiluk – der Suche nach der Sicherheit durch
Reziprozität und Frieden – Richtung Verbrechen, Richtung Suche nach Sicherheit
durch Vertreibung und Krieg. Und gerade das zeigen die zwischennationalen Akte der
Gewalt, die seit dem 18. Jahrhundert beinahe regelmäßig die Agrarkrisen oder fremde
Invasionen nach Bosnien und Herzegowina begleiten.3

Dieser von Bougarel skizzierte Mechanismus der Verwandlung des komšiluk


als Folge der Verschiebung der politischen Machtverhältnisse und daraus re-
sultierenden Vernichtung des Zusammen-Lebens durch die ethnonational be-
gründete Gewalt sollte im Krieg zwischen 1992 und 1995 einen historischen Hö-
hepunkt finden. Bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkten
sich die ethno-religiösen Differenzen zwischen den drei Gemeinschaften durch
den starken Einfluss der serbischen und kroatischen Nationalbewegung auf die
Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina. Das osmanische Reich diente dabei
vielfach zur diskursiven Konstruktion des Anderen, das man für die Stärkung
des eigenen nationalen Zusammenhalts benötigte.
So definierte sich die serbische nationale Bewegung in dieser Zeit v. a. durch
klar zum Ausdruck gebrachte Opposition zu den „Türken“ und später auch zur
österreichisch-ungarischen Monarchie, die zu den Feinden der serbischen Na-
tion stilisiert wurden.4 Die Auflehnung gegen das Osmanische Reich wurde

2 Bugarel, Ksavije: Bosna. Anatomija rata. Beograd: Fabrika knjiga 2004, p. 32f.; im Orig.:
Bougarel, Xavier: Bosnie. Anatomie d’un conflit. Paris: La Découvert 1996, p. 118f., alle
Zit. übers. v. V.D.- Vgl. auch Bringe, Tone: Being Muslim the Bosnian Way. Identity and
Community in a Central Bosnian Village. Princeton: Princeton Univ. Press 1995.
3 Bugarel 2004, p. 123.
4 Vgl. Allcock, John: Explaining Yugoslavia. London: Hurst 2000, p. 330.

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Ethnonationalismus in der longue durée?499

auch damals sehr stark durch mythologische Elemente, u. a. durch die Beru-
fung auf die Schlacht am Amselfeld (Kosovo Polje) begleitet. Die Bestimmung
der osmanischen Zeit als einer Ära der Unterdrückung, der Diskriminierung
und der Bedrohung der eigenen Nation, gegen die man stets ankämpfen muss-
te, sollte dann seitens der Serben im 20. Jahrhundert nahtlos in die Sicht der
bosnisch-herzegowinischen Muslime als der Nachkommen des Osmanischen
Reiches und als „Türken“ übergehen. Vor allem im serbischen und kroatischen
Ethnonationalismus der 1980er und 1990er Jahre kommt es zur starken diskur-
siven Verwendung des antitürkischen Topos und folglich zu einer bewussten
Gleichsetzung der Bosniaken mit den Türken als auch zur Propagierung einer
angeblichen neuerlichen Bedrohung der katholischen und orthodoxen Bevöl-
kerung durch Muslime und den Islam.
Das 19. Jahrhundert ist auch aus einem anderen strukturellen Grund von
großer Bedeutung. Branka Magas bringt das Dilemma auf den Punkt: „Bosnia in
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the nineteenth century failed to make the transition to modern nationhood.“5


Damit spricht Magas den Umstand an, dass die Umwandlung von der ethni-
schen Identität der einzelnen Volksgruppen hin zu einer überethnischen und
damit staatlichen Identität nicht erfolgt ist. Das Gefühl des „Bosnisch-Seins“,
so Magas, wurde durch die dominanten Nationalstaatsbildungsprozesse in Ser-
bien und Kroatien unterminiert. Hier war es vor allem die Religion, die zum
zentralen Identifikations- und Unterscheidungsmerkmal in den beiden großen
Nationalstaatsbildungsprojekten in Serbien und Kroatien wurde; sie wurde zum
wichtigsten Instrument der Transformation von orthodoxen und katholischen
Bosniern/Herzegowinern in Serben bzw. Kroaten. Der Nationalismus erwies
sich somit im 19. Jahrhundert als ein sehr potenter modus operandi für die poli-
tischen Eliten und sicherte ihnen ihr politisches Dasein.
In der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, die mitten in der vi-
rulenten Nationalstaatsbildungsphase in Serbien und (dem habsburgischen)
Kroatien 1878 die Macht in Bosnien-Herzegowina übernahm, kam es zu gro-
ßen politischen, gesellschaftlichen und sozioökonomischen Veränderungen im
Land, mit denen das gesamte politische Leben und damit auch Wettbewerb
zwischen den einzelnen politischen und oft auch national bestimmten Kräften
dynamisiert wurden. Die einzelnen ethno-religiösen Gemeinschaften definier-
ten jeweils ihr Verhältnis zur Okkupationsmacht als dem Anderen und wurden
von dieser in ihrer Entwicklung vielfach geprägt.6 Die sog. „nationale Frage“,
also das Verhältnis zwischen den muslimischen, kroatischen und serbischen
Volksgruppen, die sich zu diesem Zeitpunkt alle unter jeweils unterschiedli-

5 Magas, Branka: On Bosnianness. In: Nations and Nationalism 9 (2003), nr. 1, p. 19–23.
6 Redžić, Enver: Prilozi o nacionalnom pitanju. Sarajevo: Svjetlost 1963, p. 80.

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500 Vedran Džihić

chen Voraussetzungen mitten im Prozess der nationalen Aufklärung befanden,


sollte die österreichisch-ungarische Ära von 1878–1918 maßgeblich prägen. Zu
diesem Zeitpunkt lebten etwas weniger als 1,9 Mio. Menschen in Bosnien-Her-
zegowina, wovon im Jahr 1910 43,9% orthodox, 32,25% muslimisch und 22,87%
katholisch waren.7
Bei der christlich-orthodoxen und der katholischen Bevölkerung vollzog
sich der Prozess der Entwicklung des Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert
stärker und schneller als bei der muslimischen Bevölkerung. So war bspw. auf
Grund der im 19. Jahrhundert von Serbien ausgegangenen Impulse die Entwick-
lung des serbischen Nationalbewusstseins zur Zeit der österreichisch-ungari-
schen Monarchie bereits mehr oder weniger abgeschlossen, aus dem heraus die
serbische Bevölkerung erste Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung
unabhängig von der österreichisch-ungarischen Monarchie formulieren konnte.
Die katholische Bevölkerung hatte zwar mit Kroatien ähnlich wie die christ-
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lich-orthodoxe mit Serbien ein „external national homeland“8 mit ausgepräg-


ter nationaler Identität im Rücken, allerdings vollzog sich die Nationalbewusst-
seinsbildung langsamer als bei den Serben. Der Grund dafür war die dominant
ländliche Struktur der katholischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina und
die Abwesenheit eines Bürgertums, das die Rolle des Trägers der Nationalauf-
klärung hätte spielen können.9 Die kroatische Bevölkerung war durchaus
starkem Einfluss aus dem ungarischen Kroatien und dem österreichischen Dal-
matien ausgesetzt und in ähnlicher Weise zwischen zwei politischen Optionen
geteilt. Die einen akzeptierten die Vorherrschaft der Monarchie zwar, setzten
sich aber für Selbstverwaltung und größere Autonomie innerhalb jenes Staats-
gebildes ein. Die anderen unterstützen jene kroatischen Kräfte rund um Frano
Supilo und Ante Trumbić für die Errichtung eines gemeinsamen Staates aller
Südslawen.
Für die österreichisch-ungarischen Behörden war der Umgang mit den drei
wichtigsten Religionsgemeinschaften jedenfalls vom Beginn an ein heikler Ba-

7 Duraković, Nijaz: Kontroverze o nacionalnom i nacionalističkom. Zenica: Centar društve-


nih aktivnosti RK SSOBiH 1987, p. 129.- Wichtig bei dieser Statistik ist, dass zu diesem
Zeitpunkt v. a. die Konfession jenes Element war, welches das Nationalgefühl stiftete und
als nationales Distinktionsmerkmal diente.
8 Vgl. Brubaker, Rogers: Nationalism reframed. Nationhood and the national question in
the New Europe. Cambridge: Cambridge Univ. Press 1996.
9 Vgl. ibid. Vgl. auch Džaja 1984 und Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der ös-
terreichisch-ungarischen Epoche (1878–1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition
und Ideologie. München: Oldenbourg1994 (= Südosteurop. Arbeiten 93). Weiters, etwas
spezifischer zur Entwicklung des bosniakischen Nationalbewusstseins, Filandra, Šaćir:
Bošnjačka politika u XX. stoljeću. Sarajevo: Sejtarija 1998 und Filipović, Muhamed:
Bošnjačka politika – Politički razvoj u Bosni u 19. i 20. stoljeću. Sarajevo: Svjetlost 1996.

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Ethnonationalismus in der longue durée?501

lanceakt. Man vermittelte zwischen Katholiken, die sich bevorzugt und in einer
besseren Position als die anderen beiden Konfessionen fühlten, und Orthodo-
xen, deren Skepsis gegenüber der k. u. k. Monarchie stark war und nie subs-
tantiell schwinden sollte. Der zwischen 1882 und 1903 für Bosnien zuständige
österreichisch-ungarische Finanzminister Benjamin v. Kállay richtete vor dem
Hintergrund jenes starken kroatischen und serbischen Einflusses auf die natio-
nale Frage seine ganze Politik auf die Stärkung einer eigenen, einigenden bosni-
schen Nationalität, die er in Form eines integralen Bosniakentums konzipierte:
Dieses hätte aus allen drei ethnischen Gemeinschaften eine neue, vierte Nation
schaffen sollen, die die zahlreichen antagonistischen Elemente zwischen Serben,
Kroaten und Muslimen in einem gemeinsamen Rahmen auflösen hätte sollen.10
Die nationalistischen Bewegungen in Serbien und Kroatien waren aber zu die-
sem Zeitpunkt zu stark, und die Zeitspanne der Herrschaft von Kállay zu knapp,
um die Wende von konfessionellen und ethnischen Identitätsmustern hin zu
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einer einigenden bosnischen Nationalität zu schaffen. Mit großem Einsatz für


die Reform der Verwaltung, der Umstrukturierung der Landwirtschaft sowie im
Bildungs- oder Transportwesen gelang jedoch die Modernisierung des Landes.
Berichte von Besuchern und Journalisten nach der Jahrhundertwende vermit-
teln den „Eindruck von Unparteilichkeit“ in der Verwaltung und im Umgang
der einzelnen Religionen untereinander, was man als objektiven Fortschritt und
Verdienst der österreichisch-ungarischen Verwaltung bezeichnen kann.11
Wie sah aber die Entwicklung der einzelnen Konfessionen im Einzelnen aus?
Bei den Muslimen (und v. a. innerhalb ihrer geistigen und politischen Eliten)
setzte in der Zeit der österreichisch-ungarischen Herrschaft ab 1878 ein Prozess
der beginnenden nationalen Emanzipation ein, der später im 20. Jahrhundert
(am deutlichsten in der Zeit des sozialistischen Jugoslawien und in den Jahren
seit 1990) einen wesentlichen Bezugspunkt für ihr nationales Selbstverständnis
darstellen sollte.
Abgesehen von der einigenden Klammer der islamischen Religion und ei-
niger National- und Ursprungsmythen, die sich auf die Zeit des bosnischen
Königreichs und der mittelalterlichen Kirche bezogen, gab es bei den Bosniaken
bis zur Periode unter der Herrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie
keine Anzeichen einer breiten politisch-nationalen Emanzipation. Šaćir Filandra
sieht den Grund für die verspätete nationale Entwicklung der Muslime v. a. in
der starken Herrschaft von außen durch die Osmanen und dann durch Öster-
reich-Ungarn, die eine selbstbewusste und eigenständige Entfaltung der Bosnia-
ken verhindert habe; als weiteren gewichtigen Grund bezeichnet Filandra den

10 Ibid.
11 Vgl. Malcolm 1996, p. 175.

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502 Vedran Džihić

überragenden Einfluss der nationalen Interessen der Nachbarn Kroatien und


Serbien, die jeweils eine Vormachtstellung in Bosnien-Herzegowina anstreb-
ten.12 Es war dann v. a. der Versuch der Abgrenzung von deren dominanten
Nationalideologien, die die Entwicklung eines eigenständigen bosniakischen
Nationalbewusstseins förderte.
Als primäres Unterscheidungsmerkmal von Serben und Kroaten diente die
Konfession, also der Islam. Dazu Šaćir Filandra:
Bosniaken fanden sich in der Zwickmühle zwischen der serbischen und kroatischen
Nationalideologie. Sie konnten sich nur durch beständige Betonung ihrer Eigenheit
und Eigenständigkeit gegen das Aufzwingen der serbischen und kroatischen natio-
nalen Idee wehren. Der sicherste Schutz vor ‚Nationalisierung“ und Assimilierung
war ihr Glaube, was auch der Grund dafür ist, dass das bosniakische Volk auf einer
allgemeinen gesellschaftlichen Ebene mit ihm gleichgesetzt wird. Der Islam war die
sicherste und tiefste differentia specifica sowohl in Bezug auf die orthodoxen Serben
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als auch auf die katholischen Kroaten. Deswegen leben die Bosniaken den Großteil
ihrer nationalen Bedürfnisse durch ihr Glaubensbekenntnis aus, und Versammlungen
auf Grund des Glaubens waren auch die einzigen, die zu Beginn des Jahrhunderts
möglich waren.13

In der Zeit Österreich-Ungarns wurde dann die Entwicklung des National-


bewusstseins innerhalb der muslimischen Bevölkerung besonders durch die
Gründung von Vereinen und Vereinigungen geformt. Vor allem rund um das
Literaturblatt Behar entwickelte sich ein Kreis von Intellektuellen und Literaten,
der für die Entwicklung der bosniakischen Nation eine entscheidende Rolle
spielen sollte. Auf der anderen Seite wurde von der österreichisch-ungarischen
Verwaltung und hierbei insbesondere durch den Minister Kállay die Entwick-
lung einer national-politischen Eigenständigkeit und ihrer Abschirmung von
den Einflüssen aus den Nachbarstaaten (v. a. aus Serbien) betrieben. Das von
Kállay unter Rückgriff auf die Ideen des Großvesirs Osman Topal-Paša forcierte
Konzept der Entwicklung eines integrativen und interkonfessionellen Bosnia-
kentums (Bošnjaštvo), das sowohl Muslime als auch katholische Kroaten und
orthodoxe Serben rund um eine moderne nationale Ideologie hätte vereinen
sollen, setzte sich aber schließlich doch nicht durch.14 Bošnjaštvo und die damals
in Bosnien-Herzegowina favorisierte Sprachbezeichnung „bosnische Sprache“
blieben aber bis heute ein wichtiger Bezugspunkt für die bosnischen Muslime
bzw. die Bosniaken. Als staatseinendes Element bzw. als Kern einer überethni-
schen staatlichen Identität konnte das Konzept des Bosniakentums keine tiefe-

12 Vgl. Filandra 1998, pp. 11–20.


13 Ibid., p. 16, Übers. v. V.D.
14 Vgl. Malcolm 1996, p. 175 sowie Redžić 1963, pp. 81 ff.

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Ethnonationalismus in der longue durée?503

ren Wurzeln schlagen. Historisch betrachtet war aber die Zeit Österreich-Un-
garns in Bosnien-Herzegowina jene Phase, in der der maßgeblichste Versuch
einer von Außen mitgesteuerten staatlichen und über- oder transethnischen
Identitätsbildung erfolgte.

2. Bosnien in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg:


die 'nationale Frage' wird wieder virulent

Bei der Planung und späteren Gründung des ersten jugoslawischen Staates wur-
den die Vorstellungen der bosnisch-herzegowinischen Gemeinschaften nur am
Rande berücksichtigt. Während sich die meisten orthodoxen und auch katholi-
schen Vertreter den Vorstellungen ihrer politischen Anführer aus Serbien und
Kroatien anschlossen, waren die Muslime in Bezug auf ihre Vorstellungen von
der zukünftigen Ordnung des Raumes gespalten. Eine Gruppe rund um Šefik
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Arnautović und Safvet-beg Bašagić bevorzugte eine bosnische Autonomie in-


nerhalb Ungarns, eine andere Gruppe um Reis ul-Ulema Čaušević sprach sich
für die Beteiligung am neuen jugoslawischen Staat aus.15 Bedingt durch die
enorme Dynamik der Ereignisse gegen Ende des Ersten Weltkrieges gingen
die bosnisch-muslimischen Vorschläge unter und sollten fortan auch keine re-
levante Rolle bei der Entscheidung über die staatliche Neuordnung des jugo-
slawischen Gebietes nach Kriegsende spielen.
Bosnien-Herzegowina wurde in den neu gegründeten Staat, das „Königreich
der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS) integriert, wurde aber zwischen den
kroatischen und serbischen Interessen hin und her gerissen und spielte im Ers-
ten Jugoslawien politisch nur eine untergeordnete Rolle. Die Serben und Kroa-
ten vor Ort orientierten sich im neuen jugoslawischen Staat weiterhin stark an
den jeweils von Serbien und Kroatien als den dominanten Polen Jugoslawiens
vorgegebenen politischen Richtungen. Bei den Muslimen kam es in der Zeit
des Ersten Jugoslawien zur Stärkung des nationalen Selbstgefühls – und dies
nicht zuletzt wegen der stets intensiv betriebenen Unterscheidung zwischen
einzelnen ethnischen oder besser gesagt konfessionellen Gruppen, die auch den
Muslimen schärfere nationale Konturen verlieh. Muslime fanden sich auch im
Ersten Jugoslawien eingezwängt zwischen einer starken hegemonialen serbi-
schen Nationalideologie und einer in Bezug auf Bosnien ebenso starken kroati-
schen Ideologie. Zwar konnten sich die Muslime auf der Ebene des damaligen
jugoslawischen Staates politisch organisieren und durch Mehmed Spaho und
seine Jugoslawische Muslimische Partei (JMO) eine relevante Rolle im Staat

15 Imamović 1997, p. 476f.

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504 Vedran Džihić

spielen; eine starke und von Kroatien und Serbien nicht in Frage gestellte bzw.
herausgeforderte nationale Identität konnten sie nicht ausbilden.16
Die muslimische JMO unter Spaho kämpfte für die Erhaltung der regiona-
len und administrativen Identität Bosnien-Herzegowinas. Sie hatte dabei auch
einen gewissen Erfolg, den sie allerdings mit der Unterstützung der zentralis-
tischen Verfassung des Jahres 1921 bezahlen musste. Die historischen Grenzen
Bosnien-Herzegowinas blieben jedoch bei der damaligen Reorganisierung des
jugoslawischen Territoriums in 33 Provinzen (Oblasti) größtenteils erhalten. Die
sechs bosnisch-herzegowinischen Oblasti entsprachen den sechs Kreisen der
österreichisch-ungarischen Aufteilung, so dass „Bosnien als einziges der kons-
tituierenden Elemente Jugoslawiens auf diese Weise seine Identität erhielt“.17
Allerdings blieb diese Identität nur auf territoriale Grenzen beschränkt; auf der
politischen Ebene wurden die Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina durch
die Dynamik des sich verstärkenden Gegensatzes zwischen den beiden großen
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jugoslawischen Nationen, der serbischen und kroatischen, bestimmt.


Die Entwicklung der muslimischen Nation verlangsamte sich in dieser Zeit.
„Der Prozess der ‘Nationalisierung’ der Muslime blieb insgesamt nur auf die
politische und gesellschaftliche Elite beschränkt und erreichte nicht die breite
Masse der Bevölkerung.“18 Gleichzeitig vollzog sich auch ein anderer Prozess:
Durch die im jugoslawischen Gebiet und auch in Bosnien immer stärkeren säku-
larisierenden Tendenzen und in Folge des Prozesses der langsamen politischen
muslimischen Emanzipation (also der Stärkung der politischen Bedeutung der
Bezeichnung „muslimisch“) kam es nach und nach zur Unterhöhlung der streng
konfessionellen nationalen Konnotation bei den Muslimen.19
Die Suche nach einem optimalen interkonfessionellen bzw. interethnischen
Gleichgewicht innerhalb Bosnien-Herzegowinas im Spannungsverhältnis zwi-
schen dem starken, vereinnahmenden kroatischen und serbischen Nationalis-
mus einerseits und den Emanzipationsversuchen der bosnischen Muslime an-
dererseits, die den Kern dieser „bosnischen Frage“ ausmacht, wurde prolongiert
und – nicht zuletzt auf Grund des Verlaufs des Zweiten Weltkrieges – unter
anderen Vorzeichen im sozialistischen Jugoslawien fortgesetzt. Die Ereignisse
des Zweiten Weltkrieges, der auf dem Grundgebiet Bosnien-Herzegowinas be-
sonders intensiv ausgetragen wurde und stark von erbitterten ethnonationalen
Kämpfen und dem konkurrierenden Verhältnis der serbischen und kroatischen
nationalistischen Ideologie geprägt war, beeinflussten die interethnischen Be-

16 Vgl. Imamović 1997 u. Filandra 1998.


17 Malcolm 1996, p. 195.
18 Vgl. Kasapovi ć, Mirjana: Bosna i Hercegovina podijeljeno društvo i nestabilna država.
Zagreb: Politička kultura 2005, p. 93.
19 Vgl. Malcolm 1996, p. 195ff.

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Ethnonationalismus in der longue durée?505

ziehungen nachhaltig. Die bereits aus früheren historischen Perioden bekann-


ten Vereinnahmungsversuche der bosnischen Muslime durch die kroatische
bzw. serbische Seite erlebten im Zweiten Weltkrieg einen Höhepunkt.20
Die Tito-Partisanen wurden im Laufe des Krieges immer mehr zu einer do-
minanten Bewegung, die auch mit zunehmender Unterstützung der lokalen
Bevölkerung rechnen konnte. Die Vorstellung von Tito und seines engsten
Kreises über die zukünftige staatliche Neuordnung Jugoslawiens und Bosni-
en-Herzegowinas wurden zunehmend immer konkreter. Man griff schließlich
auf die Idee zurück, das neu zu bildende Jugoslawien nach dem Krieg als eine
Art Bundesstaat aus sechs Verwaltungseinheiten einzurichten, wovon eine
Bosnien-Herzegowina in seinen historischen Grenzen und mit drei „gleichbe-
rechtigten“ Völkern sein sollte. Aus diesem Grund betrachteten es Tito und
sein Beraterkreis als ihre Aufgabe, den Vorstellungen von einem „kroatischen“
oder „serbischen“ Bosnien-Herzegowina entgegenzutreten und in diesem Zu-
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sammenhang auch die spezifische nationale Identität der bosnischen Muslime


als Ausgleichsmechanismus für die aggressiven Ansprüche aus Kroatien und
Serbien zu fördern.21 Hier haben wir eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Zeit
der österreichischen-ungarischen Herrschaft, die wie weiter oben ausgeführt
insbesondere in der Zeit von Kállay die Stärkung der bosniakischen und den
Aufbau einer übernationalen Identität als ausgleichendes Instrument für die
beiden starken Nationalismen in Serbien und Kroatien vorantrieb. Der positive
Bezug zu der Region während des Zweiten Weltkrieges als fester Bestandteil des
Partisanen-Narrativs („Bosnien-Patriotismus“) sowie die anationale Ideologie
des Kommunismus sollten dabei helfen. Auf bosnischem Boden wurde auch
1943 die Entscheidung über die Gründung eines neuen Jugoslawien getroffen,
die Region in Liedern besungen und in Partisanen-Filmen als Ort des heroischen
Widerstands gegen die Okkupationskräfte hochgehalten.22 Die Entwicklung
eines solchen Lokalpatriotismus sollte die Entwicklung Bosnien-Herzegowinas
ab 1945 entscheidend mitprägen.
Der Versuch, ein übernationales bosnisches Bewusstsein und die Suche nach
einer spezifischen Stellung für die bosnischen Muslime zu stärken, schlug sich
bereits während des Krieges nieder. Am 25. November 1943 fand in Mrkon-
jic-Grad jene Sitzung des Antifaschistischen Komitees der Volksbefreiung Bosnien
und Herzegowinas (Zemaljsko antifašističko vijeće narodnog oslobođenja Bosne i

20 Vgl. Hoare, Marco Attila: The History of Bosnia. From the Middle Ages to the Present
Day London: Saqi 2007, p. 202f.
21 Vgl. ibid., pp. 205–212; außerdem Ekmečić Fadil: Bosna. Kratka popularna povijest sa
prilozima. Paris: Librairie Ekmecic 1994, p. 68ff.
22 Vgl. Hoare 2007, pp. 235–242; dazu auch Leksikon YU-mitologije. Hg. v. Slađana
Novakoviću. Željko Serdarević. Beograd, Zagreb: Rende/Postscriptum 2005.

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506 Vedran Džihić

Hercegovine – ZAVNOBIH) statt, auf der entschieden wurde, dass Bosnien-Her-


zegowina eine gleichwertige Republik im neuen Jugoslawien werden sollte.
Dieser Beschluss kann als die Geburtsstunde der damals erst imaginierten
und später zumindest zum Teil real gewordenen modernen (sozialistischen)
bosnisch-herzegowinischen Staatlichkeit bezeichnet werden.23 In diesem Be-
schluss wird das erste Mal auch jene berühmte politische Redewendung ver-
wendet, wonach Bosnien-Herzegowina „weder den Serben noch den Kroaten
und noch den Muslimen gehört, sondern Serben, Kroaten und Muslimen ge-
meinsam“.24 Bei der Sitzung des Antifaschistischen Nationalkomitees zur Be-
freiung Jugoslawiens (AVNOJ) am 29. November 1943 in der bosnischen Stadt
Jajce wurde auch endgültig beschlossen, Bosnien-Herzegowina als eine von
sechs zukünftigen Teilrepubliken Jugoslawiens in seinen historischen Grenzen
wieder zu errichten.25
Die Bedeutung des Beschlusses des AVNOJ und insbesondere des ZAVNOBIH
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für die bosnische Staatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg war enorm; sie
strahlt bis in die Gegenwart hinein. Der Tag der ZAVNOBIH-Sitzung, der 25.
November, wird auch heute noch als Staatsfeiertag in Bosnien-Herzegowina
begangen, wird aber vor allem von Bosniaken und jenen Bürgern und Bürgerin-
nen gefeiert, die sich dem dominanten national(istisch)en Diskurs verweigern.
Die Ereignisse der 1990er Jahre, ein exklusiver und sich stark an Serbien und
Kroatien anlehnender Ethnonationalismus sowohl bei den bosnisch-herzego-
winischen Serben als auch bei den Kroaten haben dazu beigetragen, dass diese
den Bezug zur gemeinsamen staatlichen Geschichte und folglich auch zu diesen
Feiertag negieren. In der Republika Srpska (RS) wird ein eigener Nationalfeier-
tag gefeiert, während der überwiegende Teil der bosnisch-herzegowinischen
Kroaten den kroatischen Nationalfeiertag begeht. In beiden Fällen distanziert
man sich damit – unterschiedlich stark, wohl am vehementesten in der kroa-
tischen Politik – von bestimmten Elementen des sozialistischen Jugoslawiens,
während man gleichzeitig – v. a. auf der serbischen Seite – andere Elemente aus
der Tradition des antifaschistischen Kampfes der Partisanen hervorhebt und
feiert. Im ZAVNOBIH-Beschluss wird explizit die gleiche Teilhabe aller Völker
und Minderheiten am Staat formuliert, womit diesem Dokument ein – damals
natürlich sozialistisch geprägter – Kern des multiethnischen und bürgerlichen
Bosnien-Herzegowinas und damit auch einer möglichen übernationalen Staat-
lichkeit begründet wurde. Diese Interpretation ist auch heute v. a. bei Vertretern

23 Vgl. Hoare 2007, p. 29.


24 Ibid., p. 288.
25 Vgl. Calic, Marie-Janine: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. Frankfurt/M.: Suhr-
kamp 1996, p. 50f.

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Ethnonationalismus in der longue durée?507

einer übernationalen und multiethnischen Staatlichkeit eines jener Argumente,


mit denen der Anspruch auf die Gesamtstaatlichkeit untermauert wird.
Der Zweite Weltkrieg als eines der tragischsten Ereignisse in der neueren
bosnischen Geschichte war auch ein innerjugoslawischer und innerbosnischer
Krieg, in dem nicht zuletzt auch die durchaus unterschiedlich nationalen Vor-
stellungen der Kroaten, Serben und Muslime konflikthaft aufeinander trafen.
Die Kriegshandlungen und zahlreiche ethnisch motivierte Verbrechen sollten
im sozialistischen Jugoslawien tendenziell zu Gunsten der Konstruktion des
heldenhaften Partisanenkampfes als einem der wesentlichen Gründungsmythen
des neuen Staates verdrängt werden bzw. jedenfalls nicht genügend und nicht
offen genug aufgearbeitet worden sein. Nur so war es möglich, dass der Zweite
Weltkrieg in Zeiten der sich zuspitzenden Krise des sozialistischen Jugoslawiens
in den 1980er Jahren und dann umso mehr zu Beginn der 1990er Jahre in den
neuen ethnonationalistischen Bewegungen zu einem wichtigen Bezugspunkt
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wurde. Er wurde in dieser Zeit zu einem der bedeutendsten contested issues


innerhalb Bosnien-Herzegowinas und diente sowohl der ethnischen/nationalen
Abgrenzung als auch der Mobilisierung entlang ethnischer Bruchlinien. Dies
wurde durch das Dayton-Abkommen formalisiert und erschwert auch mehr als
zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Jugoslawien-Kriege den Prozess der Kon-
solidierung und der Befriedung der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft.

3. Nationalitätenfrage im sozialistischen Jugoslawien


Bosnien-Herzegowina war im Rahmen des sozialistischen Jugoslawiens in der
Tat eine besondere Teilrepublik: Es war die einzige politische Entität, die nicht
als ‘Nationalstaat’ eines der jugoslawischen Völker konzipiert wurde, sondern
als ‘kleines Jugoslawien’. Im wirtschaftlichen Bereich setzte man v. a. in Bos-
nien stark auf breit angelegte Industrialisierung der Gesellschaft, die eine große
Auswirkung auf das Selbstbewusstsein der Menschen innerhalb der jugosla-
wischen Föderation hatte;26 speziell wurde ein Schwerpunkt im Bereich der
Militärindustrie gesetzt. Das trug zum wirtschaftlichen Aufschwung der zuvor
wirtschaftlich armen Republik und zum Aufstieg einer neuen selbstbewussten
Klasse von bosnisch-herzegowinischen Politikern in den Gremien des Bundes
der Kommunisten Jugoslawiens bei. Die rapide Verbesserung der Lebensbedin-
gungen sowie ökonomische und gesamtgesellschaftliche Modernisierung waren
ebenfalls ein Grund dafür, dass die Bevölkerung dem sozialistischen System und
v. a. auch Tito äußerst positiv gegenüberstand.

26 Allcock 2000, p. 68ff.

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508 Vedran Džihić

Ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges vollzog sich auch der langsame, aber
stete Prozess der in der sozialistischen Ideologie begründeten „Befreiung“ der
Nationen von ihren ethno-kulturellen Elementen. Für die Sozialisten war der
Abschied von kulturell bestimmten Nationen ein wichtiger Schritt im Prozess
des Aufbaus einer solidarischen und übernationalen Arbeitergesellschaft. Dies
war nach Mappes-Niediek „der Preis für die Anerkennung, die die Nationen
im Kommunismus erfuhren. Alles, was über die grundlegenden Markierungen
der Nationalität hinausging: Sprache, Schrift, Namen, wurde unterdrückt. Die
Religion wurde aus dem öffentlichen Leben ferngehalten“.27 Ein Prozess der
Säkularisierung setzte ein, der – v. a. in urbanen Gebieten – in den 1960er und
1970er Jahren zur Herausbildung einer breiten säkularen Schicht von Bürgern
führen sollte, die sich selbst jenseits ihrer ursprünglichen nationalen Identität
als Jugoslawen und Bosnier deklarierten. Jedenfalls versuchte das sozialistische
Regime aus ideologischen Gründen, eine nicht transparente und offene, aber im
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Kern ausgewogene Nationalitätenpolitik zu betreiben, die sich in Bosnien-Her-


zegowina in einer penibel eingehaltenen Gleichbehandlung aller drei Völker
niederschlug. Dazu Anđelić:
Careful observance of inter-ethnic relations was a constant feature in Yugoslavia and
the republic grew much stronger. Equality of all ethnic was imposed and preserved
most of the time. Economic development, a significant improvement in the standards
of living, security and the suppression of any political thought critical of the ruling
ideology at its very roots, were major characteristics of the system. On this basis
the communists handled ethnic politics. Although it was not transparent, political
leaders in Bosnia-Herzegovina were always chosen according to the principle that
all three ethnic groups would be represented equally. The politicians, however, never
acted as ethnic representatives, but as leaders of the whole Bosnian political nation.
This kind of rule secured peaceful, and indeed prosperous, inter-ethnic relations in
the country.28

Ein Teil der Bemühungen um die Stabilisierung und Verbesserung der im Zwei-
ten Weltkrieg eskalierten interethnischen Beziehungen und damit um die Lö-
sung der „nationalen Frage“ war sicherlich auch die Politik des jugoslawischen
Regimes, mit der die Emanzipationsprozesse jener Völker unterstützt wurden,
die im 19. Jahrhundert im Gegensatz zu Kroaten oder Serben keinen so intensi-
ven Prozess der nationalen Integration durchlaufen hatten. Der Jugoslawismus
wurde in dieser Zeit zur ideologischen – und sicherlich stark dogmatischen
– Formel, unter der v. a. die kleineren jugoslawischen Völker wie Mazedonier,

27 Mappes-Niediek, Norbert: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus
lernen kann. Berlin: Links 2006, p. 154.
28 Anđelić 2003, p. 18f.

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Ethnonationalismus in der longue durée?509

Muslime oder Kosovo-Albaner einen Prozess der intensiven kulturellen Ent-


faltung und der Stärkung der eigenen nationalen Identität erfuhren.29 Die Ideo-
logie des Jugoslawismus mitsamt der Nationalitätenpolitik trug somit zu einer
deutlichen Verschiebung der Verhältnisse zwischen den einzelnen Republiken/
Nationen landesweit wie auch innerhalb Bosnien und Herzegowinas bei. Vor
allem die Muslime erlebten als eine im Vergleich zu Serben und Kroaten ‘ver-
spätete Nation’ eine Phase der nationalen Emanzipation.30
Was waren die Eckpunkte dieser Emanzipation der Muslime im Rahmen des
sozialistischen Jugoslawien? Die Position der Muslime innerhalb Bosnien-Her-
zegowinas war bis in die 1960er Jahre unklar. Sie konnten sich bei der Volks-
zählung 1948 entweder als „Muslime/Serben“ und „Muslime/Kroaten“ oder als
„Muslim, national unbestimmt“ deklarieren: 72.000 erklärten sich als Serben,
25.000 als Kroaten, aber eine große Mehrheit von 778.000 deklarierte sich als
unbestimmt. Bei der nächsten Volkszählung 1953 konnten sich Muslime als „Ju-
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goslawe/national unbestimmt“ eintragen, was 891.800 Menschen taten.31 In der


Volkszählung des Jahres 1961 konnten sich die bosnischen Muslime das erste
Mal als Muslime – mit einem großen „M“ im Serbokroatischen geschrieben – im
Sinne der Nationalität eintragen. 1963 wurde wurden „Muslime“ als Nation/ali-
tät in die bosnische, im Jahr 1968 in die Bundesverfassung aufgenommen.32 Am
deutlichsten kam der Grundsatz der sozialistischen Führung in der Formel zum
Ausdruck, die im Rahmen der 20. Sitzung des Zentralkomitees des Bundes der
Kommunisten Bosnien und Herzegowinas im Jahr 1968 verabschiedet wurde:
Die Freiheit des Individuums und der Äußerung nationaler Gefühle und Zugehö-
rigkeit ist eines der wesentlichen Elemente der Gleichberechtigung der Menschen
und Völker. Die Praxis hat gezeigt, dass die unterschiedlichen Arten des Drucks und
des Insistierens darauf, dass sich Muslime in nationaler Hinsicht als Serben bzw. als
Kroaten deklarieren müssen, schädlich war, da sich auch schon früher gezeigt hat,
und dies beweist auch die heutige sozialistische Praxis, dass die Muslime ein eigenes
Volk sind.33

Mit den Verfassungsänderungen des Jahres 1974 wurden Muslime auch ver-
fassungsrechtlich als eine der drei konstitutiven Nationen in Bosnien-Herze-
gowina anerkannt. Die neue Verfassung der „Sozialistischen Föderativen Re-

29 Melčić, Dunja: Jugoslawismus und sein Ende. In: Dies.: Der Jugoslawien-Krieg. Hand-
buch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Opladen, Wiesbaden: Westdt. Verlag
2
2008, pp. 208–227.
30 Vgl. dazu Zgodić, Esad: Ideja bosanske nacije i druge teme. Sarajevo: Zalihica 2008.
31 Vgl. Malcolm 1996, p. 229ff.
32 Vgl. Imamović 1997, pp. 562–569, Filandra 1998, p. 229ff.
33 Zit.n. Filandra 1998, p. 237 [Übers. V.D.].

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510 Vedran Džihić

publik Bosnien und Herzegowina“ aus dem Jahr 1974 bringt also das erste Mal
die Erwähnung der Muslime, Serben und Kroaten als staatstragende Völker im
Haupttext und nicht nur in der Präambel der Verfassung. So heißt es in Artikel 1:
The Socialist Republic of Bosnia-Hercegovina is a socialist democratic state and so-
cialist self-managing democratic union of working people and citizens, nations of
Bosnia-Hercegovina – Muslims, Serbs and Croats, members of other nations and na-
tionalities who live in it, based on the government and the self-management of the
working class and all working people and on the sovereignty and equality of the
nations of Bosnia-Hercegovina and the members of other nations and nationalities
who live in it.34

Die Anerkennung der Muslime als „Nation“ hatte durchaus Einfluss auf die
anderen beiden bosnischen Volksgruppen. Aus der Sicht kroatischer und ser-
bischer Nationalisten war die Anerkennung der muslimischen Nation in den
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1960er Jahren nämlich ein direkter Angriff auf ihre Vormachtstellung in Bosnien
und auch im jugoslawischen Staatenbund. Francine Friedman stellt diesbezüg-
lich fest:
I argue, however, that official recognition of the Bosnian Muslims made them vulnera-
ble to Serb and Croat pressures, because neither group would accept the Bosnian Mus-
lims as anything more than a religious entity – certainly not as a national entity.35

Dieser Druck der serbischen und der kroatischen Seite war aber kein konstanter
und in allen Punkten aggressiver. Die bosnischen Muslime konnten durchaus
ab den 1960er Jahren – selbstverständlich immer nur im Rahmen des Bundes
der Kommunisten Jugoslawiens – an ihrer politischen und gesellschaftlichen
Verankerung als wichtiges Subjekt der jugoslawischen Föderation arbeiten und
zu einem wichtigen politischen Faktor innerhalb Jugoslawiens werden. Auf
Grund der paritätischen Aufteilung der wichtigsten Posten auf Republiks- und
Staatsebene bekleideten eine ganze Reihe muslimischer Politiker wie Hamdija
Pozderac oder Raif Dizdarević hochrangige Positionen in Staat und Partei. Auch
in Kunst, Kultur und im intellektuellen Leben nahm Bosnien-Herzegowina mit
der Hauptstadt Sarajevo eine wichtige Rolle innerhalb Jugoslawiens ein. Nicht
zuletzt die Vergabe der olympischen Spiele 1984 an Sarajevo brachte einen zu-
sätzlichen Impuls für die Entwicklung des Landes und damit indirekt auch für
die bosnischen Muslime. Die Stärkung des nationalen Bewusstseins der bos-
nischen Muslime und ihre gestiegenen politischen und kulturellen Ansprüche

34 Zit. n. Hoare 2007, p. 332f.


35 Friedman, Francine: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation. Boulder, Oxford: West-
view Press 1996, p. 1.

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Ethnonationalismus in der longue durée?511

wurden jedoch in Teilen der serbischen und kroatischen nationalen Elite nicht
immer mit Wohlwollen betrachtet. Durch die Stärkung der Muslime ergaben
sich auch in der Frage der Ausbalancierung des ethnischen Gleichgewichts, die
zu einem wichtigen Teil durch die Verteilung der Posten in Staat und Partei auf
der Grundlage eines ethnischen Schlüssels erfolgte, neue und durchaus konflikt-
hafte Herausforderungen.36
Ab den 1970er Jahren veränderte sich der Charakter der jugoslawischen und
damit auch der bosnischen Staatlichkeit als eines Spiegelbilds der neuen jugo-
slawischen Verhältnisse deutlich. Der Grund war aber nicht nur die Anerken-
nung der Muslime als Nation, sondern vielmehr die Tatsache, dass die viel-
fachen politischen und zunehmend auch wirtschaftlichen Unzufriedenheiten
aller Nationen vom Streben nach größerer nationaler Autonomie wie von einem
Löschpapier aufgesogen wurden. Der kroatische Nationalismus, der seinen Hö-
hepunkt im sog. „Kroatischen Frühling“ des Jahres 1971 fand, die ständigen
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Klagen der Serben über tendenzielle Benachteiligung in der Föderation, die


sich nach dem Sturz von Ranković und ersten Unruhen im Kosovo im Jahr 1968
verstärkten, wurden immer lauter.
Mit der Verfassung des Jahres 1974 wurde jedenfalls ein Höhepunkt des
Trends zur Dezentralisierung Jugoslawiens erreicht. Nach dieser Verfassung
erhielten die einzelnen Republiken und die autonomen Provinzen weitaus mehr
Selbständigkeit als zuvor, so dass die jugoslawische Föderation bereits Elemente
einer Konföderation besaß.
Neben diesen politischen Prozessen und damit verbundenen weitreichenden
Veränderungen der Situation Bosniens war die Zeit des sozialistischen Jugo-
slawiens zwischen 1945 und dem Tod Titos im Jahr 1980 v. a. durch die fort-
dauernde Ambivalenz der interethnischen Beziehungen innerhalb Bosniens ge-
kennzeichnet. Trotz der intensiven Bemühungen des sozialistischen Regimes,
die ethno-kulturelle Bestimmung der bosnisch-herzegowinischen Nationen
durch eine politisch-sozialistische, den Jugoslawismus präferierende und brei-
tenwirksame Entwicklung zu ersetzen, blieben alle Institutionen unterhalb der
Staatsebene weiterhin ethnisch strukturiert. Spätestens mit den 1970er Jahren
und dem offenkundigen Aufbrechen der nationalistischen Tendenzen innerhalb
Jugoslawiens wurde klar, dass die ethnonationalen Gegensätze sich in keiner
Weise aufgelöst hatten.37 Die politischen Eliten der einzelnen Republiken fan-
den in national(istisch)er Rhetorik den Weg zur Legitimierung ihrer eigenen
politischen Macht. Die einigende Ideologie des Partisanenkampfes und eines
Dritten Weges verlor zunehmenden an Strahlkraft und Wirksamkeit. Norbert

36 Vgl. Zgodić 2008, vgl. auch Mappes-Niediek 2005.


37 Vgl. Bugarel 2004, p. 63f .

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512 Vedran Džihić

Mappes-Niediek spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ethno-Falle“, in


die die jugoslawischen und bosnischen Sozialisten hineingetappt waren. Er ist
der Meinung, dass es gerade der Versuch der Aufrechterhaltung des ethnischen
Gleichgewichts war, der Jugoslawien und damit auch Bosnien-Herzegowina
zerstörte:
Das ethnische Gleichgewicht, kein immer wieder behauptetes Ungleichgewicht war
es, das Jugoslawien schließlich zerstörte. Der Versuch, dieses Gleichgewicht zu hal-
ten und immer wieder neu auszutarieren, versorgte Staat und Gesellschaft stets mit
reichem Konfliktstoff. Das ethnische Gleichgewicht gab dem Vielvölkerstaat seine
Legitimation – und zugleich zerstörte es alle anderen möglichen Legitimationen, auch
die sozialistische. Und mit der Legitimation zerstörte es zugleich den Staat.38

Die Lage in Bosnien-Herzegowina war aber auch in dieser Hinsicht noch eine
Spur komplexer und widersprüchlicher. Als einzige Republik, die drei konstituti-
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ve Völker besaß, wurde es in Folge der Anerkennung und der politischen Eman-
zipation der Muslime zu einem Land, in dem die tagtägliche Austarierung des
nationalen Gleichgewichts in allen Institutionen der Republik besonders subtil
und schwierig war. Die Politik, die sich nach dem sog. und in Bosnien-Herze-
gowina so oft in Debatten paraphrasierten „nationalen Schlüssel“ strukturierte,
führte durchaus zu politischen Kämpfen und Rivalitäten, die nicht zuletzt auch
innerhalb des bosnisch-herzegowinsichen Zentralkomitees sichtbar waren.
Auch der Einfluss der nationalen Institutionen aus Serbien und Kroatien (z. B.
durch die Serbische Akademie der Wissenschaften oder die Matica Hrvatska)
und der religiösen Instanzen (hier auch der islamischen Gemeinschaft in Bos-
nien, die immer selbstbewusster auftrat) wurde in den 1970er Jahren stärker.
Auf der anderen Seite gab es jedoch v. a. in urbanen Zentren und innerhalb der
gebildeteren Schichten der Bevölkerung ein ausgeprägtes überethnisches und
überkonfessionelles Bewusstsein als Bosnier.39 In diesem Umfeld kam es auch
zu einem überproportional hohen Anteil an sog. Mischehen, die innerhalb der
urbanen Schichten bzw. der sog. „sozialistischen Arbeitsklasse“ ein weit ver-
breitetes Phänomen waren.
Am Beispiel der Mischehen wird auch ein Konflikt zwischen zwei Grundprin-
zipien der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft sichtbar, nämlich zwischen
dem Konzept des bereits diskutierten komšiluk und des građanstvo (Bürgerlich-
keit). Das Konzept der Mischehe kollidierte direkt mit dem System des komšiluk,
bei dem statt der persönlichen und intimen Nähe wie im Falle der Mischehen
die räumliche Nähe zwischen den Mitgliedern der jeweils anderen ethnischen

38 Mappes-Niediek 2005, p. 75.


39 Vgl. Allcock 2000, p. 227.

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Ethnonationalismus in der longue durée?513

Gemeinschaft im Vordergrund stand. In den Mischehen, von denen es in den


1980er Jahren etwa 12 % in ganz Bosnien-Herzegowina gab (in urbanen Ge-
bieten wie in Sarajevo, Tuzla, Mostar, Banja Luka etc. lag dieser Prozentsatz
deutlich höher, in Sarajevo z. B. bei 28 %), wurde das Prinzip der individuellen
Entscheidungsfreiheit und damit des bürgerlichen Prinzips (des citoyen) ver-
körpert, das der Logik hinter dem komšiluk-Prinzip widersprach.40
Seit Beginn der 1990er Jahre wird durch die exklusive ethnonationale Politik-
praxis das latente Aufeinanderstoßen der beiden Konzepte zu einem manifesten
Konflikt zwischen den einzelnen ethnonationalen Gemeinschaften umgewan-
delt. Aus der gesamten Palette der ambivalenten sozialen Alltagswelten Bos-
nien-Herzegowinas sollten sich dann v. a. jene durchsetzen, die auf ethnonatio-
naler Exklusivität als politischem Prinzip und der ständig heraufbeschworenen
Angst und Bedrohung vor dem jeweils Anderen basierten.
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4. 1980er Jahre: rapider Wandel von Politik und Gesellschaft


Der Charakter der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft und Politik verän-
derte sich unter den Bedingungen der seit dem Tod Titos im Jahr 1980 sich
vertiefenden strukturellen Krise des jugoslawischen Staates und damit auch des
sozialistischen Modells der Staatlichkeit nachhaltig. Die Aktualisierung der na-
tionalen Fragen, die Schwäche der ideologischen Klammer des Jugoslawismus
und des Konzepts der „Brüderlichkeit und Einheit“ sowie die wirtschaftlichen
Schwierigkeiten trugen zur zunehmenden Delegitimierung des sozialistischen
Regimes bei.
In der sich zuspitzenden Krise des jugoslawischen Staates und des sozialisti-
schen Modells in den 1980er Jahren kam es zur Entstehung eines neuen Typus
des Nationalismus, der sich einerseits – wie im Fall von Slobodan Milošević
– hinter den Forderungen nach der Reform des innerjugoslawischen Gefüges
versteckte.41 Auf der anderen Seite verbanden sich v. a. in den westlichen und
besser entwickelten jugoslawischen Republiken Kroatien und Slowenien For-
derungen nach mehr Rechten und einer stärkeren Dezentralisierung bzw. einer
Konföderalisierung Jugoslawiens mit Teilen der anti-jugoslawischen nationalis-
tischen Bewegungen, die – wie im kroatischen Fall – von der antisozialistischen
Diaspora und von Kirchenkreisen unterstützt wurden.42 Das Hochspielen der

40 Vgl. Bugarel 2004, p. 124f.


41 In der Literatur bezeichnet man diese Art des Nationalismus in den 1980er Jahren als
einen „bürokratischen Nationalismus“. Vgl. Popov, Nebojša: Srpska strana rata. Trauma i
katarza u istorijskom pamćenju, I i II deo, drugo izdanje. Beograd: Republika 2002.
42 Vgl. dazu Šunjić, Melita H.: Woher der Haß? Kroaten und Slowenen kämpfen um Selbst-
bestimmung. Wien: Amalthea 1992; Ramet, Sabrina P.: Balkan Babel. The Disintegration

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514 Vedran Džihić

im Rahmen des jugoslawischen Staates nicht gelösten nationalen Frage und ihre
Instrumentalisierung für politische Zwecke vertiefte jedenfalls die Krise und
beschleunigte den Zerfall des Staates.
Auch in Bosnien-Herzegowina verstärkten sich in der Spätphase des sozialis-
tischen Jugoslawiens die nationalistischen Tendenzen, die sich zunächst einmal
in stärkeren Tendenzen der muslimischen religiösen Emanzipation und einem
verstärkten „antimuslimischen serbischen Nationalismus“ äußerten.43 Unter
dem Vorwand des notwendigen Schutzes der Nationen vor der Durchdringung
mit (negativen) religiösen Elementen und des Beharrens auf säkularen nationa-
len Identitäten versuchte die politische Führung der Republik, diese Tendenzen
zu unterbinden. Ein Höhepunkt beim Vorgehen gegen muslimische Aktivisten
war der Prozess gegen 13 Männer rund um Alija Izetbegović, die – so der dama-
lige Vorsitzende des Präsidium des bosnischen Zentralkomitees Hamdija Poz-
derac – wegen „de facto Forderungen nach einem ethnisch reinen Bosnien und
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nach Organisierung eines islamischen Staates“44 und „feindseliger und konter-


revolutionärer Handlungen aus muslimisch nationalistischen Gründen“ ange-
klagt wurden.45 Schließlich wurde der spätere bosnische Präsident Izetbegović
als Verfasser der Islamischen Deklaration (die ein allgemein philosophisches
islamisches Werk ist und keine Hinweise auf Bosnien-Herzegowina bzw. den
Wunsch nach der dortigen Errichtung eines islamischen Staates enthält)46 zu
einer 14-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die in der Berufung auf elf Jahre re-
duziert wurde. Scheinbar um einen „ethnischen Ausgleich“ zu schaffen, fand ein
Jahr später in Sarajevo ein ähnlich aufgebauter Prozess gegen den serbischen
Nationalisten und heutigen Angeklagten des Kriegsverbrechertribunals in Den
Haag, Vojislav Šešelj, statt.
Diese beiden Prozesse waren ein Ausdruck des Bestrebens zur Absicherung
der Macht des Bundes der Kommunisten in Bosnien-Herzegowina und des Ver-
suchs zur Aufrechterhaltung des ethnischen Gleichgewichts in der bosnischen
Politik. Die damalige sozialistische Elite sollte nur wenige Jahre später im Zuge
der Agrokomerc-Affäre ab 1987 einen totalen Kollaps erleben. Dieser spektaku-
läre Wirtschaftsskandal in einem prosperierenden Geflügelbetrieb in Nordwest-
bosnien, der 1987 13.000 Menschen beschäftigte und dessen Direktor und späte-

of Yugoslavia from the Death of Tito to the Fall of Milosevic. Boulder: Westview Press
4
2002 sowie auch Little, Allan / Silber, Laura: Bruderkrieg. Der Kampf um Titos Erbe.
Graz, Wien: Styria 1995.
43 Malcolm 1996, p. 240.
44 Vgl. Filandra 1998, p. 325; Filandra schildert in seinem Buch ausführlich diesen Prozess,
seinen Verlauf und Folgen (ibid., pp. 325–347).
45 Malcolm 1996, p. 241.
46 Vgl. Izetbegović, Alija: Islamska deklaracija. Sarajevo: Oko 1990.

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Ethnonationalismus in der longue durée?515

res Mitglied des ersten bosnischen Präsidiums nach 1990, Fikret Abdić, enorme
Popularität genoss, hatte enorme Folgen. Viele Muslime waren überzeugt, dass
der Skandal von Belgrad aus organisiert war, um einige der prominentesten
bosnisch-muslimischen Politiker, v. a. Hamdija Pozderac, zu Fall zu bringen.
Pozderac trat von seinen Ämtern zurück und die überwiegend muslimische Be-
völkerung in der gesamten Nordwestregion litt danach sehr stark unter Folgen
einer sich verstärkenden Wirtschaftskrise.
Die Agrokomerc-Affäre und ihre Folgen führten zur Diskreditierung des So-
zialismus-Gedankens und der bosnischen sozialistischen Elite. Solange jedoch
die politische Führung der Kommunisten im Großen und Ganzen geschlossen
gegen die nationalistischen Tendenzen auftrat, konnten die ersten kleineren
interethnischen Zwischenfälle ab 1987 Bosnien noch nicht wesentlich destabi-
lisieren. In einer Umfrage aus dem Jahr 1988 konnte sogar eine hohe positive
Einstellung in Bezug auf den Jugoslawismus, der in Bosnien ein Symbol für
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Toleranz und gegenseitigen Respekt zwischen den drei ethnischen Gruppen


war, festgestellt werden.47
Zu diesem Zeitpunkt wurde die Krise des jugoslawischen Staates, der in den
schrittweisen Zerfallsprozess hineinschlitterte. Neben der Delegitimierung des
jugoslawischen Staats- und Gesellschaftsmodell hielt auch eine andersgeartete
gesellschaftliche Rationalität Einzug in Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina.
Es entwickelte sich eine spezifische „mentale Ebene“, die dazu führte, dass die
Bürger in der Absicherung der eigenen Nation gegenüber den anderen Na-
tionen, Republiken oder Völkern (wie innerhalb Bosniens) bzw. im dadurch
entstehenden subjektiven Gefühl einer individuellen „Sicherheit“ im Rahmen
eines größeren Kollektivs (der Nation) eine wesentliche Leistung sahen, die
ihre politischen Vertreter erfüllen sollten. Dies schuf ideale Voraussetzungen
für das Wirken der neuen – ehemals sozialistischen – ethnonationalen Eliten,
die teils aus Überzeugung und teils aus reinem Machtkalkül den Nationalismus
gekonnt einsetzten, um die politische Kontrolle über die einzelnen Republiken
zu erlangen bzw. abzusichern.
Bosnien-Herzegowina fügte sich in den Trend ein; unter dem Einfluss der
Nationalismen aus Serbien und dann auch aus Kroatien vollzog sich eine rasche
Ethnonationalisierung der Gesellschaft.48 Wie bereits geschildert, stellte diese
Teilrepublik auf Grund ihrer spezifischen Geschichte und der großen Ambiva-
lenzen im Leben und Erleben der ethnonationalen Unterschiede ein Gebilde

47 Lt. Anđelić 2003, p. 73, hatten von 35 % der Befragten in Bosnien, die sich als Jugoslawen
verstanden, 86,2% eine sehr positive Einstellung zum Jugoslawismus. Eine ähnlich posi-
tive Einstellung hatten auch jene, die sich als Serben bzw. Kroaten deklarierten (79,6%)
oder als Muslime (83,9%)
48 Vgl. ibid.

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516 Vedran Džihić

dar, in dem die ethnonationale Frage auch im sozialistischen Jugoslawien als


ein besonders wichtiger, wenn nicht entscheidender Faktor für das Funktio-
nieren der Gesellschaft war. Dies war v. a. auch durch die Grundantagonismen
der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft bedingt, durch gegensätzliche und
sich bedingenden Strukturmerkmale – jenes des komšiluk auf der einen und der
latenten ethnischen Spannungen auf der anderen Seite.49
Bei diesen beiden gegensätzlichen Polen ist auch der Unterschied zwischen
einer lebensweltlichen Alltagsebene und der Ebene des Politischen wesentlich.
Waren die Beziehungen zwischen den drei Ethnien auf der Ebene des Alltags
in Form von komšiluk geregelt – also respektvoll und einander gegenseitig in
positiver und produktiver Form weitgehend ergänzend und bedingend –, waren
sie auf der politischen Ebene von Konkurrenz und Konflikt geprägt. Solange
der Staat in der Lage war, einen stabilen und funktionierenden Rahmen für
den toleranten, sich gegenseitig unterstützenden Umgang miteinander zu ga-
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rantieren, konnte man von einem mehr oder weniger harmonischen und gut
ausbalancierten zwischenethnischen Umgang sprechen. Sobald aber der Staat
schwächer wurde und der politische Kampf um Ressourcen aller Arten sich ver-
stärkte (und das Politische also begann, die Ebene des Alltags zu bestimmen),
geriet das subtil austarierte Modell ins Wanken und verkehrte sich in seinen
Gegensatz. Die ehemals im komšiluk-Konzept garantierte Sicherheit im Alltag
wurde jetzt in der – mitunter auch gewalttätigen – Konkurrenz zu den jeweils
anderen gesucht.50
Generell betrachtet waren die Ambivalenzen der unterschiedlichen Lebens-
formen sowie die gegenseitige Verwebung und Beeinflussung der scheinbar
unvereinbaren Gesellschaftsentwürfe in Bosnien und Herzegowina dafür ver-
antwortlich, dass man sowohl Formen des toleranten und das Ethnische trans-
zendierenden Lebens – wie z. B. v. a. in den Fällen der sog. Mischehen – vorfin-
den konnte, als auch Formen der Skepsis und gewisser Distanz zu den ethnisch
jeweils Anderen. Dieses Misstrauen wurde auch durch die Erinnerungen an
Verbrechen des Zweiten Weltkrieges bzw. in den jeweiligen und aus Serbien und
Kroatien stark forcierten Geschichtsnarrativen, die stets historische Differenzen
betonten, genährt. Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre kam es unter
den Bedingungen der allgemeinen Krise und der verstärkten politisch-nationa-
listischen Konkurrenz zwischen einzelnen jugoslawischen Republiken schließ-
lich zu schrittweisen Veränderungen der inneren Struktur der bosnisch-her-

49 Als ein weiteres Merkmal gab es eben auch die bereits beschriebenen Ansätze des
građanstvo, die sich aber angesichts der Stärke der ersten beiden Merkmale nur im gerin-
geren Ausmaß innerhalb der urbanen und fortschrittlichen Schichten etablieren konn-
ten. Vgl. Bugarel 2003, p. 125ff.
50 Vgl. ibid.

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Ethnonationalismus in der longue durée?517

zegowinischen Gesellschaft. Die Beziehungen zwischen den drei ethnischen


Gruppen bzw. Nationen zueinander entwickelten sich fortan immer deutlicher
in Richtung Konflikt; die anderen zivilen Formen der Vergemeinschaftung und
der intensiven Zusammenlebens wurde immer stärker in den Hintergrund ge-
drängt.
So kann auch der Grundkonflikt der modernen bosnischen Geschichte in den
1980er Jahren als ein Konflikt zwischen dem modernen Prinzip der Verstaat-
lichung mit dem Bürger (citoyen) im Mittelpunkt und jener anderen Form der
Vergemeinschaftung bezeichnet werden, bei der das ethnonationale Kollektiv
als Staatlichkeitssubjekt figuriert. In Bosnien bekam dieser Konflikt jene spezi-
fische Note, die auch die Zeit nach dem Kriegsende 1995 stark prägen wird:
Indem die Alltagskonzepte des komšiluk (susjedstvo) und des građanstvo (Bür-
gerlichkeit) von neuen ethnonationalistischen Eliten politisiert wurden, konnte
in einer Zeit des rapiden Verlustes der politischen Steuerungsfähigkeit des jugo-
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slawischen Staaten und einer allgemeinen Atmosphäre der Verunsicherung in


der Bevölkerung das kollektivistische Prinzip der strengen Trennung der einzel-
nen Ethnien von einander Vorrang vor der Praxis des gemeinsamen Lebens und
der Nivellierung der kollektiven Grenzen durch die Alltagspraxis gewinnen. Die
Verschiebung des Politischen hin zu einer konflikthaften und ausgrenzenden
Kategorie, die sich der ethnischen Differenz bediente, um die eigene Machtbasis
abzustützen, wurde so unter der Bedingungen der allgemeinen Krise der jugo-
slawischen Gesellschaft Ende der 1980er Jahre zur politischen Norm.

5. Krieg 1992–1995 als das Elementarereignis der jüngeren


bosnisch-herzegowinischen Geschichte

Der Krieg von 1992 bis 1995 markierte jenes Ereignis in der modernen Ge-
schichte Bosnien-Herzegowinas, das bis heute als absoluter Bezugspunkt für
die Aufrechterhaltung des Ethnonationalismus und damit der jeweiligen Eth-
nostaatlichkeit dient. Die Frage nach der Erinnerung an den Krieg im ex-jugo-
slawischen Gebiet und insbesondere in Bosnien lässt sich nicht von der Er-
innerung an den Zweiten Weltkrieg und die interethnische Gewalt in diesem
Zeitraum loslösen, ebenso wenig von der Erinnerung an die in der Zeit des
Tito-Jugoslawien unter ideologischen Vorzeichnen betriebenen Auseinander-
setzung mit der Vergangenheit und einer jegliche ethnischen Unterschiede ver-
wischenden Identitätspolitik. So konnten die nationalistischen Parteien zu Be-
ginn der 1990er Jahre in ihrer Erinnerungs- und Identitätskonstruktionspolitik
nahtlos an nicht-thematisierte Dimensionen der Tito-Ära anschließen bzw. mit
Verweis auf diese Unterlassungen der Tito-Zeit in ihren Geschichtsversionen

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518 Vedran Džihić

in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg „wühlen“ und sich jeweils als Opfer dar-
stellen. In dieser Darstellung sahen sich die Kroaten als Opfer der serbischen
Hegemonialpolitik, die Serben als Opfer des kroatischen faschistischen Staates
NDH und die Bosniaken als Opfer der beiden aggressiven Großstaatsprojekte
in der Nachbarschaft. Vom Opferstatus des Zweiten Weltkrieges über die Opfer
der Unterdrückung durch das Tito-Regime bis hin zum Opferstatus im Kontext
der „neuen Demokratie“, der sich aus der unmittelbaren Bedrohung durch die
jeweils anderen ableitete, war kein weiter Weg zu den Kriegen und zum heute
vorherrschenden exklusiven Anspruch auf die ethnonationale Selbstständigkeit
und damit auf die Gestaltung der Geschichte, der eigenen Denkmäler, auf das
Stilisieren von Kriegsverbrechern zu Helden, v. a. aber auch auf die exklusive
Beherrschung des eigenen ‘reinen’ nationalen Territoriums. All diese Prozesse
wurden und werden auf der Ebene der Alltagswelt begleitet und in unterschied-
lichen Facetten widergespiegelt.51 „Offizielle“ Narrative werden dabei von per-
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sönlichen Narrativen begleitet und bedingen sich gegenseitig.52


Der Krieg in Bosnien und Herzegowina und die vielfältigen (Miss-)Interpre-
tation des Krieges prägen bis heute entscheidend die bosnisch-herzegowinische
Realität. Der Krieg und die politische Bestätigung seiner Ergebnisse durch die
Bestimmungen von Dayton haben zur Verankerung einer grundlegenden Para-
doxie in Post-Dayton-Bosnien geführt: mit einem Friedensabkommen, das den
Rahmen für die friedliche Transformation und Demokratisierung der Gesell-
schaft unter internationaler Aufsicht schaffen sollte, wurde das Kriegerische
und v. a. das Konflikthafte in der Beziehung der drei Volksgruppen zueinander
auf allen Ebenen der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft nachhaltig ver-
ankert.
Mit der nur scheinbaren Neutralität und Äquidistanz in Bezug auf alle drei
Kriegsparteien wurden die Voraussetzungen für Interpretationen des Day-
ton-Abkommens durch die drei großen ethnischen Gruppen und ihre politi-
sche bzw. intellektuelle Führung geschaffen, deren Ausgangspunkt die jeweils
ethnisch gefärbte (da in Dayton nicht geklärte) Verklärung des Krieges darstellt.
So verstehen sich bosnische Serben bis heute als Opfer der Kroaten und der Bos-
niaken, die Bosniaken als Opfer der kroatischen und serbischen Aggression und
bosnische Kroaten als Leidtragende der aggressiven und hegemonialen Politik
der Serben und Bosniaken. Entsprechend wird beliebig in der Geschichte gegra-
ben, uminterpretiert, neu und ‘richtig’ gedeutet, und all dies immer im bewuss-
ten Gegensatz zu den Positionen der jeweils anderen Seite, die im öffentlichen

51 Bougarel, Xavier / Helms, Elissa / Duijzings, Ger (Hg.): The New Bosnian Mosaic. Identi-
ties, Memories and Moral Claims in a Post-War-Society. Aldershot: Ashgate 2007, p. 24f.
52 Ibid., p. 21.

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Ethnonationalismus in der longue durée?519

Bewusstsein einer koordinierten Diffamierung ausgesetzt wird. Dieser Prozess


kann anhand von Schulbüchern und ethnisch getrennter Unterrichtsräumlich-
keiten dokumentiert werden53 und lässt sich auch in unterschiedlichen Berei-
chen des Alltags gut verfolgen.54 Geschichte und Gegenwart Bosniens werden
dadurch zu einem Spielplatz von verklärenden und einander ausschließenden
Fantasien über die Vergangenheit und den Krieg. Die „Politik der Fantasie“ wur-
de somit zu einem fixen Bestandteil der Ethnopolitik.55
Die Erinnerungen an den Krieg sind in Bosnien untrennbar mit verschie-
densten existenziellen Ängsten verbunden. Bereits vor dem Krieg wurde die
Angst vor der angeblichen Bedrohung durch die Mitglieder der jeweils anderen
Volksgruppe zum wirksamen Mittel zur ethnonationalen Mobilisierung und zur
Absicherung der ethnonationalen Herrschaft, die in der Zeit seit dem Kriegs-
ende nicht abgenommen hat. So wird Angst im Prozess der Reproduktion der
eigenen ethnischen Gruppe eingesetzt, indem die ethnisch jeweils Anderen als
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potenzielle Gefahr dargestellt werden.


Die ethnische Unterscheidung zwischen ‘Uns’ und den ‘Anderen’ gewinnt
v. a. in Krisensituationen an Bedeutung; Gewalt (in der Vergangenheit bzw.
Angst vor Gewalt in der Zukunft) trägt in Zeiten allgemeiner gesellschaftlicher
Verunsicherung dazu bei, dass der „Groupism-Effekt“56 auftritt und Ethnizi-
tät als ordnende und selektierende Kategorie an Bedeutung zunimmt.57 Ihre
Wirkung als „interpretative Matrix“ ist dabei umso stärker, je größer der Bezug
zu einem vorangegangenen Konflikt ist und je größer dieser Bezug mit sub-
jektiver Angst bzw. dem Gefühl der Bedrohung verbunden ist. Dieser durch
die ethnonationale Mobilisierung zu Beginn der 1990er Jahre und durch die im
Krieg geschaffenen territorialen und symbolischen vollendeten Tatsachen stabi-
lisierte interpretative Rahmen wurde mit Dayton und der politischen Praxis in
Post-Dayton-Bosnien legitimiert und damit auf unbestimmte Zeit prolongiert.
So entstand jener für die Entwicklung der bosnischen Staatlichkeit verhäng-
nisvolle Komplex der Ethnopolitik, die sich von den Krisen der Zeit ab 1995
nährt, die Angst vor dem ethnisch jeweils Anderen zum politischen Prinzip
erhebt und das Ethnische als wirksamste Machterhaltungsstrategie bzw. Mittel
zur Absicherung partikularer Privilegien instrumentalisiert. Die Wirkung der

53 Das Thema des ethnisierten Unterrichts wird in der bosnischen Öffentlichkeit immer
wieder diskutiert.
54 Vgl. Jansen, Stef: Remembering with a Difference. Clashing Memories of Bosnian Con-
flict in Everyday Life. In: Bougarel/Helms/Duijzings 2007, pp. 167–193.
55 Vgl. Zgodić, Esad: Politika fantazije. O ratu protiv Bosne i Herecegovine. Sarajevo: DES
Sarajevo 2005.
56 Vgl. Brubaker 2006.
57 Mujkić, Asim: „Zatvorenikova dilema“ i njene implikacije u etnopolitici Bosne i Hercego-
vine. In: Godišnjak [Sarajevo] 2007, pp. 31–44.

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520 Vedran Džihić

Angst als eines integralen Bestandteils des ethnischen Prinzips beschrieb Ivan
Lovrenović noch 2004 wie folgt:
Die Angst ist der primäre Reflex, der die politischen Beziehungen zwischen den drei
ethnischen Gemeinden in Bosnien-Herzegowina bestimmt, und zwar in jenem Aus-
maß, in dem das die drei regierenden nationalen Parteien einen solchen Charakter der
zwischenethnischen Beziehungen festgelegt haben. Angst, tiefes Misstrauen, Unfähig-
keit für die Öffnung gegenüber einer anders gearteten Zukunft, geschweige denn vor
einer gemeinsamen Zukunft! Würde man diesen Zustand analytisch und begrifflich
korrekter bezeichnen wollen, könnte man fast sagen, dass diesbezüglich der Krieg
noch nicht beendet wurde, sondern nur in latenter Form sich in die Mimikry-Formen
des kollektiven politischen Verhaltens, der Aspirationen, der Ängste, Fantasien etc.
verwandelt hat.58

An diesem Muster hat sich bis heute nichts geändert. Lovrenović präzisiert
auch, dass es bei den drei großen ethnischen Gruppen Unterschiede in der Aus-
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prägung der Angst gibt. So haben die bosnischen Serben v. a. die Angst vor der
Auflösung der RS, die sie als den letzten Schutz vor unitaristischen Tendenzen
und damit einer Dominanz der Bosniaken betrachten. Die bosniakische Angst
geht auf den Krieg und seine Ergebnisse zurück und besteht darin, dass die Bos-
niaken neuerlich Opfer der Kroaten und Serben werden könnten. Die Kroaten
hingegen fürchten sich davor, von den beiden größeren ethnischen Gruppen
innerhalb Bosniens unterdrückt zu werden und setzen alles daran, diese Angst
durch die offensive Politik der Stärkung der kroatischen Identität und durch den
Kampf um die Errichtung einer dritten Entität zu überwinden.59
Vor dem Hintergrund einer solchen ‘Angst-Landschaft’, die aus der Furcht der
einen ethnischen Gruppe vor der Bedrohung durch die jeweils andere besteht
und bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit und Relevanz eingebüßt hat, sind
die Chancen für die Stärkung einer Gesamtstaatlichkeit, die Abschwächung des
Ethnonationalismus sowie für die Verbesserung der interethischen Beziehun-
gen gering. Eine Normalisierung müsste in diesem Sinne auch bedeuten, dass
die Angst als gestalterisches Prinzip der Politik in Post-Dayton-Bosnien-Herz-
egowina verschwinden müsste. Mit ihrem Verschwinden und damit verbunden
einer Normalisierung des Politischen könnte die Macht der oben erwähnten
Daytoner „interpretativen Matrix“ reduziert werden.60 Die Normalisierung je-
doch scheint zum Hauptfeind der ethnonationalen politischen Eliten geworden
zu sein. Ein ’normales’ Bosnien würde sie des Ethnischen als der zentralen
Mobilisierungs- und Legitimierungsstrategie berauben.

58 In: Feral Tribune v. 07.05.2004 [Übers. V.D.].


59 Ibid.
60 Mujkić 2007, p. 43.

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Ethnonationalismus in der longue durée?521

6. Die Ethnonationalisierung der bosnischen Gesellschaft als


zentrales Paradigma der modernen bosnischen Staatlichkeit

Im politischen Bereich kam es als Folge des militärischen Konflikts zu einer


weitgehend unhinterfragten Fortsetzung des im Krieg festgeschriebenen Den-
kens in ethnischen Kategorien, das nach einem Ausschlussmechanismen zwi-
schen ‘Uns’ und ‘den Anderen’ den Rahmen für die Bemühungen um die Wie-
derherstellung der gemeinsamen bosnischen Staatlichkeit abgab. Angesichts
der Dauer, der Intensität und der Brutalität, mit der gekämpft wurde, und der
bewussten Benutzung des Ethnischen als der Mobilisierungs- und Machtabsi-
cherungsstrategie im Vorfeld und während des Krieges, ist dies nicht weiter
verwunderlich.
Die (partielle) Anerkennung der gewaltsam erzielten ethnischen Territorial-
grenzen der drei Krieg(er)staaten hatte natürlich strukturelle Folgen, nämlich
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die Formalisierung des ethnonationalen Prinzips und seine implizite Festschrei-


bung als des obersten Staatsprinzips. Die im Annex 4 des Abkommens ent-
haltene neue Verfassung von Bosnien und Herzegowina ist der Tradition der
während des Krieges vorgelegten Friedenspläne verpflichtet und damit vom
ethnischen Prinzip dominiert. Diese Logik findet ihren realpolitischen Nieder-
schlag in der Teilung des Landes in zwei ethnisch definierte Entitäten und der
Festlegung des ethnisch definierten Bürgers und der entsprechenden Kollektive
als der Subjekte des neuen Staates. Mit dem Akt der Schaffung beider Entitäten
wurde der Status quo der gewaltsam erzielten ethnischen Territorialgrenzen ak-
zeptiert. Die zugleich im Dayton-Abkommen festgehaltene Absicht, die Gesamt-
staatlichkeit bzw. den multiethnischen und multikulturellen Charakter Bosniens
zu schützen und zumindest in einzelnen Bereichen wiederherzustellen, erwies
sich – wie im weiteren Verlauf der Studie dokumentiert werden wird – als
unzureichend, um die enorme Virulenz und Dynamik des Ethnonationalen in
Bosnien zu konterkarieren.
Die Ethnoterritorialisierung in Dayton und die damit indirekt sanktionierten
Bevölkerungsverschiebungen als Ergebnis des Krieges haben sich – wie die
Entwicklungen der Jahre ab 1995 bis heute zeigen – als sehr widerstandsfä-
hig erweisen. Das Ergebnis des Daytoner-Pragmatismus und des Zwangs zum
Kompromiss haben aus Bosnien-Herzegowina ein Land gemacht, das weitge-
hend aus ethnisch ‘reinen’ Gebieten besteht und sich somit in seinem Charakter
grundsätzlich von der Vorkriegszeit unterscheidet. Der bunte Fleckenteppich,
auf dem kompakte Siedlungsgebiete einer der drei Volksgruppen eher die Aus-
nahme darstellten (nach der Volkszählung 1991 hatte Bosnien-Herzegowina vor
dem Krieg 4.377.033 Einwohner, wovon 43,48% Muslime, 31,21% Serben, 17,38%

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522 Vedran Džihić

Kroaten und 5,54% Jugoslawen waren),61 verwandelte sich in weitgehend ge-


schlossene ethnische Gebiete nach dem Krieg.62 Betrachtet man diese Verschie-
bung an konkreten Beispielen einiger Städte, wird das Ausmaß der durch den
Krieg verursachten Verschiebungen augenscheinlich: In der Republika Srpska
liegen bspw. Städte, die vor dem Krieg eine Mehrheit an nicht-serbischer Bevöl-
kerung aufwiesen, wie z. B. Srebrenica (74,8% Muslime), Višegrad (62,8% Mus-
lime), Zvornik (59,4% Muslime), Prijedor (44,0% Muslime, 13,5% andere), Doboj
(40,2% Muslime, 13,0 Kroaten, 5,5% Jugoslawen), Odžak (54,2% Kroaten, 20,3%
Muslime), Bosanski Brod (41,0% Kroaten, 12,2% Muslime, 10,6% Jugoslawen)
usw. In der Föderation Bosnien-Herzegowina sind hingegen Städte mit einer
eindeutigen serbischen Mehrheit verblieben, wie z. B. Drvar (97,3% Serben), Bo-
sansko Grahovo (95,5%), Glamoč (79,3%) oder Bosanski Petrovac (75,2%).63 Die
ehemals multiethnische Stadt Banja Luka verwandelte sich in eine de facto ser-
bisch dominierte Hauptstadt der Republika Srpska, Sarajevo ist eine dominant
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bosniakische Stadt,64 Mostar auch lange nach dem Ende des Krieges eine geteilte
Stadt zwischen Kroaten und Bosniaken.
Die Folgen der beschriebenen Ethnoterritorialisierung für die grundsätzliche
Begründung der bosnischen Staatlichkeit sind abseits der Formalisierung der
territorialen Autonomie der ethnischen Kollektive in Kantonen und Entitäten
enorm. Die Spirale der Entfernung der einzelnen ethnischen Gruppen voneinan-
der, die sich schon in den späten 1980er Jahren stark zu drehen begann und die
ihren Höhepunkt im Wahnsinn des Krieges erreichte, wurde also durch Dayton
und nach Dayton fortgesetzt. Mit der ethno-politisch forcierten Entfernung der
einzelnen Völker Bosniens voneinander wurde das Fundament einer gemein-
samen Staatlichkeit weggerissen. Durch die Perpetuierung des krisenhaften
Zustandes in Post-Dayton-Bosnien wurde der Raum für die uneingeschränkte
Dominanz des Ethnonationalen als einer erprobten und in Augen ethnonatio-
naler Eliten äußerst effizienten Herrschaftstechnik geschaffen.
Und hier liegt der Kern des heutigen Problems in Bosnien und Herzegowina:
Die drei exklusiven ethnonationalen Konzepte der Serben, Kroaten und Bosnia-
ken schließen einander aus; die drei Völker sind aber gleichzeitig gezwungen,
zumindest formal im Rahmen eines gemeinsamen und von der internationalen

61 Vgl. Duraković 1993, p. 167.


62 Vgl. dazu Kurspahić, Kemal: Osmrtnica za ›leoparda‹. In: Radio Slobodna Evropa v.
24.10.2008, abrufbar unter www.slobodnaevropa.org/content/Article/1332460.html3.
63 Ergebnisse der Volkszählung 1991, zit. n. Oslobođenje, o.A.
64 Zur Veränderung des Charakters von bosnischen Städten werden in den bosnischen
Medien zahlreiche Debatten geführt. Im Band Bosnian Mosaic wird aus ethnografischer
Perspektive den Veränderungen des ethnischen Charakters von Städten und den Folgen
für die sozialen Alltagswelten und damit auch für die Staatlichkeit Bosnien nachgespürt;
vgl. Bougarel/Helms/Duijzings 2007.

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Ethnonationalismus in der longue durée?523

Gemeinschaft beaufsichtigten Staaten zu leben. Dieses Ausschließlichkeitsprin-


zip wird von den politischen ethnonationalen Bewegungen erfolgreich benutzt
und instrumentalisiert: die Politisierung und Vertiefung der Unterschiede mit
ethnonationalen Argumenten und unter beliebiger und stets exklusiver Ge-
schichtsinterpretation wird auch im 23. Jahr nach Dayton auf allen Ebenen ein-
gesetzt und fällt bei einer vielfach geschundenen und im Kampf um die Siche-
rung des Alltagsüberlebens abgestumpften Bevölkerung auf fruchtbaren Boden.
Das Ethnonationale wurde schrittweise auch in die habitualen Formen über-
nommen; diese wurden und werden wiederum von den sozialen und politischen
Strukturen als einzig richtige und gesellschaftlich (aber auch formal-rechtlich)
akzeptierte Denk- und Handlungsform nahezu vorausgesetzt. Die bosnische
Ethnopolitik heute wäre ohne Unterstützung seitens eines großen Teils der Be-
völkerung, die sich exklusiv ethnisch identifiziert und offensiv von der jeweils
anderen Ethnie abgrenzt, nicht möglich. Gleichzeitig verstärkt die Art und Wei-
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se, wie die Ethnopolitik in Bosnien in den formalen staatlichen Institutionen


auf der Staats-, Entitäts- und Kantonalebene praktiziert wird, das Bedürfnis der
Menschen nach Sicherheit innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe, das nach
Möglichkeit im Rahmen einer ethnoterritorial definierten politischen Gemein-
schaft bzw. Staatlichkeit realisiert werden sollte.
Angesichts dieses Befundes könnte man im Sinne von Pierre Bourdieu
schlussfolgern, dass der ursprüngliche Schein der konstruierten „Natürlichkeit“
des Ethnonationalen und damit einer ethnisch geprägten Post-Daytoner-Staat-
lichkeit im Laufe der Zeit seit 1995 zur bosnisch-herzegowinischen Realität ge-
worden ist, entgegen den vielfältigen strukturellen Spuren aus der bosnischen
Geschichte.65 Alle gegenteiligen und auf die Wiederbelebung jener Tradition
des Zusammenlebens hindeutenden Tendenzen, die durchaus in Randöffentlich-
keiten bzw. im einfachen tagtäglichen Umgang der Menschen miteinander zu
sehen sind, wurden und werden durch politisch gesteuerte und durch ethnische
Exklusivität geprägte Diskurse der Post-Daytoner-Politiker und Intellektuel-
len marginalisiert (ein gutes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit war die
starke übernationale Solidarität während der historischen Überschwemmungen
des Jahres 2014). Jegliche andersgeartete Erfahrung wird auf der Ebene des
Staatlichen und des Politischen verdrängt bzw. aktiv bekämpft. Das gesamte
Feld des Politischen bleibt somit auch in der Gegenwart auf die Ethnopolitik
reduziert. Die Logik dahinter ist weiterhin jene der unmittelbaren Kriegs- und
Postkriegstage in den 1990er Jahren – „ich kann nur dann gewinnen, wenn der
andere verliert“. Die ethnonationalen Parteien reduzieren somit ihre politische

65 Vgl. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M.:
Suhrkamp 1998, p. 99.

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524 Vedran Džihić

Verantwortung den Wählern gegenüber hauptsächlich auf den Schutz vor der
Bedrohung der eigenen Ethnie und der „vitalen nationalen Interessen“ der eige-
nen Volksgruppe.
Die Mehrheit der politischen Repräsentanten der drei bosnischen Volksgrup-
pen vertreten sie in diesem Punkt de facto gleich, in dem sie das Ethnische
benutzen, um die Legitimität für das eigene Handeln und für die demokrati-
sche Vertretung herzustellen. Politik und damit auch der Staat, in dem diese
praktiziert wird, werden dadurch zu einem ethnopolitisierten Marktplatz für
die Realisierung eigener Interessen, wodurch sich die Funktion des Staates als
eines dem Bürger dienenden Rahmens für die normale Führung des Lebens
auflöst. Der mittlerweile verselbstständigte Daytoner Ethnonationalismus hat
sich zu einer Kraft entwickelt, die es seinen Akteuren einfach macht, es als
Herrschaftsmittel einzusetzen. Laut Nerzuk Ćurak wird damit ein politisches
System aufrechterhalten, der den Schlechtesten die Zugehörigkeit zur Elite des
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Landes ermöglicht, die den Staat führt. Diese „Schlechtesten“ besitzen natürlich
ein immanentes Interesse an der Aufrechterhaltung des Krisenzustandes und an
weiterer Politisierung der ethnischen Unterschiede, die als probates Mittel zur
Prolongierung ihrer Macht eingesetzt wird.66
Die schwierige Lage der Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina, die weiter-
hin an niedrigem Lebensstandard, hoher Armut und hohen Arbeitslosenzahlen
leidet, vor allem aber am permanenten status quo ohne positive Zukunftsvi-
sionen verzweifelt, wird dadurch prolongiert. Der Staat nach Dayton ist also
nicht bzw. kaum in der Lage, seine Funktion als Garant der Stabilität und jene
Instanz wahrzunehmen, die für die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen
Güter und Ressourcen sorgen könnte und müsste. Das Versagen der staatli-
chen „Output-Leistungen“ im Sicherheitsbereich, im Bereich des Schutzes der
nationalen Rechte und der Minderheiten sowie eben im Bereich der gerechten
Verteilung der ohnehin knapp vorhandenen sozialen und ökonomischen Gü-
ter, tragen dazu bei, dass das Vertrauen der Bürger in die Politik und damit in
weiterer Folge in das Demokratiemodell schon lange schwindet und in politi-
sche Apathie umschlägt. Die fortdauernde Krise der bosnischen Staatlichkeit
nährt das Misstrauen, verstärkt die allgemeine Verunsicherung und etabliert
eine Form des ahistorischen Ur-Misstrauens als eines Kernelements der Dayto-
ner-Ethnostaatlichkeit, gewissermaßen als conditio-sine-qua-non der bosnischen
Nachkriegsstaatlichkeit. Eine direkte Folge davon ist massive Abwanderung
vor allem junger Menschen, die damit auch eine unmissverständliche Botschaft
aussenden, dass die Form des Politischen und des Gesellschaftlichen dem Land
die Luft zum Atmen nimmt.

66 Ćurak, Nerzuk: Obnova bosanskih utopija. Sarajevo, Zagreb: Synopsis 2006, p. 83f.

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Ethnonationalismus in der longue durée?525

7. Auswege im Denken und Handeln


Einige Zeit vor dem Beginn des Kriegs in Bosnien-Herzegowina brach man in
der Region des ehemaligen Jugoslawien in die vermutliche Freiheit auf. Das Ziel
war eine freie, demokratische, offene Gesellschaft, losgelöst von den Zwängen
des autoritären Regimes zuvor. Der Nationalismus, der sogleich zu wüten be-
gann, erstickte den Beginn der demokratischen Ära am Balkan und in Bos-
nien-Herzegowina. Das Versprechen von Freiheit und Demokratie wurde im
jugoslawischen Raum in den 90er-Jahren einfach nicht realisiert – vielmehr
wurden der gemeinsame Staat und die gemeinsame Wirtschaft von nationalis-
tischen Eliten vereinnahmt und systematisch ruiniert. Das Gemeinsame ging in
Flammen auf und machte Platz für das Partikulare; die Suche nach dem Unter-
schied wurde zum Kampf. Bosnien-Herzegowina machte von allen Staaten des
ehemaligen Jugoslawiens, die seit dem Beginn der 90er Jahre diesem Wirbel des
Übergangs ausgesetzt waren, die schnellste Metamorphose zu einem Land ohne
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Eigenschaften und einer Gesellschaft ohne Gesellschaft durch, gefangen in der


permanenten Gegenwart, in der das gemeinsame Vergangene mit Gewalt aus
unser aller Gedächtnis gelöscht werden sollte und Zukunft von den Verkündern
der nationalen Homogenität in drei diffuse Puzzleteile zerrissen wurde, die nach
einer Periode des nationalistischen Herumwütens von mehr als 20 Jahren auch
durch den besten Puzzle-Bauer zusammengesetzt nur noch ein wirres Bild ab-
geben würden. Das Ergebnis dieser Metamorphose, so kann man annehmen,
sollte aus der Sicht der nationalistischen Ideologen eine bessere Zukunft für
„uns“ – für uns Bosniaken, für uns Kroaten, für uns Serben sein.
Um richtig verstanden zu werden: Im exklusiven und atavistischen Bild von
der Erfüllung der Zukunftsträume durch die Vernichtung der gemeinsamen
Vergangenheit und das Einsperren in den jeweils eigenen – bosniakischen,
kroatischen oder serbischen – national-kollektiven Rahmen ist kein Platz für
die Anderen vorgesehen. In der Vorstellung vom reinen nationalen Körper sind
es die ethnisch jeweils Anderen, die für dessen Reinheit die größte Gefahr dar-
stellen. Vielleicht besser verständlich: In der Vorstellung vom vollkommenen
nationalen Körper stellen die Anderen die größte Gefahr für dessen Reinheit
dar. Sie sind es, vor denen wir – so suggeriert man uns – Angst haben sollen.
Im vorliegenden Beitrag wurde eine Analyse der vielfältigsten und widersprüch-
lichen Formen der (nationalen) Vergemeinschaftung in Bosnien und Herzego-
wina vorgenommen. Die Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen in der Ent-
wicklung der nationalen Frage, die sich am besten mit den Gegensatzpolen der
nationalen Exklusivität, des komšiluk und letztlich auch građanstvo beschreiben
ließen, wurde in der Post-Daytoner Zeit von einer Selbstverständlichkeit und

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526 Vedran Džihić

Natürlichkeit des exklusiven Ethnonationalismus und der Ethnopolitik als der


entsprechenden Machtpraxis abgelöst.
Will man den Weg zu einer modernen Staatlichkeit Bosniens bestreiten, wird
eine kritische Dekonstruktion der exklusiven nationalen Geschichtsschreibun-
gen abseits des herrschenden ethnonationalen Paradigmas notwendig sein. Wie
im Beitrag gezeigt werden konnte, verlief die Geschichte Bosnien-Herzegowi-
nas seit dem 19. Jahrhundert bis heute nicht geradlinig. Zumindest in zwei histo-
risch wichtigen Phasen – in der Zeit Österreich-Ungarns rund um die Jahrhun-
dertwende und im sozialistischen Jugoslawien – gab es relevante Versuche des
Aufbaus einer überethnischen und übernationalen Formation der bosnischen
Staatlichkeit. Wie Noel Malcolm in Bezug auf die Zeit von Österreich-Ungarn
feststellt, wäre die Politik der Bildung einer integralen bosnischen Identität
durch Kállay möglich gewesen, wenn es gelungen gewesen wäre, „die Ortho-
doxen und die Katholiken in Bosnien völlig von den religiösen, kulturellen und
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politischen Entwicklungen in den Nachbarländern abzuschotten.“67 Eine solche


Isolierung war damals nicht möglich, genauso wenig sie in der Zeit des sozia-
listischen Jugoslawiens möglich war, als man mit der Bildung einer über-na-
tionalen Volkskategorie der Jugoslawen den althergebrachten ethnischen und
nationalen Identitäten das Wasser abgraben wollte. Die Tatsache, dass sowohl
in der Zeit Österreich-Ungarns als auch ab 1945 der Gedanke einer gemeinsa-
men übernationalen staatlichen Identität in Bosnien vorhanden war und auch
heute noch – und dies trotz des blutigen Krieges der 1990er Jahre – von den
dominanten ethnonationalen Identitäten und politischen Identitätsmaschine-
rien nicht völlig vernichtet werden konnte und noch pulsiert, spricht dafür,
dass die derzeitige ethnonationale Kontingenz des bosnischen Gemeinwesens
historisch nicht die einzige Möglichkeit darstellt. Die Spuren dieses anderen
Bosniens müssen immer wieder aufs Neue freigelegt und auch und gerade im
heutigen Bosnien in den diskursiven Kampf gegen die ethnonationalistischen
Ideologien geführt werden.
Es stellt sich an dieser Stelle natürlich stets eine realpolitische Frage: Wie
können die ethnonationalistischen Gegensätze überwunden werden bzw. ist die
Überwindung solcher Gegensätze überhaupt für das Funktionieren einer Demo-
kratie sinnvoll? Chantal Mouffe bezieht dazu eine radikale demokratiepolitische
Haltung, indem sie meint:
Die Besonderheit demokratischer Politik liegt nicht in der Überwindung des
Wir-Sie-Gegensatzes, sondern in einer spezifischen Art und Weise seiner Etablie-

67 Vgl. Malcolm 1996, p. 177.

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Ethnonationalismus in der longue durée?527

rung. Demokratie erfordert eine Form der Wir-Sie-Unterscheidung, die mit der An-
erkennung des für die moderne Demokratie konstitutiven Pluralismus vereinbar ist.68

Und weiter:
Wollen wir einerseits die Dauerhaftigkeit der antagonistischen Dimension des Kon-
flikts anerkennen, andererseits die Möglichkeit ihrer ‚Zähmung’ zulassen, so müssen
wir eine dritte Beziehungsform in Aussicht nehmen. Für diese Form habe ich die Be-
zeichnung ‚Agonismus’ vorgeschlagen. Während der Antagonismus eine Wir-Sie-Be-
ziehung ist, in der sich Feinde ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen,
ist der Agonismus eine Wir—Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die
Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, dass es für den
Konflikt keine rationale Lösung ist.69

Was aber, wenn aus den Antagonismen mittlerweile schon seit nahezu drei
Jahrzehnten – wie in Bosnien-Herzegowina – keine produktiven Impulse für die
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Gesellschaft entstehen und die „gemeinsame Basis“ von Tag zu Tag schwächer
wird? Eine Antagonismen bearbeitende und transzendierende Form der agonis-
tischen Politik braucht eine Basis. Fehlt diese Basis, eben das Gemeinsame, oder
wurde sie gewalttätig geraubt und mutwillig zerstört, wird die Wiederbelebung
eines normalen Gemeinwesens schwer. In einer solchen Situation braucht es
eines radikalen Denkens abseits der bereits angetretenen Pfade, das in der Lage
ist, deutlich die Grenzen der in Post-Dayton-Bosnien mittlerweile verfestigten
Denkschemata der lokalen ethnonationalen „Eliten“ aufzuzeigen. Die schein-
bare Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit dieser von verantwortungslosen
politischen Eliten dominierten nationalistisch-egoistisch-pervertierten perma-
nenten Gegenwart Bosniens-Herzegowinas ist es, die es anzugreifen und dis-
kursiv und ideologisch und dann auch und vor allem real zu dekonstruieren gilt.
Diese Dekonstruktionshoffnung trägt natürlich auch einen utopischen Kern in
sich. Dazu Slavoj Žižek:
In ihrem innersten Kern hat Utopie nichts mit der Vorstellung von einer unmög-
lichen idealen Gesellschaft zu tun; charakteristisch für die Utopie ist vielmehr die (so
wörtlich) Konstruktion eines utopischen Raumes, eines gesellschaftlichen Raumes
außerhalb der existierenden Para-mater, der Parameter dessen, was im bestehenden
gesellschaftlichen Universum ‚möglich’ scheint. ‚Utopisch’ ist eine Geste, die die Ko-
ordination des Möglichen verändert. […] (U)topie (hat) nichts mit dem vom wirklichen
Leben abstrahierenden Traum von einer idealen Gesellschaft zu tun: ‚Utopie’ ist eine
Sache von höchster Dringlichkeit, etwas, in das wir um unseres Überlebens willen

68 Mouffe, Chantal: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Version, Frankfurt/M.:
Suhrkamp 2007, p. 22.
69 Ibid.

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528 Vedran Džihić

hineingestoßen werden, wenn es nicht mehr möglich ist, innerhalb der Parameter des
‚Möglichen’ weiterzumachen.70

Nun stellt sich die Frage, ob die neuen sozialen Protestformen, deren Zeugen wir
im Februar 2014 in Bosnien geworden sind, das Potenzial zur Veränderung der
Parameter des Möglichen und zur Entwicklung einer neuen produktiven Form
der agonistischen Politik haben? Dass in Bosnien im Februar 2014 den unver-
antwortlichen Politikern lautstark mitgeteilt wird, dass man politische Miss-
stände nicht mehr dulden wird, dass man gegen elitendominierte und korrupte
formaldemokratische Regime auf die Straße geht und zahlreiche Missstände
beim Namen nennt und dagegen ankämpft, ist jedenfalls ein (kleiner) Teil des
Erwachsenwerdens der Gesellschaft. Dass man die in der Regel nicht selbst ver-
schuldete soziale Misere nicht mehr einfach akzeptieren will, gehört auch zum
Prozess der demokratiepolitischen Emanzipation.
Bosnien-Herzegowina durchläuft einen langwierigen Prozess der demokra-
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tischen Gesellschaftswerdung, die nicht automatisch als Endziel angenommen


werden, aber dennoch erhofft werden darf. Diese verläuft nicht geradlinig, in-
kludiert immer wieder Rückschläge in autoritärer Form und ist ergebnisoffen.
Umso mehr sind auch die letztlich als einmaliges Ereignis in die Geschichte
Bosniens eingegangenen Protestformen sicherlich noch gesamtgesellschaftlich
betrachtet zarte Pflänzchen, die aber – da bin ich mir sicher – an Bedeutung als
einmal wahr gewordene Möglichkeit der alternativen Denk- und Handelspfade
gewinnen werden. Sie werden an Bedeutung gewinnen, weil sie in einem Zeit-
alter ohne Alternativen doch die Möglichkeit von Alternativen eröffnen. Allein
die Protestversammlungen in Bosnien-Herzegowina haben von Februar bis
Sommer 2014 mehr an konkreten Reformvorschlägen und konstruktiven Ideen
für einen besseren Staat geliefert als alle Regierungen von Dayton bis heute. Sie
haben vor allem Widerspruch angemeldet. Und letztlich geht es in jeder demo-
kratisch konstituierten Gesellschaft darum, dass man den Widerspruch anmel-
det, die Debatte darüber in einer demokratischen Öffentlichkeit austrägt, und
dabei aber das Allgemeinwohl und den Anderen nicht aus den Augen verliert.
Ein unvoreingenommener und befreiter Blick in die bosnisch-herzegowinische
Geschichte (und da ist sicherlich die Periode der österreichischen-ungarischen
Herrschaft eine zentrale) und ihre longue durée mag dabei jenen, die diesen Weg
gehen wollen, hilfreich sein.

70 Žižek, Slavoj: Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005,
p. 198f.

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EPILOG
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„Schau‘n gut aus“531

„Schau‘n gut aus“

Skizze zur Begriffslogik von Kolonie und Provinz

Martin A. Hainz (Eisenstadt)

Ein zusammengezwungenes Reich von hundert Völkern und hundertzwanzig Provin-


zen ist ein Ungeheuer, kein Staatskörper.1
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1.
Habsburg hatte keine Kolonien im üblichen Sinne, es war kein Imperium mit
Provinzen. – Was aber wäre das überhaupt: keine Provinz, keine Kolonie? Be-
bautes, bestelltes Land ist eine Kolonie, von lat. colere, spätestens bei Nennung
der Stammformen erkennt auch der Nicht-Lateiner, dass das mit Kultur zu tun
hat, „colo, coluī, cultum“. Das tut der „agrumcolens, der Landmann“, damit be-
fasst, zu „pflegen, […] bauen, bebauen, bearbeiten“, aber auch zu „bewohnen, […]
hausen, sich bleibend auf(zu)halten“ und jenen „Ort häufig (zu) besuchen“, womit
man ins Residieren gelangt. Das tut dann nicht mehr der Landmann, allenfalls
praktiziert man das vom Landtmann aus, dem 1873 gegründeten Café im Palais
Lieben-Auspitz. Kolonialisierung betrifft jedenfalls alles, was „physisch od. geistig
(zu) pflegen“2 ist.
Das Problem, das sich so herauskristallisiert, ist, dass Kolonie gerade dort ist,
wovon ausgehend eine Kolonie normalerweise gegründet worden wäre. Mit der
Provinz – von pro und vincere – wird es nicht besser, Siegesbeute bedeutet das,
„Wirkungskreis“3 meint es abstrakter. Jeder beanspruchte und einer Ordnung
unterworfene Raum ist dies indes aufgrund einer wie immer subtilen Operation

1 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. von
Heinz Stolpe. Berlin, Weimar: Aufbau 1965, vol. 2, p. 57.
2 Georges, Karl Ernst: Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, aus den Quel-
len zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitä-
ten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. Darmstadt: WBG 81998,
vol. 1, p. 1278.
3 Ibid., vol. 2, p. 2045.

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532 Martin A. Hainz

von Macht; es gilt für jede terra cognita bald, dass sie einigermaßen exklusiv
Wirkungskreis meine: „Nulle terre sans seigneur”4…
Also ist schon zum Beispiel ein Imperium selbst provinziell? Alternativ wäre
die Provinz oder Kolonie – wenn nämlich nicht das Weltreich, das als Summe
seiner von ihm nicht zu trennenden und also begrifflich nahezu inexistenten
Provinzen/Kolonien existiert – gar nicht: Die Provinz, die (noch) nicht integriert
ist, die also ihrer Ressourcen wegen gehalten ist, aber nicht Teil des Ganzen,
die nicht von jener Kultur ist, sondern entweder von einer anderen oder diffus
Natur, ist nicht errungen, sondern, wie sich in den Postcolonial Studies zeigt, mit
Widerstand und Widerstreit verknüpft – und verknüpft geblieben.
Diese Alternative billigt nicht, wer Kolonien und/oder Provinzen zu haben
vermeint und/oder beansprucht. Und so wird aufgrund der Begriffslogik das
Zentrum von dem heimgesucht, was es organisiert, von eben jenen Provinzen
und Kolonien also, die das nicht sind, sondern sich dem Zentrum gegenüber
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verändern, wie sie das Zentrum verändern: hin zum Knotenpunkt, wenn es
denn eines Bildes bedarf.5
Paul Gilroy schreibt über diesen Effekt:
This shift generates a view of the colony as rather more than an extractive commer-
cial operation. No longer merely a settlement, an adventure, an opportunity, […] and
a space of death, it can be recognized as a laboratory, a location for experiment and
innovation that transformed the exercise of governmental powers at home and con-
figured the institutionalization of imperial knowledge.6

2.
Das überspringt schon einen Schritt, aber da wird es – vielleicht – enden. Statt-
dessen sei gefragt, was die Architekturen ausdrücken, womit eine Provinz sicht-
bar zu dieser wird, wie also ein Stil beides fixiert: dass Kolonie nicht Zentrum,
aber auch nicht nicht-integriert ist. Dabei sind es zunächst Architekturen, die
den Besatzungsposten dienen. Extra mures sind diese, aber als Teil der mures,
als Vorposten derselben.
Sie sind dabei zugleich ein Bild der Integrität, und zwar außerhalb des Impe-
riums, aber dann doch dieses dort, wo es nicht ist, realisierend. Sie wiederholen

4 Im Hof, Ulrich: Das Europa der Aufklärung. München: Beck 1993 (Europa bauen), p. 63.
5 „kein Zentrum, […] sondern eher einen Knotenpunkt” – Serres, Michel et al.: Elemente
einer Geschichte der Wissenschaften. Hg. von Michel Serres, übers. v. Horst Brühmann.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998 (=stw 1355), p. 607.
6 Gilroy, Paul: Postcolonial Melancholia. New York: Columbia Univ. Press 2005 (= Wellek
Library Lectures), p. 43.

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„Schau‘n gut aus“533

dabei strukturell, was Kultur aber auch da ist, wo sie beginnt oder beginne/
begonnen habe: Kolonie ist, wie angedeutet wurde, zunächst das Zentrum, näm-
lich sich selbst kolonialisierend.
Das Zentrum setzt sich in der Kolonie wie sich so selbst, wie das absolute Ich
Fichtes, das gerade in seiner Absolutheit noch bloß nichts ist – vom „blossen
Seyn[.]“7 schreibt Fichte –, während alles, was (etwa: ausgedehnt) ist, bedingt
ist.
Die Art und Weise dieses Sich-Versicherns und Absicherns dessen, was das
sei, was da kolonialisiere, lernt und übt es gerade da immer wieder: im Kakanien
zu attestierenden Bewusstsein, dass es nichts gibt, was sich ausdehnte und was
das Einverleibte einer Assimilation unterziehen könnte, von dieser Neigung zum
Diskursivem abgesehen. Dieses dann geschulte Bewusstsein mag mehr denn der
Umstand, dass Wien und das Kernland als melting pot nahe einem Limes in sich
heterogen längst war,8 dazu beigetragen haben, dass und wie Wien immer schon
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an den Fronten, an denen es sich wörtlich definiert, war und sich demgemäß zur
Quasi-Kolonialmacht entwickelte: Die Art und Weise dieses Sich-Versicherns
und Absicherns dessen, was das sei, was da kolonialisiere, lernt und übt es da
immer wieder – an den Fronten, an denen es sich wörtlich definiert. Die Grenze
wird zu dem, was „Zukunftsprojekt“ vielleicht nur als „abgrenzungsschwaches“
ist,9 wie man den Worten Koschorkes entlang sagen kann.
Als diese Grenzziehung ist sie im Herzen dessen, was sich ausgedehnt habe;
Schnitzlers Leutnant Gustl formuliert dies in einer Passage, aus der die Titel-
worte dieses Essays stammen, über Österreich und seine Kolonien:
Der Burghof. Wer ist denn heut’ auf Wach’? – Die Bosniaken – schau’n gut aus – der
Oberstleutnant hat neulich g’sagt: Wie wir im 78er Jahr unten waren, hätt’ keiner
geglaubt, daß uns die einmal so parieren werden!10

7 Johann Gottlieb Fichte: Sämmtliche Werke. Hg. von I[mmanuel] H[ermann von] Fichte.
Bd. 1–8. Berlin: Veit & Comp. 1845–46, vol. 1, p. 96.
8 Kraus‘ Auflistung der sich deutsch wähnenden Österreicher „Popelak, Jnderka, Molinek,
Honsik, Haluschka, Budischowski, Konetschni, Dobrawski, Miklaucic, Horak, Jelinek,
Janota, Kudielka, Machatsch, Wawra, Prochaska, Machatschek und Viskozil“, der „Wort-
führer[n] des Alldeutschthums in Untersteiermark [:] Rakusch, Kokoschinegg, Stepisch-
negg, Kovatschitsch, Jessenko, Jabornegg, Ambrositsch, Mravlag, Besgorschak, Pod-
gorschegg, Scheligo, Pollanetz“ sowie der „Parteigänger[n] der Slovenisch-Nationalen
in Untersteiermark [:] Einspieler, Rauch, Kaisersberger, Fischer, Lippoldt, Mayer, Sittig,
Plapper, Schürzer, Rossmann, Blachmann, Sprachmann, Schuster, Rosenstein, Kramer,
Jahn“ ist bekannt – Kraus, Karl: Die Fackel. Nr 1 (April 1899) –Nr 922 (Februar 1936) in
39 Bänden + Supplementband. Fotomechanischer Nachdruck im Originalformat, hg. von
Heinrich Fischer. München: Kösel 1968–76, Nr 85, 16.11.1901, p. 11
9 Koschorke, Albrecht: Hegel und wir. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2013. Berlin: Suhr-
kamp 2015, p. 224.
10 Schnitzler, Arthur: Die Dramatischen Werke. Frankfurt/M.: S. Fischer 1962, vol. 2, p. 362.

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534 Martin A. Hainz

Das Zentrum der Macht wird von jenen gehütet, derer sie sich bemächtigte,
das setzt sich bis in das Subjekt (etwa Gustl) fort; der Kolonialisierte, zumal der
kolonialisierte Städter, gleiche dem Wiener, dies besagt der kurze Abschnitt. Der
Wiener ist umgekehrt der Kakanier, der denen gleiche, als Teil des Geflechts,
das statt eines Zentrums viele Knotenpunkte miteinander verbindet, von denen
keiner die Stupidität einer Identität oder des Identitären hätte, wie das heute von
dessen Verfechtern geheißen wird.
Kakanien verbindet Verbundene, konjunktivisch und konnektibel, deren Hy-
bridität das ist, was, wenn es das gäbe, Zentrum wäre; „der Hybrid, so minoritär
er auch sein mag, (hat) eine zentrale […] Funktion“11, schreibt Müller-Funk,
über das Wort zentral könnte man da streiten oder es ironisieren, nicht im
Landtmann, sondern im fast zentralen Café Dezentral (im zweiten Wiener Ge-
meindebezirk) oder im leicht dezentralen Café Central, nämlich dem in Baden
bei Wien.
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3.
Insofern meint der Begriff Kolonialmacht, daß ein Land sich zu universalisieren
und zu ironisieren vermag, eines durch das andere, nicht von abstrakter Größe
träumt, sondern seine Provinzialität versteht und darum ihr nicht aufsitzt: ein
„coquettish way“12 der Provinzialität, wenn man so möchte. Von jener Ironie ist
auch die Einladung zur Partizipation an die Kolonien, die dies so oder so nicht
blieben, wo sie dies blieben; die Kolonie ist begriffslogisch ja unmöglich.
Diese Ironie wird ironisch beantwortet, im Wissen darum, daß die Macht, die
sich so performiert, die einzige ist, aber nur als ironische:
Längst verstorbene Kaiser werden in unseren Dörfern auf den Thron gesetzt, und
der nur noch im Liede lebt, hat vor kurzem eine Bekanntmachung erlassen, die der
Priester vor dem Altare verliest. […]
So verfährt also das Volk mit den vergangenen, die gegenwärtigen Herrscher aber
mischt es unter die Toten. Kommt einmal, einmal in einem Menschenalter, ein kaiser-
licher Beamter, der die Provinz bereist, zufällig in unser Dorf, stellt im Namen der
Regierenden irgendwelche Forderungen, prüft die Steuerlisten, wohnt dem Schul-
unterricht bei, befragt den Priester über unser Tun und Treiben, und faßt dann alles,
ehe er in seine Sänfte steigt, in langen Ermahnungen an die herbeigetriebene Gemein-
de zusammen, dann geht ein Lächeln über alle Gesichter, einer blickt verstohlen zum

11 Müller-Funk, Wolfgang: Ein neues progressives Subjekt in der Welt? Anmerkungen zum
Diskurs über den Hybriden. In: wespennest 145 (2007/1), pp. 80–83, hier p. 81.
12 Hainz, Martin A.: In hoc Signo [Pro]vinces. Out-Sourcing the Hearts of Empires, the Case
of Chernivtsi (Czernowitz, Cernauti). In: Kakanien revisited, www.kakanien-revisited.at/
beitr/fallstudie/MHainz2.pdf(2008), pp. 1–4, hier p. 1.

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„Schau‘n gut aus“535

andern und beugt sich zu den Kindern hinab, um sich vom Beamten nicht beobachten
zu lassen. Wie, denkt man, er spricht von einem Toten wie von einem Lebendigen, die-
ser Kaiser ist doch schon längst gestorben, die Dynastie ausgelöscht, der Herr Beamte
macht sich über uns lustig, aber wir tun so, als ob wir es nicht merkten, um ihn nicht
zu kränken. Ernstlich gehorchen aber werden wir nur unserem gegenwärtigen Herrn,
denn alles andere wäre Versündigung.13

Diese Passage aus Kafkas Nachlaß zeigt den Gehorsam Kakaniens. Dessen Bür-
ger sind eingeladen zur Erlösung qua Ironisierung und Zivilisierung, etwa Habs-
burgisierung; „wer immer strebend sich bemüht, den können wir besteuern“14,
so lautet das Motto eines solchen Projekts vielleicht.
Es geht um Universalien, worin das Imperium Kakanien das, was ihm entge-
gensteht, eher sich als solches inkorporiert, als es frontal anzugehen.Dies wäre
in einer anderen Weise als der ironischen provinziell: „Provinz gegen Provinz“,15
wie es bei Suttner heißt.
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4.
Zugleich ist genau das, was die böse Seite des Verbindlichen ist – die Knoten
(statt des Zentrums, das nur im Kursiven fortbesteht), die das Imperium kons-
tituieren, sind …
… erstens solche, die zwar die Provinzen und das Zentrum einander anglei-
chen, aber nicht zwingend die Provinzen einander, die folglich disparat sind, wo
die Vermittlung, die das Zentrum leistet, durch dieses ausbleibt, und …
… zweitens in dieser Funktion auf weiteren Ebenen zu finden, siehe Kraus:
Es sei nur noch erwähnt, dass man auch in Bosnien das österreichische Princip der
Ausspielung einer Nationalität gegen die andere in Anwendung brachte und sogar
eine dritte schaffen wollte. Die Verwirrung wird immer ärger. 16

Die Schlamperei des Umgänglichen ist also genauer höchst präzise, präziser
jedenfalls als „die Exzesse kolonialer Gewaltherrschaft“17, die es gleichwohl

13 Kafka, Franz: Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod. Frankfurt/M.: S. Fischer 1950 ff., vol.
8, p. 60.
14 Vogl, Joseph: Mittler und Lenker. Goethes Wahlverwandtschaften. In: Ders. (Hg.): Poeto-
logien des Wissens um 1800. München: Fink 1999, pp. 145–161, hier p. 160.
15 Suttner, Bertha von: Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Dresden, Leipzig: E. Pier-
son‘s Verlag 1892, vol. 1, p. 71.
16 Kraus, Karl: Die Fackel, 1 Nr. 22 (Nov. 1899), p. 7.
17 Ruthner, Clemens: Habsburgs ‘Dark Continent’. Postkoloniale Lektüren zur österreichi-
schen Literatur und Kultur im langen 19. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2018 (= Kultur
– Herrschaft – Differenz 23), p. 22.

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536 Martin A. Hainz

auch gibt, quasi als das, was Kolonie und Kolonialmacht immer mitdefiniert:
bis ins erwähnte Subjekt, das im Falle Gustls fast Selbstmord begeht, im Falle
von Spiel im Morgengrauen aber tatsächlich: „Schlafen lassen. Bis ich von selber
aufwach’.“18
Im Subjekt ist sozusagen das Unerträgliche des Kolonialisierens, das Monst-
röse noch des Unterhandelns mikrologisch lesbar gegeben: „Das Monster erhebt
sich auf Geheiß des ‘Selbst’ […] des Textes in der und durch die Apostrophe, das
Monster ist das ‘Selbst’.“19
Kakanien ist nicht gemütlich und die Rede vom zum Beispiel „bosnische(n)
Paradies“20 – in Kraus‘ Fackel – hat einen Haken, verlässlich: paradiesisch
nimmt sich etwas auf Kosten von irgendwem und hier derer, die dort leben, aus.
Der Knoten bedarf seiner „bestimmte(n) Clientel, die nur auf ihn angewiesen
ist“,21 so schreibt Kraus andernorts – gleichfalls über kakanische Mißstände in
Bosnien-Herzegowina.
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Die Gefahr der Umkehr dessen besteht; angesichts der Eisenbahnverbindung


Banjaluka–Jajce beschreibt Kraus dies, da hier Österreich „erlangt hat, was Un-
garn niemals versagen wollte.“22 Dennoch ist ohne dieses Risiko die Chance
nicht zu haben.

5.
Zurück zu den Begrifflichkeiten und ihrer Logik. Kolonie und Provinz sind alles
und nichts. Kakanien hat dieses alles/nichts und ist also wie jede avancierte
Kolonialmacht diese nur …
… „als (Pseudo-) Kolonialmacht“, …
… als „so etwas wie eine Kolonialmacht“ oder …
… als „zwar keine Kolonialmacht“, aber durch die „kulturellen Formatierun-
gen“23 dem ähnlich, was eine wäre… wenn es, so würde ich das fortzusetzen
vorschlagen, eine Kolonialmacht denn gäbe.

18 Schnitzler, Arthur: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften. Frankfurt/M.: S. Fi-


scher 1961, vol. 1, p. 577.
19 Babka, Anna: Ambivalenzen einer Politik der Sichtbarkeit (Radical Representations!?). 3
Szenen zu den Radical Busts von Marianna Maderna. In: Dies. / Lasthofer, Katrin (Hg.):
Representation Revisited. Wien: Turia & Kant 2017 (= AKA-Texte 5), pp. 89–109, hier
p. 95.
20 Kraus: Die Fackel 22 (Nov. 1899), p. 7.
21 Ibid., Nr. 26, (Dez. 1899), p. 6.
22 Ibid., Nr. 58, (Nov. 1900), p. 3.
23 Ruthner 2018, p. 37.

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„Schau‘n gut aus“537

Im vorliegenden Band gebraucht Robert Donia ferner die Formel „Proximate


Colony“24.
Umgekehrt ist die (zum Beispiel kakanische) Provinz/Kolonie beansprucht,
und zwar als „part of a cosmos“25, wobei jedoch diese schmucke Ordnung, die
den Anspruch tragen möge, ihn auflöst, insofern sie das Beanspruchte – es ord-
nend – zugleich aus partikulären Ansprüchen löst … universalisiert: Ist die Welt
erst einmal „den Performanzen des Aktenanlegens unterworfen“,26 haben die
Performanzen das letzte als immer vorletztes Wort, ist anders formuliert prinzi-
piell „das ‘Mutterland’ nicht ganz eindeutig“27. Ordnung ist, was Ordnung sein
werde, oder Ordnungen, Adler + Adler:
„Kosmos“ steht für Ordnung, Harmonie, Gesetzmäßigkeit und Anstand, für die Welt,
für Himmel und Erde, aber auch für Schmuck, Verschönerung, Veredelung. Nichts
geht so tief wie der Schmuck […]; der Schmuck hat die Dimensionen der Welt.28
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6.
Abschließend seien daraus sieben Sätze abgeleitet:
§1: Wenn es Kultur gibt, kolonialisiert sie, …
§2: … und zwar sich und/oder das, was sie/ihr Ort sei, …
§3: … und potentiell alles.
§4: Kolonien, die integriert werden, sind diese Kultur, also keine Kolonien,
aber …
§5: … Kolonien, die nicht integriert werden, sind auch keine Kolonien.
§6: Kakanien kolonialisierte (darum) ironisch.
§7: Austriae Est Irritare Orbi Universo.

24 Siehe den Beitrag von Robert Donia im vorl. Sammelband.


25 Hainz 2008, p. 1.
26 Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt/M.: Fischer 32011 (=
FTB14927), p. 90.
27 Tamara Scheer in ihrem Beitrag zum vorl. Sammelband.
28 Serres, Michel: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Übers. von.
Michael Bischoff. Frankfut/M.: Suhrkamp 1998 (= stw 1389), p. 34.

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Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina539

Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina

Basisbibliografie1 unter besonderer Berücksichtigung der


österreichisch-ungarischen Epoche 1878‒1918
ALEKSOV, Bojan: Habsburg’s ‘Colonial Experiment’ in Bosnia and Hercegovina revisi-
ted. In: Brunnbauer, Ulf / Helmedach, Andreas / Troebst, Stefan (Hg.): Schnittstellen.
Gesellschaft, Nation, Konflikt und Erinnerung in Südosteuropa. Festschrift für Holm
Sundhaussen zum 65. Geb. München: Oldenbourg 2007 (= Südosteurop. Arbeiten),
pp. 201–216.
ALEKSOV, Bojan: Habsburg Confessionalism and Confessional Policies in Bosnia and
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Herzegovina. In: Ruthner et al., op. cit. (2015), pp. 83–122.


ALTAROZZI, Giordano: La lunga strada verso Dayton. Alle origini del conflitto bosnia-
co. Roma: Apes 2016, pp. 59–68.
ANČIĆ, Mladen: Society, Ethnicity, and Politics in Bosnia-Herzegovina. In: Časopis za
suvremenu povijest [Zagreb] 36 (2004), nr. 1, pp. 331–359.
ANDERSON, M.S.: The Eastern Question, 1774–1923. London: Macmillan 1991 [1966].
[ANONYM]: Milena Mrazović-Preindlsberger als Autorin der Reiseberichte über
Bosnien-Herzegowina. Online unter: http://fedora.phaidra.univie.ac.at/fedora/
get/o:50965/bdef:Content/get (o. J.).
ANTIĆ, Marina: Living in the Shadow of the Bridge. Ivo Andrić’s ‘The Bridge over the
Drina’ and Western Imaginings of Bosnia. In: Spaces of Identity 3.3 (2003),
www.spacesofidentity.net.
ARATÓ, Endre: Madjarsko javno mnjenje i Bosna i Hercegovina (1875–1878). In:
Petrović, Rade (Hg.): Međunarodni naučni skup povodom 100-godišnjice ustanaka
u Bosni i Hercegovini, drugim balkanskim zemljama i istočnoj krizi 1875–1878.
godine. Sarajevo: Akademija nauka i umjetnosti Bosne i Hercegovine 1977, vol. 2,
pp. 49–53.
AUSTRIACA [Rouen] 74 (2013): Vienne – porta Orientis.
BABUNA, Aydın: Die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit bes. Berück-
sichtigung der österreichisch-ungarischen Periode. Frankfurt/M. et al.: P. Lang 1996
[gedr. Diss. der Univ. Wien 1994.]
BABUNA, Aydın: The Emergence of the First Muslim Party in Bosnia-Hercegovina. In:
East European Quarterly [Boulder] 62 (1996), pp. 131–151.

1 Anm. der Hg.: Diese Literaturliste wurde aus den Beiträgen des vorl. Sammelbands kom-
piliert. Evidente Lücken wurden nach Rücksprache mit den Kolleg(inn)en gefüllt; wir
danken Catherine Horel (Paris), Imre Ress (Budapest) und František Šístek (Prag) für ihre
Mithilfe.

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540 Forschungsliteratur zu Bosnien-Herzegowina

BABUNA, Aydın: Nationalism and the Bosnian Muslims. In: East European Quarterly
[Boulder] 2 (1999), pp. 195–218.
BABUNA, Aydın: The Bosnian Muslims and Albanians. Islam and Nationalism. In:
Nationalities Papers [London] 2 (2004), pp. 287–321.
BABUNA, Aydın: The Berlin Treaty, Bosnian Muslims, and Nationalism. In: Yavuz, Ha-
kan/Sluglett, Peter (Hg.): War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of 1877–1878
and the Treaty of Berlin. Salt Lake City: The Univ. of Utah Press 2011, pp. 198–225.
BABUNA, Aydın: The Story of Bošnjaštvo. In: Ruthner et al., op. cit. (2015), pp.
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War Bosnien-Herzegowina, das 1878 nach dem Berliner Kon-
gress von Österreich-Ungarn besetzt und 1908 annektiert wur-
de, so etwas wie eine k.u.k. (Ersatz-)‚Kolonie‘? Der vorliegende
interdisziplinäre Sammelband versucht diese Frage nach einem
‚post/kolonialen‘ Zugang zur Geschichte, Gesellschaft, Kultur
und Literatur der späten Habsburger Monarchie positiv zu be-
antworten.
Die hier versammelten Aufrisse und Fallstudien wenden sich
dem Begriff des Kolonialismus bzw. des Imperiums zu, ­einer
emergenten bosnischen Literatur ebenso wie der öster-
reichischen, der diplomatischen Vorgeschichte der Okkupati-
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on wie einer Diskursanalyse ihrer militärischen Narrative, der


Konfessions- und Hygienepolitik, der Siedlerbewegung und der
Entstehung einer bosnisch-herzegowinischen Volkskunde so-
wie imagologischen Fragen der mit der „Kolonie“ verbundenen
Selbst- und Fremdbilder. In einem weiteren Schritt werden auch
die Nachwirkungen – die longue durée – des k.u.k. Kolonialismus
bis in die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts exem-
plarisch aufgezeigt – etwa anhand von Gedächtnisformationen
bosnischer Waffen-SS-Leute, der jugoslawischen Nachfolgekrie-
ge in den 1990er Jahren oder des Status von Bosnien-Herzego-
wina als EU-Protektorat heute.

ISBN 978-3-7720-8604-5

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