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Forschungsmethoden

in der Fremdsprachen-
didaktik Ein Handbuch
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Daniela Caspari, Friederike Klippel,


Michael K. Legutke, Karen Schramm (Hrsg.)

Copyright (c) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG


Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

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Daniela Caspari / Friederike Klippel /
Michael K. Legutke / Karen Schramm (Hrsg.)

Forschungsmethoden
in der Fremdsprachendidaktik

Ein Handbuch
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Copyright (c) Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG


Daniela Caspari ist Professorin für Didaktik der romanischen Sprachen und Literaturen an
der Freien Universität Berlin.

Friederike Klippel ist Professorin em. für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an
der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Michael K. Legutke ist Professor em. für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an
der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Karen Schramm ist Professorin für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Wien.
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Alle ganzseitigen Übersichtsgrafiken wurden von Frau Dr. Kristina Peuschel (Berlin) erstellt.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi-


bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier.

Satz: pagina GmbH, Tübingen


Printed in Germany

ISBN 978-3-8233-6839-7

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 V

Inhalt

1. Zur Orientierung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  1
Daniela Caspari/Friederike Klippel/Michael K. Legutke/Karen Schramm

2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung. . . . . . . . . . . .  7


Daniela Caspari

3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik. . . . . . . . . . . . .  23


Friederike Klippel
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3.1 Historische Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  31


Friederike Klippel
3.2 Theoretische Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39
Michael K. Legutke
3.3 Empirische Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  49
Karen Schramm

4. Forschungsentscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  59
Karen Schramm
4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage. . . . . . . . . . . . .  61
Michael K. Legutke
4.2 Prototypische Designs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  67
Daniela Caspari
4.3 Sampling.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  78
Urška Grum/Michael K. Legutke
4.4 Triangulation.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  90
Petra Knorr/Karen Schramm
4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen. . . . . . . . . . . . . . .  98
Claudia Harsch
4.6 Forschungsethik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  108
Michael K. Legutke/Karen Schramm

5. Forschungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119
5.1 Grundsatzüberlegungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  119
Friederike Klippel

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VI Inhalt

5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten.. . . . . . . . . . . . . . . . .  121


Karen Schramm
5.2.1 Dokumentensammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124
Elisabeth Kolb/Friederike Klippel
5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten). . . . . . . . . . .  132
Barbara Schmenk
5.2.3 Beobachtung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141
Karen Schramm/Götz Schwab
5.2.4 Befragung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155
Claudia Riemer
5.2.5 Introspektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173
Lena Heine/Karen Schramm
5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache
und Korpuserstellung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  182
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Verena Mezger/Christin Schellhardt/Yazgül Şimşek


5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten .. . . . . . . . . . . . .  193
Daniela Caspari
5.2.8 Testen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205
Claudia Harsch
5.3 Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten .. . . . .  218
Karen Schramm
5.3.1 Analyse historischer Quellen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  220
Dorottya Ruisz/Elisabeth Kolb/Friederike Klippel
5.3.2 Hermeneutische Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  229
Laurenz Volkmann
5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode.. . . . . . . . . . .  243
Karin Aguado
5.3.4 Inhaltsanalyse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  256
Eva Burwitz-Melzer/Ivo Steininger
5.3.5 Typenbildung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  269
Michael Schart
5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden.. . . . . . . . . . . . . . . .  280
Götz Schwab/Karen Schramm
5.3.7 Analyse von Lernersprache.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  297
Nicole Marx/Grit Mehlhorn
5.3.8 Korpusanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  306
Cordula Meißner/Daisy Lange/Christian Fandrych
5.3.9 Statistische Verfahren – Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  319
Urška Grum/Wolfgang Zydatiß

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Inhalt VII

5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  324


Julia Settinieri
5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen.. . . . . .  341
Thomas Eckes

6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen


und Empfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  357
Friederike Klippel
6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  359
Daniela Caspari
6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  364
Daniela Caspari
6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  370
Michael K. Legutke
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6.4 Gestaltung des Designs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  376


Karen Schramm
6.5 Prozessplanung und -steuerung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  382
Karen Schramm
6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . .  386
Michael K. Legutke
6.7 Präsentation von Forschung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  393
Friederike Klippel
6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  400
Daniela Caspari

7. Referenzarbeiten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  405
Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache?. . . .  406
Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. . . . . . . . . . . . . . . .  410
Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation.. . . .  415
Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt
und Fremdsprachenlehrerbildung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  419
Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz
im Englischunterricht der Grundschule.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  423
Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen
als Tertiärsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  427
Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  431
Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet.. . . . . . . . . .  435
Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches
Fremdsprachenlernen?.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  439

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VIII Inhalt

Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen


mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  443
Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht ... . . .  447
Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen .. . . . .  451

8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext .. . . . . . . . . . . . .  457


Friederike Klippel/Michael K. Legutke

Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  467
Die Autorinnen und Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  475
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1. Zur Orientierung

Daniela Caspari/Friederike Klippel/Michael K. Legutke/Karen Schramm

1.1 Zur Zielsetzung dieses Handbuchs

Forschung ist genuiner Bestandteil von Wissenschaft. Wie und wozu in einzelnen Wissen-
schaften Forschung betrieben wird, hat viel mit den jeweils herrschenden Grundannahmen
und Erkenntnisinteressen zu tun. Junge Wissenschaften orientieren sich in ihren Forschungs-
methoden zu Beginn an Nachbardisziplinen, und es ist ein Zeichen der erfolgten Etablierung,
wenn sie eigene Forschungsansätze heranbilden. Die Fremdsprachendidaktik ist eine ver-
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gleichsweise junge Wissenschaft. Sie kann sich allerdings auf eine ausgedehnte Geschichte von
Lehr-/Lern-Praxis in ihrem Feld berufen, so dass das Nachdenken über die Vermittlung und
das Erlernen von Sprachen eine lange Tradition hat, in die wir uns mit diesem Band einordnen.
In den letzten Jahrzehnten hat sich für die Erforschung der vielfältigen Kontexte, Praxen und
Prozesse des Lehrens und Lernens fremder Sprachen ein bestimmtes Repertoire an Forschungs-
ansätzen herausgebildet. Es ist das Ziel dieses Handbuches, umfassend in diese fremdsprachen-
didaktische Forschung einzuführen und dabei alle grundlegenden Ansätze systematisch zu be-
rücksichtigen. Bei der Verwendung des Begriffs Fremdsprachendidaktik als Sammelbegriff für
Sprachlehr- und Sprachlernforschung, für unterrichtsbezogene Zweitspracherwerbsforschung,
für Fremdsprachenforschung und für Zweitsprachendidaktik lehnen wir uns an die Auffassung
von Gnutzmann/Königs/Küster (2011: 7) an, dass „die Entwicklungen, die den Ansprüchen
und Forderungen der Sprachlehrfoschung ja weitgehend gefolgt sind, dazu geführt [haben],
dass man dem Begriff ‚Fremdsprachendidaktik‘ aufgrund seiner längeren Geschichte und der
eingetretenen Veränderungen durchaus den Vorzug geben kann“. Auch wenn sich dieses Hand-
buch auf die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik konzentriert, so haben wir doch die
internationale Entwicklung in allen Teilen des Handbuchs im Blick.
Es geht uns dabei zunächst einmal um eine Darstellung des aktuellen Standes der For-
schungsmethodologie und um praktische Hilfen für den Forschungsprozess. Wir möchten
sowohl denjenigen Informationen und Hilfestellung geben, die in die Forschung einsteigen,
als auch diejenigen unterstützen, die wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten betreuen und
selbst forschend tätig sind. Weiterhin wollen wir dazu anregen, sich über Forschung, For-
schungsverfahren und -ansätze nicht nur aus der Sicht einer guten handwerklichen Gestal-
tung von Forschungsprozessen zu informieren, sondern auch über allgemeine Aspekte von
Forschung in unserem Feld nachzudenken. Wenn sich die hier entworfene Systematik auch
für die Einordnung zukünftiger Forschungsarbeiten als hilfreich erweist, wäre ein wichtiges
Anliegen erfüllt. Noch weitreichender ist die Hoffnung, dass Leser_innen des vorliegenden
Handbuchs es als Einladung begreifen, die Gesamtentwicklung der Fremdsprachendidaktik
auf einer Metaebene zu reflektieren und kritisch zu begleiten.

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2 1. Zur Orientierung

Im Unterschied zu den bisher vorliegenden forschungsmethodischen Grundlagenwerken


der Fremdsprachendidaktik setzt sich dieser Band deshalb zunächst mit den Grundfragen
fremdsprachendidaktischer Forschung (Kapitel 2) auseinander und stellt sodann die histori-
sche, die theoretische und die empirische Forschungstradition in der Fremdsprachendidaktik
dar (Kapitel 3), wobei auch wichtige Meilensteine fremdsprachendidaktischer Forschung
erfasst werden. Stärker handwerklichen Charakter nimmt das Handbuch ab Kapitel 4 an, in
dem grundsätzliche Forschungsentscheidungen erörtert werden, wie beispielsweise die For-
schungsgrundlage in Form von Texten, Daten und Dokumenten, das Design, das Sampling,
die Triangulation oder ethische Fragen.
Das Kernkapitel des Bandes (Kapitel 5) stellt eine große Palette unterschiedlicher For-
schungsverfahren zur Datengewinnung und -auswertung vor; hier wurden die Teilkapitel
von ausgewiesenen Expert_innen für das jeweilige Verfahren verfasst. Die überblicksartigen
Dachkapitel 5.1 zu Grundsatzüberlegungen in Bezug auf diese Forschungsverfahren, 5.2 zur
Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten und 5.3 zu deren Aufbereitung und Ana-
lyse sollen jeweils Orientierung in der beachtlichen Vielfalt fremdsprachendidaktischer For-
schungsverfahren bieten.
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Die Etappen des Forschungsprozesses, die von der Idee für ein Dissertationsprojekt bis zur
Publikation der abgeschlossenen Studie dargestellt werden und die auch Fragen der Betreu-
ung betreffen, sind Thema von Kapitel 6, das auf der langen und breitgefächerten Betreu-
ungserfahrung der Autor_innen in unterschiedlichen fremdsprachendidaktischen Fächern
basiert und sich deshalb auch im Duktus und der Verweisdichte von den anderen Kapiteln
des Handbuchs deutlich unterscheidet.
Kapitel 7 präsentiert zwölf ausgewählte Dissertationen, die in diesem Handbuch an vielen
Stellen als Referenzarbeiten dienen. Da Wissenschaft von der Auseinandersetzung mit bis-
herigen Forschungsergebnissen und -verfahren bzw. vom entsprechenden Diskurs darüber
lebt, erscheint es uns vorteilhaft, die forschungsmethodischen und -methodologischen Fragen
immer wieder auch mit Bezug auf solche konkreten Arbeitserfahrungen zu thematisieren und
zu illustrieren.
Ein Blick auf die gesellschaftlichen und (bildungs-)politischen Kontexte fremdsprachen-
didaktischer Forschung steht am Ende des Bandes (Kapitel 8) und soll dazu beitragen, dem
oben skizzierten Anliegen, auch einen analytischen Blick auf die Gesamtentwicklung der
Fremdsprachendidaktik zu ermöglichen, gerecht zu werden.
An dieser kurzen Vorstellung der einzelnen Kapitel wird deutlich, dass dieses Handbuch
in der Absicht erstellt wurde, unterschiedlichen Lesergruppen zu dienen: Es wendet sich
gleichermaßen an diejenigen, die einen systematischen Überblick über fremdsprachendidak-
tische Forschungsmethoden zu gewinnen suchen, und an diejenigen, die sich zu spezifischen
Forschungsverfahren informieren möchten.

1.2 Zugriffe

Ein Handbuch wird man in der Regel nicht wie einen Roman lesen. Es ist auch nicht wie ein
Roman geschrieben, in dem man die späteren Kapitel nur versteht, wenn man die voran-

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1.3 Auswahl und Funktion der Referenzarbeiten 3

gehenden kennt. Ein Handbuch dient vor allem dem gezielten Nachschlagen von Informatio-
nen, die auf dem aktuellen Stand präsentiert werden. Viele Elemente des Handbuches unter-
stützen einen transparenten Zugriff: So finden sich zu Beginn jedes Großkapitels einleitende
Passagen; in allen Kapiteln des Handbuchs gibt es zahlreiche Querverweise; viele Kapitel
enthalten zudem kommentierte Leseempfehlungen.
Ein Novum sind die informativen Grafiken, die vor allem die Teilkapitel zu den For-
schungsentscheidungen (Kapitel 4) und Forschungsverfahren (Kapitel 5) illustrieren. In en-
ger Abstimmung mit den jeweiligen Autor_innen und den Herausgeber_innen hat Kristina
Peuschel Kernelemente und -prozesse einzelner Verfahren grafisch umgesetzt. Die Grafiken
vermögen die Lektüre eines Kapitels nicht zu ersetzen, sie erleichtern jedoch das Erkennen
der wesentlichen Zusammenhänge und – insbesondere für visuelle Lerner_innen – auch das
Behalten. Besonders geeignet erscheinen uns die Grafiken zur Unterstützung von Metho-
denseminaren oder Doktoranden-Kolloquien zu sein, wenn ein Überblick über die zentralen
Elemente einzelner Forschungsmethoden gegeben wird.
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1.3 Auswahl und Funktion der Referenzarbeiten

Dass die in einem Forschungshandbuch angesprochenen forschungsmethodischen Fragen und


Aspekte an Beispielen dargestellt und erläutert werden, ist in der internationalen Forschung
gute Tradition. Dass dies durch ein ganzes Buch hindurch vorzugsweise an zwölf ausgewähl-
ten Dissertationen, so genannten Referenzarbeiten, geschieht, ist eine Besonderheit dieses
Buches. Auf die in Kapitel 7 durch die Forscher_innen selbst vorgestellten Studien wird in
den einzelnen Kapiteln des Buches immer wieder Bezug genommen. Sie stehen exemplarisch
für zentrale Forschungsfelder und Themen der Fremdsprachendidaktik. Sie repräsentieren
bestimmte Erhebungs- und Auswertungsverfahren und sind überzeugende Beispiele für das
funktionale Zusammenspiel von Forschungsinteresse, Forschungsfrage, Design und For-
schungsmethode(n) sowie für eine transparente und klare Darstellung des Forschungspro-
zesses und der Ergebnisse.
Um der Vielfalt der fremdsprachendidaktischen Forschung und den unterschiedlichen
Realisierungsformen bestimmter Designs und Formate Rechnung zu tragen, wird in jedem
Kapitel dieses Forschungshandbuches zusätzlich auf viele andere Studien zurückgegriffen.
Gleichwohl stellen die Referenzarbeiten in ihrer Gesamtheit relevante Entwicklungen der
Forschungsmethodik in den Fremdsprachendidaktiken der letzten Jahre sowie einen re-
präsentativen Ausschnitt der Fremdsprachendidaktik als Forschungsdisziplin in dieser Zeit-
spanne dar. Unsere Wahl fiel auf Dissertationen, weil sie einen bedeutenden Anteil an der
gesamten fremdsprachendidaktischen Forschung stellen und die Verfasser_innen und deren
Betreuer_innen von Dissertationen die Hauptzielgruppe dieses Buches sind.
Für die Auswahl der Arbeiten haben wir eine Reihe von Kriterien angelegt: Die Arbeiten
wurden zwischen 2002 und 2011 veröffentlicht und unter den in der Fremdsprachendidaktik
bislang üblichen Bedingungen realisiert, d. h. es handelt sich ausschließlich um Studien, die
als Einzelarbeit ohne übergreifende Projektkontexte entstanden sind. Sie sind forschungs-
methodologisch als Ganzes gelungen und zumindest in Einzelaspekten vorbildlich. Außerdem

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4 1. Zur Orientierung

folgen sie dem Primat der Gegenstandsangemessenheit, d. h. sie sind vom Gegenstand und
einer klaren Forschungsfrage her entwickelt worden. Sie entsprechen den gängigen Gütekri-
terien (s. Kapitel 2) und zeichnen sich durch die Passung von Forschungsfrage und Methodik,
durch ein systematisches, forschungsökonomisches Vorgehen sowie durch Klarheit der Dar-
stellung aus. Für die Aufnahme in ein Forschungshandbuch sind zudem ein angemessenes Re-
flexionsniveau hinsichtlich der Forschungsmethodologie und -methodik sowie ein sinnvolles
Verhältnis von forschungsmethodischer Reflexion (‚Aufwand‘) und inhaltlichen Ergebnissen
(‚Ertrag‘) unabdingbar.
Aus den vielen Arbeiten, die diesen Kriterien genügen, wurden zwölf nach dem Prinzip
maximaler Variation ausgewählt, um in der Gesamtheit eine möglichst große Breite hinsicht-
lich folgender Kriterien zu erreichen:
• Forschungstraditionen (historisch, theoretisch-konzeptionell, empirisch-qualitativ, empi-
risch-quantitativ);
• Forschungsfelder (z. B. Professionsforschung, Lernforschung, Begegnungsforschung, Kom-
petenzforschung etc.) (s. Kapitel 2);
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• Settings (natürlich – arrangiert – experimentell, mit/ohne Intervention);


• Erhebungsinstrumente;
• Verfahren der Datenauswertung;
• (Fremd-)Sprachen;
• Forschungspartner_innen (Lehrkräfte, Studierende, Schüler_innen unterschiedlicher Schul-
formen, Lerner_innen aus außerschulischen Kontexten);
• Grad der forschungsmethodischen Komplexität (von eher schlicht bis sehr komplex);
• Grad der thematischen Breite (von sehr fokussiert bis sehr weit).
Zudem wurden Besonderheiten, wie z. B. die besonders gründliche Reflexion der Forscher­
_innenrolle, die Art der Kombination von Theorie und Empirie bzw. von qualitativen und
quantitativen Verfahren oder der Prozesscharakter der Studie, berücksichtigt sowie auch
Designs, die einen besonderen Erkenntnisgewinn speziell für fremdsprachendidaktische Fra-
gestellungen versprechen.
Trotz dieser Kriterien ist die nach langen Recherche-, Lese- und Diskussionsphasen gemein-
sam getroffene Auswahl natürlich subjektiv, denn selbstverständlich gibt es auch außerhalb
dieses Samples eine Reihe hervorragender Forschungsarbeiten. Insbesondere dann, wenn es
zu einem Design oder einem bestimmten Forschungsverfahren zahlreiche überzeugende Ar-
beiten gab, fiel die Auswahl schwer. Insgesamt will die vorliegende Auswahl das gesamte me-
thodische Spektrum fremdsprachendidaktischer Forschung in seiner Vielfalt dokumentieren.
Um sich schnell und unaufwändig einen Eindruck von den ausgewählten Studien ver-
schaffen zu können, wurden die Verfasser_innen gebeten, ihre Dissertation unter forschungs-
methodischer Perspektive selbst vorzustellen. Die in Kapitel 7 zu findenden Darstellungen
erlauben es, die einzelne Arbeit als Ganzes verstehen und insbesondere den jeweiligen inhalt-
lichen Bezug zwischen Forschungsinteresse, Forschungsfrage und eingesetzten Methoden
nachzuvollziehen sowie die wichtigsten Ergebnisse zu erfahren. So können in den einzelnen
Kapiteln des Forschungshandbuches direkt spezifische Aspekte und Details dieser Arbeiten
angesprochen werden. Wir danken den Autor_innen, dass sie sich auf diese neue Textsorte
„Darstellung der Forschungsarbeit“ eingelassen haben.

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1.4 Entstehung des Handbuchs 5

1.4 Entstehung des Handbuchs

Man kann eine Publikation besser einschätzen, wenn man ihre Genese ein wenig kennt. An
diesem Handbuch sind viele Autor_innen in unterschiedlichem Umfang und in unterschied-
licher Funktion beteiligt. Unser Anliegen als Herausgeber_innen und Autor_innen war und
ist es, ein Handbuch vorzulegen, das den aktuellen Stand der Forschungsmethodologie in der
Fremdsprachendidaktik angemessen wiedergibt. Dazu war es erforderlich, die in einzelnen
Forschungsverfahren führenden Wissenschaftler_innen für eine Autorschaft zu gewinnen.
Das ist in erfreulichem Umfang gelungen. Wir danken allen Autor_innen für ihre konstruk-
tive und geduldige Mitwirkung an diesem Band.
Zugleich war es unser Ziel, ein in sich geschlossenes, kohärentes Handbuch vorzulegen,
dessen Kapitel miteinander verschränkt sind und aufeinander Bezug nehmen und das auf ei-
ner von uns allen geteilten Vorstellung von Forschung in der Fremdsprachendidaktik basiert.
Dieses gemeinsame Forschungsverständnis haben wir Herausgeber_innen uns in häufigen in-
tensiven Diskussionen und breiten Recherchen über etwa fünf Jahre hinweg erarbeitet. Jedes
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Kapitel, das von einer/m von uns verfasst ist, wurde in allen Fassungen von allen gelesen,
einer kritischen Analyse unterworfen, kommentiert, ergänzt und ausführlich besprochen. In-
sofern ist dieses Handbuch auch in allen den Teilen, für die eine_r der vier Herausgeber_innen
namentlich genannt ist, dennoch in vielerlei Hinsicht ein Gemeinschaftswerk.
Das heißt jedoch nicht, dass unser Ziel der Vereinheitlichung und Abstimmung immer bis
in die Formulierungen hineinwirkt. Aufmerksame Leser_innen werden feststellen, dass sich
durchaus noch unterschiedliche Schreibstile, verschiedene und unterschiedlich konsequente
Arten des gendergerechten Schreibens und Variationen in der Verweisdichte ergeben haben.
Auch für die Konzeption und Struktur des Handbuches zeichnen wir – Daniela Caspari,
Friederike Klippel, Michael K. Legutke, Karen Schramm – gemeinsam verantwortlich. Am
Anfang stand die Idee eines Handbuches, das die Situation der deutschen fremdsprachen-
didaktischen Forschung und insbesondere Kontexte und Erfordernisse der Ausbildung des
wissenschaftlichen Nachwuchses berücksichtigt. Ob wir diese Idee gut umgesetzt haben,
werden unsere Leser_innen beurteilen. Über Rückmeldungen positiver und kritischer Natur
freuen wir uns.

›› Literatur

Gnutzmann, Claus/Königs, Frank/Küster, Lutz (2011). Fremdsprachenunterricht und seine Erforschung.


Ein subjektiver Blick auf 40 Jahre Forschungsgeschichte und auf aktuelle Forschungstendenzen in
Deutschland. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 40, 1–28.

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2. Grundfragen
fremdsprachendidaktischer
Forschung

Daniela Caspari

2.1 Was ist Forschung? Und was beeinflusst sie?

Diese grundlegende Frage wird in den bisher erschienenen deutschsprachigen Handbüchern


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bzw. Einführungen in die fremdsprachendidaktischen Forschungsmethoden nicht themati-


siert. Obwohl auch im Rahmen dieses Handbuches keine grundlegende Abhandlung möglich
ist, erscheint es gerade in Hinblick auf die Zielgruppe „Forschungsnoviz_innen“ sinnvoll, sich
die Unterschiede zwischen Beobachtungen im Alltag oder in der beruflichen Praxis einer-
seits, so wie sie z. B. von angehenden Lehrkräften im Praktikum oder Referendariat verlangt
wird, und der wissenschaftlichen Erforschung von Fragestellungen andererseits bewusst zu
machen. Diese Unterschiede sind – wie z. B. bei der Darstellung der historischen Forschung
(Kapitel 3.1), an bestimmten forschungsmethodischen Ansätzen (Kapitel 4.2) oder einigen
Verfahren zur Datengewinnung (z. B. Kapitel 5.2.3 und 5.2.4) zu erkennen ist – eher gra-
dueller als grundsätzlicher Natur. Denn es scheint in der Natur des Menschen zu liegen,
Phänomenen in seiner Umwelt auf den Grund zu gehen, nach Gesetzmäßigkeiten zu suchen
sowie auf der Basis von Beobachtungen und Erfahrungen Theorien aufzustellen und Vorher-
sagen zu machen. Während dies im Alltag in der Regel eher zufällig, unbewusst und ad hoc
geschieht, zumeist um konkrete Herausforderungen und Probleme des täglichen Lebens zu
meistern, zeichnet sich wissenschaftliche Forschung durch eine systematische und methodisch
kontrollierte Herangehensweise aus.
Bei wissenschaftlicher Forschung handelt es sich um einen Prozess, der von dem/der For-
scher_in beständig bewusste Entscheidungen verlangt: von der Wahl des Forschungsgegen-
standes (Thema), über die Forschungsfrage/n, die Erhebungs- und Auswertungsverfahren bis
hin zu Art und Ort der Veröffentlichung der Ergebnisse. Da diese Entscheidungen von vielen,
nicht immer bewusst gemachten Faktoren beeinflusst werden, sollen in diesem Kapitel einige
dieser Faktoren ebenfalls angesprochen werden.
Grundlegend für die Wahl des Forschungszugangs sind die jeweiligen Annahmen über die
Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit und die Möglichkeiten ihrer Erforschung. Cohen/
Manion/Morrison (2011: 3–7) unterscheiden in Anlehnung an Burrell und Morgan (1979)
vier voneinander abhängige Ebenen (s. Tabelle 1):

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8 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

A scheme for analysing assumptions about the nature of social science

The subjectivist approach to The objectivist approach to


social science social science

Nominalism Ontology Realism


Anti-positivism Epistemology Positivism
Voluntarism Human nature Determinism
Idiographic Methodology Nomothetic
The subjective-objective dimension
Tabelle 1: Subjektivistischer und objektivistischer Forschungszugang (Nachzeichnung von Cohen/Manion/
Morrison 2011: 7)

Grundsätzlich werden ein subjektivistischer und ein objektivistischer Forschungszugang


unterschieden (subjectivist approach vs. objectivist approach), die sich auf drei Ebenen von-
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einander unterscheiden: der ontologischen, der epistemologischen und auf der Ebene der
Auffassung über die Natur des Menschen. Auf der ontologischen Ebene (ontology) geht es um
grundlegende Annahmen über die Wirklichkeit und die Natur der Dinge. Gehe ich davon aus,
dass es eine objektive, vom jeweiligen Betrachter unabhängige Welt gibt (realist position),
oder bin ich der Überzeugung, dass Wirklichkeit erst durch den Betrachter geschaffen wird
und somit das Produkt subjektiver Wahrnehmung ist (nominalist position)?
Diese grundsätzliche Position bestimmt Annahmen darüber, was und wie man etwas
herausfinden und dies anderen mitteilen kann (epistemology): Kann ich soziale Wirklichkeit
‚von außen‘, d. h. durch Beobachtung wahrnehmen und erklären, ihre Gesetzmäßigkeiten
erkennen und daraus Voraussagen über zukünftiges Verhalten ableiten (positivism)? Diese
Auffassung legt einen etischen Zugang zum Forschungsfeld nahe, in dem von außen Kate-
gorien an einen Untersuchungsgegenstand angelegt werden. Oder muss ich Menschen bzw.
spezifischen Gruppen von Menschen und ihren Referenzsystemen möglichst nahe kommen,
damit ich, soweit dies überhaupt möglich ist, ihre Innensicht auf sich selbst und ihr soziales
Umfeld nachzeichnen kann (anti-positivism)? Diese Auffassung legt einen emischen Zugang
zum Forschungsfeld nahe, der von den kultur- und sprachspezifischen Kategorien der For-
schungspartner_innen ausgeht. Mit den beiden epistemologischen Positionen verbunden sind
grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über die menschliche Natur: Betrachte ich den
Menschen in erster Linie durch seine Anlagen und seine Umwelt bestimmt (determinism)
oder verstehe ich ihn als freies, selbstbestimmtes Wesen, das seine soziale Umwelt kreativ
mitgestaltet (voluntarism)?
Der objektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. nomothetische Forschungs-
zugänge (nomothetic), die das Ziel verfolgen, allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten auf-
zustellen. Ausgangspunkt von Forschungsarbeiten in diesem, auch als analytisch-nomolo-
gisch bezeichneten, Forschungsparadigma (vgl. Grotjahn 1993: 229–230) sind i. d. R. zuvor
aufgestellte Theorien, Modelle oder hypothetische Kausalbeziehungen; das Ziel besteht darin,
die daraus abgeleiteten Hypothesen zu überprüfen. Ein solches Vorgehen ist grundsätzlich
dann möglich, wenn der Forschungsstand weit entwickelt und die Fragestellungen eng gefasst

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2.1 Was ist Forschung? Und was beeinflusst sie? 9

sind. Bevorzugte Forschungsverfahren in diesem Paradigma sind u. a. Tests, Experimente,


repräsentative Befragungen.
Der subjektivistischen Herangehensweise entsprechen sog. ideographische Forschungs-
zugänge (ideographic), die das Ziel verfolgen, das Individuelle, Besondere zu beschreiben, zu
interpretieren und daraus Erkenntnisse zu gewinnen. Innerhalb dieses, auch als explorativ-in-
terpretativ bezeichneten, Forschungsparadigmas (vgl. Grotjahn 1993: 230–231) stehen somit
Hypothesen und Konzepte bzw. Theorien nicht am Anfang des Forschungsprozesses, sondern
sind dessen Ergebnis. Dieser Zugang bietet sich immer dann an, wenn der Gegenstand noch
nicht gut erforscht ist oder wenn eine weite Forschungsfrage gestellt wird. Bevorzugte For-
schungsverfahren in diesem Paradigma sind u. a. Fallstudien, Beobachtungen, Interviews.
Über diese grundsätzlichen Paradigmen bzw. Forschungszugänge hinaus werden die für
jedes Forschungsprojekt notwendigen einzelnen Entscheidungen durch zahlreiche weitere
Faktoren bestimmt. Von entscheidender Bedeutung sind selbstverständlich die Disziplin und
innerhalb der Disziplin die jeweilige Forschungsrichtung, die mehr oder weniger explizit
gemachte Vorgaben bzw. Erwartungen an eine konkrete Forschungsarbeit richten. Die in den
Disziplinen vorherrschenden Traditionen sind, was sich besonders deutlich in der Rückschau
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zeigt, nicht selten aktuellen Moden und Tabus unterworfen. Zur Entstehung zu solchen, zu
einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschenden Forschungspraktiken tragen neben der all-
gemeinen Forschungslandschaft und entsprechenden Tendenzen in den jeweiligen Bezugsdis-
ziplinen auch einflussreiche Forscher_innen bzw. Forscher_innengruppen sowie nicht zuletzt
große Geldgeber bei. So sind der Siegeszug der empirischen Bildungsforschung innerhalb der
Erziehungswissenschaft und die aktuelle Vorliebe für Interventionsforschung innerhalb der
naturwissenschaftlichen Fachdidaktiken auch durch Förderentscheidungen der Politik beein-
flusst. In diesem Zusammenhang spielt ebenfalls der aktuelle gesellschaftliche Kontext eine
Rolle: Welcher Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung wird von der Forschung erwartet?
Welche Themen stehen im Zentrum des Interesses? Wie verläuft der mediale Diskurs zu
diesen Themen?
Die Forschungstraditionen der einzelnen Disziplinen schlagen sich nicht selten in eta­
blierten, sog. prototypischen Designs nieder, die gewisse Standards setzen und oft als modell-
haft gelten. Gerade wenn solche Designs detaillierte Vorgaben hinsichtlich der Erhebungs-
und Auswertungsverfahren machen, sind sie insbesondere für Anfänger_innen attraktiv und
helfen, die notwendige methodische Qualität einer Forschungsarbeit zu sichern. Andererseits
kann die Ausrichtung auf etablierte Designs dazu führen, dass bestimmte Forschungsfragen
gar nicht erst gestellt werden oder dass die ursprüngliche Frage an die Erkenntnismöglichkei-
ten des Designs angepasst wird. Daher sollte ein Forschungsprojekt nicht mit methodischen
Entscheidungen beginnen, sondern von der Forschungsfrage geleitet sein, und man sollte
auch – und gerade – bei prototypischen Designs genau prüfen, ob die zugrundeliegenden
Annahmen und Erkenntnisinteressen tatsächlich geeignet sind, die eigene Forschungsfrage
zielführend zu bearbeiten.
Ein anderer wichtiger Einflussfaktor für forschungsmethodische Entscheidungen besteht
in der Kenntnis von bzw. der Vertrautheit mit einzelnen Erhebungs- und Auswertungsver-
fahren. Hier wurde der Fremdsprachendidaktik in der Vergangenheit zu Recht ein deutlicher
Nachholbedarf attestiert; in bestimmten Bereichen, insbesondere innerhalb des analytisch-
nomologischen Paradigmas, gilt dies bis heute. Gerade die einfache Zugänglichkeit von bzw.

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10 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

die individuelle Expertise in bestimmten Verfahren kann jedoch dazu führen, dass andere,
für die Forschungsfrage möglicherweise sogar geeignetere Verfahren gar nicht erst in den
Blick genommen werden. Dies mindert nicht nur die Qualität der Ergebnisse, sondern kann
bei häufigerem Vorkommen sogar das Ansehen der Disziplin beeinträchtigen. Ein weiterer,
in vielen Disziplinen zu beobachtender Effekt besteht in der Bildung sog. ‚Schulen‘. Damit
bezeichnet man die Tendenz, dass einzelne Wissenschaftler_innen oder Gruppen von Wis-
senschaftler_innen für die jeweilige Wissenschaft ganz grundsätzlich bestimmte Forschungs-
verfahren und Designs propagieren. Um diese – möglicherweise begrenzenden – Einfluss-
faktoren zu erkennen, ist es sinnvoll, sich bei der Planung des eigenen Forschungsvorhabens
auch außerhalb des eigenen Standortes und ggf. auch außerhalb der eigenen Disziplin beraten
zu lassen.
Nicht zuletzt bestimmen individuelle Vorlieben und die von der einzelnen Forscher_in
mitgebrachten sowie die von ihrem Umfeld bereitgestellten Ressourcen forschungsmetho-
dische Entscheidungen: Wie viel Zeit steht zur Verfügung? Wer kann die Forscher_in wobei
womit unterstützen? Welche administrativen Hürden sind zu überwinden? Auf welche tech-
nischen Ressourcen kann zurückgegriffen werden? Diese Faktoren bestimmen nicht nur die
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individuellen Forschungsentscheidungen, sondern auch forschungsmethodische Entwick-


lungen innerhalb einer Disziplin. So waren die zunehmend preisgünstige Verfügbarkeit von
technisch ausgereiften Kameras und die Entwicklung von spezieller Auswertungssoftware
Voraussetzung für den aktuellen Boom der Videographie in der fremdsprachendidaktischen
(Unterrichts-) Forschung (vgl. Kapitel 5.2.3).
Eine Möglichkeit, sich die vielfältigen Einflussfaktoren auf die eigenen Forschungsent-
scheidungen bewusst(er) zu machen, besteht bei den Überlegungen zur Relevanz der ei-
genen Forschungsarbeit. Reflektiert werden kann bzw. sollte hier zum einen die Relevanz für
die involvierten Personen bzw. Institutionen: die Forscher_in persönlich, ihr unmittelbares
berufliches Umfeld, Geldgeber, ‚Abnehmer_innen‘ bzw. Anwendungsbereiche. Was sind ihre
expliziten oder impliziten Interessen und Ziele? Zum anderen kann man sich anhand der
Relevanz der eigenen Arbeit für das Forschungsfeld, die Disziplin und möglicherweise auch
die Nachbardisziplinen größere Klarheit darüber verschaffen, welche Erwartungen dadurch
an die eigene Arbeit gerichtet werden.
Generell wird zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung unterschieden,
wobei die Grenzen fließend sind. Grundlagenforschung ist vom reinen Erkenntnisinteresse
geleitet; sie geht generellen Fragen nach und versucht allgemein gültige Zusammenhänge
und Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. Angewandte Forschung ist dagegen auf praxisrelevante,
‚nützliche‘ Ergebnisse ausgerichtet. Innerhalb der angewandten Forschung können weitere
Forschungszweige, wie z. B. die Entwicklungsforschung oder die Evaluationsforschung un-
terschieden werden. Je nach erkenntnistheoretischer Position, Forschungszweig, Forschungs-
stand und Erkenntnisinteresse kommt Forschung unterschiedliche Funktionen zu: Die Spann-
weite reicht vom Aufzeigen und genauen Beschreiben von bestimmten Phänomenen über die
Strukturierung, Systematisierung und Kategorisierung von Wirklichkeitsbereichen bis hin zur
Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen, Konzepten und Modellen. Im Bereich der an-
wendungsorientierten Forschung liegt der Schwerpunkt dabei auf der Erzeugung von praxis-
relevantem Wissen sowie der theoriegeleiteten, systematischen Entwicklung und empirischen
Überprüfung von für die Praxis ‚nützlichen‘ Konzepten und Materialien.

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2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? Und welches sind ihre zentralen Forschungsfelder?  11

Jeglicher Forschung gemein ist, dass sie fokussiert und zielgerichtet verläuft und dabei zu-
gleich offen ist für Unerwartetes. Üblicherweise beruht Forschung daher auf einer gezielten
und gründlichen Suche. Forschung kann aber auch durch ein beiläufiges Finden angeregt
werden, das dann ein gezieltes Weiter-Suchen auslöst (zum Wechselspiel zwischen Suchen
und Finden vgl. Schlömerkemper 2010: 11–13).
Im Unterschied zum anfangs skizzierten Erwerb von Alltagswissen zeichnet sich wissen-
schaftliche Forschung durch eine in zweifacher Hinsicht systematische Vorgehensweise aus:
zum einen bezüglich der untersuchten Phänomene (hier gilt es, alles zu berücksichtigen, was
man findet, und nicht nur das, was zur eigenen Vorstellung passt), zum anderen bezüglich
der Forschungsschritte und Forschungsverfahren. Der Forschungsprozess erfolgt methodisch
reflektiert und kontrolliert, die Ergebnisse sind überprüfbar bzw. intersubjektiv nachvoll-
ziehbar. Ein wesentliches Merkmal besteht darin, dass die Ergebnisse auf der Basis bzw. in
Zusammenhang mit bereits vorhandenem wissenschaftlichem Wissen entstehen und dis-
kursiv verhandelbar bzw. korrigierbar sind. Daher ist es erforderlich, dass die Ergebnisse
wissenschaftlicher Forschung veröffentlicht bzw. allgemein zugänglich gemacht werden. Die
genannten Kriterien für wissenschaftliches Arbeiten gelten für jede Forschungsarbeit, sie wer-
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den mit zunehmender Größe und Bedeutung der Forschungsarbeiten jedoch differenzierter
und strenger gehandhabt (vgl. auch Kapitel Kap. 3.3, Stufen der Empirie).

2.2  as ist fremdsprachendidaktische Forschung?


W
Und welches sind ihre zentralen Forschungsfelder?

Fremdsprachendidaktische Forschung konstituiert sich durch ihren Gegenstandsbereich, „das


Lehren und Lernen fremder Sprachen in allen institutionellen Kontexten und auf allen Al-
tersstufen“ (Bausch/Christ/Krumm 2003: 1). Aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre
könnte man diese bekannte Definition durch die Elemente „Zweitsprachen“ und „außer-
institutionelle Kontexte“ (vgl. Burwitz-Melzer/Königs/Riemer 2015) ergänzen. Während
die Ursprünge fremdsprachendidaktischer Forschung bereits im 19. Jahrhundert liegen (vgl.
Kapitel 3.1), etablierte sich die Fremdsprachendidaktik erst nach dem 2. Weltkrieg als ei-
genständige Disziplin. Folgende sechs Merkmale sind als besonders charakteristisch heraus-
zustellen (vgl. im Folgenden Bausch/Christ/Krumm 2003, Doff 2008 und 2010, Edmondson/
House 2006, Grotjahn 2006):
1. Das wichtigste Charakteristikum fremdsprachendidaktischer Forschung ist ihr Erkenntnis-
interesse. Noch in den 1950er und 60er Jahren wurde die zentrale Aufgabe der Didaktik
darin gesehen, praktische Empfehlungen für den schulischen Unterricht zu geben. Seit
den 1970er Jahren ist nicht zuletzt unter dem Einfluss der Sprachlehrforschung sowohl
eine stärker theoretisch ausgerichtete (Grundlagen-) Forschung als auch eine stärkere Aus-
differenzierung des Theorie-Praxis-Bezuges zu beobachten. Das theoretische Ziel fremd-
sprachendidaktischer Forschung besteht – ganz allgemein – darin, die einzelnen Faktoren
fremdsprachlichen Lernens und Lehrens differenziert zu erforschen und in ihrem Zusam-
menwirken immer genauer zu verstehen. Das praktische Ziel besteht – grob gesagt – darin,

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12 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

die Qualität des Fremdsprachenunterrichts und außerunterrichtlicher Lernangebote be-


ständig zu verbessern. Dies kann angesichts der Vielfalt und Komplexität der Praxis jedoch
nicht durch simple Ableitung theoretisch gewonnener Erkenntnisse geschehen, sondern
nur in der Interaktion zwischen Theorie und Praxis. Als anwendungsorientierte Wissen-
schaft zeichnet sich die Fremdsprachendidaktik daher durch ein beständiges Wechselspiel
zwischen Forschung und Anwendung aus.1 Generelles Ziel ist es, durch das forschungs-
geleitete Aufstellen, empirische Überprüfen und erkenntnisbasierte Ausschärfen von theo-
retischen Grundlagen, Begriffen, Konzepten und Modellen das Erkennen, Verstehen und
Erklären von komplexen Lehr- und Lernsituationen voranzutreiben und das Handeln in
diesen Situationen zu verbessern.
2. Charakteristisch für den Gegenstandsbereich der Fremdsprachendidaktik ist weiterhin sei-
ne Faktorenkomplexion (Königs 2010), denn beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen
wirken zahlreiche Faktoren zusammen. Ein bekanntes Modell stammt von Edmondson
(1984, wiedergegeben in Edmondson/House 2006: 25, im Folgenden leicht adaptiert). Er
unterscheidet fünf große, sich gegenseitig beeinflussende Faktorenkomplexe:
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• Unterricht (beeinflusst durch Curriculum, Lern-/Lehrziele, Lehrinhalte, Lehrmethoden,


Prinzipien, Übungsformen, Lehrwerke, Medien usw.)
• Lehr- und Lernumgebungsfaktoren (Dauer, Frequenz, Ausstattung, Lerngruppengröße
usw.)
• personenbezogene Faktoren, d. h. Lehrkräfte und Lerner_innen (personale Faktoren,
Ausbildung, Motivation/ Interesse, fremdsprachige Kompetenzen etc.)
• soziopolitische Faktoren (Status der Fremdsprache, Fremdsprachenpolitik, Ausbildung,
ökonomische Bedingungen etc.)
• wissenschaftliche Faktoren (Ergebnisse aus der Sprachlehrforschung und der Fremd-
sprachendidaktik sowie aus den Bezugswissenschaften).
Angesichts der Vielzahl und der Interdependenz der – keinesfalls vollständig auf-
geführten – Einzelfaktoren leuchtet unmittelbar ein, dass die isolierte Darstellung und
Erforschung eines Einzelfaktors forschungsmethodisch nicht sinnvoll zu realisieren
ist. Fremdsprachendidaktische Forschung muss sich daher auch bei der notwendigen
Fokussierung auf einen oder wenige Faktoren stets der Tatsache bewusst sein, dass es
sich um Einzelaspekte innerhalb eines komplexen Gefüges handelt.
3. Aus den ersten beiden Merkmalen ergibt sich das dritte: Fremdsprachendidaktische For-
schung ist interdisziplinär, denn sie greift sowohl inhaltlich als auch forschungsmetho-
disch auf Bezugswissenschaften zurück. Je nach Gegenstand und Fragestellung handelt es
sich z. B. um die Erziehungswissenschaften, die Linguistik und Literaturwissenschaft, die
Kultur- und Medienwissenschaften, die Soziologie und/oder die Psychologie. Jedoch geht
es auch hierbei nicht um die alleinige Anwendung der Theorien, Modelle und Erkennt-
nisse aus den Bezugswissenschaften, sondern darum, diese für die spezifischen Fragen und
1 Grundsätzlich ist zwischen der Fremdsprachendidaktik als Forschungsdisziplin und als Lehrfach zu un-
terscheiden. Bedauerlicherweise ist fachdidaktische Lehre – vor allem durch die personelle Ausstattung
an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, aber z. B. auch durch die Erwartungshaltung von
Studierenden bedingt – nicht selten auf unmittelbaren Anwendungsbezug hin ausgerichtet oder gar be-
grenzt.

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2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? Und welches sind ihre zentralen Forschungsfelder?  13

Interessen der Fremdsprachendidaktik zu nutzen und die unterschiedlichen Perspektiven


zu integrieren.
4. Dieses interdisziplinäre und integrierende Vorgehen hat zur Folge, dass Fremdsprachen-
didaktik durch eine große Breite an methodischen Herangehensweisen charakterisiert ist
und sich je nach Gegenstand und Forschungsfrage unterschiedlicher methodischer Ansätze
und Verfahren bedient. Dabei überprüft sie die Passung zwischen ihren Fragen und den
Ansätzen bzw. Verfahren verwandter Disziplinen und wandelt sie ggf. ab. In diesem Pro-
zess entstehen zunehmend spezifisch fremdsprachendidaktische methodische Zugänge.
5. Aus dem Theorie-Praxis-Bezug ergibt sich, dass Praktiker_innen (wie Lerner_innen,
Lehrer_innen oder Ersteller_innen von Curricula und Prüfungen) nicht nur Forschungs-
partner_innen sind, sondern auch selbst zu Forschenden werden können, die selbst oder
in Zusammenarbeit mit universitären Forscher_innen sie interessierende Fragen unter-
suchen. Da sich diese Studien u. a. in Umfang und Zielsetzung häufig von etablierten
Standards unterscheiden, wird immer wieder diskutiert, ob bzw. inwieweit es sich dabei
tatsächlich um wissenschaftliche Forschung handelt. Im Design der Aktionsforschung
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und der insbesondere im englischsprachigen Raum verbreiteten Forschungsrichtung der


teacher research (vgl. Kapitel 4.2) liegen inzwischen jedoch weithin akzeptierte Ansätze
vor. Das Gros der fremdsprachendidaktischen Forschung findet allerdings weiterhin an
Universitäten und Pädagogischen Hochschulen statt, die wichtigsten außeruniversitären
Forschungseinrichtungen sind das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
(IQB) in Berlin und das Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel (vgl.
auch Kapitel 8).
6. Charakteristisch für die Fremdsprachendidaktik ist weiterhin, dass der allergrößte Teil der
Forschung von den Wissenschaftler_innen selbst angestoßen und durchgeführt wird, wobei
den Qualifikationsarbeiten von Nachwuchswissenschaftler_innen besondere Bedeutung
zukommt. Auftragsforschung z. B. von der Kultusministerkonferenz (KMK), Länderminis-
terien oder Behörden wie dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Insti-
tutionen wie dem Goethe-Institut oder dem Deutsch-Französischen Institut Ludwigsburg
oder einzelnen Schulen ist eher selten. Die allermeisten Forschungsprojekte sind Einzel-
arbeiten, die zwar im Austausch mit Kolleg_innen und Betreuer_innen entstehen, letzt-
lich aber von einzelnen Forscher_innen geplant, durchgeführt und veröffentlicht werden.
Kleinere Forschungsverbünde (z. B. in Graduiertenkollegs oder Research Schools) oder die
gemeinsame Arbeit größerer Forschergruppen (wie z. B. in der DESI-Studie 2008) sind bis-
lang die Ausnahme. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die zunehmende Anzahl von, meist
interdisziplinären, Graduiertenschulen und fächerübergreifenden Forschungsprojekten
z. B. im Rahmen der empirischen Bildungsforschung, hier zu einem Wandel führen wird.

Forschungsfelder

Typisch für fremdsprachendidaktische Forschungsarbeiten ist weiterhin, dass sie nicht nur
Forschungsfelder anderer Disziplinen aufnehmen, sondern oft auch innerhalb der Fremdspra-
chendidaktik mehrere Felder betreffen. Forschungsfelder bestimmen sich durch einen thema-

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14 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

tischen Schwerpunkt. Bei der Durchsicht von annähernd einhundert Qualifikationsarbeiten


für die Auswahl der Referenzarbeiten wurden insgesamt 13 Forschungsfelder ermittelt. In
jedem dieser, in sich komplexen und weit gefassten Felder können Arbeiten vertreten sein, die
zu den drei großen, in diesem Handbuch unterschiedenen Kategorien von Forschung gehören,
nämlich historische Forschungsarbeiten (s. Kapitel 3.1), theoretische Arbeiten (s. Kapitel 3.2)
und empirische Arbeiten (s. Kapitel 3.3). Die folgende alphabetische Liste erhebt keinen An-
spruch auf Vollständigkeit, bietet jedoch eine generelle Orientierung und verdeutlicht die
thematische Breite fremdsprachendidaktischer Forschung:
• Begegnungsforschung: Hier sind Arbeiten zu finden, die direkte und (medial) vermittelte
Begegnungen von Sprechern unterschiedlicher Sprachen und unterschiedlicher (kultureller)
Herkunft konzeptuell-theoretisch, historisch und empirisch untersuchen.
• Curriculumforschung: Arbeiten in diesem Feld sind mit der theoretischen Begründung,
historischen Entwicklung und empirischen Validierung von Lehrprogrammen für Sprach-
unterricht befasst.
• Diagnostik: Arbeiten in diesem Forschungsfeld sind Tätigkeiten gewidmet, die in Abgren-
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zung zur Diagnostik anderer Berufsfelder unter dem Begriff Pädagogische Diagnostik zu-
sammengefasst werden können. Im Brennpunkt stehen mit Bezug auf das Lehren und Ler-
nen von Fremd- und Zweitsprachen Tätigkeiten „durch die bei einzelnen Lernenden und
den in einer Gruppe Lernenden Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und
Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen
zu optimieren“ (Ingenkamp/Lissmann 2005:15).
• Interaktionsforschung: Forschungen zu Bedingungen, Verlaufsformen und Strukturmerk-
malen fremdsprachiger Interaktion in unterschiedlichen sozialen Arrangements sowie ihre
Erträge sind diesem Feld zugeordnet.
• Kompetenzforschung: Hier geht es um die theoretische Bestimmung und empirische Mo-
dellierung von Kompetenzen im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen
(insbesondere sprachlicher, literarischer, medialer und interkultureller Kompetenzen) und
um die Erforschung ihrer Entwicklung unter spezifischen institutionellen Bedingungen
(Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung).
• Konzeptforschung: Die Entwicklung und systematische Analyse umfassender Konzepte
und tragender Konstrukte der Fremdsprachendidaktik sowie die Modellbildung machen
den gemeinsamen Nenner der Arbeiten dieses Forschungsfelds aus.
• Lehr- und Professionsforschung: Forschungsarbeiten in diesem Feld beschäftigen sich mit
dem Lehren fremder Sprachen als Beruf. Von Interesse sind nicht nur gesellschaftliche An-
sprüche an Lehrkräfte oder deren berufliches Selbstverständnis, sondern in gleicher Weise
Fragen der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften. Mit Blick auf die Praxis werden
zudem Bedingungen und Prozesse des Lehrens von Fremd- und Zweitsprachen in diesem
Feld unter besonderer Berücksichtigung der Lehrpersonen, ihres Wissens, ihrer Erfahrun-
gen, Einstellungen und ihres Handelns in spezifischen Kontexten bearbeitet.
• Lehrwerks- und Materialienforschung: Hier geht es um die systematische Analyse his-
torischer wie gegenwärtiger Lehrwerke und Medienverbundsysteme analoger und digitaler
Provenienz. Auf diesem Feld sind folglich Forschungen angesiedelt, die Materialentwick-
lung, Evaluation und Nutzung in Lehr und Lernprozessen fokussieren.

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2.2 Was ist fremdsprachendidaktische Forschung? Und welches sind ihre zentralen Forschungsfelder?  15

• Lernforschung: Die Lernforschung untersucht die komplexen Voraussetzungen, Prozesse


und Ergebnisse individuellen und kooperativen Sprachenlernens unter natürlichen und
gesteuerten Bedingungen.
• Lernerforschung: In diesem Feld steht die Sprachen lernende Person im Zentrum der Auf-
merksamkeit und zwar als Individuum und als soziales Wesen mit ihrer speziellen Sprach-
lerngeschichte, mit ihren Potenzialen, sprachlich zu handeln, sowie ihrer kognitiven und
affektiven Ausstattung.
• Schulbegleit- und Schulentwicklungsforschung: Ziel dieser Forschung ist es, relevante
Aspekte des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen unter schulischen Bedingungen zu
erkennen, um das Zusammenspiel zwischen der Institution und den in ihr tätigen Indi-
viduen und Gruppen zu verstehen. In diesem Feld sind ebenfalls Projekte angesiedelt, in
denen Lehrkräfte und professionell Forschende von Hochschulen und/oder Forschungs-
instituten zusammenwirken mit dem Ziel, die Handlungskompetenz der Beteiligten zu
entwickeln.
• Testforschung: Hier geht es sowohl um die Entwicklung, Validierung und Implementierung
standardisierter Sprachtests als auch um unterrichtsbezogene Verfahren formativer und
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summativer Lernstandsermittlung, ihre Entwicklung und Erprobung.


• Zweitsprachenerwerbsforschung: Aus diesem wesentlich weiteren Forschungsfeld sind
für die fremdsprachendidaktische Forschung solche Arbeiten relevant, die sich darum
bemühen, Prozesse ungesteuerten wie gesteuerten Fremdsprachenerwerbs zu beschreiben,
Erwerbssequenzen zu bestimmen und Zusammenhänge zwischen Lehren und Erwerb auf-
zudecken. Dabei finden u. a. das Wechselverhältnis von Erst- und Zweitsprachen sowie
weiterer Sprachen Berücksichtigung als auch soziale Bedingungen des Erwerbs oder die
besonderen Merkmale der Erwerbssituation.
Betrachtet man die ausgewählten Referenzarbeiten, so ist ein Großteil der Arbeiten in min-
destens zwei Forschungsfeldern angesiedelt: Die Referenzarbeiten von Biebricher (2008)
und Marx (2005) in der Lern- und Kompetenzforschung, die von Ehrenreich (2004) in der
Begegnungs- und Professionsforschung, die von Schmidt (2007) in der Materialien- und
Lernforschung, die von Schart (2003) in der Kompetenz- und Professionsforschung, die von
Hochstetter in der Diagnostik und der Kompetenzforschung; die Untersuchung von Doff
(2002) berührt die Felder der Lernforschung, Schulforschung und Professionsforschung. Die
Fokussierung dieser in mehreren Feldern angesiedelten Arbeiten erfolgt jeweils durch die
Forschungsfrage. Im Gegenzug berücksichtigen die Studien, die primär in nur einem For-
schungsfeld verortet sind wie z. B. die Referenzarbeiten von Arras (2007) (Testforschung),
Özkul (2011) (Professionsforschung), Schwab (2009) (Interaktionsforschung) sowie Schmenk
(2002) und Tassinari (2010) (Konzeptforschung), die Faktorenkomplexion z. B. bei der Ein-
ordnung bzw. Gewichtung der Ergebnisse oder der Rückbindung an den Kontext bzw. eine
­Theorie.
Möglicherweise ist die Faktorenkomplexion auch ein Grund dafür, dass in der Fremd-
sprachendidaktik der Theorie-Empirie-Bezug in der Form der Überprüfung von zuvor auf-
gestellten Modellen wenig verbreitet ist. Der Vielfalt der Lehr-/ Lernsituationen und der
weiten Verbreitung von Einzelforschung könnte wiederum geschuldet sein, dass bisher ins-
gesamt vergleichsweise wenige Studien auf repräsentative Ergebnisse abzielen. Dafür konn-

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16 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

ten in den letzten 15 Jahren durch zahlreiche Studien mit qualitativen Forschungsansätzen
der Gegenstandsbereich des Lehrens und Lernens fremder Sprachen besser exploriert werden
und viele Einzelfaktoren und -aspekte in ihrer Vielschichtigkeit und Komplexität erforscht
und dargestellt werden.

2.3 Welche Gütekriterien gelten für


fremdsprachendidaktische Forschung?

Wissenschaftliche Forschung unterscheidet sich von der anfangs erwähnten Alltagsbeob-


achtung nicht zuletzt durch die Einhaltung bestimmter forschungsmethodischer Standards,
den sog. Gütekriterien. Als Prinzipien verstanden, helfen sie dabei, sich der jeweiligen quali-
tativen Standards bewusst zu werden und sie bei der Planung und Durchführung der Unter-
suchung einzuhalten; als Kriterien verstanden, ermöglichen sie, im Nachhinein die Qualität
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und die Reichweite der gewonnenen Ergebnisse einer Forschungsarbeit zu beurteilen.


Auffällig ist, dass Gütekriterien bislang nahezu ausschließlich im Kontext empirischer
Forschung diskutiert werden. Sowohl in der theoretisch-hermeneutischen wie auch in der
historischen Forschung steht eine intensivere forschungsmethodologische Diskussion erst
am Anfang.
Auffällig ist ebenfalls, dass sich die Diskussion über Gütekriterien in der empirischen For-
schung nach wie vor zumeist an der soziologischen, psychologischen und erziehungswissen-
schaftlichen Forschung orientiert. Erst seit der Etablierung der Gegenstandsangemessenheit
als zentralem Gütekriterium ist zu beobachten, dass in fremdsprachendidaktischen Arbeiten
bei der Präsentation und Analyse der Forschungsmethodik offensiver anhand fremdsprachen-
forschungsspezifischer Charakteristika argumentiert wird. Trotzdem ist der Stand der Dis-
kussion aus den genannten Disziplinen nach wie vor wegweisend.
Grundsätzlich unterscheiden sich die Gütekriterien in quantitativen und qualitativen For-
schungsansätzen (vgl. Kap. 3.3). Als zentrale Kriterien quantitativer Forschung (vgl. im Fol-
genden Edmondson/House 2006: 39–40, Grotjahn 2006, Schmelter 2014) gelten Objektivität,
Reliabilität und Validität. Unter Objektivität versteht man die Intersubjektivität einer Me-
thode, d. h. die Unabhängigkeit der Ergebnisse von den Forscher_innen, die die Untersuchung
durchgeführt haben. Dabei unterscheidet man anhand der einzelnen Forschungsschritte
Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität. Detaillierte Vorschriften
sollen dafür sorgen, dass sowohl der Einfluss der Untersuchung auf die Untersuchungsteil-
nehmer_innen als auch der Einfluss der Forscher_innen auf die Untersuchung kontrolliert
und möglichst gering gehalten wird. Eng mit dem Kriterium der Objektivität zusammen
hängt das Kriterium der Zuverlässigkeit (Reliabilität). Es misst die Genauigkeit des Daten-
erhebungs- bzw. Messvorgangs und gibt den Grad der Verlässlichkeit der Ergebnisse an. Für
ein hochreliables Ergebnis müssen bei einer Wiederholung der Untersuchung unter gleichen
Bedingungen die gleichen Ergebnisse erzielt werden (Replizierbarkeit der Messergebnisse).
Reliabilität umfasst drei Aspekte: die Stabilität (die Übereinstimmung der Messergebnisse zu
unterschiedlichen Zeitpunkten), die Konsistenz (das Maß, mit dem die zu einem Merkmal

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2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? 17

gehörenden Items dasselbe Merkmal messen) und die Äquivalenz (die Gleichwertigkeit von
Messungen, wenn z. B. durch das Wiederholen eines Tests ein Lerneffekt eintritt).
Objektivität und Reliabilität der Methoden bestimmen die Validität, d. h. die Gültigkeit ei-
ner Variable, eines Messverfahrens bzw. der erzielten Ergebnisse. Sie bestimmt das Maß ihrer
Übereinstimmung mit dem untersuchten Realitätsausschnitt. Man unterscheidet in Bezug auf
Untersuchungsverfahren zum einen innere bzw. interne Validität (das Maß, mit dem ein For-
schungsverfahren tatsächlich das erfasst oder misst, was es erfassen oder messen soll – und
nicht z. B. durch andere Einflüsse wie z. B. Störvariablen oder systematische Messfehler beein-
trächtigt wird). Hierbei unterscheidet man insbesondere die Inhaltsvalidität (die Eignung
eines Verfahrens für die Erfassung bzw. Messung des Konstruktes), die Kriteriumsvalidität
(die Übereinstimmung der gemessenen Ergebnisse mit einem empirischen Kriterium, z. B. den
Ergebnissen, die mit einem anderen Verfahren gewonnen wurden) und die Konstruktvalidität
(die Zuverlässigkeit der Ergebnisse bezüglich des gesamten untersuchten Konstruktes und
nicht nur einzelner Aspekte des Konstruktes).
Zum anderen bestimmt man die externe Validität, d. h. die Möglichkeit der Übertragung
der Ergebnisse über die jeweilige Stichprobe und Situation der konkreten Untersuchung
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hinaus (Möglichkeit der Verallgemeinerung, Repräsentativität). Grundsätzlich ist eine hohe


Reliabilität eine Voraussetzung für hohe Validität, allerdings kann sich eine zu hohe Reliabi-
lität negativ auf die Validität auswirken, weil dann nur sehr enge Konstrukte erfasst werden
können.
Während Studien mit einem quantitativen Forschungsansatz das Forschungsfeld und
die Forschungsgegenstände aus einer distanzierten Außenperspektive betrachten, setzt sich
qualitative Forschung das Ziel, die Untersuchungsgegenstände soweit es geht aus der In-
nenperspektive der Beteiligten zu erforschen (vgl. Kapitel 3.3). Diese Forschung verlangt
daher andere Gütekriterien (vgl. im Folgenden Flick 1987 und 1995, Schmelter 2014, Steinke
1999). Ein Teil dieser Kriterien stellt eine Um- oder Neudefinition der aufgeführten Güte-
kriterien quantitativer Forschung dar, dazu kommen spezifische Kriterien qualitativer For-
schung.
Das Kriterium der Objektivität ist nicht vereinbar mit der Subjektivität der Forschungs-
beteiligten, der Notwendigkeit ihrer Interaktion und der Anwendung interpretativer Aus-
wertungsverfahren; zudem widerspricht es zentralen Charakteristika qualitativer Forschung
wie z. B. den Prinzipien der Gegenstandsentfaltung, der Offenheit, der Alltagsorientierung
und der Kontextualität. Als Äquivalenzkriterium führt Steinke (1999: 143) das Kriterium der
Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ein, für das die Reflexivität des/der Forscher_in wichtig
ist. Auch das Kriterium der Reliabilität ist nicht direkt auf qualitative Forschung übertragbar,
u. a. weil weder eine Standardisierung der Erhebungssituation noch eine vorgängige exakte
Bestimmung und Operationalisierung des Untersuchungsgegenstandes möglich bzw. sinn-
voll sind, auch ist das Untersuchungsphänomen in den meisten Fällen nicht ausreichend
stabil. Stattdessen schlägt Flick (1995: 242) die Prüfung der Verlässlichkeit von Daten und
Vorgehensweisen vor, für die u. a. die konsequente Dokumentation des Forschungsprozesses
notwendig ist.
Daneben werden auch Verfahren der Reliabilitätsprüfung aus quantitativen Forschungs-
ansätzen auf qualitative Designs übertragen, wenn z. B. zwei Forscher_innen die gleichen
Texte kodieren und ihre unterschiedlichen Deutungen diskutieren (Inter-Coder-Reliabilität).

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18 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

Das Kriterium der Validität wird für qualitative Forschungsansätze dagegen teilweise
übernommen und in Bezug auf den Auswertungs- und Interpretationsprozess hin erweitert.
Validierung wird verstanden als – zumeist kommunikativer – Prozess, in dem das Zustande-
kommen der Daten, die Darstellung der Phänomene und die daraus abgeleiteten Schlüsse auf
systematische Verzerrungen oder Täuschungen hin untersucht werden (Flick 1995: 244–245).
Die zentrale Frage lautet, „inwieweit die Konstruktionen des Forschers in den Konstruktionen
derjenigen, die er untersucht hat, begründet sind (…) und inwieweit für andere diese Begrün-
dungen nachvollziehbar sind“ (Flick 1995: 244). Ein Verfahren der Validitätsprüfung ist die
Triangulation (vgl. auch Kapitel 4.4), die hierbei jedoch nicht primär auf die Bestätigung der
Ergebnisse und damit auf die Gewinnung eines einheitlichen Gesamtbildes abzielt, sondern
auf ergänzende und vertiefende Perspektiven.
Neben den drei genannten gelten als weitere wichtige Kriterien qualitativer Forschung
Offenheit (gegenüber dem Forschungsfeld und gegenüber unerwarteten Ergebnissen), Fle-
xibilität (angesichts gewachsener Erkenntnisse oder als Reaktion auf Unerwartetes), die
Darlegung des Vorverständnisses, die Reflexion der Rolle der Forscher_in, die Indikation
des Forschungsprozesses und der Bewertungskriterien (d. h. die Prüfung, ob die getroffenen
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methodischen Entscheidungen indiziert, d. h. angemessen gewählt worden waren) sowie die


empirische Verankerung der Theoriebildung (die Theoriebildung erfolgt dicht an den Daten).
Obwohl mit qualitativen Untersuchungen keine Generalisierung angestrebt werden kann,
ist zu prüfen, wie weit die gewonnenen Ergebnisse über den Untersuchungskontext hinaus
Gültigkeit beanspruchen können (Kriterium der Limitation bzw. Reichweite). Im Unterschied
zu den Gütekriterien in quantitativen Forschungsansätzen zielen die Kriterien in qualitativen
Forschungsansätzen weniger auf Kontrolle, sondern auf Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdig-
keit und Verlässlichkeit.
Wichtige Gütekriterien für beide Ansätze sind die Offenlegung des Gegenstandsver-
ständnisses (es bildet die Grundlage für die Beurteilung der Angemessenheit des gewählten
Ansatzes und der eingesetzten Methoden) sowie die theoretische und praktische Relevanz
der Fragestellung und der Forschungsergebnisse (es muss z. B. deutlich erkennbar sein, an
welchen Theorien und Ergebnissen die Untersuchung anknüpft, welche Praxisaspekte sie auf-
greift sowie welche neuen Deutungen oder Erklärungen für die untersuchten Phänomene sie
bereitstellt und welches Innovationspotential sie enthält). Darüber hinaus müssen in jedem
Fall ethische Standards eingehalten werden (vgl. Kapitel 4.6). Das zentrale Gütekriterium sind
in jedem Fall die Gegenstandsangemessenheit der gewählten Ansätze und Verfahren für die
Bearbeitung der Forschungsfrage und, darüber hinaus, die Passung, das sinnvolle Zusammen-
wirken der einzelnen Elemente und Entscheidungen innerhalb der Forschungsarbeit: zum
einen Passung von Gegenstand, Fragestellung, Zielsetzung und Relevanz untereinander, zum
anderen Passung von Forschungstradition, Forschungskonzept bzw. -design und Verfahren
untereinander sowie die unerlässliche Passung beider Stränge.

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2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? 19

›› Literatur

Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als
Fremdsprache“ (TestDAF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Bausch, Karl-Richard/Christ, Herbert/Krumm, Hans-Jürgen (2003). Fremdsprachendidaktik und Sprach-
lehrforschung. In: Dies. (Hg.). Handbuch Fremdsprachenunterricht. 4. vollständig neu bearbeitete
Ausgabe. Tübingen: Francke.
Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank/Riemer, Claudia (Hg.) (2015). Lernen an allen Orten? Die Rolle der
Lernorte beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Arbeitspapiere der 35. Frühjahrskonferenz zur
Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr.
Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education. 7. Auflage.
London: Routledge.
DESI-Konsortium (2008) (Hg.). Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse
der DESI-Studie. Weinheim: Beltz.
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Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. München: Langenscheidt-Long-
man. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949 bis 1989. Konzeptuelle Genese einer Wissen-
schaft. München: Langenscheidt.
Doff, Sabine (2010). Englischdidaktik in den 1970er und 1980er Jahren: Stationen auf dem Weg zu einer
wissenschaftlichen Disziplin. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 39, 145–159.
Edmondson, Willis J./House, Juliane (2006). Einführung in die Sprachlehrforschung. 3. Auflage. Tübin-
gen: Francke.
Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Das „assistant“-Jahr
als ausbildungsbiographische Phase. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Flick, Uwe (1987). Methodenangemessene Gütekriterien in der qualitativ-interpretativen Forschung. In:
Bergold, Jarg B./Flick, Uwe (Hg.). Ein-Sichten. Zugänge zur Sicht des Subjekts mittels qualitativer
Forschung. Tübingen: Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie.
Flick, Uwe (1995). Qualitative Forschung: Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozial-
wissenschaften. Reinbek: Rowohlt.
Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (1988). Das Forschungsprogramm Sub-
jektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen: Francke.
Grotjahn, Rüdiger (1993). Qualitative vs. quantitative Fremdsprachenforschung: Eine klärungsbedürf-
tige und unfruchtbare Dichotomie. In: Timm, Johannes-Peter/Vollmer, Helmut Johannes (Hg.). Kon-
troversen in der Fremdsprachenforschung. Dokumentation des 14. Kongresses für Fremdsprachen-
didaktik, veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung (DGFF) Essen,
7.–9. Oktober 1991. Bochum: Brockmeyer, 223–248.
Grotjahn, Rüdiger (2006). Zur Methodologie der Fremdsprachenerwerbsforschung. In: Scherfer, Peter/
Wolff, Dieter (Hg.). Vom Lehren und Lernen fremder Sprachen. Eine vorläufige Bestandsaufnahme.
Frankfurt/M.: Lang, 247–270.
Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine
empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Ingenkamp, Karlheinz/Lissmann, Urban (2005). Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik. 5. Auflage.
Weinheim: Beltz.

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20 2. Grundfragen fremdsprachendidaktischer Forschung

Königs, Frank G. (2010). Faktorenkomplexion. In: Barkowski, Hans/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.). Fach-
lexikon Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Tübingen: Francke: 78.
Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache. Zum Nutzen eines
Sensibilisierungsunterrichts im „DaF-nE“. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Refe-
renzarbeit, Kapitel 7]
Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. Berufswahlmotive der Lehramtsstudierenden in Ang-
listik/Amerikanistik. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Schlömerkemper, Jörg (2010). Konzepte Pädagogischer Forschung. Eine Einführung in Hermeneutik und
Empirie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Schmelter, Lars (2014). Gütekriterien. In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gülte-
kin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.) (2014). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als
Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh, 33–45.
Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechts-
typischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Stauffenburg. [Referenz-
arbeit, Kapitel 7]
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Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht. Eine em-
pirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit,
Kapitel 7]
Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische
Pädagogik. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Steinke, Ines (1999). Kriterien qualitativer Forschung: Ansätze zur Bewertung qualitativ-empirischer
Sozialforschung. Weinheim: Juventa.
Tassinari, Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen. Komponenten, Kompetenzen, Strategien.
Frankfurt/M.: Lang. [Referenzarbeit, Kapitel 7]

»» Zur Vertiefung empfohlen

Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education. 7. Auf-


lage London: Routledge, 3–30.
Im ersten Kapitel dieses Handbuches „The nature of enquiry: setting the field“ erläutern die Autoren
die zentralen Forschungsparadigmen einschließlich ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen.
Gnutzmann, Claus/Königs, Frank/Küster, Lutz (2011). Fremdsprachenunterricht und seine Erfor-
schung. Ein subjektiver Blick auf 40 Jahre Forschungsgeschichte und auf aktuelle Forschungs-
tendenzen in Deutschland. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 40, 1–28.
Nach einer Klärung des Gegenstandsbereiches fremdsprachendidaktischer Forschung zeichnen die
Autoren anhand von sechs aktuellen Forschungsfeldern, darunter Forschungsmethoden, die Entwick-
lung der Fremdsprachendidaktik in den letzten 40 Jahren nach.
Grotjahn, Rüdiger (1993). Qualitative vs. quantitative Fremdsprachenforschung: Eine klärungs-
bedürftige und unfruchtbare Dichotomie. In: Timm, Johannes-Peter/Vollmer, Helmut Johannes
(Hg.). Kontroversen in der Fremdsprachenforschung. Dokumentation des 14. Kongresses für
Fremdsprachendidaktik, veranstaltet von der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachen-
forschung (DGFF) Essen, 7.–9. Oktober 1991. Bochum: Brockmeyer, 223–248.

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2.3 Welche Gütekriterien gelten für fremdsprachendidaktische Forschung? 21

Ausgehend von dem seiner Meinung nach unfruchtbaren Gegensatz zwischen qualitativer und
quantitativer Forschung erläutert der Autor grundlegende methodologische Paradigmen und Güte-
kriterien. Von den Spezifika der Fremdsprachendidaktik aus konturiert er Ansätze zur Überwindung
dieses methodologischen Gegensatzes.
Kron, Friedrich W. (1999): Wissenschaftstheorie für Pädagogen. Tübingen: E. Reinhardt.
In diesem Handbuch wird ein systematischer Überblick über die wichtigsten wissenschaftstheo-
retischen Begriffe, Fragen und Konzepte gegeben. Die Darstellung der zentralen Paradigmen und
Methoden erfolgt aus Sicht der Pädagogik.
Schmelter, Lars (2014). Gütekriterien. In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/
Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.) (2014). Empirische Forschungsmethoden für
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh, 33–45.
Dieser Artikel gibt, ausgehend vom Forschungsgegenstand der Fremdsprachenforschung, einen
Überblick über Gütekriterien quantitativer und qualitativer Forschungsansätze. Außerdem werden
übergreifende Gütekriterien sowie bislang ungelöste Fragen hinsichtlich der Gütekriterien fremd-
sprachendidaktischer Forschung diskutiert.
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3. Forschungstraditionen der
Fremdsprachendidaktik

Friederike Klippel

Die Fremdsprachendidaktiken sind als wissenschaftliche Disziplinen noch relativ jung, denn
sie etablierten sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland als akademische Fächer.
Dennoch gibt es eine Tradition der Erforschung des Lehrens und Lernens von Sprachen, die
viel weiter zurückreicht als in die 1960er Jahre, in denen an den Pädagogischen Hochschulen
der Bundesrepublik Deutschland in größerem Umfang Professuren für die Fachdidaktiken
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in den Sprachenfächern eingerichtet wurden. Wenn man unter Forschung die systematische
Suche nach neuen Erkenntnissen versteht (s. auch Kapitel 2), dann müssen auch die Bemü-
hungen aus früheren Jahrhunderten anerkannt werden, die Ziele, Inhalte, Verfahren und
kontextuelle Einbettung des Sprachenlernens theoretisch oder empirisch genauer zu fassen.
Kelly (1969) charakterisiert zwei Grundtypen früher Forschung zum Sprachenlernen:
The all-important stages of learning a language were developed by two sorts of amateur. One was
the professional grammarian who, for various reasons, found himself in the classroom; the other
was the professional educator who, because of an interest in language, turned to teaching languages.
Erasmus is a good example of the first and Comenius of the second. (Kelly 1969: IX)

Auch wenn Kellys Bezeichnung „amateur“ für Gelehrte wie Erasmus und Comenius nicht
ganz passend erscheint, so besitzt doch seine Unterscheidung in diese beiden Grundtypen
bis in das 20. Jahrhundert hinein Gültigkeit: Ein Interesse an der intensiven Beschäftigung
mit dem Sprachenlernen erwuchs entweder aus der Beschäftigung mit der Sprache oder den
Sprachen selbst, so etwa im Falle von Hermann Breymann, Professor für französische und
englische Sprache an der Münchener Universität von 1875 bis 1909. Breymann, der vor sei-
nem Ruf nach München sieben Jahre lang in England u. a. als Französischlektor selbst Sprach-
unterricht erteilt und Lehrbücher für das Französische verfasst hatte (Riedl 2005: 233), wid-
mete sich als Wissenschaftler sowohl der Erforschung des Provençalischen, der historischen
Entwicklung des Französischen und Spanischen und bestimmten Epochen der englischen
Literatur als auch der inhaltlichen Gestaltung der Lehrerbildung in den neueren Sprachen
und der bibliographischen Aufarbeitung der neusprachlichen Reformbewegung. Seine kom-
mentierten Bibliographien zur Reformbewegung (Breymann 1895, 1900) sind bis heute eine
unverzichtbare Grundlage der fachhistorischen Forschung. Als Vertreter des anderen Typus,
nämlich des Pädagogen, dessen Interesse an Bildungsprozessen im Allgemeinen auch die
sprachliche Bildung im Besonderen umfasst, wäre z. B. Carl Wilhelm Mager zu nennen, der
um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Konzept für eine umfassende Schulbildung entwirft,
in dessen Rahmen dem Unterricht in Sprachen, und zwar sowohl den lebenden als auch den

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24 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

klassischen Sprachen, besonderer Stellenwert zukommt (Mager 1846). Die von Mager dafür
entwickelte und propagierte „genetische Methode“ wurde zu seiner Zeit in einigen erfolg-
reichen Lehrbüchern umgesetzt (Klippel 1994: 444–447).
Die Klassifizierung in eher linguistisch oder pädagogisch motivierte frühe fremdsprachen-
didaktische Forschung liegt quer zu der heute üblichen Unterscheidung von Grundlagen-
forschung und angewandter Forschung (s. Kapitel 2). Die aktuell gültigen und allgemein
üblichen Güte- und Qualitätskriterien für Forschungsarbeiten (s. Kapitel 2) waren im 19.
und frühen 20. Jahrhundert noch nicht in gleichem Maße bekannt oder selbstverständlich.
Das bedeutet jedoch nicht, dass weit zurückliegende Forschungsarbeiten a priori fehler-
haft oder gar wertlos sind. Man muss sie allerdings – ganz im Sinne einer inneren und
äußeren Quellenkritik (dazu Kapitel 5.3.1) – im Kontext ihrer Zeit lesen und interpretie-
ren.
Geht man vom zeitlichen Rahmen bisheriger großer historischer Abrisse des Fremdspra-
chenlehrens und -lernens aus (Kelly 1969, Germain 1993, Wheeler 2013), dann lassen sich
Überlegungen zum Sprachenlehren und -lernen aus 5000 bis 2500 Jahren belegen. Sicherlich
sind nicht alle diese Überlegungen als Forschung im engeren Sinne einzuordnen, aber die
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Grenze zwischen den in den vergangenen Jahrhunderten niedergelegten Annahmen, Prinzi-


pien und Beobachtungen engagierter Sprachenlehrer (etwa von Seidelmann 1724 oder Falk-
mann 1839) einerseits und theoretischen Ideen und Konzepten etwa eines Comenius (1643)
andererseits ist schwer festzulegen. Ist beides, nur eines oder gar nichts davon als Forschung
zu sehen? Da der Fokus dieses Handbuchs auf der deutschen Fremdsprachendidaktik liegt,
werden im Folgenden die Forschungstraditionen in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert
skizziert, seit es eine theoretische, historische und empirische Auseinandersetzung mit dem
Forschungsfeld in größerem Ausmaß gibt.

Wer forscht?

Heute erfolgt ein Großteil der fremdsprachendidaktischen Forschung an Universitäten und


Hochschulen, oftmals im Kontext wissenschaftlicher Qualifizierungsarbeiten oder geförderter
Projekte. Das war im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch völlig anders. In einer Zeit, in der
sich die modernen Sprachen erst langsam an Schulen und Universitäten etablierten (dazu
z. B. Finkenstaedt 1983: 27–123; Hüllen 2005: 75–91), befand sich ein Großteil derer, die
sich systematisch mit dem Fremdsprachenunterricht befassten, als Lehrer an einer höheren
Schule. Viele der damaligen Sprachlehrer waren leidenschaftliche Verfechter ihres Faches und
kämpften für dessen Berechtigung und stärkere Berücksichtigung. Dazu veröffentlichten sie
theoretische Abhandlungen in den ebenfalls ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden
pädagogischen und philologischen Fachzeitschriften. Insbesondere zu Zeiten der neusprach-
lichen Reformbewegung ab etwa 1880 setzten sich Befürworter und Gegner der Reform
intensiv auseinander. In diesem Kontext entstanden auch die ersten Forschungsarbeiten,
die sich in heutiger Terminologie eventuell als empirische Unterrichtsforschung oder Hand-
lungsforschung bezeichnen lassen, indem einzelne Lehrer (z. B. Klinghardt 1888) über einen
längeren Zeitraum hinweg ihren Unterricht systematisch aufzeichneten, ihre Beobachtungen
notierten und diese dann mit Bezug auf die gängigen Theorien zum Sprachenlernen inter-
pretierten (Klippel 2013). Andere Lehrer untersuchten die Geschichte des Französisch- oder

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3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 25

Englischunterrichts (s. Kapitel 3.1 zu einschlägigen Beispielen), wiederum andere befassten


sich mit theoretischen Konzepten zu einer Sprachenfolge in den höheren Schulen – etwa
Julius Ostendorf (dazu Ostermeier 2012).
Der Beginn der Forschungstradition im Bereich der Fremdsprachendidaktik ist also eng
verknüpft mit der Lehrerschaft. Die zunehmende Professionalisierung dieser Lehrer und ihr
starkes Engagement für die aufstrebenden modernen Sprachen sowie ihr Bemühen, den Un-
terricht wissenschaftlich zu fundieren und zu optimieren, führten zu einem regen fachlichen
Diskurs. Und es ist festzuhalten, dass bereits damals historisch, theoretisch und empirisch
geforscht wurde – wenn auch letzteres nicht in breitem Umfang.
Bis in die 1960er Jahre ändert sich diese Situation nicht wesentlich. Zwar gibt es vereinzelt
Dissertationen zum Lehren und Lernen fremder Sprachen (s. Überblick in Sauer 2006), doch
findet der wissenschaftliche Diskurs primär nicht auf akademischer Ebene statt, sondern viel-
mehr bei Fachtagungen und in fachdidaktischen Fachzeitschriften, wie z. B. Die Neueren Spra-
chen, Neusprachliche Mitteilungen, Praxis des neusprachlichen Unterrichts, die weiterhin für
den Unterricht in den beiden Sprachen Englisch und Französisch publizieren1 und zumeist, so
scheint es, von Sprachlehrern selbst herausgegeben, verfasst und gelesen werden. Der Franzö-
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sisch- und Englischunterricht ist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Gymnasien und
Mittelschulen etabliert; an den Universitäten sind fast überall Professuren für die neuphilolo-
gischen Fächer eingerichtet, deren Schwerpunkt jedoch weiterhin in der Literaturwissenschaft
und der Historischen Sprachwissenschaft liegt. Erst mit dem Ausbau des Unterrichts in einer
modernen Fremdsprache, meist Englisch, für Schülerinnen und Schüler aller Schulformen
in Folge des Hamburger Abkommens von 1964 und der dadurch erforderlichen Einrichtung
von fremdsprachendidaktischen Professuren an den Pädagogischen Hochschulen, an denen
damals die Lehrkräfte für die nicht-gymnasialen Schulformen ausgebildet wurden, gewinnt
die Fachdidaktik Englisch (vgl. dazu Doff 2008) und in Folge dessen auch die Fachdidaktik
der romanischen Sprachen an wissenschaftlicher Statur und Forschungskapazität. Gleichzeitig
erhöht sich die Zahl der Lehrkräfte erheblich, die für den Sprachunterricht ausgebildet werden
müssen und die als potentielle Rezipienten von Forschungsergebnissen – während der Aus-
bildung oder im Beruf – zu sehen sind.
Im Bereich Deutsch als Fremdsprache erfolgt die Entwicklung mit einiger Verzögerung und
mit anderen Vorzeichen, denn ein wissenschaftliches Fach etabliert sich in der alten Bundes-
republik erst Ende der 1970er Jahre in unterschiedlich enger Verzahnung mit der Germanistik
und mit unterschiedlichen Denominationen (vgl. Götze et al. 2010: 19–20). Für Deutsch als
Fremdsprache geht die Forschungstätigkeit weniger von den praktizierenden Lehrkräften
aus als von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Als „Motor der Entwicklung im
Wissenschaftsbereich“ identifizieren Götze et al. (2010: 20–21) ab 1971 den „Arbeitskreis
Deutsch als Fremdsprache“ (AKDaF; heute „Fachverband Deutsch als Fremdsprache“ FaDaF).
In den 1970er Jahren entstehen die einschlägigen DaF-Publikationsorgane wie etwa die Zeit-
schrift „Zielsprache Deutsch“ (ab 1970) und das „Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache“ (ab
1975) (vgl. Götze et al. 2010: 21).

1 Die fremdsprachendidaktische Zeitschrift der DDR, „Fremdsprachenunterricht“, enthielt auch Artikel zum
Russischunterricht.

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26 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Die hier geschilderte Entwicklung verlief in der DDR etwas anders. So gab es am Leip-
ziger Herder-Institut, an dem seit 1956 Deutschunterricht für ausländische Studierende er-
teilt wurde, bereits ab 1968 eine Professur im Fach Deutsch als Fremdsprache. Die fremd-
sprachendidaktische Forschung in der DDR orientierte sich weitgehend an der russischen
(Psycho-) Linguistik und Pädagogik, während die westdeutsche eher in die USA blickte. Vor
der Wiedervereinigung 1989 wollte oder konnte man sich in BRD und DDR gegenseitig kaum
in den jeweiligen Forschungsbemühungen wahrnehmen (so Hüllen 1991), wenngleich es
etwa im Bereich der fachhistorischen Forschung bereits in den 1980er Jahren auf der Basis
der Initiative einzelner Forscher zu einem wissenschaftlichen Austausch kam (etwa Strauß
1985).
Die große Steigerung der Forschungsaktivität ab den späten 1960er Jahren zeigt sich ein-
drücklich an der wachsenden Zahl von Dissertationen und Habilitationsschriften, die in der
Fremdsprachendidaktik angefertigt werden. Während Sauer (2006) für den Zeitraum von
1900 bis 1962 lediglich 19 einschlägige Arbeiten aufführt, sind es von 1968 bis zum Jahr
2000 insgesamt 355. Ab dem Jahr 2000 erfolgen in Deutschland jährlich im Durchschnitt
zwischen 15 und 25 Promotionen und Habilitationen in den fremdsprachendidaktischen
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Fächern.2 Selbstverständlich sind unter den Promovenden und Habilitanden auch Lehrkräfte
der Sprachenfächer; genaue Zahlen dazu gibt es jedoch nicht. Dennoch hat sich somit in den
letzten 50 Jahren die Forschungstätigkeit eindeutig aus den Schulen in die Universitäten
und Hochschulen verlagert, zumal für Lehrkräfte im Schuldienst eine Promotion keine die
Laufbahn direkt fördernde Qualifikation darstellt. Es ist heutzutage nicht in jedem Bundes-
land zwingend erforderlich, dass bei der Besetzung von fachdidaktischen Professuren in den
Sprachenfächern Schul- oder Unterrichtspraxis nachgewiesen wird. Insofern hat sich auch in
dieser Hinsicht die Forschung aus der Schule heraus verlagert.

Was wird erforscht?

Fremdsprachendidaktische Forschung dient dem Ziel, die Komponenten des Sprachunter-


richts, dessen Ziele, Inhalte und Methoden, aber auch die Prozesse der Sprachaneignung
und die Kontexte, in denen Lehren und Lernen realisiert wird, besser zu verstehen und in
Folge effektiver zu gestalten. Wenn man also das Didaktische Dreieck zum Ausgangspunkt
einer Analyse nimmt, dann bestehen für die fremdsprachendidaktische Forschung die vier
Optionen, ihren Fokus stärker auf die Lern(er)perspektive, die Lehr(er)perspektive oder die
Inhaltsperspektive zu legen; als weiterer Fokus kommt der Kontext hinzu, in dem Lehren
bzw. Lernen verortet ist.
Betrachtet man die jüngere deutsche Tradition der fremdsprachendidaktischen Forschung
in den vergangenen gut einhundert Jahren, so kann man Phasen unterscheiden, in denen
einzelne der genannten Schwerpunkte im Zentrum der Forschung standen, während andere
kaum Beachtung fanden. Zu jeder Zeit gibt es Bereiche des Sprachenlernens, die als weit-
gehend geklärt oder unstrittig gelten, so dass sie als wenig ertragreich für die Forschung

2 Zu Zahl und Titeln der Dissertationen und Habilitationen in den fremdsprachendidaktischen Fächern
wird in Fortführung der Chronologie von Sauer (2006) eine jährlich aktualisierte Liste auf der Webseite
der DGFF geführt, die auf Meldungen von Nachwuchswissenschaftler_innen und Professor_innen basiert.
(http://www.dgff.de/de/qualifikationsarbeiten.html 18. 11. 2015 )

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3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 27

betrachtet werden. Gegenwärtig ist das etwa für die generelle Ausrichtung des Fremdspra-
chenunterrichts auf funktionale Sprachfertigkeiten der Fall. Dass dies ein wichtiges Ziel ist,
wird theoretisch kaum hinterfragt; die Mehrzahl der Forschungsvorhaben konzentriert sich
vielmehr auf Fragen nach dem optimalen Gestalten von Lernumgebungen, Aufgaben oder
Leistungsmessung innerhalb des akzeptierten Konzepts.
Solange fremdsprachendidaktische Forschung vor allem durch die Sprachlehrer selbst
erfolgte, standen Fragen nach der methodischen Gestaltung des Unterrichts und nach der
Eignung bestimmter Texte und Materialien im Vordergrund. Die Lern(er)perspektive fin-
det sich in dieser Zeit nur sehr selten. So scheint zwar die kleine Monographie von Felix
Franke (1884) aufgrund ihres Titels „Die praktische Spracherlernung auf Grund der Psycho-
logie und der Physiologie der Sprache dargestellt“ einen Fokus auf das Lernen zu besitzen,
doch geht es Franke vielmehr um die möglichst einsprachige, aus seiner Sicht natürliche
Methode, um Sprachen zu vermitteln. Die nützliche und leider fast vergessene Bibliogra-
phie von Kohl/Schröder (1972), die Veröffentlichungen zur englischen Fachdidaktik und
deren Bezugsfelder bis 1971 aufführt, liefert für die Zeit bis 1960 unter der Rubrik „Der
Fremdsprachen-Lernprozess“ (Kohl/Schröder 1972: 62–65) wesentlich weniger Einträge als
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ab 1960. Insgesamt enthält die Bibliographie zu dem Themenbereich des Fremdsprachen


Lernens nur einen geringen Bruchteil an Publikationen im Vergleich zu denen, die unter
„Methodische Grundfragen“ zusammengestellt sind (Kohl/Schröder 1972: 191–286) und die
sich also mit der Lehrperspektive befassen. Auch wenn viele der in dieser Bibliographie
genannten Aufsätze und Monographien nicht zur Forschungsliteratur im engeren Sinne
gezählt werden können, so werden doch zeitlich bedingte Schwerpunktsetzungen sehr deut-
lich.
Die Lern(er)perspektive wird ab den 1970er Jahren im Zuge der Etablierung der Sprach-
lehrforschung sehr viel stärker berücksichtigt. Dieser Blickwechsel wird durch internationale
Entwicklungen gestützt, die der Second Language Acquisition Research zur Blüte verhelfen
(Königs 2003). Applied Linguistics emanzipiert sich von der Sprachwissenschaft und behaup-
tet sich seitdem als eigener Forschungszweig. Zahlreiche Verbands- und Zeitschriftengrün-
dungen im englischsprachigen Raum in den 1960er und 1970er Jahren tragen dem Rechnung.
So gibt es die „Association Internationale de Linguistique Appliquée“ (AILA) seit 1964, die
„British Association for Applied Linguistics“ (BAAL) seit 1967, die „American Association
for Applied Linguistics“ (AAAL) seit 1977.
Organisationen und Zeitschriften, die sich auf Forschung zur Vermittlung einer Sprache
konzentrieren, sind in der Regel jüngeren Datums als diejenigen, die sich mit mehreren
lebenden Sprachen befassen, was die fortlaufende Differenzierung des gesamten Feldes in
Einzeldisziplinen in Deutschland und im internationalen Raum widerspiegelt. So gibt es
die Vereinigung der Fremdsprachenlehrer in den USA, die „National Federation of Modern
Language Teachers“, und ihre Zeitschrift „Modern Language Journal“ bereits seit 1916. Nach
dem zweiten Weltkrieg werden wichtige internationale englischdidaktische Zeitschriften ge-
gründet: „English Language Teaching“ (heute: „English Language Teaching Journal“) besteht
seit 1946, „TESOL Quarterly“ seit dem Jahr 1966, „Language Teaching“ seit 1967. Auch in
Deutschland differenziert sich das Angebot an einzelsprachigen Zeitschriften erst ab den
1960er Jahren aus: „Englisch“ wird 1965 gegründet, „Englisch-Amerikanische Studien (EASt)“
im Jahr 1979.

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28 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass Dissertationen und Habilitationsschrif-


ten im Großen und Ganzen mit den jeweils aktuellen Forschungstrends konform gehen.
Blickt man auf die Themen der seit dem Jahr 1843 abgeschlossenen Arbeiten (Sauer 2006
und DGFF-Webseite, siehe Fußnote 2), dann lassen sich anhand der Titel die thematischen
Schwerpunkte zumindest oberflächlich feststellen. Tabelle 1 gibt einen Überblick.

Thematischer 1843 bis 1970 1971 bis 1999 2000 bis 2014
Schwerpunkt

N = 29 N = 336 N = 282
Inhalte 1 24 % 123 37 % 86 30 %
Lehren, Lehrer 10 34 % 58 17 % 56 20 %
Lernen, Lerner 7 3% 127 38 % 124 44 %
Kontext 12 41 % 28 8% 16 6%
Tabelle 1: Themenbereiche fremdsprachendidaktischer Dissertationen und Habilitationen 1843 bis 2014
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Selbstverständlich kann eine solche Übersicht nur einen groben Trend verdeutlichen, denn
zum ersten sind vermutlich nicht alle Dissertationen und Habilitationen in den benutzten
Übersichten erfasst, zum zweiten lässt sich das Themengebiet aus den Titeln nicht immer
eindeutig bestimmen und zum dritten umgreifen sehr viele Arbeiten vermutlich mehr als
nur einen Schwerpunkt. Dennoch ist die Verlagerung von der Lehrperspektive zur Lern-
perspektive klar zu erkennen. Studien zu den Inhalten des Fremdsprachenunterrichts haben
sich in ihrem Anteil nicht wesentlich verändert, was vor allem darauf zurückzuführen ist,
dass literatur- und kulturdidaktische Untersuchungen in der deutschen Fremdsprachendi-
daktik – anders als etwa im englischsprachigen Raum – seit jeher einen hohen Stellenwert
besitzen.

Wie wird geforscht?

Wenn man von den drei großen Kategorien von Forschung ausgeht, die auch in diesem Hand-
buch unterschieden werden, nämlich historische, theoretische und empirische Forschung,
dann haben sich die Gewichte in den letzten drei Jahrzehnten stark zur empirischen For-
schung hin verschoben. Vor gut hundert Jahren gab es zwar auch schon erste empirische
Studien zum Fremdsprachenunterricht, der Großteil der Forschung war jedoch eher theo-
retisch-konzeptuell und historisch-beschreibend ausgerichtet. Es ist nicht verwunderlich, dass
die historische Forschung in den letzten Jahrzehnten des 19. und bis in die späten 1960er
Jahre bedeutsam war, denn jede neue Disziplin sucht im Prozess der Selbstdefinition und
Selbstfindung nach historischen Wurzeln und Belegen für eine eventuell schon vorhandene
Tradition.
Während im englischsprachigen Raum mit der Entwicklung der Applied Linguistics nach
einer theoretischen Konsolidierungsphase in den 1960er Jahren (z. B. Halliday/McIntosh/
Strevens 1964) in den letzten Jahrzehnten vor allem empirische Forschungsvorhaben durch-
geführt wurden, blieben die Traditionen der theoretisch-konzeptuellen und der historischen

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3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik 29

Forschung im deutschsprachigen und europäischen Raum stärker lebendig, wenngleich auch


bei uns die empirische Forschung heute den Hauptanteil aller Vorhaben in der Fremdspra-
chendidaktik ausmacht. Es ist insofern interessant, dass erst jetzt in der englischsprachigen
Welt der Fremdsprachendidaktik die Forderung nach systematischer historischer Forschung
geäußert wird (Smith 2016), die etwa auch in der Romania schon lange im Rahmen von
SIHFLES (Société Internationale pour l’Histoire du Français Langue étrangère ou seconde)
oder CIRSIL (Centro Interuniversitario di Ricerca sulla Storia degli Insegnamenti Linguistici)
erfolgt.
Die Einflüsse auf die fremdsprachendidaktische Forschung in Deutschland stammen aus
unterschiedlichen Feldern. Durch die feste Verankerung der Fremdsprachendidaktik in der
Lehrerbildung ergeben sich Schnittmengen mit der bildungswissenschaftlichen Forschung
und der in anderen Fachdidaktiken. Der Aufstieg der empirischen Bildungsforschung hat auch
in der Fremdsprachendidaktik Wirkungen entfaltet. Zudem geschieht Forschung heute stärker
als noch vor einigen Jahrzehnten in größeren Verbünden; das DESI-Projekt (Deutsch-Eng-
lisch-Schülerleistungen-International) ist dafür ein Beispiel. Eine größere Kooperation gibt es
auch über die Grenzen einzelner Fachdidaktiken hinweg; ab 2015 ist dies häufiger im Rahmen
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von Verbundprojekten der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (gefördert durch das BMBF) der
Fall. Für die fremdsprachendidaktische Forschung sind auch die Initiativen und Aktivitäten
des IQB (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) von großer Bedeutung, mit
denen etwa eine Entwicklung und empirische Validierung von fachspezifischen Aufgaben
erfolgt, die in den Schulen die Erreichung der Bildungsstandards fördern und überprüfen
sollen. Fremdsprachendidaktische Forschung war auch schon früher mit Innovationen und
Entwicklungen im Schulwesen eng verknüpft. Insbesondere die Einführung des Englisch-
unterrichts in der Grundschule führte in den 1970er (Doyé/Lüttge 1977) und frühen 1990er
Jahren (Kahl/Knebler 1996) zu wichtigen Forschungsarbeiten.
Wie geforscht wird und geforscht werden kann, hängt nicht zuletzt auch mit den vor-
handenen Infrastrukturen zusammen. Die fremdsprachendidaktische Forschung hat vor
allem von der Etablierung von Professuren in den letzten fünfzig Jahren profitiert, aber
auch von der Einrichtung des DFG-Schwerpunkts „Sprachlehrforschung“ und der Gradu-
iertenkollegs der DFG. Zwölf Jahre lang, von 1991 bis 2003, bestand das Graduiertenkolleg
„Didaktik des Fremdverstehens“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen und hat durch
seine Absolvent_innen, von denen weit mehr als ein Dutzend erfolgreich die Wissenschaft-
ler_innenlaufbahn eingeschlagen haben, die deutsche Forschungslandschaft der fremdspra-
chendidaktischen Fächer in den vergangenen zwanzig Jahren nachhaltig geprägt. Offenbar
gehen eine intensive Nachwuchsförderung und ein bedeutsamer Forschungs-Output Hand
in Hand, wie ein Blick in die Zusammenstellung von Sauer (2006) zeigt. Universitäten, an
denen zahlreiche Dissertationen und Habilitationsschriften entstanden sind (vgl. Sauer 2006:
75–109) – etwa Gießen, Bielefeld, Hamburg, München und Berlin – können auch als for-
schungsstark angesehen werden, wenngleich nicht immer in allen fremdsprachendidaktischen
Fächern.
Der Blick zurück zeigt eine Reihe von parallel und sukzessive verlaufenen Entwicklungen
sowie einige Konstanten. Die fremdsprachendidaktische Forschung hat sich in den letzten
130 Jahren von den Lehrern auf die Wissenschaftler_innen an Universitäten und Hochschulen
verlagert. Neben die Inhalts- und Lehrperspektive ist zunehmend die Lernperspektive als

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30 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Forschungsgegenstand getreten. Historische und theoretische Forschungsansätze haben zwar


etwas an Bedeutung verloren, sind jedoch keineswegs obsolet. Diesen Verschiebungen im
Fokus fremdsprachendidaktischer Forschungsaktivitäten stehen die Konstanten gegenüber,
die sich etwa in den Forschungsfragen zeigen, von denen sich viele – zwar im jeweiligen Zeit-
raum anders formuliert und fokussiert – mit der Sinnhaftigkeit bestimmter Lehr-Lernziele
oder der Wirksamkeit einzelner unterrichtlicher Maßnahmen befassen. Auch die Analyse von
Lehr- oder Lernmaterialien ist ein immer wieder aufgegriffenes Forschungsthema. Der Blick
in diese reiche Tradition lohnt sich auch heute und in Zukunft.

›› Literatur

Breymann, Hermann (1895). Die neusprachliche Reform-Literatur 1876–1893. Eine bibliographisch-


kritische Übersicht. Leipzig: Deichert.
Breymann, Hermann (1900). Die neusprachliche Reform-Literatur 1894–1899. Eine bibliographisch-
kritische Übersicht. Leipzig: Deichert.
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Comenius, Johann Amos (1643). Janua Linguarum Reserata. Danzig: Hünefeld.


Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949–1989. München: Langenscheidt.
Doyé, Peter/Lüttge, Dieter (1977). Untersuchungen zum Englischunterricht in der Grundschule. Be-
richt über das Braunschweiger Forschungsprojekt „Frühbeginn des Englischunterrichts“ FEU. Braun-
schweig: Westermann.
Falkmann, Christian Friedrich (1839). Einige Bemerkungen über den Unterricht in den neuern Sprachen.
Lemgo: Meyer.
Finkenstaedt, Thomas (1983). Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Darmstadt: Wissenschaft-
liche Buchgesellschaft.
Franke, Felix (1884). Die praktische Spracherelernung auf Grund der Psychologie und Physiologie der
Sprache dargestellt. Heilbronn: Henninger.
Germain, Claude (1993). Évolution de l’enseignement des langues: 5000 ans d’histoire. Paris: CLE
international.
Götze, Lutz/Helbig, Gerhard/Henrici, Gert/Krumm, Hans-Jürgen ( 2010). Die Strukturdebatte als Teil
der Fachgeschichte. In: Krumm, Hans-Jürgen/Fandrych, Christian/Hufeisen, Britta/Riemer, Claudia
(Hg.). Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbband. Berlin: de
Gruyter, 19–34.
Halliday, M. A. K./Mclntosh, Angus/Strevens, Peter (1964). The Linguistic Sciences and Language Tea-
ching. London: Longmans.
Hüllen, Werner (1991). Honi soit qui mal y pense. Fremdsprachenforschung in Deutschland. Zeitschrift
für Fremdsprachenforschung 2 (2), 4–15.
Hüllen, Werner (2005). Kleine Geschichte des Fremdsprachenlernens. Berlin: Schmidt.
Kahl, Peter W./Knebler, Ulrike (1996). Englisch in der Grundschule und dann? Evaluation des Hambur-
ger Grundschulversuchs Englisch ab Klasse 3. Berlin: Cornelsen.
Kelly, Louis G. (1969). 25 Centuries of Language Teaching. 500 BC – 1969. Rowley (Mass.): Newbury
House.
Klinghardt, Hermann (1888). Ein Jahr Erfahrungen mit der neuen Methode. Bericht über den Unter-
richt mit einer englischen Anfängerklasse im Schuljahr 1887/88. Zugleich eine Anleitung für jüngere
Fachgenossen. Marburg: Elwert.

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3.1 Historische Forschung 31

Klippel, Friederike (1994). Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher
und Unterrichtsmethoden. Münster: Nodus.
Klippel, Friederike (2013). Die neusprachliche Reformbewegung im Unterrichtsalltag: Frühe Hand-
lungsforschung. In: Klippel, Friederike/Kolb, Elisabeth/Sharp, Felicitas (Hg.). Schulsprachenpolitik
und fremdsprachliche Unterrichtspraxis. Historische Schlaglichter zwischen 1800 und 1989. Münster:
Waxmann, 125–138.
Kohl, Norbert/Schröder, Konrad (1972). Bibliographie für das Studium der Anglistik III. Englische Fach-
didaktik. 2 Bände. Frankfurt am Main: Athenäum.
Königs, Frank (2003). Teaching and Learning Foreign Languages in Germany: a personal overview of
developments in research. In: Language Teaching 36 (4), 235–251.
Mager, Carl Wilhelm (1846). Die genetische Methode des schulmäßigen Unterrichts in fremden Sprachen
und Litteraturen. 3. Bearb. Zürich: Meyer und Zeller.
Ostermeier, Christiane (2012). Die Sprachenfolge an den höheren Schulen in Preußen (1859–1931).
Stuttgart: ibidem.
Riedl, Michael (2005). Hermann Wilhelm Breymann (1843–1910) – Ein bayerischer Neuphilologe und
Hochschulreformer. In: Hüllen, Werner/Klippel, Friederike (Hg.). Sprachen der Bildung – Bildung
durch Sprachen im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Harrassowitz, 229–246.
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Sauer, Helmut (2006). Dissertationen, Habilitationen und Kongresse zum Lehren und Lernen fremder
Sprachen. Eine Dokumentation. Tübingen: Narr.
Seidelmann, Christian Friedrich. (1724 / 1984). Tractatus Philosophico-Philologicus de Methodo Recte
Tractandi Linguas Exoticas Speciatim Gallicam, Italicam et Anglicam. Facsimile und Übersetzung
von Franz-Josef Zapp and Konrad Schröder 1984. Augsburg: Universität Augsburg.
Smith, Richard (2016). Building ‚Applied Linguistics Historiography‘: Rationale, Scope, Methods. In:
Applied Linguistics 37, 71–87.
Strauß, W. H. (Hg.) (1985). 150 Jahre Methodik des Englischunterrichts als Wissenschaft und akademi-
sches Lehrfach. Probleme und Entwicklungstendenzen in Vergangenheit und Gegenwart. Interna-
tionales Symposium aus Anlaß des 575-Gründungsjubiläums der Universität Leipzig am 25. und
26. Oktober 1984. Augsburg: Universität.
Wheeler, Garon (2013). Language Teaching Through the Ages. New York und London: Routledge.

3.1 Historische Forschung

Friederike Klippel

Die Beschäftigung mit der Geschichte von Fächern und Disziplinen hat in den Fachdidaktiken
eine gewisse Tradition, wenngleich fachhistorische Forschung meist nur ein Minderheiten-
interesse darstellt. Der Großteil gegenwärtiger Forschungstätigkeit in der Fremdsprachendi-
daktik befasst sich verständlicherweise mit Fragen, die aus der Gegenwart erwachsen oder die
nahe Zukunft der Fachdidaktiken und ihres Praxisfelds betreffen und nimmt dazu vorliegende
Forschungsergebnisse nur aus einem Zeitraum von wenigen Jahren zur Kenntnis. Bestenfalls
findet man in den jeweiligen Einleitungen kurze Hinweise auf die Genese des Forschungs-
feldes und einige seiner früheren Erträge. Weiter zurückliegende Forschung wird in der Regel
bei dieser ‚Einleitungshistorie‘ kaum berücksichtigt; auch findet eine intensive Auseinander-
setzung mit Traditionen, früheren theoretischen Überlegungen und gelebter Praxis meistens

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32 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

nicht statt. Dadurch gehen wichtige Erkenntnisse, weiterhin gültige theoretische Annahmen
und Wissensbestände sowie auch das Wissen über erfolgreiche Praktiken verloren. Es bedarf
daher auch der gezielten historischen Forschung.
Historische Forschung in der Fremdsprachendidaktik kann insofern eine gewisse fachliche
Kontinuität herstellen, ein Bewusstsein für fundamentale Fragen und Entwicklungen schaffen
und zur Selbstreflexion und Selbstvergewisserung der Disziplin beitragen. In der rückbli-
ckenden Analyse von Entwicklungen, Theorien, Praktiken, Materialien und institutionellen
sowie individuellen Lehr-/Lernsituationen besitzt die fachdidaktisch historische Forschung
Schnittstellen zu historischer Bildungsforschung und zur Wissenschaftsgeschichte ebenso
wie zu Ideen- und Kulturgeschichte, denn Lehren und Lernen war immer Teil kultureller
Praktiken.

3.1.1  ie Anfänge fremdsprachendidaktischer historischer


D
Forschung um 1900
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Die Forschung zur Geschichte des Fremdsprachenlehrens und -lernens setzt in Deutschland
gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Das erklärt sich aus einer Reihe von Entwicklungen:
Zum ersten etablierten sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowohl die modernen Sprachen
als Unterrichtsfächer an den höheren Schulen als auch die Neuphilologien als forschende und
lehrerbildende Disziplinen an den Universitäten; zum zweiten entstand im Zuge dieser Kon-
solidierungen eine selbstbewusste, gebildete und wissenschaftlich interessierte Lehrerschaft,
deren forschende Neugier sich auch auf die historischen Wurzeln des eigenen Tuns richteten.
Zum dritten gab es mit den ab 1824 jährlich zu erstellenden Schulprogrammen, die jeweils
auch einen wissenschaftlichen Beitrag enthielten (s. Klippel 1994: 302) und den gegen Ende
des 19. Jahrhunderts zunehmend verbreiteten pädagogischen Lexika und Handbüchern (z. B.
Rein 1895) sowie der steigenden Zahl an pädagogischen und neuphilologischen Zeitschriften
zahlreiche Möglichkeiten zur Publikation historischer Arbeiten.
Das Interesse dieser frühen historischen Arbeiten richtete sich zum ersten auf die Dar-
stellung der Entwicklung des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen in früheren Jahr-
hunderten im Allgemeinen (Lehmann 1904, Boerner/Stiehler 1906), in bestimmten Regionen
(z. B. Ehrhart 1890 zu Württemberg), an bestimmten Institutionen (z. B. zu Berliner Handels-
schulen Gilow 1906, zur Universität Gießen Behrens 1907), im Hinblick auf bestimmte Lehr-
/ Lernmaterialien (zu Comenius siehe Liese 1904, zu Johann König siehe Driedger 1907,
zu Grammatiken siehe Horn 1911) oder auf die Vermittlung einzelner Sprachen, wie des
Französischen (Dorfeld 1892, Streuber 1914, Huth 1905) oder Englischen (Pariselle 1895,
Junker 1904).
Für die gegenwärtige historische Forschung liefern diese frühen Schriften, denen aus heu-
tiger Perspektive natürlich in gewisser Weise auch der Status historischer Quellen zukommt,
aufschlussreiche Einblicke in die damalige Sicht auf die Vergangenheit, die von den Diskursen
ihrer Entstehungszeit – etwa im Sinne der Positionierung im Hinblick auf die Neusprachenre-
form – geprägt ist. Wichtiger für die heutige Forschung sind diese Veröffentlichungen jedoch

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3.1 Historische Forschung 33

als Belege zu den Quellen früherer Jahrhunderte, von denen viele die Weltkriege und deren
Zerstörungen nicht überdauert haben.
Es ist für die heutige Forschung zudem ein großer Vorteil, dass die Fremdsprachendidakti-
ker der Wende vom 19. zum 20. Jh nicht nur eigene historische Untersuchungen durchgeführt
haben, sondern auch die Publikationen ihrer Zeit akribisch recherchiert und als bibliogra-
phische Hilfsmittel zusammengestellt haben. Eine besondere Position nimmt dabei die von
Hermann Breymann über einen längeren Zeitraum publizierte Bibliographie zur neusprach-
lichen Reformliteratur (Breymann 1895, 1900; Breymann/Steinmüller 1905, 1909) ein, die
die Beiträge der Neusprachenreformer und ihrer Gegner nicht nur bibliographisch aufführt,
sondern auch kommentiert, so dass der Diskurs im Kontext seiner Zeit aus der Sicht des
Bibliographen abgebildet wird, der weder ein radikaler Reformer noch ein Reformgegner
war. Eine bedeutsame Rolle spielen auch die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinen-
den Enzyklopädien zum Studium der neueren Sprachen, in denen zahlreiche Hinweise auf
Lehrwerke, Literatur, Zeitschriften, einschlägige zeitgenössische Veröffentlichungen und den
jeweiligen Kenntnisstand zu einzelnen Bereichen der Sprachen und ihrer Vermittlung zu
finden sind (siehe etwa Schmitz 1859, Wendt 1893).
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3.1.2  remdsprachendidaktische historische Forschung


F
nach 1945

Nach der ersten Blüte der historischen Forschung zum Fremdsprachenunterricht um 1900
gibt es für die Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkriegs nur ein größeres Werk, das auch
heute noch nicht überholt ist, nämlich Wilhelm Aehles Untersuchung zum frühen Englisch-
unterricht insbesondere an den Ritterakademien (Aehle 1938). Man kann eventuell davon
ausgehen, dass die durch die nationalsozialistische Schulpolitik vorgenommene Aufwertung
des Englischen gegenüber dem bis dahin klar dominierenden Französisch die Erforschung der
Anfänge des Englischunterrichts in Deutschland motiviert hat. Wie schwierig sich damals die
historische Forschung aufgrund der Rahmenbedingungen gestaltete, erkennt man an Aehles
Vermutung, dass sich wohl kein Englischbuch aus dem 18. Jahrhundert mehr auffinden lasse,
wenn selbst die Bibliothek des traditionsreichen Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin
kein Exemplar des Ende des 18. Jahrhunderts an der Schule verwendeten Buches von Gedike
mehr besitze (siehe Aehle 1938: 222–223). Heute bestehen aufgrund des hervorragend ver-
netzten und leicht digital zugänglichen Bibliotheks- und Archivwesens wesentlich bessere
Voraussetzungen für die historische Forschung und auch zahlreiche Lehrwerke des 18. Jahr-
hunderts sind noch vorhanden (siehe Klippel 1994, Turner 1978).
In den 1960er Jahren setzte die historische Forschung zum Lehren und Lernen von Spra-
chen wieder ein und stellt bis heute einen stetigen, wenngleich geringen Anteil aller For-
schungsarbeiten im Feld der Fremdsprachendidaktiken, wie man aus der Chronologie bei
Sauer (2006) ersehen kann. Vier Dissertationen aus den 1960er Jahren zeigen zum einen
die nun gefestigte Vorrangstellung des Englischen, denn sowohl Sauer (1968, zum Englisch-
unterricht in der Volksschule) als auch Schröder (1969, zum Englischunterricht an den Uni-
versitäten bis 1850) befassen sich ausschließlich mit der Vermittlung des Englischen, während

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34 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Flechsig (1962) und Rülcker (1969) Entwicklungen der neusprachlichen Bildung und des
neusprachlichen Unterrichts über längere Zeiträume untersuchen.
Aus Konrad Schröders Beschäftigung mit der Geschichte des Sprachenlernens an Univer-
sitäten im deutschsprachigen Raum erwuchs eine überaus fruchtbare und ertragreiche Tätig-
keit als Bibliograph und Chronist, deren Ergebnis zahlreiche nützliche Nachschlagewerke
zu Lehrbüchern, Lernorten und Sprachenlehrenden vergangener Jahrhunderte sind (etwa
Schröder 1975, Schröder 1980–1985, Schröder 1987–1999, Glück/Schröder 2007). Es ist in
der Tat ein Kennzeichen der historischen Forschung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts,
dass die Erschließung und Aufarbeitung der Vergangenheit in zahlreichen Bibliographien und
Quellensammlungen ihren Niederschlag findet, die bestimmte Felder kartieren und in Folge
anderen Forschern als Arbeitsmittel zur Verfügung stehen (z. B. Flechsig 1965 und Hüllen
1979 mit Primärquellen, von Walter 1977 zu Schulprogrammschriften, Christ/Rang 1985 zu
Lehrplänen, Macht 1986–1990 zu Lehrbüchern; neuerdings die Arbeiten von Helmut Glück
und anderen in der Reihe „Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart“). Somit sind die
Voraussetzungen für historische Forschung am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahr-
hunderts sehr viel besser als jemals zuvor.
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Der leichtere Zugriff auf die Quellen mag dazu beigetragen haben, dass ab den 1980er
Jahren die Forschungsfragen spezifischer und/oder die untersuchten Zeiträume kürzer wer-
den. Dabei geraten zunehmend auch zeitgeschichtliche Entwicklungen in den Blick, wie etwa
die Zeit der Kulturkunde (Mihm 1972), die des Nationalsozialismus (Lehberger 1986 zum
Englischunterricht, Hausmann 2000 zur Romanistik bzw. Hausmann 2003 zu Anglistik und
Amerikanistik an den Universitäten), die Nachkriegszeit (Ruisz 2014), die Zeit zwischen
1945 und 1989 (Doff 2008) oder die Epoche des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts
(Kolb 2013). Zugleich verengt sich der Fokus der einzelnen Arbeiten auf spezifische Fragestel-
lungen: so analysiert Franz (2005) die speziell für deutsche Auswanderer nach Nordamerika
veröffentlichten Sprachführer im 19. Jahrhundert; Ostermeier (2012) untersucht die Debatte
um die Sprachenfolge an höheren Schulen im 19. Jahrhundert und Schleich (2015) stellt auf
breiter Quellenbasis die Anfänge des internationalen Schülerbriefwechsels vor dem ersten
Weltkrieg dar.
Das 19. Jahrhundert spielt zu Recht eine wichtige Rolle in der fremdsprachendidaktischen
historischen Forschung, denn in dieser Zeit wurden wesentliche Grundlagen für den moder-
nen Sprachunterricht in institutioneller (Lehrpläne, Stundentafeln), materieller (Schulbücher,
Materialien, Medien), personeller (Lehrer) und wissenschaftlicher (Lehrerbildung, Forschung)
Hinsicht gelegt. Nicht alle dieser Aspekte wurden bisher gleichermaßen untersucht. So wissen
wir Näheres nur über wenige wichtige Aktanden dieser Zeit – etwa über V. A. Huber und
S. Imanuel (Haas 1990) oder Julius Ostendorf (Ostermeier 2012) –; viele wichtige Persönlich-
keiten, wie etwa Ludwig Herrig oder Carl Mager, jedoch harren noch darauf, in ihrem Wirken
und ihren Werken näher erforscht zu werden. Die Entstehung neuphilologischer Lehrstühle
an den Universitäten ist gut dokumentiert und analysiert (z. B. Haenicke 1979, Finkenstaedt
1983, Christmann 1985), doch wurde bislang die Lehrerbildung nur punktuell einbezogen
(Haenicke 1982). Die mit dem Fremdsprachenunterricht verknüpften Bildungsvorstellungen
und außersprachlichen, kulturellen Inhalte untersuchen Flechsig (1962) und Raddatz (1977).
Einzelne Forschungsarbeiten zu dieser Epoche widmen sich der Entwicklung von Medien
(z. B. Schilder 1977, Reinfried 1992) sowie Lehr- und Lesebüchern (Diehl 1975, Bode 1980,

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3.1 Historische Forschung 35

Niederländer 1981, Klippel 1994); dabei wird die Methode der historischen Lehrbuchanalyse
zunehmend verfeinert.
Schwierig ist es, aus historischer Sicht etwas zu den konkreten Lernbedingungen in den
Schulen der Vergangenheit und den Lernenden selbst herauszufinden. Selbstverständlich ge-
hen alle Untersuchungen vom „Normalfall“ aus; für das 19. Jahrhundert sind das die höheren
Schulen, die Knaben vorbehalten waren. Die wegweisende Studie von Sabine Doff (2002)
zum Fremdsprachenlernen von und Fremdsprachenunterricht für Mädchen im 19. Jahrhun-
dert liefert Einsichten in ein anderes, aus heutiger Sicht moderneres Konzept von Sprachen-
lernen. In Kubanek-German (2001) wird die Ideengeschichte des Fremdsprachenunterrichts
für jüngere Kinder aufgearbeitet.
Die Lernenden im privaten oder schulischen Umfeld sind immer Ziel des methodischen
Bemühens des Sprachmeisters oder Sprachlehrers. Die Frage nach der richtigen, der besten,
der effektivsten, der natürlichsten Methode der Sprachvermittlung hat nicht nur die Sprach-
lehrer aller Zeiten beschäftigt, sie ist auch in der historischen Forschung sehr präsent. Neben
Dokumentationen (Macht 1986–1990) und Überblicksdarstellungen zur Methodenentwick-
lung (Apelt 1991, Klippel 1994) finden sich auch Untersuchungen zur Rolle der Muttersprache
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(Butzkamm 1973). Alle diese Untersuchungen stammen aus dem 20. Jahrhundert, und es ist
bemerkenswert, dass gerade in jüngerer Zeit keine historischen Arbeiten zu fremdsprachen-
unterrichtsmethodischen Fragen mehr entstanden sind.
Zu den historischen fremdsprachendidaktischen Forschungsfeldern zählt auch die Ge-
schichte des Deutschunterrichts in anderen Ländern (z. B. Wegner 1999, Eder 2006) und die
Geschichte des Unterrichts in anderen als den gängigen Schulfremdsprachen.
Auch wenn es angesichts der zahlreichen historischen Untersuchungen aus gut einhundert
Jahren und der großartigen Synthesen von Hüllen (2005) und Kuhfuß (2013) so scheinen
mag, als lägen Erkenntnisse für alle Epochen und Aspekte der Geschichte des Sprachenlernens
und -lehrens der unterschiedlichen Sprachen vor, gibt es doch weiterhin viele weiße Flecken
auf der Landkarte der Vergangenheit.

3.1.3  orschungsdesiderata und forschungsmethodische


F
Entwicklungen

Nimmt man das Didaktische Dreieck mit seinen drei „Ecken“ Lehrer-Lerner-Stoff als Aus-
gangspunkt, dann fehlen historische Untersuchungen zu Lehrerbildung und Lehrerverhalten,
wenngleich letzteres natürlich nur sehr schwer zu rekonstruieren ist. Dass die Frage nach der
Entwicklung von Unterrichtsmethoden, die ja gerade im 20. Jahrhundert viele Wandlungen
erfahren haben, bislang keine Aufmerksamkeit erfahren hat, wurde bereits erwähnt. Aber
auch die konkreten Verkörperungen von Methoden, nämlich Lehrmaterialien und Hand-
bücher für den Unterricht, wurden bisher nur punktuell aus historischer Perspektive unter-
sucht. Die Geschichte der Medien ist noch nicht bis in die Gegenwart fortgeschrieben worden.
Im Hinblick auf die Lernenden existiert keine Sozialgeschichte der Fremdsprachenlerner,
deren altersmäßige und soziale Zusammensetzung sich insbesondere im 20. Jahrhundert stark
verändert hat. Auch ein Überblick über die Entwicklung der Sprachlerntheorien und deren

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36 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Rezeption in der Unterrichtspraxis wäre wünschenwert. Zu den Unterrichtsinhalten und


Curricula liegen erste Arbeiten vor (z. B. Kolb 2013). Zusätzlich zu diesen breit gefassten,
bisher kaum oder gar nicht bearbeiteten Feldern gibt es eine Vielzahl von regionalen, lokalen
oder gar individuellen Forschungsfragen, deren Aufarbeitung sich lohnen würde.
In den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich die historische fremdsprachendidaktische
Forschung in Anlehnung an die aktuellen Ansätze in der allgemein-historischen und der
bildungshistorischen Forschung methodisch weiterentwickelt. Verfahren der Quellenkritik
und der Diskursanalyse (s. Kap. 5.3.1 Analyse historischer Quellen) und deren Reflexion
sind ebenso selbstverständlich geworden wie der Gang in die Archive (z. B. Ruisz 2014) und
der Blick über die nationalen Grenzen (z. B. Kolb 2103). Es ist heute unabdingbar, den his-
torischen Entstehungskontext in die Analyse einzubeziehen und neben der Entwicklung im
Bildungssystem auch politische, wirtschaftliche, soziale und technische Fortschritte der Zeit
zu betrachten, die das Interesse an und die Vermittlung von bestimmten Sprachen stark beein-
flussten (so beispielhaft in Schleich 2015). Des Weiteren hat sich in den jüngeren Arbeiten zur
Geschichte des Fremdsprachenlernens und -lehrens eine größere Sensibilität gegenüber dem
historischen Sprachgebrauch entwickelt (s. Kap. 5.2.1 und 5.3.1), so dass in der Vergangenheit
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verwendete Begrifflichkeiten nicht ohne weiteres als identisch mit heutigen gleichlautenden
Konzepten angesehen, sondern vielmehr konzeptuell analysiert werden. Fremdsprachendi-
daktische historische Forschung hat sich insofern als eigenständiger Forschungszweig auch
in methodologischer Hinsicht etabliert.

›› Literatur

Aehle, Wilhelm (1938). Die Anfänge des Unterrichts in der englischen Sprache besonders auf den Ritter-
akademien. Hamburg: Riegel.
Apelt, Walter (1991). Lehren und Lernen fremder Sprachen. Grundorientierungen und Methoden in
historischer Sicht. Berlin: Volk und Wissen.
Behrens, Dietrich (1907). Zur Geschichte des neusprachlichen Unterrichts an der Universität Gießen. In:
Universität Gießen (Hrsg.) (1907). Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Festschrift zur dritten
Jahrhundertfeier. Zweiter Band. Gießen: Töpelmann, 329–356.
Bode, Hans (1980). Die Textinhalte in den Grundschen Französischlehrbüchern. Eine fachdidaktische
Untersuchung von Lesestoffen französischer Sprachlehrbücher für höhere Schulen in Deutschland
zwischen 1913 und 1969. Frankfurt/Main: Lang.
Boerner, Otto /Stiehler, Ernst (1906). Zur Geschichte der neueren Sprachen. In: Neue Jahrbücher für das
klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 18, 334–351, 392–412,
459–471.
Breymann, Hermann (1895). Die neusprachliche Reformliteratur von 1876 bis 1893. Eine bibliogra-
phisch-kritische Übersicht. Leipzig : Deichert.
Breymann, Hermann (1900). Die neusprachliche Reformliteratur. Ergänzungsheft für den Zeitraum von
1894 bis 1899. Leipzig: Deichert.
Breymann, Hermann/Steinmüller, Georg (1905). Die neusprachliche Reformliteratur. Ergänzungsheft
für den Zeitraum von 1896 bis 1904. Leipzig: Deichert.
Breymann, Hermann/Steinmüller, Georg (1909). Die neusprachliche Reformliteratur. Ergänzungsheft
für den Zeitraum von 1904 bis 1909. Leipzig: Deichert.

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3.1 Historische Forschung 37

Butzkamm, Wolfgang (1973). Aufgeklärte Einsprachigkeit. Zur Entdogmatisierung der Methode im


Fremdsprachenunterricht. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Christ, Herbert/Rang, Hans-Joachim (Hg.) (1985). Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Ver-
waltung 1700 bis 1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen. 7 Bände.
Tübingen: Narr.
Christmann, Hans Helmut (1985). Romanistik und Anglistik an der deutschen Universität im 19. Jahr-
hundert. Mainz: Mainzer Akademie der Wissenschaften.
Diehl, Erika (1975). Deutsche Literatur im französichen Deutschlesebuch 1870–1970. Ein Beitrag zur
literarischen Kanonbildung. Wiebaden: Athenaion.
Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für
Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt-Longman.
Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949–1989. Konzeptuelle Genese einer Wissenschaft
im Dialog von Theorie und Praxis. München: Langenscheidt.
Dorfeld, Karl (1892). Beiträge zur Geschichte des französischen Unterrichts in Deutschland. In: Beilage
zum Programm des Großherzoglichen Gymnasiums in Gießen.
Driedger, Otto (1907). Johann Königs (John King’s) deutsch-englische Grammatiken und ihre späteren
Bearbeitungen (1706–1802). Versuch einer kritischen Behandlung. Diss. phil. Marburg.
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Eder, Ulrike (2006). „Auf die mehrere Ausbreitung der teutschen Sprache soll fürgedacht warden.“
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache im Unterrichtssystem der Donaumonarchie zur Regierungszeit
Maria Theresias und Josephs II. Innsbruck: Studien Verlag.
Ehrhart, o.V. (1890). Geschichte des fremdsprachlichen Unterrichts in Württemberg. In: Korrespondenz-
Blatt für die Gelehrten- und Realschulen Württembergs 37, 281–308.
Finkenstaedt, Thomas (1983). Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Darmstadt: Wissenschaft-
liche Buchgesellschaft.
Flechsig, Karl-Heinz (1962). Die Entwicklung des Verständnisses der neusprachlichen Bildung in
Deutschland. Diss. phil. Göttingen.
Flechsig, Karl-Heinz (Hg.) (1965). Neusprachlicher Unterricht I. Weinheim: Beltz.
Franz, Jan (2005). Englischlernen für Amerika! Sprachführer für deutsche Auswanderer im 19. Jahr-
hundert. München: Langenscheidt.
Gilow, Hermann (1906). Das Berliner Handelsschulwesen des 18. Jahrhunderts im Zusammenhange mit
den pädagogischen Bestrebungen seiner Zeit dargestellt. Berlin: Hofmann.
Glück, Helmut/Schröder, Konrad (2007). Deutschlernen in den polnischen Ländern vom 15. Jahrhundert
bis 1918. Eine teilkommentierte Bibliographie. Wiesbaden: Harrassowitz.
Haas, Renate (1990). V. A. Huber, S. Imanuel und die Formationsphase der deutschen Anglistik. Frank-
furt/Main: Lang.
Haenicke, Gunta (1979). Zur Geschichte der Anglistik an deutschsprachigen Universitäten 1850–1925.
Augsburg: Universität Augsburg.
Haenicke, Gunta (1982). Zur Geschichte des Faches Englisch in den Prüfungsordnungen für das Höhere
Lehramt 1831–1942. Augsburg: Universität Augsburg.
Hausmann, Frank-Rutger (2000). Vom Strudel der Ereignisse verschlungen. Deutsche Romanistik im
Dritten Reich. Frankfurt/Main: Klostermann.
Hausmann, Frank-Rutger (2003). Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt/Main:
Klostermann.
Horn, Jacob (1911). Das englische Verbum nach den Zeugnissen von Grammatikern des 17. und 18. Jahr-
hunderts. Diss. phil. Gießen.
Hüllen, Werner (Hg.) (1979). Didaktik des Englischunterrichts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-
gesellschaft.
Hüllen, Werner (2005). Kleine Geschichte des Fremdsprachenlernens. Berlin: Schmidt.

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38 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Huth, G. (1905). Geschichte von Unterrichtsgegenständen. Französisch. In: Mitteilungen der Gesellschaft
für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte, 15, 327–333.
Junker, H. P. (1904). Englischer Unterricht, geschichtlicher Abriß. In: Rein, Wilhelm (Hg.) Enzyklopä-
disches Handbuch der Pädagogik. 2. Aufl. Langensalza: Beyer & Mann, 406–421.
Klippel, Friederike (1994). Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher
und Unterrichtsmethoden. Münster: Nodus.
Kolb, Elisabeth (2013). Kultur im Englischunterricht: Deutschland, Frankreich und Schweden im Ver-
gleich (1975–2011). Heidelberg: Carl Winter.
Kubanek-German, Angelika (2001). Kindgemäßer Fremdsprachenunterricht. Band 1: Ideengeschichte.
Münster: Waxmann.
Kuhfuß, Walter (2013). Eine Kulturgeschichte des Französischunterrichts in der frühen Neuzeit. Fran-
zösischlernen am Fürstenhof, auf dem Marktplatz und in der Schule in Deutschland. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht.
Lehberger, Reiner (1986). Englischunterricht im Nationalsozialismus. Tübingen: Stauffenburg.
Lehmann, Alwin (1904). Der neusprachliche Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert, insbesondere seine
Methode im Lichte der Reform der Neuzeit. In: Jahresbericht der Annenschule zu Dresden-Altstadt.
Liese, Ernst (1904). Des J. A. Comenius Methodus Linguarum Novissima. Inhalt und Würdigung. Bonn:
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Carl Georgi.
Macht, Konrad (1986–1990). Methodengeschichte des Englischunterrichts. 3 Bände. Augsburg: Univer-
sität Augsburg.
Mihm, Emil (1972). Die Krise der neusprachlichen Didaktik. Eine systeminterne Ortsbestimmung.
Frankfurt/Main: Hirschgraben.
Niederländer, Helmut (1981). Französische Schulgrammatiken und schulgrammatisches Denken in
Deutschland von 1850 bis 1950. Ein Beitrag zur Lehrwerkanalyse. Frankfurt/Main: Lang.
Ostermeier, Christiane (2012). Die Sprachenfolge an den höheren Schulen in Preußen (1859–1931). Ein
historischer Diskurs. Stuttgart: ibidem-Verlag.
Pariselle, o.V. (1895). Englischer Unterricht, geschichtlicher Abriß. In: Rein, Wilhelm (Hg.). Encyklopä-
disches Handbuch der Pädagogik. Langensalza: 834–838.
Raddatz, Volker (1977). Englandkunde im Wandel deutscher Erziehungsziele 1886–1945. Kronberg/
Ts.: Scriptor.
Rein, Wilhelm (Hg.) (1895). Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Langensalza: Beyer.
Reinfried, Marcus (1992). Das Bild im Fremdsprachenunterricht. Eine Geschichte der visuellen Medien
am Beispiel des Französischunterrichts. Tübingen: Narr.
Ruisz, Dorottya (2014). Umerziehung durch Englischunterricht? US-amerikanische Reeducation-Politik,
neuphilologische Orientierungsdebatte und bildungspolitische Umsetzung im nachkriegszeitlichen
Bayern (1945–1955). Münster: Waxmann.
Rülcker (1969). Der Neusprachenunterricht an höheren Schulen. Frankfurt/Main: Diesterweg.
Sauer, Helmut (1968). Fremdsprachen in der Volksschule. Untersuchungen zur Begründung des Eng-
lischunterrichts für alle. Hannover: Schroedel.
Sauer, Helmut (2006). Dissertationen, Habilitationen und Kongresse zum Lehren und Lernen fremder
Sprachen. Eine Dokumentation. Tübingen: Narr.
Schilder, Hanno (1977). Medien im neusprachlichen Unterricht seit 1880. Eine Grundlegung der An-
schauungsmethoden und der auditiven Methode unter entwicklungsgeschichtlichem Aspekt. Kron-
berg/Ts.: Scriptor.
Schleich, Marlis (2015). Geschichte des internationalen Schülerbriefwechsels. Entstehung und Entwick-
lung im historischen Kontext von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg. Münster: Waxmann.
Schmitz, Bernhard (1859). Encyklopädie des philologischen Studiums der neueren Sprachen. Greifs-
wald: Koch.

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3.2 Theoretische Forschung 39

Schröder, Konrad (1969). Die Entwicklung des englischen Unterrichts an deutschsprachigen Univer-
sitäten bis zum Jahre 1850. Ratingen: Henn.
Schröder, Konrad (1975) Lehrwerke für den Englischunterricht im deutschsprachigen Raum 1665–1900.
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schröder, Konrad (1980–1985). Linguarum Recentium Annales. Der Unterricht in den modernen euro-
päischen Sprachen im deutschsprachigen Raum. 4 Bände. Augsburg: Universität Augsburg.
Schröder, Konrad (1987–1999). Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer
des deutschsprachigen Raumes, Spätmittelalter bis 1800. 6 Bände. Augsburg: Universität Augsburg.
Streuber, Albert (1914). Beiträge zur Geschichte des französischen Unterrichts im 16. bis 18. Jahr-
hundert. Teil 1: Die Entwicklung der Methoden im allgemeinen und das Ziel der Konversation im
besonderen. Berlin: Emil Ebering.
Turner, John Frank (1978). German Pedagogic Grammars of English 1665–1750. The Nature and Value
of Their Evidence of Language Usage in Early Modern English. Diss. Braunschweig.
Walter, Anton von (1977). Bibliographie der Programmschriften zum Englischunterricht. Augsburg:
Universität Augsburg.
Wegner, Anke (1999). 100 Jahre Deutsch als Fremdsprache in Frankreich und in England. Eine ver-
gleichende Studie von Methoden, Inhalten und Zielen. München: iudicium.
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Wendt, Otto (1893). Encyklopädie des englischen Unterrichts. Methodik und Hilfsmittel für Studierende
und Lehrer der englischen Sprache mit Rücksicht auf die Anforderungen der Praxis. Hannover: List,
Meyer.

3.2 Theoretische Forschung

Michael K. Legutke

Neben der historischen und der empirischen Forschung zählt die theoretische Forschung
zu den bedeutsamen Arbeitsbereichen der Fremdsprachendidaktik. Theoretische Forschung
zeichnet sich dadurch aus, dass sie bemüht ist, den Gegenstandsbereich Lehren und Lernen
von Fremdsprachen und seine verschiedenen Teilbereiche zu bestimmen, zu systematisieren,
Konzepte zu entwickeln bzw. diese einer kritischen Reflexion zu unterziehen und/oder an-
gesichts gesellschaftlicher Entwicklungen und neuerer Forschungsergebnisse weiter zu ent-
wickeln. Theoretische Forschung ordnet empirische Befunde, systematisiert Phänomene des
Gegenstandsbereiches, entwirft handlungsleitende Modelle und erörtert deren Grenzen und
Reichweite. Sie gewinnt Erkenntnisse in Auseinandersetzung sowohl mit der Theoriebildung
innerhalb der Fremdsprachendidaktik als auch mit Konzeptbildungen und Erkenntnissen af-
finer Wissenschaftsdisziplinen (wie der Spracherwerbsforschung, der Bildungswissenschaften,
der Sozialwissenschaften, der Linguistik und der Kultur- und Medienwissenschaften). Theo-
retische Arbeiten sind nicht gleichzusetzen mit der Literaturanalyse, die als Voraussetzung
jeder Art wissenschaftlicher Forschung zu gelten hat, sondern schließen diese ein (vgl. Ka-
pitel 6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand).
Eine Möglichkeit der Systematisierung theoretischer Forschung bieten ihre unterschied-
lichen Funktionen. Diese sollen zunächst unter Berücksichtigung exemplarischer Arbeiten
skizziert werden. Danach werden vier Meilensteine theoretischer Forschung in der Fremd-

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40 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

sprachendidaktik vorgestellt, die aus unterschiedlichen Fachkulturen stammen und Arbeits-


weisen solcher Forschung verdeutlichen. Das besondere Verhältnis theoretischer Forschung
zur Empirie soll in einem letzten Abschnitt angesprochen werden.

3.2.1 Typen und Funktionen theoretischer Forschung

Die folgende Zusammenstellung erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern
bietet die Möglichkeit der Orientierung in einem weiten Feld teils sehr unterschiedlicher For-
schungsaktivitäten. Die zur Verdeutlichung herangezogenen Arbeiten haben exemplarischen
Charakter. Soweit als möglich wurden Studien zu unterschiedlichen Fremdsprachen berück-
sichtigt. Die zur Bezeichnung von Typen und Funktionen theoretischer Forschung gewählten
Begriffe sind nicht trennscharf. Auch wenn deshalb Mehrfacheinordnungen möglich sind,
bieten Typen und Funktionen eher die Möglichkeit der Systematisierung und Orientierung
als ein Versuch, theoretische Forschung über ihren Bezug zu affinen Wissenschaftsdiszipli-
nen zu bündeln. Selbst Arbeiten, die vorwiegend einer Disziplin verpflichtet scheinen, wie
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die folgenden Beispiele und die Meilensteine zeigen, belegen, dass die Faktorenkomplexion
fremdsprachlichen Lehrens und Lernens fachdidaktische Forschungsgegenstände nur durch
interdisziplinäre Zugriffe analysierbar macht.

1 Entwicklung umfassender Konzepte der Sprachvermittlung


In der Konsolidierungsphase der Fremdsprachendidaktik in den 70er und 80er Jahren des
letzten Jahrhunderts (vgl. Doff 2008) stellten theoretische Forschungen den Hauptanteil der
Forschungsaktivitäten dar. Sie beförderten die Konturierung des Faches und seiner Teildis-
ziplinen. Für die Sprachdidaktik wären als Beispiele zu nennen: Werner Hüllens Didaktische
Analysen zum Verhältnis von Linguistik und Englischunterricht (Hüllen 1971, 1979, s. u.
„Linguistik und Englischunterricht“), Harald Gutschows schulstufenspezifische Ausdifferen-
zierung der Englischdidaktik für die Hauptschule (Gutschow 1964, 1973), Hans-Eberhard
Piephos Arbeiten zur Kommunikativen Kompetenz als übergeordnetem Lernziel des Eng-
lischunterrichts (Piepho 1974) oder Helmut Heuers lerntheoretische Fundierung des Eng-
lischunterrichts (Heuer 1976). Die Literaturdidaktik wurde als eigenständige Teildisziplin
konturiert durch die Arbeiten Lothar Bredellas (1976), der die Hermeneutik und Rezeptions-
ästhetik für die Fremdsprachendidaktik nutzbar machte (s. u. „Das Verstehen literarischer
Texte“). Konzepte einer politisch engagierten Landeskundedidaktik legte Gisela Baumgratz-
Gangl vor (1990, s. u. „Persönlichkeitsentwicklung und Fremdsprachenerwerb“). Für den
Komplex Literatur- und Kulturdidaktik wären auch die an einer skeptischen Hermeneutik
orientierten Arbeiten Hans Hunfelds zu nennen (z. B. Hunfeld 2004). Beispielhaft für den hier
zusammengefassten Typus theoretischer Forschung kann ferner die Kritische Methodik des
Englischunterrichts von Rudolf Nissen (1974) gelten.

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3.2 Theoretische Forschung 41

2 Entwicklung und/oder kritische Analyse tragender Konstrukte der


Fremdsprachendidaktik

Arbeiten dieses Typus fokussieren zentrale Konstrukte der Fremdsprachendidaktik, deren


Herausbildung interdisziplinär verortet und deren Grenzen und Möglichkeiten für unter-
schiedliche Praxisfelder kritisch erörtert werden, beispielsweise für die Materialentwicklung,
die Unterrichtsgestaltung, die Aufgabenkonstruktion oder die Lehrerbildung. Drei Beispiele
sollen diesen Typus verdeutlichen. (1) Mit seiner Studie Aufgeklärte Einsprachigkeit. Zur
Entdogmatisierung der Methode im Fremdsprachenunterricht, ebenfalls situiert in der Kon-
stituierungsphase der Fremdsprachendidaktik, positioniert sich Wolfgang Butzkamm (1973)
in der Debatte um die Einsprachigkeitsproblematik, indem er Befunde der Bilingualismus-
forschung, der Lernpsychologie und der Spracherwerbsforschung auswertet und zu einer
Unterrichtmethodik verdichtet, die dem gezielten Gebrauch der Muttersprache eine angemes-
sen funktionale Verwendung im Unterricht zuweist.3 (2) Für Daniela Caspari ist Kreativität
im Umgang mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht Untersuchungsgegenstand
(Caspari 1994). Sie arbeitet zentrale Aspekte der psychologischen Kreativitätsforschung und
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der rezeptionstheoretischen Lesetheorien heraus, die sie vergleichend analysiert, um auf die-
sem Hintergrund das kreative Potenzial fremdsprachlicher literarischer Texte zu erfassen, das
in unterrichtlichen Lehr- und Lernprozessen genutzt werden kann. Caspari wertet dabei ein
breites Spektrum dokumentierten Unterrichts und problematisierender fachdidaktischer Ar-
beiten aus. (3) Aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache skizziert Swantje Ehlers
(1998) in ihrer Arbeit Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis einen theoretischen Ent-
wurf für eine fremdsprachliche Lesedidaktik („Ansätze einer fremdsprachlichen Leselehre“),
die der Eigengesetzlichkeit fremdsprachlichen Lesens Rechnung tragen soll. Sie wertet dazu
lesetheoretische Positionen zum Lesen in der Erst- und Zweisprache aus, bündelt entwick-
lungs- und kognitionspsychologische Forschung, um dann die Besonderheiten fremdsprach-
lichen Lesens zu fokussieren. Dabei setzt sie sich kritisch mit der empirischen Leseforschung
in der Fremdsprachendidaktik auseinander.
Dem hier angesprochenen Typus wären auch Arbeiten zuzuordnen wie die von Corinna
Koch (2013) und Elena Bellavia (2007), die das fremdsprachendidaktische Potenzial der Meta-
pher untersuchen. Bellavia fokussiert Deutsch als Fremdsprache, Koch die Sprachen Englisch,
Französisch und Spanisch. Die Theoriebildung ermöglicht es beiden Autorinnen, ein Instru-
ment zur kritischen Analyse und Optimierung von Lehrmaterial zu entwickeln.

3 Modellbildung
Die Entwicklung und kritische Erörterung von Modellen gehört zu den zentralen Aufgaben
theoretischer Forschung, denn Modelle haben die Funktion, komplexe Zusammenhänge und
Abläufe verständlich zu machen – sie sind ein notwendiger Teil von Theoriebildung, die des-
halb auch ohne Modelle nicht vorstellbar ist. Insofern arbeiten alle bisher erwähnten Beispiele
mit mehr oder weniger expliziten Modellen. Wenn hier dennoch ein eigener Typus theo-
retischer Arbeiten markiert wird, so geschieht dies im Anschluss an die Tradition didaktischer

3 Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Arbeiten von Butzkamm und zu seinem Beitrag zur
Konstitution der Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft vgl. Doff 2008: 216–17.

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42 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Modelle, die den Anspruch erheben, handlungsleitend zu sein. Im Kontext fachdidaktischer


Forschung spielen Modellbildungen eine bedeutende Rolle (Jank & Meyer 2002). Für das
Lehren und Lernen von Fremdsprachen repräsentieren zwei Arbeiten den hier gemeinten
Typus: (1) Ausgehend vom kulturwissenschaftlichen Konzept der Intertextualität model-
liert Wolfgang Hallet (2002) das fremdsprachliche Klassenzimmer als hybrid-kulturellen
Handlungsraum für die diskursive Aushandlung und die Erprobung gesellschaftlicher Par-
tizipationskompetenz. Das Modell ist handlungsleitend für die Konzeption von Lehr- und
Lernmaterial (s. u. „Das Spiel der Texte und Kulturen“). (2) In der Referenzarbeit Autonomes
Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien entwickelt, validiert und er-
probt Maria Tassinari ein „dynamisches Autonomiemodell“ mit seinen Deskriptoren. Das
Modell liefert die Basis für Checklisten zur Reflexion eigener Lernprozesse von Studierenden
(Tassinari 2010).

4 Analyse und Auswahl von Lehr- und Lernmaterial


Der Komplex Analyse von Lehr- und Lernmaterial lässt sich nach zwei Gruppen von Ar-
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beiten ordnen, nämlich nach solchen, die sich mit einem Lehrwerksystem oder Materialien
einer Fremdsprache befassen und solchen, die lehrwerkvergleichend mehrere Fremdsprachen
berücksichtigen. Innerhalb der beiden Gruppen kann nach den Bezugstheorien unterschieden
werden, aus denen die Analysekriterien entwickelt werden. So bestimmen beispielsweise
lerntheoretische Überlegungen die Studie von Dietmar Rösler (1984) zum Spannungsver-
hältnis von Lernerbezug und vorgefertigtem Lehrmaterial für Deutsch als Fremdsprache.
Politik- und sozialwissenschaftlich orientiert ist die Analyse von Angelika Kubanek-Ger-
man (1987): Dritte Welt im Englischlehrbuch der Bundesrepublik Deutschland. Aspekte der
Darstellung und Vermittlung. Methodengeschichtliche Kriterien bestimmen die Studie von
Lilli-Marlen Brill (2005), die am Beispiel von Lehrwerken zu Deutsch als Fremdsprache die
These überprüft, ob Lehrwerkgenerationen als Ausdruck bestimmter Vermittlungsmethoden
gelten müssen. Als prägnante Vertreter theoriegeleiteter, vergleichender Lehrwerkanalyse für
mehrere Sprachen können die Studie von Dagmar Abendroth-Timmer (1998) und Christian
Thimme (1996) gelten. Abendroth-Timmer vergleicht Lehrwerke zu den Sprachen Deutsch,
Französisch und Russisch in Hinblick auf landeskundliches und interkulturelles Lernen. Für
Thimme ist die Behandlung landeskundlicher, insbesondere geschichtlicher Aspekte in Lehr-
werken für Deutsch und Französisch Forschungsgegenstand.
Für den Komplex der Auswahl von Lehr- und Lernmaterial können stellvertretend zwei
literaturdidaktische Studien herangezogen werden, die das didaktische Potenzial literarischer
Genres untersuchen. Annette Werner (1993) rekonstruiert Kontinuität und Diskontinuität
des fachdidaktischen Diskurses zur Behandlung von Lyrik im Englischunterricht, indem sie
sowohl pädagogische und didaktische Begründungen seit 1945 als auch Lyriksammlungen,
Handreichungen und Rahmenpläne untersucht. Forschungsgegenstand der Arbeit von Nancy
Grimm (2009) sind Romane der indigenen Gegenwartsliteratur als Textgrundlage für die
Förderung des Fremdverstehens im fortgeschrittenen Englischunterricht. Die Mehrzahl der
für diesen Typus erwähnten Arbeiten bedienen sich hermeneutisch-textanalytischer Ver-
fahren.

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3.2 Theoretische Forschung 43

5 Phänomenologische Arbeiten
Dieser Typus versammelt Arbeiten, die Phänomene aus dem Gegenstandsbereich Lehren und
Lernen fremder Sprachen zusammenstellen, systematisch beschreiben, ihre Behandlung in
theoretischen Diskursen nachzeichnen und die Relevanz für die unterrichtliche Praxis aus-
loten. Zwei repräsentative Beispiele sollen ihn verdeutlichen: (1) Die Studie von Friederike
Klippel (1980) ist dem Spielphänomen gewidmet. Nach der Aufarbeitung spieltheoretischer
und spielpädagogischer Grundlagen sichtet die Verfasserin die Behandlung des Lernspiels
in der fachdidaktischen Literatur (Lexika, didaktisch-methodische Handbücher, Richtlinien)
und rekonstruiert seine Stellung im fremdsprachlichen Unterricht aus Erfahrungsberichten
und Spielesammlungen. Ansätze einer Theorie des Lernspiels liefern die Grundlagen für die
Erörterung des bewussten und integrativen Einsatzes des Lernspiels im Englischunterricht.
Eine Klassifizierung von Lernspielen, verbunden mit einem Instrument zu ihrer didaktischen
Aufarbeitung, sind u. a. Ergebnisse dieser Studie. (2) Das Offenheits-Paradigma bestimmt die
Studie von Engelbert Thaler (2008), dessen vielfältige Wurzeln zunächst aufgedeckt werden
(u. a. philosophisch-erkenntnistheoretische, anthropologisch-pädagogische, fremdsprachen-
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didaktisch-methodische). Das Paradigma dient dazu, unterschiedliche Lernarrangements zu


erfassen und zu analysieren sowie im Kontext der fachdidaktischen und bezugswissenschaftli-
chen Diskussion zu verorten. Thalers Studie bietet damit einen theoriegeleiteten, deskriptiven
Methodenvergleich.

6 Bildungswissenschaftliche und bildungspolitische Positionierungen


Auch hier sollen zwei Studien diesen Typus verdeutlichen. (1) Lutz Küster (2003) liefert eine
bezugs- und bildungswissenschaftliche sowie eine bildungspolitische Positionierung fremd-
sprachendidaktischer Kernkonzepte, die mit Bezug auf empirische Aspekte des Anfangs-
unterrichts im Fach Französisch sowie auf den fortgeschrittenen Unterricht mit literarischen
Texten verdeutlicht werden. Der Autor versteht diese Bezüge als „Verknüpfungen und Ver-
tiefungen“ zu den von ihm behandelten Grundsatzfragen der Didaktik des Fremdverstehens,
der Literaturdidaktik, der Theorien interkultureller, ästhetischer und medialer Bildung. (2)
Das zweite Beispiel fokussiert den bilingualen Sachfachunterricht. Nach einer problem- und
ideengeschichtlichen Rekonstruktion des Theoriediskurses unternimmt Stephan Breidbach
(2007) eine bildungstheoretisch und bildungswissenschaftlich fundierte Theoriebildung zum
bilingualen Sachfachunterricht, die als Basis für die Weiterentwicklung seiner Didaktik die-
nen soll. Auch die schon erwähnte und unten im Detail vorgestellte Arbeit von Baumgratz-
Gangl (1990, s. u.) ließe sich hier verorten.

7 Vergleichende Überblicksforschungen
Vergleichende Überblicksforschungen bezeichnen Arbeiten, deren Forschungsgegenstand
vorhandene Studien, wissenschaftliche Publikationen und Theorieansätze sowie Lehr- und
Lernmaterialien sind, die unter einer spezifischen Fragestellung systematisch analysiert wer-
den; existente Forschung wird unter einer neuen Perspektive kritisch gesichtet. Vergleichen-
de Überblicksforschungen sind von Metaanalysen zu unterscheiden, da erstere weder neue

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44 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Analysen mit bestehenden Daten noch neue Datenerhebungen durchführen.4 Beispiele für
diesen Typus theoretischer Forschung liefern die Studien von Barbara Schmenk Lernerauto-
nomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs (2008) und die Referenzarbeit
Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Ler-
ner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung (2002, 2009). Die interdisziplinäre An-
lage, Fragen der Textauswahl und ihrer Systematisierung sowie die qualitativ-interpretative
Herangehensweise als auch forschungsmethodologische Implikationen vergleichender Über-
blicksforschungen werden dort transparent dargestellt (vgl. Schmenk 2002, 2009).

3.2.2 Meilensteine theoretischer Forschung

Vier Meilensteine theoretischer Forschung in der Fremdsprachendidaktik werden nun vor-


gestellt, die zum einen aus unterschiedlichen Fachkulturen und Teilbereichen der Disziplin
stammen, zum anderen einige Funktionen und Arbeitsweisen solcher Forschung verdeut-
lichen und die sich schließlich durch ihre Bezugnahme auf affine Wissenschaftsdisziplinen
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zumindest teilweise unterscheiden.

1 „Das Verstehen literarischer Texte“: Literaturwissenschaft und Rezeptionsästhetik


Ein prägnantes Beispiel theoretischer Forschung liefern die Arbeiten Lothar Bredellas, die
zur Konstitution der Literaturdidaktik als noch junger, eigenständiger Teildisziplin der
Fremdsprachendidaktik beitrugen (Bredella 1976, 1980, 2002, 2004). Bredella erörtert die
Bedeutung literarischer Texte für das Lernen von Fremdsprachen aus der Perspektive des
Verstehensprozesses, den er vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit den literatur-
theoretischen Positionen des New Criticism entfaltet. Nicht die textimmanente Interpre-
tation des für sich selbst sprechenden Kunstwerks, sondern die Sinnbildung durch Lesen
und Deuten rücken in den Vordergrund. Bezugspunkte sind die philosophische Hermeneutik
(Gadamer) und die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule (Iser,
Jauß). Mit der expliziten Fokussierung auf den Vorgang der Rezeption zeigt Bredella, dass
literarische Texte eine authentische Kommunikationssituation im Klassenzimmer schaffen
helfen, weil sie Lernende zu Deutungen und Stellungnahmen herausfordern. Indem Bredella
dem Vorverständnis, den subjektiven Wahrnehmungen und Reaktionen der Lernenden im
Rezeptionsvorgang ein eigenes Gewicht gegenüber dem Text zuweist, eröffnet er ein Feld für
pädagogisch bedeutungsvolles Handeln, für Lernerorientierung. Gleichzeitig betont er jedoch
die besondere Gestalt des literarischen Textes. Aus diesem Grund weist er subjektivistische
Rezeptionsmodelle, die die Zeichenhaftigkeit und formale Gestalt des Textes ausblenden und
seine besondere Qualität damit entwerten (Fish, Bleich), entschieden zurück (Bredella 2002).
Bredella versteht deshalb auch den Verstehensprozess als dialogisch, als Interaktion zwischen
Leser und Text, die unter den institutionellen Bedingungen von Lehren und Lernen immer
sozialer Natur ist und die Lehrkraft als Dialogpartner einschließt.

4 Zur Bestimmung von Metaanalysen vgl. Kapitel 4.5: „Der zweite Blick: Metaanalysen und Replikation“.
Eine knappe Einführung in den Komplex Metaanalysen liefern auch: Lueginger/Renger (2013).

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3.2 Theoretische Forschung 45

Aus der Fokussierung auf den Verstehensprozess leitet Bredella zwei zentrale Aufgaben
für die Literaturdidaktik ab. Zum einen geht es um die Auswahl herausfordernder und be-
deutungsvoller literarischer Texte für den unterrichtlichen Diskurs, zum anderen um die
Entwicklung und Erprobung angemessener Verfahren, die die Leser-Text-Interaktion im
Klassenzimmer ermöglichen. Beiden Aufgaben stellt sich Bredella in seinen Arbeiten, indem
er zahlreiche literarische Texte im Hinblick auf ihr Interaktionspotenzial exemplarisch deutet
und unterrichtsnahe Handlungsoptionen skizziert.

2 „Das Spiel der Texte und Kulturen“: Kultur- und Textwissenschaft


Text- und diskurstheoretische Überlegungen, insbesondere eine Auseinandersetzung mit
dem Konstrukt der Intertextualität, führen Hallet zur Modellierung des fremdsprachlichen
Klassenzimmers als „hybriden“ Raum (Hallet 2002: 48), in dem „Texte und Diskurse aus
verschiedenen kulturellen Sphären in ein wechselseitiges Zusammenspiel treten“ (ebd. 54).
Fremdsprachenunterricht wird als eine eigenkulturelle Diskurssphäre markiert, als kultureller
Handlungsraum, in dem vielfältige kulturelle Stimmen wahrnehmbar werden können, die
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den Lernenden Gelegenheit bieten, eigene Überzeugungen und Wahrnehmungsmuster zu


erkennen, zu hinterfragen und möglicherweise zu modifizieren. Dialogische Aushandlungs-
prozesse unter Nutzung der Fremdsprache sind wesentliches Merkmal der unterrichtlichen
Diskurssphäre, Lernende werden als (inter)kulturelle Aktanten (ebd. 34) und diskursive Mit-
spieler begriffen. Hallet erörtert das didaktische Potenzial von Intertextualität in doppelter
Weise. Zum einen thematisiert er die Zusammenstellung von Materialien als Textensembles,
zum anderen das intertextuelle Arbeiten und die Rolle lerneraktivierender Verfahren. Beide
Perspektiven führen ihn zu einer Neubewertung von Materialentwicklung im weiteren Sinne
und somit zu einer Neubestimmung der Aufgaben der Textdidaktik.
Hallet konkretisiert sein Modell und dessen Implikationen für die Materialentwicklung
auf der einen und die Strukturierung des Lern- und Begegnungsraums auf der anderen Seite
durch verschiedene Unterrichtsmodelle und Unterrichtsreihen, die das Zusammenspiel von
literarischen Schlüsseltexten als Teil komplexerer Textensembles und den diskursiven Zu-
griffen im Klassenzimmer weiter differenzieren. Die Möglichkeiten der Kontextualisierung
literarischer Texte durch andere Textsorten sowie das Potential gattungstypologischen Ar-
beitens mit einer klaren Orientierung auf thematisch relevante Diskurse werden unterrichts-
nah mit Beispielen erörtert.

3 „Persönlichkeitsentwicklung und Fremdsprachenerwerb“: Landeskundedidaktik


Gisela Baumgratz-Gangls Forschungsarbeit (1990) ist in den engagierten bildungspolitischen
Diskussionen der 70er und 80er Jahren situiert, die auf die Expansion des europäischen
Binnenmarktes folgte und der damit gegebenen größeren Mobilität seiner Bürger. Sie nimmt
Bezug auf eine ganze Reihe deutsch-französischer Bildungsprojekte. Letztere galten sowohl
der Entwicklung von Unterrichtskonzepten für den Französischunterricht der Sekundarstufe
I und II, der Lehrerfortbildung durch erlebte Landeskunde und vor allem der Förderung
deutsch-französischer Austauschaktivitäten, die von Korrespondenzprojekten über Studien-
fahrten bis hin zum Schüleraustausch reichten. Baumgratz-Gangl entwickelt einen theo-
riegeleiteten Zugriff auf diese Erfahrungen, ohne sie allerdings empirisch auszuwerten. Aus-

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46 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

gehend von der Annahme, dass der schulische Fremdsprachenunterricht einen „wichtigen
Beitrag zur Verbesserung transnationaler und internationaler Kommunikation leisten“ kann,
„wenn es gelingt, die Schüler für andere Menschen, ihre Gefühle, Gewohnheiten, Wünsche
und Lebensbedingungen zu interessieren“ (ebd. 28), erörtert Baumgratz-Gangl Ergebnisse der
Sozialisationsforschung, insbesondere psychosoziale Faktoren der Subjektkonstitution, um
zu bestimmen, welche Persönlichkeitsentwicklung bei Schülerinnen und Schülern gefördert
werden muss, damit sie befähigt werden, sowohl die Herausforderungen transkultureller
Mobilität (etwa Erfahrungen der Fremdheit und Entfremdung) zu meistern, als auch die
Chancen zum Lernen von und mit anderen selbstbewusst zu ergreifen. Der Tätigkeitstheorie
von Galperin folgend skizziert Baumgratz-Gangl Dimensionen einer relationalen Sprach- und
Landeskundedidaktik, die nicht primär das Ziel verfolgt, Wissen zu vermitteln, sondern auf
die „Qualifizierung der Persönlichkeit für den zwischenmenschlichen Umgang mit Angehö-
rigen der anderen Gesellschaft und Kultur, bzw. anderer Gesellschaften und Kulturen“ (ebd.
131) setzt. Das Gesamtarrangement des Unterrichts (das Ensemble von Themen, Texten und
kommunikativen Situationen) berücksichtigt die persönlichen Erfahrungen der Lernenden;
die Unterrichtsmethoden stärken ihre Risikobereitschaft und sensibilisieren für den Umgang
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mit Fremden. In Bamgratz-Gangls Lehr- und Lernkonzept spielen alle jene Situationen eine
Schlüsselrolle, die einen kommunikativen Ernstfall involvieren: die Klassenkorrespondenz,
das Auslandspraktikum und der Schüleraustausch.

4 „Linguistik und Englischunterricht“


Das zweibändige Werk Werner Hüllens Linguistik und Englischunterricht (Hüllen 1971,
1979) trägt den Untertitel „Didaktische Analysen“, die sich zum Ziel setzen, den fremd-
sprachlichen „Unterricht, wie er im praktischen Vollzug erfahren wird, durch theoretische
Überlegungen konsistenter, verlässlicher, wohl auch besser und erfolgreicher zu machen“
(Hüllen 1971: 7). Kontext für Hüllens Arbeiten sind zum einen die bildungspolitischen Um-
wälzungen, die sich in der 1965 beschlossenen Einführung der ersten Fremdsprache für alle
Kinder ab der 5. Klasse, also auch für die Hauptschüler, zeigten und deshalb neue Konzepte
für das Lehren und Lernen von Fremdsprachen erforderlich machten, zum anderen die Theo-
riebildung in der Linguistik, insbesondere die Herausbildung der Angewandten Linguistik.
Hüllen geht es um eine Klärung des Verhältnisses der verschiedenen Teilbereiche und Modelle
der Sprachwissenschaft zu dem eigenständigen Handlungsbereich Fremdsprachenunterricht.
Er erörtert didaktische Implikationen linguistischer Grundbegriffe (Sprache, Grammatik, Le-
xik, Semantik), diskutiert didaktische Leistungen linguistischer Modelle (Generative Trans-
formationsgrammatik, Kontextualismus) und wendet sich dann vor allem den Implikationen
der Pragmalinguistik zu, die zusammen mit der Fokussierung der Emanzipation als überge-
ordnetem Lernziel des Fremdsprachenunterrichts in der Phase der sogenannten Kommunika-
tiven Wende die fachdidaktische Diskussion bestimmte. Zu welchen Ergebnissen linguistisch
fundierte Planung von Englischunterricht führt und wie dabei Linguistik und Fachdidaktik
zusammenwirken, wird für verschiedene Komplexe verdeutlicht (Passiv in einer didaktischen
Grammatik, Nominalkomposita oder Ausspracheunterricht).
Im Schlusskapitel des zweiten Bandes bilanziert Hüllen mit Rückblick auf mehr als ein
Jahrzehnt Diskussion über das Verhältnis von Linguistik und Didaktik, dass die „hohen Er-

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3.2 Theoretische Forschung 47

wartungen an eine didaktische Verwendbarkeit linguistischer Begriffe, Methoden und Er-


kenntnisse [. . .] zurückgenommen werden mussten“ (1976: 141) und dass eine direkte Über-
nahme linguistischer Erkenntnisse und Analyseverfahren für den Fremdsprachenunterricht
seinen besonderen Bedingungen nicht Rechnung tragen kann. Es sei Aufgabe der Fremd-
sprachendidaktik, ihre Möglichkeiten als praxisorientierte Wissenschaft interdisziplinär zu
verorten und von einer solchen Perspektive ihre Forschungspraxis und damit zugleich das
Verhältnis von Linguistik und Didaktik zu bestimmen (1976: 151).

3.2.3 Theorie und Empirie

Theoretische Forschung als Teil einer praxisorientierten Disziplin, einer Handlungswissen-


schaft, bezieht sich immer auch auf die Empirie, wie die hier erwähnten und skizzierten Bei-
spiele zeigen. Ein solcher Bezug kann in mehrfacher Weise deutlich werden: Die Empirie kann
diesen Studien entweder vorgelagert sein und geht als Bericht, als dokumentierte Erfahrung,
als Erfahrung der Autorinnen und Autoren in die Überlegungen ein. Der Studie von Klippel
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zum Lernspiel vorgelagert waren „viele anregende englische „Spielstunden“ mit Haupt-
schülern unterschiedlicher Klassenstufen“ (Klippel 1980: 5); Hallets Textensembles (Hallet
2002) sind vor ihrer diskursiven Erörterung durch mehrjährige Erprobungen im eigenen
Unterricht gegangen. Oder die Empirie ist den Studien nachgelagert und erscheint in der
Form von Überprüfung oder Vergewisserung: Nach der umfassenden Bestimmung kreativer
Verfahren im Umgang mit literarischen Texten befragt Caspari (1994) Berliner Französisch-
lehrkräfte zum Einsatz und zur Bewertung eben dieser Verfahren. Ferner lassen Ergebnisse
theoretischer Forschung die Empirie als anvisierte erscheinen. Sie manifestiert sich in Hand-
lungsvorschlägen, Empfehlungen oder Angeboten von neuen Sichtweisen auf die Praxis, etwa
in der Bestimmung und Begründung von Textauswahl und im Entwurf lerneraktivierender
Aufgaben für zukünftigen Unterricht (Bredella 2002). Sie zeigt sich in der Konkretisierung
intertextueller Unterrichtsmodelle (Hallet 2002), in Vorschlägen zur Nutzung transkultureller
Begegnungen innerhalb und jenseits des Unterrichts (Baumgratz-Gangl 1990), in Ansätzen
einer fremdsprachlichen Leselehre (Ehlers 1998) sowie im Erkennen und Auskundschaften
von Spielräumen für Autonomie (Schmenk 2008). Dieser anvisierte Praxisbezug ist jedoch in
keinem der Beispiele präskriptiv gemeint bzw. von dem Verständnis bestimmt, als zwingend
aus der Theorie gewonnene Ableitungen für praktisches Handeln im Unterricht zu gelten.
Die hier skizzierte theoretische Forschung versteht sich folglich auch nicht als Anwendungs-
didaktik. Denn alle auf die Praxis bezogenen Erkenntnisse, zum Teil als Empfehlungen für das
Handeln im Unterricht formuliert, bedürfen nicht nur der diskursiven Würdigung und Vali-
dierung derjenigen, die aus den unterschiedlichen Perspektiven ihrer jeweiligen Praxis (als
Lehrende, als Verfasserinnen und Verfasser von Lehr- und Lernmaterial) auf solche Erkennt-
nisse zugreifen und dabei ihre Relevanz und Reichweite ausloten. Die Erkenntnisse verlangen
auch nach empirischer Überprüfung. Ein besonderes Merkmal theoretischer Arbeiten besteht
deshalb darin, dass sie Angebote zum Diskurs über zentrale Aspekte des Gegenstandsbereichs
Lehren und Lernen von Fremdsprachen machen und zugleich Motor empirischer Forschung
sein können.

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48 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

›› Literatur

Abendroth-Timmer, Dagmar (1998). Der Blick auf das andere Land. Ein Vergleich der Perspektiven in
Deutsch-, Französisch- und Russischlehrwerken. Tübingen: Narr.
Baumgratz-Gangl, Gisela (1990). Persönlichkeitsentwicklung und Fremdsprachenerwerb: transnationale
und transkulturelle Kommunikationsfähigkeit im Französischunterricht. Paderborn: Schöningh.
Baumgratz-Gangl, Gisela (1993). Compéténce transculturelle et échanges éducatifs. Paris: Hachette.
Bellavia, Elena (2007). Erfahrung, Imagination und Sprache. Die Bedeutung der Metaphern der All-
tagssprache für das Fremdsprachenlernen am Beispiel der deutschen Präpositionen. Tübingen: Narr.
Bredella, Lothar (1976). Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart: Kohlhammer.
Bredella, Lothar (1980). Das Verstehen literarischer Texte. Stuttgart: Kohlhammer.
Bredella, Lothar (2002). Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen: Narr.
Bredella, Lothar (2004). Grundlagen für eine rezeptionsästhetische Literaturdidaktik. In: Bredella,
Lothar/Burwitz-Melzer, Eva (Hg.). Rezeptionsästhetische Literaturdidaktik mit Beispielen aus dem
Fremdsprachenunterricht Englisch. Tübingen: Narr, 25–80.
Breidbach, Stephan (2007). Bildung, Kultur, Wissenschaft. Reflexive Didaktik für den bilingualen Sach-
fachunterricht. Münster: Waxmann.
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Brill, Lilli-Marlen (2005). Lehrwerke, Lehrwerkgenerationen und die Methodendiskussion im Fach


Deutsch als Fremdsprache. Aachen: Shaker.
Butzkamm, Wolfgang (1973, 21978). Aufgeklärte Einsprachigkeit. Zur Entdogmatisierung der Methode
im Fremdsprachenunterricht. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Casapri, Daniela (1994). Kreativität im Umgang mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht.
Theoretische Studien und unterrichtspraktische Erfahrungen. Frankfurt: Lang.
Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949–1989. Konzeptuelle Genese einer Wissenschaft
im Dialog von Theorie und Praxis. München: Langenscheidt.
Ehlers, Swantje (1998). Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis aus der Perspektive des Deutschen
als Fremdsprache. Tübingen: Narr.
Grimm, Nancy (2009). Beyond the ‚Imaginary Indian‘: Zur Aushandlung von Stereotypen kultureller
Identität. Perspektiven in/mit indigener Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Winter.
Gutschow, Harald (1964, 81973). Englisch an Hauptschulen. Probleme und Arbeitsformen. Berlin: Cor-
nelsen.
Hallet, Wolfgang (2002). Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität als
Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT.
Heuer, Helmut (1976). Lerntheorie des Englischunterrichts. Untersuchungen zur Analyse fremdsprach-
licher Lernprozesse. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Hüllen, Werner (1971). Linguistik und Englischunterricht 1. Didaktische Analysen. Heidelberg: Quelle
& Meyer.
Hüllen, Werner (1976). Linguistik und Englischunterricht 2. Didaktische Analysen. Heidelberg: Quelle
& Meyer.
Hunfeld, Hans (2004). Fremdheit als Lernimpuls. Skeptische Hermeneutik, Normalität des Fremden,
Fremdsprache Literatur. Meran: Alpha Beta Verlag.
Jank, Werner/Meyer, Hilbert (112002). Didaktische Modelle. Buch didaktischer Landkarte. Berlin: Cor-
nelsen.
Klippel, Friederike (1980). Lernspiele im Englischunterricht. Mit 50 Spielvorschlägen. Paderborn: Schö-
ningh.
Koch, Corinna (2013). Metaphern im Fremdsprachenunterricht. Englisch. Französisch. Spanisch. Frank-
furt: Lang.

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3.3 Empirische Forschung 49

Kubanek-German, Angelika (1987). Dritte Welt im Englischlehrbuch der Bundesrepublik Deutschland.


Aspekte der Darstellung und Vermittlung. Regensburg: Pustet.
Küster, Lutz (2003). Plurale Bildung im Fremdsprachenunterricht. Ästhetisch-literarische und interkul-
turelle Aspekte von Bildung an Beispielen romanistischer Fachdidaktik. Frankfurt/M.: Lang.
Lueginger, Elisabeth/Renger, Rudi (2013). Das weite Feld der Metaanalyse. Sekundär-, literatur- und
metaanalytische Verfahren im Vergleich. Kommunikation.medien 2, 1–31 [www.journal.kommuni-
kation-medien.at].
Nissen, Rudolf (1974). Kritische Methodik des Englischunterrichts. 1: Grundlegung. Heidelberg: Quelle
& Meyer.
Piepho, Hans-Eberhard (1974). Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englisch-
unterricht. Limburg: Frankonius-Verlag.
Rösler, Dietmar (1984). Lernerbezug und Lehrmaterialien Deutsch als Fremdsprache. Heidelberg: Groos.
Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechts-
typischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Stauffenberg. [Referenz-
arbeit].
Schmenk, Barbara (2008). Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Tü-
bingen: Narr.
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Tassinari, Maria Giovanni (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen. Konzepte, Kompetenzen, Strate-


gien. Frankfurt: Lang. [Referenzarbeit]
Thahler, Engelbert (2008). Offene Lernarrangements im Englischunterricht. Rekonstruktion, Konstruk-
tion, Konkretion, Exemplifikation, Integration. München: Langenscheidt.
Thimme, Christian (1996). Geschichte in Lehrwerken Deutsch als Fremdsprache und Französisch als
Fremdsprache für Erwachsene. Ein deutsch-französischer Lehrbuchvergleich. Baltmannsweiler:
Schneider Hohengehren.
Werner, Annette (1993). Lyrik im Englischunterricht nach 1945. Die Entwicklung einer fachdidaktischen
Debatte. Augsburg: Universität Augsburg (= Augsburger I & I Schriften, Bd. 67).

3.3 Empirische Forschung

Karen Schramm

3.3.1 Begriffsklärung

Im Gegensatz zu historischer und theoretischer Forschung (s. Kapitel 3.1 und 3.2) ist für
die empirische Forschung charakteristisch, dass sie auf der datengeleiteten Untersuchung
einer Forschungsfrage beruht. Riemer (2014: 15) stellt in Anlehnung an einschlägige Arbeiten
dazu fest, dass „[v]on empirischem Wissen […] – anders als im Fall von Allgemeinwissen
und unsystematisch reflektiertem Erfahrungswissen – erst dann gesprochen werden [kann],
wenn die allgemeinen Merkmale der Systematizität und Datenfundiertheit wissenschaft-
licher Forschung eingehalten werden“. Diese für die jeweilige Untersuchung erfasste oder
erhobene Datengrundlage (s. Kapitel 5.2) kann unterschiedlich umfangreich sein, sodass sich
empirische Forschung auf einem Kontinuum von Erfahrungsberichten über explorative und
deskriptive Studien bis hin zu explanativen Studien beschreiben lässt.

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50 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Eine erste Stufe der Empirie stellen Erfahrungsberichte dar. Als fremdsprachendidaktische
Beispiele kann u. a. auf Rattunde (1990), Minuth (1996) oder Wernsing (1995) verwiesen
werden, die über Unterrichtserfahrungen berichten und auf dieser Grundlage methodische
Handlungsempfehlungen entwickeln. Für den Bereich der Projektarbeit zeigt Peuschel (2012:
13–17) als Grundlage ihrer eigenen Studie in ihrem Literaturbericht beispielsweise auf,
dass bisherige Forschungen zu diesem Thema weitestgehend auf der Stufe von Erfahrungs-
berichten angesiedelt sind. Blickt man auf die Entwicklung der empirischen Forschung in
der Fremdsprachendidaktik zurück, so ist auch bemerkenswert, dass uns bereits aus frü-
heren Jahrhunderten einige empirische Arbeiten der Fremdsprachendidaktik zugänglich
sind, die sich in der Regel auf dieser ersten Stufe der Empirie bewegen (s. Kapitel 3 und
3.1).
Als zweite Stufe der Empirie zielen explorative Studien auf die Erkundung eines Unter-
suchungsgegenstands ab, der bisher kaum erforscht ist. In der Regel ist es Ziel solcher explo-
rativen Studien, Hypothesen über einen bisher wenig erforschten Untersuchungsgegenstand
zu generieren. Zahlreiche der in Kapitel 7 unter methodisch-methodologischer Perspektive
zusammengefassten – und an vielen Stellen dieses Handbuchs illustrativ aufgegriffenen –
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Referenzarbeiten liefern Beispiele für solche gewinnbringenden Explorationen: Arras (2007)


zu Leistungsbeurteilungen, Ehrenreich (2004) zum ausbildungsbiographischen Ertrag eines
assistant-Jahres, Hochstetter (2011) zur diagnostischen Kompetenz von Englischlehrpersonen
in der Grundschule, Schart (2003) zur Perspektive von Lehrenden auf Projektunterricht und
Schmidt (2007) zum gemeinsamen Lernen mit Selbstlernsoftware.
Auf einer dritten Stufe lassen sich deskriptive Studien einordnen, die genaue Beschreibun-
gen von Phänomenen vornehmen, die bereits in Vorgängerstudien exploriert wurden. Die
Referenzarbeit von Özkul (2011) illustriert den Fall einer Fragebogenstudie, die aufgrund
von quantitativen Daten zu statistischen Aussagen (und zwar über Berufs- und Studienfach-
wahlmotive) gelangt; die Referenzarbeit von Schwab (2009) dagegen zeigt den Fall einer
konversationsanalytischen Videostudie, die aufgrund von qualitativen Daten interpretative
Aussagen (und zwar über Partizipationsmöglichkeiten von Schüler_innen im Plenumgs-
gespräch) trifft.
Auf einer vierten Stufe der Empirie bewegen sich explanative Studien, die auf die Erfor-
schung kausaler Zusammenhänge abzielen. Hierbei steht die Überprüfung von Hypothesen,
die zu einem extensiv explorierten und deskriptiv erforschten Untersuchungsgegenstand zum
Zeitpunkt der Studie bestehen, im Zentrum der Forschungsanstrengung. Der Wunsch, über
die Deskription von Fremdsprachenunterricht hinauszugehen und auch explanative Studien
durchzuführen, ist in der Fremdsprachendidaktik spätestens nach Erscheinen des Gemein-
samen europäischen Referenzrahmens (Europarat 2001) und dem Erstarken der Kompetenz-
orientierung deutlich erkennbar. Die (quasi-)experimentellen Interventionsstudien zum
Hörverstehen im Deutschen als Tertiärsprache von Marx (2005) und zu Effekten extensiven
Lesens im Fremdsprachenunterricht von Biebricher (2008) illustrieren als Referenzarbeiten
dieses Handbuchs, dass auch Dissertationen, die nicht in größere Verbundprojekte einge-
bunden sind, fundierte Aussagen über Ursache und Wirkung treffen können; oft nutzen ex-
planative Qualifikationsarbeiten aber auch Synergieeffekte aus kooperativen, teils standort-
übergreifenden Projekten für Einzelstudien.

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3.3 Empirische Forschung 51

Die folgenden Abschnitte geben einen einführenden Überblick über prototypische Designs
fremdsprachendidaktischer Empirie (dazu grundlegend Abschnitt 2). Dabei findet einerseits
die statistische Auswertung quantitativer Daten (Abschnitt 3) und andererseits die inter-
pretative Auswertung qualitativer Daten besondere Berücksichtigung (Abschnitt 4). Auch
die komplexen Kombinationsmöglichkeiten dieser Vorgehensweisen in Studien, die als mixed
methods bezeichnet werden, sollen kurz angerissen werden (Abschnitt 5).

3.3.2 Quantitatives und qualitatives Paradigma

In der Regel werden das qualitative und das quantitative Forschungsparadigma als zwei
diametral gegenübergestellte empirische Arbeitsweisen charakterisiert, die sich bezüglich
des Erhebungskontextes, der erhobenen Daten, der Auswertungsmethoden und der dahin-
terliegenden Wissenschaftstheorie diametral unterscheiden (s. Kapitel 2).
Als Prototyp quantitativer Forschung gilt das Experiment. Für dessen quantitative Natur ist
die Tatsache charakteristisch, dass es im Labor, also nicht im natürlichen Kontext, und damit
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unter streng kontrollierten Bedingungen durchgeführt wird. Bei den in Experimenten erhobe-
nen Daten handelt es sich typischerweise um Messwerte (z. B. um Reaktionszeitmessungen
oder Test-Werte), die mithilfe statistischer Verfahren ausgewertet werden. Experimentelle
Forschung basiert auf der wissenschaftstheoretischen Position des Rationalismus, nach der in
einem hypothesentestenden Verfahren eine objektive bzw. universalgültige Wahrheit aus der
Außenperspektive von Forscher_innen, einer sogenannten etischen Perspektive, beschrieben
werden soll (s. Kapitel 2).
Als Prototyp qualitativer Forschung gilt hingegen die Ethnographie, bei der die Daten
mittels teilnehmender Beobachtung im natürlichen Kontext und damit unter hochgradig
unkontrollierten Bedingungen gesammelt werden. Diese Daten werden zu Zwecken der
Hypothesengenerierung mithilfe interpretativer Verfahren ausgewertet, wobei eine emische
Perspektive verfolgt wird, d. h. dass Forschende die Innenansicht der Forschungspartner_in-
nen analytisch herausarbeiten. Wissenschaftstheoretisch basiert diese Vorgehensweise auf
dem Relativismus, der der rationalistischen Vorstellung einer universalgültigen Wahrheit
das Konzept (sozio-)kulturell geprägter bzw. kontextgebundener Wahrheiten entgegensetzt
(s. Kapitel 2).
Grotjahn (1987) hat in einem auf die deutschsprachige Fremdsprachendidaktik sehr ein-
flussreichen Beitrag bereits in den 80er Jahren verdeutlicht, dass diese simple Gegenüber-
stellung von zwei Prototypen den vielen denkbaren Varianten empirischer Forschungsdesgins
nicht gerecht wird. Er unterscheidet neben diesen beiden „Reinformen“ (Grotjahn 1987: 59)
des explorativ-interpretativen und des analytisch-nomologischen Paradigmas sechs weitere
„Mischformen“ (ebd.), die sich aus den möglichen Kombinationen der drei Pole (a) (quasi-)
experimentelles vs. nicht-experimentelles Design, (b) quantitative vs. qualitative Daten und
(c) statistische vs. interpretative Auswertung ergeben: Beispielsweise ist es möglich, im Feld
metrische Werte zu erheben und statistisch auszuwerten oder im Labor verbale Daten zu
erheben, die interpretativ ausgewertet werden. Somit wird deutlich, dass empirische Designs
nicht immer eindeutig einem paradigmatischen Prototypen zugeordnet werden können,

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52 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

sondern dass sich eine Vielzahl von durch das Erkenntnisinteresse geleiteten grundlegenden
Design-Möglichkeiten ergibt.

3.3.3 Quantitative Daten und statistische Auswertungen

Zur fremdsprachdidaktischen Illustration des analytisch-nomologischen Paradigmas können


die Referenzarbeit von Marx (2005) als Forschungsleistung einer Einzelperson und die DESI-
Studie als Forschungsleistung eines umfassenden Verbundes dienen.
In der Untersuchung von Marx (2005) zu Hörverstehensleistungen im Deutschen als Ter-
tiärsprache handelt es sich um ein Experiment, bei dem Lernende im Bereich Deutsch als
Fremdsprache nach Englisch (DaFnE) auf der Grundlage von Eingangstests und Fragebögen
mit dem Ziel einer Balancierung von Kontroll- und Experimentalgruppe auf zwei parallele
Nullanfängerkurse verteilt wurden. Oft steht die Verteilung von Proband_innen auf unter-
schiedliche Kurse nicht im Einflussbereich der Forschenden, sodass bei Experimenten, die im
Feld durchgeführt werden, i. d. R. mit bestehenden Parallelgruppen in einem sogenannten
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Quasi-Experiment gearbeitet wird. In solchen Fällen stellt sich dann die Frage der Vergleich-
barkeit der Gruppen, die häufig in Paarvergleichen abgesichert werden soll. In der Studie von
Marx (2005) handelt es sich jedoch nicht um ein Quasi-Experiment, sondern tatsächlich um
ein Experiment, bei dem die Gruppen gezielt nach bestimmten Überlegungen in vergleich-
barer Weise zusammengesetzt wurden. Anders als in der oben beschriebenen Reinform des
analytisch-nomologischen Paradigmas wurden dabei jedoch nicht für das Experiment charak-
teristische Messwerte erhoben, sondern Daten aus Hörverstehensaufgaben und retrospektive
Erklärungen zu den von Lernenden wahrgenommenen Gründen für erfolgreiches Verstehen,
die beide für die Zwecke einer statistischen Auswertung mittels Mann-Whitney-U-Test und
MANOVA (s. Kapitel 5. 3. 10) erst in Zahlenwerte überführt werden mussten (vgl. dazu die
Darstellung der Referenzarbeit in Kapitel 7).5
Ein zweites Beispiel aus dem Bereich der Fremdsprachendidaktik ist die DESI-Studie
(Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International). Sie zielte darauf ab, den Leistungsstand
in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den Fächern Deutsch und Englisch zu erfassen
und zur Verbesserung von Curricula, Lehrmaterialien, Aus- und Weiterbildung von Lehr-
personen und Unterrichtsgestaltung in diesen beiden Fächern beizutragen: In einem inter-
disziplinären Team aus Bildungsforscher_innen und Fachdidaktiker_innen wurden dazu ca.
11 000 Schüler_innen der neunten Klasse aller Schularten befragt und zu zwei Zeitpunkten
getestet sowie neben Videoaufnahmen des Unterrichts auch Befragungen mit Lehrpersonen,
Eltern und Schulleitungen durchgeführt (Klieme 2008). Zur Kurz-Illustration des Umfangs
dieser Art von empirischer Großuntersuchung sei als eine der vielen DESI-Teilstudien die
Videostudie des Englischunterrichts (Helmke et al. 2008) herausgegriffen, die Aufnahmen,
Transkripte, Basiskodierungen und Beurteilungen der Unterrichtsqualität von 105 Englisch-
stunden beinhaltete. Auf dieser Grundlage konnten u. a. quantitative Aussagen zu einer Reihe
von Aspekten des untersuchten Englischunterrichts (z. B. verwendete Unterrichtssprache,

5 Es sei angemerkt, dass diese quantifizierten Daten wiederum um qualitative, interpretativ ausgewertete
Daten (Fragebögen zum Unterricht) ergänzt wurden.

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3.3 Empirische Forschung 53

Sprechanteile von Lehrpersonen und Schüler_innen, Art und Länge der Schüleräußerungen,
Fehlerkorrektur und Wartezeit) sowie auch Zusammenhänge dieser Unterrichtsmerkmale
mit anderen Variablen wie Schülerleistungen (z. B. in einem C-Test oder Hörverstehenstest)
herausgearbeitet werden.

3.3.4 Qualitative Daten und interpretative Auswertungen

Als fremdsprachendidaktische Beispiele für den Gegenpol, das explorativ-interpretative Pa-


radigma, sollen hier die Dissertation von Haider (2010) zu Sprachbedürfnissen von Pfleger_
innen mit Deutsch als Zweitsprache und die umfangreiche Studie zur mündlichen Fehler-
korrektur im Italienisch- und Spanischunterricht von Kleppin & Königs (1991) dienen.
Haiders (2010) Untersuchung ist im Themenfeld Deutsch für den Beruf angesiedelt und
wird von der Autorin selbst im Titel als kritische Sprachbedarfserhebung charakterisiert. Mit-
hilfe von Erhebungsmethoden wie job-shadowing, also der Begleitung der Forschungspart-
ner_innen im Arbeitsalltag, und insbesondere auf der Grundlage von 13 halbstandardisierten,
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interpretativ ausgewerteten Interviews arbeitet die Forscherin heraus, welchen sprachlichen


Herausforderungen Gesundheits- und Krankenpfleger_innen in Österreich, die Deutsch als
Zweitsprache erwerben, sich bei ihrer Berufstätigkeit ausgesetzt sehen. Charakteristisch für
das explorativ-interpretative Paradigma ist u. a. ihre Zielsetzung, die Innenperspektive des
Pflegepersonals zu erfassen: Im Gegensatz zu klassischen Bedarfsanalysen, die stärker die
Außenperspektive einnehmen und beispielsweise Anforderungen des Arbeitsmarktes ins
Zentrum der Untersuchung stellen, ist diese Studie der emischen Perspektive zuzuordnen.
Anhand der Schilderungen des Berufseinstiegs will die Autorin sprachliche Probleme der Be-
rufspraxis aufzeigen, die die Betroffenen selbst als relevant erleben; diese sollen als Grundlage
für berufsorientierte Deutschkurse dienen – und letztlich auch in einem politisch-kritischen
Sinn Mängel im System von Pflegeeinrichtungen mit Bezug auf Spracherwerbsmöglichkeiten
offenlegen und auf deren Behebung drängen.
Die umfassende Studie von Kleppin/Königs (1991: 117), in der sie „[d]er Korrektur auf
der Spur“ sind – so der Titel –, kann als früher Meilenstein fremdsprachendidaktischer
Empirie bezeichnet werden. Das untersuchte Datenkorpus besteht aus 97 videografierten
Stunden Spanisch-Unterricht und 91 videografierten Stunden Italienisch-Unterricht; wei-
terhin wurden auch zwölf flankierende Lehrerinterviews ausgewertet. Ergänzend wurden
„zu einem Teil der Unterrichtsaufzeichnungen“ (Kleppin/Königs 1991: 107) Daten nach-
träglichen Lauten Denkens als „unterrichtskommentierende Daten“ (ebd.) erhoben. Auch
fokussierte Interviews und ein in elf Klassen verteilter und von 198 Lernenden ausgefüllter
Fragebogen waren Grundlage der Analysen. Die Autor_innen erläutern, dass sie die an einem
Datensatz gewonnenen Interpretationen an einem anderen Datensatz zu bestätigen gesucht
haben, um die Reichweite der jeweiligen Interpretation zu erhöhen bzw. um bei Nicht-Be-
stätigung entsprechend vorsichtig mit der Interpretation umzugehen (Kleppin/Königs 1991:
117).
Zentrale Aspekte der Auswertung betreffen die linguistisch basierte Fehlerkodierung und
-auszählung nach Unterrichtsphasen, die diskursanalytische Auswertung von Initiation der
Korrektursequenz, Reaktion auf Initiationen, Korrekturen und ihrer Art und Weise sowie von

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54 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

Reaktionen und Nachreaktionen auf die Korrekturen. Für 16 Unterrichtsstunden nehmen die
Autor_innen detaillierte Quantifizierungen dieser Aspekte vor; darüber hinaus präsentieren
sie Befunde zu den subjektiven Theorien der Lehrpersonen und zu Schülerwünschen und
-erwartungen hinsichtlich der mündlichen Fehlerkorrektur.
Die Autor_innen ordnen diese frühe, beeindruckende Videostudie des Fremdsprachen-
unterrichts explizit der explorativ-interpretativen Forschungsrichtung zu (ebd.) und dement-
sprechend würdigt Henrici (1992: 250) in seiner Rezension – neben vielen anderen Aspek-
ten – auch „die vorsichtig zurückhaltende Darstellung der Ergebnisse, die dem verwendeten
Paradigma und dessen Ansprüchen gerecht wird“.

3.3.5 Mixed methods

Unter dem Begriff mixed methods ist die Möglichkeit der Kombination von Verfahren aus
dem sogenannten qualitativen und quantitativen Paradigma (vgl. dazu Abschnitt 2) dis-
kutiert worden und nach anfänglichen Zweifeln bezüglich der grundsätzlichen Vereinbar-
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keit von Ansätzen, die auf wissenschaftstheoretisch so unterschiedlichen Grundannahmen


basieren (s. Kapitel 2), doch das besondere Potenzial einer solchen Verknüpfung betont wor-
den (einführend – allerdings ohne fremdsprachendidaktischen Bezug – s. Kuckartz 2014).
Dabei lassen sich in Anlehnung an Ivankova/Creswell (2009: 138) zur methodologischen
Einordnung von mixed-methods-Studien die Aspekte (a) zeitliche Anordnung (timing), (b)
Gewichtung (weighting) und (c) Mischung (mixing) qualitativer und quantitativer Verfahren
unterscheiden.
Mit dem ersten Begriff der zeitlichen Anordnung ist gemeint, dass eine qualitative und
eine quantitative Teilstudie entweder sequentiell zeitlich aufeinander folgen (qualitativ ->
quantitativ oder quantitativ -> qualitativ) oder dass sie gleichzeitig durchgeführt werden
können (qualitativ + quantitativ). Der zweite Begriff der Gewichtung zielt darauf ab, die
Bedeutung der qualitativen und der quantitativen Anteile der Studie zueinander in Bezie-
hung setzen: Sind beide gleichgewichtet (QUAL, QUAN), ist der qualitative Anteil höher ein-
zuschätzen (QUAL, quan) oder ist der quantitative Anteil stärker gewichtet (qual, QUAN)?
Schließlich bezieht sich der dritte Begriff des Mischens auf die Forschungsphase, in der die
qualitativen und quantitativen Anteile miteinander in Beziehung gesetzt werden; dies kann
in der Phase der Erhebung, der Auswertung oder der Interpretation der Ergebnisse geschehen.
Im Hinblick auf den letztgenannten Aspekt ist in der mixed-methods-Diskussion von einigen
Forschenden die weitreichende Forderung vertreten worden, dass die Mischung alle Phasen
des Forschungsprozesses betreffen müsse; auf diesen rigorosen Fall bezieht sich der Begriff
mixed models.
Auf der Grundlage der Kriterien zeitlicher Anordnung, Gewichtung und Mischung lassen
sich in Anlehnung an Kuckartz (2014) folgende vier mixed-methods-Designs unterscheiden:
• Vertiefungsdesign (auch: explanatory design): Es ist sequenziell angeordnet und die Stu-
die schreitet vom Quantitativen zum Qualitativen voran (QUAN -> qual, quan -> QUAL,
QUAN -> QUAL). Die qualitativen Befunde der zweiten Teilstudie dienen dazu, die quanti-
tativen Befunde der ersten Teilstudie vertiefend zu erklären. Beispielsweise könnte auf der

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3.3 Empirische Forschung 55

Grundlage bestehender Forschungsergebnisse zunächst eine umfassende Fragebogenstudie


erfolgen und im zweiten Schritt könnten überraschende Befunde in einer Interviewstudie
zu Einzelfällen genauer beleuchtet werden.
• Verallgemeinerungsdesign (auch: exploratory design): Es ist ebenfalls sequenziell, aber
bei diesem Design ist die qualitative Forschung der quantitativen vorgeschaltet (QUAL
-> quan, qual -> QUAN, QUAL -> QUAN). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn zunächst
in explorativer Absicht eine Studie einzelner Fälle durchgeführt und auf der Grundlage
dieser Exploration dann ein Fragebogen entwickelt und bei einer weitreichenderen Stich-
probe eingesetzt wird. Die quantitative Teilstudie dient dabei dem Ziel, die qualitativen
Befunde zu verallgemeinern oder Zahlenangaben über einzelne Aspekte der qualitativen
Befunde zu erhalten.
• Das parallele Design (auch: triangulatory design): Es handelt sich nicht um ein sequenziel-
les Design, sondern um eins, das auf der Gleichzeitigkeit bzw. Parallelität einer qualitativen
und einer quantitativen Teilstudie beruht (QUAL + quan, qual + QUAN und QUAL +
QUAN). Hierbei bauen die Teilstudien nicht aufeinander auf, sondern sie werden unabhän-
gig voneinander durchgeführt und erst danach werden beim Mixing die parallelen Ergeb-
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nisse und Schlussfolgerungen miteinander verglichen oder kontrastiert. Der aus beiden
Teilstudien integrierte Forschungsbericht soll somit möglichst gut validierte Forschungs-
ergebnisse erbringen.
• Das Transferdesign (auch: embedded design): Es zeichnet sich dadurch aus, dass entweder
qualitative Daten quantifiziert werden (wenn beispielsweise bei einer qualitativen Inhalts-
analyse Kodierungen ausgezählt werden) oder dass quantitative Daten qualifiziert werden
(wenn beispielsweise nach einer Zeitmessung die metrischen Daten in verbale Angaben
oder Kategorien überführt werden).
Als Beispiel für eine zweitsprachdidaktische mixed-methods-Studie sei an dieser Stelle
die Arbeit von Ricart Brede (2011) zur Sprachförderung in Kindertagesstätten kurz vor-
gestellt. Es handelt sich um zwei sequentielle Teilstudien, die in einer groben Annäherung
dem Vertiefungsdesign (quan -> QUAL) zugeordnet werden können. In der ersten Teilstudie
nimmt die Forscherin niedrig- bis mittelinferente Kodierungen von 48 Videoaufnahmen von
Sprachfördereinheiten vor. Dabei werden Aktivitäten (wie Begrüßung/ Verabschiedung,
Organisatorisches, Aufgabe mit bzw. ohne Spielcharakter, motorisch bestimmte Tätigkeit,
Lied/ Vers, Arbeit mit Text/ Bild, mündliche Kommunikation und Sonstiges), Sozialformen
(Gesamtgruppe-Dialog, Gesamtgruppe-Monolog, Partner-/ Kleingruppenarbeit und Einzel-
arbeit) sowie auch Sprachbereiche (phonologische Bewusstheit, Wortschatz, Grammatik,
Gespräch, Erklären, Erzählen, Vorlesen/ Rezitieren) kodiert (s. Ricart Brede 2011: 124). In
dieser ersten Teilstudie kann die Forscherin u. a. den chronologischen Ablauf einer typischen
Sprachfördereinheit herausarbeiten. Für die zweite Teilstudie erfolgt aus den 625 auf diese
Weise gebildeten Handlungssequenzen eine Stichprobenziehung von 40 Sequenzen, die ei-
ner hochinferenten (also stärker interpretativen) Analyse in Bezug auf bestimmte Qualitäts-
merkmale von Sprachförderung wie sprachlicher Input der Sprachförderperson (z. B. wie
Äußerungsfunktionen oder Umgang mit Fehlern), Intake der Kinder (z. B. Aufmerksamkeit)
und sprachlicher Output der Kinder (z. B. Komplexität der Äußerungen) unterzogen werden.
Mit Blick auf den mixed-methods-Charakter dieser Studie ist weiterhin anzumerken, dass

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56 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

diese Untersuchung in beiden Teilstudien mit der Quantifizierung von qualitativen (genauer
gesagt videographischen) Interaktionsdaten arbeitet, sodass beide Teilstudien jeweils auch
ein Transferdesign beinhalten.
Dieser kurze Überblick deutet die vielfältigen Möglichkeiten an, die sich für fremdspra-
chendidaktische mixed-methods-Designs aus den unterschiedlichen Kombinationen von
zeitlicher Anordnung, Gewichtung und Mischung ergeben. Zentrale Bedeutung hat bei Ent-
scheidungen auf Designebene die Forschungsfrage, die vor dem Hintergrund des erreichten
Forschungsstands in einem (oder an der Schnittstelle mehrerer) Forschungsfeld(er) formuliert
wurde. Gerade bei Qualifikationsarbeiten und bei begrenzten Ressourcen sollte die Vielfalt
der Möglichkeiten aber keinesfalls dazu verleiten, das Design allzu komplex zu gestalten.

3.3.6 Fazit und Ausblick

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine breitere methodologische Diskussion zu empi-


rischen Fragen in der Fremdsprachendidaktik ab den 90er Jahren zu beobachten ist, in der
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die empirischen Erfahrungen wichtiger Bezugsdisziplinen verstärkt zur Kenntnis genommen


werden. In der Auseinandersetzung mit diesen beginnt die Fremdsprachendidaktik in dieser
Zeit verstärkt, erfolgreich um die Eigenständigkeit fremdsprachendidaktischer Forschung
zu ringen (z. B. Müller-Hartmann/Schocker-von Ditfurth 2001). Trotz zahlreicher wichtiger
Studien, die auf quantitativen Daten und statistischen Auswertungen beruhen, haben die
Erhebung von qualitativen Daten und die interpretative Auswertung in der fremdsprachen-
didaktischen Empirie bisher deutlich mehr Aufmerksamkeit erfahren. Dies bedeutet mit Blick
auf die Ausbildung von Nachwuchsforscher_innen für die Fremdsprachendidaktik zweifellos
eine Herausforderung, die ebenfalls für die Weiterentwicklung des mixed-methods-Zugangs
grundlegend ist.
Das aktuelle Interesse der Fremdsprachendidaktik bzw. ihre intensive Beschäftigung mit
empirischen Forschungsmethoden zeigt sich – nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Ver-
ankerung entsprechender Ausbildungsangebote der Fremdsprachendidaktik im Zuge der mit
der Bologna-Reform verbundenen Revision der entsprechenden Studiengänge – auch in zahl-
reichen aktuellen Publikationen zur Methodenlehre (s. die Einführungen von Doff 2012 und
Settinieri et al. 2014 oder die Sammelbände mit spezifischerem Fokus von Aguado/Schramm/
Vollmer 2010 und Aguado/Heine/Schramm 2013).

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Aguado, Karin/Heine, Lena/Schramm, Karen (Hg.) (2013). Introspektive Verfahren und Qualitative
Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Aguado, Karin/Schramm, Karen/Vollmer, Helmut Johannes (Hg.) (2010). Fremdsprachliches Handeln
beobachten, messen, evaluieren. Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung und der Video-
graphie. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

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3.3 Empirische Forschung 57

*Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als
Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
*Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Doff, Sabine (Hg.) (2012). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen – Methoden –
Anwendung. Tübingen: Narr.
*Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative
Interviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant-Jahres. München: Langen-
scheidt. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Europarat/Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen
für Sprachen: Lernen, lehren, beurteilen. München: Langenscheidt. [http://www.goethe.de/z/50/­
commeuro/deindex.htm] (3. 12. 2015)
Grotjahn, Rüdiger (1987). On the methodological basis of introspective methods. In: Faerch, Claus/Kas-
per, Gabriele (Hg.). Introspection in Second Language Research. Clevedon, PH: Multilingual Matters.
*Haider, Barbara (2010). Deutsch in der Gesundheits- und Krankenpflege. Eine kritische Sprachbedarfs-
erhebung vor dem Hintergrund der Nostrifikation. Wien: Facultas.wuv.
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*Helmke, Tuyet/Helmke, Andreas/Schrader, Friedrich-Wilhelm/Wagner, Wolfgang/Nold, Günter/Schrö-


der, Konrad (2008). Die Video-Studie des Englischunterrichts. In: DESI-Konsortium (Hg.). Unter-
richt und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie. Weinheim: Beltz,
345–363.
Henrici, Gert (1992). Rezension Kleppin, Karin/Königs, Frank G. (1991). Der Korrektur auf der Spur –
Untersuchungen zum mündlichen Korrekturverhalten von Fremdsprachenlehrern. In: Deutsch als
Fremdsprache 29(4), 248–250.
*Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine
empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Ivankova, Nataliya V./Creswell, John W. (2009). Mixed methods. In: Heigham, Juanita/Croker, Robert A.
(Hg). Qualitative Research in Applied Linguistics. A Practical Introduction. Houndmills, Basinstoke:
Palgrave-Macmillan, 135–161.
*Kleppin, Karin/Königs, Frank G. (1991). Der Korrektur auf der Spur – Untersuchungen zum mündli-
chen Korrekturverhalten von Fremdsprachenlehrern. Bochum: Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer.
Klieme, Eckhard (2008). Systemmonitoring für den Sprachunterricht. In: Klieme, Eckhard (Hg.). Un-
terricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie. Weinheim,
Beltz, 1–10. [http://www.pedocs.de/volltexte/2010/3149/pdf/978_3_407_25 491_7_1A_D_A.pdf]
(4. 12. 2015).
Kuckartz, Udo (2014). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wies-
baden: Springer VS.
*Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache: zum Nutzen eines
Sensibilisierungsunterrichts im ‚DaFnE‘. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Refe-
renzarbeit, Kapitel 7]
*Minuth, Christian (1996). Freie Texte im Französischunterricht. Berlin: Cornelsen.
Müller-Hartmann, Andreas/Schocker-von Ditfurth, Marita (Hg.) (2001). Qualitative Forschung im Be-
reich Fremdsprachen lehren und lernen. Tübingen: Narr.
*Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Peuschel, Kristina (2012). Sprachliche Tätigkeit und Fremdsprachenlernprojekte. Fremdsprachliches
Handeln und gesellschaftliche Teilhabe in radiodaf-Projekten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren.

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58 3. Forschungstraditionen der Fremdsprachendidaktik

*Rattunde, Eckhardt (1990). Poésie et écriture poétique. Möglichkeiten eines kreativen Umgangs mit
poetischen Texten im Französsichunterricht (Chanson – comptime – poème). Berlin: Cornelsen.
*Ricart Brede, Julia (2011). Videobasierte Qualitätsanalyse vorschulischer Sprachfördersituationen.
Freiburg i.B.: Fillibach.
Riemer, Claudia (2014). Forschungsmethodologie Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Settinieri,
Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empi-
rische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 15–31.
*Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Referenzarbeit,
Kapitel 7]
*Schmidt, Torben (2007). Gemeinsamens Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht – Eine
empirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen im Unterricht der Klasse 7. Tü-
bingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
*Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische
Pädagogik. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.)
(2014). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. München: Fink/
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Schöningh.
*Wernsing, Arnim Volkmar (1995). Kreativität im Französischunterricht. Berlin: Cornelsen.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Doff, Sabine (Hg.) (2012). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen – Me-


thoden – Anwendung. Tübingen: Narr.
Dieser einführende Sammelband liefert Empirie-Noviz_innen hilfreiche Hinweise zu Vorüberlegun-
gen zu einem Forschungsprojekt, zu Untersuchungsdesigns, zur Datenerhebung und -analyse. Zur Il-
lustration und Vertiefung werden zahlreiche Erhebungs- und Analyseverfahren jeweils anhand eines
Qualifikationsprojekts konkret im Zusammenhang mit Forschungsfrage und Design thematisiert.
Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia
(Hg.) (2014). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.
München: Fink/Schöningh.
Diese Einführung ist zwar spezifisch auf das Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache bezogen, bie-
tet jedoch zweifellos auch Leser_innen anderer fremdsprachendidaktischer Fächer einen verständlich
geschriebenen, höchst lohnenswerten Einstieg in empirische Erhebungs- und Auswertungsmethoden.
Auf Designebene werden insbesondere die Themen Methodologie, Gütekriterien, Triangulation und
Planung empirischer Studien thematisiert.

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4. Forschungsentscheidungen

Karen Schramm

Ist eine grundsätzliche Entscheidung dahingehend gefallen, in welcher Forschungstradition


(s. Kapitel 3) die eigene geplante Studie verortet werden soll, sind zahlreiche Überlegungen
zur Anlage der Studie auf der Makroebene zu treffen. Wichtige Aspekte solcher Makroent-
scheidungen werden in diesem Kapitel thematisiert, während das darauffolgende Kapitel 5
die nachgeordneten Entscheidungen auf der Ebene der Gewinnung von Dokumenten, Tex-
ten und Daten sowie auch auf der Ebene von deren Aufbereitung und Analyse beleuch-
tet.
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In der empirischen Forschung steht auf Makroebene das zielgerichtete Zusammenspiel


von Forschungsfrage und Auswahl des Erhebungskontexts, von Datentyp(en) sowie auch
von Aufbereitungs- und Auswertungsverfahren im Zentrum der Überlegungen, während
Fragen auf Mikroebene spezifischer auf Entscheidungen in Bezug auf Einzelaspekte der Er-
hebung oder der Aufbereitung und Analyse bezogen sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
ein Wechselspiel der Entscheidungen auf beiden Ebenen nicht nur unvermeidbar, sondern
sinnvoll und gewinnbringend ist. Die Notwendigkeit, Entscheidungen beim Entwurf der
eigenen Studie vielfach zu überdenken und zu verfeinern, sollte von Forschungsnoviz_innen
deshalb keinesfalls als persönliches Scheitern, sondern als erfolgreiche Ausdifferenzierung
eines Designs zur Beantwortung der Forschungsfrage gedeutet werden, das in einem an-
spruchsvollen – und dementsprechend auch anstrengenden – Prozess des Nachdenkens
immer weiter an Gestalt und Qualität gewinnt. Auch Arbeiten in historischer oder theoreti-
scher Tradition sind durch dasselbe Wechselspiel von Entscheidungen auf unterschiedlichen
Ebenen betroffen. Dementsprechend haben auch bei solchen Studien viele Entscheidungen
auf der Mikroebene, die in Kapitel 5 angesprochen werden, Rückwirkungen auf die Makro-
entscheidungen.
Das Kapitel 4.1 zur Grundlage der eigenen Forschungsarbeit ist stark mit der Entschei-
dung für eine bestimmte Forschungstradition verknüpft. Hier ist eine (zunächst vorläufige)
Weichenstellung bezüglich der Frage vorzunehmen, ob bzw. welche Daten, Dokumente oder
Texte grundsätzlich dazu geeignet sind, der Forschungsfrage nachzugehen.
Hieran schließen sich Entscheidungen für einen grob skizzierten Gang der Untersuchung
bzw. im Fall von empirischen Studien für einen Design-Entwurf an. In Kapitel 3 wurden für
die verschiedenen Forschungstraditionen charakteristische Vorgehensweisen bereits kurz an-
gesprochen; diese gilt es für die eigenen Zielsetzungen genau zu prüfen, zu adaptieren und
kreativ zu gestalten. Zu diesem Zweck stehen auch bestimmte etablierte Untersuchungsfor-
men bereit, die – oft im Rahmen spezifischer Forschungsfelder oder theoretischer Schulen –
gewissermaßen fest gefügte Ensembles von Makroentscheidungen als Substrat vorangegan-
gener Untersuchungsentwürfe für das eigene forscherische Handeln zur Verfügung stellen (s.

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60 4. Forschungsentscheidungen

dazu Kapitel 4.2). In Bezug auf solche Design-Vorlagen auf Makroebene wie beispielsweise
die Fallstudie, die Aktionsforschung und das Forschungsprogramm Subjektive Theorien ist
zu betonen, dass sie – wie jeder andere Projektentwurf auch – vor dem Hintergrund der For-
schungsfrage als mögliche Handlungsoption kritisch zu hinterfragen und gegenstandsadäquat
auszugestalten (sowie den Leser_innen explizit zu begründen) sind.
Solche Makroentscheidungen können selbstverständlich nur in Abhängigkeit vom jewei-
ligen Forschungsstand getroffen werden. In besonderer Weise gilt dies für zwei Sonderfälle:
die Entscheidung für eine Meta-Analyse oder für eine Replikationsstudie, welche beide in
Kapitel 4.5 unter der Metapher des zweiten Blicks behandelt werden. Bei Metaanalysen ist
ein sehr umfänglicher empirischer Forschungsstand vonnöten, damit auf dieser Grundlage
eine Synthese der unterschiedlichen Befunde mithilfe statistischer Verfahren durchgeführt
werden kann. Dabei wird gewissermaßen aus den Mosaiksteinchen zahlreicher Einzel-
studien ein Gesamtbild zusammengesetzt. Die Replikationsstudie ist dagegen eher ange-
zeigt, wenn bisher noch wenig Erkenntnis bzw. gesicherte Befunde bezüglich eines Unter-
suchungsgegenstands vorliegen und aus diesem Grund ein bestimmtes Design in einen
anderen Kontext transferiert bzw. dort erneut oder in vergleichbarer Form durchgeführt
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wird.
Spezielle Spielarten der vielfältigen Erscheinungsformen empirischer Forschung sind nicht
nur durch die in Kapitel 3.3 thematisierte Frage von Rein- und Mischformen von Designs be-
stimmt, sondern ergeben sich auch aus verschiedenen Formen der Triangulation. Kapitel 4.4
stellt einführend die vielfältigen Entscheidungsalternativen in Bezug auf Daten-, Methoden-,
Forscher_innen- und Theorientriangulation vor, die die Gestaltungsmöglichkeiten auf Makro-
ebene teils begrifflich mit denen in Kapitel 3.3 diskutierten Optionen überlappen und teils
wiederum erweitern.
Unter dem Titel Sampling bietet Kapitel 4.3 zahlreiche Denkanstöße zu Auswahlent-
scheidungen an, die vor allem die Forschungspartner_innen bzw. die Stichprobenziehung
betreffen. Sampling beinhaltet darüber hinaus durchaus aber auch weitere Selektionsprozesse,
z. B. in Bezug auf die Vertiefung der Analyse bestimmter Datensätze oder die Präsentation
ausgewählter Beispiele.
An das Ende von Kapitel 4 zu den Makroentscheidungen haben wir das Ethikkapitel 4.6
gestellt, das das vorausschauende Abwägen bestimmter Handlungsalternativen unter Berück-
sichtigung des Schutzes der Forschungspartner_innen oder anderer Personen, Institutionen
oder des Fachs sowie auch den reflektierten Umgang mit ethischen Dilemmata ergründet.
Viele der hier angesprochenen Fragen, beispielsweise die Anonymität der Forschungspart-
ner_innen oder die Frage des Feldzugangs, betreffen zwar die Datenerhebung und könnten
damit auch der Mikroebene zugeordet werden; doch reichen die ethischen Entscheidungen
auch in andere Phasen des Forschungsprozesses hinein (z. B. die kommunikative Validierung
oder die Präsentation der Ergebnisse), sodass es stringent erscheint, sie an dieser Stelle im
Verbund mit den anderen Entscheidungen auf Makroebene anzusprechen.

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4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage 61

4.1  exte, Daten und Dokumente als


T
Forschungsgrundlage

Michael K. Legutke

Ziel des folgenden Beitrags ist es, drei Schlüsselbegriffe zu bestimmen, deren Bedeutung in
der Forschungsliteratur selten geklärt, sondern anscheinend als allgemein bekannt voraus-
gesetzt wird. Mit diesen Begriffen werden in der fremdsprachendidaktischen Forschung
die Belege bezeichnet, die ihr als Forschungsgrundlage dienen. Während Daten nur in der
empirischen Forschung Verwendung finden, sind Texte und Dokumente für alle drei For-
schungstraditionen von Bedeutung: für die historische, die theoretische und die empirische
Forschung (s. Kapitel 3).

4.1.1 Texte als Forschungsgrundlage


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Unabhängig davon, welcher Forschungstradition oder welchem Forschungsparadigma der


Forscher oder die Forscherin verpflichtet ist, sie/ er wird auf jeden Fall (meist zu Beginn
der Arbeit) das Vorhaben im wissenschaftlichen fremdsprachendidaktischen Diskurs ver-
orten und dabei oftmals nicht nur einen Literaturbericht liefern (s. Kapitel 6.3), sondern
bereits eigene Hypothesen entwickeln und Positionen formulieren, um den theoretischen
Bezugsrahmen der Arbeit zu markieren. Grundlage solcher Bemühungen sind vorwiegend
schriftliche wissenschaftliche Texte, wobei zwischen primären Texten (umfassende Studien)
und sekundäre Texten (Zusammenfassungen und Überblicksdarstellungen) unterschieden
wird (s. Kapitel 5.2.2).
Neben primären und sekundären wissenschaftlichen Texten können auch andere Text-
genres die Grundlage theoretischer Forschungsarbeiten bilden (s. Kapitel 3.2). Je nachdem
welcher Teildisziplin der Fremdsprachendidaktik (z. B. Sprach-, Literatur-, Kultur- oder Me-
diendidaktik) die einzelne Forschungsarbeit zuzuordnen ist, werden bestimmte Textgenres
eher als andere die Grundlage des Forschungsbemühens sein. Für kultur- und literaturdidak-
tische Arbeiten könnten beispielsweise klassische literarische Texte (Kurzgeschichten) oder
multimodale literarische Texte (multimodale Jugendromane), Animationsfilme oder Lehr-
materialien die zentrale Forschungsgrundlage bilden. Aber angesichts der Komplexität des
Gegenstandsbereichs und abhängig von der Fragestellung wird es meist darum gehen, ein
Ensemble verschiedener Texte zusammenzustellen und auszuwerten.

4.1.2 Dokumente als Forschungsgrundlage

Auch Dokumente sind Texte; sie unterscheiden sich jedoch von den oben genannten wissen-
schaftlichen Primär- und Sekundärtexten insofern, als sie nicht im Kontext wissenschaftlicher
Arbeit entstanden sind, sondern einem anderen Zweck dienen. Der Begriff ‚Dokument‘ wird

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62 4. Forschungsentscheidungen

dabei allgemein im Anschluss an McCulloch verstanden als „a record of an event or pro-


cess“ (McCulloch 2011: 249). Dokumente können verschiedene Erscheinungsformen haben.
Sie stehen nicht nur als gedruckte Texte, sondern in vielfältig medialen Realisierungen zur
Verfügung (Bilder, Fotografien, Filme). In der fremdsprachendidaktischen Forschung werden
Dokumente nach den Urhebern, nach dem Vertriebsweg und ihrer Zugänglichkeit unterschie-
den: offizielle Dokumente (z. B. Gesetze der Bundesländer, Stellungnahmen der Ständigen
Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK), Expertisen des Europarats, Lehrpläne),
halboffizielle Dokumente (z. B. schulinterne Curricula, Arbeitspapiere von Lehrergruppen,
Konferenzprotokolle, ‚graue Papiere‘) und private Dokumente (Tagebücher, Briefe, aber auch
Stundenvorbereitungen von Lehrkräften oder Hausaufgaben der Schüler). Als öffentlich wer-
den Dokumente dann bezeichnet, wenn sie in der einen oder anderen Form veröffentlicht
wurden und deshalb leicht zugänglich sind. 1
Für die Fremdsprachenforschung von Interesse sind unter anderem die Dokumente, die
als unterrichtsbezogene Produkte entstehen. Obwohl im öffentlichen Kontext Schule situiert,
sind sie private Dokumente von Lehrenden und Lernenden. Ihr Spektrum reicht von unter-
schiedlichen schriftlichen und mündlichen Sprachhandlungsprodukten der Lehrkraft oder der
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Lernenden (schriftliche Unterrichtvorbereitungen, Tafelanschriebe, Plakate oder Präsentatio-


nen von Einzelnen und von Gruppen, Aufzeichnungen von Rollenspielen) über Bewertungen
unterschiedlicher Provenienz (Verbalbeurteilungen, Kommentare zu Einzelarbeiten) bis hin
zu Tagebuchnotizen (s. Kapitel 5.2.7).
Für die historische Fremdsprachenforschung liefern Dokumente die entscheidende For-
schungsgrundlage (Kapitel 3.1 und 5.3.1). Dokumentenanalyse kann jedoch auch ein Teil
theoretischer Forschung sein oder im Kontext empirischer Studien erfolgen.

4.1.3 Daten als Forschungsgrundlage

Auch Daten lassen sich mit der allgemeinen Definition „a record of an event or process“
(McCulloch 2011: 249) bestimmen. Diese Definition geht auf Gregory Bateson zurück, der
wie folgt formulierte: „[…] ‚data‘ are not events or objects but always records or desricptions
or memories of events or objects“ (Bateson 1973: 24). Was Daten jedoch von Dokumenten
unterscheidet, ist ihre Entstehung, denn sie werden durch die eingesetzten Erhebungsver-
fahren erst hervorgebracht, d. h. sie werden geschaffen. Daten sind demnach das Produkt
von Forschungshandlungen. Die Ausprägung von Daten kann entweder qualitativer oder
quantitativer Art sein, ihr Inhalt wird durch die Forschungsfrage und die Datenquellen be-
stimmt. In der fremdsprachendidaktischen Forschung wird zwischen Primär-, Sekundär- und
Tertiärdaten unterschieden. Primärdaten sind sprachliche Rohdaten (z. B. Videodaten einer
Unterrichtsstunde, Ergebnisse eines Prä- oder Posttests). Sekundärdaten sind alle Verarbei-
tungsstufen der Rohdaten (z. B. kodierte Daten, Transkripte, skalierte Testergebnisse). Tertiär-
daten schließlich sind alle Metadaten zu den vorangegangenen Datentypen (z. B. Angaben
zum Kontext, zur Entstehungszeit; s. auch Kapitel 5.2.6; 5.3.8).

1 Eine differenzierte Begriffsklärung liefert das Kapitel 5.2.1 „Dokumentensammlung“. Hier wird auch der
begriffliche Unterschied zwischen Dokumenten und Quellen erörtert.

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4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage 63

Häufig wird in der allgemeinen Forschungsliteratur nur zwischen Primär- und Sekundär-
daten unterscheiden. Erstere bezeichnen dann Daten, die bei der Datenerhebung unmittelbar
geschaffen werden, letztere hingegen solche, die von anderen Forschern oder von Institutio-
nen erhoben wurden: Beispiele sind das Statistische Bundesamt, Statistische Landesämter,
Ministerien, die OECD, die UNO, die Weltbank (vgl. O’Leary 2014: 243–273).
Quantitative Daten sind das Ergebnis eines Transformationsprozesses, in dem Belege zu
Sachverhalten, Ereignissen, Prozessen und Objekten in eine Zahlenform verwandelt werden.
Man spricht deshalb auch von numerischen Daten. Sie bilden die Grundlage für den Ein-
satz statistischer Verfahren und sind das Herzstück einer quantitativ-hypothesenprüfenden
Fremdsprachenforschung, die sich um objektiv überprüfbare und repräsentative Ergebnisse
sowie validierbare Verallgemeinerungen bemüht (s. Kapitel 3.3). Datenquellen sind zum Bei-
spiel Tests aller Art (Sprach-, Kompetenz- oder Intelligenztests), strukturierte und kontrol-
lierte Messungen bestimmter Phänomene (Reaktionszeiten bei der Bearbeitung von Online-
Aufgaben) oder Fragebögen. Quantitative Daten verdichten komplexe Zusammenhänge zu
messbaren Einheiten. Eine vertiefende Einführung liefern die Kapitel 5.3.9 bis 5.3.11.
Qualitative Daten sind Belege zu Sachverhalten, Ereignissen und Prozessen, die in un-
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terschiedlicher Text- und Medienform die Grundlage rekonstruktiv-qualitativer Fremdspra-


chenforschung bilden. Ihre Interpretation liefert nicht repräsentative oder generalisierbare
Erkenntnisse, sondern erschließt, was konkrete Menschen in spezifischen sozialen und in-
stitutionellen Kontexten tun, wie sie interagieren, wie sie ihr Handeln verstehen und be-
werten. Folgende Datentypen seien hier als Beispiele, d. h. ohne Anspruch auf Vollständigkeit
genannt. Die Bezeichnungen bieten eine grobe Orienteirung und sind nicht trennscharf:2
• Deskriptive Daten: Daten, die Verhalten von Menschen, Ereignisse, Institutionen und kon-
krete Settings repräsentieren. Erhoben werden diese durch Beobachtungen aller Art mit
Hilfe von (Feld-)Notizen, Tagebüchern, Beobachtungsprotokollen.
• Narrative Daten: Diese repräsentieren biographische und berufliche Erfahrungen. Erhe-
bungsinstrument sind narrative Interviews.
• Introspektionsdaten: Diese gestatten Einblicke in Gedanken und Gefühle der Forschungs-
partner, die der Beobachtung in der Regel nicht zugänglich sind. Erhoben werde solche
Daten durch Verfahren des Lauten Denkens und Lauten Erinnerns (s. Kapitel 5.2.5).
• Berichts- und Meinungsdaten: Diese machen zugänglich, was Menschen zu Situationen,
Ereignissenn und Zusammenhängen sagen und/oder meinen. Sie werden u. a. durch Inter-
views erhoben (s. Kapitel 5.2.4).
• Diskursdaten: Diese geben wieder, was Menschen in spezifischen Situationen wie zueinan-
der sagen (z. B. im fremdsprachlichen Klassenzimmer). Erhebungsinstrumente sind hier
Audio- und Videoaufzeichnung (s. Kapitel 5.3.5).
Auch die oben genannten Dokumente, nämlich die unterrichtsbezogenen Produkte und Ar-
tefakte, werden in der Forschungsliteratur häufig als Datenquelle gefasst und somit den
qualitativen Daten zugeschlagen (vgl. Zydatiß 2002). Eine solche Zuordnung ist insofern
plausibel, als diese Produkte zwar als integrale Bestandteile des laufenden Unterrichts ent-

2 Einen tabellarischen Überblick über qualitative Datentypen mit Datenbeispielen bietet Holliday 2012:
62–63.

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64 4. Forschungsentscheidungen

stehen und demnach nicht durch die Forschungsverfahren geschaffen werden. Sie sind jedoch
durch die Forschungsfrage(n) aus diesem quasi naturwüchsigen Zusammenhang heraus-
gehoben, werden besonders markiert und bestimmten Verfahren der Aufarbeitung und Ana-
lyse unterzogen. Die Grenze zwischen den Begriffen ‚Dokumente‘ und ‚Daten‘ ist bezogen
auf diese Belege demnach fließend. Der Unterschied zwischen Daten (geschaffene Belege)
und Dokumenten (unterrichtsbezogene Belege im Fokus einer Forschungsfrage) legt auf jeden
Fall nahe, begrifflich zwischen dem Erfassen von Dokumenten und Erheben von Daten zu
unterscheiden (s. Kapitel 5.2.6).
Da für die empirische Fremdsprachenforschung prinzipiell vier Perspektiven unterschieden
werden können, nämlich der „Blick auf die Produkte, die Akteure und die Lern- und Bildungs-
prozesse selbst“ (Bonnet 2012: 286) sowie auf die Kontexte (Kapitel 3.3), können auch Daten-
quellen und die aus ihnen gewonnenen Daten diesen vier Perspektiven zugeordnet werden.
Eine solche Einteilung der Daten nach Produkt-, Personen-, Prozess- und Kontextdaten kann
sich u. a. als funktional für das Datenmanagement (s. u.) erweisen. Die Ausprägung dieser
Daten kann je nach Forschungsansatz entweder qualitativer oder quantitativer Natur sein.
In Studien, die quantitativ-hypothesenprüfende und qualitativ-rekonstruktive Ansätze kom-
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binieren, werden beide Datenarten nebeneinander vertreten sein.

4.1.4  exte, Dokumente und Daten im Verbund: zwei


T
Beispiele

Dass sich für empirische Arbeiten in der fremdsprachendidaktischen Forschung besondere


Chancen eröffnen, wenn sie auf alle drei Belegtypen im Verbund zugreifen, soll anhand der
Arbeit von Britta Freitag-Hild (2010) erläutert werden. Freitag-Hild verfolgt die These, dass
das kulturwissenschaftliche Konzept der Transkulturalität nicht nur geeignet ist, kulturelle
Komplexität und Hybridität deskriptiv zu erfassen, sondern auch die Grundlage für die Kon-
zeption von Unterrichtseinheiten bietet (Bestimmung von Inhalten, Lernzielen, Textauswahl,
Auswahl und Integration von Aufgaben), die Lernende für kulturelle Vielstimmigkeit sensi-
bilisieren. Die Verfasserin entwickelt zunächst ein theoretisch fundiertes Unterrichtsmodell
zu British Fictions of Migration, das dann in drei Fallstudien im Literaturunterricht der Se-
kundarstufe II konkretisiert und auf seine Leistungsfähigkeit in Hinblick auf die angestrebte
Sensibilisierung untersucht wird. Unterrichtsgegenstand sind ein Spielfilm und zwei Romane.
Die qualitativ-explorative Untersuchung der Unterrichtsprozesse über mehrere Wochen führt
die Verfasserin zu einer Neukonzeption des zunächst theoretisch entwickelten Unterrichts-
modells.
Für die theoretische Fundierung und Konzeptualisierung des Unterrichtsmodells bilden so-
wohl kulturwissenschaftliche und kultur- bzw. literaturdidaktische theoretische Primär- und
Sekundärtexte die Forschungsgrundlage als auch literarische Texte unterschiedlicher Genres
(Kurzgeschichten, Romane) und Filme, die auf ihr didaktisches Potenzial im Sinne der überge-
ordneten Fragestellung analysiert werden. Für die unterrichtsbezogene Aufbereitung der
Analyseergebnisse wertet die Verfasserin weitere Texte aus, die sie mit den ausgewählten
literarischen Texten und Filmen zu intertextuellen Arrangements als Arbeitsgrundlage im

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4.1 Texte, Daten und Dokumente als Forschungsgrundlage 65

Unterricht verknüpft. Die Erörterung des didaktischen Potentials erfolgt schließlich in Verbin-
dung mit der Analyse offizieller Dokumente staatlicher Institutionen (Lehrpläne, Bildungs-
standards, Einheitliche Prüfungsanforderungen im Abitur).
Datenquellen der drei Fallstudien sind das Unterrichtsgeschehen und insbesondere die
Interaktionsprozesse, die beobachtet und audiovisuell aufgezeichnet werden. Freitag-Hild
erhebt Daten zu Lehrer-Schüler-Interaktionen, Unterrichtsgesprächen, Phasen der Gruppen-
arbeit sowie zur Vorbereitung von Rollenspielen in Gruppen. Forschungsgrundlage sind fer-
ner eine Vielzahl von Produkten dieser Interaktionsprozesse, also Dokumente des laufenden
Unterrichts wie Lernertexte (interpretative und kreative Schreibprodukte, Poster, Collagen,
Rollenspiele) und Klausuren (Vorschläge der Forscherin, Klausuraufgaben der Lehrkraft sowie
ausgewählte Klausurbeispiele von Schülern). Die Außenperspektive der Forscherin auf die
Prozesse und ihre Produkte (festgehalten durch Beobachtungsprotokolle) werden ergänzt
und differenziert durch die Innenperspektive der Akteure (Lehrkräfte und Lernende). Diese
Datenquellen werden durch retrospektive Interviews nach einzelnen Stunden und am Ende
der Unterrichtseinheiten erschlossen.
Auch wenn Freitag-Hilds Arbeit deutlich macht, wie für die Beantwortung bestimmter For-
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schungsfragen die Verschränkung vieler Datenquellen, Texte und Dokumente in besonderer


Weise zielführend sein kann, ist damit nicht gesagt, fremdsprachendidaktische Forschung
müsse stets derart breit und mehrmethodisch angelegt sein. Als Gegenbeispiel kann die
Referenzarbeit von Michael Schart (2003) dienen. Die Studie beschäftigt sich mit dem sub-
jektiven Verständnis des Projektunterrichts bei Lehrenden für Deutsch als Fremdsprache im
universitären Kontext und benutzt neben primären und sekundären Texten zwei Daten-
quellen: In einem mixed-methods-Ansatz verknüpft Schart quantitative Daten, die aus einer
Fragebogenerhebung gewonnen wurden, mit qualitativen Daten aus problemorientierten,
halbstandardisierten Interviews.

4.1.5 Organisation und Überprüfbarkeit der Belege

Wie die verschiedenen Belegtypen gesammelt, organisiert und/oder katalogisiert werden


müssen, hängt nicht zuletzt von den Forschungstraditionen ab, denen die Studie verpflichtet
ist, und den jeweiligen Forschungsverfahren. Möglichkeiten des Datenmanagements werden
im Kapitel 5.3 „Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten“ dieses Hand-
buchs in den jeweiligen Teilkapiteln angesprochen.
Eine klare Organisation der Belege ist nicht nur aus forschungspraktischen Gründen von
großer Wichtigkeit, sondern schafft auch die Voraussetzung dafür, dass die Auswahl von
Texten und Dokumenten von anderen Forschenden nachvollzogen, dass Daten überprüft wer-
den bzw. als Grundlage weiterer Forschungen, etwa in Metastudien (s. Kapitel 4.5), genutzt
werden können. Sofern es sich um wissenschaftliche Primär- und Sekundärtexte und um
offizielle Dokumente handelt, garantiert die genaue bibliographische Angabe die Überprüf-
barkeit. Weniger klar ist die Sachlage für halboffizielle und vor allem für private Dokumente.
In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, die Belege unter Berücksichtigung forschungsethischer
Prinzipien (s. Kapitel 4.6) als Anhänge zu den Forschungsarbeiten zugänglich zu machen.

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66 4. Forschungsentscheidungen

Besondere Aufmerksamkeit verlangen qualitative und quantitative Daten. Sie müssen nicht
nur für das jeweilige Projekt organisiert werden, sondern sollten im Sinne der Grundsätze
zum Umgang mit Forschungsdaten der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen
(Allianz 2010) und der DFG Denkschrift: Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis (DFG
1998) gesichert und aufbewahrt werden. Die Empfehlung 7 „Sicherung und Aufbewahrung
von Primärdaten“ dieser Denkschrift lautet: „Primärdaten als Grundlagen für Veröffentlichun-
gen sollen auf haltbaren und gesicherten Trägern in der Institution, wo sie entstanden sind,
zehn Jahre lang aufbewahrt werden“ (DFG 1998: 21). Wie diese Empfehlungen im Einzelnen
in die Praxis umgesetzt werden, hängt von den Regeln ab, die sich Forschungsinstitutionen,
Universitäten, Fachbereiche oder Institute gegeben haben. Verpflichtende Strukturen und
Formen der Datenarchivierung existieren in Deutschland nicht (s. Klump, o. J.).

›› Literatur

Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen (2010). Grundsätze zum Umgang mit Forschungs-
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daten. [http://www.allianzinitiative.de/de/handlungsfelder/forschungsdaten/grundsaetze.html].
Bateson, George (1973). Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry,
Evolution and Epistomology. London: Granada Publishing.
Bonnet, Andreas (2012). Von der Rekonstruktion zur Integration: Wissenssoziologie und dokumenta-
rische Methode in der Fremdsprachenforschung. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht
empirisch erforschen. Grundlagen. Methoden. Anwendung. Tübingen: Narr, 286–305.
DFG (1998). Denkschrift: Sicherung Guter Wissenschaftlicher Praxis. Weinheim: WILEY-VCH Verlag
GmbH. [http://www.dfg.de/foerderung/grundlagen_rahmenbedingungen/gwp/index.html].
Freitag-Hild, Britta (2010). Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkul-
tureller Literaturdidaktik. ‚British Fictions of Migration‘ im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT.
Holliday, Adrian (2012). Doing and Writing Qualitative Research. 2nd edition. Los Angeles: SAGE.
Klump, Jens (o. J.). Wissenschaftliche Primärdaten. In: Nestor Handbuch. Eine kleine Enzyklopädie der
digitalen Langzeitarchivierung. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek: Göttingen, Ka-
pitel 15, 54–63.
[http://nestor.sub.uni-goettingen.de/handbuch/artikel/nestor_handbuch_artikel_275.pdf].
McCulloch, Gary (2011). Historical and Documentary Research in Education. In: Cohen, Louis/Manion,
Lawrence/Morrison, Keith (Hg.). Research Methods in Education. 7. Auflage. London: Routledge,
248–255.
O’Leary, Zina (2014). Doing Your Research Project. 2nd Edition. Los Angeles: SAGE.
Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren [Referenzarbeit,
Kapitel 7].
Zydatiß, Wolfgang (2002). Leistungsentwicklung und Sprachstandserhebungen im Englischunterricht.
Methoden und Ergebnisse der Evaluierung eines Schulversuchs zur Begabtenförderung : Gymnasiale
Regel- und Expressklassen im Vergleich. Frankfurt: Peter Lang.

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4.2 Prototypische Designs 67

4.2 Prototypische Designs

Daniela Caspari

Wie in der Einleitung zu Kapitel 4 bereits erwähnt, bedingen bestimmte Forschungsent-


scheidungen einander, während andere voneinander weitgehend unabhängig sind. So stellt
die Wahl einer bestimmten Forschungstradition eine richtungsweisende Vorentscheidung für
geeignete Erhebungs- und Auswertungsverfahren dar, die dann je nach Forschungsfrage und
Gegebenheiten ausgewählt und miteinander kombiniert werden können. Auch innerhalb der
empirischen Forschungstradition stellt die Entscheidung für ein bestimmtes Paradigma (qua-
litativ – quantitativ – mixed methods) eine Vorentscheidung für die Auswahl der verwend-
baren Forschungsinstrumente dar (z. B. Fragebogen nur mit geschlossenen Fragen versus Fra-
gebogen mit teiloffenen und offenen Fragen, quantitative versus qualitative Inhaltsanalyse).
Im Laufe der Zeit hat sich insbesondere innerhalb der quantitativ-empirischen Forschungs-
tradition eine Reihe von festen Elementen und Abfolgen herausgebildet, die sich für be-
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stimmte Zielsetzungen besonders gut eignen, z. B. für experimentelle Forschung, Evaluations-


forschung oder Implementationsforschung. Eine solche Kombination bestimmter Erhebungs-,
Aufbereitungs- und Auswertungsverfahren im Kontext eines bestimmten Forschungsansatzes
bzw. für eine bestimmte Zielsetzung wird auch als „komplexes Design“ bezeichnet. In der
qualitativen Forschungstradition gibt es im Rahmen bestimmter Forschungsansätze ebenfalls
solche festgelegten Kombinationen, z. B. die Grounded Theory oder die Dokumentarische
Methode (s. Kapitel 5.3.3).
In diesem Kapitel werden drei Designs vorgestellt, die als komplexe, relativ fest gefügte
Ensembles einen forschungsmethodologischen und forschungsmethodischen Rahmen für be-
stimmte Zielsetzungen und Absichten bieten, ohne sich eindeutig dem qualitativen oder
quantitativen Paradigma zuzuordnen. Ausgewählt wurden drei unterschiedliche Designs,
die innerhalb der pädagogischen und fachdidaktischen Forschung für ganz unterschiedliche
Absichten stehen:
1. Fallstudien verfolgen das Ziel, einzelne Personen, Gruppen oder Institutionen in ihrer
Komplexität zu erfassen. Sie gehen davon aus, dass sich in diesen Einzelfällen allgemeinere
Strukturen manifestieren.
2. Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST) ist ein theoretischer und methodo-
logischer Ansatz, mit dem individuelle Kognitionen und Argumentationen von Menschen
erhoben, rekonstruiert und – in der weiten Fassung des Programms – an der Realität über-
prüft werden können.
3. Die Aktionsforschung bietet Praktiker/innen ein zyklisches Verfahren, alleine oder in Zu-
sammenarbeit mit Kolleg/innen oder Forscher/innen ihren Unterricht systematisch zu er-
forschen und im Prozess der Erforschung zu verändern.
In der forschungsmethodischen Literatur gibt es weder einen festen Oberbegriff noch eine
einheitliche ‚Einordnung‘ für diese Ansätze, man findet sie z. B. unter styles of educational
research (Cohen/Manion/Morrison 2011) oder unter research design issues (Nunan/Bailey
2009). Häufig werden sie mit „approach“ bzw. „research approach“ (Nunan/Bailey 2009,

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68 4. Forschungsentscheidungen

Hitchcock/Hughes 1995, Heighman/Croker 2009) bezeichnet. Unter Forschungsansatz bzw.


approach versteht Lamnek (2010: 272–273) eine vielschichtige methodische Vorgehensweise,
die methodologisch zwischen einem methodologischen Paradigma und einer konkreten Erhe-
bungstechnik angesiedelt ist. Der hier gewählte Begriff „Design“ soll die Gesamtheit und das
funktionale Zusammenspiel der für die Erreichung des Forschungsziels notwendigen Einzel-
elemente betonen; „prototypisch“ deswegen, weil sie alle drei typische Ziele pädagogischen
bzw. fachdidaktischen Forschens verfolgen und beispielhaft in ein Design umsetzen. Daher
ist mit diesem Kapitel auch keinesfalls eine vollständige Darstellung solcher „besondere[r]
Forschungsansätze“ (Riemer 2014) beabsichtigt. Vielmehr soll an drei in der fremdsprachen-
didaktischen Forschung häufig verwendeten Designs auf diese methodologische Besonderheit
aufmerksam gemacht werden.

4.2.1 Fallstudie

Fallstudien (engl. case studies) stehen in der Tradition enthnografischer Forschungsansätze.


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Während sie in den deutschsprachigen Erziehungswissenschaften bishlang eher ein „Mauer-


blümchendasein“ fristen (Lamnek 2010: 272), kommt ihnen in den Untersuchungen zum Erst-
und Zweitsprachenerwerb sowie in der englischsprachigigen erziehungswissenschaftlichen
Forschung seit den 1970er Jahren eine große Bedeutung zu.
Bislang gibt es keinen einheitlichen Begriffsgebrauch (Fatke 2010: 161, vgl. auch die Zusam-
menstellung unterschiedlicher Definitionen in Nunan/Bailey 2009: 161). Zentrales Merkmal
ist die Konzentration auf einzelne Einheiten wie Menschen, Gruppen oder Organisationen,
d. h. Individuen in einem sozialwissenschaftlichen Sinn (Lamnek 2010: 273). Unterschieden
werden sie nach drei Kriterien:
• Einzelfallstudien und Studien mit mehreren Fällen (multiple Fallstudien),
• holistische Studien (der einzelne Fall wird in seiner Gänze und unter Einbeziehung des
Kontextes untersucht) und eingebettette (embedded) Studien (der einzelne Fall wird aus-
schnitthaft in Bezug auf einen übergeordneten Fall untersucht),
• beschreibende Fallstudien (Darstellung des Falles in seiner Komplexität) und erklärende
Fallstudien (Klärung von Kausalbeziehungen).
Innerhalb des quantitativen Forschungsparadigmas können Fallstudien vor oder nach einer
quantitativ orientierten Studie zur Exploration oder zur Entwicklung von Hypothesen bzw.
zur Illustration oder zur Überprüfung der Praktikabilität ihrer Ergebnisse eingesetzt werden
(Lamnek 2010: 276–284).
Als eigenständige Forschungsmethode ist das Haupteinsatzgebiet von Fallstudien jedoch
die qualitative, d. h. explorativ-interpretative Forschung (s. Kap. 3.3). Man geht davon aus,
dass sich in Einzelfällen über das ihnen Spezifische hinaus generellere Strukturen manifestie-
ren, so dass sich „[a]us dem Besonderen eines Einzelfalls […] stets noch anderes von allgemei-
ner Relevanz ableiten [lässt], als nur das, was dem Theoretiker in seinen kategorialen Blick
gelangt“ (Fatke 2010: 167). Als Vorteile gelten insbesondere der hohe Grad an Vollständigkeit
und die Tiefe der Analyse, die Integration vielfältiger Sichtweisen und Interpretationen sowie
die Möglichkeit, dass die Leser/innen im dargestellten Fall ihre Wirklichkeit wiedererkennen

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4.2 Prototypische Designs 69

und daraus Erkenntnisse gewinnen können (vgl. Nunan/Bailey 2009: 166–167). Wichtig ist
daher eine vielschichtige, offene Herangehensweise, wobei die Methodentriangulation zu-
gleich eine relative Gewähr biete, Methodenfehler vergleichend zu erkennen bzw. zu ver-
meiden (Lamnek 2010: 273). Grundlage der Forschung ist die gezielte Auswahl des Falls bzw.
der Fälle (‚typische‘ Fälle vs. gezielt abweichende oder extreme Fälle, vgl. auch Kapitel 4.3). In
Studien mit mehreren Fällen folgt der individuellen Auswertung häufig ein Fallvergleich mit
dem Ziel der Erfassung der überindividuellen Phänomene sowie einer Typisierung (Lamnek
2010: 291–292, zur Typenbildung vgl. auch Kapitel 5.3.5).

Fallstudien in der Fremdsprachendidaktik

Auch in der deutschsprachigen Fremdsprachendidaktik erfreut sich der Einsatz von Fall-
studien großer Beliebtheit. Neben den vielen Studien zum Zweit- und Fremdsprachenerwerb
existiert eine Fülle von kleineren und größeren Untersuchungen, die in der Datenbank des ifs
(Informationszentrum Fremdsprachenforschung) als „Fallstudie“ klassifiziert werden. Diese
Beliebtheit dürfte nicht nur daran liegen, dass dieses Design eine Möglichkeit darstellt, der
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Faktorenkomplexion des Lehrens und Lernens von Sprachen gerecht zu werden, sondern vor
allem daran, dass „die Einzelfallstudie als elementarer Baustein jeder qualitativen Studie an-
zusehen ist, denn eine qualitative Befragung von dreißig Personen etwa besteht aus dreißig
Einzelfallstudien, die sich der gleichen Erhebungstechnik bedienen und analytisch miteinan-
der verbunden sind“ (Lamnek 2010: 285). Häufig werden auch einzelne Fälle etwa aus einer
umfangreicheren (Interview-) Studie vorab veröffentlicht.
Für die Auswahl eines Beispiels aus der Fremdsprachendidaktik wurde daher ein engeres
Verständnis von Fallstudie zugrunde gelegt: Fallstudie verstanden als eine mehrmethodische
Untersuchung unterschiedlicher Konstituenten eines oderer mehrerer komplexer Fälle. Bei-
spiele hierfür sind u. a. die Studien von Biebricher (2008), Bär (2009), Burwitz-Melzer (2003),
Freitag-Hild (2010), Grünewald (2006), Kimes-Link (2013), Roters (2012), Peuschel (2012),
Schubert (2013), Steininger (2014) und Tesch (2010).
Grünewald (2006) konzipiert seine Untersuchung zur subjektiv wahrgenommenen Wir-
kung verschiedener Computeranwendungen im spanischen Anfangsunterricht aufgrund der
zugrunde gelegten konstruktivistischen Auffassung von Fremdsprachenlernen (ebda.: 21–53)
als Fallstudie. Um den Motivationsverlauf und den selbst eingeschätzten Lernfortschritt von
Schüler/innen aus drei neunten Klassen (n=60) zu erheben, verwendet er unterschiedliche
Instrumente: Eingangsfragebogen, strukturiertes Lerntagebuch mit Motivationskurven, Ab-
schlussfragebogen und Leitfadeninterviews mit 15 ausgewählten Schüler/innen. Grünewald
versteht die Falldarstellung als „Methode“, die bereits mit der Datenaufbereitung und der
Fallanalyse beginnt (vgl. ebda.: 167–168). Daher verfolgt die Auswertung der Daten mit Hilfe
des Transkriptionsprogramms MAXQDA das Ziel, jeden einzelnen Fall möglichst individuell
zu erfassen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurden die Kategorien aus dem Ma-
terial entwickelt und es wurden zu jedem/jeder Lerner/in zusätzlich zu den Daten aus den
Interviews die Daten aus den anderen Untersuchungsinstrumenten mit kodiert. Ausgewählt
wurden schließlich sechs Fälle (zu den Auswahlkriterien vgl. ebda.: 151–152), die auf jeweils
gut 20 Seiten dargestellt und in einer vergleichenden Synopse zusammengestellt werden. Die
in Form von „zusammenfassenden Thesen“ dargestellten Ergebnisse beruhen ausschließlich

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70 4. Forschungsentscheidungen

auf diesen sechs Fällen. In der abschließenden Reflexion kommt Grünewald zu dem Schluss
„dass methodisch kontrollierte Einzelfalldarstellung[en] mehr können, als Theorien zu ver-
anschaulichen oder zu überprüfen. Sie können auch mehr als nur Hypothesen für weitere […]
Forschung generieren: Sie tragen zur Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und
damit letztendlich zur Theoriebildung bei“ (ebda.: 316).
Die Studie von Rauschert (2014) ist ein Beispiel für ein Design, das Fallstudie und Ak-
tionsforschung (Abschnitt 3) verknüpft. Ausgehend von dem bisher nur in der Pädagogik
bekannten Unterrichtsansatz des Service Learning setzt sich die Arbeit mit der Frage aus-
einander, wie im Englischunterricht in der gymnasialen Mittelstufe durch Projektarbeit, die
fachspezifische Ziele und Inhalte mit sozialem Engagement verbindet, interkulturelle und
kommunikative Kompetenzen gefördert werden können. Ausgehend von Byrams Modell
(Byram 1997) der interkulturellen kommunikativen Kompetenz und dem Leitgedanken des
Service Learning gestaltet die Verfasserin ein Projekt in einer 10. Klasse, in dessen Rahmen
die Schüler/innen in Zusammenarbeit mit indischen Schüler/innen ein Magazin zum Thema
„Happiness“ erarbeiten und produzieren, dessen Erlös einer indischen Schule zugute kommt.
Rauschert diskutiert den „action research cycle“ anhand ihres eigenen Projekts (Rauschert
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2014: 161–166). Dabei reflektiert sie ihre eigenen Rollen als Forscherin und Lehrerin und
setzt sich mit kritischen Einschätzungen dieses Forschungsansatzes auseinander. Somit wird
deutlich, dass die Wahl des forscherischen Vorgehens getragen ist von genauer Kenntnis
des Ansatzes in seinen Schwächen und Stärken, von nachvollziehbaren Überlegungen zur
Passung von Forschungsthema, Fragestellungen und Methode und von (selbst-)kritischer Re-
flexion der eigenen Rolle. In den einzelnen Projektphasen werden unterschiedliche Formen
der Datenerhebung eingesetzt, zu denen erstens ein Fragebogen im Pretest-Posttest-Format
zur Feststellung interkultureller Fähigkeiten, Kenntnisse sowie Einstellungen, zweitens drei
Befragungen der beteiligten Schüler/innen in Form von Interviews, drittens eine (simulierte)
Pressekonferenz, viertens eine freie Textproduktion (Portfolio) und schließlich eine schriftli-
che Abschlussbefragung ein Jahr nach dem Projekt zählen. Alle Formen der Datenerhebung
werden im Hinblick auf die Gütekriterien empirischer Forschung genau analysiert. Der ein-
gesetzte Fragebogen wurde sowohl mit einer großen Stichprobe pilotiert als auch einem
Expertenrating unterworfen.

4.2.2 Forschungsprogramm Subjektive Theorien (FST)

Das zentrale Ziel qualitativer Forschung ist die Erhebung der Innen- bzw. Binnensicht der
Forschungspartner/innen. Dazu gibt es eine Reihe von Konzepten und Zugängen, z. B. die
Erforschung von Einstellungen (attitudes), Überzeugungen (beliefs), Wissen (knowledge) oder
persönliche Konstrukten (personal constructs) bzw. Konzepten (conceptions). In der deutsch-
sprachigen fremdsprachendidaktischen Forschung wurde der vergleichsweise weit gefasste,
integrative Ansatz der „subjektiven Theorien“ besonders populär.
Hauptvertreterin dieses Ansatzes im deutschsprachigen Raum ist eine Gruppe um Norbert
Groeben, die in den 1970er und 80er Jahren das „Forschungsprogramm Subjektive Theorien“
(FST) (Groeben et al. 1988, s. im Folgenden auch Scheele/Groeben 1998) entwickelte. Dieses
theoretisch und methodisch ausgereifte, anspruchsvolle Modell geht von der sog. „Struk-

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4.2 Prototypische Designs 71

turparallelität“ des Denkens aus, d. h. davon, dass Forscher/innen und Forschungspartner/-­


innen prinzipiell die gleichen Denkstrukturen und -prozesse verwenden, die zum Aufbau von
„Subjektiven Theorien“ führen. Damit werden relativ stabile Denkinhalte und -strukturen
bezeichnet, die sich auf die eigene Person, auf andere Personen und die übrige Welt beziehen
können. Sie können sowohl aus bewussten wie auch aus impliziten, dem Bewusstsein der
Personen nicht zugänglichen Kognitionen bestehen und weisen eine zumindest implizite Ar-
gumentationsstruktur auf. In Analogie zu wissenschaftlichen Theorien dienen sie u. a. dazu,
Situationen zu definieren, Sachverhalte zu erklären, Vorhersagen zu treffen oder Handlungs-
entwürfe und -empfehlungen zu konstruieren. Im FST wird Subjektiven Theorien zudem
eine zumindest potenziell handlungsleitende Funktion zugeschrieben. In der sog. „engen
Begriffsexplikation“ werden zwei weitere Anforderungen an Subjektive Theorien gestellt:
Sie müssen im „Dialog-Konsens“ zwischen Forscher/in und Forschungspartner/in rekonstru-
ierbar sein, d. h. es soll durch eine nachträgliche kommunikative Validierung sichergestellt
werden, dass die erhobene Subjektive Theorie adäquat verstanden und rekonstruiert worden
ist. Zudem soll durch eine „explanative“ oder Handlungsvalidierung festgestellt werden, ob
die rekonstruierte subjektive Theorie auch tatsächlich handlungsleitend und damit als ‚ob-
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jektive‘ Theorie gültig ist. In dieser weiten Explikation vermag das FST zur „Überwindung des
unfruchtbaren Gegensatzes von sog. qualitativer und quantitativer Forschung beizutragen“
(Grotjahn 1998: 34).

Das FST in der Fremdsprachendidaktik

Das FST stellt die Grundlage zahlreicher Studien zur Erhebung der Binnensicht von Lerner/-
innen und Lehrer/innen dar. Die Feststellung von Schart (2001:56), dass man „zumindest im
deutschen Sprachraum nicht umhin [komme], den eigenen Ansatz [dazu] in Bezug […] zu
setzen“ gilt bis heute. Dabei legen nur wenige Arbeiten die enge Begriffsexplikation zugrunde
(u. a. Richert 2009, Lochtman 2002). Wesentlich häufiger wird auf die weite Explikation rekur-
riert (u. a. von Martinez 2008, Schart 2003, Hochstetter 2011, Hüttner/Dalton-Puffer 2013),
nicht selten zuzüglich der kommunikativen Validierung (u. a. Berndt 2003, Kallenbach 1996,
Morkötter 2005, Viebrock 2007). Zwar beklagt Grotjahn (1998: 34), dass das FST „häufig
in einer sehr vagen und allgemeinen Bedeutung sowie ohne hinreichende theoretische Ver-
ankerung verwendet wird“. Trotzdem kam und kommt ihm vor allem als Prototyp in dem
Sinne, dass von Forscher/innen in Auseinandersetzung mit dem FST eine individuelle, ge-
genstandsbezogene Forschungsmethodik für die eigene Forschungsfrage entwickelt wird,
eine hohe Bedeutung für die forschungsmethodologische Diskussion innerhalb der Fremd-
sprachendidaktik zu.
Als Anwendungsbeispiel sei die eng an die Methodik des FST angelehnte, häufig zitier-
te Arbeit von Kallenbach (1996) skizziert. Sie untersucht die individuellen Vorstellungen
von fortgeschrittenen Fremdsprachenlerner/innen. Um diese subjektiven Theorien mittlerer
Reichweite zu erheben, führte sie „halbstrukturiert-leitfadenorientierte“ Interviews mit ins-
gesamt 14 Schüler/innen aus verschiedenen 12. Klassen, die seit einem guten Jahr zusätzlich
Spanisch lernten. Aus den Interviews erstellte die Verfasserin eine erste Rekonstruktion der
individuellen subjektiven Theorien. Diese wurden anschließend mit Hilfe der Heidelberger
Strukturlege-Technik kommunikativ validiert. Dazu erstellten die Schüler/innen aus den von

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72 4. Forschungsentscheidungen

der Verfasserin ausgewählten und auf Kärtchen notierten zentralen Begriffen aus den Inter-
views mit Hilfe von zehn Relationskärtchen (z. B. „Wechselwirkung“, „Folge, Konsequenz“,
„Ober-/Unterbegriff“ oder „Beispiel“) ein Strukturbild, das ihre Subjektive Theorie möglichst
genau wiedergibt. Die Strukturbilder boten zum einen Anlass, im Gespräch bestimmte
Aspekte erneut zu thematisieren, außerdem wurden sie später den in den Interviews ent-
wickelten Argumentationen gegenübergestellt, so dass sich Hinweise auf die Konsistenz der
erhobenen Theorien ergaben. Zusätzlich füllten die Schüler/innen zwischen Interview und
kommunikativer Validierung einen fünfseitigen Fragebogen mit Fragen zu ihrem Fremd-
sprachenlernen aus, den die Verfasserin punktuell als Zusatzinformation heranzog. Fünf der
subjektiven Theorien wurden als einzelne Fälle dargestellt, zusätzlich wurden die zentralen,
von allen Gesprächspartner/innen thematisierten Aspekte des Fremdsprachenlernens inter-
viewübergreifend zusammengestellt („aggregiert“).

4.2.3 Aktionsforschung
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Mit der 1990 erschienenen Erstauflauge des Buches „Lehrer erforschen ihren Unterricht“ (Alt-
richter/Posch 1990) etablierte sich die Aktionsforschung (action research) oder Handlungs-
forschung bzw. die häufig als Synonyme verwendeten, eng damit verbundenen Konzepte
der Praxisforschung und teacher research auch im deutschsprachigen Raum. Sie bietet die
Möglichkeit, Theorie und Praxis in der Forschung untrennbar miteinander zu verbinden (zum
Verhältnis von Theorie und Praxis siehe auch Kapitel 6.2). Grundgedanke ist die Vorstellung
von Lehrer/innen als reflektierenden Praktiker/innen, die aktiv und systematisch ihren Unter-
richt erforschen und im Forschungsprozess verändern wollen.
Aktionsforschung kann in unterschiedlichen Kontexten angewandt werden: als Instru-
ment der Aus- und Fortbildung (vgl. Hermes 2001, z. B. in der Studie von Benitt 2015),
als Verfahren, um (selbstbestimmt) den eigenen Unterricht zu verändern, als Verfahren zur
Unterrichts- und Schulentwicklung (vgl. Weskamp 2003), als Schulbegleitforschungsprojekt
für die Konkretisierung und Erprobung bildungspolitischer Innovationen (z. B. Abendroth-
Timmer 2007, Bechtel 2015), als Instrument zur Implementation von Forschungsergebnissen
in der Praxis (vgl. Riemer 2014: 257) sowie als Instrument zur Erprobung und ggf. Wei-
terentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis (z. B. Even 2003, Jäger 2011,
Lamsfuß-Schenk 2008, Schart 2008, Müller-Hartmann/Schocker/Pant 2013, Schreiber 2010,
Raith 2011). Normalerweise werden die Ergebnisse von Aktionsforschungsprojekten nur im
letzten Fall veröffentlicht, die anderen stehen der Öffentlichkeit zumeist nicht zur Verfügung.
Allerdings folgt die Aktionsforschung auch in weiteren Aspekten nicht unbedingt den
traditionellen Kriterien wissenschaftlicher Forschung bzw. definiert sie teilweise neu (vgl.
Altrichter 1990, Altrichter/Feindt 2011: 214–215):
– Die traditionelle Trennung von Forschung und Entwicklung wird in einem Prozess, in dem
Forschung und Entwicklung einander bedingen, aufgehoben.
– Ähnlich wie im FST (s. Abschnitt 2) werden Praktiker/innen als Akteure des Forschungs-
prozesses angesehen.

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4.2 Prototypische Designs 73

– Die Forschung ist als längerfristiger, zyklischer Prozess angelegt, innerhalb dessen – i. d. R.
ausgehend von einem Praxisproblem – theoretische Annahmen zur Veränderung der Pra-
xis im praktischen Handeln überprüft werden und nach erneuter Reflexion in revidierten
Praxisvorschlägen bzw. Veränderungen der theoretischen Annahmen münden (vgl. auch
die Darstellung in Burns 2010: 9).
– Aktionsforschung versucht der Komplexität der Praxis durch den Einbezug möglichst un-
terschiedlicher Forschungsinstrumente (i. d. R. (Selbst-) Beobachtungen und Befragungen)
und Perspektiven (neben den Lehrkräften und universitären Forscher/innen z. B. Schüler/-
innen, Kolleg/innen, studentische Beobachter/innen) gerecht zu werden.
– Viele Aktionsforschungsprojekte werden als Gemeinschaftsprojekte durchgeführt. Neben
forschungspraktischen Gründen wird dies der Vorstellung von professionellem Lernen als
sozialem Lernen gerecht.
– Dadurch, dass Aktionsforschung in soziale Praktiken eingreift, kann sie nicht wertneutral
sein.
– Die traditionellen, am quantitativen Paradigma ausgerichteten Vorstellungen von Objekti-
vität, Reliabilität und Validität werden neu definiert bzw. ersetzt durch Multiperspektivität,
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praktische Erprobung und ethische Kriterien, z. B. der Vereinbarkeit mit pädagogischen


Zielen.

Aktionsforschung in der Fremdsprachendidaktik

Praktische Anleitungen zur Planung, Durchführung und Auswertung von Aktionsforschungs-


projekten finden sich z. B. in Altrichter/Posch (insb. in der 4. Auflage des Buches von 2007),
auf den Fremdsprachenunterricht fokussierte Anleitungen und Beispiele in Burns (2010),
Riemer (2014) und Wallace (1998).
Wie an der Zahl und dem Erscheinungsdatum der im letzten Abschnitt genannten Beispiele
deutlich wird, zählt Aktionsforschung inzwischen zu einem in der Fremdsprachendidaktik
anerkannten Design. Auffällig ist, dass alle aufgeführten Arbeiten entweder von univer-
sitären Wissenschaftler/innen begleitet wurden oder das Aktionsforschungsprojekt Gegen-
stand der eigenen Qualifikationsschrift war. Insbesondere für Nachwuchswissenschaftler/-
innen, die parallel als Fremdsprachenlehrkräfte tätig sind, scheint es sich um ein attraktives
Forschungsdesign zu handeln, mit dem sie die beiden beruflichen Felder verbinden kön-
nen.
So stellte sich Anja Jäger (2011) aufgrund der Beobachtung, dass sich viele Lehrkräfte
mit der Entwicklung interkultureller Kompetenzen im Englischunterricht schwertun, die
Frage, welche Aufgaben sich dazu besonders gut eignen und unter welchen Bedingungen
sie ihr Potenzial am besten entfalten. Dazu entwarf sie unter Rückgriff auf Forschungen
und Erfahrungsberichte zum interkulturellen Lernen, zum aufgabenorientierten Ansatz, zur
Literaturdidaktik und zur Dramenpädagogik einen theoretischen Rahmen für die Erstellung
von Aufgaben. In ihrem Aktionsforschungsprojekt erprobte sie dann die für den Jugend-
roman „Bend it like Beckham“ von ihr entwickelten Aufgaben in drei Realschulklassen, wo-
bei sie beim ersten Mal selbst unterrichtete und aufgrund der Erfahrungen des ersten und
zweiten Durchlaufs die Aufgaben jeweils veränderte. Als Forschungsinstrumente setzte sie
Forschertagebuch, teilnehmende Beobachtung, Video- und Audioaufnahmen der Unterrichts-

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74 4. Forschungsentscheidungen

stunden, die schriftlichen Unterrichtsprodukte und retrospektive Leitfadeninterviews sowie


Fragebögen ein (Jäger 2011: 180–189). In der engen Zusammenarbeit mit den beteiligten
Lehrkräften, Schüler/innen und den (je nach Zyklus wechselnden) begleitenden Studierenden
entstand eine Forschergemeinschaft, die den Prozess des Unterrichtens, der Datenerhebung
und -auswertung gemeinsam durchführte bzw. beobachtete und dadurch eine Vielperspekti-
vität sicherstellte, die sich in den dichten Beschreibungen und den detaillierten Analysen der
einzelnen Unterrichtssequenzen niederschlägt.

4.2.4 Fazit

Die jeweils hohe Anzahl an Studien, die methodisch auf die hier vorgestellten komplexen
Designs zurückgreifen, deutet darauf hin, dass es sich hierbei um für fremdsprachendidakti-
sche Forschung besonders attraktive Forschungsansätze handelt. Dies könnte mit bestimmten
Spezifika fremdsprachendidaktischer Forschung (vgl. Kapitel 2) zusammenhängen: So ist es
mit Fallstudien besonders gut möglich, die Komplexität fremdsprachlicher Lehr-/Lernpro-
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zesse abzubilden. Auch scheint dieses Design der Tatsache entgegenzukommen, dass fremd-
sprachendidaktische Qualifikationsarbeiten i. d. R. als Einzelprojekt geplant und durchgeführt
werden. In Fallstudien werden zumeist mehrere Fälle (Subjekte, Lerngruppen, institutionelle
Kontexte) vorgestellt, so dass auf diese Weise nicht nur die Vielschichtigkeit, sondern auch die
Vielperspektivität fremdsprachendidaktischer Realitäten abgebildet werden kann. Das FST als
prominentester Ansatz zur Erforschung der Binnensicht von Subjekten spiegelt zum einen
die hohe Bedeutung, die den Akteur/innen fremdsprachlicher Lehr-/Lernprozesse als Sub-
jekten bzw. Individuen in der fremdsprachendidaktischen Forschung zukommt. Zum anderen
ermöglicht das Forschungsprogramm wie der Ansatz der Fallstudien, die Komplexität und
Unterschiedlichkeit subjektiver Vorstellungen sichtbar zu machen. Die enge Variante des FST
erlaubt darüber hinaus, das Handeln der untersuchten Personen in den Blick zu nehmen und
bietet damit eine – wenn auch nicht unumstrittene Möglichkeit – Theorie und Praxis zu ver-
binden. Dies ist ebenfalls das Anliegen der Aktionsforschung, wobei dieser Ansatz bewusst
über das Verstehen von Praxis hinausgeht und explizit auf ihre (forschende) Veränderung
abzielt. Dies geschieht ebenfalls in Form von Fallstudien, wobei den im Lehr-/Lernprozess
handelnden Akteur/innen die Schlüsselrolle zukommt. Zudem wird in diesem Ansatz das
zentrale Anliegen jeglicher fremdsprachendidaktischer Forschung, direkt oder indirekt auf
eine Verbesserung des Fremdsprachenlernens hinzuwirken, unmittelbar verfolgt.

›› Literatur

Abendroth-Timmer, Dagmar (2007). Akzeptanz und Motivation: Empirische Ansätze zur Erforschung
des unterrichtlichen Einsatzes von bilingualen und mehrsprachigen Modulen. Frankfurt/M.: Lang.
Altrichter, Herbert (1990). Ist das noch Wissenschaft? Darstellung und wissenschaftstheoretische Dis-
kussion einer von Lehrern betriebenen Aktionsforschung. München: Profil.

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4.2 Prototypische Designs
75

feste Fügung von Forschungsinstrumenten mit spezifischen Zielen


Ziele Aspekte / Verfahren

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Fallstudien (case studies) - in der Spezifik generelle - Konzentration auf
Strukturen finden Individuen bzw. soziale
Einzelfallanalyse
- Exploration, Hypothe- Gemeinschaften
multipel, holistisch, beschreibend,
senbildung, Überprüfung - Interviews, Fragebögen,
vollständig, analytisch tiefgehend,
der Praktikabilität von Beobachtungen
multiperspektivisch
Ergebnissen - qualitative Analysen
Forschungsprogramm Subjektive - Rekonstruktion der - Interviews, Fragebogen
Theorien (FST) Binnensicht von Strukturbilder,
quantitativ

qualitativ
Methodologie und Methode Forschungspartner/in- kommunikative
Strukturparallelität des Denkens von nen im Dialog-Konsens Validierung
Forscher/innen und Partner/innen - Überprüfung der - explanative Validierung
Handlungsleitung
Aktionsforschung - Verstehen, forschende - reflektierende Praktiker/
durch Akteur/innen von Lehr-/Lernprozessen Veränderung und innen
4.2 Prototypische Designs

häufig als forschende Gemeinschaft Verbesserung von - Beobachtungen,


vereinbar mit pädagogischen Zielen Praxis Forschungstagebuch,
zyklisch Fragebögen, Interviews
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76 4. Forschungsentscheidungen

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Altrichter, Herbert/Posch, Peter (1990). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Bad Heil-
brunn: Klinkhardt. (4. Auflage 2007).
Bär, Marcus (2009). Förderung von Mehrsprachigkeit und Lernkompetenz. Fallstudien zu Interkom-
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Bechtel, Mark (Hg.) (2015). Fördern durch Aufgabenorientierung. Bremer Schulbegleitforschung zu
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Benitt, Nora (2015). Becoming a (Better) Language Teacher. Classroom Action Research and Teacher
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Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
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Burns, Anne (2010). Doing Action Research in English Language Teaching. A Guide for Practitioners.
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Burwitz-Melzer, Eva (2003). Allmähliche Annäherungen: Fiktionale Texte im interkulturellen Fremd-


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Byram, Michael (1997). Teaching and assessing intercultural competence. Clevedon: Multilingual Mat-
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Fatke, Reinhard (2010). Fallstudien in der Erziehungswissenschaft. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer,
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4.2 Prototypische Designs 77

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Lamnek, Siegfried (2010). Einzelfallstudie. In: Ders. (Hg.). Qualitative Sozialforschung. 5. überarbeitete
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Lamsfuß-Schenk, Stefanie (2008). Fremdverstehen im bilingualen Geschichtsunterricht: Eine Fallstudie.
Frankfurt/M.: Lang.
Lochtman, Katja (2002). Korrekturhandlungen im Fremdsprachenunterricht. Bochum: AKS-Verlag.
Martinez, Hélène (2008). Lernerautonomie und Sprachenlernverständnis: Eine qualitative Untersuchung
bei zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern romanischer Sprachen. Tübingen: Narr.
Morkötter, Steffi (2005). Language Awareness und Mehrsprachigkeit. Eine Studie zu Sprachbewusstheit
und Mehrsprachigkeit aus der Sicht von Fremdsprachenlernern und Fremdsprachenlehrern. Frank-
furt/M.: Lang.
Müller-Hartmann, Andreas/Schocker, Marita/Pant, Hans Anand (Hg.) (2013). Lernaufgaben Englisch
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aus der Praxis. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlage


Nunan, David/Bailey, Kathleen M. (2009). Case Study Research. In: Dies. (Hg.). Exploring Second
Language Classroom Research. A Comprehensive Guide. Boston, MA: Heinle, 157–185.
Peuschel, Kristina (2012). Sprachliche Tätigkeit und Fremdsprachenlernprojekte. Fremdsprachliches
Handeln und gesellschaftliche Teilhabe in „radiodaf“-Projekten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
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Raith, Thomas (2011). Kompetenzen für aufgabenorientiertes Fremdsprachenunterrichten. Eine quali-
tative Untersuchung zur Ausbildung von Fremdsprachenlehrkräften. Tübingen: Narr.
Rauschert, Petra (2014). „Intercultural Service Learning“ im Englischunterricht. Ein Modell zur För-
derung interkutureller Kompetenz auf der Basis journalistischen Schreibens. Münster: Waxmann.
Richert, Anja Simone (2009). Einfluss von Lernbiografien und subjektiven Theorien auf selbst gesteuertes
Einzellernen mittels E-Learning am Beispiel Fremdsprachenlernen. Frankfurt/M.: Lang.
Riemer, Claudia (2014). Besondere Forschungsansätze: Aktionsforschung. In: Settinieri, Julia/Dermir-
kaya, Servilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische For-
schungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 255–267.
Roters, Bianca (2012). Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie
an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität. Münster: Waxmann.
Schart, Michael (2001). Aller Anfang ist Biografie – Vom Werden und Wirken der Fragestellung in der
qualitativen Forschung. In: Müller-Hartmann, Andreas/Schocker-von Ditfurth, Marita (Hg.) (2001).
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Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
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und methodologische Gründzüge in ihrer Relevanz für den Fremdsprachenunterricht. In: Fremd-
sprachen Lehren und Lernen 27, 12–32.
Schreiber, Rüdiger (2010). Aktionsforschung zum Einsatz von Podcasts und MP3 als Interaktionsmedi-
um zwischen Dozenten und Lernenden. In: Chlosta, Christoph/Jung, Matthias (Hg.). DaF integriert:

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78 4. Forschungsentscheidungen

Literatur, Medien, Ausbildung. 36. Jahrestagung des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache 2008
an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Göttingen: Universitätsverlag, 191–211.
Schubert, Anke (2013). Fremdverstehen durch amerikanische Jugendliteratur: Ein Beitrag zu einem
authentischen Englischunterricht. Trier: WVT.
Steininger, Ivo (2014). Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachen-
unterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr.
Tesch, Bernd (2010). Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. Frankfurt/M.:
Lang.
Viebrock, Britta (2007). Bilingualer Erdkundeunterricht. Subjektive didaktische Theorien von Lehre-
rinnen und Lehrern. Frankfurt/M.: Lang.
Wallace, Michael J. (1998). Action Research for Language Teachers. Cambridge: CUP.
Weskamp, Ralf (2003). Fremdsprachenunterricht entwickeln: Grundschule – Sekundarstufe I – Gymna-
siale Oberstufe. Hannover: Schroedel.

»» Zur Vertiefung empfohlen


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Burns, Anne (2010). Doing Action Research in English Language Teaching. A Guide for Practi-
tioners. New York: Routledge.
Hierbei handelt es sich um eine umfassende, an Praktiker/innen gerichtete Einführung in die Ak-
tionsforschung. Die Verfasserin behandelt alle für die Planung, Durchführung und Auswertung von
Aktionsforschungsprojekten notwendigen Grundlagen, Aspekte und Verfahren, wobei der Schwer-
punkt auf der kollaborativen Aktionsforschung liegt. Viele Beispiele von Aktionsforschungsprojekten
und zahlreiche praktische Hinweise ermutigen dazu, selbst ein solches Projekt zu beginnen oder zu
begleiten.
De Florio-Hansen, Inez (Koord.) (1998). Fremdsprachen Lehren und Lernen 27. Themenschwer-
punkt: Subjektive Theorien von Fremdsprachenlehrern.
Dieses Themenheft enthält zahlreiche Beiträge zur Erforschung subjektiver Theorien in der Fremd-
sprachendidaktik. Die Spannweite reicht von grundlegenden forschungsmethodologischen und -me-
thodischen Aufsätzen über Beiträge zur Erforschung von subjektiven Theorien von (angehenden)
Lehrkräften bis hin zu Berichten über die Arbeit mit subjektiven Theorien in der Lehrerausbildung.

4.3 Sampling
Urška Grum/Michael K. Legutke

4.3.1 Begriffsklärung und Einführung

Empirisch arbeitende Fremdsprachendidaktiker müssen im Forschungsprozess Auswahlent-


scheidungen treffen, die wesentlichen Einfluss auf die Datenerhebung, die Datenauswertung
sowie die Präsentation der Ergebnisse haben und damit nicht zuletzt den Erfolg und die Aus-
sagekraft der Studie bestimmen. Den Prozess der Auswahlentscheidungen, der im folgenden

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4.3 Sampling 79

Kapitel skizziert werden soll, nennt man Sampling. So geht es u. a. um die Frage, von welchen
Personen, Gruppen, Objekten oder Merkmalen (Stichprobe) in welcher Anzahl Daten erhoben
werden sollen (Stichprobenziehung). Entschieden werden muss ferner, welche der erhobenen
Daten im Detail zu analysieren sind (Datensampling) und welche Ergebnisse der Analyse
prominent diskutiert und dargestellt werden müssen (Präsentationssampling).
Unter Sample versteht man eine Stichprobe, also eine Gruppe von Menschen oder Ob-
jekten, die einer Grundgesamtheit (Population) entnommen wurde, um diese auf bestimmte
Merkmale hin zu untersuchen, sprich um von dieser Daten zu erheben. In der qualitativen
Studie von Steininger (2014), die die Modellierung literarischer Kompetenz für den Englisch-
unterricht am Ende der Sekundarstufe I versucht, setzt sich die Stichprobe aus jeweils zwei
10. Gymnasialklassen, zwei 10. Realschul-, zwei 10. Gesamtschul- und schließlich zwei 9.
Hauptschulklassen zusammen (Steininger 2014: 99). Sie besteht demnach aus acht Fällen bzw.
Teilstichproben. Die Grundgesamtheit bildet hier die Gruppe aller Schülerinnen und Schüler
mit Englischunterricht am Ende der Sekundarstufe in Hessen.
Da Forschungsvorhaben, die einem quantitativen Paradigma verpflichtet sind, sich in den
grundlegenden Zielsetzungen von denen unterscheiden, die qualitativen Designs folgen, diffe-
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rieren auch die Auswahlentscheidungen und -prozesse. Aus diesem Grund wird nachfolgend
Sampling in der quantitativen (Abschnitt 2) und der qualitativen Forschung (Abschnitt 3) ge-
trennt erörtert. Trotz der Unterschiede zwischen quantitativen und qualitativen Forschungs-
arbeiten sind empirisch arbeitende Forschende in der Regel mit den Herausforderungen des
Zugangs zum Forschungsfeld konfrontiert, den Schlüsselpersonen und Institutionen (gatekee-
pers) regulieren. Für Arbeiten im schulischen Bereich sind dies u. a. die Kultusministerien der
Länder, die Schulleitungen, die Schulkonferenzen und die Lehrkräfte. Gatekeepers spielen
häufig eine zentrale Rolle bei der Konkretisierung der Auswahlentscheidungen (Merkens
2012: 288). Forschende können oftmals gar nicht anders, als ein aus forschungsstrategischen
Überlegungen als ideal eingestuftes Sampling zu modifizieren, weil die Anforderungen der
gatekeepers Einschränkungen mit sich bringen (s. auch Kapitel 4.6). Auswahlentscheidungen
sind deshalb häufig Ergebnisse von Kompromissen, ohne die das jeweilige Forschungsprojekt
gefährdet wäre, wie unten an Beispielen noch verdeutlicht wird.

4.3.2 Sampling in der quantitativen Forschung

Quantitative Forschung strebt vom Grundsatz her Repräsentativität der Ergebnisse an. Diese
wäre vollständig gegeben, würden alle für die Beantwortung der Forschungsfrage zu unter-
suchenden Personen, Merkmale oder Objekte untersucht. Da dies jedoch aus Praktikabilitäts-
gründen meistens nicht möglich ist, muss aus der Grundgesamtheit eine Stichprobe gezogen
werden, die das zu untersuchende Phänomen möglichst genau abbildet, sprich repräsentiert.
Mit anderen Worten: quantitative Forschung ist daran interessiert, Ergebnisse zu gewinnen,
die nicht nur für die Stichprobe selbst, sondern für die gesamte Population gültig sind. Die
zugrunde gelegte Population, die anhand einer Stichprobe genauer untersucht werden soll,
kann dabei sehr groß (z. B. alle 15-jährigen Schülerinnen und Schüler weltweit) oder auch
sehr klein sein (z. B. alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse). Welche Stichprobengröße in
Relation zur Grundgesamtheit angemessen ist, wird in Abschnitt 2.3 erläutert. Zunächst soll

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80 4. Forschungsentscheidungen

jedoch diskutiert werden, welche Sampling-Strategien (Stichprobenziehungsverfahren) dafür


zum Einsatz kommen können (Abschnitt 2.2) und welche a priori Entscheidungen getroffen
werden müssen, um eine größtmögliche Repräsentativität der Stichprobe zu gewährleisten
(Abschnitt 2.1). Zur Verdeutlichung möglicher Sampling-Strategien werden ausgewählte For-
schungsarbeiten aus den Fremdsprachendidaktiken herangezogen.

1 Vorabentscheidungen
Um die mit Hilfe statistischer Verfahren gewonnenen Analyseergebnisse einer Stichprobe
später auf die gesamte Population verallgemeinern zu können, müssen vorab genaue Über-
legungen angestellt werden, wie die Repräsentativität der Stichprobe sichergestellt werden
kann. Vollständige Repräsentativität ist gegeben, wenn alle Mitglieder der Grundgesamtheit
untersucht werden, so dass Population und Stichprobe deckungsgleich sind. Diese Total-
oder Vollerhebung stellt die einfachste Sampling-Strategie dar. In diesem Fall ist die gesamte
Population erhebungsrelevant und kann mit den gegebenen Ressourcen in ihrem Umfang
auch erfasst werden. Beispielsweise ließen sich über eine Vollerhebung alle Schülerinnen und
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Schüler einer Schule zu ihrer Zufriedenheit mit dem kulinarischen Angebot der Schulmensa
befragen, wohingegen es ein hoffnungsloses Unterfangen wäre, mit dieser Sampling-Strategie
die Lesekompetenz aller 15-jährigen Schülerinnen und Schüler weltweit messen zu wollen.
Hier empfiehlt es sich, von einer Vollerhebung abzusehen und die erhebungsrelevante Grund-
gesamtheit in ihrer Anzahl (Umfang der Grundgesamtheit: N) im Rahmen einer Teilerhebung
auf eine Stichprobe geringerer Zahl (Stichprobenumfang: n) zu reduzieren. Um jedoch die
aus der Analyse der über die Stichprobe gewonnenen Befunde auf die Grundgesamtheit (alle
15-Jährigen weltweit) beziehen zu können, bedarf es einer Stichprobe, die die Grundgesamt-
heit repräsentiert. Eine repräsentative Stichprobe stellt ein unverzerrtes Miniaturabbild der
Grundgesamtheit in Bezug auf die zu untersuchenden Personen, Objekte oder Merkmale dar.
Ist die Miniatur nicht deckungsgleich mit dem Original, entsteht ein Zerrbild, was die Grund-
gesamtheit nicht zuverlässig darstellt. Repräsentativität ist
in der Forschungspraxis eher eine theoretische Zielvorgabe als ein Attribut konkreter Untersuchun-
gen […] Die meisten Laien […] glauben, dass große Stichproben (z. B. 1000 Befragte) bereits die
Kriterien für Repräsentativität erfüllen. […] Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass mit wachsender
Stichprobengröße die Repräsentativität der Stichprobe generell steigt. Dies trifft nur bei unverzerrter
Auswahl zu. Bei einer verzerrten Auswahl hilft auch ein großer Stichprobenumfang nicht, den
Fehler zu beheben, er wiederholt sich nur in großem Stil. (Bortz/Döring 2006: 398)

Repräsentativität ist eine Grundvoraussetzung für schließende bzw. inferenzstatistische Ver-


fahren, die auf die Daten der Stichprobe angewendet werden. Ist die Stichprobe nicht reprä-
sentativ für die Grundgesamtheit, lassen sich formal-statistisch die Studienergebnisse nicht
auf die Grundgesamtheit verallgemeinern und die Aussagekraft der Studie reduziert sich
auf die Stichprobe selbst. Es lassen sich zur Beschreibung der Stichprobe lediglich Verfahren
der deskriptiven Statistik verwenden. Repräsentative und nicht-repräsentative Stichproben
unterscheiden sich also in ihrer Aussagekraft und in der Art statistischer Verfahren, die auf
sie angewendet werden können. Damit empfiehlt es sich, vorab festzulegen, welche Aus-
sagekraft die Ergebnisse einer Studie haben sollen und Stichprobe und Sampling-Verfahren
entsprechend zu wählen.

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4.3 Sampling 81

Es gibt verschiedene Sampling-Strategien, die eine größtmögliche Repräsentativität der


Stichprobe anstreben. Sampling-Strategien geben einen Stichprobenplan vor, nach dem die
Stichprobenziehung erfolgt. Dieser legt genau fest, welche Elemente in welcher Anzahl in die
Stichprobe aufgenommen werden. Es gibt probabilistische wie nicht-probabilistische Sam-
pling-Strategien. Erfolgt die Auswahl aus der Grundgesamtheit so, dass die ausgewählten
Elemente die gleiche bzw. bekannte Auswahlwahrscheinlichkeit haben, entstehen probabi-
listische Stichproben; ist die Auswahlwahrscheinlichkeit unbekannt, ergeben sich nicht-pro-
babilistische Stichproben (vgl. z. B. Bortz/Döring 2006: 402).

2 Sampling-Strategien
Probabilistischen Sampling-Strategien (Zufallsstichprobenauswahl) liegt die Annahme zu-
grunde, dass sich Zufallsstichproben, die von einer Grundgesamtheit gezogen werden, zwar
unterscheiden, aber alle Elemente der Grundgesamtheit qua Zufall eine ähnliche Wahrschein-
lichkeit haben, genauso verteilt zu sein wie in der Grundgesamtheit. Statistisch betrachtet ist
somit eine ausreichend große Wahrscheinlichkeit gegeben, dass eine einzelne Zufallsstich-
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probe dem Mittel der Grundgesamtheit ähnelt. Aus probabilistischen Stichproben gewonnene
Ergebnisse erlauben daher populationsbeschreibende Rückschlüsse. Aus den gängigsten pro-
babilistischen Sampling-Strategien resultieren u. a. folgende Stichprobentypen:
• Zufallsstichprobe: Eignet sich für Untersuchungen, bei denen noch nichts über die unter-
suchungsrelevanten Merkmale bekannt ist. Per Zufallsauswahl werden die Probandinnen
und Probanden (oder Objekte) direkt aus der Grundgesamtheit gezogen. Dazu muss die
Grundgesamtheit bekannt sein und die Auswahl nachweislich zufällig stattfinden (vgl. z. B.
Bortz/Döring 2006: 480, Bortz/Schuster 2010: 80, Cohen/Manion/Morrison 2011: 153).
Dies kann z. B. dadurch gewährleistest werden, dass jedes Mitglied der Grundgesamt-
heit eine Nummer erhält. Die Auswahl der zur Stichprobe gehörigen Nummern erfolgt
dann über einen Zufallsgenerator. Hier wird statistisch unterschieden zwischen einfacher
Zufallsstichprobe (die gezogenen Nummern werden zurückgelegt und können erneut aus-
gewählt werden) und Zufallsstichprobe (hier kann jedes Mitglied der Grundgesamtheit nur
einmal in die Stichprobe gewählt werden).
• Geschichtete Stichprobe: Um die Verteilung der zu untersuchenden Merkmalsausprägung
in einer Stichprobe analog zu ihrer Verteilung auf verschiedene Schichten innerhalb der
Grundgesamtheit replizieren zu können, muss diese Verteilung (z. B. aus Vorstudien) be-
kannt sein. Die Mitglieder aus den Schichten der Grundgesamtheit werden zufällig in die
entsprechende Schicht der Stichprobe gewählt (vgl. z. B. Bortz/Döring 2006: 425, Bortz/
Schuster 2010: 81, Cohen/Manion/Morrison 2011: 154). Ist beispielsweise bekannt, dass
sich Leistungskurse in der Fremdsprache Französisch im Mittel aus 20 % männlichen und
80 % weiblichen Jugendlichen zusammensetzen, dann sollte sich diese Quote auch in der
Stichprobe einer entsprechenden Studie wiederfinden. Gleiches gilt für alle Merkmale, die
Einfluss auf die im Forschungsfokus stehende Eigenschaft haben könnten.
• Klumpenstichprobe: Als Klumpen werden natürliche Teilkollektive oder bereits bestehen-
de Gruppen bezeichnet, wie etwa Schulklassen und Schulen. Analog zur Zufallsstichpro-
benziehung ist auch hier eine Liste aller studienrelevanten Klumpen notwendig, aus der
per Zufall eine bestimmte Anzahl an Klumpen in ihrer Gesamtheit für die Stichprobe

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82 4. Forschungsentscheidungen

ausgewählt wird (vgl. z. B. Bortz/Döring 2006: 435–6, Bortz/Schuster 2010: 81, Cohen/
Manion/Morrison 2011: 154). Es ist beispielsweise nicht möglich, im Rahmen einer Klum-
penstichprobenziehung, für die ganze Schulklassen ausgewählt werden, nur einige Schüler
aus einer gewählten Schulklasse in die Stichprobe aufzunehmen.
• Mehrstufige Stichprobe: Klumpenstichproben können oftmals zu umfangreich werden,
wenn die Klumpen selbst schon sehr groß sind. In diesen Fällen bieten sich zwei- oder
mehrstufige Stichprobenziehungen an. Dabei wird in einem ersten Schritt eine Liste aller
untersuchungsrelevanten Klumpen erstellt, aus der per Zufall eine bestimmte Anzahl an
Klumpen ausgewählt wird (Klumpenstichprobe). In einem zweiten Ziehungsschritt wird
wiederrum per Zufall eine bestimmte Anzahl an einzelnen Untersuchungsobjekten für
die Stichprobe ausgewählt. Diese Schritte können mehrfach wiederholt werden (vgl. z. B.
Bortz/Döring 2006: 440–1, Cohen/Manion/Morrison 2011: 155). Die Stichprobenziehun-
gen der PISA-Studien folgen annäherungsweise einer zweistufigen Sampling-Strategie:
Zuerst werden per Zufall aus einer vollständigen Liste infrage kommender Bildungsein-
richtungen Schulen ausgewählt (Klumpenstichprobe), aus denen dann in einem zweiten
Schritt zufällig die 15-jährigen Probandinnen und Probanden gezogen werden.
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Um größtmögliche Repräsentativität der Stichprobe zu gewährleisten, muss in der For-


schungspraxis oft auf mehrstufige Sampling-Verfahren zurückgegriffen werden. Dies lässt
sich beispielhaft an der Studie von Grum (2012) darstellen: Untersucht wurde das Leistungs-
spektrum mündlicher englischer Sprachfähigkeit von Schülerinnen und Schüler der zehnten
Jahrgangsstufe mit und ohne Bilingualem Sachfachunterricht in Berlin. Da es zum Erhe-
bungszeitpunkt eine überschaubare Menge an Schulen mit bilingualem Sachfachunterricht
gab (drei Gymnasien und drei Realschulen), wurden alle Schulen in die Studie aufgenommen.
Anschließend wurden zu gleichen Anteilen aus den bilingualen wie regulären Klassen per
Zufall, stratifiziert nach Geschlecht und Leistung, 84 Schülerinnen und Schülern gezogen, die
an einem mündlichen Test teilnahmen. Der Stichprobenplan stellt somit eine Kombination
aus Vollerhebung und geschichteter Stichprobe dar. Als weiteres Beispiel aus der Sprachlehr-
Lernforschung sei hier die Studie von Özkul (2011) zur Berufs- und Studienfachwahl von
Englischlehrenden genannt. Auch hier wurde auf eine Mischform der Stichprobenziehung
zurückgegriffen. Die Grundgesamtheit lässt sich folgendermaßen beschreiben: alle Lehr-
amtsstudierende mit Anglistik/ Amerikanistik an deutschen Hochschulen im Wintersemester
2008, die an studieneinführenden Veranstaltungen teilnahmen. An 19 von 40 möglichen
Hochschulen wurden Fragebögen verschickt, die von den Studierenden beantwortet wurden.
Dieses Verfahren scheint zu einer Klumpenstichprobe in Kombination mit einer Zufalls-
stichprobe zu führen. Allerdings kann dieses Verfahren nicht als probabilistisch beschrieben
werden, da sich Hochschulen und Studierende selbst für die Teilnahme an der Fragebogener-
gebung entschieden haben (Selbstauswahl) und nicht per Zufall ausgewählt wurden. Somit
ist die Stichprobe nicht zufällig, sondern willkürlich entstanden und als nicht-probabilistisch
einzustufen.
Bei nicht-probabilistischen Sampling-Strategien (Quotenauswahlstrategien) spielt der Zu-
fall keine Rolle, sodass ein höheres Risiko besteht, Auswahlfehler zu begehen, die zu einem
verzerrten Abbild der Grundgesamtheit führen. Aus nicht-probabilistischen Stichproben
gewonnene Ergebnisse erlauben daher keine verallgemeinernden Aussagen über die Grund-

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4.3 Sampling 83

gesamtheit, gleichwohl lässt sich aber die Stichprobe beschreiben. Daher sind nicht-pro-
babilistische Stichprobenverfahren dann sinnvoll, wenn beispielsweise die Grundgesamtheit
unbekannt ist oder eine Studie zu rein deskriptiven oder explorativen Zwecken durchgeführt
wird. Zu nicht-probabilistischen Sampling-Strategien gehören u. a. folgende Stichproben-
typen:
• Ad-hoc-Stichprobe (Bequemlichkeitsauswahl oder Gelegenheitsstichprobe): Eine bereits
bestehende Personengruppe bildet die Stichprobe (z. B. eine Schulklasse oder Lerngruppe,
Passanten). Es ist meist nicht zu rekonstruieren, welche Grundgesamtheit eine Ad-hoc-
Stichprobe abbildet (vgl. z. B. Bortz/Döring 2006: 723, Bortz/Schuster 2010: 82, Cohen/
Manion/Morrison 2011: 155–6).
• Quotenstichprobe: Die Zusammensetzung der Stichprobe erfolgt nach Merkmalsquoten,
die analog zur Zusammensetzung dieser in der Population erfolgt. Es werden gezielt ver-
meintlich passende Untersuchungsobjekte in die Stichprobe aufgenommen, um die Quote
für bestimmte Merkmalskategorien zu erfüllen. Die Erfüllung der Quoten spielt dabei eine
größere Rolle als die zufällige Auswahl der Stichprobe und erfolgt nicht per Zufall, sondern
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nach subjektiven Kriterien der Datenerhebenden (vgl. z. B. Bortz/Döring 2006: 483, Bortz/
Schuster 2010: 82, Cohen/Manion/Morrison 2011: 156). Von einer Quotenauswahl kann
beispielsweise dann gesprochen werden, wenn die Vorgabe ist, je vier Englischlehrerinnen
und -lehrer zu befragen und der Interviewer sich in den Schulpausen im Lehrerzimmer
solange passende Interviewpartner sucht, bis die Quote erfüllt ist.
• Theoretische Stichprobe: Nicht zufalls-, sondern theoriegeleitet werden für eine For-
schungsfrage besonders typische oder untypische Fälle ausgewählt, mit dem Ziel, deren
Verteilung in der Grundgesamtheit in der Stichprobe widerzuspiegeln (vgl. z. B. Bortz/
Döring 2006: 742–3, Bortz/Schuster 2010: 82, Cohen/Manion/Morrison 2011: 156–7).
Dieses Verfahren wird auch bei quantitativen Studien eingesetzt, findet aber primär in der
qualitativen Forschung Anwendung (s. Kapitel 4.3).

3 Stichprobengröße
Um eine möglichst hohe Repräsentativität für die Aussagekraft der Ergebnisse einer Studie
zu erzielen, ist neben der Genauigkeit, mit der eine Stichprobe die Grundgesamtheit abbildet,
und dem Grad an Zufälligkeit, mit der die Elemente der Grundgesamtheit in die Stichprobe
gewählt werden, auch die Größe der Stichprobe von Bedeutung. Prinzipiell lassen sich statis-
tische Kennzahlen mit jedem ‚irgendwie‘ erhobenen Datensatz jeglicher Größe berechnen –
jedoch lassen sich weder die Qualität der Ergebnisse noch die Aussagekraft der Studie nach-
vollziehen. Wird ein quantitativ-empirisches Forschungsdesign mit auf die Grundgesamtheit
schließenden inferenzstatistischen Verfahren angestrebt, lässt sich a priori der Umfang für
die probabilistisch zu erhebende Stichprobe berechnen. Dabei wird ein möglichst optimaler
Stichprobenumfang angestrebt, denn zu kleine Stichproben verringern die Teststärke und
zu große Stichproben erhöhen den Erhebungsaufwand unnötig. „Stichprobenumfänge sind
optimal, wenn sie einem Signifikanztest genügend Teststärke geben, um einen getesteten
Effekt bei vorgegebener Effektgröße entdecken und auf einem vorgegebenen Signifikanz-
niveau absichern zu können“ (Bortz/Döring 2006: 736). Statistisch gesehen hängen Teststärke,
Effektgröße, α-Fehlerniveau und Stichprobenumfang voneinander ab. Dies bedeutet, dass

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84 4. Forschungsentscheidungen

sich die Stichprobengröße berechnen lässt, wenn man Teststärke, Effektgröße und α-Fehler-
niveau festlegt. Diese Berechnung ist auch abhängig vom gewählten statistischen Verfahren,
das auf die Daten angewendet werden soll. Das α-Fehlerniveau wird oftmals auf 5 % oder 1 %
festgelegt und die Teststärke (1-β) auf .80. Die Effektgröße hingegen ist stark abhängig vom
Forschungszusammenhang und wird oft in kleinere, mittlere und größere Effekte unterteilt.
Der optimale Stichprobenumfang lässt sich für spezifische statistische Tests beispielsweise mit
der Software G*Power berechnen oder in Tabellen nachschlagen (vgl. z. B. Cohen/Manion/
Morrison 2011: 147–8, Bortz/Döring 2006: 627–8).
Zusammenfassend lässt sich für die Planung eines quantitativen Samplings folgender Ab-
laufplan erstellen: Zuerst wird entschieden, ob es nötig ist, eine Stichprobe zu ziehen oder ob
eine Vollerhebung durchgeführt werden kann. Danach wird die Population in ihrer Größe
und ihren erhebungsrelevanten Merkmalen definiert. Anschließend erfolgt die Festlegung
auf eine für die Studie passende Sampling-Strategie. Zum Schluss wird überprüft, ob Zugang
zur Stichprobe besteht (gatekeepers) oder ggf. die Sampling-Strategie geändert werden muss.
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4.3.3 Sampling in der qualitativen Forschung

Da qualitative Forschungen nicht statistische Repräsentativität der Ergebnisse anstreben,


spielt die Frage auch keine Rolle, ob die für die Datenerhebung gewählte Stichprobe für die
Gesamtheit einer Population repräsentativ ist. Bei qualitativen Studien werden Auswahl-
entscheidungen deshalb nicht von probabilistischen, sondern eher von inhaltlichen Gesichts-
punkten gesteuert; sie sind eng mit dem Forschungsprozess verbunden und stellen sich auf
drei Ebenen, nämlich (1) der Ebene der Datenerhebung, (2) der Ebene der Datenauswertung
und schließlich (3) der Präsentation der Ergebnisse (vgl. Flick 2011: 155). Damit das jeweilige
Forschungsvorhaben intersubjektiv nachvollziehbar ist, muss das Sampling transparent und
damit nachvollziehbar sein. Im Folgenden sollen solche Auswahlentscheidungen unter Be-
rücksichtigung ausgewählter Forschungsarbeiten aus den Fremdsprachendidaktiken skizziert
werden.

1 Vorabentscheidungen und Festlegung des Samples für die Datenerhebung


Die Festlegung der Stichprobe wird zunächst durch die Forschungsfrage und die theoretischen
Vorüberlegungen des Forschers bestimmt; sie leiten eine von Kriterien bestimmte, gezielte
Auswahl. Die Entscheidung ist demnach theorie- und kriteriengeleitet: purposive sampling
und criterion sampling (Silverman 2000: 104–5). Als Beispiel für solche begründeten (Vorab-)
Entscheidungen diene die Referenzarbeit von Ehrenreich (2004), in der die Forscherin die Be-
deutung des Auslandsaufenthalts für die Fremdsprachenlehrerbildung unter besonderer Be-
rücksichtigung des Assistant-Jahres mit Hilfe einer Interviewstudie untersucht. Theoretische
Vorüberlegungen im Zusammenhang der Aufarbeitung der Fachliteratur bilden die Basis für
eine Kriterienmatrix mit entsprechenden Parametern, die die Forscherin bei der tatsächlichen
Informantenauswahl leiteten. Auswahlkriterien sind u. a.: Geschlecht, Herkunftsbundesland,
Zielland und Ausbildungsphase zum Zeitpunkt der Interviews. Unter Berücksichtigung dieser
Matrix konstituiert Ehrenreich im Schneeballverfahren (s. Kapitel 5.2.1) die Stichprobe ihrer

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4.3 Sampling 85

Studie, eine Gruppe von 22 Informanten, die zum einen als typisch markierte Fälle gemäß
der Kriterien enthält, zum anderen eine maximale Variation der Teilnehmenden innerhalb
der Gesamtgruppe abbildet (Ehrenreich 2004: 158f).
Kimes-Link (2013) untersucht „welche Aufgaben und Methoden Lehrkräfte im englischen
Literaturunterricht der gymnasialen Oberstufe bei der Lektüre von Ganzschriften einsetzen
und inwiefern diese geeignet sind, die Interaktion zwischen den Lernenden und dem Text
sowie die Interaktion innerhalb der Lerngruppe zu intensivieren, gemeinsame Bedeutungs-
aushandlungen zu initiieren und vertiefte Verstehensprozesse zu begünstigen“ (Kimes-Link
2013: 85). Sie konstituiert theoriegeleitet die Stichprobe ihrer Studie aus insgesamt sieben
Kursgruppen gymnasialer Oberstufen, die zum einen unterschiedliche Schul- und Kurstypen
repräsentieren, zum anderen ein Spektrum unterschiedlicher literarischer Genres zum Ar-
beitsgegenstand haben (Dramen, Jugendromane, Romane und Kurzgeschichten).
A priori vorgenommene, kriterien- und theoriegeleitete Konstruktionen einer Stichprobe
werden, wenn es um die konkrete Realisierung des Projekts geht, von drei Aspekten beein-
flusst, die letzten Endes den Forschungsprozess beeinflussen und häufig für das Sampling
modifizierend wirken. Die Frage, wo und wie Forschende ihre Forschungspartner gewinnen,
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bringt die Herausforderung auf den Begriff. Da ist zum einen der Aspekt der räumlichen
und institutionellen Zugänglichkeit. So kann es sein, dass ein räumlich naher und deshalb
forschungspragmatisch günstiger Kontext, der für die Bearbeitung der Forschungsfrage zu-
dem sehr vielversprechend wäre, nicht zugänglich ist, weil die gatekeepers unüberwindliche
Hürden errichten. Andererseits kann ein räumlich ferner Kontext zugänglich sein, der den
Forschenden jedoch einen größeren Zeitaufwand abnötigt und damit den Forschungsprozess
erheblich belastet. Damit ist auch der zweite Aspekt angesprochen, nämlich die Machbarkeit
des Projekts. Gerade für Qualifikationsarbeiten, die in der Regel von Individuen und nicht
von Forschergruppen geleistet werden und mit oft sehr begrenzten Zeitbudgets auskommen
müssen, ist die Frage, was unter den konkreten Bedingungen leistbar ist, von Bedeutung.
Machbarkeitsüberlegungen werden deshalb in das Sampling eingehen müssen. Die Kom-
bination von Machbarkeits- und Zugänglichkeitsüberlegungen kann zu einer Ad-hoc-Stich-
probe führen, die weniger kriterien- und zielgeleitet, als vielmehr pragmatisch bestimmt ist:
Die Forschende wendet sich Personen und Kontexten zu, die zur Verfügung stehen, wie die
Untersuchung von Roters (2012: 161–63) verdeutlicht. Roters befasst sich in ihrer explorati-
ven Studie mit dem Konstrukt der Reflexion, das in Diskursen zur Entwicklung von Lehrer-
professionalität als Schlüsselkompetenz markiert wird. Untersuchungsgegenstand sind die
Beschreibung und Analyse zweier Lehrerbildungsprogramme und -kontexte einer deutschen
und einer US-amerikanischen Universität. Die Auswahl der Stichprobe erfolgte zunächst
theoriegeleitet und über umfangreiche Dokumentenanalysen, dann aber nach Kriterien der
Zugänglichkeit und Machbarkeit, wobei nicht zuletzt formale und institutionelle Anforderun-
gen bestimmend wirkten.
Von Relevanz für die Bestimmung der Stichprobe ist schließlich die Bereitschaft der For-
schungspartner, sich auf die Belastungen des Forschungsprozesses einzulassen: etwa auf nar-
rative Interviews (Ehrenreich 2004) oder auf Videoaufnahmen im Klassenzimmer (Kimes-
Link 2013): „… wie kann [der Forscher] erreichen, dass eine entsprechende Bereitschaft nicht
nur geäußert wird, sondern zu konkreten Interviews und anderen Daten führt“ (Flick 2011:
143)?

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86 4. Forschungsentscheidungen

2 Entscheidungen bei der Datenbearbeitung und Sampling-Strategien


Auch wenn zunächst entschieden ist, von welchen Personen und Gruppen Daten erhoben
werde sollen, ist damit für qualitativ Forschende in der Regel das Sampling nicht abgeschlos-
sen. Nicht nur Forschungsanfänger stehen vor der Herausforderung, die große Datenfülle,
die in qualitativen Studien anfallen kann, zu meistern. Dabei stellen sich zwei Fragen. Welche
Daten sind für die Beantwortung der Forschungsfrage zielführend, „the real challenge is not
to generate enough data, but to generate useful data“ (Dörnyei 2007: 125 [Hervorh. im Ori-
ginal]) und welche Daten sollen in welcher Breite und Tiefe etwa mit Hilfe von Datentrian-
gulation (s. Kapitel 4.4) bearbeitet werden. Entscheidungen sind dann häufig an den Prozess
der Datenbearbeitung gebunden, aus dem sich oftmals auch eine weitere Differenzierung der
Forschungsfrage(n) ergibt. Die Fälle werden damit schrittweise ausgewählt, Entscheidungs-
kriterium ist ihre Relevanz für die Forschungsfrage und nicht ihre Repräsentativität (Flick
2011: 163). Forschenden stehen eine Reihe von Sampling-Strategien zur Verfügung, zu denen
u. a. folgende gehören:3
• Sampling typischer Fälle: Der Forscher, der sich z. B. mit dem beruflichen Selbstverständnis
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von Englischlehrkräften in der Grundschule befasst, konzentriert sich auf Personen in den
Daten, die in Hinblick auf die Forschungsfrage über typische Eigenschaften, Merkmale
und/oder Erfahrungen verfügen (weibliche Lehrkräfte mit mehr als drei Jahren Berufs-
erfahrung, die Englisch nicht als Muttersprache mitbringen), auf Personen also, die typisch
für die Mehrzahl der untersuchten Fälle sind.
• Sampling maximaler Variation: Der Forscher interessiert sich besonders für Fälle, die sig-
nifikante Unterschiede aufweisen, um die Bandbreite und Variabilität von Erfahrungen der
untersuchten Gruppe zu erfassen und dabei mögliche Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.
• Sampling extremer oder abweichender Fälle: Die Strategie ähnelt der vorangegangenen.
Der Forscher fokussiert auf die Extremfälle, z. B. auf Lehrkräfte, die ihr berufliches Selbst-
verständnis besonders stark mit der Einschätzung ihrer L2-Kompetenz verknüpfen und
sich Muttersprachlern besonders unterlegen fühlen. Auch hier könnte von Interesse sein,
ob selbst solche Extremfälle Gemeinsamkeiten aufweisen.
• Event-Sampling: Diese Sampling-Strategie ist vorwiegend in der Videoforschung vertreten
und filtert bestimmte niedrig- oder hochinferente Phänomene (wie Partnerarbeit oder
mündliche Fehlerkorrekturen) aus dem Videomaterial heraus. Event-Sampling wird vom
Time-Sampling abgegrenzt. Beim Time-Sampling werden Kodierungen in bestimmten
Zeitabständen vorgenommen (z. B. alle 2 Minuten) (vgl. Appel/Rauin 2015).
• Sampling kritischer Fälle: Diese Strategie ist dem Event-Sampling ähnlich. Sie zielt auf
Fälle in den Daten, die als zentral für die untersuchten Zusammenhänge gelten können.
Schwab (2006), der mit Hilfe einer konversationsanalytischen Longitudinalstudie die Inter-
aktionsstrukturen im Englischunterricht einer Hauptschulklasse untersucht, konkretisiert
nach der ersten Durchsicht einer Grobtranskription der Daten die Gesprächspraktik „Schü-
lerinitiative“ als ein kritisches Phänomen und zentrales Element von Schülerpartizipation.
81 dieser kritischen Fälle werden dann im Detail transkribiert und einer differenzierten

3 Zu den einzelnen Strategien vgl.: Dörnyei 2007: 95ff; Flick 2011: 165–67; Cohen/Manion/Morrison 2011:
148–164.

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4.3 Sampling 87

Analyse unterzogen (Schwab 2006). Die Referenzarbeit von Schwab verdeutlicht, dass
Sampling-Prozesse in qualitativen Studien in der Regel offen und iterativ sind, denn die
zu untersuchenden Fälle gewinnen oftmals erst im Prozess der Datenbearbeitung an Ge-
stalt: die Grundgesamtheit kann nicht von vorneherein genau bestimmt werden, sondern
konstituiert sich durch einen Prozess der sukzessiven Differenzierung bereits gewonnener
Erkenntnisse und die daraus folgende, erneute Interpretation der Daten, die u. U. sogar
eine weitere Phase der Datengewinnung im Sinne der Forschungsfrage nahe legt. Die Aus-
wahlentscheidungen werden durchgängig von Relevanzkriterien für die Forschungsfrage
und durch die bereits formulierten Einsichten und Vermutungen und, nicht zuletzt, durch
vorhandene Wissensbestände (Vorwissen, Fachwissen) geleitet.
Dieses zyklisch voranschreitende Auswahlverfahren wird als Theoretical-Sampling bezeich-
net und wurde erstmals von Vertretern der empirischer Sozialforschung im Zusammenhang
der Grounded Theory beschrieben (s. Kapitel 5.3.3). Obwohl der Begriff ursprünglich in der
Grounded Theory-Methodologie verortet ist und dort den Prozess der datengeleiteten Theo-
riegenerierung bezeichnet, wird das Verfahren des Theoretical-Sampling auch mit anderen
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Methoden qualitativer Forschung verbunden (s. Kapitel 5.3.4). Alle oben genannten Sam-
pling-Strategien können im Verfahren des Theoretical-Sampling zur Anwendung kom-
men.4

3 Entscheidungen für die Präsentation der Ergebnisse


Da es für qualitative Studien nicht per se die richtige Entscheidung oder Strategie gibt, son-
dern diese sowohl von der Fragestellung, dem Gang der Analyse und vorhandenen Wissens-
beständen abhängt, zu der das jeweilige Forschungsprojekt in Beziehung steht, müssen die
Entscheidungen auch im Kontext dieses Gesamtzusammenhangs gefällt und entsprechend
begründet werden: „Samplingentscheidungen lassen sich nicht isoliert treffen“ (Flick 2011:
169). Das gilt natürlich auch für Entscheidungen, welche Befunde wie zu präsentieren sind.
Als Beispiel diene die Referenzarbeit von Arras (2007), die Prozesse der Beurteilungsarbeit
mit Hilfe eines Mehrmethodendesigns erforschte. Arras erhob qualitativ introspektive Daten
(Laut-Denk-Protokolle) von vier Beurteilerinnen, die danach durch Daten aus retrospektiven
Interviews ergänzt und vertieft wurden. Die Datenanalyse erbrachte eine solche Fülle von
Einzelhandlungen und Strategien der Beurteilerinnen, dass für die Darstellung der Befunde
eine Auswahl getroffen werden musste. Arras begründet ihre Entscheidung mit zwei Aus-
wahlkriterien: Sie konzentriert sich einerseits gemäß ihrer zentralen Fragestellung auf jene
Befunde, die „den Umgang mit dem Beurteilungsverfahren und … die Rolle … der Deskripto-
ren beleuchten. Zum anderen werden jene Beobachtungen referiert …, die über das Test-DaF-
Beurteilungsinstrumentarium hinausweisen“ (Arras 2007: 217). Von besonderem Interesse
sind nämlich „Strategien, die vermutlich auf zugrunde liegenden subjektiven Annahmen und

4 Das methodische Vorgehen des Theoretical Sampling und seine methodologische Begründung werden im
Kapitel 5.3.3. ausführlich erörtert und mit Hinweisen auf Referenzarbeiten verdeutlicht. Eine Einzeldar-
stellung kann hier deshalb entfallen. S. auch Silverman 2000: 105–110.

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88 4. Forschungsentscheidungen

persönlichen Erfahrungen gründen“. Befunde dieser beiden Großgruppen werden dann im


Detail präsentiert.5

4.3.4 Fazit

Auch wenn es sinnvoll ist, Sampling-Verfahren nach qualitativ und quantitativ zu unter-
scheiden, lassen sich Forschungsvorhaben nicht immer strikt in quantitative oder qualitative
Erhebungs- und Analyseverfahren unterteilen, so dass es auch Sampling-Strategien gibt,
bei denen quantitative und qualitative Verfahren kombiniert werden (Mixed-Methods-Sam-
pling). Hierzu gehören z. B. parallele, sequenzielle oder multi-level Auswahlverfahren (vgl.
z. B. Kuckartz 2014, Cohen/Manion/Morrison 2011: 162–3, Teddlie/Yu 2007, s. auch Ka-
pitel 3.3 und 6.4).
Prinzipiell sollte die Sampling-Strategie immer auf Basis der Forschungsfrage gewählt
werden und dem Forschungszweck dienen. Die gewählte Strategie muss transparent sein,
mögliche Einschränkungen berücksichtigen und zum gewählten Design passen. Alle diese As-
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pekte bestimmen letztendlich auch den Grad an Generalisierbarkeit, der für die gewonnenen
Ergebnisse erreicht werden kann bzw. die angestrebte Aussagekraft der Studie.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen hier erläuterte Sampling-Strategien angewendet werden, sind


mit einem Sternchen markiert.
Appel, Johannes/Rauin, Udo (2015). Methoden videogestützter Beobachtungsverfahren in der Lehr-
und Lernforschung. In: Elsner, Daniela/Viebrock, Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachen-
forschung. Frankfurt/Main: Peter Lang, 59–79.
*Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung Test Deutsch als
Fremdsprache (TestDAF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7]
*Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7]
*Benitt, Nora (2015). Becoming a (Better) Language Teacher. Classroom Action Research and Teacher
Learning. Tübingen: Narr.
Bortz, Jürgen/Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwis-
senschaftler. 4. Auflage. Berlin: Springer.
Bortz, Jürgen/Schuster, Christof (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 7. Auflage.
Berlin: Springer.
Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education. 7. Auflage.
London: Routledge.
Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: Oxford University Press.

5 Weitere Beispiele für solche Entscheidungsprozesse liefern die Arbeiten von Benitt (2015) und Zibelius
(2015).

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4.3 Sampling 89

*Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Das assistant-Jahr


als ausbildungsbiographische Phase. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Ka-
pitel 7]
Flick, Uwe (2011). Qualitative Forschung. Eine Einführung. 4. vollständig überarbeitete Auflage. Rein-
bek: Rowohlt.
G*Power [http://www.gpower.hhu.de] (25. 09. 2015)
*Grum, Urška (2012). Mündliche Sprachkompetenzen deutschsprachiger Lerner des Englischen. Entwick-
lung eines Kompetenzmodells zur Leistungsheterogenität. Frankfurt/Main: Peter Lang.
*Kimes-Link, Ann (2013). Aufgaben, Methoden und Verstehensprozesse im englischen Literaturunter-
richt der gymnasialen Oberstufe. Eine qualitativ-empirische Studie. Tübingen: Narr.
Kuckhartz, Udo (2014). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wies-
baden: Springer.
Merkens, Hans (2012). Auswahlverfahren, Sampling, Fallkonstruktion. In: Flick, Uwe/von Kardorff,
Ernst/Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 9. Auflage. Reinbek: Rowohlt,
286–299.
Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. Berufswahlmotive der Lehramtsstudierenden in Ang-
listik/Amerikanistik. Berlin: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7]
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*Roters, Bianca (2012). Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische
Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität. Münster: Waxmann.
*Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Hohengehren: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7]
*Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische
Pädagogik. [Referenzarbeit, s. Kurzbeitrag Kapitel 7]
Silverman, David (2000). Doing Qualitative Research. A Practical Handbook. London: Sage.
*Steininger, Ivo (2014). Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdspra-
chenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr.
Teddlie, Charles/Yu, Fen (2007). Mixed Methods Sampling. A Typology with Examples. Journal of
Mixed Methods Research 1/1, 77–100.
*Zibelius, Marja (2015). Cooperative Learning in Virtual Space. A Critical Look at New Ways of Teacher
Education. Tübingen: Narr.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education [Chap-


ter 5. The ethics of educational and social research]. Hoboken: Taylor and Francis, 143–164.
Das Kapitel „Sampling“ gibt einen sehr umfassenden Überblick über Samplingprozesse in quantita-
tiver, qualitativer und Mixed-Method-Forschung.
Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: Oxford University
Press, 95–100 (Sampling in quantitative research); 125–29 (Sampling in qualitative research).
Beide Teilkapitel bieten eine knappe Einführung in Sampling-Fragen und -Prozesse für die Fremd-
und Zweitsprachenforschung.

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90 4. Forschungsentscheidungen

4.4 Triangulation

Petra Knorr/Karen Schramm

4.4.1 Begriffsklärung

Mit Triangulation wird eine methodologische Strategie bezeichnet, bei der ein Forschungs-
gegenstand aus zwei oder mehreren Perspektiven betrachtet wird und es zu einer Kom-
bination verschiedener Methoden, Datenquellen, theoretischer Zugänge oder Einflüsse durch
mehrere Forschende kommt. Der Begriff ist der Landvermessung entlehnt und wird dort für
die exakte Lokalisierung eines Objektes durch die Verwendung bereits bekannter Fixpunkte
verwendet. Der Grundgedanke, durch den Einsatz mehrerer Bezugspunkte möglichst genaue
Ergebnisse zu erzielen, führte einst auch zur Verwendung des Begriffs als Metapher in der
sozialwissenschaftlichen Forschung (Campbell/Fiske 1959, Webb et al. 1966).
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Triangulation stand zunächst dafür, die Validität von Forschungsergebnissen zu erhöhen,


indem vor allem im Rahmen quantitativer Studien der Reaktivität von Methoden durch
die Verwendung mehrerer Messinstrumente entgegengewirkt werden sollte. Die Schwächen
einer Methode sollten durch komplementäre Testverfahren ausgeglichen, Messartefakte soll-
ten ausgeschlossen werden. Denzin (1970) sprach sich für eine Verbindung qualitativer und
quantitativer Methoden aus und brachte die Triangulation als Validierungsstrategie in die
qualitative Methodendiskussion ein.
Das Verständnis über die Zielsetzung von Triangulation hat sich seither weiter ausdif-
ferenziert und umfasst gegenwärtig weniger die Validierung von Forschungsergebnissen
als vielmehr die Vertiefung und Erweiterung von Erkenntnissen (Denzin 1989 revidierte
Position, Fielding/Fielding 1986). Vor allem vor dem Hintergrund konstruktivistischer Po-
sitionen wurde problematisiert, dass ein methodischer Zugang nicht durch einen anderen
korrigiert oder validiert werden kann, denn jede Methode, jede Forschungsperson oder jede
Theorie wirkt sich auf das aus, was als Ergebnis ermittelt wird. Der Forschungsgegenstand
wird durch die verwendete Methode konstituiert. Gerade weil aber jedes Verfahren einen
bestimmten Aspekt bzw. eine andere Facette des zu untersuchenden Phänomens offenlegt,
kann ein triangulierendes Vorgehen den jeweiligen Gegenstandsbereich umfassender und
weitreichender beschreiben und erklären. Daher eignet sich die Triangulation insbesondere
in Settings, die durch eine hohe Faktorenkomplexion gekennzeichnet sind (wie z. B. fremd-
sprachliche Lehr- und Lernkontexte). Es besteht nicht der Anspruch, kongruente Ergebnisse
zu erzielen; vielmehr werden durchaus Befunde erwartet, die divergieren, sich aber kom-
plementär und multiperspektivisch ergänzen.
Die Betrachtung verschiedener Perspektiven kann sich durch verschiedene Formen der
Triangulation realisieren. Diese wurden von Denzin (1970) klassifiziert und vier Typen zu-
geordnet, auf die seither rekurriert wird: Daten-, Methoden-, ForscherInnen- und Theorien-
triangulation.

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4.4 Triangulation 91

4.4.2 Datentriangulation

Von Datentriangulation wird gesprochen, wenn Datensätze kombiniert werden, die ver-
schiedenen Quellen entstammen (Denzin 1970). Allein nach dieser Definition könnte jedoch
jede Art der Methodentriangulation auch als Datentriangulation bezeichnet werden, denn der
Einsatz verschiedener Methoden führt immer auch zu unterschiedlichen Datensätzen (Agua-
do 2015: 207, Settinieri 2015: 23). Denzin spricht daher nur dann von Datentriangulation,
wenn dieselbe Methode verwendet und das gleiche Phänomen untersucht wurde (Denzin
1970: 301).
In Anlehnung an Denzin können drei Subtypen von Datentriangulation entsprechend der
Triangulation verschiedener Zeitpunkte, Personen und/oder Orte unterschieden werden. So
kann, wie z. B. in der Studie von Schwab (2009), die Datenerhebung zu mehreren Zeitpunkten
stattfinden. Obwohl es nicht um das Nachzeichnen einer Entwicklung ging, erstreckten sich
die Videomitschnitte von Unterrichtssequenzen in dieser Untersuchung über zwei ­Schuljahre.
Die Erhebung von Daten mit einer spezifischen Methode kann auch mit einer weiteren Person
oder Personengruppe durchgeführt werden, was geradezu den Regelfall darstellt und mit
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Blick auf Sampling-Prozeduren zu reflektieren ist (vgl. Kapitel 4.3). Der dritte Triangula­
tionstyp beschreibt die Kombination von Datensätzen, die an mehreren verschiedenen Orten
erhoben wurden. In allen drei Fällen geht es nicht darum, auf diese Weise unterschiedliche
Variablen (verschiedene Zeitpunkte, Personen oder Orte) zu erfassen und bei der Analyse zu
berücksichtigen, sondern Datentriangulation dient grundsätzlich dazu, die Robustheit der
Studie zu erhöhen.
Die Beispiele machen deutlich, dass meist mehrere Triangulationsstrategien gleichzeitig
verwendet werden und Denzins Klassifizierungen nicht immer trennscharf sind. So ist die
lokale Datentriangulation auch zwingend immer eine Kombination verschiedener Per-
sonen(gruppen). In Bezug auf die zeitliche Triangulation wird mehrfach angemerkt, dass
demnach auch Longitudinalstudien triangulierende Untersuchungen wären, da hier die
Datensätze mehrerer Zeitpunkte in Beziehung zueinander gesetzt werden. Dieses Vorgehen
dient jedoch weder der Validierung noch der Vertiefung von Erkenntnissen, sondern der Er-
forschung von Prozessen (s. auch Aguado 2015: 207–8).
Im Unterschied zu Denzins Verwendung des Begriffs Datentriangulation als Oberbegriff
gehen andere Klassifizierungen von Datentriangulation (bezogen auf Personen als verschie-
dene Informationsquellen), von zeitlicher und örtlicher Triangulation als nebeneinander
stehende Triangulationstypen aus (Brown/Rodgers 2002, Cohen/Manion/Morrison 2011).
Denzin plädiert in Anlehnung an das theoretical sampling der Grounded Theory dafür,
innerhalb einer Studie nach möglichst vielen auf den Forschungsgegenstand bezogenen Da-
tenquellen zu suchen, um durch Vergleiche möglichst kontrastiver Settings entsprechende
theoretische Konzepte sukzessive herausarbeiten zu können (Denzin 1970: 301). Dem Prinzip
von Replikationsstudien (s. Kapitel 4.5) liegt ein ähnlicher Gedanke zugrunde, doch spricht
man von Triangulation nur in den Fällen, in denen Daten bei der Analyse direkt zueinander
in Beziehung gesetzt werden; dies ist in der Regel nur im Rahmen jeweils einer Studie der
Fall, da Replikationsstudien zwar die Befunde, in der Regel aber nicht die Daten von Vor-
gängerstudien mit den eigenen Daten in Beziehung setzen (s. auch Kapitel 4.5 zu Metaana-
lysen).

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92 4. Forschungsentscheidungen

4.4.3 Methodentriangulation

Die Kombinationen mehrerer Methoden zur Erforschung eines Gegenstands ist die wohl
am häufigsten durchgeführte Art der Triangulation. Denzin (1970: 308–9) unterscheidet
hier zwei Formen: zum einen die Triangulation innerhalb einer Methode (within-method)
und zum anderen die Verwendung verschiedener Methoden zur Beantwortung einer For-
schungsfrage (between-method). Wenn z. B. in der Studie von Schart (2003) innerhalb eines
Fragebogens offene und geschlossene Fragen gestellt werden, kann hier von methoden-
interner Triangulation gesprochen werden. Schwab (2009) arbeitete in seiner Untersuchung
methodenübergreifend und triangulierte das Verfahren der videografischen Unterrichtsbeob-
achtung mit anschließenden retrospektiven Interviews mit den an der Studie teilnehmenden
Lehrenden; außerdem wurden die Schülerinnen und Schüler leitfadengestützt interviewt
(between method triangulation). Diese Referenzarbeit illustriert somit das Potential einer
Kombination von Beobachtungen zur Erfassung der sozialen Dimension mit Befragungen
zur Erfassung der mentalen Dimension. Doch auch innerhalb einer Perspektive lassen sich
Methoden triangulieren; beispielsweise kombinierte Arras (2007) die Methode des Lauten
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Denkens mit der Durchführung retrospektiver Interviews. Vergleichsweise selten findet der
methodentriangulatorische Fall Erwähnung, dass derselbe Datensatz mit unterschiedlichen
Auswertungsverfahren bearbeitet wird wie beispielsweise von Knorr (2015), die Planungs-
gespräche von angehenden Lehrpersonen sowohl inhaltsanalytisch als auch gesprächsana-
lytisch auswertete. Werden jedoch unterschiedliche Variablen mit unterschiedlichen Metho-
den erhoben, wie dies u. a. die Referenzarbeit von Biebricher (2008) illustriert, so handelt es
sich nicht um ein triangulatorisches, sondern um ein mehrmethodisches Vorgehen.
Eine spezielle Form der methodologischen Triangulation stellt die Verbindung quantita-
tiver und qualitativer Forschungsmethoden dar, die auch als mixed methods oder mixed
methodologies bezeichnet wird (s. Kapitel 3.3). Diese Mischung von Methoden, die ehemals
nahezu unvereinbare Paradigmen verknüpft, wird gegenwärtig nicht mehr in Frage gestellt;
es werden jedoch Diskussionen nach dem Verhältnis beider Positionen innerhalb eines For-
schungsdesigns, nach der Gewichtung der Ergebnisse, der Abfolge des Einsatzes der jeweili-
gen Methode und nach dem Umgang mit Divergenzen geführt (z. B. Flick 2011: 75–96, Kelle/
Erzberger 2004, Kuckartz 2014, Lamnek 2010: 245–265, Mayring 2001, Schründer-Lenzen
2010). Gerade divergierende Ergebnisse werden eher als Chance betrachtet, da die Suche
nach alternativen Erklärungen zur Modifikation von Theorien führen kann (Lamnek 2010:
259).

4.4.4 ForscherInnentriangulation

Als ForscherInnentriangulation wird der Fall bezeichnet, bei dem „das gleiche Phänomen von
unterschiedlichen Forschern (Beobachtern) untersucht und interpretiert [wird]; die Ergebnis-
se werden trianguliert, man erhofft sich so, den Einfluss von Forschern auf den Forschungs-
gegenstand ermitteln zu können“ (Kuckartz 2014: 46). Es ist damit also kein arbeitsteiliges
Vorgehen, sondern der Prozess der Zusammenführung von gemeinsam oder unabhängig
voneinander durchgeführten Erhebungs-, Aufbereitungs- und/oder Auswertungsschritten

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4.4 Triangulation 93

gemeint. Dieser Prozess dient zumeist der Erhöhung der Reliabilität, in einigen Fällen auch
der Komplementarität von individuell bedingten Herangehensweisen.
Die Erhebung von Messwerten und deren statistische Auswertung im Rahmen des quan-
titativen Forschungsparadigmas erfordern in der Regel keine ForscherInnentriangulation,
doch bei der Quantifizierung qualitativer Daten (also beispielsweise bei der Überführung
von Video- und Videotranskriptdaten in Zahlenwerte) empfiehlt es sich in einigen Fällen,
die Inter-Coder- bzw. die Inter-Rater-Reliabilität zu überprüfen (vgl. Hugener et al. 2006).
Bei niedrig-inferenten Kodier- und Beurteilungsvorgängen (z. B. Welches Objekt hat die im
Morgenkreis erzählende Person in der Hand? Wie ruhig verhalten sich die Zuhörenden im
Erzählkreis?) ist dies möglicherweise unnötig, während es bei hoch-inferenten Kodier- und
Beurteilungsprozessen (z. B. Welche Art von Geschichte erzählt die Person? Wirkt sie moti-
viert?) jedoch sehr relevant erscheint.
Im Rahmen des qualitativen Forschungsparadigmas handelt es sich fast durchgängig um
hoch-inferente interpretative Analyseprozesse, die den Gütekriterien der Transparenz und der
intersubjektiven Nachvollziehbarkeit gerecht werden sollen (s. Kapitel 2). Dementsprechende
Beispiele für ForscherInnentriangulation reichen von der Präsentation und Diskussion eige-
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ner interpretativer Analysen in einer Forschergruppe über interaktionsanalytische Datensit-


zungen bis zur Gegenkodierung von Teil- oder Gesamtdatenkorpora wie beispielsweise in der
Referenzarbeit von Hochstetter (2011), in der das gesamte Material von zwei Kodiererinnen
getrennt voneinander bearbeitet wurde. Aufgrund begrenzter Ressourcen ist eine wünschens-
werte ForscherInnentriangulation jedoch häufig unmöglich; in solchen Fällen erscheint die
Überprüfung der Intra- (im Gegensatz zur Inter-) Coder- bzw. der Intra-Rater-Reliabiltät
als mögliche Lösung. So wurde in der Referenzarbeit von Arras (2007) zur Erhöhung der
Reliabilität beispielsweise eine Zweitkodierung im zeitlichen Abstand von drei Monaten von
derselben Forscherin durchgeführt.
ForscherInnentriangulation spielt im Rahmen qualitativer Forschung jedoch nicht nur
bei der interpretativen Auswertung eine wichtige Rolle: Auch der Einfluss der forschen-
den Person(en) in der Erhebungsphase ist bei nicht-standardisierten Verfahren, beispiels-
weise bei Interviews oder bei teilnehmender Beobachtung, von großem Interesse (vgl. auch
Schründer-Lenzen 2010 zur epistemologischen Funktion von Triangulation in der Ethno-
graphie). Darüber hinaus ist es bei der Aufbereitung von Audio- und Videodaten im Rahmen
interaktionsanalytischer Forschung üblich, die dabei entstehenden detailreichen Transkripte
von einer zweiten Person korrigieren zu lassen und das entsprechende Transkriptions- und
Korrekturverhältnis zu erfassen, um die Reliabilität der Analysegrundlage zu erhöhen bzw.
für die Leserschaft einschätzbar zu machen.

4.4.5 Theorientriangulation

Unter Theorientriangulation versteht man in Anlehnung an Denzin (1970: 303) in der Regel
die Annäherung an Daten aus verschiedenen theoretischen Perspektiven und mit unter-
schiedlichen Hypothesen, um auf diese Weise ggf. Hypothesen zu widerlegen und die Nütz-
lichkeit und Stärke verschiedener Theorien zu überprüfen. Laut Flick (2011: 14) „sollen hier
aber auch die Erkenntnismöglichkeiten fundiert und verbreitert werden“.

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94

4.4 Triangulation
Betrachtung eines Forschungsgegenstands aus mehreren Perspektiven
Methodentriangulation Datentriangulation

Kombination von Methoden Kombination verschiedener Datensätze bei gleicher


Methode: Variation des Zeitpunktes,
within method der Personen, des Ortes
methodeninterne Triangulation
ungsgegen
s

s
ch

ta
between methods Theorientriangulation
Triangulation verschiedener Me-

For
nd
Annäherung an Daten aus
thoden
verschiedenen theoretischen
Perspektiven
mixed methods
Kombination qualitativer und
quantitativer Methoden ForscherInnentriangulation

Untersuchung des gleichen

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Phänomens durch unterschiedliche
Personen (z.B. Interrater-Reliabilität)

Voraussetzungen: Gegenstandsangemessene Integration von Verfahren/Ansätzen,


Methodenkompetenz, professionelle Reflektiertheit
4. Forschungsentscheidungen

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4.4 Triangulation 95

Aguado (2014: 50) stellt fest, dass Theorientriangulation „in der Forschungsrealität kaum
vor[kommt]“, und vertritt die Auffassung, dass es „weder sonderlich zielführend noch sehr
ökonomisch [ist], mehrere theoretische Ansätze gleichzeitig in Anwendung zu bringen.“ Kon-
zept und Potential der Theorientriangulation lassen sich jedoch an der zweitsprachendidak-
tischen Dissertation von Gadow (2016) illustrieren, die mit Blick auf das bildungssprachliche
Handeln von ViertklässlerInnen bei Berichten über Experimente zum Sinken und Schwimmen
systematisch Theorien aus der Naturwissenschaftsdidaktik und aus der Linguistik zusammen-
führt. Sie arbeitet u. a. heraus, dass das auf das inhaltlich-konzeptionelle Lernen ausgerichtete
naturwissenschaftsdidaktische Konstrukt des evidenzbasierten Begründens gewinnbringend
mit den unter funktional-pragmatischer Perspektive entwickelten Konstrukten des (einfachen
und funktionalen) Beschreibens und des (einfachen und funktionalen) Erklärens in Verbin-
dung gebracht werden kann. Ihre empirische Untersuchung zeigt, dass sich eine Theorientri-
angulation in Form einer „bedeutsame[n] Integration“ (Aguado 2015: 208) im Gegensatz zur
„bloße[n] Akkumulation“ (ebd.) insbesondere als Grundlage von interdisziplinär angelegten
Forschungsarbeiten als sehr gewinnbringend erweisen kann. Dieser Aspekt ist für koope-
rative Projekte von besonderer Relevanz.
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4.4.6 Fazit

Allen Triangulationsarten liegt der Gedanke einer Integration im Gegensatz zu einer reinen
Akkumulation zugrunde. Daten- und Methodentriangulation spielen in der Fremd- und
Zweitsprachenforschung zweifellos eine prominentere Rolle als ForscherInnen- und Theorien-
triangulation. Der Einsatz mehrerer Methoden ist inzwischen fast zu einem Gütekriterium
qualitativer Forschung geworden, was vielfach kritisch hinterfragt wird (z. B. Aguado 2015,
Lamnek 2010, Settinieri 2015). Aguados Meinung nach sollte nicht der Eindruck entstehen,
„dass ein mehrmethodisches Vorgehen für eine hochwertige, aktuellen forschungsmethodo-
logischen Entwicklungen verpflichtende qualitative Forschung zwingend erforderlich sei“
(2015: 204). Als notwendige Voraussetzung für die Durchführung einer triangulierenden
Studie wird immer wieder die angemessene Auswahl an Methoden und deren sinnvolle
Kombination gefordert, um ein eklektisches Nebeneinander diverser Verfahren ohne direkten
Mehrwert zu vermeiden. Vor allem bei einer mixed-methods-Triangulation, aber auch bei
Triangulation innerhalb des qualitativen Paradigmas ist zu beachten, dass nicht alle Me-
thoden per se miteinander kombinierbar sind. Es muss daher sorgfältig abgewägt werden, ob
Untersuchungsgegenstand, Forschungsfrage(n) und Erhebungs- sowie Auswertungsmethode
optimal zueinander passen. Neben einem erhöhten Aufwand bei der Durchführung mehr-
methodischer Forschung ist ein höheres Maß an Methodenkompetenz und professioneller
Reflektiertheit nötig, um die Potentiale der Methodentriangulation voll ausschöpfen zu kön-
nen.
Grundsätzlich erscheint eine Annäherung an den Forschungsgegenstand notwendig, die
sich zunächst der Vielfalt theoretischer Perspektiven bewusst wird, um daran anschließend
Entscheidungen bezüglich der Verwendung verschiedener Methoden, Datensätze, Forsche-
rInnen oder Theorien gegenstandsangemessen und theoretisch begründet zu treffen.

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96 4. Forschungsentscheidungen

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Aguado, Karin (2014). Triangulation. In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gülte-
kin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd-
und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 47–56.
Aguado, Karin (2015). Triangulation: Möglichkeiten, Grenzen, Desiderate. In: Elsner, Daniela/Viebrock,
Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/Main: Lang, 203–219.
*Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als
Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit]
Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr.
Brown, James D./Rodgers, Theodore S. (2002). Doing Second Language Research. Oxford: Oxford Uni-
versity Press.
Campbell, Donald T./Fiske, Donald W. (1959). Convergent and discriminant validation by the multi-
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trait-multimethod matrix. In: Psychological Bulletin 56, 81–105.


Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education. New York:
Routledge.
Denzin, Norman K. (1970). The Research Act. Chicago: Aldine.
Denzin, Norman K. (1989). The Research Act. 3. Auflage. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.
*Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative
Interviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant-Jahres. München: Langen-
scheidt. [Referenzarbeit]
Fielding, Nigel G./Fielding, Jane L. (1986). Linking data. Beverly Hills, CA: Sage.
Flick, Uwe (2011). Triangulation. Eine Einführung. 3. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Verlag für
Sozialwissenschaften.
*Gadow, Anne (2016). Bildungssprache im naturwissenschaftlichen Sachunterricht. Beschreiben und
Erklären von Kindern mit deutscher und anderer Familiensprache. Berlin: ESV.
*Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine
empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit]
Hugener, Isabelle/Rakoczy, Katrin/Pauli, Christine/Reusser, Kurt (2006). Videobasierte Unterrichts-
forschung. Integration verschiedener Methoden der Videoanalyse für eine differenzierte Sicht auf
Lehr-Lernprozesse. In: Rahm, Sybille/Mammes, Ingelore/Schratz, Michael (Hg.). Schulpädagogische
Forschung. Bd. 1: Unterrichtsforschung. Perspektiven innovativer Ansätze. Innsbruck: Studienverlag,
41–53.
Kelle, Udo/Erzberger, Christian (2004). Qualitative und quantitative Methoden: kein Gegensatz. In:
Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung: Ein Handbuch. Reinbek:
Rowohlt, 299–309.
*Knorr, Petra (2015). Kooperative Unterrichtsvorbereitung: Unterrichtsplanungsgespräche in der Aus-
bildung angehender Englischlehrender. Tübingen: Narr.
Kuckartz, Udo (2014). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wies-
baden: Springer Fachmedien.
Lamnek, Siegfried (2010). Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 5. überarbeitete Auflage. Weinheim:
Beltz.

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4.4 Triangulation 97

Mayring, Philipp (2001). Kombination und Integration qualitativer und quantitativer Analyse. In:
Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research 2(1), Art. 6. [Online: http://
nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs010 162] (11. 8. 2015).
*Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Referenzarbeit]
Schründer-Lenzen, Agi (2010). Triangulation – ein Konzept zur Qualitätssicherung von Forschung. In:
Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungs-
methoden in der Erziehungswissenschaft. 3. vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim: Juventa,
149–158.
*Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische
Pädagogik. [Referenzarbeit]
Settinieri, Julia (2015). Forschst Du noch, oder triangulierst Du schon? In: Elsner, Daniela/Viebrock,
Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/Main: Lang, 17–35.
Webb, Eugene J./Campbell, Donald T./Schwartz, Richard D./Sechrest, Lee (1966). Unobtrusive Measure:
Nonreactive Research in the Social Sciences. Chicago: Rand McNally.
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»» Zur Vertiefung empfohlen

Flick, Uwe (2011). Triangulation. Eine Einführung. 3. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Verlag
für Sozialwissenschaften.
Bei der Monografie von Flick handelt es sich um einen gut lesbaren und komprimierten Überblick
über die Thematik der Triangulation. Flick gibt einen Abriss über Ursprung und Geschichte des Kon-
zepts und zeichnet kritische Diskussionen nach. Er arbeitet mit zahlreichen Verweisen auf Norman
Denzin als den Begründer der Triangulation im Bereich qualitativer Forschung sowie mit vielen
beispielhaften Veranschaulichungen aus der Forschungspraxis. Neben einem Fokus auf Methoden-
triangulation in der qualitativen Forschung, insbesondere in der Ethnographie, richtet Flick sein
Augenmerk auf die Kombination qualitativer und quantitativer Forschung und zeigt abschließend
praktische Durchführungsprobleme von Triangulationsstudien auf.
Settinieri, Julia (2015). Forschst Du noch, oder triangulierst Du schon? In: Elsner, Daniela/Vie-
brock, Britta (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt/Main: Peter
Lang, 17–35.
Dieser einführende und sehr verständlich geschriebene Beitrag leistet eine präzise Klärung des Tri-
angulationsbegriffs. Dazu wird erstens der Forschungsdiskurs zu den beiden Funktionen Validierung
und Erkenntniserweiterung seit den 1950er Jahren nachgezeichnet und zweitens ein informativer
Überblick über Daten-, Methoden-, Theorien- und ForscherInnentriangulation gegeben. Der Begriff
der Triangulation wird drittens in ebenso erhellender Weise auch auf die Diskussion von mixed
methods bezogen und viertens in der überraschenden Wendung der Titelfrage zu „Triangulierst Du
noch, oder forschst Du schon?“ auch als aktuelle Modeerscheinung kritisch hinterfragt.

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98 4. Forschungsentscheidungen

4.5  er zweite Blick: Meta-Analysen6 und


D
Replikationen

Claudia Harsch

4.5.1 Einführung

Mit steigender Zahl an Studien und der Kumulierung von Forschungsergebnissen zu einem
bestimmten Bereich steigt auch der Bedarf an einer Synthese dieser Ergebnisse, ebenso wie
das Interesse an einer Replikation bestimmter Studien, um zu generalisierbaren Aussagen
über verschiedene Zielgruppen und Kontexte hinweg zu gelangen (z. B. Plonsky 2012a). Zur
Synthese empirischer Daten eignen sich Meta-Analysen: Ausgehend von einer umfassenden
Literaturrecherche werden systematisch empirische Daten gesammelt und analysiert, um zu
empiriegestützten Aussagen über eine Vielzahl von Studien hinweg zu gelangen; darüber
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hinaus erlauben Meta-Analysen die Analyse etwaiger Moderatorvariablen zur Bestimmung


des Einflusses, die diese auf die zu untersuchenden Variablen ausüben (Plonsky/Oswald
2012a). Replikationsstudien hingegen haben das Ziel, ausgewählte Studien zu replizieren,
um Ergebnisse zu validieren oder die Übertragbarkeit von Ergebnissen auf andere Kontexte
oder Zielgruppen zu überprüfen. Die Ergebnisse solcher Replikationsstudien können ebenfalls
in Meta-Analysen einfließen, um zu evidenzbasierten und möglichst generalisierbaren Syn-
thesen zu kommen. Solche Synthesen können zum einen eine gegebene Studie im Kontext
des derzeitigen Wissensstands platzieren, sie stellen aber auch die Basis für weitere Forschung
dar, da sie den derzeitigen Erkenntnissstand zusammenfassen und somit aufzeigen helfen, wo
es Forschungsbedarf gibt. Des Weiteren leisten sie einen Beitrag zur evidenzbasierten Ent-
scheidungsfindung, indem sie die Forschungserträge auf einem bestimmten Gebiet kumulativ
zusammenstellen (z. B. Rousseau/McCarthy 2007). Meta-Analysen und Replikationen sind
jedoch zu unterscheiden von vergleichenden Überblicksforschungen, wie sie etwa Schmenk
(2008) darstellt. Solch ein zweiter theoretischer Blick fasst existente Forschung zusammen,
doch werden keine neuen Analysen mit bestehenden Daten und keine neuen Datenerhebun-
gen durchgeführt.
Eine gute Übersicht zu mehr als 140 Meta-Analysen und Forschungssynthesen im Bereich
der Zweit- und Fremdsprachenforschung bietet die Internetseite von Luke Plonsky (http://
oak.ucc.nau.edu/ldp3/bib_metaanalysis.html). Die Universität Murcia bietet unter http://
www.um.es/metaanalysis eine Übersicht über Bücher zum Thema und eine Datenbank zu
Publikationen von Meta-Analysen.

6 Ich möchte mich bei Yo In’nami und Eric A. Surface für den wertvollen Input ihres Pre-Conference Work-
shops auf dem Language Testing Research Colloquium (LTRC) im Juni 2014 in Amsterdam bedanken.

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4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 99

4.5.2 Durchführung von Meta-Analysen

Meta-Analysen werden wegen ihres Umfangs meist von einem Team von Forschenden durch-
geführt; sie bestehen aus einer Abfolge von Schritten, welche im Folgenden kurz beschrieben
werden:
• Problemstellung;
• Literaturrecherche;
• Evaluation und Kodierung der ausgewählten Studien;
• Datenanalyse, Untersuchung der Ergebnisse, Interpretation;
• Berichterstattung, Publikation.
Die Formulierung der Problemstellung, der zu untersuchenden Fragestellung ist von zen-
traler Bedeutung. Sie kann sowohl theoriegeleitet als auch empirisch begründet sein. Eng
geführte Fragen eignen sich, um bekannte Hypothesen und Effekte zu prüfen, Forschungen
zu dieser Themestellung zusammenzufassen oder bestimmte Populationen und Kontexte zu
vergleichen. Offenere Problemstellungen eignen sich, um neue Erkenntnisse aus der Synthese
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zu gewinnen. Die Fragestellung bestimmt somit, welche Studien in die Meta-Analyse ein-
fließen sollen; beispielsweise hängen die Auswahl und der Fokus auf konzeptionelle Fragen,
Methoden, Probanden, Messmodelle und berichtete empirische Indizes (outcome measures)
von der Fragestellung ab.
Die Literaturrecherche ist direkt von der Problemstellung geleitet. Hier gilt es, so umfassend
und systematisch wie möglich vorzugehen, um möglichst viele Studien und Replikationen in
der zu untersuchenden Problemstellung zu erfassen. Dabei sollten neben den einschlägigen
Zeitschriften, Buch- und Kongresspublikationen und Internetrecherchen (z. B. google scholar)
auch Datenbanken abgefragt werden (In’nami/Koizumi 2011). Bei der Recherche stellt sich
das Problem des so genannten publication bias, da in der Regel nur Studien mit signifikanten
Effekten publiziert werden; dadurch gehen für die Synthese wertvolle Informationen verloren,
welche zumindest teilweise durch statistische Verfahren abgefangen werden können (Hunter/
Schmidt 2004; s. unten die Ausführungen zu Datenanalyse und Untersuchung der Ergeb-
nisse). Darüber hinaus gibt es Datenbanken zu unveröffentlichten Studien, die herangezogen
werden können. Auch auf den so genannten English language bias darf verwiesen werden:
Publikationen in internationalen englischsprachigen Journals berichten oft stärkere Effekte
als Publikationen in anderen Sprachen; hier hilft es, auch anderssprachige Publikationen zu
beachten. Es gilt, transparente Kriterien zum Einschluss (und ggf. Ausschluss) von Studien zu
entwickeln; der Kriterienkatalog kann in einem iterativen Prozess während der Auseinander-
setzung mit der Literatur verfeinert werden. Hierbei sollten Forschungsstandards angelegt
werden, wie sie beispielsweise Porte (2010) beschreibt. Wichtig ist es, eine gesunde Balance
zwischen Ein- und Ausschlusskriterien zu finden, um nicht die Generalisierbarkeit durch den
Ausschluss zu vieler Studien zu gefährden, andererseits aber nicht die Qualität und Validität
der Ergebnisse der Meta-Analyse durch den Einschluss methodisch mangelhafter Studien zu
riskieren. Alle Schritte der Literaturrecherche und der eingesetzten Strategien und Kriterien
zur Suche und Auswahl sollten transparent dokumentiert werden.
Sind die Studien ausgewählt, müssen sie hinsichtlich ihrer Charakteristika und der be-
richteten Effektstärken evaluiert und kodiert werden. Hier helfen ein Kodierplan und ein

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100 4. Forschungsentscheidungen

Kodierbuch, um die relevanten Charakteristika und das Kodierschema zu definieren. Idea-


lerweise wird das Kodierschema pilotiert und alle Studien werden von mindestens zwei
Forschenden kodiert, um zu reliablen und validen Kodierungen zu kommen. In’nami7 schlägt
vor, mindestens die folgenden Charakteristika zu den Studien und den empirischen Daten
zu kodieren:

Studie Empirische Datenlage

• ID, bibliographische Angaben, Abstract; • Effektstärke (s. Ausführungen unten):Da-


• Moderatorvariablen: Population, Kontext; tenbasis, Methode der Bestimmung,
• Kriterien zur Qualität der Studie; etwaige Gewichtung;
• Informationen zu etwaigen Artefakten • Stichprobengröße;
(Hunter/Schmidt 2004); • Gemessene(s) Konstrukt(e), Instrumente;
• Forschungsdesign: Probanden, experimen- • Zeitpunkte, zu denen die verschiedenen
telles (oder anderes) Design, Manipulatio- Variablen gemessen wurden;
nen. • Reliabilität der Messungen;
• statistische Tests, die zum Einsatz kamen;
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• Moderatorvariablen.
Abbildung 1: Kodiervorschläge nach In’nami (s. Fußnote 7)

Spätestens bei der Kodierung der Studien kann es sein, dass fehlende Daten zu Tage treten.
Hier kann es helfen, die Autoren direkt anzuschreiben, um gezielt nach fehlenden Infor-
mationen zu fragen. Im Zweifelsfall müssen Studien, zu denen keine hinreichenden Daten
vorliegen, ausgeschlossen oder die fehlenden Werte mittels statistischer Verfahren imputiert
werden. Auch dies sollte dokumentiert werden.
Das Konzept der Effektstärken sei hier kurz skizziert (s. auch Kapitel 5. 3. 10), da sie
die zentrale Analyseeinheit von Meta-Analysen darstellen (s. Borenstein et al. 2011, ins-
besondere Kapitel 3–9, Plonsky 2012b). Die Ergebnisse empirischer Studien werden in der
Regel mittels zweier Statistiken berichtet: Zum einen interessiert die Größe oder die Stärke
eines untersuchten Effekts (die so genannte Effektstärke), zum anderen ist die Signifikanz
der Effekte wichtig – man bedenke, dass nicht-signifikante Ergebnisse ebenso bedeutsam
sind wie signifikante Effekte, doch werden sie meist nicht publiziert (s. oben, publication
bias). Effektstärken sind statistische Indizes, welche grundsätzlich auf zwei Wegen bestimmt
werden können: mittels Korrelationen (die Gruppe der sogenannten r Indizes) oder mittels
(standardisierter) Unterschiede in Mittelwerten oder Standardabweichungen (die Gruppe der
d Indizes). Die in den für eine Meta-Analyse ausgewählten Studien berichteten Statistiken
lassen sich problemlos in die Effektstärken r oder d überführen8, je nachdem, welche Heran-
gehensweise für die Meta-Analyse verwendet werden soll. Johnson/Eagly (2000) empfehlen
r für Studien, die vorwiegend Korrelationen berichten, und d für Studien, welche ANOVA
und t-tests einsetzen.

7 Unveröffentlichte Präsentation aus dem Pre-Conference Workshop Meta-Analysis, LTRC 2014, Ams-
terdam.
8 In’nami empfiehlt den ES Calculator (http://mason.gmu.edu/~dwilsonb/ma.html: download ­„es_calcula​
tor.zip“).

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4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 101

Zur eigentlichen Datenanalyse und zur Untersuchung der Ergebnisse gibt es eigens für
Meta-Analysen entwickelte Computerprogramme, beispielsweise das Programm Comprehen-
sive Meta-Analysis9. Eine Evaluation verschiedener Programme ist unter http://www.um.es/
metaanalysis/software.php zu finden. Es empfiehlt sich, Einführungen und Workshops zur
Nutzung eines bestimmten Programms zu besuchen, um sich mit den Spezifika, Modellen,
Annahmen und Anforderungen vertraut zu machen. Generell besteht die zentrale Daten-
analyse einer Meta-Analyse aus der Berechnung des Mittelwerts und der Varianz der in den
ausgewählten Studien berichteten Effektstärken (Plonsky/Oswald 2012b: 275). Dazu gibt es
verschiedene Modelle (die so genannten fixed-, random- oder mixed-effect Modelle, s. Boren-
stein et al. 2011, insb. Kapitel 10–14 und 19), von denen das angemessenste gewählt werden
muss. Ebenso müssen Entscheidungen getroffen werden hinsichtlich der zu nutzenden Effekt-
stärkeindizes (s. oben) und der Gewichtung bestimmter Studien. Zur Interpretation der Er-
gebnisse ist es nötig, sich die Effektstärken, Konfidenzintervalle und die Richtung der Effekte
der einzelnen Studien sowie Mittelwert und Varianz der Effekte über die Studien hinweg
zu betrachten, um die Homogenität der gefundenen Effektstärken beurteilen zu können.
Zur Interpretation helfen neben den statistischen Indizes so genannte forest plots, graphi-
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sche Darstellungen, welche von den Programmen erstellt werden. Es kann nötig sein, den
erwähnten publication bias statistisch zu korrigieren; hierzu gibt es verschiedene Möglich-
keiten (s. z.B. Banks/Kepes/Banks 2012, Borenstein et al. 2011, Kapitel 30), von denen die
graphische Methode des funnel plottings in der Fremdsprachenforschung die verbreiteste ist
(z. B. Norris/Ortega 2000). Es empfehlen sich weiterführende Moderator-Analysen, um den
Effekt bestimmter Moderatorvariablen auf die zu untersuchende Variable festzustellen; bei-
spielsweise haben Jeon/Yamashita (2014) Befunde zum Leseverstehen in der Fremdsprache in
einer groß angelegten Meta-Analyse zusammengestellt und dabei u. a. die Moderatoren Alter
und Vokabelwissen untersucht. Abschließend darf auf so genante Power Analysen verwiesen
werden (z. B. Cohen 1988, Plonsky 2013), um die Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, dass ein
bestimmter statistischer Test einen gegebenen Effekt auch erfassen kann. Dazu werden die
notwendige minimale Stichprobengöße oder die minimal zu erwartende Effektgröße bei einer
gegebenen Stichprobengröße bestimmt. Power Analysen können für die Einzelstudien, die
in eine Meta-Analyse einfließen, ebenso wie retrospektiv für eine gegebene Meta-Analyse
durchgeführt werden.
Sind die Effektgrößen bestimmt und die Ergebnisse interpretiert, so schließt sich die Phase
der Berichterstattung und Publikation an. Hier darf auf die APA Meta-Analysis Reporting
Standards (APA 2008, American Psychological Association 2010) verwiesen werden, ebenso
wie auf die Hinweise in Plonsky (2012b); letztere eignen sich auch gut zur Evaluation publi-
zierter Meta-Analysen. Folgende Elemente sollte die Publikation minimal abdecken:

9 Download: http://www.meta-analysis.com/pages/full.php; das Programm kann einen Monat kostenlos


getestet werden.

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102 4. Forschungsentscheidungen

Eingeschlossene Studien Resultate

• Auswahlkriterien, Publikationsstatus, • Effekgrößen: Datenbasis, Methode der Be-


Referenzen, Datenbanken; stimmung, Gewichtung;
• Forschungskontext; • Konfidenzintervalle, obere und untere
• Teilnehmende: demographische Angaben, Grenzen, Mittelwert, Varianz, forest plots;
Stichprobengrößen; • weiterführende Analysen (Moderatoren,
• Forschungsdesign: experimentelles (oder publication bias);
anderes), Pre-/ Post, Längs-/ Querschnitt; • Interpretation, Kontextualisierung der
• eingesetzte Instrumente. Ergebnisse;
• Implikationen.
Abbildung 2: Minimale Publikationselemente von Meta-Analysen

4.5.3 Replikationsstudien
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Replikationsstudien dienen der Wiederholung bestimmter Experimente, Interventionen oder


Studiendesigns, einerseits zum Zweck der Überprüfung der Generalisierbarkeit der Ergebnis-
se der Originalstudie für andere Zielgruppen oder Kontexte, andererseits zur Validierung der
berichteten Ergebnisse (Abbuhl 2012, Porte 2010). In empirischen Untersuchungen kommt
der Replizierbarkeit einer Studie und deren Ergebnissen besondere Bedeutung zu, können
doch auf diese Weise die Fehlertypen I und II (fälschliches Verwerfen bzw. Akzeptieren der
Nullhypothese) kontrolliert werden (Schmidt 2009).
Abbuhl (2012) unterscheidet verschiedene Typen von Replikationsstudien, die sie auf ei-
nem Kontinuum von exakter Replikation (eher selten in den Sozialwissenschaften zu finden)
über systematische oder approximative Replikation bis hin zur konzeptuellen oder konstruk-
tiven Replikation anordnet. Bei der approximativen Replikation wird die Originalstudie so
getreu wie möglich repliziert, doch eine der Schlüsselvariablen wird variiert, um etwa eine
andere Zelgruppe oder einen anderen Kontext zu untersuchen. Die konzeptuelle Replikation
bleibt dem Untersuchunggegenstand treu, doch verwendet sie zusätzlich zu den qualitativen
der Originalstudie andere Zugänge, wie etwa andere Instrumente oder quantitative Me-
thoden.
Replikationsstudien beginnen mit der Forschungsfragestellung und der Evaluation und
Auswahl einer geeigneten Studie, welche die Forschungsfrage in relevanter Weise opera-
tionalisiert und untersucht. Es schließt sich die Entscheidung an, welche Art der Replikation
für die zu untersuchende Fragestellung angemessen ist. Hierbei muss die Vergleichbarkeit und
Anschlussfähigkeit zwischen Replikation und Originalstudie bedacht werden mit Hinblick
auf Zielpopulationen und Stichproben, Untersuchungsgegenstand, Design, eingesetzte Instru-
mente und Analysemethoden. Etwaige Abweichungen sollten wohlbegründet sein (Gass/Ma-
ckey 2005). Nach der Durchführung und Analyse der Replikationsstudie erfolgt die Interpeta-
tion der Ergebnisse, immer auch in Bezug auf die Resultate der Originalstudie. Unterstützen
die Replikationsbefunde die Ergebnisse der Originalstudie, so kann dies als ein weiterer
Hinweis auf die Validität der ursprünglichen Befunde gedeutet werden. Widersprechen die
Replikationsergebnisse denen der Originalstudie, kann dies als Anlass genommen werden, die

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4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 103

Generalisierbarkeit bestimmter Ergebnisse kritisch zu diskutieren, oder die Parameter, die in


die Studien einflossen, zu hinterfragen und gezielt in weiteren Untersuchungen zu erforschen
(z. B. Eden 2002). Abschließend steht der Schritt der Publikation an, in welcher der Anlass der
Replikationsstudie und etwaige Abweichungen von der Originalstudie begründet werden, die
Vorgehensweise transparent dargestellt und die Ergebnisse im Vergleich zur Originalstudie
diskutiert und kommentiert werden sollten.

4.5.4 Anwendung in Studien

Während es, wie Schmidt (2009) ausführt, nur wenige Replikationsstudien in den Sozial-
wissenschaften gibt, erfreuen sich Meta-Analysen zunehmender Beliebtheit. Hier sollen drei
Meta-Analysen exemplarisch das Feld illustrieren.
Eine frühe, einflussreiche Meta-Analyse wurde von Norris/Ortega (2000) zur Effektivität
von L2 Instruktionen durchgeführt. Sie verglichen die Effektstärken von 49 experimentellen
und quasi-experimentellen Studien, die in den Jahren 1908 bis 1998 durchgeführt wurden.
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Sie fanden u. a. heraus, dass explizite Formen des Unterrichtens effektiver sind als implizite
und dass fokussiertes Unterrichten zu langfristigen Lernerfolgen führt. Allerdings mussten
sie feststellen, dass die Effektstärke vom jeweils eingesetzten Messinstrument beeinflusst
wird und dass die Ergebnisse ihrer Meta-Analyse nur beschränkt generalisierbar sind, da es
damals dem Feld noch an empirisch rigorosen Operationalisierungen und Replikationen der
Konstrukte mangelte.
Eine wesentlich umfangreichere Meta-Analyse, die eine gewisse Generalisierbarkeit auf-
weist, führte Hattie (2009) durch. Die so genannte ‚Hattie-Studie‘ beeinflusste die bildungs-
politische Diskussion im In- und Ausland, weshalb sie hier erwähnt werden soll, wenngleich
die meisten Studien, die in Hatties Meta-Analyse eingingen, nicht aus dem fremdsprach-
lichen Unterricht stammen. Er unterzog über 800 Meta-Analysen einer Meta-Metaanalyse
und untersuchte 138 unterrichtsrelevante Variablen und ihre Effektivität auf das Lernen.
Das Novum an seinem Ansatz ist, dass er die Effektstärken inhaltlich interpretiert, indem
er sie in unterschiedliche Bereiche einteilt. Für den untersten Bereich (bis 0,15) behauptet
Hattie, dass diese Effekte auch erzielt würden, wenn kein Unterricht stattfinde; Effektstär-
ken im Bereich 0,15 bis 0,40 würden auch durch regulärem Unterricht einer durchschnitt-
lichen Lehrkraft erzielt; nur Effektstärken über 0,40 würden auf tatsächliche Effekte der
untersuchten Variablen deuten. Die stärksten Effekte fand Hattie in den Variablen ‚self-
reported grades‘, ‚Piagetian programmes‘ und ‚providing formative evaluation‘. Es wäre
interessant, diese Variablen gezielt für den fremdsprachlichen Unterricht zu untersuchen.
Hattie leitet auf Basis seiner Ergebnisse ein theoretisches Modell erfolgreichen (fachunab-
hängigen) Lehrens und Lernens ab; er nutzt die Meta-Analyse also zur Theorie-Generie-
rung.
Die dritte Meta-Analyse, die hier vorgestellt werden soll, wurde von Jeon/Yamashita
(2014) durchgeführt für den Bereich des Leseverstehens in der Fremdsprache. Diese Studie
soll die o. g. Moderatorenanalysen illustrieren. Jeon/Yamashita (2014) untersuchten u. a. die
Moderatoren Alter und Vokabelwissen. Die Befunde legen nahe, dass das fremdsprachliche
Leseverständnis am höchsten mit fremdsprachlichem Grammatik- und Vokabelwissen korre-

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104

4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen


Forschungsergebnisse synthetisieren und kumulieren

Meta-Analysen Replikationsstudien

Synthese empirischer Daten über einzelne Studien hinweg, Wiederholung von Studien zur
meist im Forschungsteam Überprüfung der Generalisier-
barkeit von Ergebnissen

Studie 2

Studie 1 Studie 3 Studie x Studie y

Studie x

→ Formulierung der Problemstellung → Forschungsfragestellung


→ Auswahl der Studien publication bias → Auswahl der Originalstudie
→ Evaluation, Kodierung Effektstärken → Replikationstyp: exakt,

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→ Datenanalyse mit Hilfe von Statistik-Software systematisch, approximativ
→ Berichterstattung nach APA Standards → Durchführung und Analyse
→ Ergebnisinterpretation im
! aufwändige Umsetzung Vergleich zum Original
4. Forschungsentscheidungen

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4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 105

liert und dass Leseverstehen vom Alter und der Distanz zwischen erster und zweiter Sprache
beeinflusst wird.

4.5.5 Fazit

Die hier vorgestellten Möglichkeiten des ‚zweiten Blicks‘ auf existente Studien, sei es mit-
tels quantitativer Meta-Analysen oder mittels Replikationsstudien, stellen eine Möglichkeit
dar, existente Ergebnisse zu nutzen und zu transformieren. Auf diese Weise können, wie
es beispielsweise Hattie (2009) zeigt, Theorien entwickelt und untermauert werden, oder
es können Ergebnisse eines Bereichs oder Kontexts in neuen Kontexten überprüft werden,
wie es in Replikationsstudien geschieht. Diese Herangehensweisen bieten effektive Wege,
existente Ergebnisse zusammenzuführen, sie zu validieren und etwa zur evidenzbasierten
Entscheidungsfindung oder zur weiteren Forschungsplanung zu nutzen. Allerdings sollten
sie in ihrem Aufwand nicht unterschätzt werden.
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›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Abbuhl, Rebekha (2012). Why, when, and how to replicate research. In: Mackey, Alison/Gass, Susan M.
(Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition: A Practical Guide. London: Basil Black-
well, 296–312.
APA Publications and Communications Board Working Group on Journal Article Reporting Standards
(2008). Reporting standards for research in psychology: Why do we need them? What might they be?
In: American Psychologist 63, 848–849. [https://www.apa.org/pubs/authors/jars.pdf] (4. 12. 2015)
American Psychological Association (2010). Publication Manual of the American Psychological Asso-
ciation. 6. Auflage. Washington, DC: American Psychological Association.
Banks, Georges C./Kepes, Sven/Banks, Karen P. (2012). Publication bias: The antagonist of meta-analytic
reviews and effective policy making. In: Educational Evaluation and Policy Analysis 34, 259–277.
Borenstein, Michael/Hedges, Larry V./Higgins, Julian P. T. / Rothstein, Hannah R. (2011). Introduction
to Meta-Analysis. Chichester, UK: Wiley.
Cohen, Jacob (1988). Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences. 2nd edition. Hillsdale, NJ:
Erlbaum.
Eden, Dov (2002). Replication, meta-analysis, scientific progress, and AMJ’s publication policy. In:
Academy of Management Journal 45, 841–846.
Gass, Susan M./Mackey, Alison (2005). Second Language Research: Methodology and Design. Mahwah,
NJ: Lawrence Erlbaum.
*Hattie, John (2009). Visible Learning: A Synthesis of Over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement.
Oxon: Routledge.
Hunter, John E./Schmidt, Frank L. (2004). Methods of Meta-Analysis: Correcting Error and Bias in
Research Findings. 2nd edition. Newbury Park, CA: Sage.
In’nami, Yo/Koizumi, Rie (2010). Database selection guidelines for meta-analysis in applied linguistics.
In: TESOL Quarterly 44, 169–184.

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106 4. Forschungsentscheidungen

*Jeon, Eun H./Yamashita, Junko (2014). L2 reading comprehension and its correlates: A meta-analysis.
Language Learning 64(1), 160–212.
Johnson, Blair T./Eagly, Alice H. (2000). Quantitative synthesis of social psychological research. In: Reis,
Harry T./Judd, Charles M. (Hg.). Handbook of Research Methods in Social and Personality Psychology.
New York: Cambridge University Press, 496–528.
*Norris, John M./Ortega, Lourdes (2000). Effectiveness of L2 instruction: A research synthesis and
quantitative meta-analysis. Language Learning 50, 417–528.
Plonsky, Luke (2012a). Replication, meta-analysis and generalizability. In: Porte, Graeme K. (Hg.). Re-
plication Research in Applied Linguistics. New York: Cambridge University Press, 116–132.
Plonsky, Luke (2012b). Effect size. In: Robinson, Peter (Hg.). The Routledge Encyclopedia of Second
Language Acquisition. New York: Routledge, 200–202.
Plonsky, Luke (2013). Study quality in SLA: An assessment of designs, analyses, and reporting practices
in quantitative L2 research. In: Studies in Second Language Acquisition 35, 655–687.
Plonsky, Luke/Oswald, Frederick L. (2012a). Meta-analysis. In: Robinson, Peter (Hg.). The Routledge
Encyclopedia of Second Language Acquisition. New York: Routledge, 420–423.
Plonsky, Luke/Oswald, Frederick L. (2012b). How to do a meta-analysis. In: Mackey, Alison/Gass, Su-
san M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition: A Practical Guide. London: Basil
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Blackwell, 275–295.
Porte, Graeme K. (2010). Appraising Research in Second Language Learning. A Practical Approach to
Critical Analysis of Quantitative Research. Amsterdam: John Benjamins.
Rousseau, Denise M./McCarthy, Sharon (2007). Evidence-based management: Educating managers
from an evidence-based perspective. In: Academy of Management Learning and Education 6, 94–101.
Schmenk, Barbara (2008). Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Tü-
bingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Schmidt, Stefan (2009). Shall we really do it again? The powerful concept of replication is neglected in
the social sciences. In: Review of General Psychology 13, 90–100.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Borenstein, Michael/Hedges, Larry V./Higgins, Julian P. T. / Rothstein, Hannah R. (2011). Intro-


duction to Meta-Analysis. Chichester, UK: Wiley.
Das Buch beschreibt in klarer und umfassender Weise alle grundsätzlichen und weiterführenden
Aspekte, die zu einer Meta-Analyse gehören. Es erläutert zugrunde liegende Konzepte und führt die
Leser an die statistischen Grundlagen und Formeln, welche durch Beispiele veranschaulicht werden.
Das Buch eignet sich gut zum Selbststudium und wird durch Online-Materialien ergänzt.
Cooper, Harris/Hedges, Larry V./Valentine, Jeff C. (Hg.). (2009). The Handbook of Research Syn-
thesis and Meta-Analysis. 2nd edition. New York: Russel Sage Foundation.
Das Handbuch bietet einen guten Einstieg in die Thematik der Meta-Analsyen. Es ist als Enzyklo-
pädie angelegt, wobei die Kapitel sich je einem spezifischen Aspekt widmen. Eine Besonderheit ist,
dass sich alle Kapitel auf denselben Datensatz beziehen. Das Buch ist geeignet für Forschende und
Statistiker.
Plonsky, Luke/Oswald, Frederick L. (2012b). How to do a meta-analysis. In: Mackey, Alison/
Gass, Susan M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition: A Practical Guide.
London: Basil Blackwell, 275–295.

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4.5 Der zweite Blick: Meta-Analysen und Replikationen 107

Das Kapitel gibt eine leicht verständliche Einführung in die Planung und Durchführung von Meta-
Analysen, mit praktischen Tipps und Anregungen. Es eignet sich gut als erster Einstieg.
Porte, Graeme K. (Hg.) (2012). Replication Research in Applied Linguistics. New York: Cam-
bridge University Press.
Das Buch bringt Experten zusammen, die die Bedeutsamkeit von Replikationsstudien in der Ange-
wandten Linguistik unterstreichen. Die Autoren beleuchten Replikationsstudien von theoretischer
Seite, geben praktische Ratschläge zur Planung, Vorbereitung, Durchführung solcher Studien und
nicht zuletzt Hinweise dazu, wie die Studien und Ergebnisse berichtet werden können.
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108 4. Forschungsentscheidungen

4.6 Forschungsethik

Michael K. Legutke/Karen Schramm

4.6.1 Begriffsklärung

Der Gegenstandsbereich der Forschungsethik umfasst Prinzipien und Regeln, die das Handeln
der Forschenden leiten sollen. Er befasst sich mit Fragen wie: Was darf ich als Forschender?
Was ist erlaubt? Wem bin ich verantwortlich? (Bach/Viebrock 2012). Obwohl empirische
Studien in besonderer Weise ethischen Ansprüchen Rechnung tragen müssen, wie wir dar-
legen werden, unterliegen alle Typen von Forschung, egal welcher Forschungstradition sie
zuzuordnen sind, ethischen Codes. Küster (2011: 139) schlägt vor, den Komplex Ethik in der
Fremdsprachenforschung unter zwei Perspektiven in fünf Handlungsfelder zu strukturieren.
Er unterscheidet eine „prudentielle Perspektive“ mit den beiden Handlungsfeldern (1) „Ver-
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antwortung des Forschers vor und für sich selbst“ und (2) „Verantwortung des Fremdspra-
chenforschers gegenüber seinem privaten Umfeld“ sowie eine „moralische Perspektive“. Zur
letzteren gehört (3) die „Verantwortung des Fremdsprachenforschers gegenüber der scientific
community“. Diese zeigt sich u. a. in der Sorgfalt und Vertrauenswürdigkeit des Forschers
im Umgang mit anderen Forschungen und Quellen, in der Ehrlichkeit im Umgang mit Po-
sitionen und Forschungsergebnissen, der Strenge der Arbeitsweisen und Darstellung sowie
der Transparenz der Argumentationen, der Integrität und Lauterkeit des wissenschaftlichen
Arbeitsprozesses. Zur moralischen Perspektive gehören ferner (4) die „Verantwortung des
empirischen Fremdsprachenforschers gegenüber den unmittelbar Beforschten (quantitative
Forschung) bzw. den am Forschungsprozess unmittelbar Beteiligten (qualitative Forschung
und Handlungsforschung)“ (Küster 2011: 139) und schließlich (5) die „Verantwortung des
Fremdsprachenforschers gegenüber gesellschaftlichen und universitären Institutionen und
deren Anforderungen“ (Küster 2011: 139). Die Handlungsfelder 3 und 4 werden in diesem
Beitrag genauer bestimmt. Das fünfte Handlungsfeld ist u. a. Gegenstand des Kapitels 2 dieses
Handbuchs.
Nationale wie internationale Fachgesellschaften aus den Natur- und Sozialwissenschaften
haben Ethik-Kodizes entwickelt, die Forschenden eine Grundorientierung geben und deren
Prinzipien und Regeln sich auch für die Praxis der Fremdsprachenforschung fruchtbar machen
lassen.10 Zu den Grundprinzipien, die in diesen Kodizes in unterschiedlichen Graden der
Konkretisierung erscheinen, gehören: das Prinzip der Schadensvermeidung, das Prinzip des
Nutzens bzw. des Mehrwerts von Forschung, der Respekt vor anderen Menschen sowie das

10 Für die Fremdsprachenforschung sind besonders relevant: Teachers of English to Speakers of Other
Languages (TESOL) <http://www.tesol.org>; The American Association of Applied Linguistics (AAAL)
<http://www.aaal.org>; die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE): <http://www.
dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Service/Satzung/Ethikkodex_2010.pdf>. Vgl. auch die Vorstel-
lungen der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis:
<http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/download/empfehlung_wiss_
praxis_0198.pdf>. Die Ethik-Kodizes verwandter deutscher Fachgesellschaften werden dargestellt in
Viebrock 2015: 87–97.

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4.6 Forschungsethik 109

Prinzip der Redlichkeit (vgl. Kitchener/Kitchener 2009: 13–16; Bach/Viebrock 2012). Im Fol-
genden werden wir die Implikationen solcher Prinzipien für verantwortungsvolles Handeln
in der Fremdsprachenforschung verdeutlichen.

4.6.2 Gestaltung von Forschungsbeziehungen

Wesentliches Merkmal empirischer fremdsprachendidaktischer Forschung ist ihr sozialer


Charakter, denn sie ist abhängig von und situiert in den Beziehungen des Forschers zu Per-
sonen und deren Umfeld (z. B. Kinder mit Migrationshintergrund mehrerer Grundschulen
einer Großstadt, Erwachsene über 60 einer Kreisvolkshochschule, Lehrer und Lehrerinnen
mehrerer Bundesländer). Aus diesem Umstand ergeben sich Verantwortlichkeiten und An-
sprüche gegenüber den Personen und ihren Handlungskontexten auf der einen Seite und
gegenüber der scientifc community auf der anderen Seite.
So stellt sich nicht nur die Frage, wie der Forscher Zugang zu dem Forschungsfeld finden
kann und welche Regeln dabei zu beachten sind (z. B. Forschungserlasse der Kultusministe-
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rien der Länder), sondern auch, wie ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis entwickelt wird,
das für den anvisierten Forschungsprozess tragfähig ist (vgl. dazu Holliday 2007: 75–104).
Die Personen(gruppen) haben Anspruch, dass ihre Interessen geschützt sind und ihre Pri-
vatsphäre respektiert wird, dass sie über das Vorhaben, über mögliche Belastungen11 und die
Nutzung der Daten (s. Kapitel 4.6.3 und 4.6.4) informiert werden. Arbeitsbündnisse können
dann besondere Produktivität entfalten, wenn es gelingt, Formen der Gegenseitigkeit zu ent-
wickeln, die von den am Forschungsprozess beteiligten Personen als gewinnbringend wahr-
genommen werden können, wenn es also gelingt, ein Verhältnis des Gebens und Nehmens zu
etablieren. Als Beispiele für das forscherseitige Geben sind neben einer möglichen Bezahlung
von Untersuchungsteilnehmenden etwa das Versenden der Forschungsergebnisse oder das
Angebot von Fortbildungen zu den Forschungsergebnissen zu nennen.12 Im Hinblick auf das
forscherseitige Nehmen ist beispielsweise zu reflektieren, dass es angesichts der von den For-
schungspartnern investierten Zeit und Mühe nicht gerechtfertigt erscheint, Daten zu erheben,
die anschließend nicht ausgewertet werden. Auch wird immer häufiger thematisiert, dass die
Forschungspartner (und nicht wie bisher zumeist der Forschende) als Eigentümer der Daten
zu konzeptualisieren seien und ihnen damit das Recht der Auswahl von Daten für Analyse-
prozesse zukomme.
Die ethische Forderung nach Transparenz der Ziele, Verfahren und Ergebnisse des Vor-
habens bringt allerdings eine doppelte Herausforderung für die Forscher mit sich. Denn

11 Körperliche und psychische Beeinträchtigungen der Untersuchungsteilnehmenden sind bestmöglich zu


vermeiden: Unbeabsichtigte Beeinträchtigungen erfordern unverzügliches forscherseitiges Eingreifen; be-
absichtigte Beeinträchtigungen wie das Herbeiführen einer besonderen Anstrengung sind im Hinblick
auf ihre Notwendigkeit und Zumutbarkeit ethisch zu reflektieren (Aeppli/Gasser/Gutzwiller/Tettenborn
2010: 58–59).
12 In besonderer Weise stellt sich die Problematik des Gebens auch dann, wenn vielversprechende oder
kostenintensive Maßnahmen (z. B. zusätzliche Sprachförderung, moderne technische Ausstattung) nur
bei einem Teil der Forschungspartner erprobt werden. Um die Vergleichsgruppe nicht schlechter zu be-
handeln, bietet es sich in solchen experimentellen Designs an, die beteiligten Gruppen nacheinander mit
den erwünschten Maßnahmen zu versorgen.

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110 4. Forschungsentscheidungen

zum einen bedarf die Fachsprache der Wissenschaft, die die Beteiligten in der Regel als un-
zugänglich wahrnehmen, der angemessenen Übersetzung in die Alltagsprache. Verständ-
nis muss erarbeitet und ausgehandelt werden (Holliday 2007: 145–152). Das Dilemma
sprachlicher Vermittlung zwischen dem Forscher und den Forschungspartnern einerseits
und andererseits den Anforderungen, die an die Veröffentlichung der Ergebnisse von Sei-
ten der Wissenschaft gestellt werden, thematisiert die Referenzarbeit von Schart (2003:
51–52).
Ferner stellt sich die Frage, wie viel Transparenz aus ethischen Gründen nötig und aus for-
schungsmethodischen Anforderungen möglich ist, ohne das Vorhaben selbst zu gefährden.
Wenn Forschungspartnern aus Gründen des Forschungsdesigns bestimmte Informationen
vorenthalten oder sie getäuscht werden, ist von Seiten der Forschenden explizit zu reflek-
tieren, ob dies für das Design tatsächlich unabdingbar ist und ob den Teilnehmenden da-
durch in psychologischer Hinsicht Schaden wie beispielsweise Stress oder Unbehaglichkeit
entsteht. In der Debriefing-Phase einer solchen Studie sollten die Verantwortlichen dann
gewissenhaft dafür Sorge tragen, dass die Teilnehmenden über die Täuschung und die Gründe
für die Täuschung aufgeklärt werden (dehoaxing) und dass sie jegliche, durch die Studie ver-
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ursachte unangenehme Gefühle abbauen können (desensitizing), beispielsweise indem man


unerwünschtes Verhalten oder unangenehme Gefühle auf eine Situationsvariable statt auf
die Person des Forschungspartners zurückführt oder indem man verdeutlicht, dass das Ver-
halten oder die Gefühle der Forschungspartner so erwartbar waren (Johnson/Christensen
2008: 116–117).
Besondere Aufmerksamkeit verlangt schließlich die Phase des Projekts, wenn der For-
scher das Feld wieder verlässt und damit die Beziehung beendet. Dieser Feldrückzug muss
bewusst als Beendigung einer Beziehung gestaltet und den Teilnehmenden erklärt werden.
Rallis/Rossman (2009: 278) erörtern in diesem Zusammenhang das Bild des Verführens und
Sitzenlassens: „The image is that you seduce the participants into disclosing their world-
views, then abandon them when you have gotten what you wanted – data“. Auch gehen viele
Forscher davon aus, dass den Beteiligten unbedingt die Ergebnisse der Forschung bekannt
zu machen seien. Andere wiederum erkennen darin die Gefahr eines „Verletzungsrisiko[s]“
(Miethe 2010: 933); so reflektiert beispielsweise Viebrock (2007) an einem Beispiel aus der
Fremdsprachendidaktik, inwieweit ihr Versuch der kommunikativen Validierung schmerzhaft
für die betroffene Forschungspartnerin war.
Da der Forscher mit dem Eintritt in das Feld und mit dem Aufnehmen und Unterhalten
der Beziehungen, dies gilt in besonderem Maße bei qualitativen Studien, durch seine Präsenz
nolens volens den Forschungsprozess mit prägt und damit das Forschungsvorhaben selbst
verändert, wobei Forschungsfragen neu justiert, konkretisiert und oftmals modifiziert werden
(Holliday 2007), erwächst eine besondere Verantwortung gegenüber der scientific community,
diesen Forschungsprozess, die Rolle des Forscher und die Dynamik der Beziehungen trans-
parent zu machen (Freeman 2009).

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4.6 Forschungsethik 111

4.6.3 Freiwilligkeit der Teilnahme

Ein zentrales datenschutzrechtliches und damit gesetzliches Erfordernis empirischer Unter-


suchungen ist, dass Forschungspartner freiwillig an einer Studie teilnehmen. Forscher müs-
sen deshalb ihre Forschungspartner vor einer Untersuchung über das geplante Vorgehen
detailliert informieren und sich deren Teilnahmebereitschaft schriftlich bestätigen lassen. Dies
betrifft insbesondere Ziele, Zeitdauer, Procedere, mögliche Nach- und Vorteile für die For-
schungspartner, Maßnahmen zur Einhaltung gesetzlicher Datenschutzbestimmungen sowie
Ansprechpartner bei rechtlichen und inhaltlichen Fragen (vgl. dazu genauer Mackey/Gass
2005; Johnson/Christensen 2008). Den Forschungspartnern ist ausreichend Gelegenheit zu
geben, dazu Fragen zu stellen bzw. zu klären.
Essentiell ist dabei, dass die Forschungspartner keinerlei Nachteile bei Nicht-Teilnahme be-
fürchten und dass sie keinerlei Bedrängnis zur Teilnahme verspüren, wie dies beispielsweise
der Fall wäre, wenn Forschungspartner dem Fortschritt der Wissenschaft nicht im Weg stehen
wollen und sich deshalb der Autorität des Forschers unterordnen, wenn Vorgesetzte ausdrück-
lich die Teilnahme ihrer Lehrerschaft wünschen, wenn Lehrpersonen ihre Schülerschaft um
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Einwilligung bitten oder wenn Eltern bei Nicht-Teilnahme ihrer Kinder Nachteile für diese
in der Schule befürchten. Forscher stehen in der Verantwortung, proaktiv Maßnahmen gegen
derartigen sanften oder unbeabsichtigten Druck zu ergreifen (beispielsweise mit der Lehrerin
abzusprechen, dass sie bei der Datenerhebung nicht anwesend ist).
Die informierte Einwilligungserklärung sollte grundsätzlich auch auf die Tatsache auf-
merksam machen, dass die Teilnahme an der Studie jederzeit (während und auch nach der
Datenerhebung) ohne weitere Erklärung zurückgezogen werden kann; zu diesem Zweck
sollte der Forscher die entsprechenden Kontaktinformationen bereitstellen. Darüber hinaus
müssen die Forschungspartner über die weitere Verwendung der Daten informiert werden.
Dazu gehört, dass sie vor ihrer informierten Einwilligungserklärung erfahren, wie lange die
Daten verwahrt werden, wer Zugang zu den Daten hat und in welcher Form die Daten in
Publikationen oder Vorträgen präsentiert werden.
Darüber hinaus sind ethische Prinzipien auch dann zu bedenken und in den entsprechenden
Publikationen zu thematisieren, wenn Zweifel bestehen, inwieweit die Forschungspartner
in der Lage sind, die Einwilligungserklärung zu verstehen. Dies ist in der Fremdsprachen-
forschung in sprachlicher Hinsicht insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit
Migranten von Bedeutung, denen die entsprechenden Einwilligungserklärungen bei ent-
sprechenden Zweifeln in ihrer Erstsprache vorgelegt oder mündlich in der Erstsprache erläu-
tert werden sollten. Doch auch konzeptuelle Verständnisschwierigkeiten schutzbedürftiger
Gruppen wie beispielsweise schriftunkundiger Zweitsprachenlerner, Kinder, dementer oder
geistig behinderter Personen sind ggf. zu reflektieren und angemessen zu berücksichtigen. Bei
Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sind darüber hinaus ebenfalls die Eltern um ihre
Einverständniserklärung zu bitten; bei Untersuchungen in Schulen ist beim entsprechenden
Kultusministerium eine Genehmigung zu erwirken, was in der Regel einen längeren zeitli-
chen Vorlauf von mehreren Monaten erfordert.
Noch virulenter sind solche ethischen Problemlagen häufig bei Internetforschungen, bei
denen schwerer zu beurteilen ist, ob die Forschungspartner die Informationen zum For-
schungsvorhaben tatsächlich verstanden haben und ob sie in der Lage oder alt genug sind,

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112

4.6 Forschungsethik
Forschung = dynamisches Arbeitsbündnis im sozialen Gefüge
Verantwortung
handlungsleitende 1) für sich selbst prudentielle
2) für das Umfeld Perspektive
Prinzipien und
3) gegenüber der scientific community
Regeln (*) 4) gegenüber den Beteiligten moralische
5) gegenüber Institutionen Perspektive

he r/in
sc Ethik-Kodizes
or

F
F
Mehrwert, Respekt, Redlichkeit, Schadensvermeidung

o
(*) Transparenz

rsc
Ehrlichkeit
Geben und Nehmen Gesetze
Zugang zum Feld informierte Einwilligungserklärung, Datensicherheit,
Rückzug aus dem Feld Pseudonymisierung / Anonymisierung

nity
Freiwilligkeit
Vertraulichkeit

mu

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h u n g sfeld
wissenschaftliches Fehlverhalten

m
Manipulation von Daten, Verleugnen der
o c
tifi c sci e n Autorschaft, Plagiarismus

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4. Forschungsentscheidungen
4.6 Forschungsethik 113

ihre Einwilligung zu erklären. In solchen Fällen gewinnen nach Eynon/Fry/Schroeder (2008)


Bemühungen um eine verständliche Sprache und ggf. auch online-Verständnistests beson-
dere Bedeutung. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, dass Beobachtungsstudien
in virtuellen Welten wie Second Life oder bei der Teilnahme an Chatgroups mit derselben
ethischen Reflexion wie auch in der realen Welt anzugehen sind (ebd.); auch für das De-
briefing ist bei Internetforschung besondere Sorge zu tragen (Johnson/Christensen 2008:
126).

4.6.4 Vertraulichkeit der Daten

Ebenfalls gesetzlich geregelt ist in den meisten (Bundes-)Ländern, welche Anforderungen


an die Vertraulichkeit der Daten zu stellen sind. Eine wichtige Unterscheidung ist in diesem
Zusammenhang zwischen Anonymisierung und Pseudonymisierung zu treffen. Anonyme
Daten liegen dann vor, wenn dem Untersuchungsteam die Zuordnung von Daten zu Namen
unmöglich ist (bspw. beim Einsatz nummerierter Fragebögen ohne Erhebung von Namen).
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Pseudonymisierung bedeutet hingegen, dass dem datenerhebenden Forscher die Namen der
Forschungspartner bekannt sind, diese aber bei der Aufbereitung der Daten durch Pseudo-
nyme ersetzt werden, sodass weder bei der Bearbeitung der Daten noch bei der Präsentation
der Ergebnisse die Identität der Forschungspartner bekannt wird.13
Die Referenzarbeit von Ehrenreich (2004: 457) illustriert den Einbezug der Forschungs-
partnerinnen in die Pseudonymisierung der Transkripte. Die Autorin gibt den interview-
ten Fremdsprachenassistentinnen neben der Korrektur inhaltlicher Fehler hinaus auch die
Möglichkeit, über die von der Autorin vorgenommene Pseudonymisierung14 hinaus auch
bestimmte Wörter zu neutralisieren oder zu streichen. Fürsorglich weist sie im Sinne eines
Schutzes der Forschungspartnerinnen auch darauf hin, dass niemand aufgrund der für die
Mündlichkeit charakteristischen Satzbrüche und anderer Phänomene der Mündlichkeit an der
eigenen Ausdrucksfähigkeit zweifeln solle.
Pseudonymisierung stellt insbesondere bei der Arbeit mit Bild- und Videomaterial eine
Herausforderung dar, da arbeitsaufwändige Verpixelungen oder Balken über Gesichtern die
Identitäten von Forschungspartnern unter Umständen nicht hinreichend verdecken, mög­
licherweise aber sogar die Datenauswertung behindern. So ist es bei Einwilligungserklä-
rungen hinsichtlich videographischer Fremdsprachenforschung insbesondere von Interesse,
den Forschungspartnern alternative Präsentationsweisen der audiovisuellen Daten (von der
Begrenzung auf pseudonymisierte Transkripte bis hin zu Filmvorführungen bei Vorträgen auf
wissenschaftlichen Konferenzen und in der Lehreraus- und -weiterbildung) anzubieten und
ihr schriftliches Einverständnis einzuholen.
Ethisch zu reflektieren ist auch der Wunsch einiger Forschungspartner, ihre Identität zu
benennen, um auf diese Weise ihren Forschungsbeitrag zu würdigen. Wie Miethe (2010:
931–932) ausführt, ist bei De-Anonymisierung jedoch insbesondere zu bedenken, inwie-
weit die Betroffenen, vor allem Kinder, die Reichweite einer solchen Entscheidung absehen
13 Auch bereits während der Datenerhebung ist darauf zu achten, dass auf Nachfrage der Forschungspartner
keine Weitergabe der Informationen von anderen Personen erfolgt.
14 Allerdings spricht Ehrenreich (2004: 457) selbst von Anonymisierung.

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114 4. Forschungsentscheidungen

können und inwieweit damit auch andere Personen wie Familienmitglieder oder Kollegen
de-anonymisiert werden.
Ebenfalls reflexionsbedürftig erscheint bei Internetforschung beispielsweise das Zitieren
von Postings in Diskussionsforen, da diese im Internet unmittelbar aufgefunden werden
können und möglicherweise die Identität der Beforschten preisgeben; auch die sichere Daten-
übertragung bei Befragungen bzw. der mögliche Zugriff Dritter auf die Daten muss Internet-
forscher in besonderer Weise beschäftigen (vgl. Eynon/Fry/Schroeder 2008). Da bei Internet-
forschung keine klaren nationalen Grenzen gegeben sind und somit rechtliche Grauzonen
entstehen, erscheint in diesen Fällen die ethische Reflexion durch das Forscherteam in be-
sonderer Weise geboten (s. ebd.).

4.6.5 Wissenschaftliches Fehlverhalten

Neben dem Betrug wie beispielsweise dem Fälschen von Daten oder dem Manipulieren
von Ergebnissen sind als wissenschaftliches Fehlverhalten auch solche Fälle zu bezeichnen,
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in denen der Umgang mit gefälschten Daten von Kollegen bewusst übersehen wird, be-
stimmte (widersprüchliche) Daten gezielt zurückgehalten werden oder das Forschungs-
design auf Druck des Geldgebers verändert wird (Johnson/Christensen 2008: 104; s. Ka-
pitel 2).
Bei Publikationsaktivitäten ist im Hinblick auf wissenschaftliches Fehlverhalten zum einen
die Frage der Autorenschaft von besonderer Relevanz. Autorenschaft gebührt denjenigen,
die entscheidend zur Entwicklung und Durchführung des Forschungsprojekts beigetragen
haben; besondere Sensibilität ist diesbezüglich bei einem hierarchischen Gefälle der Betei-
ligten bzw. bei Kooperationen von etablierten Forschern mit Nachwuchswissenschaftlern
angebracht. Zum anderen steht der Plagiarismus immer wieder im Mittelpunkt der univer-
sitären und der öffentlichen Diskussion, da der Diebstahl geistigen Eigentums einen grund-
legenden Verstoß gegen die ethischen Prinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens sowie auch
gegen das Urheberrecht und damit ein strafbares Vergehen darstellt, das rechtliche Kon-
sequenzen nach sich zieht (Ackermann 2003; Aeppli/Gasser/Gutzwiller/Tettenborn 2010:
57).

4.6.6 Fazit

Die hier erörterten Handlungsmaximen sind nicht als abzuarbeitender Regelkatalog miss-
zuverstehen. Vielmehr sollen sie die Sensibilität für die Implikationen forschenden Handelns
fördern. Forschende sind gehalten, sich immer wieder neu der Konsequenzen ihres Handelns
bewusst zu werden. Abweichungen von Prinzipien sind im Kontext konkreter Forschungs-
projekte nicht zu vermeiden; solche Abweichungen bedürfen jedoch der genauen Begründung
und der kritischen Abwägung, die auch den Rat von Experten mit einbezieht (vgl. Dens-
combe 2010: 77). Macfarlane (2009) entwickelt seine Forschungsethik auf der Grundlage
von sechs Tugenden. Zu diesen gehört neben Mut, Respekt, Entschlossenheit, Ernsthaftigkeit
und Bescheidenheit die Schlüsseltugend der Reflexivität, die Fähigkeit Abstand zu nehmen,

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4.6 Forschungsethik 115

zu fragen, ob ich als Forscherin, als Forscher meinen Verantwortlichkeiten gerecht werde und
wie ich mein Handeln begründe. Es ist genau jene Tugend, der wir mit diesem Kapitel das
Wort reden.

›› Literatur

Ackermann, Kathrin (2003). Plagiat. In: Ueding, Gert (Hg.). Historisches Wörterbuch der Rhetorik.
6. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1223–1230.
Aeppli, Jürg/Gasser, Luciano/Gutzwiller, Eveline/Tettenborn, Annette (2010). Empirisches wissenschaft-
liches Arbeiten. Ein Studienbuch für die Bildungswissenschaften. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bach, Gerhard/Viebrock, Britta (2012). Was ist erlaubt? Forschungsethik in der Fremdsprachenfor-
schung. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen, Metho-
den, Anwendung. Tübingen: Narr, 19–35.
Denscombe, Martyn (2010). Ground Rules for Social Research. Guidelines for Good Practice. 2. Auflage.
Maidenhead: Open University Press.
Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. München: Langen-
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scheidt. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7].


Eynon, Rebecca/Fry, Jenny/Schroeder, Ralph (2008). The ethics of internet research. In: Fielding, Nigel/
Lee, Raymond M./Blank, Grant (Hg.). The Sage Handbook of Online Research Methods. Los Angeles,
CA: Sage, 23–41.
Freeman, Donald (2009). What makes research qualitative? In: Heigham, Juanita/Crocker, Robert (Hg.).
Qualitative Research in Applied Linguistics. A Practical Introduction. Houndmills: Palgrave Macmil-
lan, 25–41.
Holliday, Adrian (2007). Doing and Writing Qualitative Research. 2. Auflage [Kap. 7: Writing about
Relations]. Los Angeles, CA: Sage, 137–163.
Johnson, R. Burke/Christensen, Larry B. (2008). Educational Research. Quantitative, Qualitative, and
Mixed Approaches. 3. Auflage. Los Angeles, CA: Sage.
Kitchener, Karen/Kitchener, Richard (2009). Social science research ethics: Historical and philosophical
issues. In: Mertens, Donna/Ginsberg, Pauline (Hg.). The Handbook of Social Research Ethics. Los
Angeles, CA: Sage, 5–22.
Küster, Lutz (2011). Entscheidungs(spiel)räume in der Fremdsprachenforschung. In: Bausch, Karl-
Richard/Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.). Erforschung des Lehrens
und Lernens fremder Sprachen: Forschungsethik, Forschungsmethodik und Politik. Tübingen: Narr,
135–145.
Macfarlane, Bruce (2009). Researching with Integrity. The Ethics of Academic Inquiry. London: Rout-
ledge.
Mackey, Alison/Gass, Susan M. (2005). Second Language Research. Methodology and Design. Mahwah,
NJ: Routledge, 25–42.
Miethe, Ingrid (2010). Forschungsethik. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, Annedore
(Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juven-
ta, 927–937.
Rallis, Sharon F./Rossman, Gretchen B. (2009). Ethics and trustworthiness. In: Heigham, Juanita/Croker,
Robert A. (Hg.). Qualitative Research in Applied Linguistics. A Practical Introduction. New York:
Palgrave Macmillan, 263–287.
Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Hohengehren: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7].

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116 4. Forschungsentscheidungen

Viebrock, Britta (2007). Kommunikative und argumentative Validierung: Zwischen Gütekriterien, Sub-
jektivität und forschungsethischen Fragestellungen. In: Vollmer, Helmut Johannes (Hg.). Empirische
Zugänge in der Fremdsprachenforschung. Herausforderungen und Perspektiven. Frankfurt/Main:
Lang, 73–87.
Viebrock, Britta (2015). Forschungsethik in der Fremdsprachenforschung. Eine systematische Betrach-
tung. Frankfurt/Main: Lang.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education [Chap-


ter 5. The ethics of educational and social research]. Hoboken: Taylor and Francis, 75–104.
Das Kapitel „The ethics of educational and social reseach“ gibt einen sehr umfassenden Überblick
sowohl zu grundsätzlichen Fragen der Forschungsethik (zusammengefasst in einem Modell for-
schungsehtischer Parameter auf S. 77) als auch zu praktischen Erfordernissen wie Zugang zum Feld
und Forschungsverträge. Ethische Kodizes einschlägiger Fachgesellschaften aus dem anglo-amerika-
nischen Raum werden eingeführt und kommentiert.
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Holliday, Adrian (2007). Doing and Writing Qualitative Research. 2. Auflage [Kap. 7: Writing
about Relations]. Los Angeles, CA: Sage, 137–163.
Auf der Grundlage extensiver Beispiele aus der fremdsprachendidaktischen Forschungspraxis werden
in diesem Handbuchkapitel Problemfälle beim Feldzugang und insbesondere bei der Gestaltung
der Beziehung mit den Forschungspartnern thematisiert. Angesichts der Tatsache, dass das Unter-
suchungsfeld eine andere Kultur als die der Forscherin aufweist, plädiert Holliday für konsequentes
kulturelles Lernen und eine culture of dealing, bei der sich die Forscherin der zu untersuchenden
Welt unterordnet.
Miethe, Ingrid (2010). Forschungsethik. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, An-
nedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft.
Weinheim: Juventa, 927–937.
In diesem erziehungswissenschaftlichen Handbuchartikel behandelt die Autorin die Themen (a) in-
formierte Einwilligung als Basis der Forschungsbeziehung, (b) Anonymisierung und (c) Publikation
bzw. die Frage der Rückmeldung von Ergebnissen. Dabei arbeitet sie besonders deutlich die jeweils
kontroversen Aspekte dieser drei Themen heraus.
Rallis, Sharon F./Rossman, Gretchen B. (2009). Ethics and trustworthiness. In: Heigham, Juanita/
Croker, Robert A. (Hg.). Qualitative Research in Applied Linguistics. A Practical Introducti-
on. New York: Palgrave Macmillan, 263–287.
Dieser von Erziehungswissenschaftlerinnen publizierte Artikel ist spezifisch für eine fremdsprachen-
didaktische Leserschaft verfasst worden und behandelt Ethik – neben kompetenter Praxis – als einen
Aspekt der Vertrauenswürdigkeit von Forschung. Glaubwürdigkeit, Genauigkeit und Nutzen fremd-
sprachendidaktischer Forschung werden deshalb ebenso thematisiert wie ethiktheoretische Ansätze
und ethische Aspekte wie Wahrung der Privatsphäre, Geheimhaltung und Vertraulichkeit sowie auch
Täuschung und Einwilligung, Vertrauen und Betrug.
Viebrock, Britta (2015) Forschungsethik in der Fremdsprachenforschung. Eine systematische
Betrachtung. Frankfurt/Main: Lang.
Diese erste umfassende Darstellung der Forschungsethik für den Gegenstandsbereich Fremdsprachen-
forschung bietet differenzierte Vertiefungen zu grundsätzlichen Fragestellungen (z. B. zur Integrität

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4.6 Forschungsethik 117

des Forschers, der Forscherin), zu theoretischen Konzepten und Hintergründen (z. B. Ethik-Theorien)
und praxisnahen Problemstellungen, die in dem vorliegenden Kapitel angesprochen werden.
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5. Forschungsverfahren

5.1 Grundsatzüberlegungen

Friederike Klippel

Im zentralen fünften Kapitel dieses Handbuches geht es um das methodische Kernelement


von Forschung: zum ersten um die wesentlichen Verfahren und Werkzeuge für die Daten-
gewinnung und -erhebung sowie die Zusammenstellung von Dokumenten (Kapitel 5.2.1
bis 5.2.8), zum zweiten um Verfahren und Instrumente für die Aufbereitung und Analyse
von Daten und Dokumenten (5.3.1 bis 5. 3. 11). Dieses Kapitel ist denn auch bei weitem
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das umfangreichste des Handbuchs. Die einzelnen Teilkapitel wurden von ausgewiesenen
Expert_innen für das jeweilige Verfahren verfasst; wie in Kapitel 4 illustrieren auch hier klare
Grafiken die zentralen Vorgehensweisen und Elemente der unterschiedlichen Forschungs-
methoden. Während Kapitel 4 die grundsätzlichen Forschungsentscheidungen im Hinblick
auf das zu wählende Design, auf Fragen des Sampling oder der Forschungsethik behandelt,
also Aspekte der Forschungsmethodologie, geht es hier vor allem um einzelne Forschungs-
methoden. Wir verstehen den Begriff Forschungsmethode bzw. Forschungsverfahren relativ
breit; Methoden oder Verfahren der Forschung bedienen sich unterschiedlicher Instrumente
oder Werkzeuge. So arbeitet die Methode der Befragung etwa mit dem Instrument Fra-
gebogen, zu dessen quantitativer Auswertung das Werkzeug SPSS in Anwendung kommen
kann. Auch das Interview ist ein Verfahren der Befragung; bei seiner Durchführung kann
als Instrument der Interviewleitfaden eingesetzt werden. Bei der Inhaltsanalyse etwa ist ein
Instrument das Kodierschema; dazu hilft als Werkzeug eine Software wie z. B. MAXQDA. Al-
lerdings lassen sich Werkzeuge und Instrumente nicht für jedes Forschungsverfahren sauber
voneinander trennen. Zugleich sind einige Werkzeuge bei der Anwendung unterschiedlicher
Verfahren einsetzbar.
Wenn im Folgenden die Verfahren für historische, theoretische und empirische Forschung
in dieser Reihenfolge im Einzelnen vorgestellt werden, dann bedeutet diese Reihung kei-
nerlei Wertung. Desgleichen ist mit der vergleichsweise breiten Darstellung von Verfahren
für die empirische Forschung nicht ausgesagt, dass diese Art von Forschung grundsätzlich
bedeutsamer sei als andere Forschungsansätze. Es ist jedoch unübersehbar, dass sich die
aktuelle Diskussion zu und Beschreibung von Forschungsmethoden fast ausschließlich auf
empirische Forschung bezieht, während historische und theoretisch-konzeptuelle Forschung
in den gängigen Handbüchern nur selten überhaupt beachtet werden. Insofern betritt dieses
Kapitel Neuland, indem es auch diese Herangehensweisen unter forschungsmethodischer
Perspektive thematisiert.
Die 19 Teilkapitel bieten eine breite Palette an geeigneten Forschungsmethoden für die
Fremdsprachendidaktik, wobei wir selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit

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120 5. Forschungsverfahren

erheben. Da sehr viele Autor_innen an Kapitel 5 mitgewirkt haben, ergibt sich an dieser
Stelle des Handbuchs eine gewisse Vielfalt der Stile und Sichtweisen. Zudem wird deutlich,
dass sich einzelne Instrumente und Werkzeuge nicht nur einem, sondern mehreren Verfah-
ren zuordnen lassen, da gewisse Affinitäten zwischen unterschiedlichen Verfahren bestehen.
In einem Handbuch, das Hilfen für die eigene Forschungsarbeit oder zur Betreuung von
Qualifikationsarbeiten bereitstellen möchte, sollte es vor allem um eine klare und konkrete
Darstellung der einzelnen Verfahren und Instrumente gehen. Diesem Ziel dienen die Über-
sichts-Grafiken, die fast allen Kapiteln zugeordnet sind. Weniger wichtig erschien es daher
aus Sicht der Herausgeber_innen, historische Entwicklungen von einzelnen Methoden, be-
stimmte Schulenbildungen oder Kontroversen zu einzelnen Forschungsmethoden detailliert
zu referieren.
Dieses Kapitel, in dem sehr viele Forschungsmethoden vorgestellt werden, mag vielleicht
den Charakter eines Menüs suggerieren, aus dem man nach Geschmack beliebig auswählen
kann. Sich über unterschiedliche Zugangsweisen in der Forschung zu informieren, hat jedoch
immer das Ziel, die für das jeweilige Forchungsvorhaben am besten geeignete Methode zu
finden. Die Passung von Forschungsfrage und Forschungsmethode spielt in jeder Forschungs-
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arbeit eine zentrale Rolle. Nicht jedes Verfahren eignet sich zur Bearbeitung jeder Forschungs-
frage; vielmehr muss auf der Basis des treibenden Erkenntnisinteresses überlegt werden,
wie man am besten zu Ergebnissen gelangt. Die eingesetzten Forschungsmethoden und ihre
Instrumente sind zudem nicht wertneutral, sondern tragen eine bestimmte Perspektive, ein
bestimmtes Menschenbild in sich. Daher gibt es durchaus gewisse Affinitäten zwischen dem
Wissenschafts- und Forschungsverständnis individueller Forscher_innen und deren bevor-
zugter Wahl von bestimmten Forschungsmethoden.
Neben die individuellen Präferenzen treten zeitbedingte Strömungen. Jede Epoche besitzt
häufiger und weniger beachtete Ausprägungen von Forschung, und zwar sowohl im Hinblick
auf die beforschten Bereiche und Themen als auch auf die forschungsmethodischen Ansätze.
Schließlich durchläuft auch die Forschungsmethodologie generell durch die fortwährende
Forschertätigkeit eine Entwicklung, die zur Verfeinerung, Ausweitung, Schärfung, Neuent-
wicklung oder auch zum Aufgeben bestimmter Verfahren führen kann. Noviz_innen in der
Forschung sollten daher bestehende Methoden oder Designs nicht einfach unreflektiert über-
nehmen, sondern – abhängig von der Forschungsfrage – durch ihre Ideen und Experimentier-
freude dazu beitragen, auch die Forschungsverfahren weiter zu entwickeln. Anregungen dazu
können aus der Kombination unterschiedlicher Methodologien, der Modifikation bekannter
Verfahren oder aus benachbarten Disziplinen kommen. Allerdings muss dabei beachtet wer-
den, dass sich nicht alles mit allem sinnvoll kombinieren lässt, da den einzelnen Ansätzen
unterschiedliche Auffassungen von Forschung zugrundeliegen können (s. Kapitel 2). Dass
solche forschungsmethodischen Innovationen in Qualifikationsarbeiten zudem nur in Ab-
sprache mit den betreuenden Wissenschaftler_innen vorgenommen werden sollten, ist selbst-
verständlich.
Betrachtet man die in diesem Kapitel vorgestellten Verfahren mit dem Ziel, unterschiedli-
che Arten des Forschens zu unterscheiden, dann ließe sich eine grobe Differenzierung in eher
zyklische und eher lineare Vorgehensweisen treffen. Hermeneutische, inhaltsanalytische und
hypothesen-generierende Ansätze beruhen ebenso wie die historische Forschung auf einer
wiederholten Befassung mit den zu analysierenden Texten, Dokumenten und Daten. Dem-

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5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten 121

gegenüber ist die hypothesenprüfende Vorgehensweise stärker linear und umfasst eine Reihe
von klar definierten, aufeinanderfolgenden Schritten. Eine Rückbindung an die theoretische
Grundlegung, die man als zyklisches Element ansehen könnte, erfolgt in diesen Verfahren
vor allem im Zuge der Interpretation und Diskussion der Ergebnisse.
Angesichts der Fülle der möglichen forschungsmethodischen Zugriffe ist es für Forschungs-
noviz_innen oft schwer, sich für ein bestimmtes Verfahren zu entscheiden. Die Wahl der
Forschungsmethode ist eine zentrale Weichenstellung für die gesamte Arbeit und bedarf
gründlicher Überlegungen. Dieses Kapitel soll dabei helfen, die gesamte Breite der for-
schungsmethodischen Optionen und deren besondere Stärken bewusst werden zu lassen.
Als Illustration für ein spezifisches Vorgehen dienen jeweils Referenzarbeiten, die als Bei-
spiele ausgewählt wurden, weil in ihnen die forschungsmethodische Umsetzung besonders
gelungen ist. Insofern liefert dieses Großkapitel auch die Möglichkeit, an guten Beispielen
zu lernen.
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5.2 Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten

Karen Schramm

Dieser Abschnitt thematisiert Verfahren der Dokumenten-, Text- und Datengewinnung. Diese
stellen einen zentralen Arbeitsschritt im Forschungsprozess dar, der zwar prinzipiell nach
der forschungsfragebasierten Design-Erstellung (s. Kapitel 3 und 4) und vor der Datenauf-
bereitung und -analyse (s. Kapitel 5.3) zu verorten ist. Dennoch ist zu betonen, dass sich diese
Arbeitsschritte – insbesondere bei explorativ-interpretativen Forschungsarbeiten – nicht ein-
fach in linearer Abfolge sukzessiv abarbeiten lassen, sondern dass aufgrund der komplexen
Zusammenhänge spiralförmig voranschreitende Vorgehensweisen bzw. dabei vorzunehmen-
de kontinuierliche Verfeinerungen notwendig sind.
Gelingt es, das Forschungsdesign und die entsprechende Größe des Dokumenten-, Text-
oder Datenkorpus hinreichend zu präzisieren, so lässt sich bei der Gewinnung dieses Korpus
eine überdimensionierte Ansammlung vermeiden. Die Forschungspraxis zeigt jedoch, dass
die gezielte Eingrenzung allzu häufig Schwierigkeiten bereitet. Im Bereich der empirischen
Forschung wird darauf scherzhaft mit der Metapher von Datenfriedhöfen Bezug genommen;
damit ist die Ansammlung von Daten gemeint, die aufgrund der für die Auswertung zur
Verfügung stehenden zeitlichen Ressourcen nicht analysiert werden können. Diesen unglück-
seligen Fall schon im Vorfeld zu vermeiden, erscheint mit Rücksicht auf die Anstrengungen,
die eine Datenerhebung den Forschungspartner_innen abverlangt, genauso wichtig wie im
Hinblick auf die begrenzten Ressourcen der erhebenden Forschenden selbst.
Grundlegend unterscheiden wir in diesem Handbuch zwischen dem Erfassen und dem
Erheben und nutzen den Begriff der Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten (s.
zu dieser Unterscheidung Kapitel 4.1) als Oberbegriff für beide Verfahren. Das Konzept des
Erfassens bezieht sich dabei auf Dokumente, Texte und Daten, die unabhängig von der jewei-
ligen Forschungsarbeit vorzufinden sind. Wie Abbildung 1 verdeutlicht, kann dieses Erfassen

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122 5. Forschungsverfahren

sich erstens konkret auf den Unterricht beziehen (beispielsweise auf das Einsammeln von
lehrer- und lernerseitigen Arbeitsprodukten wie Unterrichtsplanungen oder Aufsätze). Es
wurde in der forschungsmethodischen Diskussion bislang kaum thematisiert; das in die-
ser Hinsicht innovative Kapitel 5.2.7 ist solchen Verfahren gewidmet. Zweitens ist für die
Fremdsprachendidaktik auch die Erfassung von Dokumenten und Texten von Interesse, die
über konkrete Unterrichtssituationen hinausreichen und die entweder auf eine Dokumenten-
sammlung für historische Forschungsarbeiten (s. Kapitel 5.2.1) oder eine Textsammlung für
theoretische Studien (s. Kapitel 5.2.2) hinauslaufen.
Im Gegensatz zum Erfassen ist für das Erheben die Tatsache charakteristisch, dass die
gewonnenen Daten ohne die Forschungsarbeit nicht existierten. Abbildung 1 zeigt die vielen
Verfahren zur Datenerhebung, die in der Fremdsprachendidaktik Beachtung finden: Hier
ist zunächst einmal die häufig getroffene Unterscheidung von Beobachten und Befragen
relevant. Die vielfältigen Formen des Beobachtens (unter anderem die ethnographisch moti-
vierte teilnehmende Beobachtung mit Feldnotizen, die gesteuerte Beobachtung anhand von
Beobachtungsbögen oder die videographische Beobachtung) werden in Kapitel 5.2.3 thema-
tisiert. Befragungen in Form von Fragebögen und Interviews stellt Kapitel 5.2.4 vor. Die in
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Kapitel 5.2.5 aufgefächerten Verfahren der Introspektion sind in Abbildung 1 zwischen dem
Beobachten und Befragen abgebildet, da Verfahren des Lauten Denkens und des Lauten Er-
innerns einerseits ähnlich wie Befragungen auf Impulsen der Forschenden beruhen, aber
andererseits ähnlich wie Beobachtungen nicht-kommunikativ bzw. auch in Abwesenheit der
Forschenden ablaufen können. Auch der Themenbereich des Testens ließe sich begrifflich
der Befragung zuordnen; aufgrund der Bedeutung dieses Bereichs wurde er in Abbildung 1
jedoch ausgegliedert und wird in einem eigenen Kapitel (5.2.8) ausführlich behandelt. Im Fall
des Kapitels zur Lernersprache und Korpuserstellung (5.2.6) hat es sich als gewinnbringend
erwiesen, das Erfassen und Erheben gemeinsam zu thematisieren, sodass dieses Kapitel in
Abbildung 1 entsprechend platziert ist.
Als wesentlich für die Charakterisierung von empirischen Unterrichtsdaten wird seit spä-
testens den 1980er Jahren die Unterscheidung von Produkt- und Prozessdaten betrachtet.
In Abbildung 1 weist die hell- und dunkelgraue Markierung auf diese (nicht immer trenn-
scharfe) Dichotomie hin, die zwischen den punktuellen Ergebnissen des Lernens, dem Pro-
dukt, und dem zeitlich ausgedehnten Vorgang des Lernens, dem Prozess, unterscheidet: Als
eher produktorientiert sind die unterrichtsbezogene Erfassung von Daten, das Erfassen und
Erheben von Lernersprache und das Testen zu charakterisieren, während das Beobachten, das
Befragen und die Introspektion sich besonders für die Erforschung von (meta-)kognitiven,
affektiven und sozialen Prozessen eignen.
Steht bei einer Untersuchung die sprachliche oder kulturelle Entwicklung von Lernenden
über einen längeren Zeitraum im Vordergrund, erweist sich auch die begriffliche Unterschei-
dung von Längs- und Querschnittdaten als zentral. Dabei zeichnen Längsschnittdaten die
tatsächliche Entwicklung von Personen über einen längeren Untersuchungszeitraum nach,
während Querschnittdaten Personengruppen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien (z. B.
Klassenstufen oder Sprachniveaus) untersuchen, um auf der Grundlage einer Datenerhebung
zu einem einzigen Zeitpunkt Aussagen über angenommene Entwicklungsprozesse zu treffen.

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4.6.6 Fazit 123

Erfassen
Erfassen unterrichts-

terricht
im Un-
eher prozessbezogen

bezogener Produkte

erstellung
Design-
(5.2.7)

(3 & 4)
Dokumentensammlung
für historische Studien

außerhalb des
(5.2.1)

Unterrichts
Textsammlung für
theoretische Studien
(5.2.2)
eher produktbezogen
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Text- und Daten-


Lernersprache und

Dokumenten-,
Korpuserstellung

gewinnung
(5.2.6)
(5.2)
Erheben

Beobachtung
(5.2.3)

Introspektion
(5.2.5)
bereitung und

Befragungen
(5.2.4)
Datenauf-
Analyse
(5.3)

Testen
(5.2.8)

Abbildung 1: Übersicht über Verfahren zur Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten

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124 5. Forschungsverfahren

5.2.1 Dokumentensammlung

Elisabeth Kolb/Friederike Klippel

Wenn das Erkenntnisinteresse einer Forschungsarbeit darin liegt, gegenwärtige Prozesse und
Zustände oder vergangene Epochen und Ereignisse zu beschreiben, zu interpretieren und
zu bewerten, so ist es nötig, sich auf Dokumente zu stützen, die diese Gegebenheiten reprä-
sentieren. Um tatsächlich gültige Aussagen treffen zu können, muss diese Analyse auf einer
möglichst breiten, objektiven, systematischen, repräsentativen und validen Basis an Belegen
beruhen. Daher sind wichtige Forschungsstrategien die Suche, Sammlung, Auswahl und An-
ordnung von Dokumenten. Dabei ist der Begriff ‚Dokument‘ ganz allgemein zu verstehen als
„a record of an event or process“ (McCulloch 2011: 249) und kann je nach Forschungsinteres-
se unterschiedliche Realisierungen aufweisen. Dokumente können von Daten derart unter-
schieden werden, dass erstere jegliche Art von schriftlichen oder gegenständlichen Belegen
umfassen, die nicht speziell für das Forschungsprojekt generiert wurden, wohingegen Daten
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erst durch die eingesetzten Erhebungsverfahren geschaffen werden. Während mit Heuristik
der erste Schritt des Auffindens von Dokumenten beschrieben ist, verlangt die anschließende
Korpuserstellung begründete Entscheidungen dazu, welche der gefundenen Dokumente aus-
gewählt und analysiert werden sollen. Im Folgenden werden 1. für fremdsprachdidaktische
Forschung relevante Dokumenttypen vorgestellt, 2. die Schritte bei Heuristik und Korpuser-
stellung erläutert und 3. konkrete Verfahrensweisen, Schwierigkeiten bei der Sammlung ver-
schiedener Dokumente und der Umgang damit dargestellt.

1 Welche Dokumente kommen in Frage?


Terminologie

Grundsätzlich werden in Abgrenzung zu 5.3.1 unter Dokumenten Texte, Materialien und Me-
dien verstanden, die nicht im Kontext aktueller wissenschaftlicher Arbeit als wissenschaftliche
(Sekundär-)Literatur entstanden sind, sondern ursprünglich einem anderen Zweck dienen.1
Während die Bezeichnung Dokument vor allem in der sozialwissenschaftlichen Forschung
Verwendung findet, wird in der Geschichtswissenschaft eher von Quellen gesprochen; diese
Begrifflichkeit differenziert nach gegenwärtiger bzw. vergangener Entstehungszeit (Glaser
2010: 366–367). Allerdings ist insbesondere für historische Forschungsarbeiten diese Kate-
gorisierung nicht eindeutig: So können beispielsweise Zeitschriftenaufsätze oder Rezensionen
in ihrer Entstehungszeit Dokumente gewesen sein, während sie jetzt als Quellen zur Rekon-
struktion vergangener Geschehnisse oder Zeitabschnitte herangezogen werden.
Weiterhin können Primär- und Sekundärdokumente unterschieden werden: Während ers-
tere von Zeitzeugen oder direkt Beteiligten produziert werden, verwenden letztere Primär-
dokumente, um ein Ereignis oder eine Epoche zu rekonstruieren und zu beschreiben. Auch
hier gibt es fließende Übergänge zwischen diesen beiden Polen: Ein Zeitgenosse kann mit

1 Somit werden vor allem diejenigen Texte ausgeschlossen, die bei jeder Forschungsarbeit gefunden werden
müssen, um den Stand der Forschung zu referieren. Dennoch ist das heuristische Verfahren jeweils ganz
ähnlich beschaffen (vgl. Kapitel 6.3).

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5.2.1 Dokumentensammlung 125

zeitlichem Abstand, z. B. in seiner Autobiographie, Gegebenheiten darstellen; ein derartiger


Rückblick kann deutlich anders aussehen als ein zeitgenössischer Bericht (McCulloch 2011:
249).

Relevante Arten von Dokumenten

Für die fremdsprachendidaktische Forschung äußerst relevant ist die Einteilung nach den
Urhebern der Dokumente sowie nach dem Vertriebsweg bzw. der Zugänglichkeit der Doku-
mente (vgl. Scott 1990: 14–18). Ausgehend von der Zugehörigkeit zu verschiedenen Kom-
munikationsbereichen können hauptsächlich offizielle, halboffizielle, öffentliche und private
Dokumente unterschieden werden.
• Offizielle Dokumente werden von staatlichen Institutionen veröffentlicht und in erster
Linie auch rezipiert. Dazu gehören z. B. Gesetze, Lehrpläne, Stundentafeln, Verordnungen
und Verträge. Sie zeigen, wie der Staat als Akteur Organisation und Ablauf von (Fremd-
sprachen-)Unterricht konzeptionell vorgibt. Diese Dokumente erlauben nur in begrenztem
Maß Rückschlüsse auf die Unterrichtswirklichkeit und sind vielmehr als Absichtserklärun-
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gen auf der Makroebene der Schul- und Unterrichtsorganisation zu sehen (Fend 2006: 167;
Kolb 2013: 38–40).
• Halboffizielle Dokumente entstehen in der Kommunikation zwischen Institutionen und
Privatpersonen. Wenn auch die Zuordnung nicht immer eindeutig ist, so können dazu
Schulprogrammschriften, Stoffverteilungspläne, schulinterne Curricula, Unterrichtsent-
würfe, Jahresberichte, Klassenbücher, Schülerzeitungen, Zeugnisse, Tests usw. gezählt
werden (s. Kapitel 5.2.7). Während einige dieser Dokumenttypen eher innerhalb der In-
stitution Schule rezipiert werden, haben andere auch außerhalb ein Publikum, z. B. Eltern.
Sie spiegeln amtliche Positionen wider, sind aber gleichzeitig als Dokumente der Meso-
ebene der schulischen Institutionen oder als Dokumente der Mikroebene des Unterrichts
auch näher an der Unterrichtsrealität (Fend 2006: 167).
• Zu den privaten Dokumenten, die von unterschiedlichen Beteiligten stammen können,
zählen beispielsweise Tagebücher von Lernenden und Lehrenden, Interviews, Briefe oder
(Auto-)Biographien von Bildungspolitikern, Fremdsprachendidaktikern oder Sprachenler-
nenden. Am Übergang zwischen halboffiziellen und privaten Dokumenten befinden sich
Lernertexte (z. B. ausgefüllte Arbeitsblätter, Klassenarbeiten, Aufsätze oder Portfolios) (s.
Kapitel 5.2.7). Diese und viele weitere Dokumente geben kleine, subjektiv gefärbte Aus-
schnitte aus verschiedenen Bereichen wieder und müssen daher, was Zuverlässigkeit und
Korrektheit betrifft, vorsichtig rezipiert und interpretiert werden (s. Kapitel. 5.3.1).
• Als öffentlich können Dokumente bezeichnet werden, wenn sie in irgendeiner Form ver-
öffentlicht sind, so dass sie bei Interesse relativ leicht zugänglich sind. Dazu sind verschie-
dene Dokumente und Quellen zu zählen wie Rezensionen, Zeitschriften- und Zeitungs-
artikel, Konferenzberichte, Statistiken, kommerzielle Selbstlernmaterialien, Lehrwerke und
zugehörige Medien, Plakate, Anzeigen, Graffiti oder auch literarische Texte.
Was die Zugänglichkeit betrifft, so können schriftliche Dokumente beispielsweise frei im
Buchhandel erhältlich sein oder in Bibliotheken bereitgestellt werden, sie können in Archiven
vorhanden sein, oder sie können nur intern einem begrenzten Adressatenkreis (z. B. als Ar-

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126 5. Forschungsverfahren

beitspapier oder als private Nachricht) verfügbar sein (vgl. Scott 1990: 14–18). Schriftliche
Dokumente aus allen o. g. Kategorien, die nicht öffentlich zugänglich sind, sondern inner-
halb eines bestimmten Rezipientenkreises zirkulieren, werden als graue Literatur bezeichnet
(Bortz/Döring 2006: 360). Da sie meist schwierig aufzufinden sind, werden sie oft vernach-
lässigt; sie bieten jedoch viele Gelegenheiten, neue Erkenntnisse zu bestimmten Diskursen
zu gewinnen, etablierte Sichtweisen zu ergänzen und möglicherweise gar zu revidieren. Im
Internet werden solche Texte zwar gelegentlich auf privaten Webseiten oder in Foren ver-
öffentlicht; dadurch sind sie aber nicht automatisch leichter zu finden.
Ein weiterer wichtiger Anhaltspunkt, um zu analysierende Dokumente auszuwählen, ist
das Medium. Neben gedruckten Texten sollten auch andere mediale Realisierungsformen be-
achtet werden. Lohnend kann beispielsweise die Analyse von (audio-)visuellen Dokumenten
wie Bildern, Fotografien, Cartoons, (Spiel-)Filmen, CDs oder Overheadfolien sein, wobei
diese visuellen bzw. audiovisuellen Dokumente sowohl die Perspektive der Lehr- und Unter-
richtsmaterialien als auch die der Lernerprodukte verkörpern können. Für fachhistorische
Untersuchungen sind etwa Lehrbuchillustrationen, frühe Formen von Unterrichtsmedien
oder verwendete Realien des Ziellandes aufschlussreich. Auch an multimediale und elektro-
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nische Quellen und Software (Blogs, Webseiten, Chat-Daten, Emails, Lernmaterialien auf
CD-Rom etc.) ist zu denken. Für einige methodische Ansätze sind bestimmte reale Gegen-
stände konstitutiv, etwa die cuisenaire rods und fidel charts für den Silent Way. Selbstver-
ständlich können Realien und Objekte wie Gebäude, Klassenzimmerausstattungen, Sprach-
labore, technische Hilfsmittel (Hardware), Wandtafeln usw. in eine Untersuchung einbezogen
werden; diese Arten von Dokumenten werden auch Relikte genannt (Johnson/Christensen
2012: 416).
Natürlich ist es durchaus möglich, verschiedene Dokumententypen für eine einzelne Studie
zu sammeln und auszuwerten. Dabei werden zuweilen halboffizielle oder private Dokumente,
die im Unterrichtsbetrieb ohnehin anfallen (etwa Lernertexte) kombiniert mit gezielt er-
hobenen Daten für den Forschungszweck. So werden beispielsweise in der Referenzarbeit
von Schmidt (2007, s. Kapitel 7) Anfangs- und Abschlussfragebögen, Video- und Audioauf-
nahmen aus dem Unterricht, Feldnotizen, Lernertexte, Interviews und Lerntagebücher ver-
wendet (Schmidt 2007: 186–203). Ähnlich sieht es bei Bellingrodt (2011) aus, die Fragebögen,
Interviews und verschiedene Dokumente aus den Portfolios der Lernenden einbezieht. Wenn
unterschiedliche Dokumentarten für eine gemeinsame Fragestellung herangezogen werden,
muss im Rahmen der Triangulation eine Verknüpfung der verschiedenen Perspektiven erfol-
gen (siehe dazu Kapitel 4.4).

2 Wie laufen Heuristik und Korpuserstellung ab?


Bevor mit der Sammlung jeglicher Art von Dokumenten begonnen werden kann, müssen
das Forschungsinteresse, der Forschungszweck oder die Ausgangshypothese genau bestimmt
werden. Dabei haben folgende Fragen Leitfunktion:
• Was ist der Forschungsgegenstand?
• Welche Forschungsfragen sollen beantwortet werden?

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5.2.1 Dokumentensammlung 127

Es ist wichtig, diese Aspekte sorgfältig zu bestimmen, damit die nachfolgende Suche und
Auswahl der Dokumente eingegrenzt werden können und nicht zu wenig oder zu viele Do-
kumente eingeschlossen werden (vgl. Keller 2011: 80–87). Vielfach finden sich in der gesich-
teten Forschungsliteratur zum Forschungsfeld bereits Hinweise auf aufschlussreiche Arten
von Dokumenten.
In einem zweiten Schritt sind folgende Überlegungen anzustellen:
• Anhand welcher Dokumente kann den Forschungsfragen nachgegangen werden?
• Welche örtliche und zeitliche Eingrenzung der Dokumentenauswahl ist sinnvoll?
Diese Vorgehensweise zeigt sich sehr gut in der Referenzarbeit von Doff (2002, s. Kapitel 7),
in der eine Konzentration auf Preußen und auf das späte 19. Jahrhundert erfolgt. Genauso
geht Kolb (2013) vor, wenn sie verschiedene europäische Länder und den Zeitraum von
1975 bis 2011 auswählt. Derartige lokale und temporale Beschränkungen können von den
Forschungsfragen abhängen, aber auch ganz pragmatisch durch die Verfügbarkeit von Doku-
menten bedingt sein. Letzerer Aspekt zeigt sich oft erst, wenn Heuristik und Korpuserstellung
bereits begonnen haben. Allerdings kann es auch notwendig sein, den betrachteten Zeitraum
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auszuweiten, wenn relevante Dokumente auch noch später veröffentlicht wurden oder das
Forschungsthema nur im Vergleich mit früheren oder späteren Entwicklungen zufrieden-
stellend bearbeitet werden kann. Dies ist z. B. gerade bei Lehrplänen der Fall, die häufig
Fortschreibungen früherer Versionen sind (Kolb 2013).
Nach diesen beiden vorbereitenden Schritten beginnt die eigentliche Heuristik, bei der zu
klären ist, wo und wie sich die Dokumente ausfindig machen lassen. Ausgeschlossen bleiben
soll hier die selbstständige Gewinnung von Daten durch Beobachtung oder Befragung (s.
Kapitel 5.2.3 und 5.2.4). Bei der Suche und Auswahl von bereits existierenden Dokumenten
sind verschiedene Verfahren denkbar, die sich gegenseitig ergänzen können:
• Systematische Suche oder Suche nach dem Schneeballprinzip (vgl. Roos/Leutwyler 2011:
25–46)
• Vollständige Erfassung aller möglichen Dokumente oder Auswahl einer Stichprobe
Sowohl das Schneeballverfahren als auch die systematische Suche werden in der Referen-
zarbeit von Doff (2002) und bei Kolb (2013) angewendet. Bei ersterem Verfahren werden
neuere Sekundärliteratur oder Quellensammlungen zum gewählten Thema gesucht und an-
hand deren Bibliographien weitere Dokumente ausfindig gemacht (Doff 2002: 16; Kolb 2013:
140–142, 237–241, 306–309). Dieser Vorgang wird so oft wiederholt, bis genügend Doku-
mente vorliegen, wobei sich meist zeigt, dass gewisse Dokumente und Quellen als Standard
in unterschiedlicher Literatur immer wieder genannt werden (Roos/Leutwyler 2011: 30). Bei
letzterer Vorgehensweise werden beispielsweise Bibliographien und komplette Zeitschriften-
jahrgänge nach relevantem Material durchgesehen (Doff 2002: 16) oder Datenbanken und
Bibliothekskataloge anhand von Stichwörtern oder Autorennamen durchsucht (Kolb 2013:
142, 239, 308).
Zu Beginn der Suche sollte darauf geachtet werden, so breit wie möglich vorzugehen, um
nicht zu früh potentiell interessante und ergiebige Dokumente auszuschließen. Dabei hän-
gen Forschungsinteresse und Sammlung von Materialien eng zusammen: Einerseits werden
Dokumente, die sich beim ersten Durchsehen als zur Fragestellung passend erweisen, einbe-

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128 5. Forschungsverfahren

zogen; andererseits können die Forschungsfragen durch aufgefundene Dokumente erweitert


oder verändert werden. Dies wiederum hat Einfluss auf die weitere Recherche. Es bestehen
somit Parallelen zum theoretical sampling (s. Kapitel 5.3.3): Dieses Verfahren der Groun-
ded Theory bedeutet, dass der Auswahlplan nicht vorher festgelegt wird, sondern auf Basis
der Vorkenntnisse und der im Forschungsprozess entstandenen Hypothesen und Theorien
schrittweise entwickelt wird (vgl. Glaser/Strauss 2010: 61–65; s. Kapitel 5.3.3). Sammlung
und Analyse der Dokumente laufen zirkulär ab. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Recherche-
prinzipien offengelegt werden, damit so Suche und Auswahl der Dokumente intersubjektiv
nachvollzogen werden können.
Die Frage, wann die Dokumentensammlung abgeschlossen werden kann, stellt sich für
jede Art von Forschungsarbeit etwas anders. Beispielsweise bestimmt Freitag-Hild ein Korpus
literarischer Texte für die Erprobung in Unterrichtsvorhaben, das auf deren Thematik und
ihrer fremdsprachendidaktischen Eignung basiert (2010: 4–9), oder Summer (2011: 83–87)
begründet ihre Analyse der Grammatikdarstellung in ausgewählten Lehrwerken mit Bezug
auf Schulform, Niveaustufe und Thema. In historischen, hermeneutischen, diskursanalyti-
schen, aber auch anderen Ansätzen wird man jedoch häufig weiterrecherchieren, bis eine
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Sättigung erreicht ist. Dies bedeutet, dass keine weiteren Dokumente mehr gefunden werden
können, die neue Erkenntnisse liefern (s. Glaser/Strauss 2010: 76–78). Das Material für den
entsprechenden Aspekt der Forschungsfrage kann dann als vollständig angesehen und, falls
nötig, die Suche für einen anderen Gesichtspunkt fortgesetzt werden.
Aus der Gesamtheit der gefundenen Dokumente ist das Korpus zu erstellen, mit dem
weitergearbeitet wird. Begrifflich lassen sich so imaginäres Korpus (Menge aller jemals
existierenden Dokumente zu einem Thema), virtuelles Korpus (Menge der noch erhaltenen
Dokumente) und konkretes Korpus (Menge der tatsächlich analysierten Dokumente) unter-
scheiden (s. Landwehr 2008: 102–103). Kriterien für die Auswahl von Dokumenten sind ihre
Repräsentativität, ihre genügend große Anzahl und ihre thematische und zeitliche Breite (s.
Landwehr 2008: 103). In manchen Untersuchungen kann es wichtig sein, die Gesamtheit aller
auffindbaren Dokumente einzubeziehen (s. Kolb 2013 für die Analyse aller Lehrplanversio-
nen im Untersuchungszeitraum); in anderen Fällen ist die Auswahl einer Stichprobe für die
Fallanalyse einer bestimmten Frage möglicherweise sinnvoller: So konzentriert sich Doff
(2008) auf die durch eine Umfrage unter Experten bestimmten Standardwerke bzw. auf durch
Zitationsanalyse ausgewählte Zeitschriftenartikel (Doff 2008: 72–84). Dokumente, die näher
analysiert werden sollen, können entweder dem Prinzip der maximalen Kontrastierung – also
nach größtmöglicher Unterschiedlichkeit – oder dem Prinzip der minimalen Kontrastierung
folgend – nach einer möglichst starken Ähnlichkeit – ausgewählt und angeordnet werden (s.
Keller 2011: 92).

3 Welche Probleme und Hilfsmittel existieren?


Bevor jedoch die nähere Analyse des Korpus erfolgen kann (vgl. z. B. die methodische Be-
schreibung von Quellenkritik und -analyse in Kapitel 5.3.1), müssen die gefundenen Doku-
mente genau erfasst werden. Für gedruckte Dokumente sind Entstehungsdatum und -ort,
Umfang, Autoren und Zusammenfassungen der Kernaussagen zu notieren. Auch andere
Arten von Dokumenten müssen in einer informativen und konsistenten Weise erfasst wer-

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5.2.1 Dokumentensammlung 129

den. Die Erstellung einiger dieser Angaben, aber auch weitere Elemente des Prozesses der
Dokumentensammlung können Probleme bereiten. So können die Autoren unbekannt sein
oder bewusst anonym gehalten werden; dies ist beispielsweise bei Lehrplänen häufig der Fall.
Besonders bei älteren Dokumenten kann die Datierung schwierig sein. Sollte eine Klärung
von Autorschaft und Datum nicht möglich sein, so ist dies ebenfalls zu vermerken. Auch kön-
nen die Dokumente unvollständig sein oder Unklarheiten enthalten. Hier kann nur versucht
werden, durch Vergleich mit anderen Quellen und Dokumenten die fehlenden Informationen
zu erschließen.
Entscheidend dafür, wie aufwendig die Dokumentensammlung ist, ist jedoch hauptsächlich
die Frage, um welche Art von Dokumenten es sich handelt. Soll unveröffentlichtes Material
aus der Gegenwart verwendet werden, so kann es hilfreich sein, sich direkt an Autoren und
andere Akteure zu wenden und um Manuskripte und die Erlaubnis, diese zu verwenden,
zu bitten (vgl. Kolb 2013: 254, 307). Bei historischen Dokumenten sind Archive die Haupt-
anlaufstelle, während neuere Dokumente sich häufig über Datenbanken, Bibliotheks- und
Buchhandelskataloge oder das Internet recherchieren lassen. Teilweise gibt es für historische
Forschung auch Quellen- und Dokumentensammlungen, auf die man sich bei der Recherche
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stützen kann (vgl. Doff 2002: 16–17). Beispiele hierfür sind Kössler (1987) für Schulpro-
grammschriften, Schröder (1975) für Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien bis 1900 sowie
Christ/Rang (1985) und Christ/Müllner (1985) für Lehrpläne. Lehrwerke werden durch das
Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung zugänglich gemacht (http://
www.gei.de).
Zur Suche von Monographien bietet sich nach den jeweiligen Hochschulbibliotheken die
Metasuche über den Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK) an, mit der weltweit nach Me-
dien gesucht werden kann (http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html). Für Zeitschriften
ist die Elektronische Zeitschriftenbibliothek der Universität Regensburg (EZB, http://rzblx1.
uni-regensburg.de/ezeit/) nützlich. Gerade für die deutschsprachige Pädagogik und Didaktik
lassen sich die FIS Literaturdatenbanken (http://www.fachportal-paedagogik.de/start.html)
sowie besondere Fachdatenbanken, die über die Hochschulbibliotheken ausfindig gemacht
werden können, verwenden. Über das Informationszentrum für Fremdsprachenforschung in
Marburg können Bibliographien aus der dortigen Literaturdatenbank angefordert werden
(http://www.uni-marburg.de/ifs). In gedruckter Form liegt die ebenfalls in Marburg verant-
wortete Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht vor, die seit 1970 fremdsprachen-
didaktische Veröffentlichungen und auch graue Literatur bibliographiert. Über die Deutsche
Nationalbibliographie können außer Printmedien auch audiovisuelle Medien, elektronische
Medien, Karten und Online-Ressourcen recherchiert werden (http://dnb.dnb.de). Weitere
Hilfen zur Literaturrecherche im Internet und in Bibliotheken finden sich bei Franke/Klein/
Schüller-Zwierlein (2010).
Die Suche nach Dokumenten jeder Art erfordert Findigkeit, Geduld und Gründlichkeit.
Diese wichtige Phase im Forschungsprozess sollte nicht unterschätzt werden, da im kumula-
tiven Prozess des Suchens, Findens, Einordnens und Aussortierens sich auch die Forschungs-
fragen weiter klären und man mit dem zu analysierenden Material zunehmend vertraut wird.

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130 5. Forschungsverfahren

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
*Bellingrodt, Lena Christine (2011). ePortfolios im Fremdsprachenunterricht. Empirische Studien zur
Förderung autonomen Lernens. Frankfurt/M.: Peter Lang.
Bortz, Jürgen/Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwis-
senschaftler. Heidelberg: Springer.
Christ, Herbert/Müllner, Klaus (1985). Richtlinien für den Unterricht in den neueren Fremdsprachen in
den Schulen der BRD 1945–1984. Eine systematische Bibliographie. Tübingen: Narr.
Christ, Herbert/Rang, Hans-Joachim (1985). Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung.
7 Bände. Tübingen: Narr.
*Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. München: Langenscheidt-
Longman. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
*Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949–1989. Konzeptuelle Genese einer Wissenschaft
im Dialog von Theorie und Praxis. München: Langenscheidt.
Fend, Helmut (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen.
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Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.


Franke, Fabian/Klein, Annette/Schüller-Zwierlein, André (2010). Schlüsselkompetenzen. Literatur re-
cherchieren in Bibliotheken und Internet. Stuttgart: Metzler.
*Freitag-Hild, Britta (2010). Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkul-
tureller Literaturdidaktik. ‚British Fictions of Migration‘ im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT.
Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (2010). Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern:
Huber.
Glaser, Edith (2010). Dokumentenanalyse und Quellenkritik. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/
Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft.
3., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim: Juventus. 365–375.
Johnson, Burke/Christensen, Larry (2012). Educational Research. Quantitative, Qualitative, and Mixed
Approaches. 4. Auflage. London: Sage.
Keller, Reiner (2011). Diskursforschung. Eine Einführung für Sozialwissenschaftlerinnen. 4. Auflage.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
*Kolb, Elisabeth (2013). Kultur im Englischunterricht. Deutschland, Frankreich und Schweden im Ver-
gleich (1975–2011). Heidelberg: Winter.
Kössler, Franz (1987). Verzeichnis von Programm-Abhandlungen deutscher, österreichischer und schwei-
zerischer Schulen der Jahre 1825–1918. München: Saur.
Landwehr, Achim (2008). Historische Diskursanalyse. Frankfurt/M.: Campus.
McCulloch, Gary (2011). Historical and Documentary Research in Education. In: Cohen, Louis/Manion,
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Roos, Markus/Leutwyler, Bruno (2011). Wissenschaftliches Arbeiten im Lehramtsstudium. Bern: Huber.
*Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht. Eine em-
pirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s.
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Schröder, Konrad (1975). Lehrwerke für den Englischunterricht im deutschsprachigen Raum. 1665–1900.
Einführung und Versuch einer Bibliographie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
Scott, John (1990). A Matter of Record. Documentary Sources in Social Research. Cambridge: Polity
Press.

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5.2.1 Dokumentensammlung 131

5.2.1 Dokumentensammlung
Forschungsgegenstand
Forschungsfrage(n)

Eingrenzung
zeitlich, örtlich, bildungspolitisch, etc.
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132 5. Forschungsverfahren

*Summer, Theresa (2011). An Evaluation of Methodological Options for Grammar Instruction in EFL
Textbooks. Are Methods Dead? Heidelberg: Winter.

»» Webseiten

Deutsche Nationalbibliographie: http://dnb.dnb.de


Elektronische Zeitschriftenbibliothek: http://rzblx1.uni-regensburg.de/ezeit/
FIS Literaturdatenbanken: http://www.fachportal-paedagogik.de/start.html
Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung: http://www.gei.de
Informationszentrum für Fremdsprachenforschung: http://www.uni-marburg.de/ifs
Karlsruher Virtueller Katalog: http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html

»» Zur Vertiefung empfohlen

McCulloch, Gary (2004). Documentary Research in Education, History and the Social Sciences.
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

London: Routledge Falmer.


In dieser Monographie wird die Bedeutung von Dokumenten für geistes- und sozialwissenschaftliche
Forschung dargelegt. Recherche- und Analysemethoden werden erklärt und an Beispielen erläutert,
wobei ein breites Spektrum an Dokumenten abgedeckt wird.
Prior, Lindsay (2011). Using Documents and Records in Social Research. 4 Bände. Los Angeles:
Sage.
In dieser vierbändigen Sammlung von Beiträgen werden alle Aspekte des Forschungsprozessses
(Planung, Dokumentensammlung, Interpretation und Synthese der Ergebnisse) anhand von Bei-
spielen aus den Sozialwissenschaften dargestellt. Die vier Bände legen jeweils einen Schwerpunkt
auf Dokumenttypen, Dokumente als soziale Konstrukte, Verwendung von Dokumenten in der Praxis,
Vernetzung zwischen verschiedenen Dokumenten.

5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten)

Barbara Schmenk

Theoretische Arbeiten in der Fremdsprachenforschung können ganz unterschiedlicher Natur


sein und umfassen sowohl Arbeiten zur Theorie- und Modellbildung als auch solche, die
sich mit spezifischen Fragestellungen der Fremdsprachenforschung beschäftigen. Für theo-
retische Arbeiten gilt dabei allgemein, dass die VerfasserInnen sich mit einem Textkorpus
auseinandersetzen müssen, dessen Erstellung ein recht aufwändiger und langwieriger Pro-
zess sein kann.
Das Erkenntnisinteresse theoretischer Arbeiten liegt immer auch darin, spezifische Aus-
schnitte der Forschungslandschaft genauer zu erfassen und zu durchdringen. Diejenigen
Texte, auf die sich solche Arbeiten stützen, umfassen normalerweise neben Studien aus dem
entsprechenden Bereich der Fremdsprachenforschung auch Arbeiten aus anderen – affinen –

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5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 133

Fachbereichen, in denen thematisch und erkenntnistheoretisch relevante bzw. vergleichbare


Forschungsprojekte durchgeführt werden (z. B. der jeweiligen Fachwissenschaften, der All-
gemeinen Pädagogik, der Psychologie, der Lehr- und Lernforschung sowie anderer Fachdi-
daktiken). Damit sind theoretische Arbeiten häufig zugleich interdisziplinär angelegt, da es
hier oft darum geht, die Perspektive der Fremdsprachenforschung gezielt zu erweitern, zu
schärfen und in größere theoretische Zusammenhänge zu stellen. Die Lektüre theoretischer
Schriften (z. B. aus den Kulturwissenschaften oder der Philosophie) zu bestimmten Themen
und Fragestellungen ist damit häufig eine wichtige Voraussetzung bzw. Hilfe sowohl für die
Entwicklung des theoretischen Bezugsrahmens als auch für die Auswahl und ggf. Klassifi-
kation von Texten aus der Fremdsprachenforschung sowie anderer relevanter Fachbereiche.
Im Folgenden wird zunächst genauer aufgefächert, was unter „Text“ zu verstehen ist und
welche Arten von Texten für theoretische Arbeiten unterschieden werden können. Der an-
schließende Teil widmet sich der Auswahl und Zusammenstellung von Texten. Im letzten Teil
werden konkrete Tipps, Ressourcen und Datenbanken vorgestellt, die zur Textfindung und
-zusammenstellung hilfreich sein können.
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1 Welche Texte können für theoretische Arbeiten verwendet werden?


Anders als im Fall von Dokumenten oder Quellen (vgl. Kapitel 5.2.1) handelt es sich bei
„Texten“ um eine medial engere Kategorie, da hier hauptsächlich schriftliche und zumeist
wissenschaftliche Publikationen gemeint sind. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass man
zur Darstellung eines bestimmten Forschungsgebiets ausschließlich auf wissenschaftliche
Texte zurückgreifen muss – schließlich gibt es zahlreiche weitere Dokumente, die für be-
stimmte Frage- und Themenstellungen relevant sind und die auch entsprechend zu berück-
sichtigen sind (z. B. Videomaterial, Zeitungsartikel, ggf. auch Werbematerialien, Lehrwerke
und Lernmaterialien etc.). Im Folgenden wird der Schwerpunkt jedoch auf wissenschaftlichen
Texten liegen, da man auch hier zwischen verschiedenen Arten von Texten unterscheiden
muss, die es zusammen zu stellen gilt, wenn es um die Erstellung einer theoretischen Arbeit
geht. Prinzipiell ist dabei zwischen primären Texten (auf der Basis empirischer Arbeiten) und
sekundären Texten (Zusammenfassungen und Überblicksdarstellungen) zu unterscheiden.

Empirische Studien aus der Fremdsprachenforschung (Aufsätze und Monographien)

Empirische Studien bzw. ihre Publikation in Aufsätzen und Büchern stellen Primärtexte dar,
wenn es um die Erfassung des status quo eines spezifischen Forschungsthemas innerhalb der
Fremdsprachenforschung geht. Welcher Art die jeweiligen empirischen Studien sind, näm-
lich ob eher quantitativ-nomologisch oder qualitativ-interpretatorisch, ist dabei zunächst
irrelevant. Jede Publikation empirischer Daten zu einem bestimmten Thema vermag auf je
spezifische Weise Licht auf bestimmte Aspekte zu werfen, die in den gewählten Gegenstands-
bereich fallen (vgl. auch Grotjahn 1999).

Empirische Studien aus anderen Fachbereichen (Aufsätze und Monographien)

Da der Gegenstandsbereich der Fremdsprachenforschung sich häufig überlappt mit anderen


Fachbereichen, ist es notwendig, auch weitere empirische Arbeiten zu berücksichtigen, die

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134 5. Forschungsverfahren

den gewählten Gegenstandsbereich zu erhellen vermögen (z. B. Arbeiten aus anderen Fach-
didaktiken, der Psychologie, Soziologie, Pädagogik). Diese stellen zwar in Bezug auf ihre
unmittelbare empirische Evidenz ebenfalls Primärtexte dar, sind jedoch meist von denen der
Fremdsprachenforschung zu unterscheiden, insofern sie sich nicht unmittelbar dem Lernen
und Lehren von neuen Sprachen widmen. Sie können deshalb als affine primäre Texte ver-
standen werden. Man trifft hier mitunter auf andere forschungsgeschichtliche und wissen-
schaftssoziologische Gegebenheiten, die das Lesen solcher Publikationen mitunter erschweren
bzw. die eine eingehende Beschäftigung mit den jeweiligen fachspezifischen Voraussetzungen
erfordern, damit man den entsprechenden Beitrag in seinem Entstehungskontext nachvoll-
ziehen und einordnen kann. Viele Arbeiten in der Psychologie etwa basieren auf Daten, die
in experimentellen Forschungsdesigns gewonnen wurden und die nicht ohne weiteres auf
den Gegenstandsbereich Fremdsprachenlernen und -lehren übertragen werden können. Eine
Beschäftigung mit experimentellen Designs, Datengewinnung und Interpretation ist dabei
oft unabdingbar (z. B. Bierhoff/Petermann 2014). Bei der Verwendung affiner primärer Texte
aus anderen Fachbereichen ist immer auch Vorsicht und Augenmaß geraten, im Idealfall
auch Austausch mit Forschenden der betreffenden Disziplinen, wenn man im Rahmen einer
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­Textsichtung für ein Projekt in der Fremdsprachenforschung auf dergleichen Forschungs-


ergebnisse stößt. Wer eine Arbeit verfasst, die sich auf Modelle und Studien anderer Fächer
bezieht, ist wahrscheinlich gut beraten, direkten Kontakt mit FachvertreterInnen zu suchen
(z. B. durch den Besuch von Vorträgen auf Konferenzen, Seminarbesuche, schriftlicher Kontakt).

Überblicksdarstellungen in der Fremdsprachenforschung und in affinen Fachbereichen

Von Darstellungen empirischer Studien sind solche zu unterscheiden, die sich zwar auf empi-
rische Arbeiten beziehen, diese jedoch in einem Überblick zusammenfassen mit dem Ziel, den
Forschungsstand in einem bestimmten Gegenstandsbereich darzustellen. Das Spektrum der
Texte reicht von der kompakten Darstellung in Handbüchern und Lexika (wie Burwitz-Mel-
zer et al. 2016; Surkamp 2010) bis hin zu differenzierten Forschungsüberblicken in Mono-
graphien (z. B. Ellis 2008). Dabei wird häufig auch auf einige der oben als „affine primäre
Texte“ bezeichneten Publikationen Bezug genommen, so dass diese Gruppe von Texten bereits
eine interdisziplinäre Tendenz aufweist. Sie stellen insofern sekundäre Texte dar und können
sowohl ihren Schwerpunkt im Bereich der Fremdsprachenforschung als auch in anderen
Fachbereichen haben. Von besonderer Bedeutung für diese sekundären Texte (und deshalb
für Forschende immer bei der Lektüre und Arbeit mit ihnen zu bedenken) ist, dass hier eine
zusätzliche interpretatorische Dimension zu berücksichtigen ist, da die jeweiligen Autorin-
nen und Autoren ihrerseits primäre Texte zusammenfassen, gruppieren, auswerten und in
einem Zusammenhang darstellen. Zu bedenken ist außerdem, dass zahlreiche primäre Texte
auch Anteile aufweisen, die in die Gruppe der sekundären Texte fallen können. Dies verhilft
einerseits zu einer strukturierten Darstellung und vermittelt einen konzisen Überblick über
einen bestimmten Forschungsbereich aus einem bestimmten Zeitraum, die man als LeserIn
sicherlich zu schätzen weiß. Andererseits handelt es sich bei der Strukturierung aber natür-
lich um eine Form der Interpretation, die ggf. für die eigene Arbeit überdacht werden muss.
Forschungsüberblicke finden sich nicht nur in Handbüchern, Lexika oder sonstigen über-
greifenden Darstellungen, sondern auch in jeder Veröffentlichung empirischer Befunde; und

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5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 135

häufig finden wir hier eindeutige interpretatorische Tendenzen, die die jeweiligen Verfasserin-
nen und Verfasser aufgrund der eigenen Sichtweisen und Forschungsinteressen entsprechend
zusammengestellt und dargelegt haben. Solche Forschungsüberblicke in primären Texten er-
fordern deshalb dieselbe Lesehaltung wie sekundäre Texte, insofern hier zwischen primären
Textanteilen (Darstellung und Auswertung eigener empirischer Forschung) einerseits und
sekundären Teilen (der Interpretation anderer primärer Texte durch die jeweiligen Verfasse-
rinnen und Verfasser) andererseits unterschieden werden muss (s. Kapitel 6.3).

Theoretische Arbeiten

Zu unterscheiden von primären und sekundären Texten sind solche, die sich eher beiläu-
fig und z.T. auch nicht systematisch auf empirische Forschung beziehen, sondern die den
Anspruch erheben, theoretische Fragestellungen und Zusammenhänge zu erkunden und zu
entwickeln, indem sie beispielsweise Diskurse bündeln, kritisch hinterfragen und neu per-
spektivieren. Theoretische Arbeiten in der Fremdsprachenforschung basieren zudem ihrer-
seits meist auch auf theoretischen Schriften aus anderen Fachbereichen. So wurde z. B. bei der
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Arbeiten von Hallet (2002) und Hu (2003) auf kulturwissenschaftliche Schriften (z. B. Bhabha
1994), in der Arbeit von Schmenk (2002) auf Titel aus dem Bereich der Gender Studies zu-
rück gegriffen (z. B. Butler 2000), für die Arbeiten von Küster (2003), Breidbach (2007) und
Schmenk (2008) wurden bildungstheoretische Schriften herangezogen (z. B. Humboldt 1995;
Meyer-Drawe 1990).

2 Auswahl und Zusammenstellung von Texten


Theoretische Arbeiten erfordern eine breite Rezeption von primären und sekundären Texten
sowie eingehende Lektüren theoretischer Arbeiten, um sowohl den Gegenstandsbereich zu-
gleich möglichst weiträumig und intensiv zu „erlesen“, als auch um den Blickwinkel auf
bestimmte Themen und Fragestellungen zu erweitern und theoretisch zu fundieren. Theo-
retische Forschungsprojekte in der Fremdsprachenforschung nehmen i. d. R. ihren Anfang
in Studien zu einem bestimmten Gegenstandsbereich in der Erforschung des Lehrens und
Lernens von Sprachen. Bei dem Thema „Didaktik des bilingualen Unterrichts“ (Breidbach
2007) sind das entsprechend Studien aus dem Bereich CLIL oder dem bilingualen Lernen
und Lehren, bei gender (Schmenk 2002) Studien zur Rolle und Bedeutung des Geschlechts
beim Fremdsprachenlernen und -lehren, bei „pluraler Bildung“ (Küster 2003) Studien zum
interkulturellen Lernen sowie zum fremdsprachlichen Literaturunterricht.
Da es inzwischen eine kaum noch überblickbare Fülle wissenschaftlicher Publikationen
zu allen erdenklichen Themen und Problemstellungen der Fremdsprachenforschung gibt, ist
eine Vorauswahl unumgänglich und stellt eine entscheidende Weichenstellung dar. Das erste
Kriterium ist hier normalerweise die Sprache bzw. Herkunft der jeweiligen Publikationen.
Aus welchen Sprach- und Kulturräumen kann und will man Forschungsergebnisse für die ei-
gene Arbeit nutzen? Hier gilt es abzuwägen zwischen der Tatsache, dass die deutschsprachige
Bildungs- und Sprachenlandschaft zwar in gewisser Weise singulär ist (vor allem aufgrund
der spezifischen Bildungssysteme und Institutionen), dass jedoch zahlreiche vergleichbare
Forschungs- und Anwendungsbereiche in anderen europäischen Regionen wie auch außer-
halb des europäischen Raums vorliegen. Dennoch kann man nicht alles lesen, was thematisch

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136 5. Forschungsverfahren

in den eigenen Interessensbereich zu fallen scheint (zeitliche wie auch sprachliche Grenzen be-
sitzt nun einmal jede/r). Ein gangbarer (wenn auch nicht gänzlich befriedigender) Weg ist es,
eine möglichst umfangreiche Sammlung deutschsprachiger Publikationen zusammenzustellen
und dann die englischsprachige Literatur gezielt zu sichten (s. u.). Da mittlerweile auch im
deutschen Sprachraum zunehmend englischsprachige Texte rezipiert und veröffentlicht wer-
den, scheint eine Sichtung und Sammlung von primären und sekundären Texten, die auf Eng-
lisch verfasst wurden, unumgänglich. Hinzu kommt, dass auch Forschungsarbeiten anderer
Herkunft oft auf Englisch publiziert werden (z. B. aus den skandinavischen Ländern), so dass
man mit den Wissenschaftssprachen Deutsch und Englisch durchaus viele verschiedene Her-
kunftsorte von Forschungsergebnissen berücksichtigen kann. Daneben ist nicht nur bei Ar-
beiten im Bereich der romanischen Sprachen eine Sichtung von Publikationen in französischer
und/oder spanischer Sprache sinnvoll. In der Sprachenwahl der Texte liegt einerseits immer
ein limitierendes Moment, das man letztlich nicht aufheben kann, zum anderen ermöglicht
sie u. U. ein größere Differenziertheit und Breite der Diskussion.
Eine zweite Entscheidung betrifft dann die Auswahl derjenigen Arbeiten, die man für das
eigene Forschungsprojekt tatsächlich berücksichtigen möchte. Aufgrund der oben erwähnten
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Publikationsmenge in vielen Bereichen der Fremdsprachenforschung gilt es hier, mindestens


drei Kriterien systematisch zu berücksichtigen.

Qualitative Merkmale der Auswahl: Variation von Forschungsdesigns und -ergebnissen

Um einen spezifischen Forschungsdiskurs überblicken und erfassen zu können, also die Vo-
raussetzungen für die Abfassung einer theoretischen Arbeit zu schaffen, sollten bei der Text-
zusammenstellung möglichst verschiedenartige primäre Texte ausgewählt werden. Das gilt
sowohl für die Forschungsmethodologie und das Design der Studien (qualitative wie auch
quantitative Designs, Daten von unterschiedlichen Populationen und ggf. aus unterschiedli-
chen Lern- und Lehrkontexten und Regionen) als auch für die Ergebnisse (um die Bandbreite
der Forschungsresultate zu erfassen). Bei Schmenk (2002) wurden Studien aus dem eng-
lisch- und deutschsprachigen Raum berücksichtigt, die sich mit dem Geschlecht von Fremd-
sprachenlernenden und -lehrenden beschäftigen. Hier war zu beobachten, dass bereits diese
erste Sichtung zeigte, dass verbreitete und in sekundären Texten übereinstimmend attestierte
„Wahrheiten“ über das Geschlecht nicht haltbar sind. Die Fülle der unterschiedlichen und
bisweilen inkonsistenten Resultate empirischer Forschungsarbeiten zum Geschlecht wird in
sekundären Texten zugunsten konsistenter Aussagen etwa über das bessere Lernergeschlecht
nicht kenntlich gemacht bzw. nicht erwähnt.

Quantitative Entscheidungen zur Textzusammenstellung: Wie viele Texte sind nötig, wie
viele hinreichend?

Hat man nach dem ersten Kriterium eine Liste von Texten zusammengestellt, gilt es nach dem
zweiten Kriterium zu entscheiden, mit wie vielen Texten man sich für das jeweilige Arbeits-
vorhaben tatsächlich genauer beschäftigen sollte bzw. kann. Für den bzw. die Forschende ist
es schon nach einer ersten Sichtung nach Kriterium 1 der qualitativen Variation möglich,
Tendenzen der Forschung zu erkennen und einen Überblick über die Forschungslage zu ge-
ben. Damit lässt sich ein spezifischer Forschungsdiskurs zumindest oberflächlich beschreiben

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5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 137

(im Falle von Schmenk [2002] ist das z. B. der Überblick über die Forschungsergebnisse von
Untersuchungen des Lernerfolgs der Geschlechter: Sind weibliche oder männliche Lernende
„besser“ oder erfolgreicher?).
Um einen Forschungsdiskurs genauer zu durchdringen, bedarf es jedoch einer weit intensi-
veren Beschäftigung mit einzelnen primären (auch sekundären) Texten. Hier geht es nun
um das Kriterium der Quantität: Wie viele Arbeiten kann man tatsächlich im Detail unter-
suchen? Diese Frage lässt sich letztlich nur im Einzelfall beantworten, jedoch ist zumindest zu
bedenken, dass man für bestimmte Argumentationsmuster jeweils verschiedene Texte unter-
suchen muss, damit man Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die Muster selbst exakter
bestimmen kann, die in Forschungsarbeiten erkennbar sind. Schmenk (2002) unterscheidet
verschiedene Faktoren, die im Zusammenhang mit dem Lernergeschlecht untersucht und
mit diesem korreliert worden sind, wie etwa Motivation und Lernstile. Für jeden dieser Fak-
toren wurden verschiedene Einzelstudien herangezogen, um anhand von deren Ergebnissen
sowie den Argumentationen ihrer VerfasserInnen nachzuzeichnen, welche Rolle bzw. welcher
Effekt jeweils dem Geschlecht der Lernenden attestiert wird und inwiefern es mit den jeweils
untersuchten Faktoren korreliert bzw. in welchen argumentativen Zusammenhang die Ver-
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fasserInnen das Geschlecht stellen, wenn sie davon ausgehen, dass es mit anderen Faktoren
korreliert. Da es in diesem Fall eine deutliche Tendenz gab, Argumentationen nach demselben
Muster aufzubauen, wurden nur wenige Arbeiten knapp skizziert. Generell ist eine Beschrän-
kung auf wenige Texte bei eingehenderen Untersuchungen von Texten dann möglich, wenn
sich eine Tendenz zu gleichförmigen Argumentationsfiguren abzeichnet. Im Fall von gender
war das die Neigung, bestimmte Einflussfaktoren als binär zu konzipieren (z. B. holistische
vs. analytische kognitive Stile oder integrative vs. instrumentelle Motivation) und diese dann
unmittelbar mit einem Geschlecht zu assoziieren (männlich-weiblich), was zu einerseits stark
polarisierten geschlechtsspezifischen Lerner- und Lernbildern führt, sich andererseits jedoch
in Bezug auf die zugrunde liegende Lerntheorie als problematisch erweist (da z. B. Motivation
eher als Kontinuum zu verstehen ist und zudem nicht als statisches Merkmal von Lernenden
angesehen werden kann; vgl. Schmenk 2002: 48–61).

Qualitative Entscheidungen zur Textzusammenstellung: Welche Texte warum?

Das letztlich entscheidende Kriterium zur Textauswahl ist bedingt durch den ausgewählten
theoretischen Rahmen der Arbeit. Da Fremdsprachenforschende in der Regel nicht bereits
über umfangreiche Kenntnisse etwa philosophischer Debatten verfügen, ist neben der Lektüre
und Arbeit mit primären und sekundären Texten auch eine vertiefte Lektüre theoretischer
Arbeiten notwendig. Selbst wenn man von Beginn an eine theoretische Frage- oder Problem-
stellung im Kopf hat, die man gern im Rahmen der Fremdsprachenforschung genauer ver-
folgen oder anwenden möchte, wird man im Laufe der Lektüre von primären und sekundären
Texten meist feststellen, dass weitere Aspekte zu bedenken, die theoretischen Hintergründe
zu differenzieren und ggf. auch zu modifizieren sind. Diese theoretischen Überlegungen sind
schließlich ausschlaggebend sowohl für die Untersuchung von primären und sekundären
Texten als auch für weitere Überlegungen, Vorschläge und Kritik im Rahmen des spezifischen
Forschungsdiskurses der Fremdsprachenforschung. Theoretische Arbeiten weisen deshalb
immer auch den Charakter von Diskursanalysen auf, wenn es um die möglichst präzise Er-

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138 5. Forschungsverfahren

fassung eines spezifischen Forschungsgegenstands geht. Dies stellt die Voraussetzung dar für
das Entwickeln eigener Theorien und Modelle wie auch für andere theoretische Studien zu
Aspekten des Fremdsprachenlehrens und -lernens.
So entwickelt Breidbach (2007) anhand seiner differenzierten Untersuchung von Über-
legungen zur Begründung und Praxis des bilingualen Unterrichts sowie von Bildungs-
diskursen unter postmodernen Bedingungen eine reflexive Didaktik für den bilingualen
Sachfachunterricht, die sowohl fachwissenschaftliche als auch allgemeinpädagogische und
bildungstheoretische Dimensionen berücksichtigt. Schmenk (2002) verhilft die Orientierung
an den Gender Studies u. a. zu einer Klassifikation von Geschlechtsbegriffen in der Fremd-
sprachenforschung (sex versus gender, gender als Substantiv vs. gender als Verb), die für die
Auswahl von primären Texten zur eingehenden Analyse herangezogen wird (vgl. Referenz-
arbeit Schmenk 2002). Die größte Herausforderung besteht für VerfasserInnen von theoreti-
schen Arbeiten sicherlich darin, sich Einblick in solche Theorien zu verschaffen, die nicht aus
der Fremdsprachenforschung stammen. Um in der Lage zu sein, Kerntexte zu identifizieren,
zentrale Diskussionspunkte zu kennen und sich selbst auch kritisch damit auseinander setzen
zu können, ist häufig ein Selbststudium in entsprechenden Fachbereichen und deren Theorie-
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bildung unvermeidlich, ebenso wie sehr viel Lesen und Wiederlesen sowie Kommunizieren
mit FachvertreterInnen. Im Laufe der Lektüre kommt man dann an den Punkt, an dem man
Kerntitel kennt und wiedererkennt, weil auf diese immer wieder in verschiedenen Arbeiten
verwiesen wird. (Für die Heuristik und Korpuserstellung vgl. außerdem die Hinweise in
Kapitel 5.1.2).

3 Ressourcen und Datenbanken


Deutschsprachige Publikationen der Fremdsprachenforschung sind inzwischen in verschie-
denen Apparaten erfasst und deshalb vergleichsweise gut zugänglich (vgl. 5.2.1). Für den
Bereich der englischsprachigen Forschungslandschaft ist die Suche von Texten aufgrund der
hohen Anzahl von Publikationen sowie der unterschiedlichen Orte und Kontinente der Pu-
blikationen schwieriger. Die folgenden Datenbanken können dabei sehr hilfreich sein (vgl.
auch Angaben zu Datenbanken Kap. 5.2.1):
• Linguistics and Language Behavior Abstracts (LLBA), abrufbar über viele Bibliotheksser-
ver. Datenbasis mit verschiedenen Suchfunktionen für Zeitschriften. Die Einträge erfassen
zahlreiche englischsprachige Publikationen aus den Bereichen Sprache und Linguistik.
• RIC (Educational Resources Information Center), kostenloser Zugriff über http://eric.
ed.gov/. Datenbasis mit zahlreichen Suchfunktionen für Zeitschriften und andere Puli-
kationen (Sammelbände, Monographien etc.) mit den Themenschwerpunkten Erziehung
und Bildung.
• MLA International Bibliography, abrufbar über viele Bibliotheksserver. Datenbasis mit
zahlreichen Suchfunktionen für Zeitschriften. Die Einträge erfassen zahlreiche englisch-
sprachige Publikationen aus den Bereichen Literatur, Film, Linguistik, angewandte Lin-
guistik und Didaktik.
• IFS (Informationszentrum Fremdsprachenforschung), kostenloser Zugriff über http://www.
uni-marburg.de/ifs.

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5.2.2 Textzusammenstellung (für theoretische Arbeiten) 139

5.2.2 Textzusammenstellung
für theoretische Arbeiten

Forschungslandschaft
wissenschaftliche Publikationen (Texte),
Dokumente, Videos, Lehrmaterialien etc.

theoretisches Erkenntnisinteresse
Erfassen und Durchdringen eines Themas bzw.
einer Fragestellung der Fremdsprachendidaktik

Interdisziplinarität
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erweiterte Perspektiven durch Ansätze aus


Bezugswissenschaften (z.B. Philosophie, Pädagogik,
Kulturwissenschaften, Psychologie)

bibliographische Recherche
primäre (empirische) Texte LLBA,
RIC, MLA,
sekundäre (zusammenfassende) Texte IFS etc.
theoretische Texte

Begrenzungskriterien
theoretischer Rahmen, Sprach(en), Gegenstands-
bereich, Vielfalt der dargestellten Methoden und
Ergebnisse

Auswahlentscheidung
inhaltliche Tendenzen
erkennbare Argumentationsmuster

Textzusammenstellung

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140 5. Forschungsverfahren

Neben diesen Datenbasen gibt es auch die Möglichkeit, Bibliographien über folgende Res-
sourcen zusammenzustellen:
• USA: Library of Congress (http://www.loc.gov), ca. 14 Millionen Einträge, nicht nur in
englischer Sprache
• Kanada: Canadian National Catalogue (Amicus) (http://amicus.collectionscanada.ca/aa-
web/aalogine.htm)
• Australien: National Library of Australia, (http://catalogue.nla.gov.au/)
• Großbritannien: British Library Public Catalogue (http://catalogue.bl.uk/primo_library/
libweb/action/search.do?dscnt=1&dstmp=1 394 914 136 152&vid=BLVU1&fromLogin=​
true)

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
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einem Sternchen versehen.


Burwitz-Melzer, Eva/Mehlhorn, Grit/Riemer, Claudia/Bausch, Karl-Richard/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.)
(2016). Handbuch Fremdsprachenunterricht, 6. Auflage. Tübingen: Francke.
Bierhoff, Hans-Werner/Petermann, Franz (2014). Forschungsmethoden der Psychologie. Göttingen:
Hogrefe.
Bhabha, Homi (1994). The Location of Culture. New York: Routledge.
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fachunterricht. Münster: Waxmann.
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York: Routledge.
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sprachenforschung 10 [H. 1], 133–158.
*Hallet, Wolfgang (2002). Fremdsprachenunterricht als Spiel der Texte und Kulturen. Intertextualität
als Paradigma einer kulturwissenschaftlichen Didaktik. Trier: WVT.
*Hu, Adelheid (2003). Schulischer Fremdsprachenunterrichts und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit.
Tübingen: Narr.
Humboldt, Wilhelm von (1995). Schriften zur Sprache. Hrsg. V. Michael Böhler. Stuttgart: Reclam.
*Küster, Lutz (2003). Plurale Bildung im Fremdsprachenunterricht. Interkulturelle und ästhetische As-
pekte von Bildung an Beispielen romanistischer Fachdidaktik. Frankfurt/M.: Lang.
Meyer-Drawe, Käte (1990). Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohmacht und Allmacht des Ich.
München: Kirchheim.
*Schmenk, Barbara (2002). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion geschlechts-
typischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Stauffenburg. [Referenz-
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*Schmenk, Barbara (2008). Lernerautonomie. Karriere und Sloganisierung des Autonomiebegriffs. Tü-
bingen: Narr.
Surkamp, Carola (2010). Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Stuttgart: Metzler.

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5.2.3 Beobachtung 141

»» Zur Vertiefung empfohlen

Gee, James Paul/Handford, Michael (Hg.) (2012). The Routledge Handbook of Discourse Ana-
lysis. London: Routledge.
In diesem Band werden Formen und Aufgaben von Diskursanalysen dargestellt. Zahlreiche Bei-
spiele und verschiedene Formen von Diskursanalysen werden detailliert erläutert. Für theoretische
Arbeiten bietet der Band eine Reihe von methodischen Ideen zum Umgang mit Texten mit dem
Zweck, Diskurse zu analysieren.
Jorgensen, Marianne & Phillips. Louise J. (2002). Discourse Analysis as Theory and Method.
London: Sage.
In diesem Band geben die Verfasserinnen einen Überblick über Theorien und Methoden von Diskurs-
analysen, die sich hauptsächlich auf neuere poststrukturalistische Theorien stützen. Wer eine theo-
retische Arbeit verfassen will, die sich zur Aufgabe macht, Forschungsdiskurse in ihrer Entstehung zu
begreifen sowie Tendenzen in bestimmten Diskursen darzustellen, findet in diesem Band wertvolle
Tipps und Hintergründe für den Umgang mit Texten.
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5.2.3 Beobachtung

Karen Schramm/Götz Schwab

1 Begriffsklärung
Im Gegensatz zu Befragungen (s. Kapitel 5.2.4), welche insbesondere zur Erforschung innerer
Aspekte wie Einstellungen, Meinungen und Gefühle geeignet sind, richten sich Beobach-
tungen auf äußerlich wahrnehmbares Verhalten. Beobachtet werden können beispielsweise
die fremdsprachliche Interaktion oder Produktion mit ihren verbalen Handlungen, also den
sprachlichen Äußerungen, mit ihren nonverbalen Handlungen wie beispielsweise Zeigen,
Nicken usw. und mit ihren begleitenden aktionalen Handlungen wie beispielsweise dem
Umgang mit Gegenständen. Nicht direkt beobachtbar sind dagegen diesen Prozessen zu-
grundeliegende Kognitionen und Emotionen sowie auch die fremdsprachliche Rezeption. Da
Ansichten, wie sie in Befragungen kundgetan werden, und tatsächliches Verhalten, wie es be-
obachtet werden kann, in einigen Fällen divergieren, ist in einigen Untersuchungen die Kom-
bination von Befragungen und Beobachtungen von besonderem Interesse. Im Forschungs-
programm Subjektive Theorien (s. Kapitel 4.2) ist beispielsweise nach einer kommunikativen
Validierung von Interviewdaten auch eine zweite Phase der explanativen Validierung durch
Beobachtung der handelnden Subjekte vorgesehen (Scheele/Groeben 1998: 24–29).
Beobachtungen basieren zu einem gewissen Anteil immer auch auf dem Vorwissen der
Beobachtenden. Im Gegensatz zu anderen Erhebungsmethoden ist für die Beobachtung cha-
rakteristisch, dass sich dabei Erhebungs- und Interpretationsprozesse stark mischen, denn Be-
obachtung ist per se durch Selektion, Abstraktion und Klassifikation charakterisiert. Wichtig
erscheint es deshalb, die verschiedenen Herangehensweisen an Beobachtungen aus einer
emischen von solchen aus einer etischen Forschungsperspektive zu unterscheiden (s. Ka-
pitel 2; Watson-Gegeo 1988: 579–582, Markee/Kasper 2004: 493–495).

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142 5. Forschungsverfahren

Dient die Beobachtung einer Rekonstruktion der Innenperspektive der Akteur_innen, also
einer emischen Zielsetzung, dann sind die Vertrautheit mit den beobachteten Forschungs-
partner_innen sowie ein umfassendes Kontextwissen zentral für die Datenerhebung. Aus
der emischen Perspektive, die insbesondere für die Ethnographie konstitutiv ist (s. dazu
genauer Abschnitt 3), geht es beim Beobachten um ein Fremdverstehen, um ein Sich-Hinein-
versetzen in die Kultur der Forschungspartner_innen. So laufen Forscher_innen aufgrund der
Bedeutung des Vorwissens für die Informationsaufnahme Gefahr ethnozentrischer bzw. „zu
weit gehende[r] Interpretationen […], wenn der Beobachter dem Beobachteten sein eigenes
Sinnverständnis unterlegt“ (Lamnek 2010: 501) – genau dies gilt es jedoch aus emischer Per-
spektive zu vermeiden.
Eine etisch motivierte Beobachtung ist dagegen nicht am Fremdverstehen interessiert, son-
dern setzt ein bestimmtes theoretisches Verständnis des zu beobachtenden Untersuchungs-
gegenstands bereits voraus und wendet es konsequent auf ihn an. Zur Qualitätssicherung
legen Beobachtungsstudien aus etischer Perspektive deshalb in der Regel Wert darauf, mit-
hilfe von Beobachtungsleitfäden, von Beobachtungstraining mit entsprechendem Feedback
und von Reliabilitätsüberprüfungen einen hohen Grad an intersubjektiver Übereinstimmung
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zu erreichen bzw. zu dokumentieren. Somit läuft diese Herangehensweise an Beobachtungen


wiederum Gefahr, andere Sinnstrukturen als die theoretisch bereits modellierten nicht zu
erfassen – und insbesondere andere Sinnstrukturen als die der Beobachteten anzuwenden,
sodass die Forschungsergebnisse aus deren Sicht nicht valide sein könnten.
Unter dem Begriff Beobachtung werden insgesamt so unterschiedliche Formen der Daten-
erhebung wie die teilnehmende Beobachtung ethnographischer Feldforscher_innen (Ab-
schnitt 3), die Unterrichtsbeobachtung auf der Grundlage von Beobachtungsbögen (Abschnitt
4) und die Audio- und Videographie von Unterrichts- oder Lernprozessen (Abschnitt 5) zu-
sammengefasst. Bevor diese im Folgenden einzeln vorgestellt werden, sollen in Abschnitt
2 einige übergreifende Aspekte zur Unterscheidung verschiedener Arten von Beobachtung
thematisiert werden.

2 Arten der Beobachtung


Man unterscheidet zunächst zwischen der ungesteuerten (auch: unstrukturierten, unsystema-
tischen) Beobachtung und der gesteuerten (auch: strukturierten, systematischen Beobachtung
auf der Grundlage von im Vorfeld festgelegten Beobachtungsschwerpunkten (s. Lamnek 2010:
509–510, Ricart Brede 2014: 138–139), wobei es sich nicht um eine Dichotomie, sondern
vielmehr um eine graduelle Unterscheidung handelt. Die strukturierte Beobachtung basiert
nach Lamnek (2010: 509) auf „einem relativ differenzierten System vorab festgelegter Ka-
tegorien“, die unstrukturierte Beobachtung dagegen auf „mehr oder weniger allgemeine[n]
Richtlinien, d. h. bestenfalls grobe[n] Hauptkategorien als Rahmen der Beobachtung“ (ebd.).
Bezogen auf Fremdsprachenunterricht können beide Formen mit oder ohne Vorbereitung auf
die jeweilige Unterrichtsstunde (z. B. Rezeption der lehrerseitigen Unterrichtsplanung oder
gemeinsame Planung der Stunde seitens Lehrperson und Forschenden) erfolgen (Ziebell/
Schmidjell 2012: 37–40).
Eine weitere terminologische Unterscheidung ist die zwischen teilnehmender und nicht-
teilnehmender Beobachtung:

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5.2.3 Beobachtung 143

Der Unterschied zwischen teilnehmender und nicht-teilnehmender Beobachtung besteht darin, dass
bei der teilnehmenden Beobachtung der Beobachter selbst Element des zu beobachtenden sozialen
Feldes wird, wohingegen bei der nicht teilnehmenden Beobachtung der Beobachter gleichsam von
außen her das ihn interessierende Verhalten beobachtet. (Lamnek 2010: 511)

Die nicht-teilnehmende Beobachtung in der Referenzarbeit von Schwab (2009) fand beispiels-
weise durch eine Kamera im vorderen Teil des Klassenzimmers in der Nähe des Fensters statt.
In der Forschungsliteratur werden in der Regel vier verschiedene Ausprägungen auf einem
Kontinuum des Partizipationsgrads von complete participant über participant-as-observer,
observer-as-participant und complete observer unterschieden (vgl. Tab. 1), die im Folgenden
in enger Anlehnung an Johnson/Christensen (2012: 209) erläutert werden.

complete participant Der/ die Forscher_in wird Mitglied der untersuchten Gruppe
und teilt den Gruppenmitgliedern nicht mit, dass sie untersucht
werden.
participant-as-observer Der/die Forscher_in verbringt als Insider_in ausgedehnte Zeit
mit der Gruppe und teilt den Gruppenmitgliedern mit, dass sie
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untersucht werden.
observer-as-participant Der/die Forscher_in verbringt begrenzte Zeit mit der Beo-
achtung von Gruppenmitgliedern und teilt ihnen mit, dass sie
untersucht werden.
complete observer Der/die Forscher_in beobachtet die Gruppenmitglieder als
Außenseiter_in und teilt den Beobachteten dies nicht mit.
Tabelle 1: Rollen bei der Feldforschung (zusammengestellt und übersetzt aus Johnson/Christensen 2012:
209)

Die Rolle als complete participant läuft auf eine verdeckte Beobachtung hinaus und erscheint
deshalb aus forschungsethischen Gründen nicht akzeptabel, da datenschutzrechtliche Aspekte
grundsätzlich eine offene Beobachtung erforderlich machen (zu Fragen der Offenlegung des
Untersuchungsinteresses und zu Fällen von Täuschung über das Untersuchungsinteresse, s.
Kapitel 4.6). Eine Beobachterrolle als participant-as-observer nimmt dagegen in Kauf, dass
die Gruppenmitglieder von der Beobachtung wissen und sich deshalb unter Umständen we-
niger natürlich verhalten, vertraut aber darauf, dass sich mit zunehmender Gewöhnung an
den oder die Beobachter_in und mit wachsendem Vertrauen die Natürlichkeit ihres Verhaltens
wieder einstellt. Ein observer-as-participant dagegen verbringt deutlich weniger Zeit mit den
Gruppenmitgliedern und ist deshalb in geringerem Maße durch Identifikation und in stärke-
rem Maße durch Distanz charakterisiert. Schließlich wird ein complete observer die Gruppe
vollkommen von außen und in verdeckter Weise beobachten, um das Beobachterparadoxon
bzw. die Reaktivität der Erhebungsmethode zu umgehen – aufgrund datenschutzrechtlicher
Vorgaben handelt es sich um einen abstrahierten Pol des Kontinuums, der in dieser Form
praktisch nicht vorkommen sollte.
Weiterhin wird mit dem Begriffspaar online/offline unterschieden, ob die Beobachtung
im Moment des Geschehens selbst erfolgt (online) oder auf Basis von Audio- und Videoauf-
zeichnungen im Anschluss an das Geschehen (offline), wobei in letzterem Fall ein iteratives

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144 5. Forschungsverfahren

Beobachten möglich ist. Oftmals werden aber auch beide Verfahren miteinander verbunden,
indem z. B. bei Filmaufnahmen nebenher Notizen erstellt werden (z. B. Schwab 2009).
Typischerweise sind Beobachtungen im authentischen Feld angesiedelt. Seltener, weil
auch deutlich kostenaufwändiger ist die Unterrichtsbeobachtung in einer Laborsituation:
Hier stehen technisch entsprechend ausgerüstete Laborklassenzimmer zur Verfügung, in
der zahlreiche Kameras aus unterschiedlichen Perspektiven den Unterricht dokumentieren,
beispielsweise können in der Decke installierte Kameras von oben die Schreibprozesse der
Schüler_innen dokumentieren. Für die Beobachtung von einzelnen Personen, beispielsweise
Lernenden im Lernprozess oder Lehrpersonen bei der Unterrichtsplanung, ist dagegen der
Verzicht auf Feldbedingungen einfacher zu realisieren, so dass in diesen Fällen zwischen den
Vorteilen der Natürlichkeit des Feldes und Ungestörtheit des Labors abzuwägen ist.
Schließlich werden auch die Fremd- und die Selbstbeobachtung unterschieden, wobei die
Fremdbeobachtung im Folgenden im Zentrum des Kapitels steht, während die Selbstbeobach-
tung vor allem mit der Aktionsforschung (s. Kapitel 4.2) verbunden ist und der Introspektion
nahesteht (s. Kapitel 5.2.5).
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3 Teilnehmende Beobachtung in der Ethnographie


Die teilnehmende Beobachtung ist zentrales Erhebungsverfahren der Ethnographie, welche
sich jedoch auch anderer im Feld zugänglicher Daten wie beispielsweise Dokumente, all-
tagskultureller Materialien, Gespräche, Interviews, Gruppendiskussionen, Audio-/Videoauf-
nahmen oder Fotos bedient (s. van Lier 1990, Atkinson/Hammersley 1994, Friebertshäuser/
Panagiotopoulou 2013: 309–312). Mittels einer länger andauernden Teilnahme, für die
Dörnyei (2007: 131) einen Zeitraum von mindestens sechs bis zwölf Monaten angibt, su-
chen Ethnograph_innen die Lebenswelt bzw. die Innenperspektive einer (sozio-) kulturellen
Gruppe zu erforschen:
Im Zentrum der ethnographischen Neugierde steht […] die Frage, wie die jeweiligen Wirklichkeiten
praktisch ‚erzeugt‘ werden; es geht ihr also um die situativ eingesetzten Mittel zur Konstitution
sozialer Phänomene aus der teilnehmenden Perspektive. Ein derartiges Erkenntnisinteresse ist nicht
identisch mit dem alltäglichen Blick der Teilnehmer. Während diese üblicherweise daran interessiert
sind, ihre handlungspraktischen Probleme zu lösen, konzentriert sich der ethnographische Blick auf
jene Aspekte der Wirklichkeit, die diese gleichsam als selbstverständlich voraussetzen, nämlich die
Praktiken zu ihrer ‚Erzeugung‘, und fragt, wie es die Teilnehmer schaffen, sich selbst und anderen
gegenüber soziale Fakten zu schaffen. (Lüders 2013: 390)

Bei der teilnehmenden Beobachtung nehmen Ethnograph_innen am Alltag der Forschungs-


partner_innen teil, indem sie im Feld eine dort akzeptierte Rolle übernehmen, und sie wach-
sen auf diese Weise gewissermaßen in die ‚fremde‘ Gruppe hinein. Dabei ergibt sich ein
für die teilnehmende Beobachtung charakteristisches Spannungsfeld von (für das Verstehen
notwendiger) Identifikation auf der einen Seite und (für das Berichten notwendiger) Distanz
auf der anderen Seite (s. einführend Lamnek 2010: 574–581). Mit Blick auf die ethnographi-
sche Erforschung der vermeintlich vertrauten Schulwirklichkeit betont Breidenstein (2012:40;
Hervorhebung im Original), dass sie „so zu beobachten [ist], als sei sie fremd, um neu nach
grundlegenden Merkmalen und Funktionsweisen dieser Praxis fragen zu können“ und auch
die „Skurrilität und Absonderlichkeit solcher Praktiken“ (ebd.) in den Blick zu bekommen.

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5.2.3 Beobachtung 145

Essentiell ist für die teilnehmende Beobachtung in der Ethnographie das Anfertigen von
stichwortartigen Feldnotizen und von darauf aufbauenden Beobachtungsberichten, in denen
die Feldforscher_innen ihre Eindrücke „nachträglich sinnhaft verdichten, in Zusammenhänge
einordnen und textförmig in nachvollziehbare Protokolle gießen“ (Lüders 2013: 396). Zu
beachten ist, dass sich in solchen Beobachtungsprotokollen Beschreibungen und Interpre-
tationen mischen (Friebertshäuser/Panagiotopoulou 2013: 313) und dass die vertiefte Re-
flexion durch die Verschriftlichung der Beobachtungen auch auf die Feldkontakte zurückwirkt
(Legewie 1995: 192). Ein Forschungstagebuch dient vielen Ethnograph_innen darüber hinaus
für die Dokumentation und Selbstreflexion.
Die sprachdidaktisch motivierte Studie von Heath (1983) stellt ein frühes und prototypi-
sches Beispiel einer solchen ethnographischen Vorgehensweise dar.2 Auf der Grundlage einer
langjährigen teilnehmenden Beobachtung am Alltagsleben von zwei Arbeitergemeinden in
den Südstaaten der USA, die sie als Trackton and Roadville bezeichnet, charakterisiert die
Forscherin die oralen und literalen Sprachpraktiken der jeweiligen Bewohner_innen. Feld-
notizen, Forschertagebuch und Audioaufnahmen dienen ihr beispielsweise dazu, die kulturell
divergierenden Vorstellungen von einer gelungenen mündlichen Erzählung in beiden Ge-
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meinden herauszuarbeiten. Mit mehreren solchen aufschlussreichen Detailanalysen zeichnet


sie ein umfassendes Bild der kulturell bedingten Unterschiede in den sprachlichen Praktiken
beider Gemeinden. Auf dieser Grundlage untersucht sie, auf welche Herausforderungen
Kinder aus beiden Arbeitergemeinden mit ihren unterschiedlichen sprachlichen Repertoires
stoßen, wenn sie die Schule mit ihren mittelstandsorientierten bildungssprachlichen Anfor-
derungen besuchen.
Ihren Ansatz, die Lehrpersonen für einen solchen ethnographischen Blick zu sensibilisie-
ren, charakterisiert Heath folgendermaßen:
In Part I of the book, the reader moves with me, the ethnographer, as unobtrusively as possible
in the worlds of Trackton and Roadville children. In Part II of the book, my role as ethnographer
is intrusive, as I work with teachers to enable them to become participant observers in their own
domains and to use the knowledge from the ethnographies of Trackton and Roadville to inform
their motivations, practices, and programs of teaching. (Heath 1983: 13)

Als aktuelles Beispiel für eine zweitsprachendidaktisch motivierte ethnographische Beobach-


tung lässt sich die Dissertation von Waggershauser (2015) zu literalen Praktiken von rus-
sischsprachigen Zweitschriftlernenden anführen. Die Forscherin begleitet fünf Teilnehmende
für die Dauer ihres Integrationskurses mit Alphabetisierung in ihrem Alltag außerhalb des
Kurses und erstellt ein umfangreiches Korpus von literalen Artefakten wie beispielsweise
Gesprächsstützen, Kochrezepten oder Wegskizzen. Auf diese Weise kann sie Einblicke in den
sozialen Umgang mit Schrift der Kursteilnehmenden erarbeiten, die wertvolle Grundlagen für
eine funktional ausgerichtete Schreibdidaktik in Alphabetisierungskursen bieten.

2 Für einen Überblick über deutschsprachige Ethnographie in der Erziehungswissenschaft, s. Friebertshäu-


ser/Panagiotopoulou (2013: 304).

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146 5. Forschungsverfahren

4 Einsatz von Beobachtungsbögen


Der Einsatz von Beobachtungsbögen zur Erforschung von Fremdsprachenunterricht hat
eine lange Tradition. Ein frühes Kategoriensystem zur Beobachtung von Unterricht (im all-
gemeinen) ist das FIAC3 von Flanders, der bereits 1960 das Potential einer systematischen
Beobachtung der Beiträge von Lehrenden und Lernenden bzw. ihrer Redeanteilen für die
Lehrerbildung erkannte; eine fremdsprachenspezifische Adaption erfolgte durch Moskovitz
(1971) mit dem FLINT4-Beobachtungssystem. Auch das COLT5 von Fröhlich/Spada/Allen
(1985) zur Beobachtung kommunikativen Fremdsprachenunterrichts ist als frühes und beson-
ders verbreitetes Instrument aus der Vielzahl von Beobachtungsinstrumenten hervorzuheben.
Bei explorativ-interpretativen Arbeiten und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrper-
sonen6 mittels Hospitationen ist der Einsatz offener Beobachtungsbögen verbreitet. Diesen
Fall illustriert das Beispiel in Abbildung 1: Die Fragen auf dem Beobachtungsbogen zum freien
Sprechen fordern dazu auf, eine große Bandbreite an Phänomenen zu beobachten. Sie er-
fordern an vielen Stellen hohe Interpretationsleistungen und sie sehen offene Antworten vor.
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Hinführung/Einstieg
• Wie geschieht die Hinführung zum Thema?
• Wie wird die Sprachhandlungssituation, in der frei gesprochen werden soll, eingeführt?
Inhaltliche und sprachliche Vorbereitung
• Wie werden die TN inhaltlich und sprachlich auf das freie Sprechen vorbereitet?
• Wie erarbeitet die KL inhaltliche und sprachliche Hilfen für das freie Sprechen?
Arbeitsform
• Welche Arbeitsformen werden eingesetzt, in denen freies Sprechen möglich wird (z. B.
Simulation, Rollenspiele, Diskussionen usw.?)
Korrekturverhalten
• Lässt die KL die TN frei sprechen, ohne sie zu unterbrechen und zu korrigieren?
• Wann und wie wird korrigiert?
Erweiterung der Sprechfertigkeit
• Entwickeln die TN spürbar die Bereitschaft und Fähigkeit, das neu Gelernte in der simu-
lierten Sprachhandlungssitatuion angemessen einzusetzen?
• Woran ist dies zu beobachten?
• Verwenden die TN die neu erworbene Lexik und die neuen Stukturen im freien Sprechen?

3 Das Akronym FIAC steht für Flanders System of Interaction Categories.


4 Das Akronym FLINT steht für Foreign Language Interaction.
5 Das Akronym COLT steht für Communicative Orientation of Language Teaching.
6 Nicht als Forschungsmethode, sondern als Untersuchungsgegenstand und als Impuls für entsprechende
Gruppendiskussionen wählt Hochstetter (2011) Beobachtungsbögen. In ihrem mehrstufigen Projekt hat
sie Videoaufzeichnungen des Einsatzes neu entwickelter Bewertungsbögen zur Sprechleistung den betei-
ligten Lehrkräften zur nachträglichen vergleichenden Bewertung gezeigt.

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5.2.3 Beobachtung 147

Lernziel(e)
• Welches Lernziel/Welche Lernziele werden im Rahmen dieser Unterrichtseinheit mit Blick
auf das freie Sprechen erreicht?
• Woran ist das zu beobachten?
Sprachlernstrategien
• Gibt es Anregungen, Aufgaben, Unterstützung für autonomes Weiterlernen und die An-
wendung außerhalb des Unterrichts?
• Welche?

Abbildung 1: Fragen auf einem Beobachtungsbogen zum freien Sprechen (zusammengestellt aus Ziebell/
Schmidjell 2012: 58)

Quantitativ ausgerichtete Forschungsarbeiten arbeiten dagegen bei Beobachtungen – sei es


auf der Grundlage von im Feld bzw. Klassenzimmer auszufüllenden Beobachtungsbögen,
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auf der Grundlage von Videos oder auf der Grundlage von Transkriptionen – entweder mit
Kodierungen oder mit Beurteilungen:
Kodierende Beobachtungsverfahren zielen darauf ab, das Auftreten und ggf. die Dauer bestimm-
ter Ereignisse oder Verhaltensweisen zu erfassen und festzuhalten. Die erzeugten Daten geben
Aufschluss über die Häufigkeit, Verteilung oder zeitlichen Anteile bestimmter Verhaltens- oder
Interaktionsmerkmale. Demgegenüber geht es bei Schätzverfahren (oft auch englisch als „Ratings“
bezeichnet) um eine Einschätzung oder Beurteilung des Beobachtungsgegenstandes, indem anhand
von Schätzskalen die Ausprägung bestimmter Merkmale (z. B. bestimmter Qualitätsdimensionen)
eingestuft wird. (Pauli 2012: 47; vgl. einführend auch Appel/Rauin 2015).

Darüber hinaus sind bei quantitativ orientierten Beobachtungen Zeitstichproben (time-


sampling) und Ereignisstichproben (event-sampling) zu unterscheiden (s. auch Kapitel 4.3).
Eine Kodierung nach dem Prinzip des time-sampling bedeutet, dass das Videomaterial in

Abbildung 2: Beoachtungsbogen zur Klassenzimmerorganisation (Strube 2014: 98)

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148 5. Forschungsverfahren

bestimmten Intervallen, beispielsweise in Abständen von 30 Sekunden oder von 3 Minuten,


kodiert wird (s. z.B. das oben genannte klassische FLINT-Beobachtungssystem von Moskovitz
1971). Die Zahl der Schülermeldungen ließe sich z. B. in solchen Intervallen erfassen. Als
Ereigniskodierung werden dagegen Fälle bezeichnet, in denen Kodierer_innen bestimmte
Phänomene – zumeist auf der Grundlage abstrakter Beschreibungen solcher Phänomene
und konkreter Ankerbeispiele sowie auch extensiven Kodiertrainings – erkennen und ent-
sprechend vermerken. Das Auftreten von Gruppenarbeit wäre ein Beispiel für eine Ereig-
niskodierung, wobei hier die zeitliche Dauer des Ereignisses durchaus miterfasst werden
kann (zur Entwicklung eines Beobachtungssystems s. Ricard Brede et al. 2010, Pauli 2012:
50–58).
Eine weitere Unterscheidung betrifft das Inferenzniveau. Niedrig-inferente Analyse­
entscheidungen erfordern vergleichsweise wenig Schlussfolgerungen auf seiten des/der Be-
obachter_in. Die oben beispielhaft erwähnten Schülermeldungen und Sozialformen sind
Beispiele für niedrige Inferenzniveaus. Ein hohes Inferenzniveau liegt dann vor, wenn die
Analysenentscheidungen anspruchsvollere Interpretationen erfordern, wie beispielsweise bei
der Bestimmung der Fehlerart oder des korrektiven Feedbacks (s. Beispiel unten in Abbildung
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3).
Die Abbildungen 2 und 3 aus einer Untersuchung von Strube (2014) zum Erwerb mündli-
cher Kompetenzen in Niederländischkursen durch Teilnehmer_innen mit wenig Schulerfah-
rung zeigen Beispielbögen für Ereigniskodierungen. Der Beobachtungsbogen in Abbildung 2
ist auf größere pädagogische Aspekte wie inhaltlicher Fokus, Sozialformen und Materialien
bezogen. Auch wenn dieser Bogen von der Forscherin auf der Grundlage von Transkripten
ausgefüllt wurde, so zeigt er doch den Fall vergleichsweise niedrig-inferenter Ereigniskodie-
rungen, die auch zeitgleich mit dem Unterrichtsgeschehen, also direkt im Klassenzimmer
erfasst werden könnten. Das zweite Beispiel in Abbildung 3 zu korrektivem Feedback illus-
triert dagegen den Fall einer geradezu mikroskopischen Ereigniskodierung, die vergleichs-
weise hoch-inferent und nur mit entsprechendem Zeitaufwand und auf der Grundlage von
Transkripten durchführbar ist.

Abbildung 3: Beobachtungsbogen zu korrektivem Feedback im Klassenzimmer (Strube 2014: 104)

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5.2.3 Beobachtung 149

Die beiden Beobachtungsbögen stellen nur eine Auswahl von Erhebungsinstrumenten


der Dissertation von Strube (2014) dar, in der sie auf der Grundlage von Transkripten von
33 Stunden Unterricht umfassende, detailreiche Analysen der Unterrichtskommunikation
vornimmt, parallel dazu lernersprachliche Entwicklungen im lexikalischen und morphosyn-
taktischen Bereich beschreibt und aus der Verbindung beider Analysen Hypothesen zur Lern-
förderlichkeit bestimmter Klassenzimmer-Charakteristika aufstellt.

5 Erhebung von Audio- und Videodaten


Die Erhebung von Audio- und Videodaten erlaubt die wiederholte Beobachtung zu beliebig
vielen Zeitpunkten und bietet damit enormes Potential für Analysen von Unterricht und
Lernprozessen. Aufgrund von Fragen des Feldzugangs, datenschutzrechtlicher und ethischer
Aspekte müssen solche Aufnahmen langfristig und detailliert vorbereitet werden (s. dazu
genauer Schramm 2014).
In technischer Hinsicht sind bei der Vorbereitung audiographischer Aufnahmen insbeson-
dere unterschiedliche Arten von Mikrofonen zu prüfen, die für Aufnahmen von Plenums-
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unterricht vs. Partner- und Gruppenarbeit geeignet sind; denkbar ist allerdings auch der
Einsatz von einfacheren Aufnahmegeräten im Alltag (z. B. Smartphones), wie die zweit-
sprachendidaktisch motivierten Studien von Levine (2008) oder Pietzuch (2015) illustrieren,
bei denen die Forschungspartner_innen Sprachaufnahmen in ihrem Alltagsleben machten.
Dass auch allein auf der Grundlage von Audioaufnahmen bahnbrechende Forschungsergeb-
nisse zu erzielen sind, zeigen die die bis heute grundlegende Untersuchung von Sinclair/
Coulthard (1975) zu typischen Interaktionsmustern im lehrerzentrierten Unterricht und die
als klassisch zu bezeichnende Arbeit von Wong-Fillmore (1979) zu Strategien von Kindern
beim L2-Erwerb Englisch.
Bei Videoaufnahmen ist zu klären, mit wie vielen Kameras (und entsprechend Mikrofo-
nen) gearbeitet werden soll und wie diese unter Berücksichtigung der Lichtverhältnisse und
insbesondere des Untersuchungsgegenstands positioniert werden sollen. In der Regel wird
vom Fenster weg und mithilfe eines Stativs, ggf. mit Kameraschwenks, gefilmt, doch für
geübte Kameraleute kommt auch der Einsatz beweglicher Kameras in Frage. Insbesondere bei
größeren Forschungsprojekten findet oft ein Kameraskript Einsatz, das im Vorfeld der Unter-
suchung Details zu diesbezüglichen Entscheidungen festlegt und somit die Einheitlichkeit
der Aufnahmen in einem Projekt absichert (s. bspw. Ricart Brede 2011: Anhang). Wird bei
den Aufnahmen mit mehreren Kameras gearbeitet, ist bei der Aufbereitung und Analyse die
Synchronisierung in Split-Screen-Formaten von Interesse. Bei der Erforschung eines fremd-
sprachlichen Kurses für Sprecher_innen von Gebärdensprache ist es beispielsweise unerläss-
lich, mit zwei synchronisierten Videoaufnahmen zu arbeiten, um die Interaktion von frontaler
Lehrperson und Lernergruppe dokumentieren zu können.
Die Referenzarbeit von Schmidt (2007: 190–192) illustriert den Fall, dass Partnerarbeiten
am Computer videographiert wurden. Dazu wurde per Zufallssampling regelmäßig jeweils
ein Paar bei der Bearbeitung von Softwareübungen videographiert. Ergänzend wurde mittels
einer Bildschirmaufzeichnungssoftware (Camtasia) dokumentiert, wie die Schüler_innen die
Übungen am Bildschirm bearbeiteten. Zudem wurde auch der größere Unterrichtskontext
videographisch und mittels Feldnotizen dokumentiert.

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150 5. Forschungsverfahren

Für die Aufbereitung und Analyse von Videodaten stehen inzwischen zahlreiche Soft-
warepakete zur Verfügung, welche teils auch mehrere Audio- und Videospuren gleichzeitig
darstellen können (z. B. Transana). Einige Beispiele sind:
• Anvil (http://www.anvil-software.org),
• Interact (s. http://www.mangold-international.com/de/software/interact),
• Observer (http://www.noldus.com/human-behavior-research/products/the-observer-xt),
• Transana (http://www.transana.org) und
• Videograph (http://www.dervideograph.de).
Die videogestützte Erforschung von Fremdsprachenunterricht hat ungefähr seit der Jahr­
tausendwende einen regelrechten Boom erlebt (s. Überblick in Schramm/Aguado 2010),
sodass sich inzwischen verschiedene Ansätze herausgebildet haben. Schramm (2016) unter-
scheidet diesbezüglich drei Typen videogestützter Forschung zu fremdsprachendidaktischen
Fragen: Erstens untersuchen in pragmalinguistischer Tradition stehende Videointeraktions-
analysen in deskriptiver Absicht den (Fremdsprachen-)Unterrichtsdiskurs (s. beispielsweise
die Referenzarbeit von Schwab 2009, Méron-Minuth 2009; s. auch Kapitel 5.3.6). Im Un-
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terschied dazu zieht die methodentriangulatorische Videographie ausgehend von Videoauf-


nahmen auch weitere Daten (wie beispielsweise videobasiertes Lautes Erinnern, Interviews
oder Fragebögen) heran, um in Anlehnung an ethnographische Vorgehensweisen die Innen-
perspektive der Akteur_innen zu rekonstruieren (z. B. Feick 2016). Drittens ist die quantifizie-
rende, modellbildende videobasierte Unterrichtsforschung, die u. a. durch die TIMSS-Studien
und verwandte Fachdidaktiken (z. B. Riegel/Macha 2013) inspiriert wurde, an kausalen Zu-
sammenhängen zwischen Aspekten der Unterrichtsqualität und den Lernergebnissen interes-
siert (z. B. Helmke et al. 2008).

6 Fazit
Für die Beforschung und Untersuchung von fremdsprachendidaktischen Untersuchungs-
feldern, insbesondere zur Erforschung der fremdsprachlichen Klassenzimmerinteraktion,
stellt die Beobachtung ein zentrales Erhebungsinstrumentarium dar. Bei teilnehmenden Be-
obachtungen im Feld, bei der nicht-teilnehmenden Beobachtung mittels mehr oder wenig
strukturierter Beobachtungsbögen und bei audio- und videographischen Aufzeichnungen
ist gleichermaßen bereits im Vorfeld genau zu bedenken, wie und in welcher Form die Be-
obachtung vorgenommen werden kann und soll. Dies bedeutet auch darüber nachzudenken,
welche Auswirkungen der Beobachtungsprozess auf die eigentliche Forschungsintention hat.
Entscheidend ist dabei u. a., wie invasiv der oder die Forschende ist und wie gegenstandsan-
gemessen das Vorgehen ist. Aus ethischer Sicht scheint es von zentraler Relevanz, die Vor-
gehensweise klar und deutlich mit den Forschungssubjekten abzusprechen und allen Betei-
ligten gegenüber offen darzulegen (z. B. auch den Schulbehörden oder Eltern). Wichtig ist
darüber hinaus, die Beobachtungsmodalitäten beim Publizieren der Ergebnisse deutlich und
umfassend darzustellen.

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5.2.3 Beobachtung
151

emische Forschungsperspektive
Gefahr ethnozentrischer Interpretationen (oder fehlender Distanz)

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im Feld teilnehmend unstrukturiert
Feldnotiz
complete participant
Forschungstagebuch

Auswertung
ethnographisches
Erhebung

participant-as-observer
Beobachtungsprotokoll
oberserver-as-participant offener Beobachtungsbogen
quantifizierende
complete observer Kodierung / Schätzung
im Labor nicht-teilnehmend strukturiert
5.2.3 Beobachtung

etische Forschungsperspektive
Gefahr der Ausblendung nicht-modellierter Sinnstrukturen
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152 5. Forschungsverfahren

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Aguado, Karin/Schramm, Karen/Vollmer, H. Johannes (Hg.) (2010). Fremdsprachliches Handeln be-
obachten, messen und evaluieren. Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung und Video-
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und Lernforschung. In: Daniela Elsner/Britta Viebrock (Hg.). Triangulation in der Fremdsprachen-
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in einem DaF-Handyvideoprojekt. Tübingen: Narr.


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empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Johnson, Burke/Christensen, Larry (2012). Educational Research. Quantitative, Qualitative, and Mixed
Approaches. 4. Auflage. Thousand Oaks, CA: Sage.
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Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. 3. neu ausgestattete Auflage. Weinheim: Psy-
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Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 10. Auflage. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt,
384–401.

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5.2.3 Beobachtung 153

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Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als
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Ricart Brede, Julia/Knapp, Werner/Gasteiger-Klicpera, Barbara/Kucharz, Diemut (2010). Die Entwick-
lung von Beobachtungssystemen in der videobasierten Forschung am Beispiel von Qualitätsanalysen
vorschulischer Sprachfördereinheiten. In: Aguado, Karin/Schramm, Karen/Vollmer, Helmut J. (Hg.),
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*Riegel, Ulrich/Macha, Klaas (Hg.) (2013). Videobasierte Kompetenzforschung in den Fachdidaktiken.
Münster: Waxmann.
Scheele, Birgit/Groeben, Norbert (1998). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Theoretische
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sprachen lehren und lernen 27, 12–32.
*Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht. Eine em-
pirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit,
Kapitel 7]
Schramm, Karen (2014). Besondere Forschungsansätze: Videobasierte Unterrichtsforschung. In: Setti-
nieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.).
Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh,
243–254.
Schramm, Karen (2016). Unterrichtsforschung und Videographie. In: Burwitz-Melzer, Eva/Mehlhorn,
Grit /Riemer, Claudia/Bausch, Karl-Richard/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.). Handbuch Fremdsprachen-
unterricht. 6. vollständig neu bearbeitete Auflage. Tübingen: A. Francke, 587–592.
Schramm, Karen/Aguado, Karin (2010). Videographie in den Fremdsprachendidaktiken – Ein Überblick,
in: Aguado, Karin/Schramm, Karen/Vollmer, Helmut J. (Hg.). Fremdsprachliches Handeln beobach-
ten, messen und evaluieren. Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung und Videographie.
Frankfurt a. M.: Lang, 185–214.
*Schwab, Götz (2009). Fremdsprachenunterricht und Konversationsanalyse. Landau: Verlag empirische
Pädagogik. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
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chell, Rosamond (Hg.). Research in the Language Classroom. London: Modern English Publications,
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*Waggershauser, Elena (2015). Schreiben als soziale Praxis. Eine ethnographische Untersuchung er-
wachsener russischsprachiger Zweitschriftlernender. Tübingen: Stauffenburg.

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154 5. Forschungsverfahren

Watson-Gegeo, Karen Ann (1988). Ethnography in ESL: Defining the essentials. In: TESOL Quarterly
22, 575–592.
*Wong-Fillmore, Lily (1979). Individual differences in second language acquisition. In: Fillmore,
Charles/Kempler, Daniel/Wang, William S.-Y. (Hg.). Individual Differences in Language Ability and
Language Behavior. New York: Academic Press, 203–228.
Ziebell, Barbara/Schmidjell, Annegret (2012). Unterrichtsbeobachtung und kollegiale Beratung. Berlin:
Langenscheidt.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Aguado, Karin/Schramm, Karen/Vollmer, H. Johannes (Hg.) (2010). Fremdsprachliches Handeln


beobachten, messen und evaluieren. Neue methodische Ansätze der Kompetenzforschung
und Videographie. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Dieser Sammelband präsentiert fünf Beiträge zur Videographie in der Fremdsprachendidaktik. Hier
finden sich sowohl ein Überblick über den Forschungsstand als auch spezialisierte Beiträge zu Fragen
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der Erhebung, der Transkription und der Entwicklung von Beobachtungssystemen.


Lamnek, Siegfried (2010). Qualitative Sozialforschung. 5. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz
[Kapitel 11: Teilnehmende Beobachtung, 498–581].
In diesem Handbuch qualitativer Sozialforschung wird das Thema teilnehmende Beobachtung an-
hand zahlreicher Beispiele aus der Soziologie ausführlich behandelt. Zur ersten Orientierung über
Begrifflichkeiten finden auch fremdsprachendidaktisch interessierte Leser_innen hier eine systema-
tische Terminologie-Einführung mit anschaulichen Übersichten.
Wajnryb, Ruth (1992). Classroom Observation Tasks: A Resource Book for Language Teachers
and Trainers. Cambridge: Cambridge University Press.
In diesem Arbeitsbuch erhalten Lehrkräfte und noch unerfahrene Forschende eine verständliche
Anleitung, wie Unterrichtsprozesse beobachtet und analysiert werden können, um daraus konkrete
Schlüsse für die eigene Praxis zu ziehen. Anhand zahlreicher Aufgaben werden gezielt Beobachtungs-
kompetenzen erlernt, ohne dass man sich auf bestimmte theoretische Interpretationsansätze und
Forschungsmethoden festlegen muss.
Watson-Gegeo, Karen Ann (1988). Ethnography in ESL: Defining the essentials. TESOL Quarterly
22, 575–592.
Dieser Artikel arbeitet die wichtigsten Charakteristika ethnographischer Forschung heraus und fragt
nach dem Potenzial ethnographischer Forschung für das Fach English as a Second Language. Die
prägnante Darstellung der theoretischen Hintergründe und der Etappen des ethnographischen For-
schungsprozesses lassen diesen Artikel als einführende Lektüre besonders geeignet erscheinen.
Ziebell, Barbara/Schmiedjell, Annegret (2012). Unterrichtsbeobachtung und kollegiale Bera-
tung. Berlin: Langenscheidt.
Diese für den Bereich Deutsch als Fremdsprache konzipierte Fernstudieneinheit führt u. a. in Tech-
niken der Unterrichtsbeobachtung, in die Beobachtung ausgewählter Aspekte im Unterrichtshandeln
und in die Beobachtung von Lehrerverhalten ein. Dazu bietet es neben verständlichen Einführungs-
texten auch zahlreiche Beobachtungsbögen und Aufgaben mit Lösungsvorschlägen sowie auch Video-
beispiele an.

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5.2.4 Befragung 155

5.2.4 Befragung

Claudia Riemer

1 Begriffsklärung und Ausgangslage


In der empirischen Fremdsprachenforschung werden mündliche und schriftliche Befragungs-
methoden zur Datenerhebung sehr häufig eingesetzt, auch in der überwiegenden Zahl der für
diesen Band als Referenzen fungierenden empirischen Forschungsarbeiten. Vielfach wird an
vorhandenen forschungsmethodischen und -methodologischen Diskussionen aus den Sozial-
wissenschaften, der Erziehungswissenschaft und Psychologie angeknüpft, zunehmend stehen
auch fachinterne Ausführungen zur Verfügung (vgl. exemplarisch Daase/Hinrichs/Settinieri
2014 für Befragung allgemein; Dörnyei 2010, Zydatiß 2012 für die schriftliche Befragung;
Trautmann 2012 für qualitative Interviews). Die Gründe für diese große Beliebtheit sind
vielfältig: Mit Blick auf das allgemeine Erkenntnisinteresse der Erforschung des Lehrens
und/ oder Lernens von Fremd- und Zweitsprachen, bietet es sich häufig an, hierfür gerade
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die Protagonisten – die Lehrenden und Lernenden – selbst mit ihrer Binnensicht zu Wort
kommen zu lassen. Es hat aber auch damit zu tun, dass viele Untersuchungsgegenstände
(wie etwa Erfahrungen, Einstellungen, Motivationen oder Haltungen von Lehrenden und
Lernenden) nicht aus der Außenperspektive beobachtbar sind und dann eine Operationali-
sierung in Form von Selbstauskünften befragter Personen sinnvoll ist. Es spielt aber sicher
auch eine Rolle, dass Befragungsmethoden an alltäglichen kommunikativen Erfahrungen
des Fragens und Antwortens anknüpfen und daher insbesondere Forschungsnovizen hier
weniger methodische Zugangshürden antizipieren; einen Fragebogen zu entwickeln oder
ein Interview durchzuführen erscheint zunächst eine leicht(er) zu bewältigende Aufgabe zu
sein.
Wie bei anderen Datenerhebungsmethoden auch, spielt die Qualität des Erhebungsinstru-
ments die entscheidende Rolle für die Qualität von Befragungsdaten. Befragungsdaten sind
allerdings das Ergebnis von Selbstauskünften (engl. self reports) und daher mit der generellen
Problematik verbunden, dass ihre Zuverlässigkeit eingeschränkt ist. Dies hängt u. a. von der
Bereitschaft und Fähigkeit der Befragten zu wahrheitsgemäßen und relevanten Aussagen ab;
auch Erinnerungsfehler, sozial erwünschte Antworten, Gefälligkeitsaussagen und Einflüsse
persönlicher Antworttendenzen (engl. response set), wie z. B. die Akquieszenz (Ja-Sage-Ten-
denz), sind nie auszuschließen. Möglichst unverfälschte Daten durch Befragung zu erheben,
muss daher durch die jeweiligen Verfahren so weit es nur geht sichergestellt werden. Ein Bei-
spiel für gute Reflexion der Effekte sozialer Erwünschtheit bei Fragebogenbefragungen sowie
deren Berücksichtigung bei der Fragebogenkonstruktion findet sich in der Studie von Özkul
(2011: 94–95), die Berufswahlmotive von Lehramtsstudierenden untersucht.
Zu unterscheiden sind schriftliche (Fragebogen) und mündliche Formen (Interview) der
Befragung sowie der Grad ihrer Standardisierung. Fragebögen werden gewöhnlich dann
eingesetzt, wenn größere Probandengruppen erfasst werden sollen und/oder die Anony-
mität schon in der Befragungssituation gewahrt bleiben soll. In der Regel sind Fragebögen
stark standardisiert. Die Erhebung der Fragebogendaten selbst sowie deren Aufbereitung und
Auswertung ist relativ unaufwändig – was allerdings auf die Erstellung eines geeigneten Fra-

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156 5. Forschungsverfahren

gebogens nicht zutrifft. Interviews haben den Vorteil, dass für viele Befragten der mündliche
Modus einfacher ist und Befragte sich intensiver mit den Fragen auseinandersetzen; ihre
Anonymität kann allerdings frühestens während der Datenaufbereitung (Transkription) her-
gestellt werden. Interviews werden als Einzelinterviews oder als Gruppeninterviews bzw.
Gruppendiskussionen durchgeführt, was im Vergleich zu schriftlichen Befragungen einen
erheblich größeren Zeitaufwand für die Datenerhebung (und auch für die darauf folgende
Transkription und Datenanalyse) erforderlich macht und daher in der Regel den Umfang der
Probandengruppen einschränkt. Beide Formen sind im Rahmen qualitativer und quantitativer
Forschungsansätze einsetzbar, wobei sich der jeweils erforderliche bzw. erwünschte Grad der
Standardisierung unterscheidet.
Die Standardisierung von Befragungen umfasst verschiedene Aspekte: die Geschlossenheit
der Fragen, die Festlegung der Fragenreihenfolge sowie die Gestaltung der Befragungssituati-
on. Standardisierte Befragungen (auch als „strukturierte“ Befragung bezeichnet) sind typisch
für einen zugrundegelegten quantitativen, hypothesentestenden Forschungsansatz und sehen
v. a. geschlossene Fragen in festgelegter Reihenfolge sowie eine exakte Kontrolle der Daten-
erhebungssituation vor (gleiche Bedingungen für alle Probanden, gleiches Verhalten der Inter-
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viewer, u. a. gleiche Befragungshilfen sowie Verzicht auf Nachfragen sowie individualisierte


Erläuterungen). Offene bzw. semi-offene Befragungen verfolgen einen qualitativen, hypothe-
sengenerierenden Forschungsansatz und sind nur minimal oder gar nicht standardisiert. Sie
sehen v. a. offene Fragen und keine festgelegte Fragereihenfolge vor (diese ergibt sich aus dem
Gesprächsverlauf und wird v. a. durch den Befragten bestimmt); die Rahmenbedingungen für
die Datenerhebungssituation werden in der Regel nicht kontrolliert (Eingehen auf Wünsche
der Befragten z. B. in Bezug auf Ort und Zeit, Nachfragen und Erläuterungen des Interview-
ers möglich).
Bei Befragungen können unterschiedliche Arten von Fragen gestellt werden (vgl. Porst
2014: 53–69). Offene Fragen, die häufig W-Fragen sind (z. B. „Warum lernen Sie Deutsch
als Fremdsprache?“), sind von den Befragten mit eigenen Worten zu beantworten, was die
Tiefgründigkeit und Vielseitigkeit der Antworten erhöht – aber auch vom Grad der Ver-
balisierungsfähigkeit und Bereitschaft des Befragten zu relevanten Antworten abhängt. Bei
geschlossenen Fragen (z. B. „Wie stark interessieren Sie sich für Deutsch als Fremdsprache?“)
müssen die Befragten aus einer begrenzten Zahl vorgegebener Antworten auswählen (z. B.
„sehr stark, stark, wenig, überhaupt nicht“); auch Mehrfachauswahloptionen (multiple choice)
sind möglich (z. B. „Welche Sprachen haben Sie in der Schule gelernt? Antwortoptionen:
Englisch, Französisch, Spanisch, Latein, Türkisch“). Halboffene Fragen erlauben neben der
Auswahl aus vorgegebenen Antworten eine weitere freie Antwort (s. letztes Beispiel, wei-
tere Antwortoption: „sonstige“). Geschlossene Fragen haben den Vorteil, dass sie schnell aus-
zuwerten, auf einer Nominal-, Ordinal- oder Intervallskala zu quantifizieren sind (vgl. dazu
näher Kapitel 5. 3. 10) und die Daten miteinander vergleichbar sind. Sie unterliegen allerdings
immer dem Risiko, dass sich Befragte nicht in den Fragen wiederfinden und daher beliebig
antworten, teilweise Antworten auslassen oder im schlimmsten Fall den Fragebogen ab-
brechen – was entweder „fehlende Werte“ für die statistische Auswertung bedeutet bzw. die
Güte der Befragung insgesamt verringert. Allein aus diesem Grund bieten sich halboffene
und offene Fragen als Ergänzung zu geschlossenen Fragen an.

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5.2.4 Befragung 157

Der standardisierte Fragebogen mit vorrangig geschlossenen Fragen mit Antwortoptionen


stellt die klassische Form der Befragung im Rahmen eines quantitativen Forschungsansatzes
dar, während das offene bzw. semi-offene Interview ein gängiges Instrument qualitativer
Forschung ist. Offene Fragen in schriftlichen Befragungen sind in der Regel nicht geeignet,
die Ziele qualitativer Forschung hinreichend abzubilden.
Häufig werden in der Fremdsprachenforschung sowohl standardisierte Fragebögen als
auch qualitative Einzelinterviews (z. B. bei Biebricher 2008 im Rahmen einer quasi-experi-
mentell angelegten Interventionsstudie zum extensiven Lesen; s. Kapitel 7) bzw. unterschied-
liche Interviewverfahren (z. B. Gruppendiskussion und Einzelinterview in der Studie von
Tassinari 2010, die Lehrkräfte und Experten zum autonomen Lernen befragt; s. Kapitel 7) im
Rahmen von mixed-methods-Designs eingesetzt. Fragebögen können außerdem vor Einze-
linterviews zur Abfrage von reinen Faktenfragen und demographischen Angaben eingesetzt
werden – sie können so zur Entlastung der Gesprächssituation (und zur Umfangreduktion
bei der Datenaufbereitung) beitragen. Ein Beispiel dazu findet man bei Ehrenreich 2004
(s. Kapitel 7), die mittels eines Kurzfragebogens wichtige kontextuelle und biographische
Rahmenbedingungen abfragt, bevor sie Untersuchungsteilnehmer dann mittels Interview zu
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einem Assistant-Teacher-Auslandsaufenthalt befragt. Auf das Forschungsthema zugeschnit-


tene Fragebogenerhebungen können das kontrastive Sampling für eine qualitative mündliche
Befragung unterstützen (zum Sampling vgl. auch Kapitel 4.3). Aber auch mit anderen Erhe-
bungsverfahren werden Befragungsverfahren kombiniert, um unterschiedliche Perspektiven
zu gewinnen (z. B. Kombination von strukturierter Unterrichtsbeobachtung mit Befragungen
von Lehrenden zu ihren Überzeugungen qua qualitativem, leitfadengestützten Interview und
Gruppendiskussion bei Hochstetter 2011; s. Kapitel 7) oder ergänzende Informationen zu
erhalten (z. B. Ergänzung der zentralen Methode der Unterrichtsbeobachtung/ Videographie
durch strukturierte Fragebögen, retrospektives Interview, Lerntagebuch und Gruppendiskus-
sion bei Schmidt 2007; s. Kapitel 7). Solche mehr-methodischen Designs verfolgen Trian-
gulationsansätze, die mit besonderen Herausforderungen bei der Datenanalyse sowie dem
Ergebnisabgleich konfrontiert sind (vgl. dazu Kapitel 4.4).

2 Fragebogen
Der Einsatz von Fragebögen ist mit einer Reihe von Vorteilen verbunden: Befragungen kön-
nen mittels Fragebögen sehr exakt vorstrukturiert werden; Fragen können klar festgelegt wer-
den und präzise formuliert werden. Fragebögen sind relativ leicht und räumlich wie zeitlich
flexibel einsetzbar; große Mengen an Daten können mit überschaubarem Aufwand erhoben
werden. Sie können auf Papier ausgeteilt werden und nach kurzer Zeit wieder eingesammelt
werden. Alternativ können sie auf postalischem oder elektronischem Wege versandt und er-
hoben werden; darüber hinaus kann bei elektronisch unterstützten Befragungen mittels Ein-
satz von Fragebogensoftware sichergestellt werden, dass alle Fragen beantwortet werden. Die
Anonymität der Befragten kann bewahrt werden. Die gewonnenen Daten sind vergleichbar
und – abhängig vom Grad ihrer Standardisierung – leicht quantifizierbar und quantitativen
Analyseverfahren zuzuführen. Aber: Wenn Fragebögen zu schnell erstellt und eingesetzt wer-
den, geht dies meistens zu Lasten der Datenqualität, was die Güte von Fragebogenstudien
erheblich einschränken kann. So fordert u. a. Dörnyei (2010: XIII) für die Fremdsprachenfor-

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158 5. Forschungsverfahren

schung, dass der Einsatz von Fragebögen besser forschungsmethodisch und -methodologisch
reflektiert und vorbereitet werden muss, als dies in vielen Studien der Fall ist.

Skalentypen

Fragen können als geschlossene oder offene Fragen gestellt werden. In standardisierten Fra-
gebögen überwiegen die geschlossenen Fragen, für die Antwortoptionen in Form unterschied-
licher Skalen vorgegeben sind (zu ausführlichen Erläuterungen zum Skalenniveau, vgl. auch
Porst 2014: 71–97). Offene Fragen haben oft den Charakter eines Annex und werden häufig
von den Untersuchungsteilnehmern gar nicht beantwortet – oder spielen bei der Datenana-
lyse keine wichtige Rolle.
Oft enthalten Fragebögen gar keine Fragen, auf die die Befragten mittels vorgegebener
oder (seltener) freier Antworten reagieren sollen. Häufig zu finden sind Rating-Skalen, ins-
besondere so genannte Likert-Skalen, die positiv oder negativ formulierte Statements vor-

Beispiel 1: Item aus dem Fragebogen zur Messung der fremdsprachenspezifischen Angst
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von Horwitz/Horwitz/Cope (1986: 129)

1. I never feel quite sure of myself when I am speaking in my foreign language class.

Strongly agree – Agree – Neither agree nor disagree – Disagree – Strongly disagree

Beispiel 2: Item aus dem Fragebogen zur Messung der integrativen und i­nstrumentellen
Orientierung zum Fremdsprachenlernen von Gardner (1985: 179)

1. Studying French can be important for me only because I’ll need it for my future
career.

Strongly Modera- Slightly Neutral Slightly Moderate- Strongly


­Disagree tely Dis- Disagree Agree ly Agree Agree
agree
Beispiel 3: Item zur Messung von Einstellungen zu Computer-Sprachlernprogrammen
von Schmidt (2007: Online-Anhang 3, Abschlussfragebogen Schülerinnen)

sehr hilf- eher hilf- wenig hilf- nicht hilf-


reich reich reich reich
Wörterbuch Englisch-Deutsch □ □ □ □
Beispiel 4: Item zur Messung der Häufigkeit der Computerbenutzung von Schmidt
(2007: Online-Anhang 2, Anfangsfragebogen für Lehrende)

sehr oft oft manchmal selten nie


(Mehr als (Ein bis (Ein bis (Höchstens
dreimal zwei zwei einmal pro
pro Mal pro Mal pro Monat)
Woche) Woche) Monat)
Wie oft surfen Sie im □ □ □ □ □
Internet?

Abbildung 1: Skalentypen im Fragebogen

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5.2.4 Befragung 159

halten, die den Befragten zur (Selbst-)Einschätzung auf einer vorgegebenen, anzukreuzenden
Ratingskala vorgelegt werden (vgl. Porst ebda, Dörnyei 2010: 26–33). Mittels solcher Items
werden z. B. Einstellungen, Haltungen und Erfahrungen operationalisiert. Empfohlen werden
fünf bis neun Skalenpunkte, wobei zu berücksichtigen ist, dass bei einer hohen Anzahl mit
pseudodifferenzierten Antworten zu rechnen ist. Die Anzahl der skalierten Ankreuzmöglich-
keiten kann gerade oder ungerade sein; beides ist in der Forschung üblich. Zu bedenken ist
aber stets, dass eine ungerade Anzahl Unschärfen bei der Datenerhebung (und späteren Da-
tenauswertung) ergeben kann, weil Untersuchungsteilnehmer die Mittelposition einer Skala
unterschiedlich interpretieren. Wenn sie die Mittelposition ankreuzen, kann dies bedeuten,
dass sie keine Meinung dazu haben – aber evtl. auch, dass sie die Frage uninteressant finden;
evtl. sind sie aber wirklich neutral. Alternativ könnte bei einer ungeraden Anzahl eine zusätz-
liche Antwortkategorie, wie die Option „weiß nicht“/„nicht zutreffend“ vorgegeben werden.
Eine gerade Anzahl wiederum zwingt die Befragten, sich für eine Seite zu entscheiden, auch
wenn sie vielleicht unentschieden sind.
Die Punkte auf den Ratingskalen werden mittels geeigneter Begriffe sprachlich festgelegt
(vgl. Bsp. 1 für eine 5stufige Skala, Bsp. 2 für eine 7stufige Skala in anderer Zustimmungs-
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richtung, Bsp. 3 für eine 4stufige Skala, die die Befragten zu einer Antwortrichtung zwingt);
alternativ können auch Piktogramme, wie z. B. Smileys für Skalenpunktmarkierungen ver-
wendet werden (z. B. für den Einsatz von Likert-Skalen bei Kindern; vgl. Dörnyei 2010:
28–29). Schwieriger ist die Benennung der Skalenpunkte bei Häufigkeitsangaben, da An-
gaben wie „selten“ oder „häufig“ unterschiedlich interpretiert werden können (vgl. Beispiel 4
für eine häufig anzutreffende Lösung). Als Alternative bieten sich ausschließlich endpunkt-
benannte Skalen an, da so die Gleichabständigkeit der Zwischenstufen besser erreicht wird,
insbesondere wenn die Benennung vieler Zwischenstufen nicht uneindeutig möglich ist. Der
Grad der Gleichabständigkeit der Skalen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Art der
Quantifizierung der mit solchen Items gewonnenen Daten. In der Regel sind Likert-Skalen
nicht äquidistant; daher sind damit gewonnene Daten im strengen Sinn keine intervallskalier-
ten Daten, sondern ordinale bzw. rangskalierte Daten, die nicht allen statistischen Verfahren
zugänglich sind (vgl. Kapitel 5. 3. 10).

Erstellung eines Fragebogens

Eine schriftliche Befragung ist nur so gut wie ihr Fragebogen – und ein Fragebogen ist nur
so gut wie seine Items. Im Vergleich zu den Vorteilen einer Fragebogenbefragung in Bezug
auf den Zeitaufwand der Erhebung und Auswertung ist nicht zu unterschätzen, welcher
Aufwand bei der Erstellung eines Fragebogens zu leisten ist. Entscheidende Schritte sind die
Formulierung sowie Zusammenstellung der Items. Gerade bei Untersuchungsgegenständen,
für die es noch keine geprüften Verfahren gibt, und bei abstrakten Konstrukten, wie z. B.
Einstellungen, Meinungen oder anderen Persönlichkeitsvariablen, sind Multi-Items gegen-
über Einfach-Items vorzuziehen, d. h. mehrere, gewöhnlich vier bis zehn Items werden in
Annäherung an das zu erfassende Konstrukt formuliert (zur Verwendung von Multi-Items,
vgl. Dörnyei 2007: 103–104, Dörnyei 2010: 23–26).
Es gibt keine harten Regeln für die Itemformulierung – und vorhandene Empfehlungen
bleiben in gewisser Weise immer abstrakt. Aus der Vielzahl von Methodeneinführungen (vgl.

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160 5. Forschungsverfahren

Daase/Hinrichs/Settinieri 2014: 105, Dörnyei 2007: 108–109, Dörnyei 2010: 40–46, Meyer
2013: 91, Porst 2014: 20–31, 98–118) können jedoch einige Faustregeln abgeleitet werden,
da sie insbesondere Forschungsnovizen vor vermeidbaren Fehlern bewahren können; alle
Regeln sind besonders sorgsam zu beachten, wenn die Sprache des Fragebogens nicht die L1
der Befragten ist.

Faustregeln für die Formulierung von Fragebogenitems


• Items sind kurz und in einfacher, verständlicher Sprache zu formulieren (in der Regel weniger
als 20 Worte), die von allen Beteiligten in gleicher Weise verstanden werden.
• Uneindeutige Wörter (wie z. B. „gut“, „einfach“, „manchmal“, „oft“, „viel(e)“), unklare Wör-
ter (z. B. „jung“, „Nachbarschaft“) oder mehrdeutige Wörter (wie z. B. „modern“, „Heimat“,
„Stress“) sollen vermieden werden – denn jeder Befragte kann etwas anderes darunter ver-
stehen.
• Unklare Begriffe sind – so sie nicht vermieden werden können – zu definieren.
• Allgemeine Fragen sind zugunsten konkreter Fragen zurückzustellen.
• Suggestivfragen jeder Art und hypothetische Fragen sind zu vermeiden.
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• Doppelte Verneinungen sind zu vermeiden, denn sie führen zu Missverständnissen.


• Jedes Item darf nur einen Aspekt behandeln.
• Items dürfen die Befragten nicht überfordern – sie sollen aber auch nicht trivial sein.
• Items sollen nicht auf Informationen zielen, über die die Befragten möglicherweise nicht
verfügen.
• Der räumlich-zeitliche Bezug von Items soll immer klar und eindeutig sein.
• Zustimmende und ablehnende Antwortmöglichkeiten sollen balanciert sein; Items sollen so
formuliert sein, dass sich abwechselnd positive und negative Antworten für den Befragten
ergeben.
• Antwortoptionen sollen hinreichend erschöpfend und überschneidungsfrei sein.
• Und noch eine wichtige Regel: Bei der Formulierung von Items sollte man im Blick behalten,
dass sie die Übersetzung in andere Sprachen nicht unnötig erschwert (z. B. Vermeidung indi-
rekter Sprache und metaphorisierter Ausdrücke).

Abbildung 2: Faustregeln für die Erstellung von Fragebogenitems

Zur Festlegung der Items gehört neben der Formulierung der Fragen oder Statements auch
die der Auswahl der Skalentypen (s. o.) bzw. Antwortoptionen. Bei Faktenfragen (z. B. nach
demographischen Variablen wie Alter, Bildungslaufbahn, Geschlecht) sind geeignete Ant-
wortoptionen festzulegen, z. B. im Multiple-Choice-Format. Statements müssen entsprechen-
de Rating-Skalen zugeordnet werden, wobei begründete Entscheidungen getroffen werden
müssen, was die Anzahl der Zwischenstufen betrifft und ob diese gerade oder ungerade
sein soll. Auch sollte bedacht werden, dass es bei Mehrfachantworten die häufige Tendenz
gibt, dass Befragte die ersten (primacy-effect) oder letzten Antwortkategorien (recency-effect)
vermehrt ankreuzen (dieser Effekt verstärkt sich bei standardisierten mündlichen Befragun-
gen).
Bei der Anordnung der Fragen ist zu beachten, dass sie der Aufmerksamkeitsspanne des
Befragten entspricht. Zum Einstieg in den Fragebogen sollten möglichst inhaltliche und

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5.2.4 Befragung 161

themenbezogene, motivierende Items vorgesehen werden, die von den Untersuchungsteil-


nehmern leicht beantwortet werden können und sie persönlich betreffen. Auf diese Weise
soll eine Bindung des Befragten erreicht werden (vgl. auch die „Regeln für die Einstiegsfrage“
bei Porst 2014: 139–146). Die zentralen Items für die Fragestellung sollen in den ersten zwei
Dritteln des Fragebogens gestellt werden. Generell gilt hierfür die Empfehlung, dass Items
logisch in Themenblöcken geordnet werden sollen; Multi-Items sowie Items zu sehr nah ver-
wandten Konstrukten sollten jedoch randomisiert werden (z. B. bei testähnlichen Messungen
von Persönlichkeitseigenschaften), um Gedächtniseffekte zu vermeiden. Es empfiehlt sich
darüber hinaus, unaufwendige Fragen eher an das Ende des Fragebogens zu stellen (z. B. de-
mographische Fragen und leicht abrufbare Faktenfragen). Heikle Fragen, die möglicherweise
Befürchtungen von Befragten in Bezug auf Sanktionen wecken könnten oder tabuisierte The-
menbereiche betreffen (das kann z. B. auch eine Frage nach dem Einkommen sein) sollten in
das hintere Drittel des Fragebogens gerückt werden, um ihren vorzeitigen Ausstieg unwahr-
scheinlicher zu machen. Nicht unterschätzt werden sollten mögliche Ausstrahlungseffekte von
Fragen auf die Folgefragen. Am Ende des Fragebogens sollte den Befragten gedankt werden
und die Möglichkeit zu inhaltlichen Ergänzungen und methodischen Anmerkungen gegeben
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werden; ggfs. sollte angeboten werden, unter Achtung datenschutzrechtlicher Regelungen,


Informationen über die Ergebnisse der Studie zu erhalten oder sich für Folgebefragungen
(auch mündlicher Art) zur Verfügung zu stellen.
Weitere Parameter für einen guten Fragebogen sind mit der Gestaltung des Fragebogens
verbunden: Länge (als Faustregel gilt eine optimale Länge von nicht über vier Druckseiten für
den Frageteil und eine Gesamtbearbeitungszeit von unter 30 Minuten (vgl. Dörnyei 2010: 13),
gutes und professionell wirkendes Layout mit einem optisch ansprechenden und das Thema
erläuternden Deckblatt, genaue Erläuterungen zum Ausfüllen des Fragebogens (z. B. Hin-
weise, wie die Skalen anzukreuzen sind, dass es keine richtigen oder falschen Antworten gibt,
dass Ehrlichkeit wichtig ist) – und v. a.: nicht zu viel Text in lesbarer Schriftgröße pro Seite (es
soll Spaß machen, den Fragebogen auszufüllen!). Viele genaue Hinweise und Beispiele dazu
sind in den Einführungen von Dörnyei (2010) und Porst (2014) zu finden. Bei nicht direkter,
auch elektronischer Administration darf ein einladendes Anschreiben mit der Bitte um Teil-
nahme und Zusicherung der Wahrung der datenschutzrechtlichen und forschungsethischen
Regelungen sowie Regelungen guter wissenschaftlicher Praxis (vgl. dazu Kapitel 4.6) nicht
fehlen. Wird der Fragebogen durch den Forscher selbst verteilt, spielt darüber hinaus das
persönliche Auftreten eine wichtige Rolle.

Qualitative schriftliche Befragung

Schriftliche Befragungsverfahren werden in der qualitativen Fremdsprachenforschung nur


recht selten verwendet. Sie bieten sich aber dann an, wenn subjektive Erfahrungen in grö-
ßerer Breite erhoben werden sollen und/oder Sonderformen von Introspektion schriftlich
erfolgen können. Ein bekanntes Beispiel stellt das Tagebuch, häufig in der Form eines Sprach-
lerntagebuchs, dar (vgl. Bailey/Ochsner 1983), das im Rahmen bekannter Einzelfallstudien
zur Erforschung von Emotionen und Lernerkognitionen zur Anwendung kam (vgl. exem-
plarisch Bailey 1983, Schmidt/Frota 1986). Sprachlerntagebücher scheinen insbesondere dann
ergiebige Datenquellen zu sein, wenn sie von erfahrenen Lernenden bzw. Fremdsprachen-

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162 5. Forschungsverfahren

forschern geschrieben werden (die Autoren in den oben genannten Studien waren auch die
Tagebuchschreiber!). Ein anderes Beispiel ist das Instrument der mittels eines relativ offenen
Frageimpulses erhobenen schriftlichen Sprachlernbiographie, die in der deutschen Sprach-
lehrforschung zur Untersuchung von Lernervariablen eingesetzt wird (vgl. exemplarisch
Edmondson 1997, Riemer 2011).

3 Interview
Zu unterscheiden sind quantitative von qualitativen Interviews. Quantitative, strukturierte
Interviews spielen in der deutschen wie internationalen Fremdsprachenforschung keine große
Rolle. Sie sind eine Sonderform der standardisierten Befragung, für die die oben genannten
Regeln und Grundlagen der Fragebogenbefragung gelten; Frageformulierungen und Ant-
wortoptionen sind vorgegeben. Die Durchführung eines strukturierten Interviews ist eine
mündliche Administration eines vorgegebenen Fragebogens; allerdings mit dem Vorteil,
dass die direkte (oder telefonische) mündliche Befragung das Risiko vermindert, dass Items
ausgelassen oder viel zu flüchtig durchgegangen werden. Aus Gründen der notwendigen
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Gleichbehandlung geschieht dies allerdings um den Preis einer recht künstlichen Gesprächs-
situation, bei der keine Spielräume für Frageanpassungen, Nachfragen oder auf den jeweili-
gen Untersuchungsteilnehmer bezogene Erläuterungen bestehen.

Qualitative Interviews

Qualitative Interviews sind zentrale Datenerhebungsmethoden in qualitativen Forschungs-


ansätzen, da sie dem Ziel der Erhebung möglichst reichhaltiger und tiefgründiger Daten
gut entsprechen. Die Untersuchungsteilnehmer sollen in möglichst natürlich gehaltenen Ge-
sprächen zur ausführlichen Darlegung ihrer Erfahrungen, Meinungen, Überzeugungen und
auch ihres Wissens angeregt werden. Widersprüchlichkeit, Vagheit und auch Nicht-Wissen
können in den Antworten zum Ausdruck gebracht werden. Während geschlossene Befra-
gungen darauf setzen (müssen), von den Untersuchungsteilnehmern auf vorgegebene Items
möglichst lückenlos ehrliche Einschätzungen zu bekommen, wollen qualitative Interviews
die Befragten dazu bringen, selbst Auskünfte darüber zu geben, was und warum etwas für
sie relevant ist. Die Tiefe und Breite der Antworten soll nicht eingeschränkt werden. Für
qualitative Interviews gilt das Prinzip der Offenheit; den Untersuchungsteilnehmern wird
Raum für Elaborationen, Klarstellungen und Erklärungen und damit die Option zu tief-
gründigeren und glaubwürdigeren Auskünften gegeben. Nicht ausgeschlossen werden kann
dabei allerdings, dass für den Untersuchungsgegenstand irrelevante oder nur oberflächliche
Informationen gewonnen werden. Dieses Risiko zu minimieren, stellt ein wesentliches Ziel
der Interviewgestaltung seitens des Interviewers dar.
Daten, die aus qualitativen Befragungen resultieren, sind nur eingeschränkt vergleich-
bar, da die Offenheit der Fragestellung unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und auch
unterschiedliche Breite und Tiefe der Berichte erlaubt.
In den empirischen Disziplinen in den Sozialwissenschaften wurde eine Reihe unterschied-
licher Interviewformate entwickelt, die auf einem Kontinuum semi-offener bis maximal of-
fener Verfahren angesiedelt werden können. So gibt es Interviewformen, die nur sehr wenige
Steuerungselemente haben (z. B. narratives Interview, Gruppendiskussion), andere (wie z. B.

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5.2.4 Befragung 163

das leitfadengestützte Interview oder das Experteninterview) strukturieren die Erhebungs-


situation etwas stärker vor – aber in keiner Weise so umfangreich, wie dies bei strukturierten
Interviews der Fall ist. Die Steuerung der Gesprächssituation erfolgt während des Gesprächs
und ist weniger von einem Instrument wie dem Leitfaden, sondern stark von den Strategien
des Interviewers zur (zurückhaltenden) Lenkung des Gesprächs abhängig. Es werden viele
unterschiedliche Interviewvarianten unterschieden (vgl. z. B. Friebertshäuser/Langer 2010,
Helfferich 2011: 35–46, Kvale 2007: 67–77), von denen im Folgenden die gängigsten etwas
genauer erläutert werden.

Das Leitfadeninterview

Das Leitfadeninterview ist eine häufig anzutreffende, semi-offene Form des qualitativen Inter-
views. Die wesentlichen Aspekte des Untersuchungsgegenstands und der Forschungsfrage(n)
werden vorab in Stichworten und (offenen) Fragen festgehalten. Durch die Entscheidung für
diese etwas stärker vorstrukturierte mündliche Befragung kann gewährleistet werden, dass
die interessierenden Aspekte des Untersuchungsgegenstands zur Sprache kommen – sie wer-
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den durch entsprechende Impulsfragen des Interviewers eingebracht. Dabei muss allerdings
in Kauf genommen werden, dass die erhobenen Daten etwas stärkeren Elizitierungs­charakter
haben, was mit der reinen Lehre der qualitativen Forschungsmethodologie nicht völlig im
Einklang steht. Die Leitfragen sollen aus diesem Grund so offen gehalten sein, dass die Unter-
suchungsteilnehmer ausreichend Möglichkeit haben, eigene Sinnzusammenhänge zu elabo-
rieren bzw. eigene Schwerpunkte zu setzen. Der Leitfaden sollte daher nicht zu umfangreich
sein und eher als Orientierung und weniger als ein strikter Ablaufplan gehandhabt werden
(zum Dilemma der „Leitfadenbürokratie“ vgl. die frühen Ausführungen von Hopf 1978).
Fragenreihenfolge und exakte Formulierungen werden nicht vorgegeben, sondern sollen sich
möglichst harmonisch in den Gesprächsfluss, der v. a. durch den Untersuchungsteilnehmer be-
stimmt wird, einfügen. Die Befragten sollen zu möglichst ausführlichen Antworten ermutigt
werden; auch sollte ihnen der Raum für offene Erzählungen gegeben werden. Nachfragen
sind ein wichtiges Instrument der Gesprächslenkung (s. u.). Wie offen ein Leitfadeninterview
tatsächlich ist, hängt von der Gestaltung durch den Interviewer ab bzw. von seiner Fähig-
keit, den Befragten in ein Gespräch zu verwickeln, das diesen zu tiefgründigen Aussagen
ermuntert. Dabei ist stets zu beachten, dass Fragen per se Aufforderungscharakter an die
Interviewten haben und der Fragestil eine motivierte Teilnahme des Interviewten fördern soll.
Es ist eine Kunst, die ‚richtigen‘ Fragen zum richtigen Zeitpunkt zu stellen. Fehler dabei sind
unvermeidbar (was jeder Forschende spätestens bei der Transkription und Auswertung der
Interviews feststellen wird); es kommt aber darauf an, mit Fragen in der Gesprächssituation
bewusst und kontrolliert umgehen zu können.

Faustregeln für Leitfäden sowie Fragen in offenen und semi-offenen Interviews (vgl. Dörnyei
2007: 136 – 138, Helfferich 2011: 102 – 114, Kvale 2007: 60 – 65)

Leitfäden
• sollen nicht zu lang sein, d. h. es sollen nicht zu viele Fragen vorgesehen werden;
• sollen formal so gestaltet sein, dass sich Interviewer während des Interviews leicht darin
zurechtfinden: Fragen sollen auf keinen Fall vorgelesen werden;

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164 5. Forschungsverfahren

• sollen thematische Sprünge vermeiden;


• können vorformulierte Fragen, Aufrechterhaltungsfragen und Nachfragen enthalten, auf die
der Interviewer im Bedarfsfall zurückgreifen kann;
• im Leitfaden vorgesehene Einzelfragen sollen immer zugunsten spontan gelieferter Erzäh-
lungen zurückgestellt werden;
• müssen zu Beginn des Interviews um Erlaubnis für die Aufzeichnung des Gesprächs bitten;
• sollten die Möglichkeit einer selbstreflexiven Abschlussäußerung des Untersuchungsteil-
nehmers eröffnen (z. B. „Möchten Sie noch etwas sagen, wonach ich nicht gefragt habe?“).

Fragen
• sind stets verständlich, widerspruchsfrei und möglichst kurz zu halten (keine Fremdwörter
oder Fachausdrücke). Diese Regel ist doppelt zu beachten, wenn die Sprache des Interviews
nicht die L1 der Befragten ist;
• sollen nicht nur mit ja oder nein zu beantworten sein;
• sollen nicht als geschlossene Fragen gestellt werden;
• sollen nicht zu viele Aspekte auf einmal ansprechen;
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• Insbesondere Nachfragen sollen möglichst nicht mit „warum“, „wieso“, „weshalb“ beginnen,
da sie als indirekte Kritik verstanden werden können oder zu vorschnellen Ursache-Wirkungs-
Zusammenhängen einladen;
• Insbesondere erzählgenerierende Fragen sind daraufhin zu prüfen, ob sie Präsuppositionen,
also Vorannahmen, enthalten;
• Aufrechterhaltungsfragen sollen keine neuen inhaltlichen Impulse liefern, sondern zu wei-
teren Elaborationen führen (z. B. „Können Sie das etwas genauer erzählen?“, „Wie war diese
Situation für Sie?“) oder die Erzählung voranbringen (z. B. „Wie ist es dann weitergegan-
gen?“);
• Steuerungsfragen können das Gespräch wieder zum Thema zurückführen, indem z. B. ein
bereits gefallenen Stichwort aufgegriffen oder ein vorher fallengelassenes Thema wieder
eingebracht wird;
• Nachfragen sorgen für die Tiefgründigkeit und Reichhaltigkeit der Daten, indem z. B. um Er-
läuterungen und Beispiele gebeten wird (z. B. „Ich bin unsicher, ob ich das richtig verstanden
habe; können Sie das bitte noch einmal erklären?“, „Können Sie bitte ein Beispiel geben?“),
Zusammenhänge hergestellt werden (z. B. „Wie kommen Sie jetzt auf diesen Punkt?“) sowie
die Genauigkeit oder Vollständigkeit überprüft wird (z. B. „Ich versuche mal zusammenzufas-
sen, was Sie bisher gesagt haben …“; „Sie haben also aus folgenden Gründen damals mit
dem Lernen der deutschen Sprache begonnen …?“);
• Themen, die vom Interviewten nicht selbstständig angesprochen werden, sollten behutsam
eingebracht werden;
• Besondere Vorsicht ist bei Tabu-Fragen angezeigt.
Abbildung 3: Faustregeln für die Erstellung von Fragebögen

In den Sozialwissenschaften werden weitere Interviewvarianten unterschieden, die in der Re-


gel ebenfalls Leitfäden vorsehen und daher den semi-offenen Verfahren zuzuordnen sind. Ihre
Unterschiede liegen weniger in ihrer methodischen Ausrichtung, die je nach Begründungs-

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5.2.4 Befragung 165

zusammenhang auch flexibel gehandhabt werden kann, sondern eher in ihrer Zielsetzung
(z. B. Untersuchung von spezifischen Problemlagen) und Berücksichtigung hervorgehobener
Teilnehmergruppen (z. B. Experten). Auch in der Fremdsprachenforschung finden einige die-
ser Varianten zunehmend Verwendung.

Das problemzentrierte Interview

Das problemzentrierte Interview (vgl. die ausführlichen und praxisorientierten Ausführungen


bei Witzel 2000) konzentriert sich auf eine thematisch festgelegte „gesellschaftlich relevante
Problemstellung“, deren „objektive Rahmenbedingungen“ vorab zur Kenntnis genommen
werden (ebda: 2). Es beginnt mit einer erzählgenerierenden, offen gehaltenen und vorformu-
lierten Einstiegsfrage an den Untersuchungsteilnehmer, ist dann im weiteren Verlauf aber
dialogisch geprägt. Der Interviewer fragt detailliert und problembezogen nach, er sondiert,
bilanziert und bringt weitere Themen ein, die vorab in einem Leitfaden fixiert werden. Um
die Vergleichbarkeit der Interviews zu erhöhen, können gegen Ende des Gesprächs Fragen
gestellt werden, die zentrale Aspekte des Themas betreffen, aber im Gesprächsverlauf nicht
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angesprochen wurden. Bereits vor Beginn des Interviews werden relevante demographische
Variablen mit einem Kurzfragebogen eingeholt.

Das fokussierte Interview

Als Variante kann das in den Sozialwissenschaften bereits länger zum Einsatz kommende
fokussierte Interview (vgl. Merton/Kendall 1993) gelten, das sich thematisch auf ausgewählte
Aspekte einer gemeinsamen Erfahrung der Untersuchungsteilnehmer bezieht, deren sub-
jektive Sichtweisen und Reaktionen erhoben werden sollen. Fokussiert wird die nicht kon-
struierte, erlebte spezifische Erfahrung der Untersuchungsteilnehmer in Bezug auf den ge-
wählten Gegenstand. Die Aufforderung, sich an ein bestimmtes Ereignis zu erinnern, bzw.
ein Gesprächsstimulus eröffnet das Interview. Dies kann beispielsweise – auf den Fremd-
sprachenunterricht bezogen – eingesetzte Lehr-Lern-Materialien betreffen, welche vorab zur
Konstruktion eines Gesprächsleitfadens einer Inhaltsanalyse unterzogen wurden. Der wei-
tere Gesprächsverlauf wird nicht durch den Interviewer strikt gesteuert, der Leitfaden dient
lediglich als Orientierungsrahmen.
Von diesen an Leitfäden orientierten Interviewformen sind offenere Formen zu unterschei-
den: das narrative Interview und die Gruppendiskussion.

Das narrative Interview

Das narrative Interview setzt im Unterschied zu den leitfadengestützten Interviews nicht da-
rauf, dass Themensetzungen und Impulse durch den Interviewer in das Gespräch eingebracht
werden (können). In Idealform stellt es den Typ eines maximal offenen Interviews dar, der
den Zielen und forschungsmethodologischen Erwägungen qualitativer Forschung am besten
entspricht. Es stellt eine stärker monologisch geprägte, erzählgenerierende Interviewform dar,
die in ihrem Hauptteil daraus besteht, dass auf der Grundlage einer vorformulierten Erzähl­
aufforderung durch den Interviewer der Befragte eine längere selbstgestaltete und selbst-
reflexive Stegreiferzählung produziert, die durch inhärente Gestalterschließungs-, Konden-

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166 5. Forschungsverfahren

sierungs- und Detaillierungszwänge idealerweise konzise und reichhaltig ausfällt. Im zweiten


Teil des Interviews, in dem Nachfragen zur Haupterzählung gestellt werden, sowie im dritten
Teil, dem Bilanzierungsteil, bringt sich der Interviewer stärker ein (vgl. die praxisorientierten
Ausführungen zum narrativen Interview bei Lucius-Hoene/Deppermann 2004). Das narrati-
ve Interview kommt insbesondere seit der Konjunktur soziokultureller Ansätze in der Fremd-
sprachenforschung häufiger zur Anwendung (vgl. exemplarisch Ohm 2004). Da narrative
Interviews (insbesondere für die Stegreiferzählung) an die Untersuchungsteilnehmer hohe
Verbalisierungs- und Reflexionsanforderungen stellen, die in vielen Fällen nicht vorausgesetzt
werden können (z. B. aufgrund von Alter, Sprachkompetenz, Bildungshintergrund), werden
in der Praxis häufig unterschiedliche Mischformen von Leitfadeninterview und narrativem
Interview eingesetzt. Diese sehen dann z. B. längere Erzählphasen der Befragten vor. Wie eine
dem Erkenntnisinteresse folgende sinnvolle Mischform aus erzählgenerierendem Interview
und leitfadengestütztem, fokussiertem und problemzentriertem Interview aussehen kann,
verdeutlicht die Studie von Ehrenreich (2004, insb. 150–156; s. Kapitel 7), die Erfahrungen
längerer Auslandsaufenthalte angehender Englischlehrender untersucht.
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Die Gruppendiskussion

Die Gruppendiskussion (seltener als Gruppeninterview bezeichnet; engl. focus group inter-
view) stellt eine Sonderform der qualitativen mündlichen Befragung dar (vgl. Barbour 2007,
Daase/Hinrichs/Settinieri 2014: 115–119, Dörnyei 2007: 144–146), in der Gruppen (emp-
fohlen werden mindestens sechs, maximal acht bis zwölf Personen) gemeinsam eine bis
zwei Stunden über ein festgelegtes Thema diskutieren. Damit die Gesprächssituation nicht
von gruppendynamischen Prozessen sowie stillschweigender Übereinkunft dominiert wird,
sollten die Untersuchungsteilnehmer nicht Teil einer Realgruppe sein; das Gesprächsthema
sollte sie aber als gruppenspezifisches Problem betreffen. Der Interviewer hat die Funktion
eines Gesprächseröffners und Moderators, nach einer offen gestellten Einstiegsfrage sollte
er sich stark zurückhalten und nur noch Zuhörersignale geben; Steuerung und Vorstruktu-
rierung spielen insgesamt eine marginale Rolle. Gruppendiskussionen erlauben im Idealfall
ökologisch valide und reichhaltige Daten; sie sind als Verfahren relativ unaufwändig, was
aber nicht auf den Aufwand der zeitlichen Organisation, Datenaufbereitung und -analyse
zutrifft. Dörnyei (2007: 145) empfiehlt die Erhebung von mindestens vier bis fünf Gruppen-
diskussionen, um einen ausreichend großen Datenkorpus zu erhalten.
Alternativ kommen Gruppendiskussionen als ergänzende Methode auch im Rahmen von
mixed-methods-designs zum Einsatz (vgl. Barbour 2007). Ein Beispiel hierfür stellt die Studie
von Hochstetter (2011; s. Kapitel 7) zur diagnostischen Kompetenz von Englischgrund-
schullehrenden dar, bei der ergänzend zu Leitfadeninterviews sog. Gruppengespräche zur
Gewinnung von individualisierten Aussagen von Lehrkräften zum reflexiven Abschluss einer
längeren Untersuchungsphase durchgeführt werden. Tassinari (2010; s. Kapitel 7) setzt u. a.
Gruppendiskussionen mit Experten (hier: Lehrkräften) ein, um kollektive Orientierungen
zur Validierung eines entwickelten Modells autonomen Fremdsprachenlernens einschließlich
seiner Deskriptoren zu erheben.

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5.2.4 Befragung 167

Retrospektive Interviews

Eine Sonderform der mündlichen Befragung stellen retrospektive Interviews dar, mit denen
Befragte im Nachgang zu einer Situation oder Handlung (z. B. Befragung von Lehrkräften
zu Korrekturen im Fremdsprachenunterricht) aufgefordert werden, sich laut zu erinnern und
dabei Erläuterungen und Interpretationen zu liefern. Solche Verfahren können von einer me-
dialen Untersützung stark profitieren (im Idealfall mittels videographierten Auszügen oder
zumindest Audioaufnahmen oder Gesprächstranskripten). Dabei erhobene Daten unterliegen
wie alle introspektiven Daten methodologischen Einschränkungen, insbesondere was die
Gedächtnisleistung und Verbalisierungsfähigkeit der Befragten betrifft. Retrospektive Inter-
views sind zu unterscheiden von Erhebungen, bei denen simultan zu mentalen oder inter-
aktiven Handlungen Gedanken und Emotionen von Untersuchungsteilnehmern durch Lautes
Denken an die Oberfläche gebracht werden sollen (vgl. hierzu Kapitel 5.2.5).

Das Experteninterview

‚Quer‘ zu den aufgeführten Formen von Interviews liegt die in letzter Zeit verstärkt ver-
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wendete Form des Experteninterviews. In diesem Rahmen (vgl. Bogner/Littig/Menz 2014,


Meuser/Nagel 2009, Meyer 2013: 37–57) werden Untersuchungsteilnehmer befragt, die für
den gewählten Untersuchungsgegenstand als besonders kompetent gelten und soziale Reprä-
sentanten des entsprechenden Handlungsfelds mit Gestaltungs- und Entscheidungsfunktio-
nen sind. Ziel ist die Erhebung von Expertenwissen (Fakten-, Prozess- und Deutungswissen).
Es wird u. a. zur Untersuchung organisationsstruktureller Themen (z. B. Lehrerbefragung
zu Aspekten der Schulentwicklung) eingesetzt. Der Interviewer führt einen themenfokus-
sierten Dialog und orientiert sich dabei in der Regel stark an einem Leitfaden; aber auch
offenere Erzählimpulse durch den Interviewer sind möglich. Experteninterviews können als
Einzelinterviews oder auch im Rahmen von Gruppendiskussionen durchgeführt werden.
Zugangsprobleme bei der Rekrutierung von Untersuchungsteilnehmern sowie Steuerung
und Status- bzw. Rollenklärung im Rahmen der Interviewdurchführung stellen besondere
Herausforderungen dar.

Interviewerverhalten

Wie bereits deutlich wurde, kommt dem Interviewer in Bezug auf die Vorbereitung und
Gestaltung des Interviews eine besondere Verantwortung zu. Ein Interview unterliegt nicht
den Kommunikationsregeln eines Alltagsgesprächs (vgl. Helfferich 2011: 46–48), bei dem
die Beteiligten unterschiedliche Rollen abwechselnd übernehmen; es sollte aber gleich-
zeitig möglichst „natürlich“ sein – dies sind Anforderungen, die immer in einem gewissen
Widerspruch bleiben. Die notwendigen Kompetenzen bringen unerfahrene Interviewer in
der Regel nicht mit, sie müssen durch Training und v. a. Probe-Interviews eingeübt werden;
auch die Beobachtung der Interviewführung erfahrener Forscher kann dies unterstützen.
Schwerpunkte dabei sollten die Gestaltung der Intervieweröffnung sein (z. B. Was sind geeig-
nete Eingangsfragen?), die Aufrechterhaltung des Gesprächsflusses inkl. der Fähigkeit, unter
Zeitdruck passende Formulierungen zu finden (z. B. für Nachfragen und Vertiefungsfragen)
sowie die Beendigung des Interviews (z. B. Sicherstellung, dass alles Wichtige aus Sicht der

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168 5. Forschungsverfahren

Untersuchungsteilnehmer und auch in Bezug auf das Erkenntnisinteresse gesagt wurde).


Eine besondere Herausforderung stellt das sogenannte „aktive Zuhören“ dar. Dies setzt eine
Gesprächshaltung voraus, bei der der Interviewer eigene Mitteilungen, Bewertungen und
Deutungen bei sich behält und sich völlig auf den Interviewpartner konzentriert, dem die
Zeit und Ruhe für die Elaboration seiner persönlichen Sichtweisen gewährt und durchgängig
Interesse daran signalisiert wird. Das Einbringen von Zuhörersignalen und Paraphrasen, das
Ertragen auch längerer Pausen, und dann erst das Nachfragen sind hierfür förderlich (vgl.
Helfferich 2011: 90–95). Insbesondere in leitfadengestützten Interviews ist darauf zu achten,
dass nicht unbewusst durch das ‚interne Abhaken‘ des Leitfadens ein geschäftsmäßiger Stil
entsteht (z. B. „Gut, danke. Ich habe da noch eine weitere Frage …“).

4 Stolpersteine
Es gilt der Grundsatz: Jede Befragung beinhaltet Befragungsfehler, die teilweise unvermeid-
lich sind, teilweise erst bei der Datenanalyse sichtbar werden. Aus solchen Fehlern kann
man selbst (und auch die scientific community) für Folgeuntersuchungen lernen, sie sollten
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nicht verschwiegen und bei der Datenanalyse durchgängig reflektiert werden. Da es sich
bei Befragungsdaten um Selbstauskünfte handelt, kann nie ganz ausgeschlossen werden,
dass die Güte der Daten durch Selbstdarstellungseffekte (Wer gibt schon gern vermeintlich
Negatives über sich preis?), schlichtes Nicht-Wissen, Über- oder Unterforderung, Unkonzen-
tration, mangelnde Ausdrucksmöglichkeiten u. v. a. m. eingeschränkt ist.

Typische Schwachstellen bei schriftlichen Befragungen

Trotz aller Sorgfalt bei der Erstellung ist die Pilotierung von Fragebögen notwendig. Wird
darauf verzichtet, ist dies als forschungsmethodischer Mangel festzuhalten. Schwerpunkt
der Überprüfung sollten die typischerweise auftretenden methodischen Schwächen wie die
folgenden sein: Frageformulierungen, Positionseffekte (z. B. Ausstrahlungseffekte von sensi-
blen Fragen auf andere Fragen, bei Auswahlantworten werden häufig die erstaufgeführten
Elemente gehäuft angekreuzt), Neigung von Untersuchungsteilnehmern, eher positiv, neutral
oder negativ zu bewerten (engl. response set) – aber auch das Einsammeln von Rückmel-
dungen zum Layout und Länge sowie zur Administration des Fragebogens.
Zum Stolperstein kann auch das Sampling der Untersuchungsteilnehmer werden (vgl.
Kapitel 4.3). Wenn v. a. auf freiwillige Teilnahme durch Selbstselektion gesetzt wird (z. B. Mel-
dung auf Aushänge und breite Versendung von Anfragen), kann dies Rücklaufverzerrungen
bedeuten und das Ergebnis der Untersuchung insgesamt verfälschen, wenn nicht nachgewie-
sen werden kann, dass die zustande gekommene Stichprobe hinreichend repräsentativ ist.
Auch wenn geringe Rücklaufquoten in den Sozialwissenschaften als normal gelten, so sollten
doch – allein aus Gründen der Minimierung von Rücklaufverzerrungen gerade bei überschau-
baren Teilnehmergruppen (z. B. Lernende oder Lehrende bestimmter Schulen) – keine Mühen
gescheut werden, durch persönlichen Einsatz möglichst viele Teilnehmer zu bewegen, an der
Befragung teilzunehmen. Nicht ausreichend große Stichproben werden auch dann zum Pro-
blem, wenn quantitative Datenanalysen (hier: Statistik) geplant sind: Eine Mindestgrenze von
50 auswertbaren Fragebögen bzw. bei multivariaten Verfahren von 100 Fragebögen wird als
Faustregel angesehen (vgl. Dörnyei 2010: 62–63). Dass auch bei postalischer Versendung von

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5.2.4 Befragung
169

Kontrolle der Erhebungssituation: hoch ─ gering


↪ Erhebung und Erhebungsinstrumente: standardisiert ─ nicht standardisiert
↪ Grad der Standardisierung der Fragen und Items: geschlossen ─ semi-offen ─ offen

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Fragebogen Interview
größere Personengruppen individuell
schriftlich und mündlich ↪ Leitfaden: ja / nein Gruppendiskussion
anonym ↪ problemzentriert / fokussiert / (focus group interview)
narrativ
mehrere Personen
+ + begrenzte Zeit
Strukturiertheit der Befragung, reichhaltige, tiefgründige Daten, ein Thema
Festlegung der Fragen, präzise For- ausführliche Darlegung von
mulierungen, Flexibilität im Einsatz Meinungen, Erfahrungen etc.
!
Items Prinzipien guter Interviewführung
↪ Formulierung
↪ Reihenfolge der Fragen Experteninterview
↪ Antwortoptionen themenfokussierter Dialog mit Repräsentantinnen
5.2.4 Befragung

des Handlungsfeldes
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170 5. Forschungsverfahren

Fragebögen gute Rücklaufquoten erreicht werden können, zeigt die Studie von Özkul (2011)
zur Untersuchung der Berufswahlmotive von Anglistik-Lehramtstudierenden: Bei über 2500
verschickten (teilstandardisierten) Fragebögen konnten über 1700 Untersuchungsteilnehmer
gewonnen werden; allerdings können Rücklaufverzerrungen aufgrund der unausgewogenen
Beteiligung der Studierenden unterschiedlicher Bundesländer (Niedersachsen und Bayern
sind überrepräsentiert) nicht ausgeschlossen werden.

Typische Schwachstellen bei mündlichen Befragungen

Bereits oben wurde ausgeführt, wie wichtig das Training des Interviewerverhaltens und das
Führen von Probeinterviews sind. Trotz bester Vorbereitung wird die Rolle des Interviewers
in der konkreten Interviewsituation aber immer ambig bleiben und permanent ad hoc-Ent-
scheidungen verlagen, die retrospektiv betrachtet als Fehler erscheinen. Interviewer sollen
eine gute Gesprächsatmosphäre herstellen und – je nach spezifischem Format – mehr oder
weniger ausgeprägt Zurückhaltung wahren, aber auch steuernd eingreifen sowie „auf Augen-
höhe“ mit den Befragten kommunizieren. Nichtsdestotrotz bleibt die Situation asymmetrisch
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und die Rollenbeziehung zwischen Interviewer und Befragtem komplex; persönliche Merk-
male des Interviewers (Alter, Geschlecht, Sprache, akademischer und kultureller Hintergrund,
unbewusst repräsentierter Habitus qua Auftreten und Kleidung) verstärken dies. Auch solche
Aspekte müssen bei der Interpretation der Daten reflektiert werden.
Ein Aspekt semi-offener Interviews sollte im Vorfeld eines Interviews gesondert beachtet
werden: Oft sind Leitfäden viel zu lang – auch der Leitfaden muss sorgfältig erstellt und
pilotiert werden. Eine gute Möglichkeit, wie Leitfäden sinnvoll erstellt werden können, liefert
Helfferich (2011: 161–169) mit dem von ihr vorgeschlagenen SPSS-Prinzip (Sammeln – Prü-
fen – Sortieren – Subsumieren). Die von ihr vorgeschlagene Form des Leitfadens listet nicht
einfach gruppierte Leitfragen auf, sondern weist inhaltlich bedeutsame Bezugspunkte aus und
hält Vorformulierungen von allgemeinen Leitfragen, konkreten Fragen für Nachfragephasen
sowie Aufrechterhaltungs- und Steuerungsfragen bereit, auf die während des Interviews zu-
rückgegriffen werden kann.
Und damit es gar nicht zum Stolperstein wird, sollte der Umgang mit technischen Geräten
zum Datenmitschnitt gut geübt werden; es sollten immer Geräte-Alternativen vorgehalten
werden, damit technische Störungen nicht zum Datenverlust führen. Nach der Aufnahme
sollten sofort Sicherheitskopien angefertigt werden. Bei der Auswahl von Geräten ist zu
erwägen, wie sehr sie aufgrund ihrer Größe störend wirken können. Weitere wichtige Pa-
rameter sind die Qualität der Ton- oder Videoaufnahme sowie die Dateiformate (So ist es
günstig, wenn Daten in Form von wav-Dateien aufgenommen werden, die bei vielen Tran-
skriptionssoftwares ohne Umformatieren und damit verbundenem Qualitätsverlust sofort
eingesetzt werden können).
Bei der Analyse qualitativer Interviewdaten (vgl. Kapitel 5.3.3–5.3.8) ist zu beachten, dass
Tiefe und Reichhaltigkeit der Daten nicht durch (vorschnelle) Kategorisierung und Deduktion
verloren gehen (vgl. Riemer 2007) – dies würde die Mühe der Datenerhebung konterkarieren!

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5.2.4 Befragung 171

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
*Bailey, Kathleen M. (1983). Competitiveness and Anxiety in Adult Second Language Learning: looking
at and through the diary studies. In: Seliger, Herbert W./Long, Michael H. (Hg.). Classroom Oriented
Research in Second Language Acquisition. Rowley: Newbury House, 67–103.
Bailey, Kathleen M./Ochsner, Robert (1983). A methodological review of the diary studies: windmill til-
ting or social science? In: Bailey, Kathleen M./Long, Michael H./Peck, Sabrina (Hg). Second Language
Acquisition Studies. Rowley, MA: Newbury House, 188–198.
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*Biebricher, Christiane (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (2014). Interviews mit Experten. Eine praxisorientierte
Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
Daase, Andrea/Hinrichs, Beatrix/Settinieri, Julia (2014). Befragung. In: Settinieri, Julia/Feldmeier, Ale-
xis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch
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als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 103–122.


Doff, Sabine (Hg.) (2012). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen – Methoden –
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Dörnyei, Zoltán (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: University.
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Fremdsprachen Lehren und Lernen 26, 88–110.
*Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Das assistant-Jahr
als ausbildungsbiographische Phase. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje (2010). Interviewformen und Interviewpraxis. In: Friebertshäu-
ser, Barbara /Langner, Antje/Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in
der Erziehungswissenschaft. 3. vollständig überarbearbeitete Auflage. Weinheim: Juventa, 379–396.
*Gardner, Robert C. (1985): Social Psychology and Second Language Learning. The Role of Attitudes
and Motivation. London: Arnold.
Helfferich, Cornelia (2011). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer
Interviews. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
*Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine
empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Hopf, Christel (1978). Die Pseudo-Exploration. Überlegungen zur Technik qualitativer Interviews in der
Sozialforschung. In: Zeitschrift für Soziologie 7, 97–115.
*Horwitz, Elaine K./Horwitz, Michael B./Cope, Joann (1986). Foreign language classroom anxiety. In:
Modern Language Journal 70, 125–132.
Kvale, Steinar (2007). Doing Interviews. Los Angeles: Sage.
Lucius-Hoene, Gabriele/Deppermann, Arnulf (2004). Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeits-
buch zur Analyse narrativer Interviews. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Merton, Robert K./Kendall, Patricia L. (1993). Das fokussierte Interview. In: Hopf, Christel/Weingarten,
Elmar (Hg.). Qualitative Sozialforschung. 3. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta, 171–204.
Meuser, Michael/Nagel, Ulrike (2009). Das Experteninterview – konzeptionelle Grundlagen und metho-
dische Anlage. In: Pickel, Susanne/Pickel, Gert/Lauth, Hans-Joachim/Jahn, Detlef (Hg.). Methoden der

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172 5. Forschungsverfahren

vergleichenden Politik- und Sozialwissenschaft. Neue Entwicklungen und Anwendungen. Wiesbaden:


VS Verlag für Sozialwissenschaften, 465–479.
Meyer, Horst O. (2013). Interview und schriftliche Befragung. München: Oldenbourg.
Ohm, Udo (2004). Zum Zweitspracherwerb von wirklichen Menschen im richtigen Leben. In: Deutsch
als Zweitsprache 4, 47–64.
*Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. Berufswahlmotive der Lehramtsstudierenden in
Anglistik/ Amerikanistik. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Porst, Rolf (2014). Fragebogen. Ein Arbeitsbuch. 4. erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
Riemer, Claudia (2007). Entwicklungen in der qualitativen Fremdsprachenforschung: Quantifizierung
als Chance oder Problem?. In: Vollmer, Helmut J. (Hg.). Synergieeffekte in der Fremdsprachenfor-
schung. Empirische Zugänge, Probleme, Ergebnisse. Frankfurt/M.: Lang, 31–42.
*Riemer, Claudia (2011). Warum Deutsch (noch) gelernt wird – Motivationsforschung und Deutsch als
Fremdsprache. In: Barkowski, Hans/Demmig, Silvia/Funk, Hermann/Würz, Ulrike (Hg.). Deutsch
bewegt. Entwicklungen in der Auslandsgermanistik und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Balt-
mannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, 327–340.
*Schmidt, Richard W./Frota, Sylvia Nagem (1986). Developing basic conversational ability in a second
language: a case study of an adult learner of Portuguese. In: Day, Richard R. (Hg.). Talking to Learn:
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Conversation in Second Language Acquisition. Rowley, MA: Newbury House, 237–326.


*Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht. Eine em-
pirische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen. Tübingen: Narr. (Anhang der Studie
online, passwortgeschützt) [Referenzarbeit, Kapitel 7]
*Tassinari, Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen. Komponenten, Kompetenzen, Strate-
gien. Frankfurt/M.: Lang. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Trautmann, Matthias (2012). Führen und Auswerten qualitativer Interviews – Grundlagenbeitrag. In:
Doff, Sabine (Hg.) (2012), 218–231.
Witzel, Andreas (2000). Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum
Qualitative Social Research 1(1), Art. 22,. [http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0 001 228]
(5. 3. 2015).
Zydatiß, Wolfgang (2012). Fragebogenkonstruktion im Kontext des schulischen Fremdsprachenler-
nens – Grundlagenbeitrag. In: Doff, Sabine (Hg.), 115–135.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Bogner, Alexander/Littig, Beate/Menz, Wolfgang (2014). Interviews mit Experten. Eine praxis-
orientierte Einführung. Wiesbaden: Springer VS.
Die Monographie liefert viele grundlegende Hinweise und Tipps zur Durchführung sogenannter
Experteninterviews. Sie weist auf Unschärfen sowie Varianten dieser Interviewform in der Sozialfor-
schung hin und behandelt Zugangsfragen, die Vorbereitung und Durchführung der Erhebung sowie
Fragen der Auswertung. Anders als in vielen Methodenhandreichungen in den Sozialwissenschaften
beschäftigt sie sich auch mit Herausforderungen von Interviews in der Fremdsprache.
Daase, Andrea/Hinrichs, Beatrix/Settinieri, Julia (2014). Befragung. In: Settinieri, Julia/Demir-
kaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische
Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh,
103–122.
Der Artikel in einer auf Deutsch als Fremd- und Zweitsprache fokussierten forschungsmethodischen
Einführung behandelt die Grundlagen von empirischen Befragungsverfahren mit Schwerpunkt auf

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5.2.5 Introspektion 173

Fragebogen, Interview und Gruppendiskussion. Er richtet sich an Leser mit wenigen Vorkenntnissen
und bietet Aufgaben und dazugehörige Lösungsvorschläge.
Dörnyei, Zoltán (with contributions from Tatsuya Taguchi) (2010). Questionnaires in second
language research. Construction, administration, and processing. Second edition. New York:
Routledge.
Mit dieser Monographie liegt eine gut lesbare und fachspezifische Einführung in die forschungs-
methodischen und -methodologischen Grundlagen von Fragebogenstudien vor. Schwerpunkte liegen
auf Fragen der Konstruktion von Fragebögen sowie ihrem Einsatz, aber auch auf der Auswertung
von Fragebogendaten. Viele hilfreiche Tipps und Beispiele werden gegeben.
Helfferich, Cornelia (2011). Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung
qualitativer Interviews. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Die Monographie liefert gutes Handwerkszeug für alle, die vor der Herausforderung stehen, ein
qualitatives Interview durchzuführen. Anders als in vielen eher forschungsmethodologisch orien-
tierten Einführungen stehen hier Fragen der praktischen Interviewdurchführung (u. a. Vorbereitung
und Organisation des Interviews, Gestaltung der Gesprächssituation, Strategien des Interviewers) im
Vordergrund, wofür viele nützliche Hinweise und Reflexionsanlässe gegeben werden. Das Manual
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liefert auch Material für die Durchführung von Workshps zum Interviewer-Training.
McDonough, Jo/McDonough, Steven (1997). Research methods for English language teachers.
London: Arnold (daraus insbesondere: Chapter 11 „Asking Questions“, 171–188).
In diesem Kapitel einer insgesamt für Forschungsnovizen empfehlenswerten Einführung werden
wesentliche Grundlagen und Einsatzgebiete für Fragebögen und Interviews in der Fremdsprachen-
didaktik erläutert.
Porst, Rolf (2014). Fragebogen. Ein Arbeitsbuch. 4. erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
Die ausführliche und mit vielen Beispielen versehene Einführung in die Fragebogenkonstruktion
bietet sich hervorragend als Ergänzung zur stärker fachspezifischen Einführung von Dörnyei (2010)
an. Viele Hinweise betreffen auch das strukturierte Interview bzw. sind auf dieses übertragbar.

5.2.5 Introspektion

Lena Heine/Karen Schramm

1 Begriffsklärung
Der Begriff Introspektion wird in der Fremdsprachenforschung für die Bezeichnung von
Datenerhebungsverfahren verwendet, bei denen Forschungspartner_innen durch lautes
Aussprechen Einblicke in ihre Gedanken und Emotionen gewähren, die der Beobachtung
normalerweise unzugänglich sind. Nach einem weiten Begriffsverständnis zählen hierzu
alle Formen von Interviews und Tagebuchdaten, die ohne gezielten Bezug auf eine konkrete
Handlung erhoben werden (vgl. Ericsson/Simon 1993: 49–62, Heine 2005, Knorr 2013: 32
für Terminologiediskussionen); in der Fremdsprachenforschung herrscht jedoch ein engeres
Verständnis vor, so dass hier solche Verfahren als introspektiv bezeichnet werden, bei denen
gezielt Daten bezüglich einer bestimmten (mentalen oder interaktionalen) Tätigkeit erhoben
werden (z. B. Strategien beim Übersetzen, fremdsprachliche Schreibprozesse, Vorgehen beim

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174 5. Forschungsverfahren

Lösen von Grammatikaufgaben, mündliche Kommunikations- und Kompensationsstrate-


gien etc.). So kommt es, dass die Fremdsprachenforschung insbesondere Lautes Denken
und retrospektive Verfahren wie stimulated recall und Lautes Erinnern unter introspektive
Verfahren subsumiert. Bei diesen Verfahren werden während bzw. direkt im Anschluss an
eine zu untersuchende Tätigkeit Daten erhoben (Heine 2013: 14, vgl. auch Dörnyei 2007:
147).7
Lautes Denken kann dabei in Anlehnung an Knorr/Schramm (2012: 185) definiert wer-
den als „die aus dem Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis erfolgende simultane, ungefilterte
Verbalisierung einer Person von Gedanken während einer (mentalen, interaktionalen oder
aktionalen) Handlung“. Durch das unreflektierte laute Aussprechen von solchen Gedanken,
die den Forschungspartner_innen beim Ausführen einer Tätigkeit durch den Kopf gehen, wird
möglichst ohne Beeinflussung der betreffenden Tätigkeit versucht, Einblick in die mentalen
Abläufe zu erhalten.
Eng verwandt damit ist das Laute Erinnern, bei dem die Verbalisierung allerdings nicht
simultan, sondern erst im Anschluss an die zu untersuchende Tätigkeit erfolgt; damit liegt
kein unmittelbarer Zugang zu den Gedanken während der Tätigkeit mehr vor, da Erinne-
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rungen aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden, welche mit generellen Einstellungen,
Selbstbild etc. verknüpft sind. Um dennoch so viele Gedanken aus der Erhebungssituation
wie möglich zu reaktivieren, wird Lautes Erinnern häufig auf der Grundlage eines Video-
impulses bezüglich der zu untersuchenden Handlung (videobasiertes Lautes Erinnern) ver-
wendet. Es kann grundsätzlich aber auch auf der Grundlage anderer Impulse (wie audio-
graphischer oder visueller Daten sowie Tastaturprotokollen) oder aber auch ohne jeglichen
Impuls erfolgen.
Einen zweiten Typ retrospektiver Datenerhebung stellen neben dem Lauten Erinnern Be-
fragungen dar, die im Anschluss an eine konkrete Handlung auf die entsprechenden mentalen
Aktivitäten der Forschungspartner_innen abzielen.
Die genannten drei introspektiven Verfahren – Lautes Denken, Lautes Erinnern und retro-
spektive Befragungen – sollen im Folgenden genauer beleuchtet werden.

2 Lautes Denken
Das Laute Denken basiert auf der Annahme, dass die Aktivierung von Gedächtnisinhalten
in vielen Fällen unmittelbar mit einer verbalen Form assoziiert ist, die laut ausgesprochen
werden kann (s. Abb. 1).
Bringt man Forschungspartner_innen dazu, Inhalte des Arbeitsgedächtnisses während des
Ausführens einer bestimmten Tätigkeit zu verbalisieren, so greift man auf die innere Sprache
(inner speech) zu, die – anders als die private Sprache (private speech) im Wygotskianischen
Sinne – nicht selbstadressiert ist, so dass idealiter durch das laute Aussprechen auch keine Re-
flexion des eigenen Vorgehens angestoßen wird. Durch diese spontanen Äußerungen entsteht
ein Verbalprotokoll, das typischerweise aus fragmentarischen und syntaktisch unverbunde-
nen verbalen Daten besteht. Aus ihm kann rekonstruiert werden, worauf die Versuchsperson
zu verschiedenen Zeitpunkten jeweils ihre Aufmerksamkeit gerichtet hat.

7 In Einzelfällen wird der Begriff Introspektion nicht als Oberbegriff, sondern mit Bezug auf das simultane
Vorgehen als Pendant zum Begriff Retrospektion benutzt (vgl. Heine 2005).

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5.2.5 Introspektion 175

Abbildung 1: Lautes Denken als lautes Aussprechen von verbalen Assoziationen von Gedanken (nach
Ericsson/Simon 1987: 33)

Dies bedeutet u. a., dass auf der Grundlage Lauten Denkens nur solche Gedankengänge
analytisch rekonstruiert werden können, die im Arbeitsgedächtnis verarbeitet wurden; auto-
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matisierte Prozesse sind dagegen nicht zugänglich. Für Datenerhebungen ist es daher von
zentraler Wichtigkeit nur solche Aufgaben und Erhebungsstimuli einzusetzen, durch die auch
tatsächlich mental zugängliche und potentiell mit einer verbalen Form verbundene Abläufe
angeregt werden. So eignen sich beispielsweise stark motorisch geprägte Anforderungen eher
weniger, weil hier für eine Verbalisierung erst in einem künstlich hervorgerufenen Suchpro-
zess Worte gefunden werden müssten, die normalerweise nicht mitaktiviert würden. Besser
eignen sich Anforderungen, bei denen eine verbale Ebene automatisch aktiv wird, wie etwa
das Verfassen von Texten oder das Betrachten von Abbildungen.
Beim Lauten Denken ist daneben auch davon auszugehen, dass grundsätzlich viel weniger
verbalisiert werden kann als gedacht wird, u. a. weil mehrere Prozesse parallel ablaufen. Die
Möglichkeiten der quantitativen Auszählung von Phänomenen in Lautdenkdaten werden
durch diesen Aspekt relativiert. Ein Risiko für die Validität von Daten Lauten Denkens be-
steht weiterhin darin, dass Forschungspartner_innen bewusst oder unbewusst Informationen
kommunizieren, die durch die Erhebungssituation generiert worden sind, etwa indem sie
angenommenen Erwartungen seitens des Forschenden zu entsprechen versuchen (Rossa 2012
spricht in diesem Zusammenhang von „Konfabulation“) und damit ihre Gedanken gegenüber
einer stillen Bearbeitung verändern.
Die Referenzarbeit von Arras (2007) illustriert die zentralen Komponenten einer Daten-
erhebung durch Lautes Denken: den sorgfältig formulierten Impuls zum Lauten Aussprechen,
das Training darin, die Rückmeldung der/des Forschenden zu der Trainingsphase und das
zurückhaltende Eingreifen während des Lauten Denkens (s. dazu genauer Heine/Schramm
2007). Arras (2007: 499) dokumentiert auch die von ihr verwendeten Instruktionen zum
Verfahren des Lauten Denkens. Aufgrund der Tatsache, dass sie das Laute Denken audio-
graphisch dokumentiert, bittet sie ihre Forschungspartner_innen, ebenfalls zu verbalisieren,
welches Material (z. B. Lernertext oder Bewertungsrichtlinien) sie jeweils fokussieren; so
vermischen sich in diesem Fall Lautdenkdaten mit Kommentierungen durch die Forschungs-
partner_innen. Da Forschende in der Regel bemüht sind, solche Konfundierungen zu ver-
meiden, wäre im Fall von videographischen Dokumentationen eine Aufforderung zum

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176 5. Forschungsverfahren

Zeigen auf fokussierte Textstellen vorteilhafter als die Aufforderung zur verbalen Kommen-
tierung.
In der Regel wird in der forschungsmethodischen Diskussion zusätzlich vor dem Training
auch die Darbietung eines (Video-)Beispiels oder ein Modellieren des Lauten Denkens seitens
des/der Forschenden empfohlen (s. Heine/Schramm 2007: 178, Bowles 2010: 117). Weiterhin
ist bei fremdsprachendidaktischen Studien mit Lernenden – anders als bei Arras Testbewer-
tenden – die Wahl der Verbalisierungssprache(n) genau zu reflektieren, denn da Studien in der
Fremdsprachenforschung in der Regel mit mehrsprachigen Individuen arbeiten, stehen auch
immer mindestens zwei Sprachen für eine Verbalisierung zur Verfügung, die sich jedoch im
Beherrschungs- und Automatisierungsgrad und der Art der Verknüpfung mit konzeptuellen
Inhalten unterscheiden können (vgl. Heine 2014). U.a. ist davon auszugehen, dass Mehr-
sprachige auch gedanklich zwischen ihren Sprachen wechseln. Wird nun eine Sprache für die
Verbalisierung vorgegeben, kann dies zu Suchprozessen beim lauten Aussprechen und damit
zu Veränderungen der ablaufenden Gedanken führen.
In Arras’ (2007: 188) Studie erwiesen sich alle vier Probandinnen als „sehr geeignet für das
Laut-Denk-Verfahren“. Dies ist jedoch nicht generell für alle Forschungspartner_innen zu
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erwarten, da verschiedene Menschen ihre Gedanken offenbar unterschiedlich stark mit ver-
balen Formen verknüpfen. So zeigen die Ergebnisse in Heine (2010), dass dieselbe Lautdenk-
Anforderung für manche Individuen sehr natürlich, für andere dagegen schwer sein kann
und dass Lautes Denken von einer hohen Dynamik geprägt ist, was den Grad der Reaktivität
der Methode anbelangt – streckenweise weitgehend automatisiert verbalisierende Personen,
die völlig versunken in die Aufgabe sind und sich nicht auf das laute Aussprechen konzen-
trieren, können zu anderen Zeitpunkten durchaus wieder mehr Aufmerksamkeit auf die
Tatsache lenken, dass sie sich in einer Erhebungssituation befinden, und dann wieder ver-
stärkt metakognitive und an die/den Forscher_in adressierte Äußerungen einfließen lassen,
die sie bei einer stillen Bearbeitung der Anforderung nicht hätten denken müssen. Es lassen
sich damit kaum grundsätzliche Pauschalaussagen vom Typ „Lautes Denken ist keine reaktive
Methode“ (wie etwa Bowles 2010 es versucht) oder „Probandin X ist ein verbaler Typ und
verbalisiert immer automatisiert“ machen. Dies deutet darauf hin, dass die mittels dieser
Methode erhobenen Daten stets genau betrachtet und in der jeweiligen Auftretenssituation
kritisch eingeschätzt werden müssen.

3 (Videobasiertes) Lautes Erinnern


Beim Lauten Erinnern verbalisieren Forschungspartner_innen nicht simultan, sondern wer-
den im Anschluss an die zu untersuchende Tätigkeit gebeten, sich in die jeweilige Situation zu-
rückzuversetzen und sich an ihre Gedanken dabei zu erinnern. Hier erfolgt die Verbalisierung
der Kognitionen damit nicht direkt aus dem Arbeitsgedächtnis, sondern diese müssen zuvor
aus dem Langzeitgedächtnis aktiviert werden. Dieser Prozess kann während der Ausführung
einer durch Lautes Erinnern immer wieder unterbrochenen Handlung erfolgen (bspw. beim
Lesen das Stoppen nach jedem dritten Absatz, on-line retrospection) oder nach Beendigung
der Handlung (bspw. nach der Lektüre eines gesamten Textes, off-line retrospection). In der
Regel wird mit Blick auf die Gefahr einer abnehmenden Erinnerungsfähigkeit empfohlen, das
Laute Erinnern möglichst noch am selben Tag der zu untersuchenden Handlung, spätestens
aber innerhalb von 24 Stunden durchzuführen.

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5.2.5 Introspektion 177

Wie auch beim Lauten Denken wird beim Lauten Erinnern in der Regel eine Demons-
tration, möglicherweise auch ein Training, sowie eine Reflexion bezüglich der Verbalisie-
rungssprache(n) und eine standardisierte Instruktion empfohlen (vgl. Knorr/Schramm 2012:
192–195). Werden Prozessdaten wie Audio- und Videoaufnahmen oder Tastaturprotokolle als
Stimulus für die Erinnerung verwendet (vgl. Gass/Mackey 2000), können die Forschungspart-
ner_innen entweder selbst die gesamte Prozessdokumentation an für sie relevanten Stellen
zur Verbalisation ihrer Erinnerungen stoppen oder es kann eine Auswahl an Stellen zum
Lauten Erinnern herausgegriffen werden, wobei entweder die Versuchspersonen selbst oder
der/die Forscher_in eine Auswahl treffen. Eine Auswahl bietet sich besonders für langwierige
Handlungen an, stellt alle Beteiligten aber vor zeitliche Herausforderungen, da die Retrospek-
tion wie oben erwähnt möglichst bald nach Abschluss der zu untersuchenden Kognitionen
durchgeführt werden sollte. Abzuwägen sind dabei auch die Möglichkeiten einer forscher-
seitigen, gezielten Auswahl mit Blick auf das Untersuchungsinteresse auf der einen Seite und
die Auswahl seitens der Forschungspartner_innen bzw. deren Eigentümerschaft (ownership)
der Daten auf der anderen Seite. Letztere ist aus ethischen Gründen zu empfehlen, wenn die
Forschungspartner_innen Wert auf die selbstbestimmte Auswahl legen. Sie führt darüber
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hinaus erfahrungsgemäß aber auch zu reichhaltigeren Daten, da die Betroffenen wissen, an


welchen Stellen besonders intensive mentale Vorgänge stattfanden. Ein Beispiel für den Ein-
satz videostimulierten Lauten Erinnerns in einer DaF-Studie zu Handy-Videoprojekten ist
unter methodischer Perspektive in Feick (2012) aufbereitet.
Obwohl das Laute Erinnern auf die Wiedergabe der Kognitionen zum vergangenen Zeit-
punkt der Handlung (there and then responses) zielt, mischen sich in der Praxis durchaus
aber nachträgliche Reflexionen (here and now responses) mit den erinnerten Gedanken, was
analytisch zu identifizieren und zu berücksichtigen ist (vgl. Knorr/Schramm 2012). Andere
Untersuchungen richten ihr Augenmerk gerade auf die Reflexionen, die sich im Rückblick
ergeben, so beispielsweise Raith (2011) bei der Untersuchung von Lehrkompetenzen von
Englischreferendaren. Er nutzt Tagebücher der angehenden Lehrkräfte, um deren Reflexionen
bezüglich bestimmter Unterrichtsereignisse zu erfassen, und wertet diese – wie auch die
Interviews mit den Betroffenen – inhaltsanalytisch im Sinne einer Datentriangulation zu
Validierungszwecken aus. Derartige Studien zur reflection-on-action im Gegensatz zu der
durch Lautes Erinnern angezielten (aus dem Langzeitgedächtnis reaktivierten) reflection-
in-action fallen zwar unter einen weiten, nicht aber den hier gewählten engen Begriff von
Introspektion.

4 Retrospektive Befragung
Unter dem (engen) Begriff der Introspektion wird neben dem Lauten Denken und dem Lauten
Erinnern auch die retrospektive Befragung von Forschungspartner_innen im Hinblick auf
ihre Kognitionen in Bezug auf eine spezifische Handlung subsumiert.8 Die Referenzarbeit
von Arras (2007) illustriert eine solche retrospektive Befragung, die in Triangulation mit

8 Befragungen, die sich nicht auf eine spezifische Handlung (die in der Regel nicht länger als 24 Stunden
zurückliegt), sondern allgemein auf Erfahrungen mit einer bestimmten Art von Handlung beziehen (s. als
Beispiel die Referenzarbeit bzw. Interviewstudie von Ehrenreich 2004), sind diesem engen Begriffsver-
ständnis nicht zuzurechnen (vgl. auch Kapitel 5.2.4 zur Befragung).

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178 5. Forschungsverfahren

den oben erwähnten Laut-Denk-Daten vorgenommen wurde. Die Autorin charakterisiert


die Interviews, die sie jeweils einen Tag nach dem Lauten Denken durchführte, als pro-
blemzentrierte semistrukturierte Interviews von 90–140 Minuten mit dem Ziel, zum einen
„zu besonders relevanten oder unklar gebliebenen Stellen des Laut-Denken-Protokolls wei-
tere bzw. erhellende Informationen zu erhalten“ und zum anderen „anhand [der] Notizen aus
den Laut-Denken-Sitzungen Fragen zu Besonderheiten zu stellen, um auch in dieser Hinsicht
weitere Informationen oder Verifikation von Hypothesen zu erhalten“ (Arras 2007: 189–190).
Auch Eckerth (2002) setzt retrospektive Interviews ein, mit denen interaktive Aufgabenbear-
beitungsdaten trianguliert werden. Bei dem von ihm verwendeten Mehr-Methoden-Ansatz
mussten über Nacht Transkripte der Prozessdaten erstellt werden, da diese als Stimulus für
die retrospektiven Befragungen dienten.
Eine andere Form der retrospektiven Befragung setzte Haudeck (2008) ein, die bei einer
Untersuchung von Wortschatzstrategien von Englischlernern der Klassenstufen 5 und 8 in-
novative Audio-Tagebücher zum Einsatz bringt. Die elf offenen Fragen in ihrem Leitfaden
des Audio-Tagebuchs (Haudeck 2008: 116) beziehen sich größtenteils konkret auf gerade
erfolgte Vokabellernprozesse, wie beispielsweise die folgenden: „Wähle aus den Wörtern,
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die du heute gelernt hast, zwei aus und beschreibe, wie du versucht hast, sie dir einzuprä-
gen.“ oder „Welche konntest du dir nur schwer merken? Was hast du dann gemacht?“. Auf
dieser Grundlage konnte Haudeck (2008) ergiebige retrospektive Daten erheben und ana-
lysieren.

5 Potenzial introspektiver Daten


Die drei thematisierten introspektiven Datenerhebungsverfahren des Lauten Denkens, des
Lauten Erinnerns und der retrospektiven Befragung sind in zahlreichen fremdsprachendidak-
tischen Studien zu kognitiven Prozessen mit einem hohen Grad an forschungsmethodischer
Reflexion eingesetzt worden und haben substanzielle Ergebnisse erbracht, so dass pauschale,
letztlich behavioristisch geprägte Bedenken gegenüber der Introspektion lange schon als un-
angemessen gelten können (zur Reaktivität der Methode s. bspw. Leow/Morgan-Short 2004
oder Bowles 2010). Introspektion hat sich für ein breites Spektrum an Forschungsfragen ins-
besondere als Teil von Mehrmethodendesigns als sinnvoll erwiesen, insbesondere wenn viel-
schichtige Zusammenhänge in komplexen Situationen untersucht werden sollen. Dennoch ist
auch von pauschalen Positivurteilen bezüglich der Validität introspektiver Verfahren Abstand
zu nehmen; vielmehr zeichnet sich ab, dass die durch Introspektion erhobenen reichhaltigen
Datensätze im Detail zu analysieren sind und stets auch von einer streckenweisen Beein-
flussung der Forschungspartner_innen durch die Datenerhebung auszugehen ist (vgl. Heine
2013). Diese kann wohl – selbst bei sorgfältig durchgeführter Erhebung – kaum vermieden
werden und muss stattdessen bei der Analyse der Datensätze soweit wie möglich identifiziert
und diskutiert werden. Notwendig hierfür ist ein grundlegendes Verständnis unterliegender
kognitiver Prozesse und des Zusammenhangs zwischen Denken und Sprechen.
Aktuelle forschungsmethodische Beiträge zur Introspektion wenden sich zunehmend
der Frage zu, inwieweit die kognitionstheoretischen Postulate bezüglich der introspektiven
Datenerhebungsverfahren aus einem soziokulturellen Paradigma oder der Perspektive der
embodied cognition neu zu überdenken sind (z. B. Sasaki 2008, Feick 2013, Heine 2013, Knorr

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5.2.5 Introspektion
179

Ziel: Einblicke in normalerweise unzugängliche Gedanken und Emotionen


Lautes Denken Lautes Erinnern retrospektive

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stimulated recall Befragung
Verbalisierung von Verbalisierung von Beantwortung von
innerer Sprache aus dem reflection-in-action Interviewfragen zur

Interviews
Arbeitsgedächtnis, aus dem Langzeitgedächt- Handlung (reflection-
simultan zur nis, nach der Handlung on-action), nach der
Handlungssituation oder die Handlungs- Handlungssituation
situation unterbrechend
Online-/
Offline-
inner speech Offline-
Retrospektion
Retrospektion
Introspektion im engeren Sinne
Introspektion im weiteren Sinne
5.2.5 Introspektion

! Wahl der Impulse, Training der Methode, Wahl der Verbalisierungssprache, individuelle Unterschiede
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180 5. Forschungsverfahren

2013, Schnell 2013). Daneben wird auch verstärkt die theoretische Basis der Introspektion
in Hinblick darauf ausgearbeitet, dass für den Bereich der Fremdsprachenforschung mehr-
sprachige und dynamische Modelle des mentalen Lexikons notwendig sind, um die verbalen
Daten adäquat erheben und interpretieren zu können (vgl. Heine 2013, Heine 2014).

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Aguado, Karin/Heine, Lena/Schramm, Karen (Hg.) (2013). Introspektive Verfahren und qualitative In-
haltsanalyse in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt a. M.: Lang.
*Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen n der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung Test Deutsch als
Fremdsprache (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
Bowles, Melissa (2010). The Think-Aloud Controversy in Second Language Research. New York: Rout-
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

ledge.
Dörnyei, Zoltán (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: University Press.
*Eckerth, Johannes (2002). Fremdsprachenerwerb in aufgabenbasierten Interaktionen. Tübingen: Narr.
Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative In-
terviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant-Jahres. München: Langenscheidt.
[Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
Ericsson, K. Anders/Simon, Herbert A. (1987). Verbal reports on thinking. In: Færch, Claus/Kasper,
Gabriele (Hg.). Introspection in Second Language Research. Clevedon: Multilingual Matters, 24–53.
Ericsson, K. Anders/Simon, Herbert A. (1993). Protocol Analysis. Verbals Reports as Data. Revised
edition. Cambridge, MA: MIT Press.
*Feick, Diana (2012). Videobasiertes Lautes Erinnern als Instrument zur Untersuchung fremdsprach-
licher Gruppenaushandlungsprozesse. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch
erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung. Tübingen: Narr, 202–212.
*Feick, Diana (2013). „Sehen Sie sich Ines an.“ Zur sozialen Situiertheit des Videobasierten Lauten Er-
innerns. In: Aguado, Karin/Heine, Lena/Schramm, Karen (Hg.), 54–73.
Gass, Susan M./Mackey, Alison (2000). Stimulated Recall Methodology in Second Language Research.
Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates.
*Haudeck, Helga (2008). Fremdsprachliche Wortschatzarbeit außerhalb des Klassenzimmers. Eine qua-
litative Studie zu Lernstrategien und Lerntechniken in den Klassenstufen 5 und 8. Tübingen: Narr.
Heine, Lena (2005). Lautes Denken als Forschungsinstrument in der Fremdsprachenforschung. In: Zeit-
schrift für Fremdsprachenforschung 16/2, 163–185.
*Heine, Lena (2010). Problem Solving in a Foreign Language. Berlin: Mouton de Gruyter.
Heine, Lena (2013). Introspektive Verfahren in der Fremdsprachenforschung: State-of-the-Art und
Desiderata. In: Aguado, Karin/Heine, Lena/Schramm, Karen (Hg.), 13–30.
Heine, Lena (2014). Introspektion. In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-
Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und
Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 123–135.
Heine, Lena/Schramm, Karen (2007). Lautes Denken in der Fremdsprachenforschung: Eine Handrei-
chung für die empirische Praxis. In: Vollmer, Helmut Johannes (Hg.). Synergieeffekte in der Fremd-
sprachenforschung. Frankfurt a. M.: Lang, 167–206.

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5.2.5 Introspektion 181

Knorr, Petra (2013). Zur Differenzierung retrospektiver verbaler Daten: Protokolle Lauten Erinnerns
erheben, verstehen und analysieren. In: Aguado, Karin/Heine, Lena/Schramm, Karen (Hg.), 31–53.
Knorr, Petra/Schramm, Karen (2012). Datenerhebung durch Lautes Denken und Lautes Erinnern in
der fremdsprachendidaktischen Empirie. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch
erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung. Tübingen: Narr, 184–201.
Leow, Ronald P./Morgan-Short, Kara (2004). To think aloud or not to think aloud: The issue of reactivity
in SLA research methodology. In: Studies in Second Language Acquisition 26(1), 35–57.
*May, Lyn (2011). Interaction in a Paired Speaking Test: The Rater’s Perspective. Frankfurt am Main:
Lang.
*Raith, Thomas (2011). Kompetenzen für aufgabenorientiertes Fremdsprachenunterrichten. Tübingen:
Narr.
*Rossa, Henning (2012). Mentale Prozesse beim Hörverstehen in der Fremdsprache. Eine Studie zur
Validität der Messung sprachlicher Kompetenzen. Frankfurt am Main: Lang.
Sasaki, Tomomi (2008). Concurrent think-aloud protocol as a socially situated construct. In: Interna-
tional Review of Applied Linguistics in Language Teaching 46(4), 349–374.
Schnell, Anna Katharina (2013). Lautes Denken im Licht der Embodied Cognition: neue Grenzen, neue
Möglichkeiten in der Schreibprozessforschung? In: Aguado, Karin/Heine, Lena/Schramm, Karen
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(Hg.), 92–115.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Bowles, Melissa (2010): The Think-Aloud Controversy in Second Language Research. New York:
Routledge.
In dieser Monographie wird ein Überblick zum Stand der Forschung zum Lauten Denken in der
(englischsprachigen) Fremdsprachenforschung gegeben, wobei vor allem auf Fragen der Validität
der Methode fokussiert wird.
Heine, Lena/Schramm, Karen (2007). Lautes Denken in der Fremdsprachenforschung: Eine Hand-
reichung für die empirische Praxis. In: Vollmer, Helmut Johannes (Hg.). Synergieeffekte in der
Fremdsprachenforschung. Frankfurt a. M.: Lang, 167–206.
Dieser Beitrag bietet einen Überblick über Fragen und Herausforderungen, die sich bei einer Laut-
Denk-Studie im Vorfeld der Datenerhebung und während des Lautens Denkens ergeben. Weiterhin
erfolgen detaillierte Überlegungen zur Transkription und einige Hinweise zur Auswertung von Laut-
Denk-Daten.
Knorr, Petra/Schramm, Karen (2012). Datenerhebung durch Lautes Denken und Lautes Erinnern
in der fremdsprachendidaktischen Empirie. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht
empirisch erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung. Tübingen: Narr, 184–201.
In diesem forschungsmethodischen Artikel werden zwei der hier thematisierten introspektiven Er-
hebungsverfahren, das Laute Denken und das Laute Erinnern, ausführlich dargestellt. Nach einer
kurzen Begriffsklärung behandeln die Autorinnen Aspekte wie Instruktion, Demonstration, Training,
Impulsdarbietung, Datenaufzeichnung, Verbalisierungssprache und Transkription ausführlich und
reflektieren abschließend kurz die Grenzen beider Erhebungsverfahren.

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182 5. Forschungsverfahren

5.2.6  rheben und Erfassen von Lernersprache und


E
Korpuserstellung

Verena Mezger/Christin Schellhardt/Yazgül Şimşek

1 Zur Unterscheidung von Erheben und Erfassen


Basis für die Analyse von Lernersprache (s. dazu Kapitel 5.3.7) ist immer die komplexe sprach-
liche Einheit, der Text. Dieser kann im Zusammenhang der nachfolgenden Ausführungen so-
wohl medial mündlich als auch schriftlich verfasst und/ oder dokumentiert worden sein. So-
mit beziehen wir uns hier auf eine sehr weite Definition des Begriffes „Text“, wie z. B. Linke/
Nussbaumer/Portmann (1991: 245): „Ein Text ist eine komplex strukturierte, thematisch wie
konzeptuell zusammenhängende sprachliche Einheit, mit der ein Sprecher eine sprachliche
Handlung mit erkennbarem kommunikativem Sinn vollzieht“. Im Folgenden werden die ver-
schiedenen Möglichkeiten thematisiert, Texte von Lernenden zu erhalten, zu dokumentieren
und für die Analyse vorzubereiten.
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Dabei unterscheiden wir grundsätzlich zwischen Erhebung und Erfassung von Lernerspra-
che: Charakteristisch für die Erhebung ist die Tatsache, dass Forscher gezielt eine Situation
schaffen, in der Lernende Sprache produzieren müssen, z. B. in einem Experiment oder in ei-
nem Sprachtest im Rahmen eines Forschungsprojekts wie z. B. DESI (siehe DESI-Konsortium
2008, Klieme/Beck 2007). Dabei ist die Produktion von Sprachdaten i. d. R. stark kontrolliert
und gesteuert. Zur Erhebung gehören auch Techniken wie das sogenannte stimulated recall
bzw. das stimulusbasierte Laute Erinnern, wobei authentische Aufnahmen des Unterrichts
den Lernenden vorgespielt und zur Reflexion über ihre Sprachfähigkeiten und Lernprozesse
genutzt werden (vgl. Kapitel 5.2.5). Erhebung wird von uns somit synonym mit dem in der
Linguistik üblichen Begriff der Elizitierung verwendet.
Ein Beispiel für die Erhebung von Lernerdaten liefert Eckerth (2003) in seiner Studie
zu aufgabenbasierten Interaktionen. Den Kern seines Datenmaterials bilden forscherseitig
initiierte Aufnahmen von Lerner-Lerner-Interaktionen während der gemeinsamen Lö-
sung einer Aufgabe. Tests, die vor und nach der interaktiven Aufgabenlösung individu-
ell mit den Lernenden durchgeführt wurden, und retrospektive Interviews ergänzen das
­Korpus.
Im Gegensatz dazu bezeichnet die Erfassung von Lernersprache, dass der Forscher auf
Produkte zugreift, die im Unterricht ohnehin entstehen, z. B. Klassenarbeiten oder Schüler-
präsentationen (vgl. auch Kapitel 5.2.7). Ein Beispiel für die Erfassung von Lernersprache
stellt die Arbeit von Méron-Minuth (2009) dar. Sie ist longitudinal angelegt und beobachtet
die Schülerinnen und Schüler einer Klasse, die Französisch als erste Fremdsprache lernen.
Der Unterricht wird in regelmäßigen Abständen über den Zeitraum von vier Jahren in Form
von Videoaufnahmen dokumentiert. Diese Videoaufnahmen geben den Unterrichtsverlauf in
seiner natürlichen Form wieder und die Forscherin bleibt in der Rolle der Beobachterin. Um
die erfassten Daten zu ergänzen, werden aber auch zusätzlich Forscher- und Lehrerprotokolle
erhoben.
Die Studie von Dauster (2007) zum Frühen Fremdsprachenlernen Französisch kombiniert
beide Verfahren: Sie greift zum einen auf einen Datensatz von 90 erfassten Unterrichtsstun-

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5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 183

den, zum anderen auf 23 für die Studie erhobenen mündliche Kurztests (sog. Père-Noël-Er-
hebungen) zurück.
Grenzfälle zwischen Erheben und Erfassen ergeben sich dann, wenn Forscher Lehrkräfte
darum bitten, in ihrem regulären Unterricht bestimmte lernersprachliche Produkte erstellen
zu lassen oder, wie z. B. Bechtel (2003), den eigenen (Hochschul-) Unterricht auf die Erhebung
bestimmter Daten hin ausrichten. Bei allen (Misch-) Formen von Erheben und Erfassen sind
ethische Fragen, insb. die informierte Einwilligung der Lernenden, zu berücksichtigen (s.
Kapitel 4.6).

2 Verfahren des Erhebens und Erfassens


Bei Erheben und Erfassen ist von grundsätzlicher Relevanz, ob es sich um schriftliche oder
mündliche Daten handelt. Die Erfassung mündlicher Daten in Form von Ton- oder Videoauf-
nahmen ermöglicht, vom Forscher ungesteuert, eine Dokumentation natürlicher Unterrichts-
situationen. Sie beinhaltet aber generell das Problem, dass der entsprechende Probanden-
kreis durch die Anwesenheit fremder Personen und technischer Geräte in seinem Handeln
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dahingehend beeinflusst werden kann, dass er sich beobachtet fühlt und sich möglicherweise
entsprechend anders verhält (zum Phänomen des sogenannten Beobachterparadoxons vgl.
Bergmann 2001, s. auch Kapitel 5.2.3). Formen der Erhebung, wie beispielsweise die video-
graphische Dokumentation mündlicher Präsentationen, Diskussionen oder Rollenspiele,
sind mündliche Diskursarten, die sowohl von der Lehrperson natürlich eingesetzt und vom
Forscher beobachtet und erfasst werden können, als auch vom Untersuchenden selbst inner-
halb einer Lernergruppe gesteuert einsetzbar sind. Der Fokus auf bestimmte Diskursarten ist
häufig eng mit dem Forscherinteresse an bestimmten sprachlichen Strukturen verbunden, die
in dieser Diskursart vermehrt zu erwarten sind.
So wie bei der Gewinnung mündlicher Sprachdaten sollte auch bei der Erhebung bzw.
Erfassung von schriftlichen Texten unbedingt beachtet werden, welche Textsorten sich für
das Untersuchungsziel eignen und inwieweit das Wissen über Textmuster und Genres in die
Forschungsfrage integriert werden soll. Dementsprechend wird für die erfolgreiche Erhebung
einer bestimmten Textsorte eine Methode mit einer präzisen Aufgabenstellung gewählt, die
für den Schreiber möglichst einen der Textsorte angemessenen Kontext aufbaut. So müsste
z. B. bei einer E-Mail dem Probanden vorgegeben werden, an wen er schreiben soll (z. B.
einen Freund oder den Vertreter einer Institution). Erst dann wird er in der Lage sein, adä-
quate sprachliche Mittel aus seinem Repertoire auszuwählen. Weiterhin ist bei der Erhebung
von Texten in einer Fremdsprache ebenfalls der mögliche Einfluss kulturell bedingter kom-
munikativer Praktiken aus der Erstsprache zu bedenken und bei der Konzeption der Auf-
gabenstellung und der Analyse zu beachten.9
Ein weiterer Aspekt, der bei der Erhebung und Erfassung von Texten – unabhängig von der
Textsorte – zu beachten wäre, ist die Frage danach, ob und wie Arbeitsprozesse bei der Entste-
hung von Texten festgehalten werden können. Die Erhebung oder Erfassung kann z. B. durch

9 Dies gilt auch für die Erhebung mündlicher Daten. Routinen der Gesprächsorganisation – sequenzielle
Organisation von Bewertungen (vgl. Günthner 1993 u. 2001, Casper-Hehne 2008), Komplimente, Begrü-
ßungen und ähnliche Routinen – sind potentielle Schablonen, die aus der Herkunftskultur übernommen
werden können.

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184 5. Forschungsverfahren

ein Portfolio mit allen Textentwürfen und -überarbeitungen oder durch Videoaufnahmen des
Schreibprozesses ergänzt werden. Den Probanden sind dann entsprechende Anweisungen zu
erteilen (wie etwa „Bitte nichts ausradieren, sondern durchstreichen.“). Insbesondere bei der
Entstehung von Texten am PC oder beim Umgang mit Lernsoftware können für den Forscher
sowohl non-verbale als auch verbale Kanäle relevant sein, so dass Videoaufnahmen nötig
werden, die sowohl die Interaktionen der Lernenden als auch das Geschehen auf dem Bild-
schirm erfassen; vgl. dazu die Hinweise in der Referenzarbeit von Schart (2003) und in der
Untersuchung von Schmitt (2007).
Im Folgenden sollen einige Aufgaben, die in der neueren Forschung eingesetzt wurden,
beispielhaft besprochen werden. Dies soll verdeutlichen, dass ein Szenario erforderlich ist,
um Probanden einen möglichst natürlichen kommunikativen Kontext nahezulegen. So ist es
möglich, auch in Bezug auf die sprachlichen Repertoires der Probanden möglichst aussage-
kräftige Daten zu erhalten.
Bei den einzelnen Instrumenten der Datenerhebung sind zunächst die jeweiligen Auf-
gabenstellungen und die dafür jeweils geeigneten Stimuli relevant, wobei unter Stimulus der
Anlass zu verstehen ist, den man dem Probanden gibt, damit er diesem Input entsprechend
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eine Handlung ausführen kann. Setzt man beispielsweise eine Bildergeschichte als Stimulus
ein, kann die Aufgabe entweder lauten, dass der Proband die einzelnen Bilder in allen Einzel-
heiten wiedergeben soll (Reproduktion des Stimulus) oder dass er eine Geschichte erzählen
soll (Aufbau eines Szenarios mit Hilfe des Stimulus). Innerhalb eines eher freieren Rahmens
wie im zweiten Fall können die entstehenden Texte erhebliche Unterschiede in der Text-
struktur und in den Inhalten aufweisen, was eine Auswertung und Analyse unter Umständen
erschweren kann. Andererseits führt die größere Freiheit bei der Umsetzung der Aufgabe
dazu, dass die Aufgaben von Probanden als natürlichen kommunikativen Zwecken ähnlicher
wahrgenommen und die Lösungen entsprechend den eigenen Kompetenzen und Interessen
produziert werden.
Die Textsorten, die im Rahmen solch variabler Szenarien erhoben werden können, gehen
auch über Erzählungen und Bildbeschreibungen hinaus; Berman und Verhoeven (2002) er-
heben beispielsweise auch expositorische Texte: Im sogenannten Spencer Project wird Schüle-
rinnen und Schülern ein vierminütiger Stummfilm als Stimulus gezeigt, der unterschiedliche
negative Schulereignisse (Mobbing, Spicken u. Ä.) szenisch darstellt. Anschließend sollen die
Schüler die zweiteilige Frage beantworten, ob sie auch schon einmal Derartiges erlebt haben
(Erhebung eines narrativen Textes) und was sie denn von derartigen Verhaltensweisen und
Vorkommnissen halten (Erhebung eines expositorischen Textes). Innerhalb eines ähnlich frei-
en Rahmens erheben Cantone und Haberzettl (2009) einen argumentativen Text, indem sie
Probanden bitten, ihre Meinung zum Thema „Handyverbot in der Schule“ schriftlich zu for-
mulieren. Je nachdem, wie das Szenario ausgestaltet wird, lassen sich unterschiedliche Text-
sorten erheben, an denen jeweils unterschiedliche sprachliche Merkmale untersucht werden
können (weitere Beispiele für ein Erhebungsinstrument mit ähnlich freier Aufgabenstellung
vgl. Knapp 1997 und Petersen 2012).
Vergleichbare Szenarien lassen sich auch zunächst als mündliche Rollenspiele einführen, an
die sich dann die Schreibaufgabe anschließt (vgl. Mayr/Mezger/Paul 2010). Macht man zu-
sätzlich Audio- oder Videoaufnahmen solcher Rollenspiele, sind auch Analysen möglich, die
die dialogischen Lösungen der Lernenden zu den schriftlichen Sprachprodukten in Beziehung

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5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 185

setzen. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass komplexe Szenarien nicht in jeder Lern-
gruppe gleichermaßen gut umsetzbar sind, da Probanden Schwierigkeiten haben können, sich
in Situationen hineinzuversetzen, mit denen sie in ihrem Alltag nicht vertraut sind. In solchen
Fällen sind Ausweichlösungen zu finden, wie beispielsweise eine Inszenierung, in der man die
Situation von Dritten spielen lässt (vgl. das Forschungsprojekt OLDER10).

Hinweise zur Durchführung

Bei der Gewinnung von Daten, besonders im Schulkontext, sind einige rechtliche und orga-
nisatorische Hinweise zu beachten, die für das Gelingen des Projektes von entscheidender
Bedeutung sein können. Hat der Forschende sich für eine Forschungsfrage und einen dazuge-
hörigen Erhebungskontext entschieden, sollte zunächst ein detaillierter Ablaufplan erstellt
werden. Besonders bei der Arbeit in Schulen ist zu beachten, dass dazu oftmals Genehmi-
gungen bei Schulbehörden oder anderen dafür zuständigen Einrichtungen einzuholen sind.
Diese sollten mit genügend Vorlaufzeit beantragt werden. Bei minderjährigen Probanden ist
zudem eine Einverständniserklärung der Eltern vonnöten, genauso wie von allen Teilneh-
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menden die Genehmigung, die erhaltenen Daten für wissenschaftliche Zwecke verwenden
und veröffentlichen zu dürfen.
Führt man die Erhebung/Erfassung nicht selbst oder nicht alleine durch, ist darauf zu
achten, die Mitarbeitenden entsprechend zu schulen. Gerade, wenn den Probanden eine Auf-
gabe gestellt wird, sollten die Formulierungen und das Szenario möglichst immer gleich sein
(also auch schriftlich ausformuliert), um später eine maximale Vergleichbarkeit der Daten
zu gewährleisten. Zudem sollte die Durchführung, falls möglich, vorher getestet und geübt
werden. Eine solche Pilotierung verschafft dem Forschenden die Möglichkeit, Instrumente
und Anweisungen auf ihre Funktionalität zu überprüfen und eventuell fehlende oder unklare
Informationen zu überarbeiten. Grundsätzlich sollten alle Arbeitsmaterialien ausreichend
vorhanden und technische Geräte auf ihre Funktionstüchtigkeit getestet werden. Es ist wich-
tig, sich auch auf den Fall vorzubereiten, dass die Geräte ausfallen könnten.
Nach der Erhebung/Erfassung muss sichergestellt werden, dass die Daten schnell und in
unterschiedlichen Formaten gesichert werden. Rechtzeitig sollte über Form und Art der Ano-
nymisierung der gewonnenen Daten nachgedacht werden; diese ist auch bei der Lagerung
der Originaldaten zu beachten.

3 Aufbereitung der gewonnenen Daten


Datenbanken und Transkriptionssoftware

Bevor man beginnt, die gewonnenen Daten zu analysieren, müssen sie zunächst gesichert
und verarbeitet werden. Gegenüber Kopien bietet sich das Scannen zur Datensicherung
schriftlicher Texte besonders an, da sie somit digitalisiert sind und unter Umständen in den
späteren Analyseprozess eingebunden werden können. Für eine detaillierte Analyse kann es
jedoch auch notwendig sein, die Lernertexte in der vorgelegten Form möglichst originalgetreu

10 Forschungsprojekt OLDER = Orale und literale Diskursfähigkeiten – Erwerbsmechanismen und Ressour-


cen, unter der Leitung von Uta M. Quasthoff (2002ff); Projektbeschreibung unter http://home.edo.uni-​
dortmund.de/~older/Kurzbeschreibung.html (02. 09. 2015).

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186 5. Forschungsverfahren

abzutippen. Bei Audio- und Videoaufnahmen gestaltet sich die Datensicherung schwieriger.
Hier ist zunächst zu empfehlen, die Dateien auf mehreren Datenträgern (z. B. externe Fest-
platte, Server) zu sichern und diese dann weiter zu verarbeiten.
Bei größeren Datenmengen empfiehlt sich der Gebrauch von Datenbanken. Dies gilt ins-
besondere für die meist umfangreichen Meta-Datensätze, wie z. B. Angaben zu Alter, Sprach-
lerndauer und Erhebungskontext. Mit Hilfe der heutzutage einfach zu erstellenden Daten-
banken kann man die Daten nach präzise auf das Forschungprojekt abgestimmten Kriterien
durchsuchen. Ein solches Datenbanksystem stellt die kommerzielle Datenbanksoftware
FileMaker dar, die Waggershauser (erscheint) in ihrer ethnographischen Untersuchtung rus-
sischer Zweitsprachenlernender bespielsweise dazu nutzt, im Alltag von Integrationskursteil-
nehmenden erfasste literale Artefakte zusammen mit ihren entsprechenden Beobachtungs-
notizen digital aufzubereiten. Durch umfassende einfache und kombinierte Suchabfragen
und Gestaltungsmöglichkeiten können umfangreiche Informationen ausgewertet werden.
Das Programm erlaubt den In- und Export von Daten in gängigen Datenformaten und ist
somit flexibel.
Die sehr aufwändige Arbeit des Transkribierens (siehe Kapitel 5.3.6 sowie auch Mempel/
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Mehlhorn 2014) kann durch die Nutzung von Transkriptionssoftware erleichtert werden, die
zu großen Teilen auch frei zugänglich ist. Allen gemeinsam ist die Einbindung eines Audio-
oder Videopanels und eines Texteditors in einer Benutzeroberfläche. Die verschiedenen Pro-
gramme unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich der bearbeitbaren Datenformate, der
Kompatibilität mit anderen Programmen, den Ausgabeformaten und der Möglichkeit der
Einbindung in Analyseprogramme (vgl. Moritz 2011: 28). Im Folgenden sollen einige in
der fremdsprachendidaktischen Forschung eingesetzte Transkriptionsprogramme vorgestellt
werden. Darüber hinaus bietet das Gesprächsanalytische Informationssystem GAIS Informa-
tionen und Hinweise von der Aufnahme der eigenen Daten bis hin zur Korpuserstellung.11
Das Transkriptionsprogramm F4 bzw. F5 unterstützt das Transkribieren von Audio- oder
Videodateien. Das Audiopanel ermöglicht die einfache Handhabung des Datenmaterials
durch eine variable Abspielgeschwindigkeit und frei wählbare Rückspulintervalle. Das Ein-
fügen von Zeitmarken ermöglicht den schnellen Rückbezug zum Datenmaterial. Dieses Pro-
gramm ist inbesondere für grobe Transkiptionen geeignet.
Bei FOLKER handelt es sich um eine Transkriptionssoftware, welche von Thomas Schmidt
für das Projekt „Forschungs- und Lehrkorpus gesprochenes Deutsch“ des Instituts für deutsche
Sprache Mannheim (IDS) entwickelt wurde. Es stellt eine Benutzeroberfläche zur Transkrip-
tion ausschließlich auditiver Daten nach der Transkriptionskonvention GAT212 dar. Dabei
hat der Nutzer die Wahl zwischen der für GAT typischen Segmentschreibung oder der Par-
titurnotation. Die Implementierung eines Audioplayers sowie die Darstellung des Sprach-
signals durch ein Oszillogramm ermöglichen eine präzise Auswahl von Zeitmarken und zu
transkribierender Segmente. Die weitere Bearbeitung des Datenmaterials durch linguistische
Annotationen ist allerdings nicht vorgesehen (vgl. Schmidt/Schütte 2011: 5).
Andere Programme stellen sogenannte Mehrzweckeditoren dar, die nicht nur eine Ober-
fläche zur Transkription anbieten, sondern gleichzeitig die technischen Rahmenbedingungen

11 Siehe http://prowiki.ids-mannheim.de/bin/view/GAIS/ (01. 09. 2015).


12 Für Informationen zu GAT2 siehe Kapitel 5.3.6 und Selting/Auer 2009.

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5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 187

zu weiteren Analysen bereitstellen. Im Folgenden werden die am weitesten verbreiteten


Mehrzweckeditoren vorgestellt.
ELAN ist das Transkriptions- und Annotationsprogramm des Max-Planck-Instituts für
Psycholinguistik der Universität Nijmegen und wurde speziell zur Verarbeitung und Ana-
lyse multimodaler Daten entwickelt (vgl. Tacchetti 2013: iv). Die Transkription wird gemäß
der HIAT-Konventionen durchgeführt (vgl. Moritz 2011: 29, Rehbein et al. 2004 sowie Ka-
pitel 5.3.6). ELAN stellt über die reine Transkriptionsoberfläche hinaus eine Struktur zur
linguistischen Analyse bereit, mittels derer beliebig viele Spuren für Annotationen angelegt
werden können, die voneinander abhängig sein oder auf einander bezogen werden können
(vgl. Tacchetti 2013: 16).
Das CHILDES-System wurde im Rahmen des CHILDES-Projektes unter Leitung von Brian
MacWhinney entwickelt. Dabei handelt es sich um ein dreiteiliges System, welches zur Tran-
skription, Analyse und Korpusverwaltung Werkzeuge zur Verfügung stellt. Für die Erstellung
der Transkripte und Annotation des Sprachmaterials wird die Transkriptionskonvention
CHAT genutzt. Die in CHAT erstellten Transkripte können mittels des CLAN-Analyse Werk-
zeugs in die Datenbank aufgenommen werden (vgl. MacWhinney 2000: 9).
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EXMARaLDA ist ebenfalls ein System verschiedener Werkzeuge zur Transkription und
Annotation gesprochener Sprache sowie der Korpuserstellung und -abfrage. Es besteht aus
dem Partitur Editor, der mit dem implementierten Audioplayer sowie dem integrierten Os-
zillogramm die Transkription des Datenmaterials sowohl nach den verschiedenen gängigen
Transkriptionskonventionen sowie beliebig viele Annotationen ermöglicht. Der Corpus Ma-
nager (COMA) unterstützt die Erstellung von Korpora aus EXMARaLDA-Transkripten und
die Anreicherung der Sprachdaten mit den unterschiedlichsten Metadaten. COMA ermöglicht
aber auch die Erstellung von Korpora, die aus mit FOLKER, ELAN oder CHAT hergestellten
Transkriptionen bestehen (vgl. Schmidt 2010: 9–10). Mittels des Suchwerkzeugs EXAKT
lassen sich Korpora nach sprachlichen Phänomenen in den transkribierten und annotierten
Spuren durchsuchen (vgl. Schmidt 2010).
Zur Aufbereitung von Videomaterial ist das Programm Transana besonders geeignet. Dafür
hält die an der Universität Wisconsin-Madison entwickelte Analysesoftware ausführliche
Bearbeitungs- und Verwaltungsmöglichkeiten bereit. Audiofiles und Videos können in für
die Analyse relevante Clips geschnitten werden und anschließend je nach Bedarf passend zu-
sammengestellt werden. Die Option einer Team-Version ermöglicht eine direkte und einfache
Zusammenarbeit von Projektgruppen.
Während die genannte Transkriptionssoftware in der Regel für linguistische Fragestel-
lungen genutzt werden, bietet sich für das thematische Kodieren von inhaltlichen Aspekten
der Lernersprache das Programm MAXQDA an. In den neueren Versionen kann man die
Videotranskripte durch Zeitmarken mit den Videofilmen verknüpfen.

Korpuserstellung und -verwaltung

Sind die gewünschten Daten elizitiert und verarbeitet worden, kann man sie zu einem Korpus
zusammenstellen. Bei einem Korpus handelt es sich prinzipiell um eine „[e]ndliche Menge
von konkreten sprachlichen Äußerungen, die als empirische Grundlage für sprachwiss[en-
schaftliche] Untersuchungen dienen.“ (Bußmann 2008: 378). Dabei bilden Größe, Inhalt, Be-

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188 5. Forschungsverfahren

ständigkeit und Repräsentativität die wichtigsten Kriterien zum Aufbau eines eigenen Korpus
(vgl. Scherer 2006: 5–10). Wie das eigene Korpus konkret beschaffen ist, hängt vor allem von
der eigenen Fragestellung ab (vgl. Bußmann 2008: 378, Scherer 2006: 56). Unter Berücksichti-
gung der Parameter, die man im Rahmen der Untersuchung miteinander vergleichen möchte,
kann die Bildung von sogenannten Subkorpora nützlich sein. Dabei handelt es sich um Teile
des Gesamtkorpus, die anhand ausgewählter Metadaten extrahiert wurden. Möchte man
beispielsweise die Lernprogression von Lernenden des Englischen im Rahmen des Fremd-
sprachenunterrichts untersuchen und liegen Daten von Lernenden vor, die unterschiedlich
lange Unterricht in dieser Sprache erhalten haben, dann könnte die Dauer des Fremdspra-
chenunterrichts ein wesentliches Kriterium zur Bildung von Subkorpora sein. Grundsätzlich
sollte kritisch überlegt werden, ob sich der Aufwand der Einrichtung von Teilkorpora für die
Beantwortung der Forschungsfrage lohnt (vgl. Scherer 2006: 57).
Prinzipiell kann ein Korpus sowohl in digitaler als auch in analoger Form erstellt und aus-
gewertet werden (diskutiert in Scherer 2006: 57). Der Nutzen, den ein computerverarbeitetes
Korpus bietet, muss gegen den Aufwand der Digitalisierung abgewogen werden. Für eine
computergestützte Verarbeitung der Korpusdaten spricht grundsätzlich die Möglichkeit der
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mehrfachen Speicherung und damit der Sicherung der Daten und Analysen. Darüber hinaus
bietet ein gut zugängliches Korpus durch unkomplizierte Suchabfragen die Möglichkeit For-
schungsfragen zu variieren oder zu erweitern (s. dazu genauer Kapitel 5.3.8).
Unabhängig von der Digitalisierung von Korpora können die enthaltenen Daten in Pri-
mär-, Sekundär- und Tertiärdaten unterschieden werden (vgl. Draxler 2008: 13). Primärdaten
sind sprachliche Rohdaten. Dabei kann es sich um Ton- oder Videoaufnahmen gesprochener
Sprache oder um Scans handschriftlich verfasster Texte handeln. Sekundärdaten hingegen
sind alle Verarbeitungsstufen dieser sprachlichen Rohdaten. Damit sind die Transkriptionen
mündlicher oder schriftlicher Texte gemeint sowie alle Arten von linguistischen Annotatio-
nen. Bei Tertiärdaten handelt es sich um alle Metadaten bezüglich der einzelnen Texte des
Korpus, wie Entstehungskontext, intendierte Textsorte, Entstehungszeit, Sprache usw. sowie
bzgl. der Textproduzenten, wie Alter, Geschlecht, Lernerbiographie usw. Mithilfe von Meta-
daten können die im Korpus vorhandenen Sprachdaten dokumentiert und damit für andere
Nutzer nachvollziehbar gemacht werden. Zum anderen können Metadaten für die Zusam-
menstellung von Subkorpora nach einzelnen Kriterien herangezogen werden (vgl. Lemnitzer/
Zinsmeister 2010: 48). Primärdaten sind grundsätzlich unveränderlich, während Sekundär-
daten immer wieder verändert und überarbeitet werden können. So können Transkriptionen
schrittweise erweitert bzw. spezifiziert werden oder es können immer neue Annotations-
ebenen hinzugefügt werden (vgl. Draxler 2008: 13).
Im Folgenden wird am Beispiel von EXMARaLDA gezeigt, wie ein digitales Korpus erstellt
werden kann. Mithilfe des EXMARaLDA Corpus-Managers (Coma) können EXMARaLDA-
Transkripte mit Metadaten versehen werden und zu Korpora zusammengestellt werden.
Anhand dieser Metadaten können die Daten in Coma durchsucht werden und zu Teilkorpora
zusammengestellt werden13.

13 Ausführliche Anleitungen zum zur Arbeit mit dem Corpus-Manager Coma und zum Erstellen von Kor-
pora sind online verfügbar.

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5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 189
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Abbildung 1: Datenansicht im Corpus Manager (Quelle: Online-Hilfe für Coma)

Zum Erstellen eines Korpus aus EXMARaLDA-Transkripten stellt das Tool einen Assis-
tenten bereit, der in sechs Schritten durch die Korpuserstellung führt. Zunächst gilt es den
Speicherort der zu erstellenden Coma-Datei auszuwählen und damit gleichzeitig den Ordner
zu bestimmen, in dem sich die korpusrelevanten Transkripte befinden. Anschließend werden
die Dateien ausgewählt, die für das zu erstellende Korpus relevant sind und die in einem
weiteren Schritt segmentiert werden sollen. Daraufhin können Metadaten, die bereits in
den Transkripten enthalten sind, für die Korpusdatei ausgewählt oder bewusst davon aus-
geschlossen werden. Ebenso kann auch mit den an der Kommunikation beteiligten Personen
verfahren werden.
Die erzeugte Datei kann anschließend in Coma geöffnet werden. Im Reiter „Daten“ kön-
nen Metadaten zu Gesprächsereignissen, Sprechern, Transkripten und Aufnahmen einge-
geben und selektiert werden. Auf der linken Seite werden alle im Korpus befindlichen Kom-
munikationen dargestellt. Auf der rechten Seite werden alle in den Korpusdaten beteiligten
Personen aufgeführt. Durch Auswahl einzelner können Metadaten zu Kommunikationen
oder Personen angelegt werden. Abbildung 1 zeigt in der Mitte die für die Kommunika-
tion „Rudi Völler: Wutausbruch“ eingetragenen Metadaten, die an dieser Stelle auch be-
arbeitet werden können. Ferner sind hier auch Verknüpfungen zwischen Kommunikationen
und Personen möglich. Durch die Nutzung von Filtern kann die Anzeige der Korpusda-
teien eingeschränkt werden. Hat man das Korpus entsprechend eines oder mehrerer Pa-
rameter gefiltert, können über das Einkaufswagen-Symbol die ausgewählten Datensätze
in den Korpus-Korb abgelegt werden, wo diese dann als Teilkorpora gespeichert werden
können.
Wie auch die Entscheidung für eine Methode zur Datengewinnung hängt die Auswahl
und Art der Zusammensetzung eines Lernerkorpus von der Fragestellung ab, die an die

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190

5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache


incl. Korpuserstellung
Daten gewinnen, ... ... sichern und Korpus
aufbereiten.

Erhebung (auch: Elizitierung) gezielter digitalisieren - Ablagesystem ✓ digital


z.B. IDS
Sprachproduktion in stark kontrollierter dokumentieren - Datenbank ✓ analog
Situation nutzbar machen - Korpus ✓
→ Experiment, Test, stimulated recall
Primärdaten
Audio, Video, Scans, Kopien
Erfassung sprachlicher Produkte
der Unterrichtsrealität Sekundärdaten
→ Klassenarbeiten, Vorträge Transkript, Annotation
Tertiärdaten
mündlich: Audio/Videoaufnahmen Zusatzinformationen und Metadaten erstellen
Beobachtungsparadoxon verwalten
anonymisieren - Siglen ✓ auswerten

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schriftlich: Textprodukte, Portfolios transkribieren - Konventionen ✓ analysieren
Aufgabenstimulus annotieren - Kriterien ✓ ggf. bereitstellen

! Einverständniserklärung(en), Datenschutzvereinbarung, Vorlaufzeit, Schulung, Pilotierung


5. Forschungsverfahren

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5.2.6 Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung 191

Daten des Korpus gestellt wird (vgl. Lüdeling 2008: 121). Faktoren, wie der Sprachstand der
Lernenden, ihre L1, die Aufgabenstellung oder Umstände und Entstehungskontext der Daten
können als Parameter zur Korpuszusammenstellung herangezogen werden (vgl. Lüdeling
2008: 122, Granger 2002: 9). Diese Kriterien sollten in den Metadaten dokumentiert sein, um
die Erstellung des Korpus transparent und damit für jeden nachvollziehbar zu machen und
gleichzeitig die Bildung von Teilkorpora nach anderen Parametern zu ermöglichen. Hilfreich
dabei ist eine ausreichend intensive Dokumentation der Metadaten der Textproduzenten, zum
Beispiel mittels Fragebogen. Für die Erstellung von Metadaten gibt es verschiedene Standards,
die die Bildung von Teilkorpora oder auch den Austausch von Korpora vereinfachen (siehe
dazu Lemnitzer/Zinsmeister 2010: 48ff). Bezüglich der Durchführung der an die Korpuser-
stellung anschließenden Datenanalyse gibt es neben inhaltlichen auch zahlreiche technische
Aspekte zu berücksichtigen (Näheres dazu in Kapitel 5.3.7 und 5.3.8).
Wünschenswert für die weitere Entwicklung der fremdsprachendidaktischen Forschung
ist die Bereitstellung solch aufwändig erarbeiteter Korpora, damit auch andere Forschende
diese für weitere Untersuchungen und andere Fragestellungen nutzen können; beispielsweise
wurden von Ricart Brede (2011) nach der Publikation einer videobasierten Studie umfang-
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reiche Transkripte bereitgestellt.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
*Bechtel, Mark (2003). Interkulturelles Lernen beim Sprachenlernen im Tandem. Eine diskursanalytische
Untersuchung. Tübingen: Narr.
Bergmann, Jörg R. (2001). Das Konzept der Konversationsanalyse. In: Brinker, Klaus/Antos, Gerd/
Heinemann, Wolfgang/Sager, Svend F. (Hg.). Text- und Gesprächslinguistik: Ein internationales
Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbband. Berlin: de Gruyter, 919–927.
*Berman, Ruth A./Verhoeven, Ludo (Hg.) (2002). Cross-linguistic perspectives on the development of
text-production abilities in speech and writing. In: Written Language and Literacy (Special Issue)
5.1 / 5.2.
Bußmann, Hadumod (2008). Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Alfred Kröner.
*Cantone, Katja Francesca/Haberzettl, Stefanie (2009). „Ich bin dagegen warum sollte man den kein
Handy mit nehmen“ – zur Bewertung argumentativer Texte bei Schülern mit Deutsch als Zweit-
sprache. In: Schramm, Karen/Schroeder, Christoph (Hg.). Empirische Zugänge zu Spracherwerb und
Sprachförderung in Deutsch als Zweitsprache. Münster: Waxmann, 43–66.
*Casper-Hehne, Hiltraud (2008). Russisch-deutsche Interaktion in der Schule: Empirische Untersuchun-
gen zu Linguistik und Didaktik interkultureller Unterrichtskommunikation. In: Zielsprache Deutsch
H. 3, 2–26.
*Dauster, Judith (2007): Frühes Fremdsprachenlernen Französisch. Möglichkeiten und Grenzen der Ana-
lyse von Lerneräußerungen und Lehr-Lern-Interaktion. Stuttgart: ibidem.
DESI-Konsortium (Hg.) (2008). Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse
der DESI-Studie. Weinheim: Beltz.
Draxler, Christoph (2008). Korpusbasierte Sprachverarbeitung. Eine Einführung. Tübingen: Narr.
*Eckerth, Johannes (2003). Fremdsprachenerwerb in aufgabenbasierten Interaktionen. Tübingen: Narr.

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192 5. Forschungsverfahren

Granger, Sylviane. (2002). A Bird’s-eye view of learner corpus research. In: Grange, Sylviane/Hung,
Joseph/Petch-Tyson, Stephanie. (Hg.). Computer Learner Corpora, Second Language Acquisition and
Foreign language Teaching. Amsterdam: Benjamnis, 3–33.
*Günthner, Susanne (1993). Diskursstrategien in der Interkulturellen Kommunikation. Analysen
deutsch-chinesischer Gespräche. Tübingen: Niemeyer.
Günthner, Susanne (2001). Kulturelle Unterschiede in der Aktualisierung kommunikativer Gattungen.
In: Informationen Deutsch als Fremdsprache 28, 15–32.
Klieme, Eckhard/Beck, Bärbel (Hg.) (2007). Sprachliche Kompetenzen. Konzepte und Messung. DESI-
Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Weinheim: Beltz.
*Knapp, Werner (1997). Schriftliches Erzählen in der Zweitsprache. Tübingen: Niemeyer.
Lemnitzer, Lutz/Zinsmeister, Heike (2010). Korpuslinguistik. Eine Einführung. Tübingen: Narr.
Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann, Paul R. (1991). Studienbuch Linguistik. Tübingen:
Niemeyer.
Lüdeling, Anke (2008). Mehrdeutigkeiten und Kategorisierung: Probleme bei der Annotation von Ler-
nerkorpora. In: Walter, Maik/Grommes, Patrick (Hg.). Fortgeschrittene Lernervarietäten. Korpuslin-
guistik und Zweitspracherwerbsforschung. Tübingen: Niemeyer, 119–140.
MacWhinney, Brian (2000). The CHILDES Project: Tools for Analyzing Talk. 3. Auflage. NJ: Lawrence
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Erlbaum Associates.
*Mayr, Katharina/Mezger, Verena/Paul, Kerstin (2010). Spracharbeit statt Strafarbeit. Zum Ausbau von
Sprachkompetenz mit Kiezdeutsch im Unterricht. In: IDV-Magazin 82, 159–187.
Mempel, Caterina/Mehlhorn, Grit (2014). Datenaufbereitung. Transkription und Annotation. In: Setti-
nieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.).
Einführung in empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn:
Schöningh, 147–166.
*Méron-Minuth, Sylvie (2009). Kommunikationsstrategien von Grundschülern im Französischunter-
richt. Eine Untersuchung zu den ersten vier Lernjahren. Giessener Beiträge zur Fremdsprachendi-
daktik. Tübingen: Narr.
Moritz, Christine (2011). Die Feldpartitur. Multikodale Transkription von Videodaten in der Qualitati-
ven Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag.
*Petersen, Inger (2012). Entwicklung schriftlicher Argumentationskompetenz bei Oberstufenschüler/
innen und Studierenden mit Deutsch als Erst- und Zweitsprache. Vortrag beim Symposium „Mehr-
sprachig in Wissenschaft und Gesellschaft“ Bielefeld, 07. 02. 2012 [Online: http://www.uni-bielefeld.
de/Universitaet/Studium/Studienbegleitende%20Angebote/Punktum/060_wir_ueber_uns/tagungen/
tagung_2012/PPP/praesentation_petersen.pdf] (11. 09. 2015).
*Quasthoff, Uta M. (Projektleitung) (2002ff): Forschungsprojekt OLDER = „Orale und literale Diskurs-
fähigkeiten – Erwerbsmechanismen und Ressourcen“. Projektbeschreibung [Online: http://home.edo.
uni-dortmund.de/~older/Kurzbeschreibung.html] (11. 09. 2015).
Rehbein, Jochen/Schmidt, Thomas/Meyer, Bernd/Watzke, Franziska/Herkenrath, Annette (2004). Hand-
buch für das computergestützte Transkribieren nach HIAT. [Online http://www.exmaralda.org/files/
azm_56.pdf] (11. 09. 2015).
*Ricart Brede, Julia (2011). Videobasierte Qualitätsanalyse vorschulischer Sprachfördersituationen. In-
auguraldissertation an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Freiburg i. Br.: Fillibach
*Schart, Michael (2003): Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Scherer, Carmen (2006). Korpuslinguistik. Kurze Einführung in die Germanistische Linguistik. Heidel-
berg: Universitätsverlag Winter.
*Schmitt, Reinhold (Hg.) (2007): Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion. Tübingen: Narr.

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5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 193

Schmidt, Thomas (2010). EXMARaLDA EXAKT. Manual Version 1.0. [Online: http://s3.amazonaws.
com/zanran_storage/www1.uni-hamburg.de/ContentPages/109 154 423.pdf] (11. 09. 2015).
Schmidt, Thomas/Schütte, Wilfried (2011). FOLKER. Transkriptionseditor für das „Forschungs- und
Lehrkorpus gesprochenes Deutsch“ (FOLK). Transkriptionshandbuch. [Online: http://agd.ids-mann​
heim.de/download/FOLKER-Transkriptionshandbuch.pdf] (11. 09. 2015).
Selting, Margret/Auer, Peter (2009). Gesprächsanalytisches Transkriptionssystem 2 (GAT2). In: Ge-
sprächsforschung 10, 353–402 [Online: www.gespraechsforschung-ozs.de ] (11. 09. 2015).
Tacchetti, Maddalena (2013). User Guide for ELAN Linguistic Annotator. [Online: http://www.mpi.nl/
corpus/manuals/manual-elan_ug.pdf] (18. 10. 2013).
*Waggershauser, Elena (2015). Schreiben als soziale Praxis. Eine ethnographische Untersuchung erwach-
sener russischsprachiger Zweitschriftlernender. Tübingen: Stauffenburg.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Mempel, Caterina/Mehlhorn, Grit (2014). Datenaufbereitung: Transkription und Annotation.


In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer,
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Claudia (Hg.): Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.
Eine Einführung. Paderborn: Schöningh.
Dieses Kapitel bietet FremdsprachendidaktikerInnen einen hervorragenden ersten Überblick über
die Theorieabhängigkeit von Transkriptionskonventionen und die entsprechende Software. Neben
der Transkription verbaler Daten werden auch die phonetische Transkription und die Transkription
nonverbaler Kommunikation sowie die Aufbereitung von Transkripten für Vorträge thematisiert.

5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten

Daniela Caspari

Die verschiedenen Erhebungsverfahren dienen i. d. R. dazu, Texte und Dokumente zu gewin-


nen, mit denen eine zuvor definierte Forschungsfrage bearbeitet werden soll. In diesem Kapi-
tel wird für das umgekehrte Vorgehen plädiert, nämlich von Texten bzw. Dokumenten auszu­
gehen, die nicht extra erhoben werden müssen, sondern bereits vorhanden sind. Gemeint sind
damit halboffizielle und private Dokumente, die tagtäglich in Lehr-/Lernsituationen bzw. in
ihrem direkten Umfeld (z. B. Fachkonferenz, Fachseminarleitertreffen) entstehen. Während in
Kapitel 4.1 zwischen (wissenschaftlichen) Texten und (anderen) Dokumenten unter­schieden
wird, werden die beiden Begriffe im Folgenden synonym verwendet. Bezeichnet werden
damit die vor, während und nach dem Unterricht tagtäglich in großer Zahl entstehenden sog.
unterrichtsbezogenen Produkte, z. B. Unterrichtsplanungen, Tafelbilder, Hospitationsnotizen,
Blog-Einträge, Kurz-Präsentationen, Gedichte, Plakate, Podcasts, Portfolios, Rollenspiele usw.
Alle diese, von Lerner_innen, Lehrer_innen, Referendar_innen, Eltern und anderen Ak-
teur_innen in den unterschiedlichen institutionellen Lehr-/Lernkontexten verfassten Texte
können als Dokumente gesammelt und unter den verschiedensten Fragestellungen in der
fremdsprachendidaktischen Forschung untersucht werden. Bislang ist jedoch außerhalb der

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194 5. Forschungsverfahren

historischen Forschung (s. Kapitel 5.2.1 Dokumentensammlung), die sich zwangsläufig auf
überlieferte Dokumente stützen muss, nur punktuell, z. B. im Rahmen der Fehlerforschung
oder bei der Erforschung kreativer Verfahren, darüber nachgedacht worden, welches Poten-
zial für die Erforschung des Fremdsprachenunterrichts in ihnen steckt. Da diese Dokumente
bereits existieren, besteht das Ziel dieses Kapitels nicht darin, bestimmte Erhebungsverfahren
zu beschreiben, sondern es will dafür werben, dass die genannten unterrichtsbezogenen
Produkte in ihrem Wert für die Forschung erkannt und dementsprechend genutzt werden.
Dabei wird man zumeist von einer Forschungsfrage aus entsprechende Dokumente gezielt
sammeln; es ist allerdings – anders als sonst im Forschungsprozess üblich – auch möglich,
dass man erst über die Dokumente verfügt und anschließend eine dazu passende Forschungs-
frage entwickelt oder ein Forschungsinteresse auf die vorhandenen Produkte hin konkreti-
siert.

1 Eingrenzung und Abgrenzung unterrichtsbezogener Produkte


Unter unterrichtsbezogenen Produkten werden im Folgenden die unterschiedlichsten Formen
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schriftlicher, mündlicher, graphischer und multimodaler Texte verstanden, die in unterricht-


lichen Arrangements oder in direktem Zusammenhang mit ihnen entstehen. Die erfassten
Texte können die von Lerner_innen, Lehrpersonen, Ausbilder_innen oder anderen direkt am
Lehr-/Lernprozess beteiligten Akteur_innen erstellt werden. Sie können in Vorbereitung auf
den Unterricht (z. B. vorbereitende Hausaufgaben oder Stundenplanungen), während des Un-
terrichts im Klassenzimmer oder an außerschulischen Lernorten (z. B. kreative Texte, Stand-
bilder, Interviews, Chateinträge) oder nach dem Unterricht (z. B. Lehrertagebücher, nach-
bereitende Hausaufgaben) entstehen. Zu unterrichtsbezogenen Produkten zählen ebenfalls
Texte, die als intendiertes Ergebnis von unterrichtlichen Lernprozessen erhoben werden (z. B.
Klassenarbeiten oder Abiturprüfungen incl. der Kommentare und Beurteilungen). Ebenfalls
dazu zählen Texte, die von (angehenden) Lehrkräften oder Ausbilder_innen in Zusammen-
hang mit der Vor- und Nachbereitung von Unterricht bzw. in der Diskussion über das Fach
und seinen Unterricht entstehen (z. B. Alternativaufgaben, Beurteilungsraster).
Die folgenden Übersichten sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Fülle und die
Vielfalt dieser unterrichtsbezogenen Lerner_innen- und Lehrer_innentexte verdeutlichen. Die
vorgenommene Einteilung der Lerner_innentexte sortiert nach Medium (mündlich – schrift-
lich) und Textsorte bzw. Genre des Produktes, an zwei Stellen auch nach der didaktischen
Funktion. Die Lehrer_innentexte unterscheiden nach Entstehungsort und nach der Funktion.
Innerhalb der Rubriken wurde – wenn möglich – nach steigender Komplexität angeordnet.
Neben der Verwendung unterschiedlicher Kategorien besteht eine Unschärfe darin, dass viele
Textsorten nicht eindeutig definiert sind und dass Mehrfachzuordnungen möglich sind. Für
die Zielsetzung, (forschenden) Lehrkräften und Forscher_innen die Vielfalt und Fülle der vor-
liegenden bzw. möglichen Produkte bewusst zu machen, erscheint dieser Systematisierungs-
vorschlag jedoch ausreichend.

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5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 195

Beispiele für Lerner_innentexte

mündlich – monologisch schriftlich – graphisch gestaltet


– Beschreibungen (Bilder, Personen, Wege) – Bilder (mit/ohne Text)
– Erzählungen – Fotos, Collagen (mit/ohne Text)
– Märchen – Plakate, Wandzeitungen
– Witze – Handouts, Handzettel, Flugblätter, Flyer
– Statements
– Berichte schriftlich – Schreiben über Texte
– Argumentationen – Zusammenfassungen
– Reden – Analysen, Interpretationen, Charakteristi-
ken etc.
mündlich – dia- bzw. multilogisch – Kommentare
– Gespräche, z. B. während Partner- und – Rezensionen
Gruppenarbeit, im Tandem
– Diskussionen (auch: Einzelbeiträge) schriftlich – das Lernen dokumentieren
– Interviews, Umfragen – ausgefüllte Übungs- und Aufgabenblätter,
– Rollenspiele z. B. zu Wortschatz, Grammatik, Sprach-
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– Debatten mittlung (auch aus Prüfungen)


– mdl. Sprachmittlung – Portfolios (EPS, themen- oder aufgabenbe-
zogene Portfolios)
mündlich – theatral – Lerner_innentagebuch, Logbuch
– Standbilder – von Lerner_innen selbst erstellte Tests und
– Spielszenen Aufgaben
– Sketche
– Rezitationen schriftlich – literarische bzw. literarisieren-
de Texte
mündlich – medial unterstützt – Geschichten (unterschiedliche Genres, mit/
– Referate, Präsentationen ohne sprachliche oder inhaltliche Vorgaben)
– Filmskripte/Treatments
– Gedichte
– Lieder
– Tagebucheinträge
– Essays

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196 5. Forschungsverfahren

Beispiele für Lerner_innentexte

schriftlich – kleine Formen schriftlich – multimodal


– Notizen – Comics, Bildergeschichten
– Listen, Tabellen – Bildergeschichte, Fotoromane
– Statistiken (auch: Fehlerstatistik) – Buchumschläge (z. B. Klappentext)
– Mindmaps, Cluster
– Wörterbilder, Wörternetze multimedial – multimodal
– Grammatikregeln – Videos, Video-Clips
– Beispielsätze – Podcasts
– Slogans – Chat- oder Blogeinträge
– SMS – Wikis
– Rätsel (z. B. Kreuzworträtsel) – Webseiten

schriftlich – Sach- und Gebrauchstexte


– Aufschriften, Beschriftungen
– Formulare, Fragebögen
– E-Mails, Briefe, Postkarten (untersch.
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Adressaten, untersch. Funktionen)


– Blog-Einträge
– Einladungen
– Kochrezepte
– Lebenslauf
– Beschreibungen (Bilder, Personen)
– Artikel, z. B. Zeitungsartikel
– Leserbriefe
Tabelle 1: Unterrichtsbezogene Lerner_innentexte

Selbstverständlich können die allermeisten dieser Textsorten ebenfalls gezielt erhoben werden,
z. B. um den Sprachstand von Lerner_innen (vgl. Kapitel 5.2.6) oder den Erfolg bestimmter
Unterrichtsverfahren zu erfassen. Auch für Studien im Rahmen der Lehrerforschung werden
viele der hier genannten Dokumente erhoben, um z. B. bestimmte Einstellungen oder Entwick-
lungen von Lehrkräften zu verfolgen. In diesen Fällen wurde zuvor ein Forschungsprojekt mit
Fragestellung und Design entwickelt, der Impuls für die Erhebung geht von den Forscher_in-
nen aus und die Erhebungssituation und die zu erhebenden Produkte werden zielgerichtet auf
das Forschungsinteresse bzw. die Forschungsfrage hin ausrichtet. Diese Texte entstehen somit
in einer gezielt gestalteten Situation, auch wenn diese Situation im natürlichen Kontext (Regel-
unterricht, reguläre Prüfungen, Fortbildungsveranstaltung etc.) geschaffen wird.
Bei einer Erfassung (zum Unterschied zwischen Erhebung und Erfassung s. auch Kapi-
tel 5.2.6), um die es in diesem Kapitel geht, werden die Produkte dagegen ohne vorgängige
Forscher_innenabsicht erstellt und erst im Nachhinein für Forschungszwecke genutzt (Natür-
lichkeit des Feldes). Dies könnte z. B. in der Form geschehen, dass ein/e Lehrer_in die im Laufe
des Berufslebens oder in der Zeit der Begleitung einer Lerngruppe gesammelten ‚schönsten
Schülerarbeiten‘ selbst auswertet bzw. zur Verfügung stellt. Oder in der Form, dass ein/eine
Teilnehmer_in einer Fortbildungsreihe am Ende seine Kolleg_innen darum bittet, ihm die
im Verlauf der Fortbildung entstandenen Unterrichtsmaterialien (anonym) zur Auswertung

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5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 197

Beispiele für Lehrer_innentexte

Texte und Materialien im bzw. für den Aus-/ Weiterbildung, Reflexion


Unterricht – Protokolle von Besprechungen, Konferen-
– Arbeitsaufträge zen oder Fort-/Weiterbildungen (z. B. über
– Lernaufgaben, Prüfungsaufgaben, Tests Lehrmaterialien, Unterrichtskonzeptionen,
(auch mit Lerner_innen gemeinsam erstellt) Bewertungskriterien)
– Tafelbilder, Folien, PP- bzw. Prezi-Präsen- – Beiträge in Blogs oder Foren
tationen – Tagebücher
– Arbeitsblätter – schriftl. Kommentierungen von fremdem
– Unterrichtsplanungen (auch ins Internet Unterricht (z. B. bei Hospitationen,
gestellt) Prüfungen)
– Portfolio (z. B. in Ausbildung, Weiter-
Reaktion auf Lerner_innenprodukte bildung)
– schriftl. Feedback, Reaktionen auf Fehler – Fachseminarplanungen
– schriftl. Kommentierungen von Lerner_in- – Prüfungsleistungen (z. B. Praktikums-
nentexten berichte, Masterarbeiten, Prüfungsarbeiten
– Beurteilungsraster in der 2. Phase)
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Info-Materialien
– Schulcurricula
– Schulhomepage (z. B. Darstellung des
Faches)
– Flyer (z. B. Infos für Fremdsprachenwahl)
Tabelle 2: Unterrichtsbezogene Lehrer_innentexte

zu geben. Eine andere Möglichkeit könnte darin bestehen, dass die für einen Wettbewerb
eingereichten Schülerarbeiten dazu anregen, sie unter anderen als den Wettbewerbskriterien
systematisch auszuwerten. Diesen Beispielen ist gemein, dass das Material jeweils ohne For-
schungsabsicht entstanden ist.
Natürlich gibt es auch Mischformen zwischen Erhebung und Erfassung in dem Sinne,
dass die Erhebung von in einer natürlichen Situation entstehenden Produkten zuvor ge-
plant wird. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn Lehrkräfte (z. B. im Rahmen eines Aktionsfor-
schungsprojektes) in ihrem Unterricht bestimmte Lernerprodukte erstellen lassen oder wenn
Forscher_innen alleine oder in Zusammenarbeit mit Lehrer_innen Unterrichtsarrangements
erstellen, in denen bestimmte Textsorten entstehen. Der zentrale Unterschied zu klassischen
Erhebungssituationen besteht hier in der ‚Natürlichkeit‘ der Situation: Die gewünschten Texte
könnten in der entsprechenden (Unterrichts-) Situation genauso gut auch unabhängig von
einer Forschungsabsicht entstehen. Der zentrale Unterschied zur klassischen Erfassung be-
steht darin, dass die Entstehung der Produkte von der Forscher_in oder im Einvernehmen
mit ihm/ihr intendiert ist.
Obwohl in zahlreichen Forschungsarbeiten unterrichtsbezogene Produkte herangezogen
werden, meist als eine von mehreren Datenformen, wurden sie unter forschungsmetho-
discher Hinsicht bislang lediglich in der historischen Forschung betrachtet (vgl. die entspre-
chenden Überlegungen in Kapitel 5.2.1). In aktuellen forschungsmethodischen Handbüchern
werden sie dagegen bislang so gut wie nicht beachtet: Lediglich in der Aktionsforschung (s.

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198 5. Forschungsverfahren

Kapitel 4.2, z. B. Burns 2010) und im Zusammenhang mit Triangulationsverfahren in der


ethnographischen Forschung (z. B. Nunan/Bailey 2009: 213) werden solche unterschiedlichen,
im Kontext des Unterrichts entstehenden Produkte überhaupt als potenzielle Forschungs-
daten aufgelistet. Angesichts dieser Situation erscheint es sinnvoll, sich zunächst mit den
Produkten selbst zu beschäftigen.

2 Möglichkeiten der Systematisierung


Aus den Tabellen 3 und 4 wird ersichtlich, dass es nicht einfach ist, eine einheitliche Klas-
sifizierung unterrichtsbezogener Produkte vorzunehmen, weil sie anhand einer Reihe von
Dimensionen näher beschrieben und systematisiert werden können:

Autorenschaft Wer produziert die Texte, Lerner_innen, Lehrer_innen, andere Akteur_innen?


Textsorten/ Welche Textsorten bzw. Genres werden erfasst?
Genres

Umfang Wie umfangreich sind die Texte? (Länge, Dauer)


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Medium In welchem Medium liegen die Texte vor: mündlich, schriftlich, graphisch,
multimodal?
Entstehungs- Ist der Entstehungskontext bekannt? Welche Details sind bekannt oder können
kontext nachträglich rekonstruiert werden (z. B. genaue Aufgabenstellung, beteiligte
Personen, zur Verfügung gestellt Zeit, Hilfsmittel)
Zeitpunkt Wann wurden die erfassten Produkte erstellt?
Ort Fand die Textproduktion innerhalb des Unterrichts oder an außerunterricht-
lichen bzw. außerschulischen Lernorten statt?
Art Handelt es sich um einen offiziellen, halboffiziellen oder privaten Text? (vgl.
Kapitel 5.2.1)
Anlass Wurde die Textproduktion von den Verfasser_innen verlangt bzw. erwartet
(z. B. gemeinsame Aufgabenentwicklung), wurde sie angeregt (z. B. Wett-
bewerbsbeitrag) oder entstand sie aus Eigenmotivation der Verfasser_innnen
(z. B. Tagebuch)?
Erfassungs- Wurden die Produkte gezielt gesucht und oder lagen sie bereits vor? Von wem
kontext wurden sie zusammengestellt? Nach welchen Kriterien?
Natürlichkeit Werden bzw. wurden die Produkte unabhängig von der Absicht, sie als For-
vs. Planung schungsdaten zu verwenden, erstellt? Oder wird bzw. wurde der Unterricht
bzw. die Situation unter Berücksichtigung des Forschungsinteresses gestaltet?
Ziele Welche Ziele werden bzw. wurden mit den Texten in Bezug auf die Lehr-/
Lernsituation verfolgt und welche Ziele in Bezug auf die Forschungssituation?
Realisierung Wer führt den Unterricht bzw. die Situation durch: Der bzw. die üblichen
Akteur_innen (z. B. die Lehrkraft mit ihrer gewöhnlichen Lerngruppe) oder
die Forscher_innen?
Tabelle 3: Dimensionen unterrichtsbezogener Produkte

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5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 199

Für die Analyse und Interpretation der Texte ist nicht nur die Kenntnis dieser Kontextdaten
von Bedeutung, sondern ebenfalls, wie stark die Lerner_innen und Lehrkräfte inhaltlich,
sprachlich und durch die jeweiligen Textsortenkonventionen festgelegt sind. Selbstver-
ständlich hängt der Grad der Steuerung im Einzelfall von der konkreten Situation und der
expliziten oder impliziten Zielsetzung bzw. Aufgabenstellung ab. So gibt es z. B. bei den Rol-
lenspielen durch die Art der Vorgaben ein Kontinuum von inhaltlich und sprachlich sehr eng
geführten bis zu sehr freien Formen. Trotzdem ist es sinnvoll, hier grundsätzlich zwischen
stärker vorgegebenen und eher freien Textsorten sowie zwischen sprachlich eher imitativen
bzw. reproduktiven sowie sprachlich produktiven bzw. kreativen Formen zu unterscheiden.
Bei der folgenden Einteilung wird eine sehr weite Definition von Textsorte im Sinne von
Regeln für die Produktion und für das Produkt in einer bestimmten Lehr-/Lernsituation zu
Grunde gelegt.

eher freie mündliche Textsorten z. B. Unterrichtsgespräche (im Plenum, in


Kleingruppen), Tandemgespräche, Rol-
lenspiele ohne/mit wenigen Vorgaben,
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Rollengespräche, Gespräche beim gemein-


samen Lösen einer Aufgabe, Features
stärker vorgegebene mündliche Textsorten z. B. Lehrwerks-Dialoge mit engen Vor-
gaben, Debatten, Sprachmittlungsauf-
gaben, Bildgeschichten
eher freie schriftliche Textsorten z. B. Lerntagebücher mit offenen Impulsen,
E-Mails, kreative Texte ohne formale Vor-
gaben, Essays, Portfolios
stärker vorgegebene schriftliche Textsorten z. B. Einsetz- und Umformungsübungen,
Inhaltsangaben, Charakteristiken, Erörte-
rungen, Briefe, Gedichte, commentaire de
texte, Sprachmittlungsaufgaben, Bild-
geschichten
eher freie multimodale Textsorten z. B. medial gestützte Präsentationen,
Video-Clips, Kurzfilme, Fotoromane
stärker vorgegebene multimodale Textsorten z. B. Nachrichten
Tabelle 4: Beispiele für eher freie und eher vorgegebene Textsorten

Selbstverständlich können je nach Forschungsfrage für die Auswahl und Systematisierung


vorliegender Texte weitere Kriterien relevant sein, z. B. Themen und Inhalte, Funktion der
Texte in der ursprüngliche Situation, Original-Fassung oder korrigierte bzw. überarbeitete
Version, Endprodukt oder Produkt innerhalb eines (Überarbeitungs-)Prozesses (z. B. Port-
folio). Gerade wenn die Produkte nicht nach vorher festgelegten Kriterien erstellt worden
sind, ist es wichtig, sie vor der bzw. für die Analyse und Interpretation möglichst genau zu
beschreiben.

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200 5. Forschungsverfahren

3 Forschungsinteresse
Der große Gewinn der Arbeit mit unterrichtsbezogenen Texten liegt darin, dass diese nicht
gezielt für Forschungszwecke verfasst wurden, sondern in natürlichen Kontexten entstanden
sind. Das heißt, dass es keine durch Design und Instrumente sonst notwendigerweise einher-
gehenden Beeinflussungen, Begrenzungen und Artefakte gibt, sondern dass sie das Resultat
authentischer Lehr-/Lern- bzw. Aus- und Weiterbildungssituationen in der Gegenwart oder
der Vergangenheit sind.
Aus diesem Grund können sie einen direkten und unverfälschten Einblick in die Realität
der unterschiedlichsten fremdsprachenbezogenen Lehr- und Lernkontexte geben. Die Be-
schäftigung mit unter realen Praxisbedingungen entstandenen Produkten ist sowohl des-
wegen interessant, weil sie in einem umfassenden Sinn authentisch sind. Sie ist auch des-
wegen aufschlussreich, weil das Wissen über die Wirklichkeit des Fremdsprachenunterrichts
und anderer fremdsprachenbezogener Lehr-/Lernsituationen noch immer sehr begrenzt ist.
Bislang gibt es noch immer viel zu wenige empirische Studien, die nicht oder nur wenig
arrangierten Fremdsprachenunterricht oder gar alltägliche Aus- und Fortbildungssituationen
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untersuchen. Im günstigsten Fall spiegeln unterrichtsbezogene Produkte eine große Band-


breite an unterschiedlichen Realisierungsformen einer Situation oder eines Themas, z. B. die
unterschiedlichen Formate und Aufgabenstellungen, die Lehrer_innen für Klassenarbeiten in
einer fünften Englischklasse wählen, oder die unterschiedlichen Formen, mit denen Schulen
für Russisch, Chinesisch oder andere seltener gelernte Fremdsprachen werben. Wählt man
nicht gerade Wettbewerbsbeiträge oder Produkte, die beim Elternabend oder beim Tag der
Offenen Tür präsentiert werden, dürfte die Qualität der Produkte von sehr unterschiedlicher
Qualität sein. Systematisch erfasst, liefern sie sowohl best practice- als auch worst practice-
Beispiele. Auf jeden Fall aber gewähren sie Einblicke in professionelle Lern-, Lehr- und Aus-
handlungsprozesse, wie sie wirklich stattfinden.
Im Unterschied zu den in Kapitel 5.2.6 beschriebenen Lerner_innenprodukten, die mit dem
Ziel erhoben werden, sprachliche Lernstände bzw. sprachliche Fortschritte von Lerner_innen
festzustellen, ermöglichen die erfassten Produkte, Einblick in komplexe Situationen, Prozesse
und Ergebnisse des Unterrichts zu gewinnen. Gerade für die so genannten schwer messbaren
Kompetenzen (vgl. Hu/Leupold 2008) und für Zielsetzungen, die über den Spracherwerb im
engen Sinne herausgehen, wie z. B. die Anwendung von Strategien oder die Bereitschaft,
sprachliche Risiken einzugehen, dürften unterrichtsbezogene Produkte über ein großes For-
schungspotenzial verfügen. Sie ermöglichen sowohl, Lernprodukte in einzelnen Dimensionen
(z. B. Inhalt, Textsortenadäquanz, sprachliche Leistung, Kreativität) als auch in ihrer Kom-
plexität zu erfassen. Untersucht man Portfolios oder Gruppenhefter, die die unterschiedlichen
Etappen einer Texterstellung enthalten, so können z. B. inhalts-und sprachbezogene Entschei-
dungen beim gemeinsamen Lösen einer Aufgabe nachgezeichnet oder die Genese bestimmter
Lernergebnisse nachverfolgt werden. Und bei der Untersuchung von Lesetagebüchern z. B.
kann nicht nur nachverfolgt werden, ob und wie Lerner_innen diese Aufgabe bewältigen,
sondern auch, welche Aspekte sie im Einzelnen notieren. Die Untersuchung unterrichts-
bezogener Lerner_innenprodukte ermöglicht ebenfalls Lerner_innen- (und Lehrer_innen-)
Interessen zu identifizieren und Einblicke in die Organisation von Lernprozessen zu gewin-
nen. Nicht zuletzt erlaubt sie, Wissensstände über die unterschiedlichsten, im Unterricht ver-

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5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 201

handelten oder in den Unterricht eingebrachten Themen zu erheben. Dies wurde bislang
lediglich für den bilingualen Sachfachunterricht erforscht, ist aber nicht zuletzt aufgrund der
heftigen Kritik am vermeintlichen Verlust von Inhalten im kompetenzorientierten Unterricht
von großem Interesse. Falls Lehrkräfte diese Produkte erforschen, kann eine Analyse und
Auswertung der Texte ihrer Lerner_innen nach anderen als bewertungsrelevanten Kriterien
zu neuen Einsichten führen, sind sie es doch i. d. R. gewohnt, sie lediglich unter dem Gesichts-
punkt der Korrektur und Notengebung zu betrachten. Viele der hier genannten Aspekte von
Lerner_innentexten werden bei der üblichen Korrektur nicht beachtet, obwohl sie möglicher-
weise ein neues Bild von den Leistungen und Potenzialen der Lerner_innen zeichnen.
Das Gleiche gilt für Lehrer_innentexte. Zwar ermöglicht die Lehrerforschung bereits viel-
fältige Einblicke in die unterschiedlichsten Aspekte des Lehrer_innen-Seins aus der Sicht der
Beteiligten. Jedoch ist es nicht dasselbe, ob die Entstehung von mündlichen oder schriftlichen
Lehrer_innentexten zu Forschungszwecken geplant und damit auch die Forschungsabsicht
bekannt ist, oder ob Lehrkräfte in ihren beruflichen Alltagssituationen Texte erstellen, die
erst im Nachhinein zu Forschungszwecken verwendet werden. Denn erfahrungsgemäß ist
es fast unmöglich, den Faktor der (von den Lehrkräften vermuteten) professionellen oder
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sozialen Erwünschtheit auszuschalten, wenn sie im Voraus um ihr Einverständnis gefragt


werden. Werden sie jedoch erst im Nachhinein um Erlaubnis gebeten, die entstandenen Texte
(z. B. Unterrichtsplanungen oder die Kommentierung von schriftlichen Lerner_innentexten)
zu Forschungszwecken nutzen zu dürfen, kann es sein, dass sie Bedenken haben, weil diese
Texte unter Alltagsbedingungen längst nicht immer so gestaltet worden sind, wie es dem An-
spruch der Lehrpersonen an sich selbst entspricht. Um diesen Bedenken Rechnung zu tragen,
könnte neben der Einhaltung der üblichen forschungsethischen Standards (s. Kapitel 4.6)
die Möglichkeit, die Erlaubnis im Nachhinein zurückziehen zu können, die Bereitschaft er-
höhen.

4 Forschungsmethodische Überlegungen
Auch wenn m.W. bislang noch keine Forschungsarbeiten vorliegen, die ausschließlich auf der
Grundlage von erfassten Texten entstanden sind, so geben Lerner_innen- und Lehrer_innen-
texte, die in (weitgehend) authentischen Lehr-/Lernsituationen entstanden sind, Hinweise auf
das Potenzial für die fremdsprachendidaktische Forschung sowie auf forschungsmethodische
Herausforderungen.
Als Beispiel sei die Dissertation von Peuschel (2012) aus dem universitären Fremdsprachen-
unterricht genannt, die insgesamt vier radiodaf-Projekte mit insgesamt 47 Teilnehmer_innen
als Beobachterin begleitete. Diese Projekte richten sich an studentische DaF-Lerner_innen,
die weitgehend selbstbestimmt einzelne Radiobeiträge bzw. ganze Sendungen erstellen und
aufnehmen, die anschließend in einem Freien Radio ausgestrahlt werden. Die Forschungs-
arbeit verfolgt das Ziel, Erkenntnisse zum sprachlichen Lernen in einem solchen Projekt mit
Beobachtungen zur Realisierung von gesellschaftlicher Teilhabe der Lerner_innen während
ihres Lernprozesses zu verbinden. Die Basis bilden insgesamt 87 Tonaufnahmen (Beiträge
der Sendungen und Probeaufnahmen) und 95 schriftliche Texte (schriftliche Vorlagen für die
gesprochenen Radiobeiträge, Notizen, Stichpunkte und Vorversionen dieser Vorlagen sowie
Übersetzungen bzw. Übersetzungsversuche von einzelnen Texten). Dazu kommen Beobach-

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202 5. Forschungsverfahren

tungsprotokolle sowie aus zwei der vier Projekte Interviews und Lerner_innentagebücher. Im
Mittelpunkt der Auswertungen stehen jedoch die mündlichen und schriftlichen Lerner_in-
nenprodukte, die „einen Zwischenstatus zwischen natürlichen und elizitierten Daten“ haben
(Peuschel 2012: 67, unter Verweis auf Larsen-Freeman/Long 1994: 26 ff.). Die Verfasserin
betont dabei die Natürlichkeit und Authentizität der Produkte, da diese auch ohne ihre Studie
entstanden seien (Peuschel 2012: 68).
An dieser Forschungsarbeit kann man gut die Herausforderungen der Arbeit mit einem
solchen Textkorpus erkennen. Zum einen stellen sich Fragen der Sicherung und Aufbereitung
der Daten (im Folgenden Peuschel 2012: 72–83, vgl. auch Kapitel 5.2.6). Dazu zählen das
Sampling, die Transkription der gesprochenen Texte, die Digitalisierung von handschriftlichen
Lerner_innenprodukten (hierzu hat die Verfasserin ein eigenes Transliterationssystem ent-
wickelt, das Korrekturen, Ergänzungen, Auslöschungen etc. abbildet) sowie die Erstellung
einer Datenbank. Zum anderen stellen sich Fragen der Auswertung und der Ergebnisdar-
stellung. Die Verfasserin wählt das ethnografische Verfahren der dichten Beschreibung (Ge-
ertz 1995), mit dem die erfassten Produkte in drei Schritten rekonstruiert und analysiert
werden. Dabei wird ähnlich wie beim hermeneutischen Zirkel (vgl. Kapitel 5.3.2) beständig
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zwischen übergreifenden Strukturen und Details der Dokumente hin- und hergewechselt.
Besondere Sorgfalt verlangt bei diesem Projekt der Umgang mit den verschiedenen Versio-
nen der Lerner_innenprodukte, damit die sprachlichen Entwicklungsverläufe nachvollzogen
werden können, ohne sie ausschließlich an der zielsprachigen Norm zu messen. Insgesamt
zeigt die Studie von Peuschel (2012), dass die sorgfältige Analyse von Lerner_innenprodukten
detaillierte Einblicke in individuelle und kollaborative Prozesse der Texterstellung, in Ent-
wicklungsverläufe bei der Textproduktion sowie in die Zusammenhänge zwischen sprach-
licher Tätigkeit und Teilhabeoptionen erlaubt.
An dem Beispiel wird deutlich, dass es je nach Fragestellung und Art der erfassten Produk-
te angemessene Verfahren der Aufbereitung, Analyse und Interpretation zu finden gilt. An-
regungen für die Zusammenstellung und Aufbereitung lassen sich in diesem Handbuch vor
allem in den Kapiteln 5.2.1 (Dokumentensammlung), 5.2.2 (Textzusammenstellung) sowie
5.2.6 (Erheben und Erfassen von Lernersprache und Korpuserstellung) finden. Anregungen
für die Auswahl und die Analyse bzw. Interpretation finden sich vor allem in den Kapiteln 4.3
(Sampling), 5.3.2 (Hermeneutische Verfahren), 5.3.3 (Grounded Theory und Dokumentarische
Methode), 5.3.4 (Inhaltsanalyse) sowie 5.3.5 (Typenbildung).
Für den Umgang mit den erfassten Dokumenten gelten prinzipiell die gleichen Regeln
wie für jede andere Forschung, d. h. auch die üblichen Gütekriterien (vgl. Kapitel 2) und for-
schungsethischen Prinzipien (vgl. Kapitel 4.6). Allerdings ergeben sich aus der Tatsache, dass
es sich um Produkte handelt, die zunächst ohne Forschungsabsicht entstanden sind, spezielle
Fragen. Zum Beispiel stellt sich die Frage, wie man mit Produkten umgeht, zu denen man
nachträglich keine Erlaubnis der Verfasser_innen mehr einholen kann, denn es muss auf
jeden Fall ausgeschlossen werden, dass die Verwendung ihnen auf irgendeine Weise scha-
den könnte. Es stellt sich ebenfalls die Frage, welche Kontextdaten notwendig sind, um die
Produkte der Forschungsfrage entsprechend angemessen einordnen und interpretieren zu
können, und wie man damit umgeht, wenn dies im Nachhinein nicht bzw. nicht vollständig
möglich ist. Außerdem stellt sich die Frage, wie man die Art und die Anzahl der Dokumente
erhält, die für die Bearbeitung der Forschungsfrage notwendig sind.

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5.2.7 Erfassen von unterrichtsbezogenen Produkten 203

Daher erscheint es einfacher, wie in dem dargestellten Beispiel als Forscher_in in den
entsprechenden Situationen anwesend zu sein. Jedoch wirft dies nicht nur die (theoretische)
Frage auf, ob es sich dann noch um erfasste Produkte oder nicht doch um Erhebungssituatio-
nen im natürlichen Kontext handelt. Sondern es stellt sich vor allem die (praktische) Frage,
ob man dann noch von unbeeinflussten, authentischen Dokumenten sprechen kann. Denn
unbestreitbar verändert die Anwesenheit der Forscher_in die Situation und damit auch die
Produkte, wobei dies im Fall der Lehrer_innenprodukte deutlich stärker der Fall sein dürfte
als bei Lerner_innenprodukten. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, als Forscher_in Ein-
fluss auf die Entstehung der Produkte zu nehmen, z. B. indem man den Unterricht oder die
Lehrkräftefortbildung, in der diese Produkte entstehen, mit plant. Aber auch hierbei steigt
die Gefahr einer gewollten oder ungewollten Beeinflussung dieser Produkte. Daher sollten
die möglichen Nachteile unvollständiger Kontextdaten oder zu weniger bzw. ungeeigneter
Produkte sorgfältig gegen eine mögliche Einflussnahme auf die Produkte abgewogen werden.
Aber selbst im Fall einer solchen Steuerung bzw. Beeinflussung durch die Forscher_in ist
im Vergleich zu einer klassischen Erhebungssituation weiterhin der Vorteil einer deutlichen
höheren Authentizität gegeben, weil die Produkte in den allen Beteiligten vertrauten, üb-
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lichen Situationen entstehen.


Andere Fragen stellen sich, wenn die unterrichtsbezogenen Produkte vorliegen, bevor
eine Forschungsfrage entwickelt worden ist. In dieser Situation ähnelt das Vorgehen der
Forscher_in dem Vorgehen in historischen und ethnographischen Forschungsansätzen. Es
gilt, zunächst die Produkte sorgfältig und umfassend zu sichten, um zu erkennen, welches
Potenzial in ihnen erkennbar ist und was an ihnen besonders interessant für die fremd-
sprachendidaktische Forschung ist. Nach einer vorläufigen Formulierung der Forschungs-
frage ist ein zirkuläres Vorgehen zu empfehlen, d. h. sich erneut in die Produkte zu vertiefen,
um ihr Potenzial für die Beantwortung der Forschungsfrage zu überprüfen. Anschließend
gilt es, die für die Beantwortung der Forschungsfrage angemessenen und für die Produkte
gleichermaßen geeigneten Verfahren zu bestimmen, mit denen die erfassten Produkte gesi-
chert, ausgewertet und interpretiert werden können, sowie diese vor ihrer Anwendung zu
erproben.
Weitere Fragen stellen sich, wenn die erfassten Produkte nur einen Teil der in einem For-
schungsprojekt verwendeten Daten und Texte darstellen, wie z. B. in der Studie von Kimes-
Link (2013) zum Umgang mit literarischen Texten im Englischunterricht der gymnasialen
Oberstufe. Anhand von vier Fallstudien untersucht sie, wie die Rezeption von und Interaktion
mit literarischen Gegenständen stattfindet und welche Ergebnisse dabei erzielt werden. Ein
Hauptaugenmerk gilt der Wirkung der Aufgaben und unterrichtlichen Verfahren, mit denen
Lehrkräfte die Textarbeit steuern (vgl. Kimes-Link 2013: 10–11). Um die sechs bis 19 Unter-
richtsstunden umfassenden Einheiten in ihrer Komplexität rekonstruieren zu können, setzt
sie eine Vielzahl von Erhebungsmethoden ein, durch die gleichzeitig eine Daten- und Per-
spektiventriangulation ermöglicht wird: Ton- und Videoaufzeichnungen des Unterrichts, Feld-
notizen der Forscherin, ausgewählte schriftliche Arbeiten von Schüler_innen (Hausaufgaben,
Arbeitsblätter, während des Unterrichts verfasste Texte, Klassenarbeiten), fotografierte Tafel-
bilder sowie retrospektive Interviews mit den Lehrkräften und Schüler_innen (Kimes-Link
2013: 98–105). Die Tafelbilder stellen sich „im Sinne eines breiten Datensatzes“ (Kimes-Link
2013: 103) als gute Ergänzung zu den Videoaufnehmen heraus, den schriftlichen Schüler_in-

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204 5. Forschungsverfahren

nenprodukten kommt die Funktion zu, „weiteren Aufschluss über die Verstehensprozesse der
Lernenden“ zu liefern (Kimes-Link 2013: 104). In der rekonstruktiven Analyse der Unter-
richtseinheiten erhalten die Schüler_innentexte denn auch eine große Rolle: In allen vier
Unterrichtsreihen werden jeweils mehrere unterschiedliche schriftliche Schülerarbeiten ana-
lysiert und in den retrospektiven Interviews werden die Schüler_innen zu ihnen befragt.
Auch inhaltlich liefern sie einen bedeutenden Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfrage,
denn anhand der Analyse kann im Detail aufgezeigt werden, welche Funktion der jeweiligen
Aufgabe bzw. dem jeweiligen Verfahren für den Prozess der literarischen Auseinanderset-
zung zukommt und welche Analyse- und Interpretationsleistungen die Schüler_innen jeweils
erbringen. In Kombination mit der Analyse des Unterrichtsdiskurses kann Kimes-Link nach-
zeichnen, was die Lehrkraft davon aufgreift bzw. was davon nicht für den weiteren Lehr-/
Lernprozess verfügbar gemacht wird. So ermöglichen die Analyse und Interpretation der Ler-
ner_innentexte es, die Eignung bestimmter methodischer Verfahren für das literarische Verste-
hen der Schüler_innen festzustellen (vgl. Kimes-Link 2013: 352–366). Durch die Analyse des
Unterrichtsdiskurses über die Schülerarbeiten wird darüber hinaus deutlich, wie das Potenzial
dieser Texte besser genutzt werden könnte (vgl. Kimes-Link 2013: 366–368).
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An der Studie von Kimes-Link (2013) wird neben dem forschungsmethodischen Poten-
zial einer solchen Fülle von erfassten und erhobenen Texten und Dokumenten zugleich die
große Herausforderung im Umgang mit ihnen deutlich: Es muss jeweils sehr genau überlegt
und transparent gemacht werden, welche Texte und Dokumente im Einzelnen ausgewählt
werden, wie die unterschiedlichen Textsorten ausgewertet und interpretiert werden, wie sie
aufeinander bezogen werden und welchen Textsorten dabei welche Funktion bzw. welcher
Stellenwert zukommt. Dies verlangt neben einer breiten forschungsmethodischen Kenntnis
und der Fähigkeit, die jeweiligen Analysen und Interpretationen jeweils funktional in die
Gesamtauswertung einfließen zu lassen, nicht zuletzt einen enormen Dokumentationsauf-
wand, damit die Leser_innen die einzelnen Forschungsentscheidungen auch tatsächlich im
Detail nachvollziehen können.
Eine große Vielzahl unterschiedlicher Daten, Texte und Produkte kann tatsächlich zu „einem
ganzheitlicheren Verständnis der Komplexität der beobachteten Lehr- und Lernsituationen und
ihrer Bedingungsfaktoren“ führen, wie Freitag-Hild (2010: 158) in ihrer ähnlich angelegten
Studie zum interkulturellen Lernen mit Migrationsliteratur im Englischunterricht bilanziert.
Jedoch besteht bei einer so großen Menge an Texten und Dokumenten grundsätzlich die Ge-
fahr, dass das Erkenntnispotenzial der einzelnen Quellen nicht ausgenutzt wird oder dass for-
schungsethisch nicht unproblematische „Datenfriedhöfe“ (s. Kapitel 3.3) entstehen. So konnte
Kimes-Link „[a]ufgrund der Datenfülle“ (2013: 111) nur vier von sieben der so aufwändig
dokumentierten Unterrichtsreihen in ihrer Studie darstellen. Dies zeigt, dass gerade bei einer
Kombination von „erhobenen“ und „erfassten“ Texten und Dokumenten im Vorfeld sorgfältige
forschungsmethodische und -ökologische Überlegungen anzustellen sind.

›› Literatur

Burns, Anne (2010). Doing Action Research in English Language Teaching. A Guide for Practitioners.
New York: Routledge.

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5.2.8 Testen 205

Freitag-Hild, Britta (2010). Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkul-
tureller Literaturdidaktik. ‚British Fictions of Migration‘ im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT.
Geertz, Clifford (1995). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 4. Auflage.
Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Hu, Adelheid /Leupold, Eynar (2008). Schwer messbare Kompetenzen. In: Tesch, Bernd/Leupold, Eynar/
Köller, Olaf (Hg.) (2008). Bildungsstandards Französisch: konkret. Sekundarstufe I: Grundlagen, Auf-
gabenbeispiele und Unterrichtsanregungen. Berlin: Cornelsen Scriptor: 64–74.
Kimes-Link, Ann (2013). Aufgaben, Methoden und Verstehensprozesse im englischen Literaturunter-
richt der gymnasialen Oberstufe. Eine qualitativ-empirische Studie. Tübingen: Narr.
Nunan, David/Bailey, Kathleen M. (2009). Exploring Second Language Classroom Research. A Com-
prehensive Guide. Boston, MA: Heinle.
Peuschel, Kristina (2012). Sprachliche Tätigkeit und Fremdsprachenlernprojekte. Fremdsprachliches
Handeln und gesellschaftliche Teilhabe in „radiodaf“-Projekten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Hohengehren.

5.2.8 Testen
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Claudia Harsch

1 Begriffsklärungen
Tests werden in der Fremdsprachenforschung zur Erhebung, Messung und Beurteilung
fremdsprachlicher Lernerleistungen eingesetzt. Sie gehören dem rationalistischen Paradigma
an (s. Kapitel 2 und 3.3 in diesem Band; auch Cohen/Manion/Morrison 2011) und werden
oft in Experimentaldesigns, in Prä-Posttestdesigns (s. etwa die Studie von Biebricher 2008,
unten) oder Interventionsstudien verwendet (s. etwa die Studie von Marx 2005, unten). Tests
können in der Fremdsprachenforschung einer Reihe von Zwecken dienen, etwa der punk-
tuellen Kompetenzmessung, der Individualdiagnose, der Auswahl, der längsschnittlichen
Untersuchung von Kompetenzentwicklung, dem Bildungsmonitoring, der Evaluation von
Lehrmethoden und Lernerfolg, der Erforschung von Effekten bestimmter Interventionen oder
der Untersuchung von Einflüssen und Zusammenhängen bestimmter Faktoren in Lehr- und
Lernkontexten. Der Untersuchungszweck bestimmt, ob Tests als Kompetenztests, Lernerfolgs-
kontrollen, Diagnosetests oder Einstufungstests entwickelt und eingesetzt werden. Für eine
detaillierte Ausführung zu Formen und Funktionen von Sprachtests darf auf Grotjahn (2010)
verwiesen werden.
Je nach Einsatzbereich, sei es eine landesweite Untersuchung oder das eigene fremdsprach-
liche Klasszimmer, werden large-scale von small-scale Tests unterschieden. Oft werden in
kleineren Untersuchungen, etwa innerhalb einer Lernergruppe, informelle Tests eingesetzt,
wohingegen in groβangelegten Studien, bei denen es darum geht, generalisierbare Ergebnisse
zu erhalten, formale Tests zum Einsatz kommen. Diese werden auch als standardisierte Tests
bezeichnet, die einer Reihe von Qualitätsanforderungen genügen müssen (s. unten); standar-
disierte Tests werden im Unterschied etwa zu selbst erstellten Vokabel- oder Grammatiktests
auf der Basis eines theoretischen Konstrukts entwickelt. Je nachdem, welche Berechtigungen
und Folgen ein Test nach sich zieht, spricht man von high-stakes vs. low-stakes Tests. An

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206 5. Forschungsverfahren

high-stakes Tests, ebenso wie an standardisierte Tests, werden in der Regel hohe formale,
inhaltliche und ethische Anforderungen gestellt.14
Die verschiedenen Testarten verlangen unterschiedliche Konstrukte und Inhalte: Während
eine Lernerfolgskontrolle auf die Bereiche und Inhalte ausgerichtet ist, die in einem bestimm-
ten Zeitraum in einem bestimmten Kontext gelehrt wurden, ist ein Kompetenztest nicht
curricular orientiert, unabhängig von einem spezifischen Lehr-/ Lernkontext und erfasst
handlungsbezogene Sprachkompetenzen. Diagnosetests wiederum müssen in der Lage sein,
detaillierte Aspekte so zu erfassen, dass Rückschlüsse auf Stärken und Schwächen der Ler-
nenden gezogen werden können; hier ist eine relativ große Anzahl an Testaufgaben (Items)
nötig, um zu verlässlichen Ergebnissen zu kommen. Ein Einstufungstest hingegen hat zum
Ziel, mit relativ geringem Aufwand die Probanden zu bestimmen, die zu einem bestimmten
Programm zugelassen werden; hier sind Tests denkbar, die mit Indikatoren arbeiten (z. B. C-
Tests oder Vokabeltests), die sich als gute Prädiktoren für eine Klassifizierung von Lernenden
erwiesen haben, die aber nicht ausgelegt sind, Handlungskompetenzen zu erfassen. Neben
diesen grundsätzlichen Einteilungen in verschiedene Testarten gibt es weitere Begrifflich-
keiten, die hier kurz erläutert werden sollen.
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Tests können formativ oder summativ eingesetzt werden, wobei formatives Testen den
lernfördernden und entwickelnden Aspekt in den Vordergund rückt, während summative
Tests auf das fokussieren, was Lernende zu einem bestimmten Zeitpunkt beherrschen. Die
Ausrichtung eines Tests auf eine bestimmte Bezugsgruppe oder auf inhaltlich-qualitative
Kriterien bestimmt, ob ein Test als norm- oder kriterienorientiert klassifiziert wird; dies
wiederum wird beeinflusst vom Einsatzzweck: Ein Test zur Lernerfolgskontrolle etwa kann
normorientiert eingesetzt werden, wenn es darum geht, die 10 % Leistungsstärksten einer
Lernergruppe zu identifizieren; ist der Lernerfolg hingegen durch das Erreichen eines be-
stimmten Standards oder Kriteriums bestimmt, so ist der Test kriterienorientiert. All diese
Klassifizierungen schlieβen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr sind sie auf einem Kontinuum
angeordnet und Überschneidungen sind denkbar (z. B. Harsch 2012).

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die hier genannten Begriffe:

Testzwecke (Auswahl) • punktuelle Kompetenzmessung


• Individualdiagnose
• längsschnittliche Untersuchung von Kompetenzentwicklung
• Bildungsmonitoring
• Evaluation von Lehrmethoden
• Erforschung von Interventionseffekten
• Untersuchung von Einflüssen und Zusammenhängen bestimmer
Faktoren in Lehr- und Lernkontexten
Einsatz • large-scale – landesweite Untersuchungen wie etwa DESI oder der
Ländervergleich
• small-scale – etwa das eigene Klassenzimmer

14 Hier darf auf die Qualitätsstandards der internationalen Testgesellschaften verwiesen werden, vgl. etwa
Association of Language Testers in Europe (ALTE 2001), European Association of Language Testing and
Assessment (EALTA 2006), oder International Language Testing Association (ILTA 2007).

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5.2.8 Testen 207

large-scale – formale, standardisierte Tests


– operationalisieren ein theoretisches Konstrukt
– müssen Gütekriterien genügen
– formal erprobt (pilotiert)
– generalisierbare Ergebnisse bei repräsentativer Stichprobe
small-scale – kleine Stichprobe, oft das eigene Klasszimmer
– keine generalisierbaren Ergebnisse
Auswirkungen • high-stakes Tests ziehen Berechtigungen nach sich
• low-stakes Tests haben i. d. R. keine an sie gebundenen Berechti-
gungen
Testarten

• Kompetenztest erfasst handlungsbezogene Sprachkompetenzen, unabhängig von


Curricula und spezifischen Lehr-/Lernkontexten
• Lernerfolgskontrolle ist ausgerichtet auf die Bereiche und Inhalte, die in einem bestimm-
ten Zeitraum in einem bestimmten Kontext gelehrt wurden
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• Diagnosetest erfasst durch groβe Anzahl von Aufgaben detaillierte Aspekte, er-
möglicht Rückschlüsse auf Stärken und Schwächen der Lernenden
• Einstufungstest bestimmt mit geringem Aufwand Zulassung zu einem bestimmten
Programm, oft mittels Indikatoren
formativ / summativ • formative Beurteilung: lernfördernd und entwickelnd
• summative Tests: Fokus auf Können zu einem bestimmten Zeit-
punkt
norm- / kriterien- • normorientiert: Ausrichtung eines Tests auf eine bestimmte Be-
orientiert zugsgruppe
• kriterienorientiert: Ausrichtung auf inhaltlich-qualitative Kriterien
Tabelle 1: Übersicht Begrifflichkeit zum Testen

Eine Besonderheit von Tests sei hier erwähnt: In der Fremdsprachenforschung kommt Tests
eine duale Rolle zu. Sie können als Forschungsinstrument zur Datenerhebung und Leistungs-
messung dienen. Sie können aber auch zum Gegenstand der (interdisziplinären) Forschung
werden, wenn es darum geht, neu entwickelte Instrumente auf ihre Güte hin zu überprüfen
und sie zu validieren (Testanalyse und ‑validierung, z. B. Bachman/Palmer 2010, Lienert/
Raatz 1998), oder Auswirkungen von Tests zu untersuchen (prädiktive, systemische Validität,
z. B. Weir 2005; Washback-Studien, vgl. etwa Green 2007, Wall 2005).

2 Gütekriterien
Da in beiden Einsatzbereichen die Güte der Testinstrumente eine zentrale Rolle spielt, sollen
hier die wichtigsten Qualitätskriterien aufgelistet werden (Bachman 2004, Bachman/Kunnan
2005, Douglas 2010, Grotjahn 2007). Die bekanntesten Kriterien umfassen Reliabilität und
Validität. Reliabilität bezieht sich auf die Messkonsistenz oder Zuverlässigkeit der Messung
und wird in der Regel statistisch geprüft, etwa durch den Index Cronbachs Alpha. Relia-

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208 5. Forschungsverfahren

bilität umfasst auch Aspekte der Bewerterkonsistenz, welche ebenfalls statistisch ermittelt
wird (s. etwa die Studien von Harsch/Martin 2012, 2013). Objektivität bezieht sich auf die
Unabhängigkeit der Beurteilung vom Beurteiler oder dem Beurteilungsinstrument, und ist
eine Voraussetzung für Reliabilität, ebenso wie Reliabilität als Voraussetzung der Validität
betrachtet wird. Validität bezieht sich auf die Frage, ob ein Test das misst, was er zu messen
vorgibt, ob er also die Kompetenzen und Fähigkeiten erfasst, auf die hin er ausgelegt wurde.
Validität wird zunehmend von einer qualitativen Warte aus diskutiert und untersucht (z. B.
Kane 2001, Messick 1989, Weir 2005 oder die Validierungsstudie von Rossa 2012, die unten
vorgestellt wird). Die Validierung eines Tests zieht sich idealiter durch den gesamten Test-
entwicklungsprozess und den eigentlichen Testeinsatz, um in jeder Phase empirische Belege
sammeln zu können (s. unten). Manche Forscher beziehen auch die Auswirkungen von Tests
in die Validitätsforschung mit ein. Die Konsequenzen und Auswirkungen von Tests auf die
Kontexte, in denen sie zum Einsatz kommen, werden im Bereich der so genannten conse-
quential validity (Weir 2005) oder auch systemischen Validität untersucht. Dem Kriterium
der Praktikabilität kommt insofern Bedeutung zu, als dass Testentwicklung ein ressourcen-
intensives Vorhaben ist, so dass begrenzte Ressourcen Auswirkungen auf die Testgüte haben
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können. Praktikabilität spielt aber auch beim Einsatz von Tests eine Rolle, denn die Durch-
führung der Tests muss praktikabel und die Beantwortung der Testaufgaben machbar sein.
Vermehrt werden auch ethische Aspekte als Qualitätskriterium diskutiert (vgl. etwa den ILTA
Code of Ethics 2007 oder McNamara/Roever 2006); Testethik umfasst Aspekte der Testent-
wicklung ebenso wie die des Testeinsatzes und des Nutzens von Testergebnissen. Hier sollten,
wie bei allen anderen Forschungsinstrumenten zur Datengewinnung, die geltenden Standards
der Forschungsethik zur Anwendung kommen (s. Kapitel 4.6).

3 Testentwicklung und -analyse


Im Folgenden werden zentrale Schritte der Testentwicklung und -analyse näher beleuchtet, da
sie eine unmittelbare Auswirkung auf die Güte der Testinstrumente haben. Auch wenn in der
fremdsprachlichen Forschung oft bestehende und bereits validierte Tests als Forschungsinstru-
mente eingesetzt werden, ist dennoch Grundlagenwissen im Bereich der Testentwicklung und
-analyse nötig, um das geeignete Instrument auszuwählen15.
Testentwicklung und Testanalyse gehören einem iterativen, zyklischen Prozess an, der
im Idealfall mit der Bedarfsanalyse beginnt; hier werden Einsatzzweck, Zielgruppe und zu
testende Bereiche (Konstrukte) bestimmt, ehe das eigentliche Testentwicklungsprojekt ge-
plant werden kann. Sind Fragen der Praktikabilität und der Zuständigkeiten in der Testent-
wicklung geklärt, muss der Test in so genannten Spezifikationen zunächst charakterisiert
und beschrieben werden. Insbesondere der Definition des zugrunde liegenden Konstrukts
kommt besondere Bedeutung zu, ist dies doch die Grundlage der weiteren Testentwicklung
und Validierung. Auf Basis der Spezifikationen können das Konstrukt operationalisiert und
Testaufgaben konstruiert werden. Diese müssen in einem weiteren Schritt pilotiert werden;
die statistische und qualitative Analyse (s. unten) der Pilotdaten liefert erste Hinweise zur
Güte und sollte idealiter zur Revision derjenigen Testaufgaben führen, die den Gütekriterien
nicht genügen. In dieser Phase können qualitative Experteneinschätzungen zur Inhalts- und
15 Vgl. auch die Checkliste zur Auswahl bestehender Testinstrumente in Harsch 2012: 161–162.

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5.2.8 Testen 209

Konstruktvalidierung der Testaufgaben eingesetzt werden, ebenso wie Verfahren der In-
trospektion (s. Kapitel 5.2.5), um mentale Prozesse der Testprobanden zu untersuchen und
so zur kognitiven Validierung beizutragen. Revidierte Aufgaben sollten neu pilotiert und
reanalysiert werden. Genügen die Tests den Gütekriterien, können sie zum Einsatz kommen
(s. unten). Die Daten der eigentlichen Testdurchführung müssen wiederum einer statisti-
schen und qualitativen Analyse standhalten, um zu verlässlichen Ergebnisrückmeldungen
zu kommen. Nun können sich Validierungsstudien anschlieβen, etwa um kriterienbezogene
Validität im direkten Vergleich zu bereits validierten Testinstrumenten zu untersuchen, oder
um Impact- und Washback-Effekte zu erforschen. Tests, die regelmäßig zum Einsatz kommen,
sollten fortlaufend auf ihre Güte und ihre Effekte hin evaluiert und ggf. revidiert werden.
Testanalysen umschließen i. d. R. qualitative und quantitative Aspekte (z. B. Bachman 2004,
Bortz/Döring 2002, Lienert/Raatz 1998). Statistische Itemanalysen können mittels der klas-
sischen Testtheorie oder mittels der Item-Response-Theory (IRT) ausgeführt werden, wobei
nur letztere relativierbare Aussagen in Bezug auf die Schwierigkeiten der Testaufgaben zu-
lassen. Klassische Analysen hingegen beziehen sich immer nur auf die Probandengruppe, die
den Test auch tatsächlich abgelegt hat. Regelmäßig werden Testaufgaben klassisch auf ihre
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Reliabilität, ihre Lösungshäufigkeiten und ihre Diskriminanz untersucht, ebenso wie auf die
Funktionalität ihrer Distraktoren und auf etwaigen Bias, die Begünstigung oder Benachtei-
ligung bestimmter Gruppen. IRT-Analysen untersuchen diese Aspekte ebenfalls, doch sie
haben den Vorteil, dass sie Probandenfähigkeiten und Aufgabenschwierigkeiten auf derselben
Skala abbilden; allerdings benötigt man für sie hinreichend große Stichproben (s. auch Ka-
pitel 5. 3. 11).
Testaufgaben, die produktive Fertigkeiten erfassen, verlangen zusätzlich die Konstruktion
von Bewertungskriterien und die Untersuchung der Bewerterreliabilitäten. Bei der Kon-
struktion der Bewertungskriterien und -raster können theoretische Modelle oder empirische
Lernerleistungen als Basis genutzt werden (Fulcher 1996); die Bewertungsraster müssen er-
probt und validiert werden (vgl. die Validierungsstudie von Harsch/Martin 2012). Bei der
Untersuchung der Bewerterreliabilität können IRT-Analysen (Multifacetten-Modelle, Eckes
2011) wertvolle Hilfe leisten, da sie Bewerterstrenge, Aufgabenschwierigkeiten und Pro-
bandenfähigkeiten berücksichtigen (z. B. die Studie von Harsch/Rupp 2011). Dazu können
qualitative Studien zum Bewerterverhalten treten, um die Güte und Validität der Auswertung
zu evaluieren (z. B. Lumley 2005 oder Arras 2007).

4 Einsatz von Tests als Untersuchungsinstrument


Im Folgenden wird anhand von Forschungsarbeiten dargestellt, wozu Tests als Untersuchungs-
instrumente in der Fremdsprachenforschung eingesetzt werden können. Dabei werde ich auf
zwei Bereiche eingehen, den der Interventionsstudien und den Bereich der standardisierten
Leistungsmessungen.
Die Referenzarbeit von Biebricher (2008) und die Arbeit von Rumlich (2012) illustrieren
Interventionsstudien mit (quasi-) experimentalen Prä-/Posttest-Designs. In diesem Unter-
suchungsdesign helfen Tests, Effekte von Interventionen festzustellen. Dabei werden Tests
vor und nach der Intervention eingesetzt, um Leistungsunterschiede zu messen. Hier ist zu
beachten, dass vergleichbare Tests zum Einsatz kommen müssen, um Effekte der Intervention,

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210 5. Forschungsverfahren

und nicht etwa Einflüsse der unterschiedlichen Tests zu messen. Dabei kann es helfen, stan-
dardisierte und bereits kalibrierte Testinstrumente zu wählen, deren Schwierigkeiten bekannt
sind und die ein vergleichbares Konstrukt messen. Bei Biebricher (2008) etwa kommen er-
probte und validierte standardisierte Testaufgaben aus dem Cambridge Proficiency English-
Test PET zur Prä- und Posttestung zum Einsatz, um die Auswirkungen extensiven Lesens auf
die Lese- und Sprachkompetenz von Realschülern zu untersuchen; diese werden während der
Intervention durch nicht-standardisierte Leseproben begleitet. In einem ähnlichen quasi-ex-
perimentellen Design untersucht Rumlich (2012) die Auswirkung bilingualen Unterrichts in
einer Longitudinalstudie. Zu drei Messzeitpunkten setzt er erprobte Tests ein, unter anderem
die C-Tests aus der KESS-Studie und zwei Schreibaufgaben aus VERA6.
Die Referenzarbeit von Marx (2005) illustriert ein Studiendesign, das zwei balancierte
Gruppen vergleicht (nur die Experimentalgruppe erhält eine Intervention). Hierbei liegt der
Fokus lediglich auf dem Vergleich des Lernstands zwischen den beiden Gruppen, und nicht
wie oben auf dem Lernzuwachs, sodass eine Prä-/Posttestung entfallen kann. Da in beiden
Gruppen dieselben informellen Lernerfolgstests parallel eingesetzt werden, sind die Ergeb-
nisse direkt vergleichbar.
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Kommen selbst entwickelte Tests zum Einsatz, ist deren Gütebestimmung wichtig (s. oben).
Es gilt dabei, die oben erwähnten Schritte der Testentwicklung zu beachten, um von einem
theoriegeleiteten Konstrukt zu einem validen und reliablen Messinstrument zu kommen.
Biebricher (2008) dokumentiert eine gelungene C-Test-Entwicklung, ausgelegt auf ihre Stu-
dienzwecke und die Zielgruppe hin.
Bei allen Testeinsätzen muss beachtet werden, dass diese in der Zielgruppe zunächst pi-
lotiert werden sollten, selbst wenn standardisierte und kalibrierte Tests ausgewählt wurden,
wie dies zum Beispiel von Biebricher (2008) oder Rumlich (2012) berichtet wird. Kommen
selbst entwickelte Tests zum Einsatz, ist die Pilotierung umso wichtiger, will man doch sicher-
stellen, dass die Tests das intendierte Konstrukt valide messen und dass die Testversionen der
Prä- und Posttestung vergleichbare Ansprüche stellen. Biebricher (2008) etwa schaltet ihrer
Hauptuntersuchung eine Pilotphase und eine Vorstudie vor, um die Testinstrumente in ihrer
Zielgruppe auf ihre Reliabilität und Eignung zu prüfen.
Bei Prä-/Posttest-Designs sollte bedacht werden, dass nicht derselbe Test zu beiden Mess-
zeitpunkten eingesetzt wird, um nicht Interventionseffekte mit dem Lernzuwachs zu konfun-
dieren, der alleine durch das wiederholte Ablegen desselben Tests erzielt wird. Dazu kann es
hilfreich sein, zwei vergleichbare Testversionen, etwa auf Basis der Pilotierung, zu erstellen,
und diese zu beiden Zeitpunkten in einem gekreuzten Design einzusetzen: In beiden Gruppen
(Experimental- und Kontrollgruppe) kommen zu jedem Messzeitpunkt beide Versionen zum
Einsatz, doch jeder Schüler bearbeitet je eine andere Version zu den beiden Zeitpunkten. Wenn
beide Versionen so genannte Ankeritems enthalten (Testaufgaben, die in beiden Versionen
vorkommen), können die Testergebnisse verlinkt werden. Bei genügend großer Stichprobe
leisten IRT-Analysen (s. oben) wertvolle Hilfe. Um Veränderungen im Leistungszuwachs zu
verschiedenenen Messzeitpunkten und in verschiedenen Gruppen zu untersuchen, werden
i. d. R. statistische Signifikanztests und Varianzanalysen (ANOVA) durchgeführt.
Nicht nur Tests, auch die Zusammensetzung und Auswahl der Untersuchungsgruppen
kann die Forschungsergebnisse beeinflussen. Um SchülerInnen in vergleichbar leistungs-
starke Untersuchunggruppen (in Experimentaldesigns Experimental- und Kontrollgruppen

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5.2.8 Testen 211

genannt) einzuteilen, können Einstufungstests hiflreiche Dienste leisten. Hier nutzt etwa
Biebricher (2008) die erwähnten selbst entwickelten C-Tests zur Gruppeneinteilung. Aber
auch wenn es darum geht, Probanden auszuwählen, die sich in ihrer Leistungsstärke unter-
scheiden, können C-Tests zum Einsatz kommen, wie Rossa (2012) exemplifiziert: Er nutzt
die in der DESI-Studie erprobten C-Test, um leistungsstarke und leistungsschwache Schüle-
rInnen auszuwählen, deren Hörverstehensprozesse er dann duch Lautes Denken untersucht
und vergleicht.
Die Testinstrumente in Interventionsstudien werden in der Regel flankiert durch wei-
tere, auch qualitative Instrumente, um die Testdaten anzureichern und quantitative Befunde
erklären zu können. Marx (2005) etwa nutzt retrospektive Befragungen (s. Kapitel 5.2.4);
Biebricher (2008) setzt neben Fragebögen Beobachtungen (s. Kapitel 5.2.3), Leitfadeninter-
views und impulsgestützte Stellungnahmen sowie nicht-standardisierte Leseproben ein.
Der Forschungsbereich der standardisierten Leistungsuntersuchungen soll hier durch die
large-scale Schulleistungsstudie Deutsch-Englisch Schülerleistungen International (DESI;
DESI-Konsortium 2008) und den KMK-Ländervergleich (Köller/Knigge/Tesch 2010) illus-
triert werden. Bei DESI wurden Sprachkompetenztests in einem Längsschnittdesign summa-
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tiv zum Systemmonitoring für den Sprachunterricht eingesetzt, begleitet durch Fragebögen
und Unterrichtsvideografie: „Als bundesweit repräsentative Untersuchung und durch ihre
breitgefächerte Anlage ermöglicht die Studie differenzierte Aussagen über Lehr-Lernprozesse
und den Erwerb sprachlicher Kompetenzen, die für Unterrichtspraxis, Lehrerbildung und
Bildungspolitik gleichermaßen wichtig sind.“ (Klieme 2008: 1).
Hierzu wurden die Kompetenztests und Fragebogeninstrumente auf Basis von Curriculum-
analysen und theoretischen Konstrukten entwickelt, pilotiert und validiert, ehe sie zum Ein-
satz kamen (Beck/Klieme 2007). Die repräsentative Stichprobe erlaubt Rückschlüsse auf die
Gesamtheit der Schülerinnen und Schüler in der neunten Jahrgangsstufe.
Diese Generalisierbarkeit ist auch für den KMK-Ländervergleich gegeben, der dem Bil-
dungsmonitoring dient. Den Rahmen des Bildungsmonitoring bilden die 2003 bzw. 2004
verabschiedeten Bildungsstandards der KMK, die die „Gleichwertigkeit der schulischen Aus-
bildung und die Schulabschlüsse in den Ländern“ (Köller/Knigge/Tesch 2010: 9) sicherstellen
sollen. Folgerichtig wurden die Bildungsstandards in kompetenzorientierte Testaufgaben
operationalisiert, die am IQB Berlin pilotiert, validiert und normiert wurden (s. hierzu auch
die Ausführungen unten in Abschnitt 6). Der Ländervergleich überprüft nun, inwieweit die
Bildungsstandards in den Ländern auch erreicht werden. Dabei ist zu beachten, dass solche
großangelegten Schulleistungsstudien nicht den Anspruch erheben, Aussagen bezogen auf
individuelle Lernende oder deren individuelle Lernfortschritte zu treffen. Es geht vielmehr
um generalisierbare Rückschlüsse auf die Gesamtheit der Lernenden im Schulsytem.

Testeinsatz und Durchführung

Die folgenden Ausführungen wenden sich wieder den small-scale Studien zu, denn Fremd-
sprachenforscherInnen werden Tests meist in Studien einsetzen, die vergleichsweise klein
angelegt sind; große Schulleistungsstudien werden i. d. R. durch Testinstitute durchgeführt.
Ist das Forschungsdesign geplant, die Konstrukte bestimmt, und die Testinstrumente und
Bewertungsschemata entwickelt, erprobt und auf ihre Güte hin analysiert, können sie einge-

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212 5. Forschungsverfahren

setzt werden. Alternativ können existente Tests zum Einsatz kommen, wenn sie auf ihre
Passung für ein bestimmtes Forschungsvorhaben geprüft sind und Nutzungsrechte einge-
holt werden konnten. Vor jedem Einsatz eines existenten Testinstruments ist zu prüfen,
ob der Einsatzbereich, in dem ein bestimmter Test verwendet werden soll, auch mit den
Zwecken, Bereichen und Zielgruppen vereinbar ist, für die der Test ursprünglich validiert
wurde. Andernfalls riskiert man, nicht-valide Daten zu erheben. Sind Konstrukte, Kontexte,
Zwecke und Ziele vereinbar, muss eine geeignete Stichprobe gefunden und Genehmigungen
zur Datenerhebung eingeholt werden. Gerade bei Untersuchungen an Schulen müssen ge-
setzliche Regelungen (etwa Elterngenehmigungen) beachtet werden, die je nach Bundesland
variieren.
Der Testeinsatz selbst, soll er unter standardisierten Bedingungen ablaufen, erfordert even-
tuell die Schulung von Testleitern und das Erstellen von Testleiterskripten, die helfen den Ab-
lauf am Testtag zu regeln. Werden Hörverstehens- oder Hör-/Sehverstehenstests eingesetzt,
müssen geeignete Abspielgeräte bereitgestellt werden. Die Durchführung mündlicher Tests
sollte durch geschulte Personen durchgeführt werden; die Lernerleistungen sollten ideali-
ter für spätere Analysen aufgezeichnet werden. Ist dies nicht möglich, müssen sie simultan
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während der Erhebung bewertet werden; dies könnte jedoch die Transparenz und Nachvoll-
ziehbarkeit der Bewertung beeinflussen. Die Bewertung produktiver Leistungen erfordert ein
Bewertertraining. Hier haben sich so genannte Benchmark-Texte bewährt, Lernerleistungen
also, die ein bestimmtes Kriterium und Niveau illustrieren. Sie können beispielsweise aus
den Pilotierungen gewonnen werden. Generell muss die Auswertung der Tests geplant und
organisiert werden, ebenso wie die Dateneingabe, Bereinigung und Aufbereitung, bevor die
Daten analysiert werden können.
Es empfiehlt sich, den teilnehmenden Probanden (Lernenden wie Lehrenden) (ggf. vorläu-
fige) Ergebnisse zeitnah rückzumelden. Hierfür sollten die Ergebnisse in einer für die Teil-
nehmer nützlichen Weise aufbereitet werden. Für Rückmeldung und weitere Auswertungen
muss entschieden werden, wie die Daten ausgewertet und aufbereitet werden sollen. Dies
hängt wiederum vom Zweck der Untersuchung und den Forschungsfragen ab, ebenso wie
von der Gröβe der Stichprobe. Bei groβen Stichproben werden Testdaten i. d. R. IRT-skaliert (s.
oben). Die resultierende Kompetenzskala kann ggf. in Kompetenzniveaus eingeteilt werden
über so genannte Standard-Setting Verfahren (s. z.B. Cizek/Bunch 2007 für einen Überblick
über verschiedene Methoden). Oft werden Fremdsprachentests dabei an den Gemeinsamen
europäischen Referenzrahmen (Europarat 2001) angebunden; das Manual for Relating Exa-
minations to the CEFR (Council of Europe 2009) gibt Hilfestellung bei der Durchführung. Ein
Beispiel für solch eine Anbindungsstudie findet sich in Harsch/Pant/Köller (2010).

5 Testinstrumente als Untersuchungsgegenstand


Wie oben angedeutet, kommt Tests in der Fremdsprachenforschung eine duale Bedeutung
zu – sie werden oft vor ihrem eigentlichen Einsatz zum Gegenstand der Forschung. Dieser
Bereich soll hier knapp anhand von Validierungsstudien, begleitender Forschung in der Test-
entwicklung und Impact-/Washback-Studien dargestellt werden.
Den Bereich der Validierungsstudien soll die Arbeit von Rossa (2012) illustrieren. Er un-
tersucht die Konstruktvalidität der Hörverstehenstestaufgaben aus der DESI-Studie. Mittels

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5.2.8 Testen 213

5.2.8 Testentwicklung
zur Erhebung, Messung und Beurteilung
fremdsprachlicher Lernleistungen und Lernstände

Bedarfsanalyse

Planung
Validierung als begleitender Prozess von
Bedarfsanalyse bis Testevaluation

Spezifikation
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Konstruktdefinition

Operationalisierung:
Konstruktion der Items/tasks und
Bewertungskriterien

Pilotierung
Analyse
Revision

Testeinsatz
Testauswertung

Testevaluation

Zwecke Gütekriterien
Kompetenztests, Diagnosetests, Reliabilität, Validität, Objektivität,
Lernerfolgskontrollen, Einstufungstests etc. Praktikabilität, Testethik

Grafik nach: Council of Europe (2011) Manual for Language Test Development and Examining, fig. 15, S. 47
http://www.coe.int/t/dg4/linguistic/ManualLanguageTest-Alte2011_EN.pdf)

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214 5. Forschungsverfahren

introspektiver Verfahren (s. Kapitel 5.2.5) elizitiert er mentale Prozesse von Testprobanden,
wobei er kompetente und weniger kompetente Lerner vergleicht; die Gruppenzuteilung
erfolgt mittels der DESI C-Tests. Die Referenzarbeit von Arras (2007) kann ebenfalls dem
Bereich der Validierungsstudien zugeordnet werden. Sie erforscht Beurteilerstrategien und
Prozesse bei der Bewertung schriftlicher Leistungen im TestDaF. In ihrer Studie werden in-
trospektive Erhebungsverfahren eingesetzt, um Beurteilungsvalidität zu untersuchen.
Die begleitende Forschung in der Testentwicklung wird am Beispiel der Studien von
Harsch/Rupp (2011) und Harsch/Martin (2012, 2013) illustriert, die die Testentwicklung zur
Evaluation der Bildungsstandards am IQB Berlin, insbesondere die Entwicklung der Schreib-
aufgaben und die Validierung der Bewertungsskalen, begleitete.
Der Bereich der Impact-/Washback-Studien gewinnt zunehmende Bedeutung, um die Aus-
wirkungen von Tests in ihren bildungs- und sozialpolitischen Kontexten zu untersuchen. Eine
Übersicht über solche Studien findet sich in Taylor/Weir (2009). Green (2007) und Wall (2005)
beispielsweise untersuchen die Auswirkungen von high-stakes Tests auf Fremdsprachen-
unterricht in verschiedenen Kontexten.
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6 Potenzial des Einsatzes von Testinstrumenten


Testinstrumente sind in zahlreichen Studien erfolgreich eingesetzt worden, um empirische
Daten zur Leistungsmessung zu gewinnen. Selbstredend erfordern Testentwicklung und Test-
einsatz ein ausreichendes Maß an Sachwissen und Expertise, um verantwortungsvoll mit Tests
und ihren Auswirkungen umzugehen, sei es in der Forschung, im Klassenzimmer oder in der
Bildungspolitik. Dieser Bereich der assessment literacy erfährt zunehmend Aufmerksamkeit,
scheint es doch gerade hier großen Bedarf unter allen an der Beurteilung Beteiligten zu geben
(z. B. Fulcher 2012). Zur Förderung der assessment literacy bieten Standardwerke zu Testen
und Beurteilung einen ersten Einstieg (etwa Bachman/Palmer 2010, Dlaska/Krekeler 2009,
Douglas 2010, Fulcher 2010); die Internetseite von Glenn Fulcher (http://languagetesting.info)
bietet aktuelle Informationen zu Beurteilen und Testen. Darüber hinaus bieten Gesellschaften
wie ALTE (www.alte.org), EALTA (www.ealta.eu.org) oder ILTA (www.ilta.org) regelmäßig
Fortbildungsangebote in Form von Sommerschulen und Workshops an.
Standardisierte Testverfahren haben gegenüber anderen Formen der Leistungserhebung
den Vorteil, vergleichbare und verlässliche Daten zu erheben, die bei geeigneter Stichpro-
bengröße und -zusammensetzung Aussagen auf Populationen und Vergleiche über Bezugs-
gruppen hinweg ermöglichen. In Interventionsstudien sind reliable und valide Testdaten
eine der Voraussetzungen, um Effekte von Interventionen zu evaluieren. Tests erlauben auch
die Untersuchung des Einflusses bestimmter Faktoren auf die Kompetenzentwicklung, so-
wie die Erforschung der Struktur von Kompetenzen, etwa über Regressionsanalysen und
Strukturgleichungsmodelle (vgl. Kapitel 5. 3. 11). Diese empirisch basierten Studien sind in
der deutschen Fremdsprachenforschung, wie überhaupt in der deutschen Bildungspolitik,
ein relatives Novum und werden teils kritisch rezipiert. Bei aller berechtigten Kritik (etwa
gegen extensives Testen, das alleine nicht zur Verbesserung des Unterrichts führt) muss jedoch
das Potential guter Tests als Forschungs- und Evaluationsinstrument erkannt werden: Zur
Erhebung reliabler valider empirischer Daten zu bestimmten Messzeitpunkten sind Tests
unerlässlich; zudem ermöglichen standardisierte Tests Vergleichbarkeit und Gerechtigkeit

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5.2.8 Testen 215

dadurch, dass derselbe kalibrierte und validierte Maßstab an alle Testteilnehmer angelegt
wird. Werden Tests um qualitative Instrumente und Zugänge ergänzt, wie dies häufig in der
Interventions- und testbegleitenden Forschung geschieht, so erlauben solche mixed-methods
Forschungsdesigns (s. Kapitel 3.3; Creswell/Plano Clark 2007) eine umfassendere Sicht auf
die Forschungsfragen, als dies mit rein quantitativen oder rein qualitativen Designs möglich
wäre.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
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5.2.8 Testen 217

*Rumlich, Dominik (2012). Die Studie ‚Development of North Rhine-Westphalian CLIL students‘. In:
Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwen-
dung. Tübingen: Narr, 169–178.
*Taylor, Lynda/Weir, Cyril J. (Hg.) (2009). Language Testing Matters: Investigating the wider social
and educational impact of assessment – Proceedings of the ALTE Cambridge Conference, April 2008.
Cambridge: Cambridge ESOL and Cambridge University Press.
*Wall, Dianne (2005). The Impact of High-Stakes Examinations on Classroom Teaching: A Case Study
Using Insights from Testing and Innovation Theory. Cambridge: Cambridge ESOL and Cambridge
University Press.
Weir, Cyril (2005). Language Testing and Validation. Oxford: Palgrave.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Bachman, Lyle F. (2004). Statistical analyses for language assessment. Cambridge: Cambridge
University Press.
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Bachman, Lyle F./Kunnan, Anthony J. (2005). Statistical analyses for language assessment.
Workbook and CD. Cambridge: Cambridge University Press.
Diese beiden Bände geben eine sehr gute Einführung in die statistische Testanalyse. Das workbook
(mit CD) ergänzt die Monographie um praktische Beispiele und Übungen an realen Datensätzen.
Bachman, Lyle F./Palmer, Adrian S. (2010). Language assessment in practice. Oxford: Oxford
University Press.
Diese Monographie ist eines der Standardwerke in der Testliteratur; sie diskutiert alle wesentlichen
Aspekte des Designs, der Entwicklung und des Nutzens von Sprachtestes und Sprachbeurteilung.
Insbesondere die Ausführungen zum Assessment Use Argument sind bemerkenswert, da sie die
Testnutzung und den Einsatz von Beurteilung in den Mittelpunkt rücken.
Dlaska, Andrea/Krekeler, Christoph (2009). Sprachtests. Leistungsbeurteilungen im Fremd-
sprachenunterricht evaluieren und verbessern. Hohengehren: Schneider.
Dieses Buch wendet sich speziell an Lehrkräfte und Studierende, die für das Klassenzimmer Sprach-
tests entwickeln, verbessern und evaluieren möchten. Ausgerichtet auf die Unterrichtssituation wer-
den Qualitätskriterien vorgestellt und anhand von Beispielen erläutert.
Douglas, Dan (2010). Understanding Language Testing. London: Hodder Education.
Dieser Band bietet eine kurze und leicht verständliche Einführung in die Natur, Entwicklung, Ana-
lyse und den Einsatz von Sprachtests.
Harsch, Claudia (2012). Der Einsatz von Sprachtests in der Fremdsprachenforschung: Tests als
Untersuchungsgegenstand und Forschungsinstrument. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdspra-
chenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung. Tübingen: Narr,
150–183.
In diesem forschungsmethodischen Artikel werden Sprachtests in ihrer dualen Funktion als For-
schungsinstrument und Untersuchungsgegenstand der Testforschung und -evaluation ausführlich
dargestellt. Ausgehend von Qualitäts- und Gütekriterien diskutiert die Autorin Aspekte der Test-
analyse, der weiterführenden Forschung zur Validierung, zur Bildung von Kompetenzniveaus und
zur Evaluation der Auswirkungen von Tests. Der Beitrag bietet u. a. eine Checkliste, die die Analyse
und Auswahl angemessener Tests für die eigene Forschung erleichtern soll. Darüber hinaus werden
die grundsätzlichen Schritte des Testeinsatzes in Forschungsprojekten praxisorientiert beschrieben.

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218 5. Forschungsverfahren

Kunnan, Anthony J. (Hg.) (2013). The Companion to Language Assessment. Oxford: Wiley-
Blackwell.
Dieses vier Bände umfassende Werk gibt einen aktuellen Überblick über das Gebiet der Sprachbeur-
teilung und -bewertung. Das Referenzwerk deckt 140 Aspekte der Beurteilung in einer Vielzahl von
Kontexten ab. Es wendet sich an Forschende, Praktiker und Lehrkräfte auf dem Gebiet des fremd-
sprachlichen Lehrens und Beurteilens.

5.3  ufbereitung und Analyse von Dokumenten,


A
Texten und Daten

Karen Schramm

Nicht erst dann, wenn wichtige Etappen des Forschungsprozesses wie die Gewinnung von
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Dokumenten, Texten oder Daten geschafft sind, stellt sich für den erfolgreichen Abschluss
eines fremdsprachendidaktischen Forschungsprojekts die Frage nach einer zielführenden Auf-
bereitung und Analyse der Daten: Sie sollte bereits bei der Design-Erstellung Berücksichti-
gung finden. Das Methodenspektrum ist diesbezüglich ähnlich breit gefächert wie auch in
Bezug auf die Gewinnung von Dokumenten, Texten und Daten (Kapitel 5.2). Es reicht von der
Analyse historischer Quellen und von interpretativen Vorgehensweisen in Bezug auf deren
Inhalte, Bedeutungen, Muster und Beziehungen (z. B. hermeneutische Verfahren, Grounded
Theory, Dokumentarische Methode und Inhaltsanalyse) über Möglichkeiten der Typenbildung
zu interpretativen Vorgehensweisen in Bezug auf linguistische Aspekte (z. B. diskursana-
lytische Auswertungsmethoden, Analysen von Lernersprache und Korpusanalysen) bis zu
statistischen Verfahren (z. B. deskriptive und inferentielle Statistik oder exploratorische und
konfirmatorische Faktorenanalyse).

Aufbereitung

Die zuvor notwendige Aufbereitung ist dabei keinesfalls als mechanisches Vorgehen zu ver-
stehen, sondern bereits als interpretativer Teil des Auswertungsprozesses. Sie sollte deshalb in
diesem Sinne reflektiert und begründet werden. Beispielsweise stellt sich bei der Aufbereitung
mündlicher Daten in Form von Transkripten die Frage nach einer zielführenden Genau-
igkeit: Sollten bei Interviews beispielsweise Phänomene der Mündlichkeit wie dialektale
Färbung, Reparaturen oder sprachliche Fehler originalgetreu transkribiert oder sollte lieber
eine geglättete Version erstellt werden? Erfordert die Transkription einer videografierten
Unterrichtssequenz beispielsweise die genaue Dokumentation der Intonation, wie sie im
Deutschen bei den Interjektionen (wie dem zustimmenden oder ablehnenden „hmhm“) be-
deutungsunterscheidend ist, und welche nonverbalen und aktionalen Handlungen sollen bei
der Transkription Berücksichtigung finden? Diese Beispiele zeigen, dass Transkriptionen kein
simples, medial schriftliches Abbild mündlicher Daten sind, sondern dass diesbezüglich vor
dem Hintergrund des Analyseziels und -verfahrens zahlreiche Entscheidungen begründet zu

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5.3 Aufbereitung und Analyse von Dokumenten, Texten und Daten 219

treffen sind. Genauere Ausführungen zu der Vielzahl an Transkriptionsprogrammen wurden


bereits in Kapitel 5.2.6 behandelt; im Zusammenhang mit diskursanalytischen Auswertungs-
methoden wird in Kapitel 5.3.6 auch die Frage nach Transkriptionssystemen gestellt, die
in unterschiedlichen theoretischen Schulen entwickelt wurden – und damit noch einmal
den interpretativen Charakter einer Datenaufbereitung illustrieren. Dieser trifft, wenn auch
in geringerem Maße, ebenfalls auf die Aufbereitung von quantitativen Daten sowie von
Dokumenten und Texten zu.
Allgemeine Fragen der Datenaufbereitung betreffen u. a. die digitalen Möglichkeiten der
Speicherung und Abfrage in projektspezifischen oder sogar öffentlich zugänglichen Daten-
banken. Hier sind z. B. die Bereitstellung von Transkript-Korpora oder die Digitalisierung von
historischen Quellen von Interesse.
Als Beispiele für spezifische Aspekte der Datenaufbereitung sind für die Fremdsprachendi-
daktik u. a. Übersetzungen und Transliterationen relevant. Bei der Arbeit mit Übersetzungen
ist beispielsweise zu überdenken, ob sich eine aufbereitende Übersetzung nicht eher nach-
teilig auf die Analyse – beispielsweise das Erkennen latenter Sinnstrukturen – auswirkt.
Digitale Transliterationen handschriftlicher Produkte erweisen sich ebenfalls als non-triviales
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Unterfangen, wenn Bearbeitungsspuren, nicht eindeutig erkennbare Buchstaben von Schreib-


anfänger_innen, graphische Elemente o. ä. eine dem Untersuchungsgegenstand angemessene
Aufbereitung erfahren sollen. Forschungen, die nicht-lateinische Alphabetschriften (wie die
kyrillische oder griechische) oder nicht-alphabetische Schriften (wie chinesische Schriftzei-
chen) involvieren, können ebenfalls zielführende Aufbereitungen zu Zwecken der Analyse
oder der Präsentation erfordern.

Analyse

Bei der Analyse bedienen sich historische und theoretische Forschungen (Kapitel 3.1 und
3.2) grundsätzlich interpretativer Verfahren; in Bezug auf empirische Studien (Kapitel 3.3)
lassen sich dagegen bei der Datenanalyse interpretative und statistische Vorgehensweisen
unterscheiden.
Die Analyse historischer Quellen (Kapitel 5.3.1) orientiert sich an aus der Geschichtswis-
senschaft übernommenen Verfahren wie der historischen Diskursanalyse oder der Quellen-
kritik, während für hermeneutische Verfahren (Kapitel 5.3.2) in Orientierung an philosophi-
sche und philologische Traditionen die Auslegung von Texten ausschlaggebend ist.
Diese Analyseverfahren sind verwandt mit interpretativen Verfahren zur Analyse empi-
rischer Daten wie der Grounded Theory und der Dokumentarischen Methode (Kapitel 5.3.3)
oder der Inhaltsanalyse (Kapitel 5.3.4), welche von der Fremdsprachendidaktik vorrangig
aus den Sozial- und Verhaltenswissenschaften übernommen bzw. für eigene Zwecke adap-
tiert wurden. Sie stellen beispielsweise Überlegungen zu Kodiervorgängen oder zu Zu-
sammenfassungen ins Zentrum; dabei ist eine gängige Unterscheidung die zwischen daten-
expandierenden und datenreduzierenden Verfahren. Auch Überlegungen zu Typenbildung
(Kapitel 5.3.5) sind vorrangig von diesen Bezugswissenschaften inspiriert. Allerdings handelt
es sich hierbei im Gegensatz zu den gerade genannten Verfahren um ein Vorgehen, das auf
bereits ausgewertete Daten angewendet wird, um auf einer höheren Ebene ‚Ordnung zu
schaffen‘.

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220 5. Forschungsverfahren

Auch von der wichtigen Bezugsdisziplin der Linguistik sind zahlreiche in der Fremdspra-
chendidaktik eingesetzte Analyseverfahren stark beeinflusst. Der Pragmalinguistik entlehnt
sind diskursanalytische Verfahren wie die Interaktionsanalyse und die Funktionale Prag-
matik (Kapitel 5.3.6), die u. a. zum Gesprächsverhalten von Lehrpersonen (z. B. mündliches
Korrekturverhalten, Fragetypen) oder zu Interaktionen in Partner- und Gruppenarbeiten
Aussagen treffen können. Die Analyse von Lernersprache orientiert sich eng an phonetischen,
grammatikalischen, lexikalischen und text-/diskurslinguistischen Bezugsarbeiten und ist ins-
besondere durch die Tradition der Zweitspracherwerbsforschung geprägt (Kapitel 5.3.7). Und
auch korpuslinguistische Studien mit fremdsprachendidaktischer Intention sind klar mit Blick
auf die wichtige Bezugsdisziplin der Sprachwissenschaft zu verorten (Kapitel 5.3.8).
Neben dieser Vielfalt interpretativer Auswertungsverfahren stehen die statistischen Vor-
gehensweisen, die in der Fremdsprachendidaktik bislang eine vergleichsweise geringe Be-
achtung erfahren haben (Kapitel 5.3.9). Wichtige Impulse hierzu erhält die Fremdsprachen-
didaktik insbesondere aus den Sozial- und Bildungswissenschaften, der Psychologie und der
empirischen Bildungsforschung. Das Kapitel 5. 3. 10 stellt die entsprechenden Grundlagen de-
skriptiver und inferentieller Statistik dar, während das Kapitel 5. 3. 11 komplexere statistische
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Verfahren wie die explorative und konfirmatorische Faktorenanalyse erläutert.


Die in der fremdsprachendidaktischen Forschung eingesetzten Analyseverfahren sind
also äußerst breit gefächert – und die Orientierung über diese Vielfalt stellt nicht nur für
Noviz_innen eine Herausforderung dar. Der konkrete Einsatz eines solchen Verfahrens er-
fordert einen gewissen Grad an methodischer Spezialisierung; hierbei kann die Beratung
durch Mentor_innen und Peers äußerst wertvolle Unterstützung bieten.

5.3.1 Analyse historischer Quellen

Dorottya Ruisz/Elisabeth Kolb/Friederike Klippel

Für die historische Arbeit kommen alle für die Fremdsprachendidaktik relevanten schriftli-
chen, bildlichen oder gegenständlichen Dokumente in Frage wie z. B. Fachzeitschriften, Lehr-
pläne, Schulbücher oder Fotografien. Die Sammlung dieser Quellen geschieht im zyklischen
heuristischen Prozess des Suchens und Findens; dabei werden Forschungsfrage(n) und Quel-
lenbasis sukzessive präzisiert (siehe Kapitel 5.2.1 und 5.2.2). Wenn ein zu analysierendes
Quellenkorpus vorliegt, das neue Erkenntnisse zu den Forschungsfragen verspricht, folgen
gemäß der klassischen historischen Methode die Schritte der Kritik und der Interpretation der
Quellen, also die intensive Arbeit an den Texten selbst. Im Folgenden wird dieses Vorgehen
in vier Abschnitten geschildert: 1. Quellenkritik, die sich mit der Qualität und Zuverlässig-
keit der Quellen auseinandersetzt, 2. Diskurs und Diskursanalyse, die Rekonstruktion von
Prozessen der sozialen Kommunikation, 3. Kontext, in den die Quellen eingebettet sind, 4.
Interpretation, die Auslegung und Erklärung der Quellen.

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5.3.1 Analyse historischer Quellen 221

1 Quellenkritik
Generell unterscheidet man eine äußere und eine innere Quellenkritik (vgl. Rüsen 2008:
123 ff.). Die äußere Quellenkritik betrifft die Umstände der Quellenentstehung und Quellen-
überlieferung; sie prüft die Echtheit und Vollständigkeit der Quellen. In diesem Zusammen-
hang ist wichtig, in welchem Publikationsorgan (bei gedruckten Quellen) ein Text erschienen
ist und wer der Verfasser ist. Zudem wird man sich genau ansehen, um welche Art von Quelle
es sich handelt: offizielle Dokumente, wissenschaftliche oder journalistische Texte, (auto)bio-
graphische Texte oder persönliche Dokumente (z. B. Tagebuch, Korrespondenz), Lehrmateria-
lien und Lehrerhandreichungen, Rezensionen, Schülerarbeiten, etc., da die Zuverlässigkeit je
nach Quellenart sehr variieren kann.
Die innere Quellenkritik bezieht sich auf Kriterien wie Zeitnähe, Ergiebigkeit und Aus-
sagekraft im Hinblick auf die Forschungsfragen. Für das Kriterium der Zeitnähe ist zu berück-
sichtigen, dass bestimmte Quellengattungen, wie etwa Lehrpläne, eine lange Entstehungszeit
besitzen und daher auch durchaus selbst dann Relevanz besitzen können, wenn sie außer-
halb des eigentlichen Untersuchungszeitraums veröffentlicht wurden. Deswegen kann es
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notwendig sein, den eigentlichen Untersuchungszeitraum für diesen Bereich zu erweitern


(so bei Ruisz 2014: Abschnitt 1.3). Das Kriterium der Ergiebigkeit ist relevant, da oft nicht
alle existierenden bildungsgeschichtlichen Quellen des Untersuchungszeitraumes gesichtet
werden können und daher eine sinnvolle Auswahl getroffen werden muss. Für die Referenz-
arbeit von Doff (2002; siehe Kapitel 7) bedeutet dies zum Beispiel, dass in erster Linie nur
die Fachzeitschriften studiert wurden, „die insbesondere für die Entwicklung des höheren
Mädchenschulwesens von Bedeutung gewesen sind“ (Doff 2002: 16). Dort fand die Forscherin
die für ihre Forschung relevanten Quellen. Das Kriterium der Aussagekraft ist mehr oder
weniger erfüllt, je nachdem, in welchem Ausmaß eine einzelne Quelle zu Antworten im
Hinblick auf die Forschungsfragen führt.
Zur inneren Quellenkritik gehört auch, dass die dem Geschriebenen zugrundeliegenden
Ideologien zu beachten sind. Beispielsweise ist bei Zeitschriften zu bedenken, dass sie oft-
mals bestimmte sprachen- oder bildungspolitische Positionen vertraten, wie etwa im späten
19. Jahrhundert im Falle der beiden Zeitschriften Die Neueren Sprachen (pro Neusprachen-
reform) und Zeitschrift für französischen und englischen Unterricht (contra Neusprachenre-
form), so dass man diese Ausrichtungen bei der Quellenkritik im Auge behalten muss.
Des Weiteren wird quellenkritisch vorgegangen, wenn das in den Quellen Geäußerte mit
bereits vorhandenen Erkenntnissen zum Untersuchungszeitraum und mit anderen Infor-
mationsquellen verglichen wird, um die Zuverlässigkeit eines Verfassers zu beurteilen oder
seine Motive zur Darstellung aus einer bestimmten Perspektive aufzudecken. Außerdem
können allein auf der Basis derartiger Vergleiche Angaben dazu gemacht werden, ob die
Behauptungen und Argumentation des jeweiligen Autors für die Zeit und den gegebenen
Kontext repräsentativ oder eher eine Randerscheinung sind. Insofern wird deutlich, dass die
Quellen nicht für sich selbst sprechen, sondern im Kontext der Zeit und auf dem Hintergrund
des bereits vorhandenen historischen Wissens analysiert werden müssen.

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222 5. Forschungsverfahren

2 Diskurs und Diskursanalyse


Bei der Diskursanalyse oder -forschung handelt es sich um eine Forschungsmethode, zu der
eine Reihe von Ansätzen gezählt werden: So gibt es unter anderem linguistische, geschichts-
wissenschaftliche und wissenssoziologische Ausrichtungen der Diskursforschung; häufig wird
auf Foucault und seine Aussagen zu historischen Wissensordnungen und Machtstrukturen
verwiesen (vgl. zu den Ansätzen der Diskursanalyse Keller 2011: 13–64; zu praktischen
Anwendungen Keller et al. 2010). In der Diskursanalyse werden die sozialen Kommunika-
tionsprozesse der Teilnehmer nachvollzogen. Da es in der historischen Forschung um die
Rekonstruktion vergangener kommunikativer Wirklichkeit geht, ist die Diskursanalyse eine
passende Ergänzung zur klassischen historischen Methode (Haslinger 2006, Landwehr 2008)
und wurde deswegen in einer Reihe von Arbeiten zur Geschichte der Fremdsprachendidaktik
angewendet (z. B. in Ostermeier 2012; Kolb 2013; Ruisz 2014).
Grundlage der Diskursanalyse ist der Diskursbegriff. Ein Diskurs wird durch wiederholte,
gesellschaftlich legitimierte oder institutionalisierte Aussagen zu einem Themenkomplex ge-
bildet. In der praktischen Forschungsarbeit lässt sich am besten mit dem teilweise inflationär
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gebrauchten Diskursbegriff arbeiten, wenn explizit auf dessen Bedeutungskomponenten hin-


gewiesen wird (Keller 2011: 34, 68). Mit Diskurs kann zunächst die Gesamtheit der Aussagen
gemeint sein, die den Untersuchungsgegenstand betreffen. Dieser gesellschaftliche Gesamt-
diskurs spielt sich zum Beispiel in Politik, Alltag und den Medien – auf den Diskursebenen –
ab. Auf diesen Ebenen werden jeweils von einzelnen Gruppen der Gesellschaft Spezialdis-
kurse geführt. Die Spezialdiskurse wiederum bestehen aus einzelnen Texten, Textstellen und
Wörtern, den so genannten Diskursfragmenten.16 Diskursfragmente mit dem gleichen Thema
werden jeweils einem Diskursstrang zugeordnet (Jäger 2009: 117; zum Themenbegriff s.
Höhne 2010: 428–429).
Die Diskursteilnehmer sind individuelle oder kollektive Akteure, die sowohl produktiv als
auch rezeptiv am Kontext mitwirken (van Dijk 1988: 2). Dabei können sie unterschiedliche
Meinungen vertreten, die durch die Bevorzugung bestimmter Unterthemen und unterschied-
licher Argumentationen erkennbar werden (Haslinger 2006: 40-41). Ausführlich wird in der
Arbeit von Kolb dargelegt, welche Akteure (nämlich individuelle Fremdsprachendidaktiker
und meist anonyme Vertreter der Bildungsverwaltung) und welche Themen (die kulturellen
Sachthemen des Englischunterrichts) in der Diskursanalyse untersucht werden (Kolb 2013:
37–45). Damit sind die Diskursebenen klar benannt. Ausgehend von dem Thema des Gesamt-
diskurses werden in dem Quellenmaterial verschiedene Diskursstränge ausfindig gemacht,
voneinander unterschieden und nach ihren Aussagen analysiert. Besonders aufschlussreich
zur Aufzeichnung geschichtlicher Entwicklungen sind sowohl Kontinuitäten als auch Brü-
che in der Argumentation. Diese lassen sich besonders gut auswerten, wenn ein längerer
Zeitraum untersucht wird. Bei Kolb (2013) wird dieselbe Textsorte (Lehrpläne) von 1975 bis
2011 untersucht: So zeigen beispielsweise Formulierungen, die mehr oder weniger identisch
zu verschiedenen Zeiten auftauchen, die traditionelle Fortschreibung dieser Dokumente an;
die Veränderung der Reihenfolge der Lehrplaninhalte deutet auf einen Bruch hin (vgl. Kolb

16 Dabei wird unter ‚Wort‘ die sprachliche Konvention verstanden, „die zur Bezeichnung eines Sachverhalts
oder Gegenstands benutzt wird“ (Jordan 2009: 123–124). Es geht also um die Bezeichnung eines Konzepts
oder einer Idee hinter dem ‚Wort‘.

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5.3.1 Analyse historischer Quellen 223

2013: 191–193). Auch Doff arbeitet Brüche in der Entwicklung des Mädchenschulwesens zum
Beispiel in Bezug auf die Anforderungen an die Lehrkräfte heraus (vgl. Doff 2002: Kapitel 4).

3 Kontext
Für die Diskursanalyse ist nicht nur die Untersuchung von Texten, Textstellen und Wörtern
relevant, sondern darüber hinaus der weitere Zusammenhang, in welchem diese entstanden
sind. Wenn beispielsweise Doffs Dissertation mit der Erörterung der ideengeschichtlichen
Grundlagen für Weiblichkeit und Bildung im 19. Jahrhundert beginnt (Doff 2002: 25–58)
oder Lehbergers Studie zum Englischunterricht im Nationalsozialismus zunächst die Ein-
bindung der gesamten Lehrerschaft in das Herrschaftssystem behandelt (Lehberger 1986:
13–22), dann geschieht dies in der Absicht, den sozialen, geistigen oder politischen Kontext
zu charakterisieren. Ohne diesen wären die darauf folgenden Ausführungen zur eigentlichen
Frage nach dem Fremdsprachenunterricht unvollständig und würden möglichweise falsch
verstanden werden.
Die Relevanz der Verknüpfung zwischen einem gerade zu untersuchenden Text und wei-
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teren Quellentexten zur Rekonstruktion des Kontexts sei an einem konkreten Beispiel ver-
deutlicht. Aus der Tatsache, dass in einer neuphilologischen Zeitschrift der Nachkriegszeit
für einen Fremdsprachenunterricht plädiert wird, der den Vorstellungen der amerikanischen
Besatzer zur Demokratisierung des deutschen Schulwesens entspricht, könnte man auf eine
Neuausrichtung des Faches nach 1945 schließen. Erst das Heranziehen weiterer Quellen
verrät zum Teil Gegenteiliges (so in Ruisz 2014: Abschnitt 4.1.2). Zum einen müssen also
biographischer Hintergrund und andere Publikationen der jeweiligen Autoren betrachtet
werden, so dass deren Motive und Absichten sowie ihre Stellung in ihrer Berufsgruppe
oder innerhalb der Gesellschaft erschlossen werden können. Zum anderen ist die einge-
hende Kenntnis weiterer zeitgenössischer Texte zu ähnlichen Themen die Voraussetzung
dafür, dass die Bedeutung und Reichweite eines einzelnen Schriftstücks ausgemacht werden
kann.
Obwohl die Intertextualität eine tragende Rolle spielt, muss einschränkend angefügt wer-
den, dass eine Distanzierung von der Gegenwart und ein Eintauchen in den historischen Kon-
text nicht perfekt gelingen kann, da sowohl die Forschungsfragen als auch das individuelle
Vorwissen der Forscher und der Forschungsstand fest in der aktuellen Gegenwart verankert
sind. Daher verweist Kolb in ihrer Dissertation auf die Subjektivität qualitativer Textaus-
legung, die durch das Offenlegen der Vorannahmen und der Methoden der Textinterpretation
kontrolliert werden sollte (Kolb 2013: 29–30). Es ist für die historische Forschung wichtig,
die relative Fremdheit von Konzepten und Ideen der Vergangenheit zu beachten (Rittelmeyer
2006: 3). Nach Skinners Arbeiten im Rahmen der Cambridge School wird diese Fremdheit als
„essential variety“ bezeichnet (Skinner 1969: 52). Historisches ist eben fremd, und es ist nicht
legitim, eine „essential sameness“ anzunehmen (ebd.: 52). Für die Forschungspraxis bedeutet
dies, dass der historisch-soziale Kontext, in dem ein Diskursfragment entstanden ist, gründ-
lich zu erforschen ist; somit ist ein Quellentext stets im jeweiligen historischen Zusammen-
hang intertextuell zu studieren (Overhoff 2004: 325, 328). Nach Skinners Terminologie wird
dieser historische Kontext als „ideological context“ oder einfach als „ideology“ bezeichnet
(Skinner 1966: 287, 313, 317; Overhoff 2004: 326).

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224 5. Forschungsverfahren

Ein weiterer Ansatz, in dem ebenfalls das Augenmerk auf die Eigenheiten der Entste-
hungszeit der analysierten Diskursfragmente gelenkt wird und in dem der Fokus auf dem
Ideologiebegriff liegt, ist die Critical Discourse Analysis, kurz CDA (vgl. dazu van Leeuwen
2009, O’Halloran 2010; zur Adaption der CDA für eine fremdsprachendidaktische Arbeit
siehe Ruisz 2014). Dieser Ansatz kommt aus der Linguistik, wird jedoch inzwischen in ver-
schiedenen Disziplinen verwendet (für die Geschichtswissenschaft etwa Wodak et al. 1990;
für die Erziehungswissenschaft Rogers 2011). Die CDA beruht auf der Grundannahme, dass
sich die Machtstrukturen der Gesellschaft in der Sprache abbilden (O’Halloran 2010: 121) und
somit auch in den Äußerungen Einzelner kein Spielraum für Ideologiefreiheit besteht (Kress
1985: 30; Fowler 1991: 92). Eine gründliche Quellenanalyse lässt somit auf die Ansichten und
Absichten des Verfassers schließen.
In diesem Zusammenhang gehört die Herausarbeitung der Bedeutung der von den Text-
verfassern verwendeten Begriffe zur Untersuchung des Kontexts (Klafki 1971: 141–142,
Rittelmeyer 2006: 46). Die in den Quellentexten verwendeten Begriffe sollten aus ihrer Zeit
heraus verstanden werden; die heutige Begriffsbedeutung darf nicht auf sie projiziert werden
(dazu Klippel 1994: 28–30). Dies fängt schon bei Bezeichnungen an, die vermeintlich völlig
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eindeutig sind, wie etwa ‚Lesen‘. Doch sind in den Sprachlehren des 18. Jahrhunderts gerade
die Abschnitte zur Aussprache mit „Vom Lesen“ überschrieben (etwa bei König 1755). Auch
haben etwa Schulformen im Verlauf der letzten Jahrhunderte immer wieder Bezeichnungen
getragen, etwa ‚Realschule‘ oder ‚Handelsschule‘, hinter denen sich andere Schulkonzepte
verbergen, als wir sie heute für diese Bezeichnungen kennen. Zum Teil ergeben sich sogar ab-
hängig von der jeweiligen Situation und dem jeweiligen Diskursteilnehmer unterschiedliche
Bedeutungen. Deswegen muss zum Beispiel geprüft werden, ob die amerikanischen Besatzer
unter ‚politischer Bildung‘ im Fremdsprachenunterricht das Gleiche verstanden wie die ein-
heimischen Bildungspolitiker (Ruisz 2015).
Das kontextuelle Vorgehen führt des Weiteren auch dazu, dass erkannt werden kann, was
in einer Quelle nicht erwähnt wird. Die Nicht-Erwähnung mag zum einen darin begründet
sein, dass bestimmte Konzepte oder Verfahren in einer Zeit als so selbstverständlich gelten,
dass sie nicht erwähnt werden müssen. Zum anderen lässt sich aus dem Nicht-Gesagten
auch schlussfolgern, welche Aussagen öffentlich nicht akzeptabel waren oder mit Absicht
gemieden wurden. In dieser Weise kann die Erschließung des Kontexts zu den Werten und
Grundannahmen einer Zeit sowie zu den Motiven und Absichten der am Diskurs teil-
nehmenden Akteure führen, die stets von bestimmten Interessen geleitet sind, wie Klafki
schreibt:
Man trifft auf pädagogische Sachverhalte nicht wie auf ein neutrales Material, pädagogische Sach-
verhalte sind vielmehr immer von der [Kursivsatz im Original] Art, daß Menschen sie aus irgend-
einem Interesse, mit irgendeiner Zielsetzung hervorbringen oder hervorgebracht haben oder daß
Menschen zu ihnen aus bestimmten Interessen heraus, mit bestimmten Zielsetzungen und Vorstel-
lungen Stellung nehmen. (Klafki 1971: 127)

4 Interpretation – zwischen Hermeneutik und Analytik


Die vorliegenden Quellen werden also im Kontext gedeutet oder interpretiert. Neben der Be-
achtung des Kontexts sind textimmanente Verfahren der Interpretation zentral. Historisches

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5.3.1 Analyse historischer Quellen 225

Wissen entsteht nicht nur, indem Zusammenhänge zwischen Texten hergestellt, sondern auch
indem die einzelnen Texte im Hinblick auf die Forschungsfragen gedeutet werden. Dabei
sind subjektive Deutungsmuster zu vermeiden; vielmehr ist darauf zu achten, dass die Inter-
pretation der Quellen intersubjektiv nachvollziehbar ist.
Als übergeordnete Forschungsstrategie bieten sich hermeneutische Verfahren an. Bei der
Hermeneutik, der Auslegung von Texten, geht es um das Verstehen der Quellen (Lengwiler
2011: 58; s. auch Kapitel 5.3.2). Bezogen auf die Interpretation bedeutet dies, dass Sinn-
zusammenhänge und Argumentationslinien im erhobenen Quellenmaterial herauszuarbeiten
sind (Rüsen 2008: 119, 131). Wenn es sich um eine große Anzahl von Texten handelt, sind
diese zunächst zusammenzufassen und zu verdichten, damit diese der Forschung leichter
zugänglich werden. Zum Beispiel werden zum Kernthema der Arbeit von Doff (2002) die
Funde leicht lesbar dargestellt (v. a. in Kapitel 5), so dass sich weitere Forschungsarbeiten
anschließen lassen.
Im Zuge eines hermeneutischen Verstehensprozesses sind die Quellentexte also vor allem
aus sich selbst heraus zu verstehen. In dieser Weise beschreibt der Historiker Koselleck das
‚Vetorecht der Quellen‘:
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Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir [Historiker] sagen sollen. Wohl aber
hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Veto-
recht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes
schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. (Koselleck 1979: 206)

Trotz dieses ‚Vetorechts‘ verleitet reines ‚Verstehen‘ dazu, sich intuitiv in die Quellen hinein-
zuversetzen (Lengwiler 2011: 59–62). Deswegen muss die Interpretation geordnet ablaufen,
wobei die Unterscheidung zwischen Makro- und Mikroanalyse hilfreich ist (Landwehr 2008:
113–124). Beim makroanalytischen Vorgehen werden der Inhalt und die Struktur des vor-
liegenden Textes erarbeitet. Mikroanalytisch wird hingegen vorgegangen, wenn Argumenta-
tion, Rhetorik und Stil untersucht werden. Wie in vielen diskursanalytischen Arbeiten werden
auch in Kolbs Dissertation (Kolb 2013) beide Analyseverfahren kombiniert: Auch wenn der
Schwerpunkt auf der Herausarbeitung der inhaltlichen Aussagen zu kulturellen Sachinhalten
des Englischunterrichts in Lehrplänen und fremdsprachendidaktischen Veröffentlichungen
liegt, wird an ergiebigen Stellen auch die rhetorische und stilistische Gestaltung im Detail
untersucht. So dienen beispielsweise häufig verwendete Metaphern dazu, die diskursiven
Positionen in der Anspielung auf positive oder negative Konnotationen in andere Diskurs-
stränge einzubinden und umso eindrücklicher vorzubringen (Kolb 2013: 283–286). Dabei
sind im Prozess des ‚hermeneutischen Zirkels‘ (Gadamer 61990 [1960]: 270–312) auch immer
wieder die Forschungsfragen zu überprüfen und eventuell anzupassen.
In der historischen Forschung zur Fremdsprachendidaktik gilt die Hermeneutik als überge-
ordnete Forschungsstrategie (so in Doff 2002; Doff 2008; Kolb 2013; Ostermeier 2012; Ruisz
2014). Der Grund hierfür ist offensichtlich: Historische Forschung hat zumeist die Quellen im
Blick, die zunächst ‚verstanden‘ werden müssen. Im Allgemeinen ist derzeit in der Geschichts-
wissenschaft der Trend zu beobachten, dass man sich hermeneutischen Verfahren zuwendet
(vgl. Lengwiler 2011: 85, 87). In diesem Zusammenhang spielt der so genannte linguistic
turn eine Rolle, durch den ein gesteigertes Interesse an Texten entstanden ist, in welchem

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226 5. Forschungsverfahren

das Subjekt sprachlich zum Ausdruck bringt, wie es seine Umgebung wahrnimmt (Lengwiler
2011: 87; Jordan 2009: 189).
Dass dieser hermeneutische Ansatz jedoch die Forschungsstrategie der ‚Analytik‘ nicht
ausschließt, ist eindeutig. Bei der Analyse von Diskursen konzentriert man sich auf die
sprachlichen Äußerungen historischer Personen und Institutionen, die in einem jeweiligen
Kontext eingebunden sind (Lengwiler 2011: 87–90; Jordan 2013: 192-193) – das ist der Punkt,
an dem es dann neben dem ‚Verstehen‘ doch ergänzend auf die ‚Erklärungen‘ der Wissen-
schaft ankommt; nur so kann die Qualität der historischen Untersuchung gesichert werden.
Die Analytik orientiert sich nicht nur an den Quellentexten, also der Empirie, sondern auch
am theoretischen Erkenntnisinteresse (Rüsen 2008: 145; Lengwiler 2011: 94–95, 272). Es
sind die Kausalitäten zwischen den geschichtlichen Ereignissen und Handlungen der Dis-
kursteilnehmer zu erklären. Forschungsarbeiten, die sich rein auf das ‚Verstehen‘ der Quellen
beschränken, lassen neue Erklärungen für die gelieferten Quellendeutungen vermissen. Wenn
zum Beispiel erkannt wird, dass die amtlichen Verlautbarungen der US-amerikanischen Be-
satzungsmacht für den Englischunterricht im Bayern der Nachkriegszeit nur wenig ergiebig
sind, ist dies ein Befund, der weiterer Erklärungen bedarf; der Leser möchte erfahren, warum
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es sich so verhielt (s. Ruisz 2014: Abschnitt 3.2.3).


Für die Analyse von Quellen bieten sich also sowohl hermeneutische als auch ergänzende
analytische Verfahren an. Übergeordnet bleibt dabei stets die klassische historische Methode
mit den Schritten der Heuristik, Kritik und Interpretation. In diesem methodischen Gerüst
ist die begründete Auswahl unterschiedlicher Analyse- und Interpretationstechniken an-
gebracht, um zu einem möglichst umfassenden Verständnis der Quellen und ihres Kontextes
zu gelangen. Diese Mühe lohnt sich, zumal in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts
noch etliche Forschungslücken zu schließen sind.

»» Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
*Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für
Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt-Longman. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
*Doff, Sabine (2008). Englischdidaktik in der BRD 1949–1989. Konzeptuelle Genese einer Wissenschaft
im Dialog von Theorie und Praxis. München: Langenscheidt.
Fowler, Roger (1991). Critical Linguistics. In: Malmkjær, Kirsten (Hg.). The Linguistics Encyclopedia.
London: Routledge, 89–93.
Gadamer, Hans Georg (61990 [1960]). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her-
meneutik. Tübingen: Mohr.
Haslinger, Peter (2006) Diskurs Sprache, Zeit, Identität. Plädoyer für eine erweiterte Diskursgeschichte.
In: Eder, Franz X. (hg.) Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaften, 27–50.
Höhne, Thomas (2010). Die thematische Diskursanalyse – dargestellt am Beispiel von Schulbüchern.
In: Keller et al., 423–453.
Jäger, Siegfried (2009). Kritische Diskursanalyse. 5. Auflage. Münster: Unrast.

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5.3.1 Quellenanalyse
227

Historische Methode
Heuristik Kritik Interpretation

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historische Fremdsprachenforschung

historische Frage und äußere Kritik: Auslegung und Erklärung


Gegenwartsbezug Echtheit, der Quellen
Erstellung eines Vollständigkeit,
Autorschaft Aufdecken von
Textkorpus Zusammenhängen
Anwendung

Auswahl für die innere Kritik:


Feinanalyse
Zeitnähe, Aussagekraft,
Zuverlässigkeit
Verfahren
5.3.1 Analyse historischer Quellen

hermeneutische und analytische Verfahren


Analyse des historischen Kontexts
Diskursanalyse: Rekonstruktion von Prozessen der sozialen Kommunikation im Diskurs
Makro- und Mikroanalysen
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228 5. Forschungsverfahren

Jordan, Stefan (2009). Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. 2. Auflage 2013. Paderborn:
Schöningh.
Keller, Reiner (2011). Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. 4. Auflage.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.) (2010). Handbuch Sozial-
wissenschaftliche Diskursanalyse. Forschungspraxis. Bd. 2. 4. Auflage. Opladen: VS Verlag für Sozi-
alwissenschaften.
Klafki, Wolfgang (1971). Hermeneutische Verfahren in der Erziehungswissenschaft. In: Ders. (Hg.).
Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft. Bd. 3. Frankfurt/M.: S. Fischer, 126–153.
*Klippel, Friederike (1994). Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher
und Unterrichtsmethoden. Münster: Nodus.
*Kolb, Elisabeth (2013). Kultur im Englischunterricht: Deutschland, Frankreich und Schweden im Ver-
gleich (1975–2011). Heidelberg: Carl Winter.
König, Johann (1755). Der getreue englische Wegweiser. 6. Auflage. Leipzig: Jacobi.
Koselleck, Reinhart (1979). Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/ M.:
Suhrkamp.
Kress, Gunther R. (1985). Ideological structures in discourse. In: van Dijk, Teun Adrianus (Hg.). Hand-
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book of discourse analysis. Discourse analysis in society. Bd. 4. London: Academic Press, 27–42.
Landwehr, Achim (2008). Historische Diskursanalyse. Frankfurt am Main: Campus-Verlag.
*Lehberger, Reiner (1986). Englischunterricht im Nationalsozialismus. Tübingen: Stauffenburg.
Lengwiler, Martin (2011). Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden. Zürich:
Orell Füssli.
O’Halloran, Kieran (2010). Critical discourse analysis. In: Malmkjær, Kirsten (Hg.). The Routledge Lin-
guistics Encyclopedia. 3. Auflage. London: Routledge, 121–126.
*Ostermeier, Christiane (2012). Die Sprachenfolge an den höheren Schulen in Preußen (1859–1931). Ein
historischer Diskurs. Stuttgart: ibidem-Verlag.
Overhoff, Jürgen (2004). Quentin Skinners neue Ideengeschichte und ihre Bedeutung für die historische
Bildungsforschung. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 10, 321–336.
Rittelmeyer, Christian (2006). Einführung in die pädagogische Hermeneutik. Darmstadt: Wissenschaft-
liche Buchgesellschaft.
Rogers, Rebecca (Hg.) (2011). An introduction to critical discourse analysis in education. New York:
Routledge.
*Ruisz, Dorottya (2014). Umerziehung durch Englischunterricht? US-amerikanische Reeducation-Politik,
neuphilologische Orientierungsdebatte und bildungspolitische Umsetzung im nachkriegszeitlichen
Bayern (1945–1955). Münster: Waxmann.
*Ruisz, Dorottya (2015). Social education as reeducation: The implementation of US-American policies
in the English language classrooms of Bavaria (1945–1951). In: Paul, Heike/Gerund, Katharina (Hg.).
Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945: Interdisziplinäre Perspektiven auf „America’s
Germany“. Bielefeld: transcript, 161–184.
Rüsen, Jörn (2008). Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der
Zeit zurechtzufinden. 2. Auflage. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag.
Skinner, Quentin (1966). The ideological context of Hobbes’s political thought. In: The Historical Journal
9, 286–317.
Skinner, Quentin (1969). Meaning and understanding in the history of ideas. In: History and Theory 8
(1), 3–53.
van Dijk, Teun Adrianus (1988). News analysis. Case studies of international and national news in the
press. Hillsdale, NJ: Erlbaum.

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 229

van Leeuwen, Theo (2009). Critical discourse analysis. In: Mey, Jacob (Hg.). Concise encyclopedia of
pragmatics. 2. Auflage. Amsterdam: Elsevier, 166–169.
Wodak, Ruth/Nowak, Peter/Pelikan, Johanna/Gruber, Helmut/de Cillia, Rudolf/Mitten, Richard (1990).
„Wir sind alle unschuldige Täter!“ Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus. Frank-
furt/M.: Suhrkamp.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Lengwiler, Martin (2011). Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden.


Zürich: Orell Füssli.
Dieser Band bietet einen Einstieg in die Methoden der Geschichtswissenschaft. Die zentralen theo-
retischen Forschungsansätze werden leserfreundlich vorgestellt und die Arbeitstechniken des His-
torikers praxisnah beschrieben.
Landwehr, Achim (2009). Historische Diskursanalyse. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Campus-
Verlag.
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In dieser Monographie argumentiert der Autor, dass sich die Diskursanalyse als Methodik für die
historische Forschung eignet, und stellt dar, wie diese forschungsmethodische Vorgehensweise für
historische Arbeiten angewendet werden kann.
Rüsen, Jörn (2008). Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich
in der Zeit zurechtzufinden. 2. Auflage. Schwalbach/Ts: Wochenschau Verlag.
In dem Kapitel „Historische Methode“ (S. 116–149) wird der Leser in die Grundlagen historischen
Arbeitens eingeführt. Die Regulative der Forschung ‚Heuristik‘, ‚Kritik‘ und ‚Interpretation‘ sowie
die Forschungsstrategien der ‚Hermeneutik‘ und ‚Analytik‘ werden klar beschrieben.
Overhoff, Jürgen (2004). Quentin Skinners neue Ideengeschichte und ihre Bedeutung für die
historische Bildungsforschung. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 10, 321–336.
In diesem Aufsatz erläutert der Verfasser Quentin Skinners außerordentlichen Beitrag zur neuen
Ideengeschichte. Anhand von Beispielen wird die Bedeutung des historischen und diskursiven Kon-
texts aufgezeigt und erklärt, wie ideengeschichtlich geforscht werden kann.

5.3.2 Hermeneutische Verfahren

Laurenz Volkmann

1 Hermeneutik als Kunst des Verstehens


Die Hermeneutik ist ursprünglich als Kunst der Auslegung von religiösen Texten und Überset-
zungstexten sowie philosophischen und literarischen Werken zu verstehen. Als Entschlüssel-
ungskunst bezieht sie sich auf Texte, deren Bedeutung nicht unmittelbar evident erscheint und
deren Tiefenschichten es aufzudecken gilt. Seit der Antike erweiterten sich die Herangehens-
weisen hermeneutischer Ansätze: zunächst über die Kirchenväter (Augustin), die Philosophen
der Aufklärung (Friedrich Schlegel, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schleiermacher) bis zu
den Haupttheoretikern der Hermeneutik Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger und vor allem

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230 5. Forschungsverfahren

Hans-Georg Gadamer – im Verbund mit phänomenologischen Richtungen (Edmund Husserl,


Clemens Brentano). Die Lehre von der Deutung und Interpretation tradierter religiöser, juris-
tischer, philosophischer und literarischer Schriften versteht sich heute als die Anbahnung von
Verstehens- und Auslegungsprozessen, welche vor allem auf die Sinnerkundung menschlicher
Existenz und Handlungen allgemein ausgerichtet sind (zur Einführung vgl. Ahrens 2004,
Hunfeld 1990, Rittelmeyer 2010). Somit bezieht sich die Hermeneutik nicht mehr allein und
im Sinne der im 19. Jahrhundert etablierten philologischen Interpretations- und Analysever-
fahren auf kanonisierte, bedeutungsvolle Kunstformen und gesellschaftliche Überlieferungen.
Hermeneutische Verfahren charakterisiert vor allem das Bemühen, manifest-latente Sinn-
gehalte aufzuspüren. Entsprechend gleichen diese Herangehensweisen einer detektivischen
Spurensuche, dem Entschlüsseln eines Rätsels (Klein 2010: 263).
Prägend für die geisteswissenschaftliche Forschung im 20. Jahrhundert waren die Arbeiten
des Heidelberger Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900–2002), der mit seinem Hauptwerk
Wahrheit und Methode (1960/1965) ein eigenes Forschungs- und Methodenideal entwickelte.
Gadamer propagierte das geisteswissenschaftliche Paradigma der „Interpretations-Kunst“
und erklärte die Hermeneutik als „ein Können, das besondere Feinheit des Geistes verlangt“
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(Gadamer 1965: 290). In der Tradition Gadamers gelangt das hermeneutische Paradigma
zum Tragen, wenn Forscher/innen Lebenswelten und Kulturpraxen in einem dialektischen
Wechselspiel zwischen Beobachter/Interpreten und „Text“ (Medien, Personen, Praxen) er-
kunden, wenn es sich dabei um Prozesse der Ko-konstruktion von Bedeutung handelt, in
denen die subjektive Perspektive hinterfragt wird.
Diese breit angelegte Definition verdeutlicht, dass das hermeneutische Interaktionspara-
digma auch in der Erforschung des Fremdsprachenunterrichts, des Fremdsprachenlernens
und bei Fragen interkultureller Sinnbildung grundsätzliche Bedeutung aufweist: Denn die
jeweils bei Prozessen der Bedeutungsaushandlung Beteiligten – wie Betrachter, Lernende,
Lehrende, „Texte“ (wie Medien, Literatur, kulturelle Artefakte usw.) – sind stets als historisch
situierte Elemente eines eingehender zu erkundenden, jeweils nur partiell zu beschreibenden
Prozesses der Verstehensentfaltung zu verstehen. Ein derartiger Prozess der Bedeutungsauf-
klärung kann eben keinesfalls eine allgemeine, transkulturelle, sich intersubjektiv stets gleich
formierende Gültigkeit beanspruchen.
Als Wissenschaftstradition ging die Hermeneutik unmittelbar ein in ein fremdsprachendi-
daktisches Bildungsverständnis, welches – philologisch orientiert – auf die Vermittlung kano-
nischer Werke setzte und eine ästhetisch-literarische Bildung akzentuierte. Vor allem die Lite-
ratur- und Kulturdidaktik greift hermeneutische Ansätze der Rezeptionsästhetik auf (Bredella
2010: 18–30), indem sie sich von einem rein textimmanent ausgerichteten oder gar autoren-
zentrierten Verständnis von Textinterpretation und -analyse gelöst hat und Texterschließung
primär als dialogische, offene Interaktion zwischen Rezipient/in und „Text“ versteht (im Sinne
eines erweiterten, semiotisch zu bezeichnenden Textbegriffs bezieht sich die hermeneutische
Herangehensweise zunehmend auch auf kulturelle Texte, Kulturen oder kulturell Andere). Es
entwickelte sich zugleich der für deutschsprachige Länder bedeutsame Forschungsstrang der
Auseinandersetzung mit dem Fremdverstehen – also einer philosophisch akzentuierten Aus-
einandersetzung mit dem Thema interkulturelles Lernen unter besonderer Berücksichtigung
des Zugangs zum Fremden durch Literatur und/oder Medien. Dabei tritt in hermeneutischer
Tradition der Bildungswert literarisch-ästhetischer Herangehensweisen hervor.

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 231

Hermeneutische Zugriffe sind nicht nur für kultur- und literaturdidaktische Forschungen
von großer Relevanz, sondern auch für qualitativ-empirische Untersuchungen (vgl. etwa im
Überblick bei Bortz/Döring 2006). Bei der Aufbereitung, Darstellung und Analyse empirisch
gewonnener Daten kommen Grundmuster der Hermeneutik (siehe unten) zur Anwendung,
vor allem wenn es um kritische Herangehensweisen unter Berücksichtigung von Subjektivi-
tät, Voreingenommenheit und Interessenshintergrund empirischer Forschungsprojekte geht
(vgl. Kapitel 5.3.3, 5.3.4, 5.3.5).

2 Hermeneutische Deutungsmethoden / Vorgehensweisen


Die hermeneutische Methodik wird in der Regel äußerst komplex definiert, beispielsweise
wenn gefordert wird, dass das „Forschungsmaterial in einem zirkulären, irritationsgeleiteten,
deutungsoffenen und mehrperspektivischen Erkenntnisgang über verschiedene Sinnschichten
entschlüsselt wird“ (Klein 2010: 263). Zudem sind je nach Forschungsinteresse, Forschungs-
material und der Frage der Berücksichtigung anderer Faktoren wie historisch-kultureller
Kontexte eine Vielzahl von Herangehensweisen zu unterscheiden, wie dies bei Rittelmeyer
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geschieht, der im Wesentlichen sechs Interpretationsmethoden vorstellt (2010: 237–247).


Diese sollen im Folgenden in starker Adaption kurz erläutert und mit Beispielen fremd-
sprachendidaktischer Fragestellungen illustriert werden:
Die strukturale Interpretation: Gemeint ist damit die textimmanente Analyse und Inter-
pretation eines in sich abgeschlossenen „Textes“, in seiner Gesamtheit wie in Einzelteilen
(dies entspricht der traditionellen philologischen, analytischen, textimmanenten Interpre-
tation). Diese stark literaturwissenschaftlich geprägten Analyseverfahren können auch in
fachdidaktischen Publikationen zum Tragen kommen – beispielhaft beim Hinterfragen von
Textintentionen, beim Aufdecken von persuasiven Argumentationsfiguren und dem Heraus-
arbeiten des Interessegeleitetseins der in der eigenen Studie verarbeiteten Sekundärliteratur.
Dazu gehört auch die Reflexion über die narrativen Erklärungsmuster der eigenen Studie.
Analytische Verfahren als textimmanente Interpretation einzelne Texte der Fremdkultur spie-
len in der fremdsprachlichen Didaktikforschung allerdings eher eine untergeordnete Rolle.
Die komparative Interpretation: Hierbei werden Texte mit anderen Texten zum gleichen
Thema oder aus dem gleichen oder anderen Textgenre verglichen, um Besonderheiten wie Ge-
meinsamkeiten prägnant herauszuarbeiten. Zum Tragen kommen komparatistische Ansätze
vor allem bei „Metastudien“ (vgl. Schmenk 2009), also Forschungsüberblicken mit Hinsicht
auf eine bestimmte Fragestellung; gleichfalls wären sie bei Vergleichen von Interviewaus-
sagen oder anderen Datenmengen zu berücksichtigen (s. Kapitel 5.4.3.).
Die experimentelle Interpretation: Sie akzentuiert die spekulative, erprobende, alterna-
tive Deutungsmuster durchspielende Herangehensweise an Texte. Erhofft wird eine neue,
ungeahnte Perspektive auf bestimmte Fragestellungen oder Interpretationsansätze. Expe-
rimentelle Elemente werden wirksam, wenn ungewöhnliche, bisher nicht beachtete oder
gedanklich nicht gewagte Fragestellungen an Datenmaterialen herangetragen werden – auch
im Sinne eines „Gegen-den-Strich-Lesens“ oder der Übernahme einer Advocatus-diaboli-
Position, um erstarrte Denkmuster aufzubrechen oder aufzudecken (vgl. etwa die Studie von
Delanoy (2002a), in welcher der Forscher seinen eigenen Unterricht selbstkritisch reflektiert
und gerade Elemente des Konflikts oder studentischen „Widerstehens“ (vgl. Delanoy 2002a:

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232 5. Forschungsverfahren

9) hervorhebt, um innovative Erkenntnisse über unterrichtliche Verstehensprozesse zu er-


langen).
Die psychologisch-mimetische Interpretation: Hier geraten vor allem affektive, auf (tiefen-)
psychologische Vorprägungen des Beobachters/Lesers ausgerichtete Reaktionen auf den Text
in den Vordergrund. Diese Herangehensweise folgt rezeptionsästhetischen Fragestellungen:
„Was stellt dieser Text mit mir an?“ „Wie passt er in mein Vorverständnis bzw. auf welche
Weise stellt er mein Vorverständnis in Frage?“ In Forschungskontexten bedeutet dies die
Fähigkeit, sich von Forschungsthemen bzw. -gegenständen auch „überraschen“ und selbst
in Frage stellen zu lassen. Auch hier weist die Studie von Delanoy (2002a) paradigmatische
Züge auf, zielt sie doch im hermeneutischen Sinn ab auf eine sukzessive „Distanzierung von
eigenen ‚Vorurteilen‘ und ein Betreten eines qualitativ anderen Erfahrungsraums“ (Delanoy
2002a: 59): Wenn die Reaktionen der Studierenden auf bestimmte Texte gegenüber der vor-
gefassten Interpretation des Forschers differieren, wird dies weniger als defizitäre Deutung
abgewertet denn als erhellender Respons, welcher ein dialogisches Bedeutungsaushandeln
in Gang setzt.
Die kontextuelle Interpretation: Hierbei ist der zu interpretierende Text in seiner Ein-
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bettung in andere Kontexte zu verstehen, als Teil eines soziokulturellen Diskurses, der weit
über Texte, Gegenstände usw. hinausgeht und vor allem Wertvorstellungen, Ideologien und
Normen beinhaltet, die der jeweils zu deutende Text verhandelt. Deutlich wird die Bedeutung
kontextueller Interpretationen beispielsweise in Studien zur Rezeption fremdkultureller Tex-
te – in ihrer Studie zur Fremdwahrnehmung amerikanischer Indianerkulturen (indigenous
people) kann Grimm (2009) etwa aufzeigen, wie stark negativ bestimmte tradierte Hetero­
stereotype die Auseinandersetzung mit Indianerkulturen im deutschsprachigen Kulturraum
vorgeformt haben.
Die kulturanalytische Interpretation: Diese Deutungsrichtung bewegt sich in Richtung der
kritischen Aufdeckung und „Entlarvung“ der soziohistorischen Konstellationen, in welchen
der jeweilige Text situiert ist, und erkundet beispielhaft die Frage, wie ein Text sich hierzu
affirmativ, oppositionell oder subversiv verhält. Die kulturanalytische Interpretation kann
durchaus in eine emanzipatorische, auf bildungspolitische Veränderung drängende Richtung
deuten, wie in den oben angesprochenen Studien auf unterschiedliche Weise akzentuiert wird.
Die Grunddeutungsmethode ist dabei die des hermeneutischen Zirkels, der paradigmatisch
bei der Interpretation von historischen Quellen zur Anwendung kommt: Das sich spiral-
förmig bewegende Deuten eines Textes unternimmt zunächst den Versuch, ein Grundver-
ständnis, eine allgemeine Einordnung des Textes zu etablieren. Ausgehend davon werden die
einzelnen Elemente des Textes analysiert und die daraus gewonnenen Einsichten gelangen
anschließend wieder mit dem Gesamttext in einen sinnerhellenden Verständniszusammen-
hang. Im sequenziellen Wechselspiel des wiederholten Berücksichtigens von Teilen und Gan-
zem entsteht dabei sukzessive ein tieferes, durchdringendes Verständnis des Textes in seiner
Gesamtheit wie in seinen Teilen (vgl. auch Bortz/Döring 2006: 303, Garz 2010: 356; speziell
Baacke 1993). Das Verfahren des hermeneutischen Zirkels birgt jedoch auch die Gefahr des
Zirkelschlusses mit sich selbst in sich – wenn die Interpretation zur self-fulfilling prophecy
gerät: Der/die Forschende glaubt im Gegenstand etwas zu erkennen, welches sich im Auge
des Betrachters dann in den Einzelteilen des Gegenstandes spiegelt; die am Gegenstand er-
kannten Eigenschaften werden dann auch in anderen Gegenständen erkannt und zunehmend

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 233

als Bestätigung der Eingangswahrnehmung gedeutet. Das durch Vorwissen bzw. Vorurteile
geprägte Wissen wird lediglich bestätigt. Es stellt sich hierbei die Grundsatzproblematik jeg-
licher Forschungstätigkeit, nämlich wie mit dem eigenen Vorwissen umzugehen ist: Wie ist
es selbstreflexiv zu thematisieren und zu beachten? Wie affiziert die eigene Beobachtungs-
perspektive den Forschungsvorgang?
Wie in der fremdsprachendidaktischen Forschung mit den Gefahren des hermeneutischen
Trugschlusses auf unterschiedliche Weise umgegangen wird, sei anhand zweier prägnanter
Beispiele illustriert: In ihrer Überblicksstudie zur Rolle der Konstruktion von binärer Ge-
schlechteropposition in fachdidaktischen Publikationen der letzten Jahrzehnte kann Barbara
Schmenk (2009) nachweisen, wie die oben beschriebene Forschungsfigur der self-fulfilling
prophecy fremdsprachendidaktische Studien geformt hat, da diese den Unterschied zwischen
der sozial konstruierten Kategorie gender und der biologisch vorgegebenen Kategorie sex
unbeachtet ließen.
[K]ritikwürdig ist hier nicht nur, dass gender nicht als sozial konstruiert verstanden wird, sondern
etwas Grundlegenderes: Es sind nicht Verhalten, Eigenschaften oder soziale Praktiken der Pro-
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banden, deren soziale Konstituiertheit Forscher nicht genügend berücksichtigen, sondern es sind
die Geschlechtsbilder der Forschenden, die einen bestimmten hegemonialen Geschlechterdiskurs
immer wieder reproduzieren, indem sie von diesem hervorgebrachte ‚Wahrheiten‘ in ihren Arbeiten
fortwährend bestätigt sehen. (Schmenk 2009: 230 [Hervorhebung im Original])

Das Ausbrechen aus dem Circulus vitiosus der eigenen Vorannahmen oder Vorurteile er-
scheint entsprechend als eine wesentliche Prämisse für fremdsprachendidaktische Forschung,
wie sich dies am Beispiel Gender, aber auch mit Bezug auf Ethnie, Alter, Motivation, Be-
gabung usw. erläutern ließe (vgl. auch Ertelt-Vieth 1999). Während Schmenk derartige, die
Forschungsergebnisse auf verfälschende Weise präfigurierenden Denkmuster aufdeckt, geht
Werner Delanoy den genau entgegengesetzten Weg, indem er fremdsprachliche Unterrichts-
situationen (hier ein selbst gehaltenes literatur- und kulturdidaktisches Seminar) vor allem
daraufhin untersucht, inwieweit die Perspektive der Lehrperson bzw. des partizipierenden
Unterrichtsforschers von Vorannahmen bestimmt ist. Er begreift seine Auseinandersetzung
mit der Praxis als explorative Studie, bei der gerade jene Momente kritisch-selbstreflexiv
ausgeleuchtet werden, in denen die eigenen theoretischen Konzepte mit der praktischen Er-
fahrung, vor allem dem Respons der Lernenden, in den Konflikt geraten und ein intensives
Nachdenken erforderlich machen. Mit Gadamer erkennt Delanoy (2002a: 40) gerade das
„Enttäuschtwerden“, die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung, als den Impuls, der
„neue Einsichten möglich sowie für neue Lernprozesse offen macht“. Dadurch ergibt sich ein
Klären der eigenen Forscherperspektive, welche ein theoretisch-konzeptuelles „retheorising
and reformulating auf der Grundlage einer reflektierten Betrachtung“ (ibid.: 55) von eigenem,
aber auch von fremdem Unterricht anstrebt.
Da Fragen des menschlichen Verstehens zum Schlüsselproblem wissenschaftlichen For-
schens und Erkenntnisgewinns gehören, gelangen hermeneutische Verfahren – oftmals ohne
als solche identifiziert zu werden – in allen Wissenschaftsdisziplinen zum Tragen (zur Bedeu-
tung für erziehungs- und bildungswissenschaftliche Fragestellungen vgl. die Überblicke bei
Bortz/Döring 2006, Garz 2010, Klein 2010, Rittelmeyer 2010). Prinzipielle Gemeinsamkeiten
finden sich gerade zu den für empirische Verfahrensweisen bedeutsamen Bezugswissenschaf-

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234 5. Forschungsverfahren

ten der anthropologischen und ethnologischen Forschung (s. Kapitel 5.3.1, 5.3.3). Wie diese
(etwa bei Vertretern der Chicagoer Schule und des symbolischen Interaktionalismus) betont
die Hermeneutik, dass Sinn jeweils in der Interaktion situativ ausgehandelt wird, dass alle
Daten bereits Auslegungen darstellen und dass jede Präsentation komplexer Wirklichkeiten
gleichzeitig und unvermeidbar eine Deutung von Handlungen, Äußerungen und Dokumen-
ten ist. Hermeneutische Verfahrensweisen gleichen dabei dem Geertz’schen Paradigma der
dichten Beschreibung einer „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander
verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen
sind“ (Geertz 1983: 15). Sie gilt es, mit größtmöglicher Sorgfalt und Präzision – gleichsam
in archäologischer Feinarbeit – aufzudecken und zu deuten. Die oben genannten kontext-
orientierten und kritischen Herangehensweisen der Hermeneutik zeigen zudem eine evidente
Nähe zu – und verbinden sich zugleich deutlich mit – kritischen Formen der Diskursanalyse
(Foucault 1972, Fairclough 1992), kulturwissenschaftlichen Ansätzen der race, class and
gender studies und der kritischen Stereotypenforschung.

3 Das hermeneutische Schlüsselthema: Verstehen des Anderen


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Die Hermeneutik hat vor allem mit ihrer bei Gadamer paradigmatisch diskutierten Schlüs-
selproblematik des Verstehens des Anderen ihre Bedeutung für die Fremdsprachendidaktik
erhalten. Denn das Andere, welches bei Gadamer zunächst der andere literarische Text oder
die andere Person war und in der Alteritätsforschung in vielfachen Manifestationen (Gender,
Ethnie usw.) untersucht wird, wurde in der Fremdsprachendidaktik als das fremdsprachlich
und kulturell Andere fokussiert – vom Text über das Individuum bis zu Gemeinschaften.
Zentral geraten hier Prozesse des Fremdverstehens in den Vordergrund, von den eher kultur-
wissenschaftlich ausgerichteten Vertretern der Alteritätsforschung und Xenologie (der „Lehre“
vom Fremden, vgl. im Überblick Wierlacher/Albrecht 2008) über die Grundproblematiken
interkulturellen und transkulturellen Lernens und der dabei zu vermittelnden Kompetenzen
(vgl. Bredella et al. 2000) bis zu philosophisch-erkenntnistheoretischen wie erkenntnisprak-
tischen Fragestellungen der fremdsprachendidaktischen Forschung im Bereich des Fremdver-
stehens primär durch (literarische) Texte (vgl. Bredella 2010, Bredella et al. 2000, Bredella/
Delanoy 1996; Nünning/Bredella/Legutke 2002).
Zentral für die Diskussion im Bereich des Fremdverstehens ist Gadamers Denkfigur der
Horizontverschmelzung, zu der es beim hermeneutischen Verstehensprozess mit Bezug auf
den (textuellen) Anderen geht: Im Verstehen geschieht eine „Verschmelzung der Horizonte“
(Gadamer 1965: 359; vgl. die Diskussion bei Hellwig 2005). Neuere hermeneutische Ansätze
verstehen diese Horizontverschmelzung weniger als harmonisches Erlangen einer erweiter-
ten Verstehensebene, sondern vielmehr als offenen, nur begrenzt lenkbaren, vorhersehbaren
und beendbaren Langzeitprozess der Interaktion (v. a. Delanoy 2002a). Dieser Prozess des Er-
fahrens und Verstehens ist potenziell dann besonders fruchtbar und gewinnbringend, wenn es
zu einem „Enttäuscht-Werden“ bisheriger Erfahrungen kommt. Erst in der Irritation eröffnet
sich die Möglichkeit neuer Einsichten – bisweilen nicht vorhersehbare Lernprozesse werden
ausgelöst und erweitern sukzessive bisherige Verstehens- und Handlungshorizonte. Werner
Delanoy beschreibt den hermeneutischen Ansatz in der Tradition Gadamers als zentriert
auf das „Kennenlernen neuer Positionen“; dies führt zu „neuen Sichtweisen, Hinterfragen

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 235

der eigenen Horizonte, der eigenen Verstehensvoraussetzungen“; die Konfrontation mit dem
Anderen birgt die Chance in sich, „die eigene Verstehens- und Handlungsmöglichkeit (selbst)
kritisch zu erweitern“ (alle Zitate bei Delanoy 2002a: 15). Lothar Bredella hat in diesem
Zusammenhang einflussreich auf das Wechselspiel von Außen- und Innenperspektive beim
Prozess des Fremdverstehens aufmerksam gemacht: Der Erkenntnis- und Bildungsprozess,
der letztlich Rückkoppelungen auf die Veränderung des eigenen Vorverständnisses hat, stellt
sich damit als komplexe Wechselbeziehung von Perspektivenübernahme, Perspektivenwech-
sel und Perspektivenkoordination dar (Bredella 2010: xxiv). Bredella und andere verweisen
dabei auf die Gefahren einer Reduktion des Fremden auf vertraute Verstehensschemata, ge-
langen jedoch zu der Einsicht, dass Kulturen nicht allein aus sich selbst heraus verstehbar
sind, sondern auch von außen, aus der Distanz, wenn hermeneutische Prinzipien – Bewusst-
machung habitualisierter Vorstellungen, Dialog, Prozessartigkeit, Interaktion, Offenheit –
berücksichtigt werden.

4 Die privilegierte Rolle der Literatur beim Fremdverstehen


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Bei Gadamer (wie auch in den Forschungsarbeiten von Lothar Bredella, Karlheinz Hellwig,
Hans Hunfeld und Ansgar Nünning) erhält die Literatur einen privilegierten Status im Kon-
text des Verstehens. Werke herausragender Qualität, so eine hermeneutische Grundannahme
und zugleich ein ethischer Anspruch, regen besonders zu verlangsamten, reflektierenden
Wahrnehmungsprozessen an. Ihre semiotische Dichte sowie ihre künstlerisch kreierten Unbe-
stimmtheiten produzieren eine intrikate Appellstruktur, welche Lesende und auch Lernende
dazu auffordert, Bedeutung zu interferieren – die Rezeption fremdsprachiger oder fremd-
kultureller Texte stelle beim Prozess der Horizontverschmelzung bzw. bei der sukzessiven
Horizontaushandlung einen „gesteigerte[n] Fall hermeneutischer Schwierigkeit, d. h. von
Fremdheit und Überwindung derselben“ (Gadamer 1965: 365) dar. Das Potenzial der litera-
rischen Kunst, die enigmatische, irritierende Ambivalenz ihres Verweisens durch Leer- und
Unbestimmtheitsstellen wird in der von Gadamer beeinflussten Rezeptionsästhetik (v. a. bei
Iser 1976) besonders hervorgehoben.
Die Literaturdidaktik hat seit den 1970er und 1980er Jahren die von der Rezeptionsästhetik
ausgehenden Impulse einer Bedeutungsverlagerung vom Text auf den individuellen Leser hin
verstärkt aufgegriffen (vgl. Hellwig 2005). Die Appelle zur Verstehenserweiterung, die von
literarischen Texten ausgehen, lassen die individuelle Reaktion der Lernenden in den Mittel-
punkt treten und hinterfragen die Vorstellung von sich objektiv gerierenden, universalen
Deutungsarten oder Musterinterpretationen zu Gunsten eines subjektiven und erfahrungs-
orientierten Literaturverständnisses.
Hermeneutisch orientierte Didaktiker/innen halten die Literatur als besonders geeignet,
um Einblicke in fremdkulturelle Lebenswelten zu erlangen. Die Identifikation von Schülern/
innen mit den Protagonisten/innen von Ich-Erzählungen oder das kurze schauspielerische
Schlüpfen in die Rolle der kulturell differenten Dramenfigur erlauben so das Probehandeln
in fiktiven Welten, eine intensive Teilhabe an der textuellen Fremdheit. Neue Sichtweisen
eröffnen sich in der Konfrontation mit fremden Perspektiven, welches wiederum interkul-
turell wertvolle Prozesse der Empathie, Toleranz und Achtsamkeit gegenüber dem Anderen
anbahne.

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236 5. Forschungsverfahren

Das emphatische Wertschätzen fremdkultureller Literaturwelten sollte in Forschungskon-


texten durchaus von gewissen Caveats begleitet werden, aus denen sich wichtige Forschungs-
fragen ergeben (vgl. Donnerstag 1995: 328): (1) Die Fähigkeit und Bereitschaft, an alternati-
ven Welten imaginativ teilzuhaben, ist stark abhängig vom eigenen Weltwissen und erfordert
beim Lesen durchaus eine höhere Bereitschaft, auf die Offenheit, Suggestivität und Komple-
xität der textuell geschaffenen Welt einzugehen. Visuell-auditive Präsentationen erscheinen
in der Regel einfacher zugänglich und entlasten den Rezeptionsprozess. Eine wichtige For-
schungsfrage wäre entsprechend, wie unterschiedlich medial encodierte Texte bei Lernenden
jeweils unterschiedliches Vorwissen oder verschiedene Decodierungsstrategien ansprechen
und wie derartige „Genrekompetenzen“ und literacies zu fördern wären. (2) Literarische
Texte fordern zur verlangsamten, entschleunigten Verarbeitung auf, zu einer intensiveren
Verarbeitung der Textoberfläche. Dies erscheint Lernenden, die visuell-auditive Stimuli ge-
wohnt sind, nicht nur als Anreiz, sondern auch als Problem beim Schaffen von Sinnkohärenz.
Es wäre hier beispielweise zu untersuchen, welche gattungspezifischen Textstrategien die
Rezeption besonders erschweren bzw. affektive Rezeptionsblockaden entstehen lassen (und
wie didaktisch darauf zu reagieren wäre). (3) Dazu kommen bei fremdsprachlichen Texten
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besonders erschwerte Formen der Sprachverarbeitungsprozesse gegenüber muttersprachlich


automatisierten Strategien. Lexis, Idiomatik, konnotative Bedeutungen wie kulturelle An-
spielungen können Anreize zur Entschlüsselung liefern, aber ebenso als unüberwindliche
Verstehensbarrieren wirken. Die affektive Wirkfunktion bestimmter Textsorten (Jugendlite-
ratur, Fantasy usw.) wäre hier gerade mit Bezug auf die jeweilige sprachliche wie kulturelle
Komplexität hin eingehender zu untersuchen, gerade bei der in der Literaturdidaktik stark
geführten Diskussion um den „Schulkanon“ im Bereich Roman, Drama, aber auch Film (vgl.
Bredella 2010, Legutke et al. 2002).

5 Forschungsbeispiele
Als beispielhaft für die heuristische Ausrichtung einer Vielzahl literatur- und kulturdidakti-
scher Arbeiten, welche Vorschläge für die Erweiterung des fremdsprachlichen „Schulkanons“
bieten, kann die Studie von Nancy Grimm (2009) gelten. Auf Basis der in Fachpublika-
tionen geführten Debatte zur Erweiterung des literarischen Kanons im Englischunterricht
der Oberstufe (Stichwort „geheimer Kanon“), einer umfangreichen Lehrwerkanalyse und
stichpunktartigen Schülerbefragungen verdeutlicht Grimm die Notwendigkeit, tradierte, auf
erheblichen Vorurteilen fußende Einschätzungen ethnischer Minderheiten in den USA, hier
vor allem der indigenen Bevölkerung, durch didaktisch aufbereitete Vorschläge zu „alter-
nativen“ Texten auszubalancieren. Während diese Arbeit stärker noch in der philologisch-
textinterpretierenden Tradition verankert ist, fokussiert die Studie von Britta Freitag-Hild
(2010), bei ähnlicher Intention (nämlich alternative, stärker an Minderheitenautoren und
-themen orientierte Texte vorzuschlagen), vor allem die gegenwärtige literaturdidaktische
Diskussion um inter- und transkulturelles Lernen; dabei geraten die Komplexe des Fremd-
verstehens und der Perspektivenübernahme – in der Diskussion von Fallbeispielen und beim
Auswerten entsprechender Unterrichtseinheiten – vor allem im Zusammenhang mit dem
Erstellen konkret umzusetzender Aufgabendesigns bzw. Lernaufgaben in den Vordergrund.
Interessant ist diese Studie, weil sie unmittelbar auf den eher theoretisch akzentuierten For-

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 237

schungen zum Fremdverstehen durch Literatur (Bredella 2010, Nünning 2000) aufbaut. Die
dort ausgeführten Lernziele der Perspektivenübernahme, Perspektivenkoordination und Em-
pathiefähigkeit mit Hilfe der Literatur, insbesondere der „Minoritätenliteratur“, werden von
der Forscherin in konkrete Aufgabentypologien umgesetzt, deren Wirksamkeit wiederum
in einer empirischen Studie überprüft wird. Die Fragentaxonomie erstreckt sich dabei von
eher Einfühlungsvermögen in der pre-reading phase fördernden Hypothesenbildungen zum
zu lesenden Text über Aufgaben zur Selbstwahrnehmung bis zu produktiven Übungen im
Bereich der Perspektivenübernahme und negotiation of perspectives. Freitag-Hild kann so-
mit nachweisen, dass die Kernthese des hermeneutischen Fremdverstehens-Ansatzes, wie
sie bei Bredella theoretisch entwickelt wurde, vor allem im Rahmen kreativ-produktiver
Herangehensweisen umsetzbar ist und dass sie im Rahmen üblicher empirischer Verfahren
untersuchbar erscheint (Analyse von Lernerprodukten, teilnehmende Beobachtung, Daten-
triangulation usw.).
Als weitere exemplarische Studie sei die Dissertation von Birgit Schädlich (2009) genannt,
die sich auf das literarische Lernen konzentriert, hier im Kontext literaturwissenschaftlicher
Seminare an der Universität. Die qualitativ-empirische Interviewstudie untersucht am Bei-
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spiel des Fachs Französisch die Zusammenhänge zwischen Lehrerausbildung im akademi-


schen Kontext und Anforderungen des Berufsfeldbezugs, indem sie Lehramtsabsolvent/innen
nach dem Status quo ihrer Ausbildung fragt und die dabei konstatierte „Rückständigkeit“ des
Wissenschaftsbetriebs mit Berufsfeldinteressen, bildungspolitischen Vorgaben und aktuellen
Paradigmen in Forschung und Lehre kontrastiert. Sie kann deutliche Defizite universitärer
Ausbildung herausarbeiten und eine stärker an „Handlungswissen“ orientierte Ausbildung
vorschlagen (zu verbessern seien Aspekte wie mangelnder forschender Habitus, geringer
Berufsfeldbezug, Rückgriff auf traditionelle Kulturbegriffe).
Als wesentliche weitere Referenzpublikation sei der Aufsatz von Burwitz-Melzer (2001)
genannt, welcher Einblicke in die Forschungsmethodik der Verfasserin bietet. Er beschreibt
die wissenschaftstheoretischen Grundlagen einer diskursanalytisch, interaktionsanalytisch
und hermeneutisch orientierten Fallstudie zur Arbeit mit fiktionalen Texten im Englisch-
unterricht der Sekundarstufe I. Insbesondere Fragestellungen der Datentriangulation sowie
zu möglichen Untersuchungsfeldern werden hier präzise und für ähnliche Studien applizier-
bar aufgefächert.
Neben diesen eher literaturdidaktisch ausgerichteten Arbeiten sei nochmals auf die Re-
ferenzarbeit von Barbara Schmenk (2009) verwiesen, eine „Metastudie“, welche sowohl die
Theoriediskussion wie auch empirische Forschungsarbeiten zum geschlechtsspezifischen
Fremdsprachenlernen kritisch sichtet und dabei auf Grundlage der neueren Gender-Forschung
aufzeigen kann, wie die Prämissen eines dominanten Geschlechterdiskurses die Fachdidaktik-
forschung nicht allein affizieren, sondern sogar Forschungsergebnisse präfigurieren.

6 Hermeneutische Ansätze und ihre Implikationen


Hermeneutische Ansätze betonen die Notwendigkeit qualitativer Verfahren und setzen in der
Regel auf qualitativ perspektivierte Triangulation, auch bei der Auswertung quantitativer Da-
ten. Hermeneutische Verfahren können jedoch auch, wie beispielsweise bei Schmenk (2009)
eindrucksvoll bezeugt, ein Korrektivum für die in quantitativen Engführungen erstellten

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238

5.3.2 Hermeneutische Verfahren


Prozesse der Verstehensentfaltung erkunden / Textdeutungen

Grundmuster hermeneutischer Erkennstnisgewinnung


Zirkularität („der hermeneutische Zirkel“), Irritation, Offenheit der Deutungen,
Multiperspektivität, dichtes Beschreiben

der/die/das Andere verstehen textuelle Interpretationsmethoden

neue Einzelelemente
struktural
komparativ
experimentell
verändertes Grundverständnis psychologisch-mimetisch
kontextuell
kulturanalytisch
Analyse von Einzelelementen

Das Potential literarischer Texte

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Grundverständnis, allgemeine Einordnung Einblicke geben
Identifikationen anbieten
Rollenwechsel ermöglichen
Gefahr von Zirkelschlüssen fiktive Welten eröffnen
5. Forschungsverfahren

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 239

Forschungsaussagen darstellen, indem sie die derartigen Forschungen zugrunde liegenden,


soziokulturell bedingten Vorannahmen infrage stellen und gegebenenfalls dekonstruieren.
Sie können gerade im Bereich des interkulturellen Lernens dazu auffordern, eigenes stereo-
types Denken sowie generell das Denken in binären Hierarchiemustern zu hinterfragen. Wie
die ethnographische Herangehensweise fordert die Hermeneutik dazu auf, Selbstreflexivität
und dialogische Interaktionsmuster walten zu lassen, den Einfluss des Beobachters auf das
Beobachtete zu beachten, ebenso wie die Veränderung des Forschungsfeldes im Verlauf der
intensivierten Interaktion mit dem Feld.
Forschungsthemen, Aufgaben und Desiderate der Forschung sind in Publikationen von
Delanoy (2002b), Nünning/Bredella/Legutke (2002) und Burwitz-Melzer (2001) sehr einge-
hend dargelegt. Grundsätzlich betont Werner Delanoy den Theorie-Praxis-Dialog als Zen-
tralaufgabe der Literatur- und Kulturdidaktik. Er verweist auf die starke Theorielastigkeit
der Forschung zur Literatur- und Kulturdidaktik, welche oftmals heuristisch ausgerichtete
Prinzipien für den Unterricht entwickelt und dazu tendiert, der Praxis bzw. Lehrerschaft rück-
ständige Herangehensweisen vorzuwerfen (fossilisierter Kanon, Lehrerzentriertheit, Favori-
sieren von Musterinterpretationen, Abneigung gegenüber stärkerer Schülerzentrierung beim
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Umgang mit Literatur usw.). Diese Einstellung verbindet sich bisweilen mit einer Abneigung
gegenüber der Empirie, wie sie sich in Positionen manifestiert, welche literarisch-ästhetische
Bildung als unvereinbar mit empirisch zu messenden Kompetenzrastern verstehen.
Zentrales Untersuchungsfeld der Hermeneutik bleibt der (Verstehens-)Prozess bei der In-
teraktion zwischen Text und Leser im Fremdsprachenunterricht und die Frage nach Zusam-
menhängen, Bedingungen und Konsequenzen von Leseakten. Selbstverständlich müssen da-
bei Aspekte aus pädagogischen, psychosozialen, literatur- und kulturdidaktischen Komplexen
mit berücksichtigt werden. Hier gilt es, Rückkoppelungseffekte zwischen Empirie und Praxis
auszulösen: für Empfehlungen zur Auswahl und zum Einsatz von Literatur und Texten über-
haupt, für die Gestaltung von Unterrichtsmaterialien und Tasks, zur Vorbereitung, Planung
und Durchführung von Unterricht, und auch zur (Weiter-)Qualifizierung von Lehrkräften
(vgl. eingehender die Vorschläge zu Forschungsfeldern bei Burwitz-Melzer 2001: 140–45,
Delanoy 2002a: 166, Delanoy 2002b: 86–88; zum Methodenrepertoire Burwitz-Melzer 2001:
145, Klein 2010: 271).
Zusammengefasst kann aus der Perspektive der hermeneutischen Forschung eine Reihe
von handlungsleitenden kritischen Fragestellungen bei der Aufbereitung, Darstellung und
Analyse von Daten zum Tragen kommen:
– Beachte ich als ForscherIn meine subjektive Perspektive, mein Interessegeleitetsein, meine
Verankerung in bestimmten historischen, sozialen, bildungs- und forschungspolitischen
Diskursmustern? Wie „hinterfrage“ ich meine eigene Position und meine methodischen
Verfahren und wie lege ich diese selbstreflexiv und für meine LeserInnen nachvollziehbar
offen?
– Beachte ich dabei, auch in der Darstellung, welche Stimmen und Positionen ich ausblen-
de bzw. nicht beachte? Bedenke ich die Gründe für diese Akte von Exklusion? Lasse ich
andere, meinen Ansatz möglicherweise radikal in Frage stellende Positionen in meine
Reflexionen oder meine Argumentationsstruktur einfließen, indem ich z. B. Advocatus-
diaboli-Perspektiven durchdenke?

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240 5. Forschungsverfahren

– Beachte ich immer wieder die Gefahr des hermeneutischen Trugschlusses, der darin be-
steht, dass unhinterfragt akzeptierte Vorannahmen oder vorläufig erstellte Hypothesen
meine weitere Auseinandersetzung mit den Daten vorprägen und meine Vor-Urteile letzt-
lich nur bekräftigen? Betrachte ich mein „Gesamtnarrativ“ durchaus auch einmal im Über-
blick kritisch, mit dem Ziel, unterschwellig wirkende Vorannahmen zu revidieren und zu
differenzierten Ergebnissen zu kommen, bei denen eventuell auch ungelöste Probleme und
vorläufige Ergebnisse weiter existieren?
– Richte ich bei historisch ausgerichteten Arbeiten meinen Blick auch auf die historisch-so-
zialen Kontexte der Entstehungsgeschichte von Texten und versuche diese aus sich heraus
zu verstehen (vgl. Kapitel 5.3.1 zur Analyse historischer Quellen)? Bin ich mir bewusst,
dass meine Perspektive entscheidend von gegenwärtigen Erkenntnissen über die Vergan-
genheit geprägt ist?
– Beachte ich bei der Untersuchung von Verstehensprozessen im Fremdsprachenunterricht
den individuell sehr unterschiedlich ausprägten Erfahrungs- und Wissenshorizont der
Lernenden, z. B. bei affektiven Komponenten, dem interkulturellen Moment sowie bei der
Passung von Themen, Inhalten, Texten, Methoden, Kompetenzen und Lernzielen?
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Es gilt nach wie vor die Feststellung von Eva Burwitz-Melzer, die besonderen Forschungs-
bedarf im Bereich der Frage nach dem Stellenwert interkultureller Inhalte erkennt, „wobei
allerdings auf Grund des Mangels an empirischer Forschung bis heute ungeklärt ist, was
eigentlich im Unterricht bei der Behandlung solcher Themen und Inhalte passiert, welche
Lernziele genau ins Auge gefasst werden können und sollen, und wie diese methodisch sinn-
voll umzusetzen sind bzw. in den bereits bestehenden kommunikativ ausgerichteten Fremd-
sprachenunterricht zu integrieren sind“ (Burwitz-Melzer 2001: 139).

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Ahrens, Rüdiger (2004). Hermeneutik. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Metzler Lexikon Literatur- und Kul-
turtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3. Auflage. Stuttgart: Metzler, 252–255.
Baacke, Dieter (1993). Ausschnitt und Ganzes. In: Baacke, Dieter/Schulze, Theodor (Hg.). Aus Geschich-
ten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München: Juventa, 87–125.
Bortz, Jürgen/Döring, Nicola (2006). Historische Entwicklung des qualitativen Ansatzes. In: Bortz,
Jürgen/Döring, Nicola (Hg.). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissen-
schaftler. 4. Auflage. Heidelberg: Springer, 302–308.
Bredella, Lothar (2010). Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische
Studien. Tübingen: Narr.
Bredella, Lothar (1997). Minderheitenliteratur und interkulturelles Lernen. In: Der fremdsprachliche
Unterricht Englisch 31/ H. 27, 26–31.
Bredella, Lothar/Delanoy, Werner (Hg.) (1996). Challenges of Literary Texts in the Foreign Language
Classroom. Tübingen: Narr.

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5.3.2 Hermeneutische Verfahren 241

Bredella, Lothar/Meißner, Franz-Joseph/Nünning, Ansgar/Rösler, Dietmar (Hg.) (2000). Wie ist Fremd-
verstehen lehr- und lernbar? Vorträge aus dem Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“.
Tübingen: Narr.
* Burwitz-Melzer, Eva (2001). A lesson is a lesson is a lesson? – Forschungsmethodik für den Englisch-
unterricht mit fiktionalen Texten und interkulturellen Lerninhalten. In: Müller-Hartmann, Andreas/
Schocker-v. Ditfurth, Marita (Hg.). Qualitative Forschung im Bereich Fremdsprachen lehren und
lernen. Tübingen: Narr, 137–162.
* Delanoy, Werner (2002a). Fremdsprachlicher Literaturunterricht. Theorie und Praxis als Dialog. Tü-
bingen: Narr.
Delanoy, Werner (2002b). Literaturdidaktik und fremdsprachlicher Literaturunterricht: Theorie und
Praxis als Dialog. In: Legutke et. al, 55–98.
Donnerstag, Jürgen (1995). Lesestrategien und Lesetechniken. In: Ahrens, Rüdiger/ Bald, Wolf-Dietrich/
Hüllen, Werner (Hg.). Handbuch Englisch als Fremdsprache. Berlin: Schmidt, 327–329.
* Ertelt-Vieth, Astrid (1999). Eigen- und Gegenbilder in interkultureller Kommunikation: Ein Fall-
beispiel zur prozessorientierten Symbolanalyse. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 10/1,
97–131.
Fairclough, Norman (1992). Discourse and Social Change. Cambridge: Polity.
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* Freitag-Hild, Britta (2010). Theorie, Aufgabentypologie und Unterrichtspraxis inter- und transkul-
tureller Literaturdidaktik. British Fictions of Migration im Fremdsprachenunterricht. Trier: WVT.
Foucault, Michel (1972). L’ordre du discours. Paris: Gallimard [1998. Die Ordnung des Diskurses. Frank-
furt: Fischer].
Gadamer, Hans-Georg (1960/1965). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme-
neutik. 3. Auflage. Tübingen: Mohr.
Garz, Detlef (2010): Objektive Hermeneutik. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, An-
nedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 3. Auflage.
Weinheim & München: Juventa, 249–262.
Geertz, Clifford (1983). Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
* Grau, Maike (2001). Forschungsfeld Begegnung: Zum Entstehungsprozess einer qualitativen Fall-
studie. In: Müller-Hartmann, Andreas/Schocker-v. Ditfurth, Marita (Hg.). Qualitative Forschung im
Bereich Fremdsprachen lehren und lernen. Tübingen: Narr, 62–83.
* Grimm, Nancy (2009). Beyond the ‚Imaginary Indian‘. Zur Aushandlung von Stereotypen, kultureller
Identität und Perspektiven in/mit indigener Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Winter.
Hellwig, Karlheinz (2005). Bildung durch Literatur. Individuelles Sinnverstehen fremdsprachiger Texte.
Eine literaturdidaktische Tour d’Horizon. Frankfurt am Main: Lang.
Hunfeld, Hans (1990). Literatur als Sprachlehre. Ansätze eines hermeneutisch orientierten Fremdspra-
chenunterrichts. Berlin: Langenscheidt.
Iser, Wolfgang (1976). Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink.
Jauß, Hans-Robert (1994). Wege des Verstehens. München: Fink.
Klein, Regina (2010). Tiefenhermeneutische Analyse. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Pren-
gel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft.
3. Auflage. Weinheim & München: Juventa, 263–280.
Legutke, Michael K./Richter, Annette/Ulrich, Stefan (Hg.) (2002). Arbeitsfelder der Literaturdidaktik.
Bilanz und Perspektiven. Lothar Bredella zum 65. Geburtstag. Tübingen: Narr.
Nünning, Ansgar (2000). Intermisunderstanding. Prolegomena zu einer literaturdidaktischen Theorie
des Fremdverstehens. In: Bredella, Lothar/Meißner, Franz-Joseph/Nünning, Ansgar/Rösler, Dietmar
(Hg.), 84–132.

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242 5. Forschungsverfahren

Nünning, Ansgar/ Bredella, Lothar/Legutke, Michael K. (2002). Ansgar Nünning im Gespräch mit Lo-
thar Bredella mit einer Einführung von Michael K. Legutke. In: Legutke et al., 99–125.
Rittelmeyer, Christian (2010). Methoden hermeneutischer Forschung. In: Friebertshäuser, Barbara/Lan-
ger, Antje/Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungs-
wissenschaft. 3. Auflage. Weinheim, München: Juventa, 235–248.
*Schädlich, Birgit (2009). Literatur Lesen Lernen. Literaturwissenschaftliche Seminare aus der Per-
spektive von Lehrenden und Studierenden. Eine qualitativ-empirische Studie. Tübingen: Narr.
*Schmenk, Barbara (2009): Geschlechterspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion ge-
schlechtstypischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. 2. Auflage. Tübingen:
Stauffenburg.
Volkmann, Laurenz (2000). Interkulturelle Kompetenz als neues Paradigma der Literaturdidaktik?
Überlegungen mit Beispielen der postkolonialen Literatur und Minoritätenliteratur. In: Bredella,
Lothar/Meißner, Franz-Joseph/Nünning, Ansgar/Rösler, Dietmar (Hg.). Wie ist Fremdverstehen lehr-
und lernbar? Vorträge aus dem Graduiertenkolleg „Didaktik des Fremdverstehens“. Tübingen: Narr,
164–190.
Wierlacher, Alois/Albrecht, Corinna (2008). Kulturwissenschaftliche Xenologie. In: Nünning, Ansgar/
Nünning, Vera (Hg.). Einführung in die Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 280–306.
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»» Zur Vertiefung empfohlen

Berensmeyer, Ingo (2010). Methoden hermeneutischer und neohermeneutischer Ansätze. In:


Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.). Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen
Textanalyse. Ansätze, Grundlagen. Modellanalysen. Stuttgart: Metzler, 29–50.
Der Beitrag mit literatur- und kulturwissenschaftlichem Fokus liefert eine knappe Einführung in die
zugrunde liegende Theorie der Methode, stellt die Methode vor und liefert eine Musterinterpretation
zu Shakespeares Sonett 73. Eine abschließende Kritik ordnet die Methode in die neuere Theoriedis-
kussion ein.
Bredella, Lothar (2010). Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdi-
daktische Studien. Tübingen: Narr.
Diese Publikation stellt eine Zusammenfassung verschiedener, überarbeiteter Publikationen Bre-
dellas dar und bietet eine gute Einführung in das Denken des für hermeneutische Positionen in
der Fremdsprachendidaktik so bedeutungsvollen Forschers. Es finden sich hier sowohl essenzielle
Überlegungen zu Grundzügen der Didaktik des Fremdverstehens als auch zahlreiche Diskussionen
literarischer Fallbeispiele.
Delanoy, Werner (2002). Literaturdidaktik und fremdsprachlicher Literaturunterricht: Theorie
und Praxis als Dialog. In: Legutke et al. (Hg.), 55–98.
Für eine hermeneutische Fremdsprachendidaktik, die den Prinzipien der Selbstreflexion und der
dialogischen, offenen Interaktion verpflichtet ist, stellt dieser auf den Gedanken Gadamers und auch
Bredellas aufbauende Aufsatz einen wichtigen Beitrag dar. Er nennt zahlreiche Forschungsprinzipien
und mögliche Forschungsgebiete.
Nünning, Ansgar/Bredella, Lothar/Legutke, Michael K. (2002). Ansgar Nünning im Gespräch mit
Lothar Bredella mit einer Einführung von Michael K. Legutke. In: Legutke et al. (Hg.), 99–125.
Dieser höchst anregende Beitrag vermittelt einen ersten Einblick in die Didaktik des Fremdver-
stehens mit Hilfe literarischer Texte und liefert Perspektiven für künftige Forschungsfragen und
Forschungsdesigns. Zu einem ersten Überblick sei diese Diskussion zwischen einem didaktisch stark

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 243

interessierten Literaturwissenschaftler und einem literaturwissenschaftlich höchst gebildeten Lite-


raturdidaktiker sehr empfohlen.

5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode

Karin Aguado

Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Darstellung und Diskussion ausgewählter methodisch-
methodologischer Verfahren, die ursprünglich zur Untersuchung von Fragestellungen der
qualitativen Sozialforschung entwickelt worden sind, sich in jüngster Vergangenheit jedoch
auch bei empirisch arbeitenden Fremdsprachendidaktiker/innen zunehmend großer Beliebt-
heit erfreuen.
Es handelt sind zum einen um die Grounded Theory-Methode bzw. -Methodologie (im
Folgenden mit GTM abgekürzt)17 und zum anderen um die Dokumentarische Methode (im
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Folgenden mit DM abgekürzt) sowie um allgemein-rekonstruktive Verfahren. Gemeinsam


ist allen Verfahren zunächst einmal ihre Verwurzelung in der Ethnomethodologie – einer
Forschungsrichtung innerhalb der Soziologie, die die Methoden, Verfahren und Techniken
untersucht, mit denen die Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft ihre alltäglichen Ak-
tivitäten und Handlungen organisieren und steuern. Nach Bergmann (1988: 3) dient die
ethnomethodologische Vorgehensweise dazu „zu rekonstruieren, wie wir die Wirklichkeit (…)
in unserem tagtäglichen Handeln und im sozialen Umgang miteinander als eine faktische,
geordnete, vertraute, verlässliche Wirklichkeit hervorbringen.“ Zu den zentralen Merkmalen
ethnographischer Ansätze zählen Ganzheitlichkeit, interpretativer Zugang und Reflexivität
im Hinblick auf den Forschungsprozess – allesamt Charakteristika, die auch für die hier vor-
gestellten Verfahren kennzeichnend sind. Grundsätzlich gilt in der qualitativen Forschung
der Grundsatz, dass die Forschungsmethode vom Gegenstand bestimmt wird bzw. ihm an-
zupassen ist. Die zentrale Gemeinsamkeit der im Folgenden behandelten Verfahren besteht
mithin darin, Prozesse, Ereignisse, Situationen und Handlungen aus einer emischen Perspek-
tive zu beschreiben und zu verstehen, d. h. sie aus der Innensicht der untersuchten Akteure
zu rekonstruieren, und zwar mittels der beiden empirischen Basismethoden Beobachtung
und Befragung. Gleichzeitig gehen Vertreter dieser Verfahren von der Prämisse aus, dass es
keine subjekt- bzw. standortunabhängige Forschung gibt. Daraus folgt zwecks Erfüllung des
Gütekriteriums der Transparenz bzw. der Nachvollziehbarkeit, dass diese Subjektivität in Be-
zug auf sämtliche Phasen des Forschungsprozesses zu dokumentieren und zu reflektieren ist.
Anhand ausgewählter Referenzarbeiten soll gezeigt werden, wie die konkrete Anwendung
der verschiedenen Verfahren in der fremdsprachenlehr-/-lernbezogenen Forschungspraxis im

17 Im vorliegenden Text wird kein Versuch unternommen, die Bezeichnung des hier behandelten Verfahrens
der GT ins Deutsche zu übersetzen. Es wird sogar davon abgeraten, es zu tun, weil dies unweigerlich
zu unangemessenen Verkürzungen dieser komplexen Forschungsstrategie führen würde. In der Vergan-
genheit unternommene Vorstöße führten zu Bezeichnungen wie „gegenstandsbegründete“, „gegenstands-
basierte“, „gegenstandsbezogene“ oder auch „datengestützte“ Theoriebildung, wobei keine von ihnen den
Kern des Verfahrens trifft bzw. alle grundsätzlich zu kurz greifen. Aus diesem Grund wird für die Beibe-
haltung der englischsprachigen Originalbezeichnung Grounded Theory plädiert.

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244 5. Forschungsverfahren

Idealfall aussehen kann. Schon an dieser Stelle sei vorweggenommen, dass in der qualitativen
Forschung heute kaum ein methodisches Verfahren in Reinform angewendet wird, sondern
häufig durch spezifische Anpassungen sowie durch Kombinationen mit anderen Verfahren
gekennzeichnet ist.

1 Grounded Theory: Entstehung, Ziele, Spezifika18


Im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich bei der Grounded Theory (GT) um eine For-
schungsmethode, um eine Forschungsmethodologie oder um eine Forschungsstrategie han-
delt, ist zunächst einmal sowohl inhaltlich als auch terminologisch zwischen Prozess bzw. Weg
(= Grounded Theory-Methode bzw. -Methodologie) und Produkt bzw. Ziel (= Grounded Theo-
ry) zu unterscheiden. Da der Fokus des vorliegenden Handbuchs im Bereich der Verfahren
der empirischen Fremdsprachenforschung liegt und es sich bei im Folgenden dargestellten
Verfahren nicht um eine einheitliche Methode handelt, sondern stattdessen verschiedene
Varianten bzw. Entwicklungen koexistieren, werde ich im weiteren Verlauf dieses Beitrags
nicht von Methode, sondern von Methodologie (GTM) sprechen.
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Mit ihrer Monographie The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Re-
search haben die beiden Soziologen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss im Jahr 1967 das
Konzept des von ihnen gemeinsam entwickelten Verfahrens für eine datengeleitete Theorie-
generierung veröffentlicht. Ihr Ziel war es, nicht nur generell eine Lanze für eine qualitative
empirische Herangehensweise an wissenschaftliche Fragestellungen zu brechen und eine Al-
ternative zu den bis dato bevorzugt angewendeten quantitativ-deduktiven Vorgehensweisen
zu entwerfen. Sie wollten darüber hinaus eine Ergänzung zu rein deskriptiven qualitativen
Ansätzen anbieten. Gründe dafür waren die aus ihrer Sicht überfällige Hinterfragung so-
genannter Grand Theories, im Rahmen derer sie selbst sozialisiert worden waren wie z. B.
der Symbolische Interaktionismus oder der Kritische Rationalismus, und die Ermutigung
des wissenschaftlichen Nachwuchses, sich von diesen mächtigen Theorien zu emanzipieren
und in der eigenen empirischen Arbeit neue Wege einzuschlagen. Das zentrale innovative
Merkmal der in der Sekundärliteratur (z. B. von Mey/Mruck 2011: 12) als programmatisch
bezeichneten Veröffentlichung von Glaser/Strauss ist zusammengefasst die Eröffnung der
Möglichkeit, systematisch erhobene Daten nicht nur zu beschreiben und anhand vorgege-
bener Kategorien zu analysieren, sondern sie selbst zur Konzept- und Theoriebildung zu
nutzen.
Es scheint, als habe die qualitativ arbeitende scientific community auf eine solche Heran-
gehensweise gewartet, denn die GTM wurde mit Begeisterung aufgenommen und hat sich
in den vergangenen vier Jahrzehnten fest in der qualitativen Forschung etabliert, wobei fest-
zuhalten ist, dass sie in mehreren Varianten oder Interpretationen ko-existiert. So gibt es so-
wohl im internationalen Vergleich als auch hinsichtlich der verschiedenen wissenschaftlichen
Disziplinen, die sich ihrer bedienen, z.T. unterschiedliche Entwicklungen und Schwerpunkt-
setzungen, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird.
18 Da es im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht möglich ist, die gesamte Entwicklung, die allmählich
sich entwickelnde Kontroverse zwischen Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss sowie die Weiterent-
wicklungen der GTM durch die zweite Generation nachzuzeichnen, sei an dieser Stelle auf den kon-
tinuierlich aktualisierten Grounded Theory Reader hingewiesen, dessen aktuelle Ausgabe von Mey/Mruck
im Jahr 2011 herausgegeben worden ist.

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 245

Im Unterschied zu anderen Forschungsstrategien handelt es sich bei der GTM um ein kom-
plexes, ganzheitliches Verfahren, das sowohl zur Gewinnung als auch zur Analyse und zur
Interpretation von Daten dient. Es integriert also die genannten drei Forschungsphasen bzw.
-ebenen miteinander, die klassische Trennung entfällt: D.h. man wartet mit der Aufbereitung,
Analyse und Interpretation nicht, bis alle Daten erhoben sind, sondern beginnt unmittelbar
nach der ersten Datenerhebung mit der Auswertung, deren Ergebnisse dann das weitere
Vorgehen bestimmen, wie z. B. die Auswahl der als nächstes zu erhebenden Daten. Diese
Vorgehensweise ist konstitutiv für die GTM und bringt für Forschende den großen Vorteil
mit sich, schon gleich zu Beginn des Forschungsprozesses sehr nah an den Daten zu arbeiten,
d. h. sich mit ihnen vertraut zu machen sowie erste Kodierungen und Kategorisierungen vor-
zunehmen. So verringert sich auch das Risiko, sogenannte Datenfriedhöfe zu produzieren,
da im weiteren Forschungsprozess idealiter nur solche Daten erhoben werden, von denen
begründet angenommen wird, dass sie für die jeweilige Arbeit – also für das eigene Erkennt-
nisinteresse, die Beantwortung der Forschungsfrage(n) und das Erreichen des übergeordneten
Forschungsziels – relevant und nützlich sind.
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Von der theoretischen Sensibilität über das theoretische Sampling bis zur theoretischen
Sättigung

Zu Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit forderten Glaser und Strauss von Forschenden, die mit
dem GTM-Ansatz arbeiten wollten, den völligen Verzicht auf jegliche Lektüre einschlägiger
Literatur und daraus möglicherweise resultierenden theoretischen Begriffsbildungen. Statt-
dessen hielten sie das Vorhandensein einer theoretischen Sensibilität für notwendig und hin-
reichend. Sie meinten damit die Fähigkeit, im Datenmaterial theoretisch relevante Kategorien
sowie zwischen ihnen bestehende Beziehungen entdecken zu können.19 Während Glaser bis
heute an dieser Position festhält, hat Strauss (in seinen Publikationen zusammen mit Cor-
bin) im Laufe der Zeit seine Einstellung zur Einbeziehung vorhandener Forschungsliteratur
geändert bzw. aktualisiert. Glaser zufolge sollte im Vorfeld einer empirischen Arbeit nicht
einmal ein Forschungsbericht angefertigt werden, weil die Kenntnis und Einbeziehung von
Literatur zu einer Kontamination der zu bildenden Kategorien führen könnte und so das ei-
gentliche Ziel der GTM – nämlich eine Theorie aus den Daten emergieren zu lassen – verfehlt
würde. Zu dieser Emergenz könne es aber nur dann kommen, wenn Forschende die Daten
unvoreingenommen und ohne störendes Vorwissen betrachten. Daher sollten erst bei Vor-
liegen der zentralen Kategorien der zu bildenden GT überhaupt andere Informationsquellen
konsultiert werden. Wenngleich Glasers Position theoretisch prinzipiell nachvollziehbar ist,
ist sie gleichzeitig nicht nur unrealistisch und ineffizient, sondern aus heutiger Sicht auch
unwissenschaftlich und somit inakzeptabel. Die Rezeption und Verarbeitung vorhandener
Fachliteratur spielt für jeden Forschungsprozess eine zentrale Rolle – und sie schützt vor un-
angenehmen Überraschungen oder vermeintlichen Neuentdeckungen. Ferner ist unbestritten,
dass empirische Beobachtungen nicht nur von fachlichem Vorwissen, sondern auch von sub-
jektiven Erfahrungen und Erwartungen beeinflusst werden, und so gehört es inzwischen zum

19 Es handelt sich hierbei um eine sehr abstrakte und nicht näher spezifizierte Eigenschaft oder Kompetenz,
bei der sich nicht nur viele Forschungsanfänger/innen fragen, ob und wie man sie erwerben kann oder ob
es sich eher um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt, über das man entweder verfügt oder nicht.

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246 5. Forschungsverfahren

wissenschaftlichen Standard, Vorwissen jeglicher Art entsprechend zu dokumentieren und


hinsichtlich seines Stellenwerts zu evaluieren (für ein typisches Beispiel vgl. Ehrenreich 2004,
Abschnitt BI.1.3, in dem die Forscherin explizit ihr ausbildungs- und berufsbiographisch
geprägtes Vorwissen benennt und hinsichtlich seiner Rolle für die empirische Untersuchung
reflektiert. So beschreibt sie die aus ihrer vorhandenen Vertrautheit mit dem Forschungsfeld
resultierenden Auswirkungen auf das Verhältnis zu den Befragten sowie auf die Kommuni-
kationsstruktur und die Gesprächsinhalte).
Das zuvor bereits angedeutete methodische Vorgehen der GTM bei der Datengewinnung
wird als Theoretical Sampling bezeichnet. Damit ist die im Rahmen der Theorieentwicklung
kontinuierlich erfolgende Erhebung weiterer Daten gemeint, deren Funktion die Gewinnung
eines möglichst breiten Variationsspektrums ist. Die methodisch-methodologische Begrün-
dung für das theoretische Sampling ist die im Rahmen der qualitativen Forschung gegebene
Problematik der Bestimmung einer Grundgesamtheit und die daraus resultierende Un-
möglichkeit der Ziehung einer repräsentativen Stichprobe. Stattdessen wird eine sukzessive
Differenzierung und Verfeinerung der bereits gewonnenen, grundsätzlich als vorläufig zu be-
trachtenden Erkenntnisse angestrebt. Die weiteren Daten werden nach der größten Relevanz
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für den untersuchten Gegenstand ausgewählt, wobei generell eine maximale Heterogenität
und ein möglichst großer Kontrast zwischen ihnen anzuvisieren sind.
Im Unterschied zu allen strikt sequentiell angelegten hypothesentestenden oder hypothe-
sengenerierenden Verfahren geht die GTM also zyklisch20 vor, d. h. die Erhebung weiterer
Daten, ihre unmittelbare Kodierung und Analyse sowie der kontinuierliche Vergleich mit
bereits kodierten und analysierten Daten zum Zweck der Bildung theoretischer Konzepte
werden so lange betrieben, bis der Forscher/die Forscherin an einem Punkt angelangt ist,
den Glaser und Strauss theoretische Sättigung nennen: Wenn sich also herausstellt, dass die
Erhebung und Analyse von weiteren Daten keinen neuen Erkenntnisgewinn mehr bringen,
die Kategorien bereits maximal dicht und ihre Beziehungen untereinander identifiziert und
benannt sind, gilt die bis dahin aufgestellte Theorie als vorläufig gesättigt. Hinsichtlich der
Güte dieser Theorie sei hier die Position von Mey/Mruck zitiert: „Nicht die Zahl der Fälle,
sondern die Systematik ihres Einbezugs und der Vergleiche macht die Qualität einer GT aus“
(Mey/Mruck 2011: 29). Gleichzeitig muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass es ein sehr
hoch gestecktes Ziel ist, im Rahmen einer einzelnen Studie Sättigung erreichen zu wollen.
In diesem Zusammenhang interessant und sehr sinnvoll erscheint mir daher der Vorschlag
von Dey (1999), hier von Hinlänglichkeit (sufficiency) anstatt von Sättigung (saturation) zu
sprechen. Die skizzierte Iterativität ist für eine begründete und valide Theoriegenerierung
also unverzichtbar, wobei mittels GTM in der Regel die Formulierung von Theorien mittlerer
Reichweite (vgl. dazu Merton 1949) anstrebt wird. Dabei ist festzuhalten, dass die meisten
auf diese Weise gewonnenen Theorien immer nur Teil-Theorien, Entwürfe oder Skizzen sind,
denn: „The published word is not the final one, but only a pause in the never-ending process
of generating theory“ (Glaser/Strauss 1967: 40).

20 Vielfach wird in deutschsprachigen Publikationen hier die meiner Ansicht nach unangemessene Bezeich-
nung ‚zirkulär‘ verwendet. Dieser Terminus impliziert jedoch nicht die gewünschte dynamische Entwick-
lung und verfehlt damit den Kerngedanken der GTM.

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 247

Offenes, axiales und selektives Kodieren

Um Kategorien entwickeln zu können, müssen die vorhandenen Daten zunächst kodiert


werden. Dazu stehen in der GTM drei chronologisch aufeinander folgende Kodierverfahren
zur Verfügung:21 Das erste Verfahren – das offene Kodieren – umfasst das detaillierte Zeile für
Zeile-Lesen der Daten, und zwar zwecks Beantwortung der allgemeinen Frage: Worum geht
es hier? Hier ist ein maximal freier Umgang mit den Daten das Ziel, d. h. es sollen sämtliche
Ideen und Assoziationen sowie deren Erläuterung notiert und mit groben, vorläufigen Kodes
versehen werden. Bei der Benennung wird zwischen soziologischen Konstrukten auf der
einen Seite und natürlichen Kodes (auch in-vivo-Kodes genannt, weil sie dem Material direkt
entnommen sind) auf der anderen Seite unterschieden.
In dem sich nun anschließendem Verfahren – dem axialen Kodieren – geht es um die
systematische Bildung, Differenzierung und Verfeinerung der gewonnenen von Kategorien
und deren zunehmende Abstraktion. Dazu werden die zuvor ermittelten Kodes anhand des
von Strauss (1987) und Strauss/Corbin (1990) entwickelten Kodierparadigmas systematisch
auf Bedingungen, Verbindungen und Konsequenzen überprüft. D.h. beim axialen Kodieren
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stehen die Kategorien im Zentrum und werden systematisch hinsichtlich ihrer Relationen zu
anderen Kategorien beleuchtet und verdichtet.
Im letzten Schritt – dem selektiven Kodieren – geht es um die Ermittlung der Kernkategorie
als Grundlage für die angestrebte Theoriebildung. Die mittels des axialen Kodierens gewon-
nenen Kategorien werden zwecks Bestimmung von Oberkategorien abermals systematisch
klassifiziert, d. h. die praktische Vorgehensweise ist prinzipiell identisch mit dem zweiten
Kodierschritt, das Resultat weist allerdings einen zunehmend höheren Abstraktionsgrad
auf (vgl. Strauss/Corbin 1990: 117). Für die sich nun anschließende Formulierung der zu
generierenden Theorie werden sämtliche interpretativen Schritte miteinander integriert. Ab-
schließend ist die gewonnene Theorie einer Überprüfung an Daten zu unterziehen.
Im Hinblick auf die Qualität der Theoriebildung betont Muckel (2011) zum ersten die
Wichtigkeit des wiederholten genauen Lesens der erhobenen Daten sowie deren permanenter
Vergleich. Zum zweiten stellt sie hinsichtlich der Kategorienbildung folgendes fest:
Außerdem werden die entwickelten Kategorien umso besser (dichter, prägnanter, integrativer), je
mehr es den Forschenden gelingt, u. a. zwischen zwei Einstellungen/Haltungen den Daten gegenüber
zu wechseln [Hervorhebung im Original]: Zum einen sollte versucht werden, eigenen Interpretati-
ons- und Lesartenideen nachzugehen und sie in verschiedenen Datenausschnitten zu belegen. Zum
anderen sollte man immer wieder eine Gegenbewegung dazu antreten und sozusagen fragen, ob
etwas auch anders sein könnte, als es gerade erscheint. Diese beiden Haltungen einzunehmen – also
Belege und Widersprüche in den Daten [Hervorhebung im Original] zu suchen – schleift Kategorien,
indem sie gleichzeitig präzisiert und pluralisiert werden, und das macht sie gut. (Muckel 2011: 351).

Aus seiner Perspektive sicherlich folgerichtig, aus aktueller methodologischer Warte betrach-
tet jedoch nicht haltbar ist Glasers Plädoyer dafür, den mittels der GTM gewonnenen Erkennt-
nissen auch ohne nochmalige Überprüfung zu trauen. Als Argument führt er die Verläss-
lichkeit der Methode des ständigen Vergleichens an. Strübing spricht hier kritisch von einem

21 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die von Strauss (1987) bzw. Strauss/Corbin (1990) vor-
geschlagene und allgemein etablierte Vorgehensweise.

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248 5. Forschungsverfahren

„objektivistischen Methodenglauben“ (Strübing 2011: 272) auf Seiten Glasers, der davon aus-
gehe, dass eine richtige Methodenanwendung automatisch zu korrekten Ergebnissen führe.

Glaser vs. Strauss – Varianten der GTM

Es besteht in der einschlägigen Forschungsszene Einigkeit darüber, dass es aktuell mindestens


zwei Varianten der GTM gibt, und zwar zum einen die von Barney Glaser und seinen Schüler/
innen vertretene, größtenteils mit der Originalversion aus dem Jahr 1967 übereinstimmende
Variante und zum anderen die von Anselm Strauss und seinen Schüler/innen entwickelte Va-
riante, die sich z. T. deutlich von der ursprünglichen Version unterscheidet. Wie zuvor bereits
angedeutet, gingen die beiden Begründer der GTM relativ bald nach ihrer bahnbrechenden
Publikation in methodisch-methodologischer Hinsicht jeweils eigene Wege, die sich im Laufe
der Zeit immer weiter voneinander entfernten. Der endgültige Bruch wurde durch die von
Strauss/Corbin im Jahr 1990 veröffentlichte Monographie Basics of Qualitative Research
ausgelöst, in Bezug auf die Glaser (1992) seinen ehemaligen Ko-Autoren Strauss der „Verfäl-
schung“ des ursprünglich gemeinsam entwickelten methodisch-methodologischen Ansatzes
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beschuldigte. Zusammenfassend und auf den Punkt gebracht, könnte man es so formulieren:
Während Glaser eine eher streng-puristische Position vertritt, an der ursprünglichen Version
der seinerzeit entwickelten Strategie festhält und sich gegen jegliche Veränderung sperrt,
vertreten Strauss und seine Schüler/innen eine eher pragmatische, nützlichkeitsbezogene
Position mit Blick auf mögliche Weiterentwicklungen und Aktualisierungen des ursprüng-
lichen Ansatzes.22
Es ist unbestritten, dass Glaser und Strauss im Hinblick auf ihre forschungsmethodologi-
sche Reflektiertheit eine nicht zu unterschätzende Pionierfunktion zukommt. Dass sie bereits
in den 1960er Jahren so stark den Prozess des Forschens fokussierten, war innovativ und
für die heutige qualitative Forschung von zentraler Bedeutung: So führten sie das für die
GTM konstitutive Prinzip „Stop and memo!“ ein, durch das der Prozess der Datenkodierung
regelmäßig und systematisch unterbrochen werden soll, um den eigenen Analyse- und Er-
kenntnisprozess durchgängig zu dokumentieren und zu reflektieren. Auch dass die beiden
Forscher der datengeleiteten bottom up-Vorgehensweise gegenüber dem theoriegeleiteten
top down-Verfahren Priorität einräumten, war wegweisend. Die aus meiner Sicht wichtigste
Errungenschaft für die qualitative Forschung ist die Einführung des Prinzips „Analyse von
Anfang an“ und somit das Aufbrechen der – vielfach heute noch üblichen – strikten Linearität
des Forschungsprozesses.23

22 Strübing (2011) vertritt – im Unterschied zu Mey/Mruck 2009 – daher die Position, dass es sich bei
den beiden divergierenden Konzeptionen der GTM wissenschafts- und erkenntnistheoretisch „um zwei
grundverschiedene Verfahren qualitativer Sozialforschung handelt“ (Strübing 2011: 273). Entsprechend
schlussfolgert er, „dass Forschende, die sich auf Grounded Theory berufen, nicht umhin können, sich für
die eine oder die andere der beiden Varianten zu entscheiden.“ (Strübing 2011: 262). Hinzuzufügen ist
hier, dass inzwischen Vertreter/innen der zweiten Generation aktiv und engagiert die Weiterentwicklung
der GTM verfolgen, so z. B. Charmaz (2000) oder Clarke (2005), die an der Entwicklung postmoderner,
konstruktivistischer Varianten der GTM arbeiten.
23 Ein gutes und sehr illustratives Beispiel stellt hier die Arbeit von Muckel (2011) dar.

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 249

2 Dokumentarische Methode
Entwicklung, Ziele, Merkmale

In der Wissenssoziologie wird angenommen, dass jede gesellschaftliche Gruppe in Abhän-


gigkeit von ihren spezifischen sozialen, ökonomischen oder kulturellen Gegebenheiten im
Rahmen eines gemeinsamen Erfahrungsraums eigene Denkstrukturen hervorbringt. Ziel der
Dokumentarischen Methode (im Folgenden mit DM abgekürzt) ist die empirische Rekon-
struktion solcher Strukturen, d. h. es handelt sich um ein Verfahren, mit dessen Hilfe Alltags-
handlungen Bedeutung und Kohärenz zugeschrieben werden. Bonnet (2012: 293) bezeichnet
die DM daher auch als „kontrolliertes Fremdverstehen“.
Die Methode geht auf Karl Mannheim (1922) zurück, der zwischen konjunktivem und
kommunikativem Wissen unterschied, wobei ersteres als atheoretisches und implizites Er-
fahrungswissen zu verstehen ist, das im Unterschied zum explizierbaren und reflexiv verfüg-
baren kommunikativen Wissen die alltägliche Handlungspraxis weitgehend unbemerkt an-
leitet. Mannheim hat insgesamt drei Typen des Sinns menschlicher Handlungen identifiziert,
und zwar den objektiven Sinn, den Ausdruckssinn und den dokumentarischen Sinn. Beim
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objektiven Sinn geht um die gesellschaftliche Bedeutung, die eine Handlung aufgrund ihres
Auftretens innerhalb einer sozialen Institution erhält. Der Ausdruckssinn bezeichnet den sub-
jektiv gemeinten Sinn, also die mit einer kommunikativen Handlung ausgedrückte Absicht.
Beim dokumentarischen Sinn geht es schließlich um das den Akteuren zumeist nicht bewusste
Handlungswissen und die diesem Wissen zugrundeliegenden Ursachen.
Die dokumentarische Analyse fokussiert also auf die Rekonstruktion des konjunktiven Er-
fahrungsraums: „Indem man sie [= maximal interaktiv oder metaphorisch dichte Textstellen,
K. A.] als Sinnkonstruktionen interpretativ rekonstruiert (Oberflächenstruktur), ergeben sich
gleichzeitig Verweise auf Haltungen, Wissensbestände, Gefühle oder Überzeugungen, durch
die ihr Zustandekommen erklärt werden kann (Tiefenstruktur)“ (Bonnet 2012: 292).

Gruppendiskussionen und Interviews als ideale Datenquellen für die DM

Das klassische, prototypische Setting für die DM sind Gruppendiskussionen und zwar des-
halb, weil sich die durch einen konjunktiven Erfahrungsraum erworbenen gemeinsamen
Orientierungen in solchen Interaktionen am besten materialisieren. Ralf Bohnsack hat in den
1980er Jahren ein Verfahren zur Auswertung von Gruppendiskussionen entwickelt, indem
er die DM von Mannheim durch Methoden der Textinterpretation von Fritz Schütze (1983)
und Oevermann et al. (1979) ergänzte. Bohnsack (1991) unterscheidet insgesamt vier Arbeits-
schritte: 1. Formulierende Interpretation: Dabei werden die in den Interaktionen behandelten
Themen chronologisch nachvollzogen und mittels der von den Akteuren selbst verwendeten
Sprache paraphrasiert und als Fließtext wiedergegeben. 2. Reflektierende Interpretation: Hier-
bei geht es um den dokumentarischen Sinngehalt des Gesagten. Im Fokus stehen interaktional
dichte Passagen, in denen konjunktive Erfahrungen aktualisiert werden. Neben der Analyse
sprachlicher und diskursstruktureller Merkmale sind die Modi der Themenentfaltung von
besonderer Bedeutung. So eröffnen narrative Passagen eher den Zugang zum atheoretischen,
unbewussten Wissen der Akteure, während argumentative Passagen mehr Einblick in das
theoretische, bewusste Wissen ermöglichen. 3. Zusammenfassende Fallbeschreibung: In die-

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250 5. Forschungsverfahren

sem Schritt werden alle zuvor erarbeiteten Einzelinformationen zusammengefasst, wobei die
chronologische Entfaltung des Diskurses (= Diskursdramaturgie) von besonderer Bedeutung
ist. 4. Typenbildung (s. Kapitel 5.3.5): Im Anschluss an die Rekonstruktion und den Vergleich
werden die Orientierungsrahmen der Einzelfälle ermittelt. Ziel ist die Identifizierung von
Typen und somit die Erstellung von Typologien. Die Typenbildung ist dann erreicht, wenn
es zu einer Sättigung der Kontraste gekommen ist, d. h. wenn keine neuen Merkmale mehr
gewonnen werden.
Alternativ zu Gruppendiskussionen können – um eine ähnliche interaktive Dichte zu
erreichen sowie um das implizite Wissen der Beteiligten zu ermitteln – narrative oder episo-
dische Interviews durchgeführt werden. Während narrative Interviews dazu dienen, „über
Erzählungen das Geschehen im Erfahrungsraum selbst zugänglich zu machen“ (Bonnet 2012:
293), können episodische Interviews dazu genutzt werden, das eigentheoretische episodische
und semantische Wissen der Akteure zu ermitteln und zu vergleichen. Episodische Interviews
erscheinen ideal für die Anwendung der DM geeignet, denn sie bestehen sowohl aus offenen
Erzählaufforderungen zwecks Ermittlung episodischen Wissens als auch aus präzisierenden,
argumentativ orientierten Passagen, im Rahmen derer semantisches Wissen elizitiert werden
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kann und auch Nachfragen möglich sind.

3 G
 TM, DM und verwandte rekonstruktive Verfahren in der empirischen
Fremdsprachenforschung

Illustrative Beispiele dafür, dass strikt-puristische Herangehensweisen à la Glaser in der ak-


tuellen qualitativen Fremdsprachenforschung einen außerordentlich schweren Stand haben,
sind die Referenzarbeiten von Ehrenreich (2004) und Schart (2003). Mehrmethodische, z.T.
sogar paradigmenübergreifende Herangehensweisen sind inzwischen gängige Praxis – ent-
scheidend ist dabei, dass sie nachvollziehbar begründet werden.
Die Umsetzung der zentralen qualitativen Gütekriterien Offenheit, Flexibilität und Trans-
parenz wird in beiden genannten Arbeiten aufs Vorbildlichste demonstriert. Zwar bleibt Eh-
renreich in ihrer genauen Verortung im GTM-Paradigma insgesamt etwas vage – sie bezieht
sich auf Glaser/Strauss (1967)24 –, aber sie diskutiert die sich im Rahmen der GTM bietenden
Möglichkeiten ausführlich und weiß sie begründet zu nutzen. Ausgehend von der vorläufigen,
eher gerichteten und verkürzten Fragestellung „In welcher Hinsicht/Ist das Fremdsprachen-
assistenten-Jahr ertragreich für angehende Fremdsprachenlehrer?“ (Ehrenreich 2004: 131) hat
sie anhand der ersten Interviewdaten bzw. im Anschluss an die Pilotierung ihres Leitfadens
und der Ergänzung der Impulsfragen ihre Forschungsfrage merklich ausdifferenziert25 und
dabei insbesondere den subjektiven Bedeutungszuschreibungen der befragten Akteure einen

24 Vgl. dazu die oben zitierte Einschätzung von Strübing (2011).


25 Die Forschungsfragen lauten schließlich: „1) Wie stellt sich ein Auslandsaufenthalt als Fremdsprachen-
assistent in einem englischsprachigen Land aus der Perspektive der Beteiligten dar. Durch welche internen
und externen Rahmenbedingungen wird dieser Aufenthalt strukturiert? 2a) Wie bewerten die Beteiligten
Ertrag und Auswirkung ihres Auslandaufenthaltes als deutsche/r FremdsprachenassistentIn in einem
englischsprachigen Land? 2b) Wie sind Ertrag und Auswirkung ihres Auslandaufenthaltes als deutsche/r
FremdsprachenassistentIn in einem englischsprachigen Land im Licht der Lehrerbildung zu bewerten?
3) Welche Implikationen birgt die Gegenüberstellung dieser beiden Perspektiven im Blick auf die Aus-
bildungsinhalte und Struktur der Fremdsprachenlehrerbildung?“ (Ehrenreich 2004: 199).

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 251

höheren Stellenwert zugeordnet: Der eigentliche Forschungsgegenstand konstituierte sich


somit erst im Forschungsprozess (vgl. dazu auch Schädlich 2009: 147), und zwar empirisch
begründet durch gleich zu Beginn durchgeführte Datenanalysen.
Was das Sampling betrifft, so geht Ehrenreich kriteriengeleitet vor. Die Auswahlkriterien
sind: Geschlecht, Herkunftsbundesland, Zielland, Ausbildungsphase zum Zeitpunkt der Inter-
views, subjektive Bewertung der Fremdsprachenassistenz, Aufenthaltsdauer. Darüber hinaus
erfolgt die Auswahl ihrer 22 Interviewpartner – wie in den meisten qualitativen Studien –
nach deren Bereitschaft und nicht nach der von der GTM favorisierten Methode des theoreti-
schen Sampling. Hier wird deutlich, dass methodologisch durchaus plausible Überlegungen
in der Forschungsrealität aus pragmatischen Gründen nicht ohne weiteres umgesetzt werden
können und die Forschenden daher Alternativlösungen entwickeln müssen.
In GTM-orientierten Forschungen werden Daten primär mittels teilstrukturierter, problem-
orientierter, narrativ-fokussierter Interviews mit variabel einzusetzenden Leitfäden gewonnen
(Ehrenreich 2004, Schart 2003), die – wenn sie unterschiedliche Perspektiven erheben – in der
Auswertung z.T. auch miteinander trianguliert werden (vgl. z. B. Schädlich 2009). Diese Inter-
views werden zumeist durch kontextualisierende schriftliche Befragungen zu biographischen
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Hintergrunddaten flankiert. Wie zuvor bereits angedeutet, geht auch Schart (2003), der in
seiner qualitativen Interviewstudie das subjektive Verständnis untersucht, das Lehrende für
Deutsch als Fremdsprache von Projektunterricht haben, mehrmethodisch vor, um verstehend
die handlungsleitenden Überlegungen der befragten Personen nachzuvollziehen.
In Studien, die mit der DM arbeiten, werden zwar ebenfalls Daten verbaler Handlungen
der untersuchten Personen analysiert, diese werden aber in der Regel nicht eigens für Unter-
suchungszwecke produziert, sondern entstammen alltäglichen Interaktionen. So wurden in
der rekonstruktiven Fallstudie von Tesch (2010) insgesamt fast 30 Stunden regulären Fran-
zösischunterrichts in drei Gymnasialklassen der neunten und zehnten Jahrgangsstufe mit
21 bis 29 Schüler/innen hinsichtlich des Umgangs mit kompetenzorientierten Lernaufgaben
beobachtet. Die anschließende detaillierte Beschreibung und Analyse ausgewählter Unter-
richtsstunden ermöglichte Einsichten in die soziale Dimension fremdsprachenunterricht-
licher Interaktionen sowie Erkenntnisse über unterrichtsbezogene Rahmenorientierungen
von Lehrenden und Lernenden und somit über ihr implizites handlungsleitendes Wissen.
Im Anschluss an die vollständige Transkription und die inhaltlich zusammenfassende Be-
schreibung aller audiographierten Unterrichtsstunden26 wurden aus jeder Stunde eine oder
mehrere typische Sequenzen ausgewählt, die eine „besondere metaphorische Dichte“ (Tesch
2010: 179) aufwiesen. Weitere Auswahlkriterien waren die dominante Interaktionsrichtung
sowie dominante Interaktionsinhalte. Die Daten wurden mittels der beiden zentralen Ana-
lyseschritte „Formulierende Interpretation“ und „Reflektierende Interpretation“ bearbeitet.
Zunächst wurden also der Diskursverlauf nachgezeichnet und die Äußerungen der Beteiligten
zusammenfassend paraphrasiert, d. h. grob interpretiert. Damit war die Grundlage für den
nächsten Analyseschritt – die reflektierende Interpretation – geschaffen, bei der es nun darum
ging, die zuvor reformulierten Aussagen der Akteure „als Propositionen und als Ausdruck
von Rahmungen zu erkennen, die mit anderen Propositionen verglichen […] und in Bezie-
26 Die ebenfalls erstellten Videographien wurden nicht transkribiert, sondern lediglich zum Zweck der
Validierung verwendet. Die handschriftlich notierten Gespräche mit Lehrer/innen vor und nach den be-
obachteten Unterrichtsstunden wurden sporadisch in die Analyse einbezogen.

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252 5. Forschungsverfahren

hung gesetzt werden können“ (Tesch 2010: 183). Dazu wurden die Daten diskursanalytisch
im Hinblick auf explizite und implizite Verknüpfungen untersucht und mit ähnlichen Fällen
verglichen, um „typische Handlungspraxen“ (ebd.) zu ermitteln. Auch in der DM spielt also
die Technik des Vergleichens eine zentrale Rolle.
Die methodisch an der GTM orientierte Arbeit von Ehrenreich illustriert die vielfältigen
Möglichkeiten der Gewinnung von Auswertungskategorien: Sie erfolgt sowohl auf der Basis
eigenen Vorwissens, durch die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur und entlang
des zuvor erstellten Interviewleitfadens als auch datenbasiert, d. h. durch die Auswertung
der ersten Interviewdaten. Dabei wird dem von Strauss/Corbin (1990) aufgestellten ‚Kodier-
paradigma‘ aufgrund seiner Plausibilität, ihrer Strukturiertheit sowie ihrer direkten Anwend-
barkeit gegenüber den eher allgemeinen, abstrakten ‚Kodierfamilien‘ von Glaser der Vorzug
gegeben.
Schädlich (2009: 160) geht in ihrer Interviewstudie zur Rekonstruktion der subjektiven
Wahrnehmungen von Lehrveranstaltungen zur französischen Literaturwissenschaft durch
Lehrende und Studierende so vor, dass sie zwar dem Prinzip des theoretischen Kodierens der
GTM folgt, sich in der konkreten Auswertungsarbeit jedoch an Mayrings (1993) Vorgehen
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der strukturierten Inhaltsanalyse (s. Kapitel 5.3.4) orientiert und mit zuvor festgelegten Ord-
nungskriterien arbeitet. Somit haben wir auch hier ein Beispiel eines mehrmethodischen
Designs, im Rahmen dessen die für das eigene Forschungsziel jeweils am besten erschei-
nenden Verfahren aus verschiedenen methodisch-methodologischen Ansätzen miteinander
kombiniert werden.
Wie zuvor bereits dargestellt, geht es auch bei der DM – ähnlich wie bei der GTM – darum,
Prozesse der Konstruktion sozialer Realität bzw. sozialen Sinns zu rekonstruieren und somit
intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Unterrichtliche bzw. unterrichtsbezogene Inter-
aktionen sind komplexe Ereignisse, die mit der DM in idealer Weise untersuchbar ist, da sie
die Aufdeckung impliziter Wissensbestände ermöglicht. Voraussetzung für die Anwendung
der DM ist, dass die mit ihr betrachteten bzw. befragten Personen Angehörige des kon-
junktiven Erfahrungsraums sind, dessen Handlungswissen rekonstruiert werden soll. Bonnet
(2009) und Tesch (2010) gehören zu den ersten Fremdsprachendidaktikern, die die DM zur
Untersuchung unterrichtlicher Interaktionen und damit zur Rekonstruktion des größten-
teils unbewussten handlungsleitenden Wissens der Akteure nutzten. Die besondere Leistung
der DM liegt Tesch zufolge „in der genauen Beschreibung empirisch ermittelter impliziter
Orientierungen und in der Bestimmung typischer Ausprägungen in den verschiedenen Schul-
formen und Klassenzusammensetzungen“ (Tesch 2010: 366).
Kritisch anzumerken ist in Bezug auf die DM zum einen, dass sie – per definitionem – nur
Daten von Personen zu analysieren gedacht ist, die über einen ähnlichen, d. h. konjunktiven
Erfahrungsraum verfügen. Somit ist der Anwendungsbereich dieses methodischen Ansatzes
grundsätzlich stark eingeschränkt. Hier wird deutlich, wie sehr der mögliche Erkenntnis-
gewinn von der jeweils gewählten Methode bestimmt wird. Zum anderen ist an der Vor-
gehensweise der DM der überraschend unreflektierte Umgang mit der Paraphrasierung von
Originalaussagen der Forschungsteilnehmer/innen und der damit einhergehende Verlust an
Nähe zu den Primärdaten zu kritisieren. So werden bei dem von der DM vorgesehenen ersten
Analyseschritt nicht die Äußerungen der Forschungsteilnehmer/innen analysiert und inter-
pretiert, sondern die von den Forschenden daraus abgeleiteten Paraphrasen. Insofern stellt sich

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 253

5.3.3 Grounded Theory und


Dokumentarische Methode
Rekonstruktion von Prozessen aus emischer Perspektive
Theoriebildung aus Daten

Grounded Theory-Methodologie

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entwickelte Theorie
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Dokumentarische Methode
Erfahrungs- und Rekonstruktion des konjunktiven
Alltagswissen gesell- Erfahrungsraumes und der darin
schaftlicher Gruppen enthaltenen Denkstrukturen durch
Typologie

↓ → formulierende Interpretation
Gruppendiskussionen, → reflektierende Interpretation
Interviews → zusammenfassende Fallbeschreibung
→ Typenbildung

Gütekriterien: Offenheit, Transparenz, intersubjektive Nachvollziehbarkeit

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254 5. Forschungsverfahren

z. B. die Frage, inwiefern hier tatsächlich die Binnensicht der Proband/innen Gegenstand der
Analyse ist. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich jegliche Verarbeitung von
Primärdaten (so z. B. auch die Zusammenfassung in der qualitativen Inhaltsanalyse) immer
zugleich eine Interpretation darstellt. Selbst der Transkriptionsprozess – also ein Verfahren der
Datenaufbereitung – ist ein interpretativer Prozess, da er notwendigerweise selektiv ist, und
jede Selektion eine gewisse Deutung beinhaltet bzw. voraussetzt. D.h. der hier formulierte
methodisch-methodologische Einwand betrifft auch andere qualitative Analyseverfahren, ist
also nicht spezifisch für die DM. Dennoch gilt es, sich dessen bei der Entscheidung für diese
Methode bewusst zu sein und reflektiert damit umzugehen. Eine weitere mögliche Kritik
bezieht sich auf die von der DM explizit angestrebte Typenbildung, die zwar in vielen Fällen
ein gewünschtes Ziel empirischer Forschung (quantitativen und qualitativen Zuschnitts) sein
kann, sich jedoch nicht für alle Gegenstände oder Erkenntnisinteressen als gleichermaßen
wichtig oder sinnvoll erweist. So kann es insbesondere im Falle von noch wenig erforschten
Fragestellungen vollkommen ausreichend sein, sich zunächst einmal auf die Deskription zu
beschränken. Auch kann bei der qualitativen Untersuchung eines komplexen Einzelfalls die
Aufdeckung von Mustern oder die Bildung von Typen ggf. überhaupt nicht erstrebenswert
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oder zielführend sein. Es ist also vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängig, ob auf eine
Typenbildung abgezielt wird oder nicht – die Methode sollte darüber nicht entscheiden.

4 Fazit
Zusammenfassend ist festzustellen, dass mittels der dargestellten qualitativen Ansätze hoch-
relevante lehr-lernbezogene Einsichten in die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Interpreta-
tionen der ‚betroffenen‘ Akteure – also Lehrende, Studierende, Lernende – gewonnen werden
können. So belegt die von Schart (2003) vorgenommene detaillierte Rekonstruktion sub-
jektiver Wahrnehmungen von DaF-Lehrenden in Bezug auf die Sozialform Projektunterricht,
wie wichtig reflexive und erfahrungsorientierte Modelle in der Aus- und Fortbildung von
Lehrenden sind. Ähnliches gilt für die Interviewstudie von Ehrenreich (2004), die anschaulich
zeigt, dass ausbildungsbezogene Auslandaufenthalte spezifische Lerngelegenheiten sind, die
nicht nur vorbereitet und strukturiert, sondern auch reflektiert werden müssen, wenn sie
denn ihren Zweck erreichen sollen. Rekonstruktive, die emische Perspektive einnehmende
Verfahren ermöglichen also Einblicke in konzeptbildende und handlungsleitende Prozesse,
deren Potential bisher nur in Ansätzen in der fremdsprachendidaktischen Forschung genutzt
wurde. Abschließend würde ich Bonnet (2012: 286) zustimmen, wenn er feststellt, dass „qua-
litativ-rekonstruktive Ansätze […] einen unverzichtbaren Beitrag zur Theoriebildung in der
Fremdsprachenforschung leisten“. Ob es – wie er weiter annimmt – jedoch zutrifft, dass sie
mit quantitativ-hypothesenprüfenden Verfahren integriert werden können, um die Nachteile
beider Ansätze zu überwinden, muss sich in der Forschungspraxis erst noch zeigen.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.

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5.3.3 Grounded Theory und Dokumentarische Methode 255

Bergmann, Jörg R. (1988). Ethnomethodologie und Konversationsanalyse. Kurseinheit 1. Hagen: Fern-


universität Hagen.
Bohnsack, Ralf (1991). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis quali-
tativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich.
Bonnet, Andreas (2009). Die Dokumentarische Methode in der Unterrichtsforschung. Ein integratives
Forschungsinstrument für Strukturrekonstruktion und Kompetenzanalyse. n: Zeitschrift für Quali-
tative Forschung 10(2), 219–240
Charmaz, Kathy (2000). Grounded theory: Objectivist and constructivist methods. In: Denzin, Nor-
man K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.), Handbook of qualitative research (2. Aufl.). Thousand Oaks: Sage,
509–535.
Clarke, Adele E. (2005). Situational analysis: Grounded theory after the postmodern turn. Thousand
Oaks, CA: Sage.
Dey, Ian (1999). Grounding Grounded Theory: Guidelines for Qualitative Inquiry. London: Academic
Press.
*Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative
Interviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant-Jahres. München: Langen-
scheidt. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
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Glaser, Barney/Strauss, Anselm (1967). The discovery of grounded theory. Strategies qualitative re-
search. Chicago: Aldine.
Mannheim, Karl (1922). Die Strukturanalyse der Erkenntnistheorie. Berlin: Reuter & Reichard.
Mayring, Philip (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11., aktualisierte und
überarbeitete Auflage. Weinheim und Basel: Beltz.
Merton, Robert K. (1949). Social Theory and Social Structure. New York: Simons & Schuster.
Mey, Günter/Mruck, Katja (2011). Grounded-Theory-Methodologie: Entwicklung, Stand, Perspektiven.
In: Mey, Günter/Mruck, Katja (2011), 11–48.
Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.) (2011). Grounded Theory Reader. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis-
senschaften.
Muckel, Petra (2011). Die Entwicklung von Kategorien mit der Methode der Grounded Theory. In: Mey,
Günter/Mruck, Katja (Hg.), 333–352.
Oevermann, Ulrich/Allert, Tilman/Konau, Elisabeth/Krambeck, Jürgen (1979). Die Methodologie einer
„objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissen-
schaften. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaf-
ten. Stuttgart: Metzler, 352–434.
*Schädlich, Birgit (2009). Literatur Lesen Lernen. Literaturwissenschaftliche Seminare aus der Per-
spektive von Lehrenden und Studierenden. Eine qualitativ-empirische Studie. Tübingen: Narr.
*Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
Schütze, Fritz (1983). Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 13(3), 283–293.
Strauss, Anselm (1987). Qualitative analysis for social scientists. Cambridge, UK: Cambridge Univer-
sity Press.
Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1990). Basics of Qualitative Research. Newbury Park; London: Sage.
Strübing, Jörg (2011). Zwei Varianten von Grounded Theory? Zu den methodologischen und metho-
dischen Differenzen zwischen Barney Glaser und Anselm Strauss. In: Mey, Günter/Mruck, Katja
(Hg.), 262–277.
*Tesch, Bernd (2010). Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. Konzeptionelle
Grundlagen und eine rekonstruktive Fallstudie zur Unterrichtspraxis (Französisch). Frankfurt/Main:
Lang.

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256 5. Forschungsverfahren

»» Zur Vertiefung empfohlen

Bonnet, Andreas (2012). Von der Rekonstruktion zur Integration: Wissenssoziologie und doku-
mentarische Methode in der Fremdsprachenforschung. Grundlagenbeitrag. In: Doff, Sabine
(Hg.). Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen. Grundlagen – Methoden – Anwen-
dung. Tübingen: Narr, 286–305.
In seinem Grundlagenbeitrag skizziert Bonnet das Anliegen, die zentralen Begriffe sowie die metho-
dische Vorgehensweise der DM und ihre besondere Eignung für fremdsprachendidaktische Forschun-
gen, in deren Mittelpunkt die Untersuchung unterrichts- und kompetenzrelevanter Phänomene steht.
Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.) (2011). Grounded Theory Reader. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften.
In diesem Sammelband haben die beiden Herausgeber eine Reihe einschlägiger Aufsätze zusammen-
gestellt, die den aktuellen Diskussionsstand zur GTM widerspiegeln. Dabei handelt es sich z. T. um
Übersetzungen aus dem Englischen, z. T. um überarbeitete und aktualisierte Fassungen früherer
Publikationen.
Nohl, Arnd-Michael (2012). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die For-
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schungspraxis. 4., überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.


In dieser Handreichung wird anschaulich dargestellt, wie mittels der Dokumentarischen Methode
Interviews ausgewertet werden können, wobei besonderes Augenmerk auf die Anwendung der
formulierenden und reflektierenden Interpretation gelegt wird.
Truschkat, Inga/Kaiser, Manuela/Reinartz, Vera (2005). Forschen nach Rezept? Anregungen zum
praktischen Umgang mit der Grounded Theory in Qualifikationsarbeiten. Forum Qualitative
Sozialforschung 6 (2) Art. 22, Mai 2005.
Die Autorinnen richten sich in ihrem praxisbezogenen Beitrag insbesondere an wenig erfahrene
Forscher/innen, denen sie eine Reihe von wertvollen Hinweisen und Ratschlägen rund um den Sam-
pling-Prozess liefern. Dabei illustrieren sie gut nachvollziehbar alle zentralen Begrifflichkeiten der
GTM.

5.3.4 Inhaltsanalyse

Eva Burwitz-Melzer/Ivo Steininger

Bei der Inhaltsanalyse handelt es sich um ein kodifiziertes und kodifizierendes Forschungsver-
fahren, das kommunikative Texte im weitesten Sinne systematisch untersucht und auswer-
tet. Inhaltsanalysen können als quantitatives wie auch als qualitatives Verfahren eingesetzt
werden. Wie bei kaum einer anderen Forschungsmethode lässt sich die allmähliche Ablösung
des quantitativen Verfahrens durch das qualitative ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in der
Forschungsliteratur vornehmlich der USA und Deutschlands gut verfolgen. Heute wird vor
allem die qualitative Inhaltsanalyse sehr häufig und in ganz unterschiedlichen Kontexten
eingesetzt, aber es gibt zunehmend auch Arbeiten, die beide Analyseverfahren miteinan-
der kombinieren. Für die Fremdsprachenforschung stellt vor allem die qualitative Inhalts-
analyse eine gewinnbringendes Forschungsmethode dar, wenn Kommunikationsmaterial

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5.3.4 Inhaltsanalyse 257

(Texte, Hypertexte, Videosequenzen, bildliches oder musikalisches Material) theorie- und/


oder datengeleitet untersucht und ausgewertet werden soll. Im Folgenden werden beide Ver-
fahren erklärt und in den Kontext der Fremdsprachenforschung gestellt. Zu zwei zentralen
Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse werden Beispiele aus aktuellen Studien der Fremd-
sprachenforschung vorgestellt.

1 Grundlagen der Inhaltsanalyse


Grundlagen der quantitativen Inhaltsanalyse

Die Anfänge der Inhaltsanalyse sind in den Kommunikationswissenschaften auf den Beginn
des 20. Jahrhunderts in den Kommunikationswissenschaften zu datieren (vgl. Mayring 2002:
114, Kuckartz 2012: 27–8). Vorrangig in den USA der 1920er Jahre entwickelt, zielte die
quantitative Inhaltsanalyse auf die Untersuchung großer Datenmengen in Massenmedien
(vgl. Krippendorff 2004). Die Erfindung des Radios und die Kriegsberichterstattung in den
1940er Jahren brachten inhaltsanalytische Studien hervor, die die politischen Aspekte dieser
Forschungsmethode in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Die Begrifflichkeit der
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Inhaltsanalyse entwickelte sich zusammen mit der zunehmenden Forschungstätigkeit: Be-


griffe wie content analysis, sampling unit, category oder inter-coder-reliability stammen aus
dieser regen Publikationszeit (vgl. Kuckartz 2012: 28). Im Fokus des Interesses der damaligen
Publikationen war die quantitative Auswertung27 sprachlichen Materials (vgl. Mayring 2000:
469):
• Häufigkeitsanalysen (bestimmte Textelemente werden gezählt).
• Indikatorenanalysen (bestimmte Textelemente werden als Indikatoren für übergeordnete
Konzepte ausgewertet).
• Valenz- und Intensitätsanalysen (im Vorfeld entwickelte Skalen werden genutzt, um Texte
entsprechend einzuordnen).
• Kontingenzanalysen (kontextuelle Zusammenhänge von Textelementen werden unter-
sucht).
In den folgenden Jahrzehnten wuchs das Interesse an der quantifizierenden Inhaltsanalyse,
die sich zunehmend auch statistischer Verfahren bediente, um sozial- und kommunikations-
wissenschaftliche Aspekte in unterschiedlichen Medien zu untersuchen. Dabei wurde ganz
bewusst und programmatisch auf die Erforschung von Phänomenen an der Oberfläche der
Texte gezielt, da dies als objektives Forschungsverfahren galt. Kuckartz zitiert hierzu Berel-
son: „Content analysis is a research technique for the objective, systematic and quantitative
description of the manifest content of communication“ (Berelson 1952: 18 in Kuckartz 2012:
28).
Allerdings beschwor diese sehr einseitige Ausrichtung der Forschungsmethode auch Kritik
herauf: Kritisiert wurde an den rein quantitativen Analyseschritten, dass implizite und sub-
tile Aspekte unterhalb der Textoberfläche und Aspekte der Interpretation zu kurz kämen, so
dass beispielsweise der Kontext, Sinnstrukturen, besondere Einzelfälle oder aber Elemente,

27 Für einen Überblick zu Vorgehensweisen der quantitativen Auswertung der Inhaltsanalyse (auch als em-
pirische Inhaltsanalyse bezeichnet) siehe Kromrey (2009: 300–325).

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258 5. Forschungsverfahren

die an der Textoberfläche nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar sind, übersehen würden
(vgl. Mayring 2002: 114 und Kuckartz 2012: 35). Viele Forscher konzipierten deshalb die
qualitative Inhaltsanalyse als eine Art „Erweiterung“ oder „Präzisierung“ (Kuckartz 2012:
35) des Verfahrens. Wenn Dörnyei die Unterschiede zwischen quantitativer und qualitativer
Inhaltsanalyse herausarbeitet, beschreibt er genau diese zusätzliche Dimension:
Another way for distinguishing quantitative and qualitative content analysis is by referring to the
former as ‚manifest level analysis‘, because it is an objective and descriptive account of the surface
meaning of the data, and the latter as ‚latent level analysis‘, because it concerns a second level,
interpretive analysis of the underlying deeper meaning of the data. (Dörnyei 2007: 245–6)

Grundlagen der qualitativen Inhaltsanalyse

An den Problemen der quantitativen Inhaltsanalyse setzt die qualitative Inhaltsanalyse an.
Sie will sich nicht auf die oberflächlichen manifesten Textinhalte bei der Analyse beschränken,
sondern bezieht auch Elemente der Interpretation mit ein (vgl. Kuckartz 2012: 28). Cha-
rakteristisch für die qualitative Inhaltsanalyse sind die Bildung von Kategorien, auf die in der
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Analyse fokussiert wird, sowie eine Kategorisierung des gesamten Datenmaterials. Dabei ist
der „Zuordnungsprozess von Kategorien und Textstellen als Interpretationsakt“ zu verstehen,
den man „durch inhaltsanalytische Regeln kontrollieren möchte“ (Mayring 2008: 10). Die
konsequente und systematische Nutzung des jeweils aufgestellten Kategoriensystems stellt
dabei ein Unterscheidungskriterium von freieren Formen der Textinterpretation (z. B. her-
meneutischen Verfahren, s. Kapitel 5.3.2) dar. Für die heutige qualitative Inhaltsanalyse sind
auch Faktoren wie die Anerkennung von Gütekriterien, wie z. B. die inter-coder-reliability
von zentraler Bedeutung, falls in einem Forschungsprojekt mehrere Kodierende das Daten-
material analysieren (vgl. Kuckartz 2012: 39).
Ihrem Ursprung in den Kommunikationswissenschaften gemäß versteht die qualitative
Inhaltsanalyse einen Text stets als eingebettet in ein Kommunikationsmodell. Nicht der Text
für sich allein genommen ist dabei von Interesse, sondern vielmehr die aus dem Text heraus
geschlossenen Zusammenhänge zur kommunikativen Absicht, in der Fragen nach dem Ver-
hältnis zwischen Sender und Empfänger, Medium, Textmerkmale und Gestaltung, Wirkungs-
absicht sowie Wirkung auf die Adressaten relevant sind (vgl. Mayring/Brunner 2010: 325).
Dass es dabei oft auch um das Aufdecken versteckter Botschaften und nicht offen geäußerter
Mitteilungen gehen kann, versteht sich von selbst. Gerade deshalb ist die qualitative In-
haltsanalyse für komplexe Untersuchungsfelder interessant, da mit ihrer Hilfe vielschichtige
Datensammlungen wie z. B. Lehrer-/Lernertexte (bzw. unterrichtliche Produkte im weiteren
Sinne, s. Kapitel 5.2.7) oder Transkriptionen von Audio- bzw. Videomaterial von Unterricht
oder Interviewsequenzen sehr gut analysiert werden können. Forschungen im Bereich der
Fremdsprachendidaktik verwenden häufig eine qualitative Inhaltsanalyse, da das Suchen nach
Themen in schriftlichen oder mündlichen Lehrer- oder Schüleräußerungen oder in Interviews
über Unterricht, sowie das Auffinden von Mustern, das Kategorisieren und Interpretieren
dieser Funde helfen, viele Forschungsfragen zum Fremdsprachenunterricht gegenstandsan-
gemessen zu analysieren und zu beantworten.
Grundsätzlich lassen sich zwei Grundformen der qualitativen Inhaltsanalyse unterschei-
den, die deduktive und die induktive Analyse (vgl. Mayring 2008 und Kuckartz 2012: 59–63),

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5.3.4 Inhaltsanalyse 259

wobei die Differenzierung über den Zeitpunkt der Kategorienbildung und die Anbindung an
die theoretischen Grundlagen bzw. die empirischen Daten erfolgt: Im deduktiv orientierten
Ansatz wird das Datenmaterial entlang vorab systematisierter Kategorien geordnet und struk-
turiert, so dass theoretische Vorannahmen und Erklärungsmodelle an das Material heran-
getragen werden können. Im induktiv orientierten Ansatz dient erst das Datenmaterial selbst
dazu, Kategorien zu bilden, die Struktur eines Erklärungsmodells aus den systematisierten
Zusammenhängen abzuleiten und mit der Theorie vereinbar zu machen. Gerade der zweite
Ansatz zeigt eine Nähe zu den Kodiervorgängen der Grounded Theory (siehe Kapitel 5.3.3),
die ebenfalls darauf zielen, Erklärungsmodelle datengeleitet und datenbasiert zu generieren
(vgl. Kuckartz 2012: 66–8). In zahlreichen Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre finden
sich deshalb Erläuterungen zur Kategorienbildung der qualitativen Inhaltsanalyse in Zusam-
menhang mit den Kodiervorgängen der Grounded Theory (vgl. Dörnyei 2007, Friedman 2012,
Kuckartz 2012)28. Für den Kontext der fremdsprachendidaktischen Forschung sind – je nach
Forschungsgegenstand – beide Vorgehensweisen denkbar und erfolgversprechend. Kuckartz
verweist auch auf mögliche Mischformen der deduktiv-induktiven Kategorienbildung, die zu-
nächst theoriegeleitet vorgehen, dann jedoch die Vorab-Kategorien am empirischen Material
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modifizieren und ergänzen (vgl. Kuckartz 2012: 69).

2 Vorgehensweisen der qualitativen Inhaltsanalyse


Vor der Datenanalyse

Bevor wir auf das Analyseverfahren zu sprechen kommen, sind noch einige Bemerkungen zu
Datensammlung und Transkription wichtig: Analyseverfahren der qualitativen Inhaltsana-
lyse sind an kein bestimmtes Verfahren der Datensammlung gebunden (vgl. Kuckartz 2012:
76), denn hier gelten die Grundregeln des gegenstandsangemessenen und für die Beobachte-
ten transparenten Verfahrens der Sammlung. Alle Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse
arbeiten sprachbezogen, d. h. sie sind für unterschiedliche verbale Daten nutzbar, Unterrichts-
diskurse und Schülermaterialien können ebenso erfolgreich mit ihnen analysiert werden wie
Filme, fiktionale Texte oder andere Kulturprodukte (vgl. Kuckartz 2012: 76).
Die Aufbereitung der Daten folgt auf die Datensammlung im Forschungsfeld. Das ver-
wendete Transkriptionssystem sollte auf die Forschungsfragen und das Erkenntnisinteresse
abgestimmt sein. Gerade bei der Transkription von Videosequenzen können sensible Daten
wie nonverbale Aspekte der Interaktion und Kommunikation nur durch ein entsprechend
ausgerichtetes Transkriptionssystem in textuelle Elemente überführt werden (vgl. Kowal/
O’Connell 2000).

Die qualitative Inhaltsanalyse

Im deutschsprachigen Raum hat sich die qualitative Inhaltsanalyse in der Sozialwissenschaft


zu einem kodifizierten Forschungsstil entwickelt, als dessen prominenteste Vertreter Philipp
Mayring (1983, 2000, 2002, 2008) und Udo Kuckartz (1999, 2012) zu nennen sind. Viele
Forscherinnen und Forscher aus dem Bereich der Fremdsprachenforschung haben sich dieses

28 Eine Studie aus der Fremdsprachenforschung, die nach einem solchen Mischverfahren vorgeht und als
Beispiel noch vorgestellt werden wird, stammt von Ehrenreich (2004).

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260 5. Forschungsverfahren

Paradigma in einer seiner Varianten in den letzten zehn Jahren zu eigen gemacht, um ihre
Unterrichts- oder Interviewdaten zu analysieren (vgl. Burwitz-Melzer 2003, Schart 2003,
Ehrenreich 2004, Hochstetter 2011). Auch im internationalen, insbesondere im englischspra-
chigen Forschungsraum wird die qualitative Inhaltsanalyse im Kontext von second language
classroom research häufig in verschiedenen Varianten angewandt (vgl. hierzu Dörnyei 2007,
Nunan/Bailey 2009, Mackey/Gass 2012). Gemeinsam sind diesen fremdsprachendidaktischen
Forschungsarbeiten in der Regel komplexe Fragestellungen, die sich auf einen komplexen
unterrichtlichen Gegenstand beziehen und eine mehrstufige Datensammlung erfordern, die
sehr unterschiedliche Datensätze wie Unterrichtsmaterialien, Lehrwerke, Videomitschnitte
von Unterricht, Einzel- oder Gruppeninterviews etc. umfassen können. Hier kann die quali-
tative Inhaltsanalyse gegenstandsangemessen in der induktiven, der deduktiven Form oder in
einer Mischform aus beidem helfen, einzelne Datensätze zu strukturieren und zu analysieren.
Dabei steht nicht immer ein ‚Aufräumen‘ im Mittelpunkt des Forscherinteresses, sondern es
geht vor allem darum, die im Datenmaterial enthaltenen Übereinstimmungen, Widersprüche,
unterschiedlichen Perspektivierungen und Gewichtungen klar herauszuarbeiten.
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Deduktive Kategorienbildung

Ob eine theoriegeleitete, also deduktive qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt wird, hängt


in hohem Maße davon ab, wie gut das Forschungsgebiet bereits erschlossen ist. Ist der Ge-
genstandsbereich bereits gut vorstrukturiert, kann dies bei der Formulierung von Hypothe-
sen helfen. Stehen Hypothesen fest, können Forschungsfragen und eine Vorabbildung von
Kategorien noch vor der ersten Lektüre der Daten erfolgen, weil bereits feste theoretische
Bezugspunkte vorliegen (vgl. Kuckartz 2012: 59–60). Kuckartz verweist auf das besondere
Problem der Abgrenzung der Kategorien, die vorab gebildet werden; ihre Trennschärfe und
Differenziertheit sorgen für die Reliabilität der Studie. Es empfiehlt sich deshalb gerade bei
theoriegeleiteter Kategorienbildung die Reliabilität, also die Belastbarkeit und Trennschärfe
der Kategorien, durch eine Übereinstimmung zwischen den Kodierenden zu überprüfen,
falls in einer Gruppe geforscht wird. Forscher und Forscherinnen, die allein arbeiten, sollten
an dieser Stelle entweder Kollegen und Kolleginnen zu Rate ziehen oder besonders sorg-
fältig vorgehen und mehrere Korrekturschleifen einplanen, um die Qualität zu sichern (vgl.
Kuckartz 2012: 59–60). Stellt sich im Laufe der Datenlektüre und -analyse heraus, dass die
Trennschärfe und Genauigkeit der Kategorien nicht in ausreichender Form gegeben ist, kann
man durch eine Bildung neuer induktiv gewonnener Kategorien gegensteuern und die vorab
gebildeten Kategorien sinnvoll ergänzen.

Schrittfolgen der deduktiven Inhaltsanalyse

1. Fragestellung formulieren und Material festlegen;


2. Hypothesen formulieren;
3. Kategorien theoriegeleitet strukturieren;
4. Regeln für die Zuordnung/die Codierung formulieren;
5. Material schrittweise durchgehen;
6. Phänomene entlang der Kategorien überprüfen;
7. Zwischendurch überprüfen, ob die Kategorien trennscharf und ausreichend sind;

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5.3.4 Inhaltsanalyse 261

8. Ist dies der Fall, das Material vollständig codieren;


9. Ist dies nicht der Fall, neue induktive Kategorien formulieren;
10. Interpretation der Ergebnisse hinsichtlich Fragestellung und theoretischer Erkenntnis.
(vgl. hierzu auch Mayring 2000 und Kuckartz 2012)
Abbildung 1: Schrittfolgen der deduktiven Inhaltsanalyse

Induktiv ausgerichtete Kategorienbildung

Die Bildung von Kategorien am gesammelten Datenmaterial kann als vorrangiges Unter-
scheidungskriterium der induktiven Inhaltsanalyse gesehen werden. Man folgt dabei dem
„Grundgedanken, dass die Verfahrensweisen der zusammenfassenden Inhaltsanalyse genutzt
werden, um schrittweise Kategorien aus einem Material zu entwickeln“ (Mayring 2000: 472).
Es wird zunächst das Ziel der Kategorienbildung auf der Basis der Forschungsfragen definiert.
Wenn klar ist, was mit der Kategorienbildung erreicht werden soll, müssen der Grad der
Differenziertheit und der Abstraktion der zu bildenden Kategorien festgelegt werden. Dies ist
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das Grundgerüst, das bereits vor der induktiven Kategorienbildung feststehen sollte.
Dann wird mit der ersten Textstelle, die herangezogen werden soll, mit der Kategorien-
bildung begonnen, indem Zeile für Zeile direkt am Text ein Phänomen benannt wird, das mit
Stift oder auch elektronisch markiert wird (vgl. Kuckartz 2012: 63). Dabei kann es sich bei der
Markierung um einen bestimmten Begriff, einen kurzen Satz, ein Argument etc. handeln. So
wird nach und nach das gesamte Material gesichtet und strukturiert. Fällt dasselbe Phänomen
wieder auf, bekommt es dieselbe Kodemarkierung; handelt es sich um ein neues Phänomen,
wird eine neue Kategorie eingeführt. Nachdem etwa 10 bis zu maximal 50 % des Daten-
materials untersucht wurde, gilt es, das Kategoriensystem zu überprüfen. Dabei kommt es

Abbildung 2: Phasenmodell der induktiven Inhaltsanalyse, aus Mayring (2000: 472).

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262 5. Forschungsverfahren

darauf an, Kategorien hinsichtlich ihrer logischen Beziehung untereinander sowie hinsichtlich
einer etwaigen Überschneidung und Dopplung zu kontrollieren (vgl. Kuckartz 2012: 63). Im
Falle einer daraus resultierenden Veränderung des Kategoriensystems ergibt sich ein erneuter
Durchgang des Anfangsmaterials. Ansonsten folgt der am Kategoriensystem ausgerichtete
kodierende Durchgang des Gesamtmaterials.29

3 Zwei Beispiele für qualitative Inhaltsanalysen


Im Folgenden wird die Vorgehensweise der qualitativen Inhaltsanalyse an zwei Beispiel-
arbeiten dargestellt, die für die Forschung im Bereich der Fremdsprachendidaktik als gegen-
standsangemessen bezeichnet werden können. Es versteht sich von selbst, dass dies keine
erschöpfende Darstellungen sein können, denn es gibt zum einen mehr Varianten (vgl. May-
ring 2008, Kuckartz 2012), zum anderen wandeln Forscherinnen und Forscher in explorativen
Studien die Varianten häufig gegenstandsangemessen und begründet ab. Um eine solche Form
handelt es sich im ersten Beispiel, in dem die qualitative Inhaltsanalyse in Verbindung mit
Grundzügen der Grounded Theory als Mischverfahren genutzt wird. Bei der ersten Varianten
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handelt es sich um die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse, die sich auch in der For-
schungsliteratur als ein zentrales Verfahren finden lässt (vgl. Mayring 2008, Kuckartz 2012,
Schart 2003). Die beiden in diesem Kapitel vorgestellten Arbeitsbeispiele werden jeweils
nur grob umrissen und in Hinsicht auf einen Forschungsaspekt bzw. ein Analyseverfahren
untersucht, wobei die erste Studie dafür genutzt wird, die im vorangegangenen Abschnitt
vorgestellten Phasen der qualitativen Inhaltsanalyse zu konkretisieren. Bei beiden Studien
handelt es sich um sehr komplexe Arbeiten mit mehreren Forschungsfragen, die nach dem
Prinzip der mixed methods bzw. qualitativ vorgehen. Sie können hier nur mit dem Fokus auf
die jeweils gewählte qualitative Inhaltsanalyse dargestellt werden.

Kategorisierendes und sequentiell vorgehendes Mischverfahren

Susanne Ehrenreich (2004) untersucht in ihrer Studie Auslandsaufenthalt und Fremdspra-


chenlehrerbildung den Ertrag des Fremdsprachenassistenten-Jahres für Fremdsprachen-
lehrende (vgl. ebd.: 19). Als Datensätze wurden dafür teilstrukturierte Leitfadeninterviews
und Kurzfragebögen generiert (vgl. ebd.: 149–156). Die Untersuchungsgruppe setzt sich
aus zweiundzwanzig Assistenten zusammen, die durch die Kurzfragebögen vorinformiert
und ausgewählt wurden (vgl. ebd.: 159–162). Entsprechend des kategorisierenden Ansatzes
wurden die Daten unter dem Aspekt der „fallübergreifenden Theoriebildung ausgewertet“
(ebd.: 170). Mit dem sequentiell orientierten Paradigma sollte innerhalb der Studie aller-
dings auch der „Rekonstruktion der Struktur des Einzelfalles“ zugearbeitet werden (ebd.).
Im Auswertungsdesign, dem eine computergestützte Analyse der qualitativen Daten zu-

29 Sowohl für die deduktive als auch die induktive Inhaltsanalyse gilt, dass im Anschluss an die Kodierung
des Gesamtmaterials quantitative Analysen durchgeführt werden können. Eine Quantifizierung qualita-
tiver Daten (vgl. Dörnyei 2007: 269–70) wird durch die Nutzung sogenannter QDA (Qualitative Daten-
analyse Software) ermöglicht, mit der Daten, Kategoriensysteme und Kodiervorgänge zu verwalten sind.
Anhand der Datenbank können numerische Werte genutzt werden, um damit in Form von Häufigkeits-
verteilungen, Korrelationen und Antikorrelationen statistisch zu arbeiten (vgl. ebd.). Für einen Überblick
zum computergestützten Arbeiten mit qualitativen Daten siehe Kuckartz (1999, 2012: 132–164).

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5.3.4 Inhaltsanalyse 263

Abbildung 3: Beispielausschnitt des Kategoriensystems aus Ehrenreich (2004: 176)

grunde liegt, wurden insgesamt fünf Teilschritte verfolgt (vgl. ebd.: 173): Auf eine (a) ma-
terialbezogene (induktive) Kategorienbildung erfolgte die (b) „Konstruktion und Erprobung
des Kategoriensystems“ (ebd.), daran schlossen sich (c) Einzelfallanalysen, (d) „synoptische
Themenanalyse“ (ebd.) und (d) kategorisierende Analysen mit dem Ziel der Theoriebildung
an.
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Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus dem Kategoriensystem der Studie, das mit der
Software MAXQDA angelegt und verwaltet wurde. Das Programm bietet die Möglichkeit,
die Zuweisungen von Kodes und Textpassagen in einer Datenbank zu archivieren und stellt
damit auch Ansatzpunkte für quantitative Analysen, wie bspw. Häufigkeitsverteilungen und
Korrelationen, bereit. Kategorien, wie sie hier zu sehen sind, wurden im ersten Schritt aus
der Sichtung des Materials und in Bezug auf die theoretischen Grundlagen des Forschungs-
bereichs gebildet (siehe hierzu das Phasenmodell in Abb. 1). Im zweiten Schritt wurde das
angelegte Kategoriensystem auf alle Datensätze bezogen, wobei sich die entwickelte Hie-
rarchie bestätigte und lediglich „eine zusätzliche Hauptkategorie […] aus methodologischen
Erwägung“ hinzugefügt wurde (ebd.: 175). Für die letzten Schritte dienten Kategorien dann
dazu, die Einzelfälle auf das Erkenntnisinteresse zu beziehen und kontextuelle Zusammen-
hänge herauszuarbeiten, sowie die Perspektive auf Gemeinsamkeiten zu stärken, indem auf
fallübergreifende Theorieelemente fokussiert wurde. Analysiert wurden diese, indem mittels
des sogenannten text retrieval des Programms „Kombinationen von Kategorien bzw. die ent-
sprechenden Textsegmente […] sowohl textimmanent als auch textübergreifend“ miteinander
verglichen wurden (ebd.: 178). Mit diesen Schritten zeigt die Vorgehensweise der Studie starke
Anlehnung an die Kodiervorgänge der Grounded Theory.
Kodiervorgänge, die computergestützt mit MAXQDA vorgenommen werden, sind zu-
nächst Zuweisungen bzw. Ordnungsprozesse. Im Programm wird eine Struktur von Kodes,
die Kategorien repräsentieren, angelegt (siehe Abb. 2). Innerhalb dieser Struktur findet sich
ein System von Kategorien und Sub-Kategorien (Subsumtion von Kategorien, siehe Abb. 1),
ein sogenannter Kodebaum. In Abbildung 3 setzt sich dieser zum Beispiel aus der Kategorie
Kulturvergleich mit den dazugehörigen Subkategorien Gemeinsamkeiten/ kult. Unterschiede
zusammen, die wiederum differenziert werden in Themen/Konzepte und subj. Interpretation.
Genutzt wird dieses Kategoriensystem, um die textuellen Daten zu kodieren. In einem wei-
teren Fenster des Programms findet sich bspw. der Interviewtext, der mittels der Kategorien
kodiert werden kann (siehe Abb. 3). Im Programm werden zumeist Paragraphen mit Kodie-
rungen versehen. Diese stellen dann sogenannte Kodings dar und können auch mehrere Para-

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264 5. Forschungsverfahren

graphen verbinden. Konkret bedeutet dies, dass im Datenmaterial (hier der Interviewtext) ein
Phänomen erkannt werden muss, dass auf eine der etablierten Kategorien bezogen werden
kann. Das Phänomen in den Daten wird als kategorial relevant erkannt und ihm wird eine
entsprechende Kodierung zugewiesen. Diese Zuweisung stellt einen Akt der Interpretation
dar, denn der der Forschende entscheidet, welcher Kategorie das entsprechende Phänomen
zugeordnet werden soll. Die Regeln, an die sich diese Zuordnung zu halten hat, werden in
sogenannten Kodiermemos festgehalten. Dort wird definiert, unter welchen Umständen ein
Phänomen einer Kategorie zugeordnet werden kann, sprich wann Daten zu Kodings einer Ka-
tegorie werden. Das Programm fungiert dabei lediglich als Datenbank, die es ermöglicht, Ko-
des (im Sinne von Kategorien und Subkategorien) entsprechenden Kodings zuzuweisen und
diese auch über verschiedene Datensätze hinweg aufzurufen (text retrieval).
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Abbildung 4: Beispielausschnitt einer Kodierung eines Interviewtextes (Ehrenreich 2004: 177)

Kodieren bedeutet, das Datenmaterial nach themengleichen Passagen zu durchsuchen. Phä-


nomene, die in diesen Passagen enthalten sind, stellen Repräsentationen der Kategorien im
Datenmaterial dar.30 Wie diese Kategorien im System zu strukturieren sind, wird dabei durch
den Gegenstand bzw. die Fragestellung vorgegeben, dienen sie doch dazu, Muster auf dem
beforschten Feld interpretativ zu (re)konstruieren. Kodings können dabei im Grad der Abs-
traktion variieren: kodierte Phänomene können explizit auf eine Kategorie verweisen, indem
das Enthaltene eine Repräsentationsform der Kategorie darstellt, oder in ihnen ist implizit
etwas enthalten, das auf einer entsprechend höheren Abstraktionsstufe auf die Kategorie
verweist. Bei der Präsentation der Forschungsergebnisse sind diese Kodiervorgänge so nach-
zuzeichnen, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar sind. Kodings müssen daher stets in den
Kontext der zugehörigen Kategorien und Kodierregeln eingeordnet werden und der Forschen-
de legt die zugrundeliegenden Interpretationsstufen dar. Schwerpunktsetzungen innerhalb
des Kategoriensystems ergeben sich sowohl aus der theoretischen Relevanz der entsprechen-
den Kategorie für das beforschte Feld als auch aus deren Auftreten im empirischen Material.

30 Für eine ausführliche Darstellung der Wandlung von in den Daten enthaltenen Phänomenen zu Kodes
und zu Theorielementen innerhalb der Kodiervorgänge der Grounded Theory siehe Steininger (2014:
107–120).

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5.3.4 Inhaltsanalyse 265

Die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse

Die inhaltlich strukturierende Inhaltsanalyse ist aus heutiger Sicht die wohl häufigste Form
der qualitativen Inhaltsanalyse in der deutschen empirischen Fremdsprachenforschung. Sie
zielt auf eine Strukturierung und Reduktion der gesammelten Daten ab, die deduktiv oder
induktiv oder in einer Mischform aus beiden Verfahren kategorisiert werden können. Häufig
werden die Kategorien in einem mehrstufigen Verfahren erstellt, das zunächst grobe Haupt-
kategorien zum Beispiel nach den Themen eines Interviewleitfadens aufstellt, die dann in
mehreren Arbeitsschritten am Datenmaterial verfeinert und ausdifferenziert werden (vgl.
Kuckartz 2012: 77). So kann eine Themenmatrix erstellt werden, die als Grundlage für weitere
Strukturierungen dient. Als Themen können Einzelaspekte einer Fragestellung dienen, aber
auch methodische Aspekte, Aspekte einer Evaluation etc. Die letzte Kodierphase unterzieht
dann das gesamte Datenmaterial dem endgültig ausdifferenzierten Kategoriensystem. Ist die-
ser Schritt abgeschlossen, kann eine Fallmatrix erstellt werden, die Aufschluss über Differen-
zen und Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Fällen der qualitativen Untersuchung
gibt. Zusammen mit der Themenmatrix stellt die Fallmatrix eine Profilmatrix aller Daten dar,
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ist also eine Komprimierung und Reduktion der Daten auf die im Sinne der Forschungsfrage
relevanten Erkenntnisse (vgl. Kuckartz 2012: 77). Die Profilmatrix ist wichtig für die Er-
stellung einer abschließenden Betrachtung der Untersuchung; man kann sie themenorientiert
lesen, also alle Fälle miteinander vergleichen, oder fallorientiert analysieren, also einen Fall
unter Berücksichtigung der Bandbreite der Themen betrachten. Ein Beispiel aus der aktuellen
empirischen Fremdsprachenforschung soll hier zur Erläuterung dienen:
In ihrer Studie Diagnostische Kompetenzen im Englischunterricht der Grundschule unter-
sucht Johanna Hochstetter das Beobachtungsverhalten von Lehrkräften im Englischunterricht
mehrerer Grundschulen und befragt sie anschließend auch zu ihren Einstellungen zu den
benutzten Beobachtungsbögen (vgl. Hochstetter 2011). Für die zweite Forschungsfrage zu den
Einstellungen wählt die Forscherin eine leitfadengestützte teilstrukturierte Interviewform,
die durch ihre Schwerpunktsetzung bereits eine gewisse thematische Vergleichbarkeit aller
Interviews herstellt (vgl. Hochstetter 2011: 88). Hochstetter (ebda.) spricht die besondere
Eignung dieses Analyseverfahrens an, „weil die Inhaltsanalyse eine Auswertung an deduktiv
und induktiv gewonnenen Kategorien zulässt. […] So kann gezielt nach Äußerungen im Text
gesucht werden, die sich auf Einstellungen beziehen, es können aber zusätzlich induktiv
weitere Kategorien aus dem Datenmaterial gewonnen und systematisch in die Analyse ein-
bezogen werden. Der Fokus der Analyse liegt auf den Themen, die die Lehrkräfte ansprechen
und nicht auf dem Verlauf der Interviews […]“ (ebda.).
Die Studie, in der deduktiv, induktiv und mit MAXQDA unterstützt Kategorien erstellt wer­
den, gibt mit der Analyse der Interviews einen guten thematischen Überblick über die offen
angesprochenen und im Gespräch jeweils auch latent vorhandenen Einstellungen der Lehr-
kräfte, die sich auf die aktuell beobachteten Stunden, aber auch auf ganz allgemeine, nicht
direkt erfragte Überzeugungen beziehen. So tritt z. B. zutage, dass die Tendenz zu externalen
Kausalattributionen von Schülermeinungen bei den meisten Lehrkräften sehr stark ist, die
Haltung zu formativer, pädagogischer Leistungsüberprüfung aber in vielen Fällen negativ
vorherrscht, weil sie als problematisch für die Lernenden angesehen wird (vgl. Hochstetter
2011: 212–214). Erst im Vergleich der Lehrkräfte untereinander werden die einzelnen thema-

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266 5. Forschungsverfahren

tischen Aspekte in ihrer Ausdifferenziertheit fassbar. Die Studie zeigt, wie eine Themenmatrix
zu einem komplexen fremdsprachendidaktischen Kontext erarbeitet und auch nach Bedarf er-
weitert werden kann und wie die einzelnen Fälle vor diesem Hintergrund mit Unterschieden
und Übereinstimmungen wahrgenommen werden.

4 Fazit
Die qualitative Inhaltsanalyse kann als eigenständiges Verfahren gelten, das mit seiner Kodi-
fizierung eine Abfolge von Analyseschritten bereithält, die als Rahmen für Forschungsansätze
in der Fremdsprachendidaktik angesehen werden können. Bereits vor der empirischen Wen-
de in den Fremdsprachendidaktiken im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellten Lehr-
werkanalysen einen wichtigen Teil der Forschung dar. Diese waren den später entwickelten
qualitativen Inhaltsanalysen ähnlich und folgten zumeist dem deduktiven Ansatz auf der
Basis vorab definierter Kategorien (vgl. Heuer/Müller 1973 und 1975; einen Überblick zur
Erforschung von „Völkerbildern“ in Sprachlehrwerken geben Grothuesmann/Sauer 1991).
Die inhaltliche und analytische Auseinandersetzung mit Texten ist somit Grundlage für
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eine Vielzahl von qualitativen Forschungsdesigns in der Fremdsprachendidaktik. Daher sind


Aspekte wie die Arbeit mit Textsegmenten, Kodes und dazugehörigen Kategorien, die von
diesen illustriert werden, auch in Mischformen in vielen Studien präsent. Für die Fremd-
sprachendidaktik bedeutet eine kategorisierende Analyse von Texten das Herausarbeiten
von Bedeutungsstrukturen auf komplexen Feldern. Unabhängig von der Fragestellung des
Forschers oder der Forscherin müssen Kodierungen so dargestellt werden, dass sie intersub-
jektiv nachvollziehbar sind; dadurch vergrößert sich zunächst die (erklärende) Textmenge,
erst im zweiten Schritt kann mittels Kategorien Komplexität reduziert werden.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
*Burwitz-Melzer, Eva (2003). Allmähliche Annäherungen: Fiktionale Texte im interkulturellen Fremd-
sprachenunterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr.
Dörnyei, Zoltàn (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Oxford: Oxford UP.
*Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung: Das „assistant“-
Jahr als ausbildungsbiographische Phase. Berlin: Langenscheidt.
Friedman, Debra A. (2012). How to collect and analyse qualitative data. In: Mackey, Alison/ Gass,
Susan M. (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition. A Practical Guide. West Sussex:
Wiley-Blackwell, 180–200.
Grothuesmann, Heinrich/Sauer, Helmut (1991). Völkerbilder in fremdsprachenunterrichtlichen Lehr-
werken. Ein Literaturbericht. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2, 66–92.
Heuer, Helmut/Müller, Richard Matthias (Hg.) (1973). Lehrwerkkritik – ein Neuansatz. Dortmund:
Lensing.
Heuer, Helmut/Müller, Richard Matthias (Hg.) (1975). Lehrwerkkritik 2 – Landeskunde, Illustrationen,
Grammatik. Dortmund: Lensing.

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5.3.4 Inhaltsanalyse
267

kodifizierte und kodifizierende Untersuchung von Texten


quantitativ qualitativ

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statistische Analyse von interpretative Analyse der Texttiefenstruktur durch
Elementen der Textoberfläche Überführung sprachlicher Phänomene in Kodes mittels
durch: interpretative Vertiefung Abstraktion
Kategorie X
Häufigkeitsanalyse
Quantifizierung
Kode 1, Kode 2, Kode 3
Indikatorenanalyse

Text
Valenzanalyse
Intensitätsanalyse Kategorie Y
Kontingenzanalyse Kode 4, Kode 5, Kode 6
Einbettung der Elemente deduktiver induktiver
in Kommunikationsmodelle Ansatz Ansatz
und Erarbeitung der
Texttiefenstruktur mittels Kodierung der Daten Vergrößerung des
auf der Basis von Kategoriensystems
5.3.4 Inhaltsanalyse

interpretativer Verfahren bestehenden Kategorien durch Entwicklung aus


den Daten
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268 5. Forschungsverfahren

*Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine


empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Kowal, Sabine/O’Connell Daniel C. (2000). Zur Transkription von Gesprächen. In: Flick, Uwe/von Kar-
dorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Ro-
wohlt, 437–447.
Krippendorff, Klaus (2004). Content analysis. An introduction to its methodology. London: Sage Pu-
blications.
Kromrey, Helmut (2009). Empirische Sozialforschung. 12. überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart:
Lucius & Lucius.
Kuckartz, Udo (1999). Computergestützte Analyse qualitativer Daten. Eine Einführung in Methoden
und Arbeitstechniken. Wiesbaden, Opladen: Westdeutscher Verlag.
Kuckartz, Udo (2012). Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Wein-
heim: Beltz-Juventa.
Mackey, Alison/Gass, Susan M. (2012) (Hg.). Research Methods in Second Language Acquisition. A
Practical Guide. West Sussex: Wiley-Blackwell.
Mayring, Philipp (1983). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim: Beltz.
Mayring, Philipp (2000). Qualitative Inhaltsanalyse. In: Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines
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(Hg.). Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 468–475.
Mayring, Philipp (2002). Einführung in die Qualitative Sozialforschung. Weinheim: Beltz.
Mayring, Philipp (2008). Neuere Entwicklungen in der qualitativen Forschung und der Qualitativen
Inhaltsanalyse. In: Mayring, Philipp/Gläser-Zikuda, Michaela (Hg.). Die Praxis der Qualitativen
Inhaltsanalyse. Weinheim: Beltz, 7–19.
Mayring, Philipp/Brunner, Eva (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. In: Friebertshäuser, Barbara/Langer,
Antje/Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswis-
senschaft. Weinheim: Juventa, 323–333.
Nunan, David/Bailey, Kathleen (2009). Exploring Second Language Classroom Research: A Compre-
hensive Guide. Boston: Heinle.
*Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet: Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Referenzarbeit,
Kapitel 7]
Steininger, Ivo (2014). Modellierung literarischer Kompetenz. Eine qualitative Studie im Fremdsprachen-
unterricht der Sekundarstufe I. Tübingen: Narr.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Aguado, Karin (2012). Die Qualitative Inhaltsanalyse in der empirischen Fremdsprachenfor-


schung: Grenzen, Potentiale, Desiderate. In: Aguado, Kerstin/Heine, Lena/Schramm, Karen
(Hg.). Introspektive Verfahren und Qualitative Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenfor-
schung. Frankfurt: Peter Lang, 119–135.
Bei diesem Text handelt es sich um eine knappe Einführung in das Thema Qualitative Inhaltsanalyse,
die ihre zentralen Merkmale und ihr Potenzial gerade für den Fremdsprachenunterricht herausstellt.
Es werden auch kritische Meinungen aus der Sekundärliteratur vorgestellt und diskutiert. Gut ge-
eignet als Einstieg in dieses Forschungsthema.
Gläser-Zikuda, Michaela (2012). Qualitative Inhaltsanalyse in der Bildungsforschung – Beispiele
aus diversen Studien. In: Aguado, Kerstin/Heine, Lena/Schramm, Karen (Hg.). Introspektive

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5.3.5 Typenbildung 269

Verfahren und Qualitative Inhaltsanalyse in der Fremdsprachenforschung. Frankfurt: Peter


Lang, 136–159.
Dieser Artikel ist als kurzer Informationseinstieg in ein anspruchsvolles Forschungsthema durchaus
geeignet. Die Autorin geht auch auf Mischformen aus qualitativer und quantitativer Inhaltsanalyse
ein und liefert anschauliche Beispiele aus Studien im Kontext der Bildungsforschung.
Neuendorf, Kimberly A. (2002). Content Analysis Guidebook. London: Sage Publications.
Dieses Werk wird zur eingehenden Vertiefung empfohlen, denn es stellt umfassend und ausführlich
verschiedene Kontexte und Verfahrensweisen der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse vor.
Die Autorin wendet sich an fortgeschrittene Studierende der Kommunkationswissenschaften, der
Psychologie und Sozialwissenschaften, das Buch ist also nicht primär auf den Fremdsprachenunter-
richt ausgerichtet. Mit seiner gründlichen Einführung, kurzen historischen Darstellung und zahl-
reichen Arbeitsbeispielen kann es aber wertvolle Anregungen geben, wie man die Inhaltsanalyse in
verschiedenen Berufs- und Lebenswelten zur Forschung nutzen kann.

5.3.5 Typenbildung
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Michael Schart

1 Begriffsklärung
Menschen ordnen die Erfahrungen, die sie mit und in ihrer Lebenswelt gewinnen, nach
charakteristischen, wiederkehrenden Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern (Schütz 1993).
Diese „anthropologische Basistechnik“ (Kuckartz 2010: 554) macht sich auch die Wissenschaft
zunutze, wenn sie soziale Phänomene mit Blick auf das Typische untersucht. Insbesondere
im Umfeld der qualitativen Sozialforschung sind Verweise auf typische Handlungen, Denk-
muster oder soziale Konstellationen weit verbreitet. Hierbei handelt es sich jedoch zumeist
um Beschreibungen, die auf einer alltäglichen Deutung des Begriffes Typ beruhen. Bohnsack
(2010: 48) bezeichnet sie daher auch als „Typenbildungen des Common Sense“.
Ein wissenschaftliches Verständnis des Begriffes hingegen muss auf ein methodisch kon-
trolliertes Vorgehen rekurrieren. Mit einer solchen systematischen Bildung von Typen, die
sich auf der Grundlage der Analyse von empirischen Daten vollzieht, beschäftigt sich dieses
Kapitel.
Sowohl in der quantitativen als auch in der qualitativen Sozialforschung gilt die Kon-
struktion von Typologien als ein effektives Verfahren, um umfangreiches Datenmaterial zu
reduzieren, zu verdichten und schließlich in eine übersichtliche Ordnung zu bringen. Die
Zielsetzung besteht darin, im untersuchten Gegenstandsbereich Strukturen und Zusammen-
hänge zu identifizieren und diese dann als unterschiedliche Typen zu interpretieren. In der
quantitativen Forschung kommen in diesem Prozess explorative statistische Verfahren wie
beispielsweise Clusteranalysen zum Einsatz, mit denen in den Daten typische Muster bzw.
Korrelationen zwischen Merkmalsträgern oder Merkmalsausprägungen aufgedeckt werden
können (vgl. Tippelt 2010: 119).
Auch in der qualitativen Sozialforschung, die im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung
stehen wird, bezieht sich der Begriff der Typenbildung im Kern auf eine Methode der Daten-

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270 5. Forschungsverfahren

analyse, mit der ein komplexes soziales Phänomen einer Deutung zugänglich gemacht wer-
den soll (s. auch Kapitel 5.3.4). In einem konkreten Forschungsdesign können typenbildende
Verfahren in unterschiedlichen Funktionen eingesetzt werden. „Der Anspruch reicht von
der Beschreibung und deskriptiven Gliederung eines Untersuchungsfeldes bis hin zur Hy-
pothesengenerierung bzw. Theorieentwicklung auf der Grundlage eher induktiver oder aber
abduktiver Prozesse“ (Nentwig-Gesemann 2013: 300).
Seit Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Überlegungen zu einer verstehen-
den Soziologie mithilfe von idealtypischen Konstruktionen ausformulierte (z. B. Weber 1988
[1922]: 190–214), wurden gerade in der deutschsprachigen empirischen Sozialforschung eine
ganze Reihe typenbildender Verfahren entwickelt (siehe z. B. Kuckartz 2012; Kelle/Kluge
2010; Nohl 2013). Diese grenzen sich zwar in Einzelaspekten deutlich voneinander ab, ver-
folgen jedoch die gemeinsame, grundlegende Strategie, das gesamte Datenmaterial in eine
klassifikatorische Ordnung zu bringen, um dann vor dieser Folie das soziale Phänomen zu
beschreiben und zu erklären.
Im Prozess der Typenbildung werden einzelne Daten aus den untersuchten Fällen zu neuen
Einheiten zusammengesetzt. Die so entstandenen Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass
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die in ihnen versammelten Elemente eine möglichst hohe Ähnlichkeit aufweisen (interne
Homogenität), während verschiedene Gruppen untereinander durch möglichst deutliche Kon-
traste gekennzeichnet sind (externe Heterogenität) (Kelle/Kluge 2010: 85-86).
Die interne Homogenität eines einzelnen Typus bzw. die externe Heterogenität zwischen
den verschiedenen Typen in einer Typologie ergeben sich durch je spezifische Konstellationen
von Merkmalen. Somit besteht ein wichtiger Schritt der Analyse bei der Typenbildung darin,
relevante Merkmale zu benennen und zu begründen, anhand derer die zu gruppierenden
Elemente verglichen und kontrastiert werden können.
Mit Bildung von Typologien ist der Anspruch verbunden, die enge Bindung an das Sin-
guläre der einzelnen Fälle zu überwinden und empirisch begründete, fallübergreifende Aus-
sagen über einen Gegenstandsbereich zu treffen. Hieraus leitet sich eine besondere Stellung
dieses Ansatzes innerhalb der qualitativen Sozialforschung ab, denn typenbildende Verfahren
schlagen eine Brücke zwischen detaillierten Einzelfallanalysen, wie sie etwa in ethnogra-
fischen Ansätzen praktiziert werden, und Vorgehensweisen, die – beispielsweise im Sinne
der Grounded Theory – auf die Formulierung von Theorien abzielen (vgl. Kuckartz 2010:
555). Der Begriff der Typenbildung lässt sich daher nicht auf eine Analysetechnik reduzieren,
sondern er ist zugleich auch mit methodologischen und methodischen Implikationen ver-
bunden, die den gesamten Forschungsprozess betreffen. Die folgenden Abschnitte werden
diese Zusammenhänge eingehender thematisieren.
Angesichts der Vielzahl von Ansätzen kann es in diesem Beitrag nicht darum gehen, einen
detaillierten Leitfaden für den Ablauf der Typenbildung vorzustellen (siehe dazu z. B. Kelle/
Kluge 2010). Stattdessen sollen deren grundlegende Prinzipien aufgezeigt und einige zentrale
Kontroversen nachgezeichnet werden.
In der empirischen Fremdsprachenforschung spielen typenbildende Verfahren bislang eher
eine untergeordnete Rolle. Gleichwohl können sie – und das soll im Folgenden an einigen
Studien verdeutlicht werden – auch bei der Erforschung fremdsprachlicher Lehr- und Lern-
prozesse erkenntnisreiche Perspektiven eröffnen. So bietet sich ihr Einsatz bei qualitativen
Untersuchungsdesigns immer dann an, wenn im Anschluss an Beschreibungen von Einzel-

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5.3.5 Typenbildung 271

fällen die Datenanalyse zu generalisierenden Aussagen über das erforschte Phänomen zu-
sammengeführt geführt werden soll (wie z. B. über das didaktische Konzept „Projektunter-
richt“ in Schart 2003). Die Studien von Haudeck (2008) und Roche (2006) demonstrieren,
wie die Typenbildung genutzt werden kann, um verschiedene Verhaltensweisen in Gruppen
von Lernenden (z. B. Lernstrategien, Lerntechniken oder Lernstile,) zu identifizieren und zu
beschreiben. Und Roters (2012) Studie zur Reflexionskompetenz von Studierenden in der
Lehrerausbildung zeigt, dass sich aus Typisierungen Hinweise für die konkrete Gestaltung
von Bildungsprogrammen ableiten lassen.

2 Merkmalsräume als Grundlage der Typenbildung


Typologien beruhen immer auf der Konstruktion eines Merkmalsraums, wie ihn die Ab-
bildungen 1 und 2 schematisch darstellen. Dieser muss zwar nicht zwingend in dieser Form
einer Kreuztabelle veranschaulicht werden, aber solche Visualisierungen erleichtern es For-
schenden zum einen, den Auswertungsprozess zu strukturieren – vor allem wenn der be-
treffende Merkmalsraum mehr als zwei Dimensionen umfasst. Zum anderen stellen sie eine
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sinnvolle Möglichkeit dar, die Grundlagen und Ergebnisse einer Typenbildung anschaulich
zu präsentieren.
Bei den Abbildungen 1 und 2 wird dieser Merkmalsraum von nur zwei Dimensionen
gebildet, d. h. die beiden Merkmale (auch: Kategorien oder Variablen) Form und Färbung
lassen jeweils nur zwei Merkmalsausprägungen (auch: Subkategorien) zu, anhand derer die
einzelnen Elemente der Systematik zugeordnet werden können. Dieses Prinzip wird sowohl
bei quantitativen als auch bei qualitativen Analyseprozessen angewendet.
Die Vier-Felder-Matrix von Abbildung 1 zeigt eine Typologie, bei der sich alle gebildeten
Typen trennscharf voneinander unterscheiden lassen. Zugleich weisen diese Typen auch in-
tern keine Varianzen auf. Solche Typologien sind bei sozialen Phänomenen nur dann zu
erwarten, wenn man relativ eindeutige Kategorien wählt (z. B. Geschlecht, Muttersprache

Abbildung 1: Zweidimensionaler Merkmalsraum, Abbildung 2: Zweidimensionaler Merkmalsraum,


Typologie mit merkmalshomogenen Typen Typologie mit merkmalsheterogenen Typen

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272 5. Forschungsverfahren

u. ä.) oder den Vergleich auf quantifizierbare Variablen reduziert (z. B. erreichte Punktzahl in
einem Test, Anzahl besuchter Unterrichtsstunden u. ä.). Auf diese Weise entstehen merkmals-
homogene (auch: monothetische) Typen, wie sie sich in Abbildung 1 finden.31
Dagegen münden typenbildende Verfahren, die auf das Erfassen komplexerer Strukturen
und Zusammenhänge abzielen, eher in merkmalsheterogenen (auch: polythetischen) Typen,
wie sie in Abbildung 2 dargestellt werden. Hier sind – im Unterschied zu den vier merk-
malshomogenen Typen aus Abbildung 1 – die einzelnen Elemente innerhalb einer Gruppe
keineswegs identisch. Sie werden vielmehr aufgrund deutlicher Ähnlichkeiten zum gleichen
Typ gezählt. Tritt dabei der Fall ein, dass einzelne Elemente der idealen Ausprägung der ver-
glichenen Merkmale sehr nahe kommen, können diese als Optimalfall (oder auch Prototypen)
ihrer jeweiligen Gruppe gelten. Sie repräsentieren dann ihren Typ, ohne jedoch mit ihm
identisch zu sein (vgl. Nentwig-Gesemann 2013: 301; Kelle/Kluge 2010: 105).
Durch den Vergleich der Abbildungen 1 und 2 lässt sich erkennen, dass die Zusammen-
fassung von Elementen zu Typen anhand von unterschiedlichen Merkmalsausprägungen in
der qualitativen Forschung keine Aufgabe darstellt, die ausschließlich formalisiert erfolgen
kann. Notwendig ist vielmehr die eingehende Interpretationsleistung der Forschenden. Ein
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sehr anschauliches Beispiel dafür bietet die Arbeit von Roche (2006), in der beschrieben wird,
wie der Analyseprozess mehrere Interpretationsschleifen von der Typologie zu den Daten (in
diesem Fall Einträge in Lernerjournalen) und wieder zurück durchläuft.
Auf dem Weg von den Einzelfällen zu einer Typologie müssen eine Reihe von metho-
dischen und methodologischen Entscheidungen getroffen werden, die im Folgenden anhand
von drei zentralen Fragen der Typenbildung umrissen werden.

3 Zentrale Fragen der Typenbildung


Woher kommen die Vergleichsdimensionen?

Im vorangegangen Abschnitt wurde betont, dass die Definition eines Merkmalsraums die
Grundlage für den Vergleich darstellt. Damit ist jedoch noch nicht die für den Forschungs-
prozess maßgebliche Frage beantwortet, woher die Merkmale oder Kategorien stammen,
anhand derer Daten verglichen werden können. Die verschiedenen Varianten typenbildender
Verfahren finden darauf sehr unterschiedliche Antworten. So werden in einigen Ansätzen
die Merkmale bereits vor dem Beginn des Vergleichs definiert, indem man sie beispielsweise
direkt aus einer Theorie oder der Forschungsfrage ableitet (siehe z. B. die „typenbildende
Inhaltsanalyse“ bei Kuckartz 2012: 115–131; s. Kapitel 5.3.4). Dabei bleibt zunächst unbe-
achtet, ob sich die einzelnen Merkmalskombinationen anhand konkreter Fälle auch tatsächlich
empirisch nachweisen lassen. Diese Herangehensweise kann dazu führen, dass so genann-
te künstliche Typologien entstehen, in denen einzelne Felder des Merkmalsraums im Ver-
lauf des Typisierungsprozesses unbesetzt bleiben. Aber auch dieses Ergebnis stellt natürlich

31 Eine andere Möglichkeit, solche „reinen Typen“ hervorzubringen, geht auf Max Webers Konstruktion von
Idealtypen zurück. Bei deren Bildung werden einzelne Merkmalsausprägungen gedanklich überhöht, an-
dere dagegen ausgeblendet, so dass man „theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des
Empirischen“ erhält (Weber 1988 [1922]: 205). Im Unterschied zu den in den Abbildungen 1 und 2 dar-
gestellten Realtypen besteht bei solchen Idealtypen nur noch bedingt ein Zusammenhang mit empirischen
Daten bzw. realen Fällen.

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5.3.5 Typenbildung 273

einen Erkenntnisgewinn über das beforschte Phänomen dar. Denn Felder, die nicht gefüllt
werden können, stehen dann für einen Typ, der zwar logisch plausibel erscheint, sich aber
in den Daten nicht nachweisen lässt (vgl. Lofland et al. 2006: 148). So stößt beispielsweise
Roche (2006) bei seinem Versuch, eine zunächst auf der Basis theoretischer Überlegungen zu
Lernstilen konstruierte Typologie mit konkreten Lernerdaten zu füllen, mehrfach auf diese
Schwierigkeit.
Bei einer anderen Herangehensweise an die Typenbildung wird die Vorabauswahl von Ver-
gleichsdimensionen dagegen grundsätzlich abgelehnt. Ausgangspunkt für die Konstruktion
eines Merkmalsraums bilden in diesem Fall zunächst immer nur die Daten selbst, weshalb
man auf diesem Weg zu sogenannten natürlichen Typologien kommt. Ein Beispiel dafür
stellt die dokumentarische Methode dar, deren Vertreterinnen und Vertreter ihr Vorgehen
auch als praxeologische Typenbildung bezeichnen, weil es sich an „der impliziten Logik der
erforschten Praxis“ (Nohl 2013: 38) orientiert. Es wird eine „abduktive Erkenntishaltung“
(Nentwig-Gesemann 2013: 307) angestrebt, um Hypothesen über das Untersuchungs-
feld allein aus dem empirischen Material heraus mit Hilfe abduktiver Schlüsse zu gewin-
nen.
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Die Entscheidung über die Vergleichsdimensionen des Merkmalsraums ist also mit grund-
sätzlichen methodologischen Überlegungen verknüpft. Es geht zum einen um die Frage,
inwieweit Forschende ihr Vorwissen (in Form von Theoriewissen, eigenen Erfahrungen mit
dem zu erforschenden Phänomen etc.) im Forschungsprozess ausblenden oder sich von die-
sem distanzieren können. Zum anderen wird diskutiert, ob die Generierung von neuartigen
Typologien im Sinne eines explorativen Vorgehens überhaupt möglich sei, wenn man die Ver-
gleichsdimensionen bereits vorab festlege und damit die einzelnen Elemente theoriegeleitet
zu Typen anordne (siehe z. B. die Kritik bei Bohnsack 2010: 487 an einem theoriegeleiteten
Vorgehen).
Eine vermittelnde Position nehmen Kelle/Kluge (2010: 18–27) ein. Sie bezeichnen die
Annahme, dass Kategorien und Konzepte gleichsam aus dem Datenmaterial emergieren
könnten, als „induktivistisches Selbstmissverständnis“ der qualitativen Methodenlehre. Der
kreative und spielerische Umgang mit den Daten, wie er für induktive oder abduktive Vor-
gehensweisen typisch ist, sei für das Generieren von Typologien zwar notwendig, aber zu-
gleich auch riskant und vage. Wissenschaftliches Wissen, so die Argumentation bei Kelle/
Kluge, entstehe immer aus der Kombination von bereits Bekanntem und Neuem. Sie sprechen
sich daher für eine beständige Integration von empirischen und theoretischen Arbeitsschritten
aus, wobei das Vorwissen der Forschenden einfließen sollte. Entscheidend sei dabei, dass sich
Forschende auf abstrakte Konzepte bzw. empirisch gehaltlose Kategorien32 beschränkten.
Nur diese könnten als „theoretische Heuristiken“ bei der Typenbildung dienen, weil sie den
Blick auf das Neue in den Daten nicht verstellten (Kelle/Kluge 2010: 63). Während also die
Kategorien in diesem vermittelnden Ansatz theoriegeleitet formuliert werden, entstehen die
Subkategorien des Merkmalsraums in der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial.

32 Kelle/Kluge (2010: 63) nennen als Beispiel das Konzept „Rollenerwartung“, das noch keine konkreten
Aussagen darüber enthalte, wie sich die Rollenerwartungen in einem zu untersuchenden Feld gestalten.
Die Wahrnehmung der Forschenden bei der Analyse werde somit zwar gelenkt, aber der empirische Ge-
halt entstehe erst durch die intensive Beschäftigung mit den Daten.

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274 5. Forschungsverfahren

Dieses Vorgehen lässt sich beispielshaft an der Studie von Haudeck (2008) nachvollziehen.
Am Beginn ihrer Untersuchung zu Lernstrategien und Lerntechniken beim Vokabellernen
formuliert Haudeck aufgrund theoretischer Prämissen Oberkategorien, anhand derer sie die
Lernerdaten (Einträge in Lerntagebüchern) zunächst grob systematisiert. Die eigentliche Ty-
pologie nimmt indes erst durch die induktiv aus dem Datenmaterial gewonnenen Kategorien
ihre Gestalt an. Und auch bei Haudeck finden sich die oben erwähnten Rücküberprüfungen
zwischen Kategorien und Texten, um die Zuordnung abzusichern.
Roters (2012) orientiert sich in ihrer vergleichenden Studie zur Reflexionsfähigkeit von
angehenden Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrern in Deutschland und den USA eben-
falls an dem von Kelle/Kluge (2010) beschriebenen Modell. Sie entwickelt einen Merkmals-
raum für die Typisierung von studentischen Reflexionen, indem sie zunächst Daten aus den
beiden Ländern getrennt analysiert. Dabei fließen theoretisches Vorwissen ebenso ein wie
Dokumentenanalysen und Experteninterviews. Durch die Gegenüberstellung der länder-
spezifischen Analyse kommt Roters zu einer sechsstufige Typologie, anhand der sie ver-
schiedene Reflexionsniveaus von Novizen charakterisieren und hochschuldidaktische Emp-
fehlungen für ein reflexives Professionalisierungskonzept in der Lehrerbildung formulieren
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kann.
Zusammenfasend lässt sich sagen, dass eine Antwort auf die Eingangsfrage dieses Ab-
schnitts, die keine Variante der Typenbildung ausgrenzt, unspezifisch ausfallen muss: Die
einzelnen Vergleichsdimensionen des Merkmalsraums können offensichtlich auf dem Vorwis-
sen der Forschenden beruhen oder ebenso erst im Prozess der Datenauswertung entstehen.
Sie lassen sich von der Forschungsfrage ableiten oder können vom Forschungsinstrument –
etwa den Fragen eines Interviewleitfadens – beeinflusst sein. Welches Vorgehen bevorzugt
wird, hängt letztlich vom untersuchten Gegenstand und den Forschungsfragen ab. Für die
wissenschaftliche Qualität einer Typologie indes ist ausschlaggebend, ob die Konstruktion
des Merkmalsraums eingehend reflektiert, nachvollziehbar dargestellt und begründet wird.

Was wird typisiert?

Am Beginn einer Typenbildung sollte nicht nur Gewissheit darüber bestehen, wie man zu den
Kategorien gelangt, anhand derer die empirischen Daten verglichen werden. Ebenso wichtig
ist es, eine Vorstellung davon zu besitzen, worauf sich dieser Vergleich konkret beziehen soll.
Traditionell wird von einer Parallelität zwischen Fällen und typisierten Elementen ausgegan-
gen. Die Individuen werden bei der Datenerhebung (etwa durch Interviews, Beobachtung
u. ä.) als einzelne Fälle behandelt und dann auch in dieser Form typisiert. Sowohl Haudeck
(2008) als auch Roche (2006) wählen in ihren Studien diesen Weg. Lernstrategien, Lerntech-
niken oder Lernstile bleiben somit eng mit den Lernenden verknüpft, auf deren Daten die
Bildung der Typologie beruht. Ebenso ist dies der Fall bei Roters (2012), die ihre Typisierung
von Reflexionsniveaus auf einzelne Studierende bezieht.
Für viele Forschungsinteressen erscheint es aber weitaus sinnvoller zu sein, eine größere
Gruppe von Individuen als Einzelfall zu betrachten, etwa wenn die Lernatmosphäre in un-
terschiedlichen Klassen untersucht werden soll und deshalb u. a. Gruppendiskussionen als
Forschungsinstrument zum Einsatz kommen. Die Typenbildung kann auch derart konzipiert
werden, dass sie sich auf Ereignisse und Situationen konzentriert oder unterschiedliche Denk-

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5.3.5 Typenbildung 275

figuren und Handlungsmuster innerhalb eines sozialen Kontextes ins Zentrum der Analyse
rückt. In all diesen Beispielen können zwar Daten von einzelnen Personen die Datengrund-
lage schaffen, doch im Verlauf des Analyseprozesses ergibt sich eine immer größere Distanz
zwischen den ursprünglichen Einzelfällen und den typisierten Elementen.
Ein Beispiel für diesen Ansatz liefert die Studie von Schart (2003), die sich subjektiven
Unterrichtstheorien von DaF-Lehrenden widmet. Auch in dieser Arbeit werden nicht die be-
fragten Individuen selbst typisiert, sondern die Argumentationslinien, denen die Lehrenden
folgen, wenn sie ihre Sicht des Projektunterrichts beschreiben. Ebenso lässt sich in diesem
Zusammenhang die Studie von Ertelt-Vieth (2005) anführen. Die Autorin bezieht sich zwar
nicht explizit auf die Typenbildung, ihr Prozess der Datenanalyse weist jedoch deutliche Ähn-
lichkeiten mit dem hier beschriebenen Vorgehen auf. Bei ihrer Untersuchung von deutsch-
russischem Schüleraustausch richtet Ertelt-Vieth ihr Augenmerk auf Elemente, die das gegen-
seitige Verständnis erschweren (sogenannte Lakunen) und typisiert diese nach einer Reihe
von Kriterien. Sie kommt dadurch zu verschiedenen Typen von Lakunen, die nicht mehr fest
mit den untersuchten Einzelfällen verknüpft sind.
Bei einer solchen weiten Definition der zu typisierenden Elemente, ist es unvermeidlich,
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dass die Daten einzelner Fälle verschiedenen Typen zugeordnet werden. Man erhält multi-
dimensionale Typologien. Deren Überschneidungen sind jedoch nur dann bedenklich, wenn
sich am Ende ein Großteil der Fälle in vielen Typen wiederfindet. Dann stellt sich zwangsläu-
fig die Frage nach dem Sinn der Typisierung (vgl. Richards 2009: 182). Ein großer Vorteil der
Trennung von Einzelfall und typisierten Elementen liegt darin, dass sich neue Möglichkeiten
der Datenanalyse ergeben. Es lassen sich beispielsweise systematisch und empirisch begrün-
det Modellfälle oder Modelltypen entwickeln, die eine neue Perspektive auf das betreffende
soziale Phänomen erschließen. So verdeutlicht Schart (2003: 212) die extremen Gegensätze
zwischen den typischen Argumentationslinien in seiner Studie, indem er auf der Grundlage
seiner Daten einen fiktiven Dialog zwischen zwei hypothetischen Lehrenden konstruiert
(siehe dazu auch Kuckartz 2012: 130).
Auch wenn in einem konkreten Forschungsprojekt das Verhältnis zwischen den Einzel-
fällen und den Elementen der Typisierung sehr unterschiedlich gehandhabt werden kann, ist
für alle Ansätze der Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung jedoch charakteristisch,
dass ein genaues Verständnis der Einzelfälle als zwingend erforderlich betrachtet wird. Hierin
unterscheidet sich die Typenbildung von Analyseverfahren wie etwa der Grounded Theory,
bei der einzelne Fälle im Verlauf des Forschungsprozesses nur eine untergeordnete Rolle spie-
len (vgl. Nohl 2013: 29f). Bleiben die einzelnen Fälle als Ausgangspunkt der Typenbildung
unverstanden, so geben Lofland et al. (2006: 149) zu bedenken, könne das gesamte Verfahren
leicht in einer sterilen Übung enden. Die Typenbildung darf also nicht als ein Ersatz für die
Interpretation der Einzelfälle missverstanden werden. Sie kann nur funktionieren, wenn sich
Forschende zugleich auch um ein tiefes Verständnis der einzelnen Fälle bemühen.
Ein letzter Aspekt, der mit Blick auf das Verhältnis von Fall und Typus erwähnt werden
muss, betrifft die Verteilung der Fälle bzw. Elemente in einer Typologie. Kommt es zu einer
Typologie, in der viele typisierte Elemente mehrfach vertreten sind, muss deren Erklärungs-
kraft bezweifelt werden. Auch die entgegengesetzte Tendenz erscheint problematisch, denn
können viele Elemente gar nicht erst typisiert werden, sind die Vergleichsdimensionen dem
empirischen Material nicht angemessen gewählt (vgl. Lofland et al. 2006: 149).

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276 5. Forschungsverfahren

Wann beginnt und wann endet die Typenbildung im Forschungsprozess?

Die bis hierhin geschilderten Prinzipien und Kontroversen vermitteln eine Vorstellung davon,
weshalb die Typenbildung mehr darstellt als eine reine Technik der Datenanalyse. Die Ent-
scheidung für dieses Verfahren kann sich – je nach gewähltem Ansatz – auf den gesamten For-
schungsprozess auswirken. Daher fällt es auch sehr schwer, eine befriedigende Antwort auf
die Frage zu finden, die diesem Abschnitt voransteht. Tendenziell erscheint es für quantitative
Untersuchungen eher unproblematisch zu sein, den Beginn der Typenbildung erst relativ spät
im Forschungsprozess einsetzen zu lassen. So können auch bereits erhobene und analysierte
Daten nachträglich einem explorativen Verfahren wie der Clusteranalyse unterzogen werden,
um sie nach typischen Mustern zu befragen. Für die qualitative Forschung hingegen ist ein
solches Vorgehen eher selten realisierbar. Hier beginnt die Typenbildung, wie Kelle/Kluge
(2010) überzeugend darstellen, bereits bei der Auswahl der Einzelfälle (s. Kapitel 4.3 Sam-
pling), deren Zusammensetzung das Ergebnis der Typisierung entscheidend beeinflusst.
Selbst wenn man sich auf den zentralen Bereich der Typenbildung konzentriert, also nur
den Vergleich und die Gruppierung der Daten sowie die Formulierung der Typen betrachtet,
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findet man keine klare Antwort darauf, an welchem Punkt die Typenbildung einsetzen soll-
te. Kuckartz (2012) beispielsweise betont, dass die eingehende Analyse der Einzelfälle eine
grundlegende Voraussetzung dafür darstelle, um mit dem Vergleich beginnen zu können.
Dem steht, wie bereits weiter oben erwähnt, die Dokumentarische Methode mit ihrer Strate-
gie entgegen, die Rekonstruktion der Einzelfälle und deren Vergleich parallel zu vollziehen.
Diese Praxis beruht auf der Idee, dass die Besonderheiten der Einzelfälle gerade durch die
kontinuierliche, gegenseitige Kontrastierung hervortreten. Zugleich ist mit dieser Heran-
gehensweise die Hoffnung verbunden, der Befangenheit, in der sich die Forschenden durch
ihr Vorwissen und ihre Erwartungen befinden, die Wirkungskraft zu nehmen. Der Vergleich
als eine „durchgängige Analysehaltung“ (Nohl 2013: 15) erfüllt somit nicht nur eine erkennt-
nisgenerierende, sondern auch eine erkenntniskontrollierende Funktion.
Die konkrete Ausgestaltung des Vergleichs bei der Typenbildung ergibt sich jedoch nicht
nur aus solchen methodologischen Überlegungen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen
auch die technischen Arbeitsmittel, die Forschenden zur Verfügung stehen. Seit den 1990er
Jahren wachsen mit zunehmend umfangreicheren und leistungsfähigeren Computerpro-
grammen auch die Möglichkeiten der Datenanalyse. Diese Entwicklung verlieh gerade der
Typenbildung eine besondere Dynamik, denn hierdurch ergaben sich die notwendigen Mittel
und Wege, diese „wirklich transparent, methodisch kontrolliert und intersubjektiv nachvoll-
ziehbar“ (Kuckartz 2012: 153) zu gestalten. Ein relativ frühes Einsetzen von Quervergleichen
zwischen den Einzelfällen stellt daher aus technischer Sicht inzwischen kein Problem mehr
dar, weil QDA-Software ein kontinuierliches Springen von den kodierten Elementen zu den
Kontexten erlaubt, denen sie entstammen.
Bleibt schließlich die Frage, wann genau die Typenbildung ihren Abschluss findet. Einig
sind sich die verschiedenen Ansätze darin, dass es mit Blick auf die wissenschaftliche Qua-
lität einer Studie nicht ausreicht, diese in der Beschreibung eine Typologie enden zu lassen.
Die Darstellung von empirischen Regelmäßigkeiten bei einem sozialen Phänomen markiert
zwar einen wichtigen Zwischenschritt, ihr muss jedoch zwingend die Erklärung dieser Zu-
sammenhänge folgen. Denn der gesamte Prozess beruht letztlich auf dem Anspruch, über das

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5.3.5 Typenbildung 277

5.3.5 Typenbildung
Beschreibung und Gliederung eines Untersuchungsfeldes,
Hypothesengenerierung bzw. Theorieentwicklung

Daten / Fälle
Leitfrage: Welche Zusammenhänge und Muster
lassen sich beschreiben?
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Vergleichsdimensionen festlegen
Merkmalsraum konstruieren
Einzelfälle und Daten zuordnen

Quelle der Vergleichsdimension


Gegenstand des Vergleichs
Verhältnis zur Einzelfallanalyse
Ergebnisse/Endpunkt der Typenbildung

Typologie
Daten in klassifikatorischer Ordnung

Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4

interne Homogenität und externe Heterogenität


der gebildeten Typen

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278 5. Forschungsverfahren

Typische zu einer Generalisierung zu gelangen und mit den Typologien zur Theorieentwick-
lung beizutragen. Das kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Im Umfeld der
Dokumentarischen Methode beispielsweise wird ein zweistufiges Verfahren gewählt, um die
Erkenntnisse über den untersuchten Kontext zu verallgemeinern. Der sinngenetischen, eng
an den Daten orientierten Typenbildung folgt eine soziogenetische Typenbildung, bei der als
Vergleichsdimensionen soziologische und soziodemografische Kategorien wie Milieu oder
Geschlecht hinzugezogen werden (vgl. Nentwig-Gesemann 2013). Dass ein solcher Blick-
winkel auf die Daten auch in der Fremdsprachenforschung zu interessanten Einsichten führen
kann, lässt sich beispielsweise an der Studie von Schart (2003) verfolgen. Deren Analyse ver-
deutlicht, wie das didaktische Denken von Lehrenden im Bereich Deutsch als Fremdsprache
von den unterschiedlichen Studienabschlüssen der Befragten geprägt ist.
Ein anderes mögliches Vorgehen stellt Kuckartz (2012) dar. Er plädiert dafür, die auf quali-
tativer Datenanalyse beruhende Typologie in ein quantifizierendes Verfahren zu überführen.
Welchen Weg Forschende auch wählen: Als Ergebnis der Typenbildung sollten sie ver-
deutlichen, weshalb es sinnvoll erscheint, das betreffende soziale Phänomen gerade in dieser
Weise zu interpretieren. Sie müssen sich und auch den Rezipienten ihrer Studie Klarheit
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darüber verschaffen, was eigentlich das Neuartige an ihren Typen darstellt und in wie fern
die konstruierte Typologie als heuristisches Instrument auch in anderen sozialen Kontexten
Anwendung finden kann (vgl. Kuckartz 2010: 565; Richards 2009: 182).

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Bohnsack, Ralf (2010). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 8., durch-
ges. Aufl. Opladen: Budrich.
Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arndt-Michael (2013) (Hg.). Die dokumentarische Me-
thode und ihre Forschungspraxis. 3., aktualisierte Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
*Ertelt-Vieth, Astrid (2005). Interkulturelle Kommunikation und kultureller Wandel: eine empirische
Studie zum russisch-deutschen Schüleraustausch. Tübingen: Narr.
*Haudeck, Helga (2008). Fremdsprachliche Wortschatzarbeit außerhalb des Klassenzimmers. Eine qua-
litative Studie zu Lernstrategien und Lerntechniken in den Klassenstufen 5 und 8. Tübingen: Narr.
Kelle, Udo/Kluge, Susann (2010). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der
qualitativen Sozialforschung. 2., überarbeitete Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Kuckartz, Udo (2010). Typenbildung. In: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.). Handbuch qualitative For-
schung in der Psychologie. Wiesbaden: VS Verlag, 553–568.
Kuckartz, Udo (2012). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Wein-
heim: Beltz Juventa.
Lofland, John/Snow, David/Anderson, Leon/Lofland, Lyn H. (2006). Analysing Social Settings. A Guide
to Qualitative Observation and Analysis. 4th edition. Belmont: Wadsworth.
Nentwig-Gesemann, Iris (2013). Die Typenbildung in der dokumentarischen Methode. In: Bohnsack,
Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arndt-Michael (Hg.). Die dokumentarische Methode und ihre
Forschungspraxis. 3., aktualisierte Aufl. Wiesbaden: Springer VS, 297–322.

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5.3.5 Typenbildung 279

Nohl, Arnd-Michael (2013). Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der Doku-
mentarischen Methode. Wiesbaden: Springer VS.
Richards, Lyn (2009). Handling qualitative data. A practical guide. 2nd ed. London: SAGE.
*Roche, Thomas (2006). Investigating Learning Style in the Foreign Language Classroom. Berlin: Lan-
genscheidt.
*Roters, Bianca (2012). Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung: Eine empirische
Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität. Münster: Waxmann.
*Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Hohengehren: Schneider. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
Schütz, Alfred (1993). Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende
Soziologie. 6. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Tippelt, Rudolf (2010). Idealtypen konstruieren und Realtypen verstehen – Merkmale der Typenbildung.
In: Ecarius, Jutta/Schäffer, Burkhard (Hg.). Typenbildung und Theoriegenerierung. Methoden und
Methodologien qualitativer Bildungs- und Biographieforschung. Opladen: Budrich, 115–126.
Weber, Max/Winckelmann, Johannes (1988 [1922]). Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.
7. Aufl. Tübingen: Mohr.
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»» Zur Vertiefung empfohlen

Bohnsack, Ralf/Nentwig-Gesemann, Iris/Nohl, Arndt-Michael (2013) (Hg.). Die dokumentarische


Methode und ihre Forschungspraxis. 3., aktualisierte Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Im Umfeld der dokumentarischen Methode wurde die Typenbildung zu einem methodologisch um-
fassend begründeten und methodisch elaborierten Verfahren weiterentwickelt. Der Band dokumen-
tiert den Stand der Diskussion und gibt Beispiele für die Umsetzungen in die Forschungspraxis.
Kelle, Udo/Kluge, Susann (2010). Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastie-
rung in der qualitativen Sozialforschung. 2., überarbeitete Aufl. Wiesbaden: Springer VS.
Die Arbeit zählt inzwischen zur Standardliteratur zum Thema. Mit ihrem Stufenmodell einer empi-
risch begründeten Typenbildung versuchen die Autoren, die verschiedenen Methoden und Modelle
von Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung in einen gemeinsamen methodologischen
Rahmen zu stellen und damit Forschenden ein hilfreiches Werkzeug an die Hand zu geben.
Kuckartz, Udo (2012). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung.
Weinheim: Beltz Juventa.
In dieser Arbeit wird die typenbildende qualitative Inhaltsanalyse als eine von drei Basismethoden
für die inhaltsanalytische Auswertung qualitativer Daten vorgestellt. Die Darstellung zeichnet sich
dadurch aus, dass enge Bezüge zur Forschungspraxis hergestellt werden, wobei der Analyse mit Hilfe
von QDA-Software besondere Aufmerksamkeit gilt.

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280 5. Forschungsverfahren

5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden

Götz Schwab/Karen Schramm

1 Begriffsklärung
Unter dem Begriff der Diskursanalyse werden verschiedene pragmalinguistisch fundierte
Verfahren zur Auswertung sozialer Interaktionen gefasst. Nach van Lier (1996: 4) kann die
Bedeutung solcher Interaktionen im Fremdsprachenunterricht nicht einfach als selbstver-
ständlich vorausgesetzt werden, „but the interaction itself must be meticulously described
and understood.“ Der Begriff Interaktion umfasst die beiden Aspekte inter (lat. zwischen) und
actio (lat. Handlung, Tätigkeit) und wird von Henrici folgendermaßen definiert:
Unter Interaktion sollen im Folgenden sprachliche und nichtsprachliche Handlungen verstanden
werden, die zwischen mindestens zwei Gesprächspartnern stattfinden und mindestens einen Beitrag
(’turn’) der jeweiligen Partner umfassen, der inhaltlich an den jeweils anderen gerichtet ist. (Henrici
1995: 25; Hervorhebung im Original)
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Goffman (z. B. 1981) hat für solche Interaktionen den zentralen Begriff der Begegnung (en-
counter) geprägt und impliziert damit, was House (1991: 405) als „wechselseitige Beein-
flussung von Individuen oder Gruppen“ bezeichnet. Demnach hat die Forschung zu Inter-
aktion grundlegend das Gegenüber im Blick – unabhängig von der Frage, ob als direkter
Adressat oder nur als passiver Zuhörender. Es sind alle Partizipientinnen und Partizipienten
im Analyseprozess zu berücksichtigen, was gerade für die Unterrichtsforschung bedeutsam
ist, da die Kommunikation in der Regel in größeren Gruppen, beispielsweise Schulklassen,
stattfindet (Schwab 2011). Eine einseitige Reduktion auf bestimmte Teilnehmende (z. B. nur
die Lehrperson) ist nach diesem Verständnis nicht angemessen, sondern verzerrt den Blick
auf den Interaktionsprozess als Ganzes. Auch wenn der Fokus auf bestimmte Teilnehmende
der Interaktion gelegt wird (z. B. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund oder
Erzieherinnen und Erzieher in der ersten Phase ihrer Ausbildung), so muss doch immer das
Gesamtgefüge in den Analyseprozess eingeschlossen werden (vgl. bspw. Hoshii/Schumacher
2010 zur Konstellation bei der fremdsprachendidaktisch motivierten Videokonferenz).
In der Unterrichtsforschung haben neben der Funktionalen Pragmatik insbesondere die
Interaktionsanalyse und die ihr zuzuordnende Gesprächsanalyse größere Bedeutung gewon-
nen. Die Gesprächsanalyse geht auf die Konversationsanalyse zurück, versteht sich aber als
weitergefasster Ansatz, welcher z. B. „durch Prozeduren der interaktionalen Soziolinguistik,
der discursive psychology und der grounded theory“ (Deppermann 2001: 10; Hervorhebung
im Original) ergänzt wird und weniger eng gefasst ist als die traditionelle (ethnomethodo-
logische) Konversationsanalyse (Deppermann 2001; vgl. hierzu auch Henne/Rehbock 2001).
Beide diskursanalytischen Forschungstraditionen, sowohl (a) die Interaktionsanalyse als
auch (b) die Funktionale Pragmatik, untersuchen Interaktionsabläufe in allen Bereichen des
öffentlichen (z. B. Podiumsdiskussion, Fernsehinterview) und privaten Lebens (z. B. Familien-
debatte, Arztbesuch), werden aber im Folgenden begrenzt auf institutionelle Lernorte wie
Kindergarten, Schule oder Hochschule behandelt. Gemeinsam ist ihnen der Fokus auf die
Handlungsebene, insbesondere die Qualität und Ausgestaltung der sprachlichen Äußerun-

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 281

gen: Beide Methoden eignen sich für ein tiefergehendes Verständnis der Sprachhandlungen,
die z. B. Lernende und Lehrende in der Klassenzimmer-Interaktion ausführen, wenngleich
die Ansätze methodologisch aus unterschiedlichen theoretischen Traditionen stammen und
differente Herangehensweisen aufweisen. Während die Interaktionsanalyse stark durch die
soziologische Forschung und Ethnomethodologie beeinflusst wurde (Deppermann 2001), ist
die Funktionale Pragmatik deutlich linguistischer geprägt.
(a) Interaktionsanalyse impliziert ein umfassenderes Verständnis von Gesprächen als dies
z. B. bei der Konversationsanalyse suggeriert wird, da neben verbalen und non-verbalen
Aspekten auch die Rolle des Visuell-Räumlichen von Sprachhandlungen verdeutlicht wird
(Deppermann/Schütte/Ernst o. J.). In der englischsprachigen Literatur wird allerdings eher
der Begriff discourse analysis als übergeordneter Begriff verwendet (z. B. Nunan 1993
oder Schiffrin/Tannen/Hamilton 2003), unter welchem neben interaktionsanalytischen
teilweise auch konversationsanalytische Ansätze firmieren (z. B. Schiffrin 1994). In-
nerhalb der Diskursanalyse unterscheiden Ellis/Barkhuizen (2005) überdies zwischen
interactional analysis und interaction analysis. Während interactional analysis dem
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deutschen Begriff Interaktionsanalyse entspricht, ist mit Letzerem ein im Vorfeld fest-
gelegtes Beobachtungsraster gemeint, wie z. B. das von Flanders (1978) entwickelte FIAC
(Flanders’ Interaction Analysis Categories) oder das Beobachtungsprotokoll von Brophy/
Good (1976) zur Lehrer-Schüler-Interaktion (s. Kapitel 5.2.3 zur Beobachtung). Ein etwas
anderes, aber nichtsdestotrotz einflussreiches Modell von discourse analysis haben die
britischen Linguisten John Sinclair und Malcolm Coulthard in ihrem Buch Towards an
Analysis of Discourse (1975) entwickelt. Basierend auf einem sprechakttheoretischen Ver-
ständnis von (Unterrichts-)Interaktion stellen sie ein Analysemodell zur Beschreibung
sprachlicher Handlungen vor, in dessen Mittelpunkt der sogenannte IRF-exchange (initia-
tion-response-feedback33), zu Deutsch pädagogischer Austausch (z. B. Schwab 2009), steht.
Diese dreischrittige Sequenz bildet das kommunikative Rückgrat des lehrerzentrierten
Plenumunterrichts – in der Regel operationalisiert durch (1) Lehrerfrage, (2) Schülerant-
wort und (3) Feedback zur Schülerantwort (vgl. hierzu auch Becker-Mrotzek/Vogt 2001:
15–24).
(b) Die Funktionale Pragmatik bezieht dagegen bei der analytischen Modellierung von Unter-
richtsinteraktionen im Gegensatz zur Interaktions- und Konversationsanalyse die mentale
Dimension der Interaktantinnen und Interaktanten explizit mit ein. In sogenannten Hand-
lungsmustern wird das Zusammenspiel sprecher- und hörerseitiger mentaler Operatio-
nen und Entscheidungen mit interaktionalen Handlungsschritten (Pragmemen) in einem
zweckgerichteten Ensemble rekonstruiert (s. einführend Becker-Mrotzek/Vogt 2001,
Weber/Becker-Mrotzek 2012). So wird beispielsweise der oben beschriebene interakti-
onsanalytische IRF-pattern unter Einbezug von lehrpersonseitigen Einschätzungen und
schülerseitigem Wissensabruf als Handlungsmuster „Aufgabe stellen – Aufgabe lösen“ in
nicht nur drei Schritten, sondern als Zusammenspiel von 19 Pragmemen zum Zwecke des
akzelerierten Wissenserwerbs modelliert (Ehlich/Rehbein 1986). Ein weiterer wichtiger

33 Manche Autorinnen und Autoren sprechen anstelle von feedback auch von evaluation und damit einem
IRE exchange bzw. IRE structure (vgl. Walsh 2006: 46).

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282 5. Forschungsverfahren

Unterschied zur Interaktions- und Konversationsanalyse besteht in der Annahme, dass


Handlungsmuster gesellschaftlich ausgearbeitet und vermittelt sind.

2 Merkmale von Interaktionsanalyse und Funktionaler Pragmatik


Grundlegend für diskursanalytische Ansätze ist die Annahme, dass sprachliches Handeln und
Lernprozesse gleichermaßen in sozialen Interaktionen sichtbar werden. Diese Grundannahme
impliziert auch ein Verständnis von Lernen, welches den Erwerbsprozess nicht allein auf
mentale Vorgänge des Einzelnen begrenzt, sondern vielmehr als interaktives Unterfangen
beschreibt, bei dem alle Beteiligten eine Rolle spielen und somit den Prozess beeinflussen. Das
sozio-kulturelle Verständnis von Kognition als mediated mind (Vygotsky 1978) unterstreicht
diesen Gedanken des sozialen Charakters von Lernen. Auch der Erwerb einer Sprache muss
im Kontext von interaktionalen Handlungenprozessen betrachtet werden, d. h. Prozessen, bei
denen Menschen sich Sprache in der Begegnung mit anderen aneignen.
Die Analyse von Interaktionen und Handlungsmustern im Fremdsprachenunterricht hat
also demnach eine zweifache Orientierung. Zum einen werden die sprachlichen Handlungen
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en detail beschrieben und interpretiert; zum anderen wird versucht, das Lernen selbst in
seiner interaktionalen Verortung zu beschreiben und hieraus Schlüsse für den Spracherwerb
zu ziehen. Um dies zielführend umzusetzen, müssen bei der Analyse einige Prinzipien berück-
sichtigt werden, die im Folgenden aufgezeigt und erklärt werden (vgl. Ehlich/Rehbein 1986,
Becker-Mrotzek/Vogt 2001, Deppermann 2001, Seedhouse 2004, Dalton-Puffer 2007, Schwab
2009, Weber/Becker-Mrotzek 2012).
(a) Empirische Datengrundlage: Interaktionsanalyse und Funktionale Pragmatik basieren auf
Daten, die in natürlichen Settings gewonnen werden. In der Regel sind dies Video- und/
oder Audiomitschnitte. Das schließt vorherige Absprachen (sogenannte Untersuchungs-
skripts) mit den Forschungssubjekten aus; vielmehr sollte das Unterrichtsgeschehen mög-
lichst natürlich und unbeeinflusst von den Forschenden vonstatten gehen. Dabei geht man
bei der Datenerhebung von einer nicht-teilnehmenden Beobachtung aus (s. Kapitel 5.2.3
zur Beobachtung), bei der die Forschenden nicht verdeckt, sondern für alle Akteure sicht-
bar mitschneiden. Mit observer’s paradox (Labov 1972) bezeichnet man das sich daraus
ergebende Dilemma, dass Forschende bei Interaktionen anwesend sind, bei denen sich
die Interaktantinnen und Interaktanten aber so verhalten sollen, als ob sie unbeobachtet
wären. Häufig wird jedoch in Forschungsberichten konstatiert, dass sich der Zustand
natürlichen Verhaltens recht schnell einstellt, gerade bei jüngeren Personen.
(b) Emische Perspektive: Mit emischer Perspektive ist ein grundsätzliches Verständnis ethno-
graphischer Arbeiten angesprochen, bei welchem das Handeln der Beteiligten aus deren
Perspektive betrachtet wird (Seedhouse 2004). Nicht die Sichtweise der von außen be-
obachtenden Forscher (etische Perspektive) ist ausschlaggebend, sondern das Verständnis
der Partizipientinnen und Partizipienten selbst. Ziel der Analyse muss sein, die ureigene
Handlungslogik der Interaktantinnen und Interaktanten zu ergründen. Dies geht aus
interaktionsanalytischer Perspektive nur, wenn man sich konsequent und permanent der
Frage stellt „[W]hy that now?“ (Schegloff/Sacks 1973: 299), d. h., warum Akteure in einer
konkreten Situation so und nicht anders handeln. Aus funktional-pragmatischer Per-

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 283

spektive steht hingegen die Rekonstruktion der Handlungsziele der Beteiligten im Vor-
dergrund, die sie in gesellschaftlich etablierten Handlungsmustern verfolgen.
(c) Detail- und Materialtreue: Beide Ansätze implizieren, dass sämtliche Interpretationen und
Deutungsvorschläge vom Material ausgehen, wobei die Konversationsanalyse sich hier
deutlich von der Funktionalen Pragmatik unterscheidet und theoretische Überlegungen
grundsätzlich hintan stellt. Nur was in den Daten sichtbar ist, sollte Berücksichtigung
finden. A priori Annahmen, theoriegeleitet oder auf Alltagswissen beruhend, müssen
zunächst außen vor bleiben. Dabei sollte eine Aufnahme immer Vorrang vor der Ver-
schriftlichung (Transkription) haben. Allerdings sollte nie vergessen werden, dass auch
ein Videomitschnitt immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit darstellt.
(d) Sequentialität von Interaktionen/Handlungsmuster: Die Interaktionsanalyse geht davon
aus, dass Gespräche einer sequentiellen Ordnung folgen. Das bedeutet, Äußerungen bau-
en auf das unmittelbar zuvor Gesagte auf und werden in einem zeitlichen Kontinuum
positioniert. In dieser Zeitlichtkeit ist auch der Analyseprozess zu sehen (‚Zeile für Zeile‘).
Ein einzelner Redebeitrag (turn) steht also niemals unabhängig von anderen Äußerungen.
Vielmehr hat jeder Beitrag einen bestimmenten Platz innerhalb einer Sequenz. Depper-
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mann (2001) spricht daher auch von der Sequenzanalyse, d. h. der Untersuchung von sich
fortschreibenden Sequenzen, die einer inhärenten Ordnung unterliegen. Sacks (1984: 22)
hat dies mit „order at all points“ ausgedrückt. Gespräche gelten demnach auch dann noch
als geordnet, wenn der subjektive Eindruck von einem vielstimmigen Durcheinander
dominiert – was in einem Klassenzimmer ja immer wieder der Fall sein kann. Im Gegen-
satz dazu betont die Funktionale Pragmatik den zweckgebundenen Zusammenhalt ver-
schiedener Pragmeme in einem Handlungsmuster. Die Sequentialität von Interaktionen
wird auch bei der funktionalpragmatischen Analyse berücksichtigt; jedoch wird mit dem
Konzept des Musterdurchlaufs die Linearität der Interaktion in eine zugrundliegende
nicht-lineare Ordnung gebracht und zusätzlich auch der möglicherweise iterative Cha-
rakter von Handlungseinheiten (also die Möglichkeit mehrfacher Musterdurchläufe)
erfasst.
(e) Kontextualität: In enger Verbindung zur Sequentialität von Interaktionen steht der Be-
griff der Kontextualität, der nur für die Interaktionsanalyse zentral ist und in der Funk-
tionalen Pragmatik nicht zu den grundlegenden Prinzipien gehört. Nach diesem Prinzip
sind Sprachhandlungen immer aus ihrer unmittelbaren Situiertheit zu verstehen, d. h.
im Kontext der sequentiellen Entfaltung einer Interaktion zu deuten (context-shaped).
Dadurch sind sie gleichzeitig context-renewing: Jeder Beitrag, jede Äußerung schafft
wiederum einen erweiterten, wenn nicht neuen Kontext (vgl. Seedhouse 2004). Par-
tizipientinnen und Partizipienten realisieren das u. a. mithilfe linguistischer Mittel (z. B.
deiktische Ausdrücke wie ‚er‘, ‚dieses‘ oder ‚dort‘), paralinguistischer Ressourcen (z. B.
Intonation bei der Verabschiedung der Klasse) oder non-verbaler Handlungen (z. B. Pro-
xemik oder Zeigen auf bestimmte Gegenstände oder Personen). Solche contextualization
cues (Gumperz 1982) werden von den Interaktantinnen und Interaktanten permanent
benutzt und gedeutet, um einem Gespräch den kontextuellen Rahmen zu geben, den
man als Außenstehende(r) leicht als gegeben ansieht, ohne zu bemerken, wie er doch erst
durch die Sprachhandlungen der Akteure zum Leben erweckt wird. Ein schönes Beispiel
stellt die zielsprachliche Begrüßung am Anfang des Fremdsprachenunterrichts dar. Damit

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284 5. Forschungsverfahren

wird der Kontext ‚zielsprachliche Interaktion‘ umgehend etabliert (context-shaped). Die


zielsprachliche Erwiderung der Schülerinnen und Schüler manifestiert das und fungiert
somit als context-renewing.
(f) Offenheit gegenüber Methodentriangulation: Im Gegensatz zu einem rein konversations-
analytischen Verständnis attestieren wir den hier vorgestellten Ansätzen eine grundsätz-
liche Offenheit gegenüber anderen Methoden. „Methodenpurismus“ (Deppermann 2001:
15) wird besonders dann schwierig, wenn über die Gesprächsstruktur hinaus auch sprach-
erwerbsspezifische Prozesse untersucht werden sollen. Als eine aktuelle Weiterentwick-
lung der hier vorgestellten (videobasierten) Interaktionsanalysen beschreibt Schramm
(2016) die (triangulative) Videografie, die mittels weiterer (meist introspektiver und/oder
befragender) Datenerhebungsmethoden den ethnographischen bzw. emischen Charakter
der Untersuchung verstärkt. So untersucht Feick (2015) am Beispiel mexikanischer Ler-
nender soziale Autonomie im DaF-Projektunterricht. Zusätzlich zu den Besprechungen
der Projektgruppen erhebt sie Protokolle videobasierten Lauten Erinnerns der Gruppen-
teilnehmenden und kann auf diese Weise die Transkripte der Gruppengespräche um die
individuellen (in der Gruppensituationen unausgesprochenen) Gedanken ergänzen, um
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auf dieser methodentriangulativen Basis eine fremdsprachendidaktisch motivierte dis-


kursanalytische Untersuchung der Entscheidungsfindungen vorzunehmen.
(g) Quantifizierbarkeit und Offenheit gegenüber videobasierter Unterrichtsforschung: Grund-
sätzlich lassen sich die interpretativ ausgewerteten Interaktionsdaten auch quantifizieren
und damit für statistische Auswertungen nutzen. Beispielsweise verbindet Dauster (2007)
bei der Untersuchung von Französischunterricht an Grundschulen qualitative Analysen
von Unterrichtsmitschnitten mit einer Quantifizierung des erhobenen Datenmaterials,
welches kodiert (z. B. nach Redeanteilen, Länge der Äußerungen) und statistisch aus-
gewertet wird. Ebenfalls vielversprechend erscheinen Designs zur Untersuchung von
mehreren Variablen, bei denen (mindestens) eine Variable interaktionsanalytisch und
andere Variablen mit anderen Verfahren ausgewertet werden, um Zusammenhänge zu
untersuchen. So kombinieren beispielsweise Keßler/Schwab (2015) eine psycholinguis-
tische Methode der individuellen Bestimmung mündlicher Sprachentwicklung (Pro-
cessability Theory) mit interaktionaler Unterrichtsforschung (Conversation Analysis
for Second Language Acquisition), um das Verhältnis zwischen Produkt und Prozess
beim Fremdsprachenerwerb besser beschreiben zu können. Auch die Untersuchung von
Eckerth (2003) illustriert einen solchen Mehrmethoden-Ansatz: Hier werden qualitative
Verfahren der Unterrichtsbeobachtung (Audioaufnahmen von Lerner-Lerner-Interaktio-
nen) und retrospektive Interviews mit quantitativen Daten (Sprachstandstests) in Ver-
bindung gebracht. Prominentestes Beispiel für eine weitreichende videobasierte Unter-
richtsforschung, die sich inferenzstatistischer Verfahren zur Modellbildung bedient, ist
vermutlich die DESI-Videostudie (Helmke et al. 2008), in der Basiskodierungen von 105
transkribierten Englischstunden im Zusammenspiel mit zahlreichen anderen Variablen
ausgewertet werden.

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 285

3 Vorgehensweisen bei der Aufbereitung und Auswertung der Daten


Diskursanalytische Vorgehensweisen folgen keinem a priori genau festgelegten Verlaufsplan,
sondern orientieren sich am Datenmaterial selbst. In solch einem Verfahren muss es stets da-
rum gehen, was das Datum zeigt bzw. an interpretativen Deutungsmöglichkeiten bietet. Die
eigentliche Theoriebildung ist diesem Prozess nachgestellt und verlangt daher eine zirkuläre
Vorgehensweise (s. Kapitel 5.3.2), wobei Forschende immer wieder die einzelnen Schritte
transparent machen und – wann immer möglich – im Sinne einer Forschendentriangulation
mit Kolleginnen und Kollegen und diskutieren (s. Kapitel 4.4).
Auch sollten die einzelnen Schritte nicht strikt voneinander getrennt werden. So ist es z. B.
sinnvoll, zügig mit der Aufbereitung des Materials (Transkription) und ersten, zunächst vor-
läufigen Analysen zu beginnen. Dies ermöglicht bei weiteren Erhebungen einen fokussierten
Blick auf bestimmte Phänomene, welche sich als besonders relevant herausgestellt haben
(z. B. auffällige Proxemik, sprachliche Besonderheiten oder störendes Verhalten Einzelner).
Sollten sich im Laufe der Analyse weitere Auffälligkeiten zeigen, so können diese in den
Untersuchungsprozess miteinbezogen werden. Zur Verdeutlichung haben wir die wichtigsten
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Schritte in Abbildung 1 zusammengefasst und nachstehend erläutert. Nicht berücksichtigt


haben wir dabei die ursprüngliche Entscheidung hinsichtlich des inhaltlichen Rahmens und
der Zielsetzung eines Forschungsvorhabens. Hierbei wäre neben einer grundsätzlichen Ent-
scheidung für die Methodologie insbesondere die Intention eines solchen Vorhabens zu be-
rücksichtigen.

Abbildung 1: Diskursanalytische Arbeitsschritte

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286 5. Forschungsverfahren

Datenaufbereitung

Audio- oder videografierte Gesprächsdaten (s. Kapitel 5.2.3) müssen für diskursanalytische
Auswertungen grundsätzlich verschriftet, d. h. transkribiert werden.34 Eine Transkription
basiert in der Regel auf einer Transkriptionskonvention, die sich an der Standardorthografie
orientiert, aber auch non-verbale und parasprachliche Elemente einbeziehen kann. Inwieweit
darüber hinaus eine phonetische Umschreibung nötig ist, hängt neben dem Datum selbst vor
allem von der Zielsetzung des Vorhabens ab.
Im deutschsprachigen Kontext finden die Transkriptionssysyteme GAT und HIAT beson-
ders häufig Verwendung (vgl. Mempel/Mehlhorn 2014). Mit GAT bzw. GAT 2 (Gesprächs-
analytisches Transkriptionssytem) (Selting et al. 2009) können ausgehend von einer sequen-
tiellen Darstellung (Zeile für Zeile) mit unterschiedlicher Genauigkeit (Minimal-, Basis- oder
Feintranskript) verbale und non-verbale Gesprächsdaten (also auch deren paralinguistische
Merkmale, z. B. Prosodie) verschriftlicht werden, ohne dass ein besonderer Schriftsatz (z. B.
IPA-Lautschrift) verwendet werden muss. Das grundlegende Inventar der zu verwenden-
den Zeichen und Regeln ist im Anhang dieses Beitrags beigefügt. Mittlerweile werden in
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gesprächsanalytischen Arbeiten immer häufiger auch sogenannte multimodale Analysen


durchgeführt (z. B. Schmitt 2011). Hierbei finden neben den Transkripten auch (Stand-)Bilder
(screenshots) aus den Videos Berücksichtigung.
Das System der Halbinterpretativen Arbeitstranskription (HIAT) ist dagegen eher mit
funktionalpragmatischen Untersuchungen verknüpft (Rehbein et al. 2004). Charakteristisch
für HIAT ist u. a. die Partiturschreibweise, mit der die Simultaneität von verbalen, non-ver-
balen und aktionalen Handlungen detailgenau abgebildet wird. Das in Abbildung 2 abge-
druckte Transkriptbeispiel zeigt fünf Partiturflächen, in denen 17 Segmente und der Beginn
eines 18. Segments nummeriert sind. Bei den meisten Segmenten handelt es sich um Äuße-
rungen, die in den Verbalspuren der Lehrerin mit dem Pseudonym LIAB und des Schülers
mit dem Pseudonym AIASG abgebildet sind. In Partiturfläche 5 ist jedoch auch eine Spur für
nonverbale Kommunikation (NVK) zu erkennen, in der das lehrerinnenseitige Gestikulieren
einer ziehenden Bewegung und ein zweisekündiges Nicken notiert wurden. Betonungen
wurden gemäß der HIAT-Konventionen mit einer Unterstreichung, Reparaturen mit „/“ und
Abbrüche mit „…“ markiert. Bei „Hmhm“ (Segment 16 in Partiturfläche 5) wurde der fallend-
steigende Intonationsverlauf angegeben, um den bestätigenden Charakter der Interjektion
zu dokumentieren.

34 Hierfür gibt es mittlerweile eine Reihe an Computerprogrammen, die Forschende bei dieser Arbeit unter-
stützen (s. Kapitel 5.2.6). Diese Programme bieten überdies bereits Applikationen, welche bei der Analyse
der Daten helfen.

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 287
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Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Transkript „Wuschelbär“ (Schramm 2006)

Datenanalyse

An dieser Stelle kann keine ausführliche Darstellung aller möglichen Aspekte diskurs-
analytischer Transkriptauswertungen erfolgen. Hierfür empfehlen wir z. B. Ehlich/Rehbein
(1986), Deppermann (2001), Becker-Mrotzek/Vogt (2001) oder Seedhouse (2004). Für die
Interaktionsanalyse gilt jedoch grundlegend, dass „[d]ie detaillierte Sequenzanalyse […] das
Herzstück der Gesprächsanalyse [ist]“ (Deppermann 2001: 53). Hier geschieht die wichtigste
Arbeit, an deren Ende eine in sich stringente Interpretation des vorhandenen Datenmaterials
steht. Für Neulinge der Interaktionsanalyse stellt sich immer wieder die Frage, wo überhaupt
begonnen werden kann, nachdem man erste Erhebungen gemacht hat. Deppermann schreibt
hierzu:
Üblicherweise sucht man Passagen aus, die auffällige, neuartige etc. Phänomene enthalten, klare
Fälle (‚clear cases‘) einer Gesprächspraktik zu sein scheinen oder offenbare Verdeutlichungsleis-
tungen (‚displays‘) der Interaktionsteilnehmer beinhalten. (Deppermann 2001: 52; Hervorhebung
im Original)

Solch ein phänomenologischer Zugang entwickelt sich am Material selbst (data-driven) und
impliziert im Gegensatz zu einem theoriegeleiteten Vorgehen (theory-driven) den Vorrang der
konkreten Praxis über die Theorie. Nachdem eine erste Sequenz beschrieben und analysiert
wurde, werden weitere, vergleichbare Stellen gesucht und, basierend auf den ersten Erkennt-
nissen, untersucht. Im Laufe der weiteren Analyse ergibt sich eine Kollektion an Sequenzen,
die auf ein bestimmtes Interaktionsmuster hinweist. Dies nennt man eine Gesprächspraktik.
Im Kontext der schulischen Interaktion gehört der pädagogische Austausch respektive IRF-

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288 5. Forschungsverfahren

exchange (initiation – response – feedback) (Sinclair/Coulthard 1975) sicherlich zur bekann-


testen interaktionalen Praktik im schulischen Umfeld.
Funktionalpragmatische Transkriptanalysen beginnen in Abhängigkeit von der For-
schungsfrage häufig mit der Segmentierung der fortlaufenden Interaktion in über- und un-
tergeordnete Handlungseinheiten, wobei sowohl inhaltliche Aspekte als auch sprachliche
Gliederungssignale Berücksichtigung finden. Entscheidender Motor der Analyse ist die Frage
nach dem Zweck sprachlicher Handlungen; unter dieser Perspektive werden die Illokutionen
der einzelnen Äußerungen bestimmt und die involvierten mentalen Handlungsschritte rekon-
struiert. Fremdsprachenunterrichtsspezifische Beispiele sind das verständnissichernde Han-
deln oder die didaktische Frage (display questions). Auch größere Formen wie Erzählungen
im Morgenkreis der Grundschule sind Gegenstand der Analyse und können auf funktional-
pragmatischer Basis beispielsweise präzise von Berichten oder Beschreibungen abgegrenzt
und in Bezug auf ihren Zweck in zahlreiche Untertypen wie Leidens-, Sieges-, Klatsch- oder
Angebergeschichten unterteilt werden. Auch die Frage, wie Institutionen das sprachliche
Handeln beeinflussen oder überformen, wird thematisiert und beispielsweise das Erzählen in
der Schule im Vergleich zum Erzählen vor Gericht, im Krankenhaus oder auf dem Sozialamt
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untersucht.
Ein wichtiges Charakteristikum diskursanalytischer Interpretationen ist ihre Überprüf-
barkeit an den entsprechenden Transkripten. Das Gütekriterium der intersubjektiven Nach-
vollziehbarkeit wird dadurch erfüllt, dass die Leserinnen und Leser am Material selbst die
Interpretation nachvollziehen und bei Bedarf im Anhang der Forschungsarbeit den Tran-
skriptausschnitt in seinem Kontext situiert nachlesen können.

Theoriebildung

Ausgehend von der Datenanalyse kommt es zur Theoriebildung, die auf einer Zusammenfüh-
rung der Interpretationen mit der einschlägigen Literatur beruht. Hierbei geht es vor allem
um die Abstraktion und Verallgemeinerung der gewonnenen Erkenntnisse, welche wiederum
auf den Transkriptdaten basieren. Da bei diskursanalytischen Untersuchungen im Vorfeld kei-
ne Hypothesen gebildet werden, muss es an dieser Stelle darum gehen, die Forschungsfragen
zu beantworten und in einen größeren Forschungskontext zu stellen. Während gesprächsana-
lytische Arbeiten versuchen, sogenannte Gesprächspraktiken herauszuarbeiten (vgl. Depper-
mann 2001), gilt es bei der Funktionalen Pragmatik, Handlungsmuster zu eruieren. Hierbei
geht es jeweils um übergeordnete (Sinn-)Strukturen, welche für bestimmte Gesprächsabläufe
konstituierend sind. So untersuchte z. B. Méron-Minuth (2009: 11), „wie sich eine Gruppe von
Grundschülerinnen und -schülern in einem immersiv angelegten Fremdsprachenunterricht
kommunikationsstrategisch einbringt“ und ihre Anliegen mit ihren zielsprachlichen Mitteln
realisiert. Basierend auf transkribierten Videoaufzeichnungen sowie Protokollen der betei-
ligten Lehrpersonen als auch Protokollen zu den videografierten Stunden analysierte sie das
umfangreiche Korpus. In dieser Studie konnte eine detaillierte Typologie an Kommunikati-
onsstrategien herausgearbeitet werden, die von Schülerinnen und Schülern im Verlauf ihrer
ersten vier Jahre Fremdsprachenunterricht entwickelt und eingesetzt wurden.

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 289

4 Beispielanalyse
Im Folgenden soll exemplarisch an der interaktionsanalytischen Referenzarbeit von Schwab
(2009) gezeigt werden, wie eine Unterrichtsdiskursanalyse konkret aussehen kann.
Nachdem der Feldzugang und damit die Möglichkeit der Datenerhebung mit Lehrperson,
Schulleitung, Eltern und Schulbehörde abgeklärt worden war, konnten die ersten Video- und
Audioaufnahmen gemacht werden. Die Transkription erfolgte parallel zu den Aufnahmen
und ersten Analysen nach der Konvention GAT. Dabei wurden folgende Aspekte als zentral
und unterrichtskonstituierend herausgearbeitet: (1) Lehrerinitiative, (2) Schülerinitiative (vgl.
auch van Lier 2001).
Insbesondere die Konstitution der sogenannten Schülerinitiative im lehrerzentrierten
Unterrichtsgespräch erwies sich als auffällig, bedeutungsvoll und bis dahin wenig beforscht.
Das Korpus wurde daraufhin gezielt auf dieses Phänomen hin untersucht und es wurden
Ankerbeispiele herausgearbeitet respektive zu einer Kollektion verdichtet. In Abbildung 3 ist
ein Beispiel aus der Kollektion abgebildet. Es soll exemplarisch analysiert und in den größeren
Kontext der Arbeit eingebettet werden.
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Die hier als Schülerinitiative bezeichnete Gesprächspraktik ist in Zeile 7 sichtbar. Sequen-
tiell positioniert die Schülerin ihren leise artikulierten Beitrag unmittelbar in die kurze Lü-
cke, die sich nach der Lehrerfrage auftut, obschon sie nicht von ihr aufgerufen wurde (self
selection). Inhaltlich könnte man die Äußerung als Antwort auf die Frage (ohne direkten
Adressaten) kennzeichnen, da sie thematisch an die Frage anschließt und ihren Beitrag in die
von der Lehrerin angebotene sequentielle Lücke setzt. Allerdings passiert hier etwas anderes.
Die Reaktion der Lehrperson in Zeile 8 (‚mit leichtem Lächeln‘) zeigt die Besonderheit des
Schülerbeitrags, mit der die Lehrerin scheinbar nicht gerechnet hat. Dementsprechend wird
Rachels Beitrag auch nicht evaluiert, sondern generiert eine neue Sequenz, die kurzerhand
eingeschoben wird. Aus einem gewöhnlichen pädagogischen Austausch bzw. IRF-exchange
(Sinclair/Coulthard 1975) entwickelt sich ein sogenanntes Nachbarschaftspaar (adjacency
pair) mit wechselseitigen Beiträgen (Zeile 7/8–9/10), wobei gerade die Schülerin die wichtige
Position am Anfang der Sequenz und damit die Initiative übernimmt. Nachbarschaftspaare
stellen nach interaktionsanalytischer Auffassung in nicht-institutionellen, alltäglichen Ge-
sprächen die sequentielle Grundstruktur dar und bilden das strukturelle Grundgerüst für
informelle Kommunikation. In solchen Situationen adäquat zu agieren ist ein bedeutsames
Ziel kommunikativen Unterrichts. Das scheint hier ansatzweise der Fall zu sein, wobei –
wiederum ein typisches Phänomen unterrichtlicher Interaktionswirklichkeit – die Lehrperson
in Zeile 13 zum ursprünglichen Modus zurückkehrt und eine neue Frage stellt, nachdem von
Rachel kein weiterer Beitrag folgt.
Die Analyse weiterer solcher Beispiele verdeutlicht, wie diese Gesprächspraktik einer
Schülerinitiative von den Partizipientinnen und Partizipienten in lehrpersonenzentrierte Ge-
sprächsabläufe integriert wird. Lehrpersonen können kommunikative Räume zur Verfügung
stellen und damit die interaktionale Kontrolle kurzfristig abgeben. Sie holen sich diese Kon-
trolle aber immer wieder zurück, um das Unterrichtsgeschehen in ihrem Sinne fortführen zu
können (vgl. Zeile 13). Von Schülerseite wird dies im Regelfall akzeptiert.
Im Rückgriff auf die einschlägige Literatur zeigt sich, dass diese Gesprächspraktik bisher
nur in Ansätzen behandelt wurde (z. B. Garton 2012). Zumeist wird zwischen lehrerzen-

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290 5. Forschungsverfahren
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Abbildung 3: Exzerpt Schülerinitiative (Schwab 2009: 24)


(Legende zu den verwendeten GAT2-Transkriptionskonventionen s. Anhang)

trierten Interaktionen, die allein auf dem pädagogischen Austausch basieren, und schülerzen-
trierten und damit eher gleichberechtigen Gesprächsformen unterschieden. Eine detaillierte
Untersuchung von Unterrichtsgesprächen zeigt hingegen eine weitaus größere Komplexität
und vermag überdies Impulse für einen bewussteren und kommunikativer gestalteten Un-
terricht geben (vgl. Schwab 2014). So wird deutlich, dass mithilfe der Interaktionsanalyse
detaillierte Einsichten in unterrichtliche Interaktionsabläufe gewonnen werden können, die
mit anderen Methoden kaum auszumachen wären.

5 Potenzial für die Fremd- und Zweitsprachendidaktik


Diskursanalytische Untersuchungen des Fremdsprachenunterrichts verlangen allen Beteiligen
viel ab (s. Kapitel 4.6 zur Forschungsethik). Die Forschungspartnerinnen und Forschungs-
partner – insbesondere die beteiligten Lehrpersonen – müssen eine große Offenheit gegen-
über dem Vorhaben mitbringen und auch über einen längeren Zeitraum behalten. Sie müssen
bereit sein, sich einer akribischen Analyse ihres Gesprächsverhaltens zu unterziehen, was
gerade im Fremdsprachenunterricht, wo auch auf Lehrendenseite Fehler nicht ausbleiben,

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden
291

Analyse (nicht)sprachlicher Handlungen in sozialer Interaktion


Forschungstraditionen

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Soziologie, Ethnomethodologie Linguistik, funktionale Pragmatik
Konversations-/Gesprächsanalyse: verbale, Interaktion und mentale Dimension des sprach-
non-verbale, visuell-räumliche Merkmale lichen Handelns in gesellschaftlich etablierten
sprachlicher Interaktion Handlungsmustern, z.B. „Aufgabe stellen -
Aufgabe lösen“
n te ra ktio n i n d
le I e
z ia rB
so
Von der Deskription zur Interpretation
eg
ls
5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden

eg
- Daten aus natürlichen Settings (Audio/Video,

Theoriebildung
na

nun
teilnehmende Beobachtung)
Lerne

Prinzipien

Analyse
- emische Perspektive

g m it a n d er
- Detail- und Materialtreue
- Sequentialität bzw. Handlungsmuster
- Kontextualität
- Offenheit gegenüber Methodentriangulation

en
- Quantifizierbarkeit


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292 5. Forschungsverfahren

nicht selbstverständlich ist. Je nach Zielsetzung der Studie ist der eigentliche Gewinn der
Untersuchung nicht unbedingt für Lehrpersonen einsichtig – es sei denn, man bezieht sie
von vornherein in den Analyseprozess mit ein (z. B. Schwab 2014); das ist aber nicht immer
möglich und/oder zielführend.
Als diskursanalytische Forschungsdesiderate lassen sich vier zentrale Bereiche nennen.
Erstens überwiegt die Zahl der Untersuchungen zum Plenumsunterricht bei weitem und
es besteht ein großer Bedarf an der Untersuchung von lernerzentrierten Interaktionen (z. B.
bei Partner- und Gruppenarbeit). Zweitens geht es um Möglichkeiten, interaktionale und
psycholinguistische Ansätze zu verknüpfen, also den Versuch, Prozess und Produkt des
Zweit- und Fremdspracherwerbs in institutionellen Lernumgebungen besser zu verzahnen
(vgl. Keßler/Schwab 2015). Drittens sind im Hinblick auf die Verbindung von sprachlichem
und fachlichem Lernen auch interdisziplinäre Verknüpfungen diskursanalytischer Verfahren
mit anderen fachdidaktischen Vorgehensweisen von Interesse. So zeigen Schramm/Hardy/
Saalbach/Gadow (2013) und Gadow (2016) am Beispiel des wissenschaftlichen Begründens
im Sachunterricht der Grundschule das Potenzial, aber auch die terminologischen Heraus-
forderungen einer solchen Theorientriangulation auf. Viertens sind im Sinne einer video-
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basierten Unterrichtsforschung Möglichkeiten der Quantifizierung diskursanalytischer In-


terpretationen und der inferenzstatistischen Auswertung zu Zwecken der Modellbildung zu
eruieren. Somit bieten diskursanalytische Auswertungsverfahren nicht nur die Möglichkeit
einer fokussierten Perspektive auf unterrichtliche Interaktionsabläufe, sondern auch eine
Vielzahl an Anknüpfungspunkten an andere Herangehensweisen und Traditionen innerhalb
der Erforschung des Fremdsprachenunterrichts.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Becker-Mrotzek, Michael/Vogt, Rüdiger (2001). Unterrichtskommunikation. Linguistische Analyse-
methoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Niemeyer.
Brophy, Jere E./Good, Thomas L. (1976). Die Lehrer-Schüler-Interaktion. München: Urban & Schwar-
zenberg.
*Dalton-Puffer, Christiane (2007). Discourse in Content and Language Integrated Learning (CLIL)
Classrooms. Amsterdam: Benjamins.
*Dauster, Judith (2007). Früher Fremdsprachenunterricht Französisch: Möglichkeiten und Grenzen der
Analyse von Lerneräußerungen und Lehr-Lern-Interaktion. Stuttgart: Ibidem.
Deppermann, Arnulf (2001). Gespräche analysieren – Eine Einführung in konversationsanalytische
Methoden. 2. durchgesehene Auflage. Opladen: Leske und Budrich.
Deppermann, Arnulf/Schütte, Wilfried/Ernst, Hannah (o. J.). Datenerhebung. GAIS – Gesprächsanalyti-
sches Informationssystem [Online: http://prowiki.ids-mannheim.de/bin/view/GAIS/Daten​­Erhebung]
(16. 09. 2015).
*Eckerth, Johannes (2003). Fremdsprachenerwerb in aufgabenbasierten Interaktionen. Tübingen: Narr.
*Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen (1986). Muster und Institution: Untersuchungen zur schulischen Kom-
munikation. Tübingen: Narr.
Ellis, Rod/Barkhuizen, Gary (2005). Analysing Learner Language. Oxford: Oxford University Press.

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 293

Feick, Diana (2015). Autonomie der Lernendengruppe. Entscheidungsdiskurs und Mitbestimmung in


einem DaF-Handyvideoprojekt. Tübingen: Narr.
Flanders, Ned A. (1978). Analyzing Teaching Behavior. Reading, Mass. [u. a.]: Addison-Wesley.
Gadow, Anne (2016). Bildungssprachliches Handeln von Kindern mit deutscher und anderer Familien-
sprache. Beschreiben und Erklären im naturwissenschaftlichen Sachunterricht in der Jahrgangsstufe
4. Berlin: ESV.
Garton, Sue (2012). Speaking out of turn? Taking the initiative in teacher-fronted classroom interaction.
In: Classroom Discourse 1, 29–45.
Goffmann, Erving (1981). Forms of Talk. Oxford: Blackwell.
Gumperz, John J. (Hg.) (1982). Language and Social Identity. Cambridge: Cambridge University Press.
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294 5. Forschungsverfahren

Schramm, Karen (2006). Transkript Wuschelbär. [Online: http://spzwww.uni-muenster.de/griesha/dpc/


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im Sachunterricht. In: Becker-Mrotzek, Michael/Schramm, Karen/Thürmann, Eike/Vollmer, Helmut
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Pädagogik. [Referenzarbeit, Kapitel 7]
*Schwab, Götz (2011). From dialogue to multilogue: a different view on participation in the English
foreign language classroom. In: Classroom Discourse 1, 3–19.
*Schwab, Götz (2014). LID – Lehrerprofessionalisierung im Diskurs. Eine Pilotstudie zur gespräch-
analytischen Beratung von Englischlehrkräften in der Realschule. In: Pieper, Irene/Frei, Peter/Hau-
enschild, Katrin/Schmidt-Thieme, Barbara (Hg.). Was ist der Fall. Fallarbeit in Lehrerbildung und
Bildungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag, 89–105.
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*Seedhouse, Paul (2004). The Interactional Architecture of the Language Classroom: a Conversation
Analysis Perspective. Oxford: Blackwell.
Selting, Margret/Auer, Peter/Barth-Weingarten, Dagmar/Bergmann, Jörg/Bergmann, Pia/Birkner, Karin/
Couper-Kuhlen, Elizabeth/Deppermann, Arnulf/Gilles, Peter/Günthner, Susanne/Hartung, Martin/
Kern, Friederike/Mertzlufft, Christine/Meyer, Christian/Morek, Miriam/Oberzaucher, Frank/Peters,
Jörg/Quasthoff, Uta/Schütte, Wilfried/Stukenbrock, Anja/Uhmann, Susanne (2009). Gesprächsana-
lytisches Transkriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen
Interaktion 10, 353–402 [Online: www.gespraechsforschung-ozs.de] (22. 09. 2015).
Sinclair, John McH./Coulthard, Richard M. (1975). Towards an Analysis of Discourse. The English Used
by Teachers and Pupils. Oxford: Oxford University Press.
van Lier, Leo (1996). Interaction in the Language Curriculum: Awareness, Autonomy and Authenticity.
London: Longman.
van Lier, Leo (2001). Constraints and Resources in Classroom Talk: Issues of Equality and Symmetry.
In: Candlin, Christopher N./Mercer, Neil (Hg.). English Language Teaching in its Social Context: a
Reader. London: Routledge, 90–107.
Vygotsky, Lev Semyonovich (1978). Mind in Society. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Weber, Peter/Becker-Mrotzek, Michael (2012). Funktional-pragmatische Diskursanalyse als For-
schungs- und Interpretationsmethode [Online: http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/wp- content/
uploads/2012/06/weber_mrotzek_diskurs_ ofas.pdf (8. 3. 2015).

»» Zur Vertiefung empfohlen

Becker-Mrotzek, Michael/Vogt, Rüdiger (2001). Unterrichtskommunikation. Linguistische Ana-


lysemethoden und Forschungsergebnisse. Tübingen: Niemeyer.
Hier werden u. a. exemplarisch die Vorgehensweisen der Funktionalen Pragmatik (Ehlich/Rehbein
1986), Konversationsanalyse (Mehan 1979) und Diskursanalyse (Sinclair/Coulthard 1975) dar-
gestellt. Anhand von Gruppendiskussionen oder des fragend-entwickelnden Unterrichts werden
Beispielanalysen durchgeführt. Der Fokus liegt allerdings nicht auf dem Fremdsprachen-, sondern
dem Deutschunterricht.

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5.3.6 Diskursanalytische Auswertungsmethoden 295

Markee, Numa (2000). Conversation Analysis. Mahwah, NJ: Erlbaum.


Anhand einiger Beispiele aus dem Zweitsprachunterricht (English as a Second Language) an ame-
rikanischen Hochschulen zeigt der Autor, wie Conversation Analysis for Second Language Acquisi-
tion (CA-for-SLA) funktionieren kann. Dabei wird bewusst die Verbindung zwischen Interaktions-
analyse respektive Konversationsanalyse und Zweit-/ Fremdspracherwerb angegangen.
Walsh, Steven (2006). Investigating Classroom Discourse. London: Routledge.
Der Autor gibt einen Überblick über verschiedene Ansätze der Diskurs- und Konversationsanalyse
und stellt einschlägige Studien kurz vor. Darauf basierend entwickelt er das Analyseinstrument SETT
(Self Evaluation of Teacher Talk) und stellt es anhand zahlreicher Beispiele ausführlich vor.
Weber, Peter/Becker-Mrotzek, Michael (2012). Funktional-pragmatische Diskursanalyse als
Forschungs- und Interpretationsmethode [Online: http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/wp-
content/​uploads/2012/06/weber_mrotzek_diskurs_ ofas.pdf] (9. 8. 2015).
Diese kurze, verständlich geschriebene Einführung in die funktional-pragmatische Diskursanalyse
aus dem Online-Fallarchiv Schulpädagogik der Universität Kassel gibt einen umfassenden Überblick
über die theoretischen Grundlagen, das methodische Vorgehen und die Kritik, die an der Funk-
tionalen Pragmatik geübt wurde. Auch Fragen der Verbindung mit quantitativen Verfahren und der
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empirischen Bildungsforschung werden dabei angesprochen.

»» Anhang

Das gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT 2) nach Selting et al. (2009) – Kom-


primierte Darstellung

[] Überlappung und Simultansprechen


= schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherbeiträge oder
Segmente (latching).
(.) Mikropause
( – ), ( – - ), ( – - - ) kurze, mittlere, längere Pausen
von ca. 0.25–0.75 Sek.; bis ca. 1 Sek.
(3.5) genaue Zeit bei Pausen von mehr als 1 Sek. Dauer
und_ä h Verschleifungen innerhalb von Einheiten
:, : :, : : : Dehnung, Längung, je nach Dauer
/ Abbruch nach Glottalverschluss (Ergänzung G. S.)
°h/h° einatmen bzw. ausatmen

a k Z E NT Fokusakzent
a k ! Z E NT ! extra starker Akzent

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296 5. Forschungsverfahren

? hoch steigend
, mittel steigend
- gleich bleibend
; mittel fallend
. tief fallend

((hustet)) para-/außersprachliche Handlungen/Ereignisse


<<hustend>>> sprachbegleitende para- und außersprachliche Handlungen,
Ereignisse und Interpretationen mit Reichweite
() unverständliche Passage nach Länge
(solche) vermuteter Wortlaut
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( s o l c h e/w e l c h e ) mögliche Alternativen


[...] bei Auslassung mehrerer Zeilen [Ergänzung der Autoren]

`SO fallend
´SO steigend
´` S O steigend-fallend

↑ kleinere Tonhöhensprünge nach oben


↓ kleinere Tonhöhensprünge nach unten

↑↑ größere Tonhöhensprünge nach oben


↓↓ größere Tonhöhensprünge nach unten

→ Verweis auf im Text behandelte Transkriptzeile

< < t >> tiefes Tonhöhenregister


< < h >> hohes Tonhöhenregister
< < f >> forte, laut
< < f f >> fortissimo, sehr laut
< < p >> piano, leise

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5.3.7 Analyse von Lernersprache 297

< < p p >> pianissimo, sehr leise


< < a l l >> allegro, schnell
< < l e n >> lento, langsam
< < c r e s c >> crescendo, lauter werdend
< < d i m >> diminuendo, leiser werdend
< < a c c >> accelerando, schneller werdend
< < r a l l >> rallentando, langsamer werdend

5.3.7 Analyse von Lernersprache

Nicole Marx/Grit Mehlhorn


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1 Begriffsklärung
Das Konzept der Lernersprache (interlanguage, Selinker zuerst 1969, veröffentlicht 1972)
und die Idee, diese zu analysieren, haben zu einem grundlegenden Perspektivenwechsel in
der Fremdsprachenforschung und -didaktik geführt. Das Lernersprachenkonzept entwickelte
sich aus unterschiedlichen Forschungstraditionen, wobei v. a. die Kontrastive Analyse (vgl.
Fries 1945, Lado 1957 und Weinreich 1953) und die Fehleranalyse (error analysis, u. a. Corder
1967) eine große Rolle spielten. Es wuchs aus dem Verständnis heraus, dass das erfolgreiche
Lernen einer neuen Sprache nicht nur durch die Zielsprache an sich sowie den Fleiß des
Lernenden beeinflusst wird, sondern auch durch andere Faktoren wie das System der Erst-
sprache. Da die Lernersprachenanalyse seit den ersten Auseinandersetzungen mit dem Thema
eines der wichtigsten Standbeine der Fremdsprachenforschung ist, wird ihr in diesem Werk
ein gesondertes Kapitel gewidmet.
Lernersprache – im Deutschen auch bekannt als Interimsprache (Raabe 1974) – bezeichnet
das individuelle sprachliche System, das Lernende beim Aneignen einer Zielsprache im Ver-
laufe ihres Sprachlernprozesses aufbauen und das ihren Äußerungen zugrundeliegt (u. a.
Selinker 1972, 1992, Corder 1967, 1974, Nemser 1971). Lernersprachen sind somit nicht nur
unvollständige Versionen einer langue (i.S. Saussures), sondern dynamische und hoch indivi-
duelle Systeme eines jeden Sprechenden. Sie enthalten zu nicht prognostizierbaren Anteilen
neben Merkmalen der Zielsprache auch Eigenschaften der Erst- und weiterer Fremdsprachen
(vgl. Selinker 1992: 164) sowie Merkmale, die keinem anderen, dem Lernenden bekannten
Sprachsystem zugeschrieben werden können. Sie können sich immer weiter in Richtung ziel-
sprachlicher Strukturen entwickeln.
Lernersprache ist vor allem durch Dynamik und Individualität gekennzeichnet. Die Dy-
namik der Lernersprache zeigt sich im kontinuierlichen Prozess des Bildens und Testens von
Hypothesen über die Zielsprache (vgl. u. a. Herdina/Jessner 2002, Zhao/Song/Cherrington
2013: 357). Zudem ist jede Lernersprache individuell und stellt ein System dar, das auf be-

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298 5. Forschungsverfahren

stimmten – z. T. recht idiosynkratischen – Regeln basiert, die durchgehend überprüft und evtl.
korrigiert, erweitert, verworfen oder verfestigt werden. Dies zeigt sich u. a. durch systema-
tische Abweichungen von der Zielsprache (Fehler). Zur Individualität von Lernersprachen
gehört auch ihre Instabilität auf Grund persönlicher und situationeller Faktoren. Wer müde,
aufgeregt oder desinteressiert ist, wird i. d. R. seine sprachlichen Kompetenzen anders prä-
sentieren als diese tatsächlich sind.
Ziel der Lernersprachenanalyse ist es, die Performanz von Lernenden zu untersuchen, um
Aufschlüsse über den jeweiligen individuellen Lernstand zu gewinnen und evtl. die Entwick-
lung der Sprachkompetenzen von Lernenden nachzeichnen zu können. Bei der Untersuchung
der Lernersprache müssen v. a. die genannten Merkmale der Dynamik und Individualität
beachtet werden.

2 Zu untersuchende Aspekte von Lernersprache


Das wissenschaftliche Interesse an Lernersprache konzentriert sich nicht nur auf Ausprägun-
gen des jeweils untersuchten sprachlichen Systems bei einzelnen Lernenden, sondern auch
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auf kognitive Prozesse, die beim Lernen und bei der Verwendung einer Sprache eingesetzt
werden. Obwohl solche Prozesse nicht einheitlich konzipiert werden, bietet das ursprüngliche
Verständnis von Interlanguage einen sinnvollen Anfang für Lernersprachenanalysen.
Mit der Analyse von Lernersprache nehmen die meisten Forschenden eine produktionsori-
entierte Sicht ein: Von Interesse ist das, was der Lernende in der Zielsprache selbst formuliert.
Zunächst kann Lernersprache anhand der unterschiedlichen Sprachebenen wie Phonetik/
Phonologie, Orthographie, Morphologie, Syntax, Lexik, textdiskursive Merkmale und Prag-
matik untersucht werden. Für die Spracherwerbsforschung ist v. a. das Zusammenwirken der
verschiedenen Bereiche sprachlichen Wissens interessant. Aber auch kognitive Prozesse, die
für die Entwicklung einer Lernersprache bedeutend sind, können erforscht werden. Selinker
(1972: 216–217) zufolge sind fünf, sich zum Teil überschneidende kognitive Prozesse von
Bedeutung:
• Transfer von der Erstsprache bzw. anderen bereits bekannten Sprachen auf die Zielsprache
(sowohl „positiver“, also zu korrekten Äußerungen führender Transfer als auch „negativer“
Transfer oder „Interferenz“, die zu Fehlern in der Zielsprache führt),
• Übungstransfer (z. B. durch das häufige Üben einer Struktur im Unterricht),
• Fremdsprachenlernstrategien,
• Fremdsprachenkommunikationsstrategien,
• Übergeneralisierungen zielsprachlicher Einheiten.
Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Kategorien. Die beobachtbaren sprachlichen
Phänomene können als Indizien für viele der o. g. kognitiven Prozesse herangezogen werden
(ein Wort aus der L1, das in der L2 verwendet wird, dient z. B. als Indiz für Transfer). Da-
gegen kann eine Untersuchung der kognitiven Prozesse – hierfür werden eher introspektive
Erhebungen, s. u., benötigt – Erklärungen für bestimmte sprachliche Phänomene in der Ziel-
sprache liefern. Viele Untersuchungen zur Lernersprache gehen auf den Zusammenhang von
(nur indirekt beobachtbaren) kognitiven Prozessen und (direkt beobachtbaren) sprachlichen
Phänomenen ein, wenn sie z. B. die Entwicklung einer Verbalform untersuchen und dabei

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5.3.7 Analyse von Lernersprache 299

mögliche Erklärungen für die unterschiedlichen Varianten finden. Als Erläuterung ein Bei-
spiel eines Englisch lernenden Deutschen, der im Laufe eines Kurses unterschiedliche Va-
rianten produziert:

Produzierte Aussage Sprachliche Ebene Vermutlicher kognitiver Prozess

I *read a good book right now. Morphologie Lernstrategie (Vereinfachung);


Transfer aus L1 (ich lese zurzeit
ein gutes Buch)
I *am reading good books every Übungstransfer (zu häufiges Üben
day. der Verlaufsform)
[What do you like?] Kommunikationsstrategie (Ver-
?Good books. meidung unsicher beherrschter
Formen)
Abbildung 1: Varianten einer Verbalform
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Innerhalb einzelner sprachlicher Ebenen lassen sich weitere Aspekte von Lernersprache dif-
ferenzieren, wie im Beispiel oben. Auch schrift- oder diskurslinguistische Phänomene rücken
immer häufiger in den Fokus von lernersprachlichen Analysen. Hierzu gehören u. a. die Äu-
ßerungskomplexität, z. B. die Anzahl und Art produzierter erweiterter Nominalphrasen oder
das Aufkommen von Nominalisierungen. Bei schriftlichen Textproduktionen können auch
textdiskursive Merkmale wie Kohäsion und Kohärenz, Anaphorik und Textstruktur sowie
schreibstrategische Aspekte wie die Nähe zu einer Textvorlage unter die Lupe genommen
werden; bei mündlicher Sprachproduktion spielt z. B. die Flüssigkeit von Äußerungen in Form
von typischen Performanz- und Hesitationsphänomenen wie Wiederholungen (z. B. von Pro-
nomen), gefüllten und ungefüllten Pausen und Reduktionen eine wichtige Rolle.
Lernersprache kann aus beschreibender oder beurteilender Perspektive untersucht werden
(deskriptive vs. normative Analyse). V.a. bei der beurteilenden Analyse sind Vergleichsdaten
von L1-Sprechenden sinnvoll, so dass neben Normentsprechungen (i. d. R. korrekten Äuße-
rungen) auch Normabweichungen feststellbar sind. Bei bilingualen Sprechenden sollte ein
Vergleich mit Gleichaltrigen der jeweiligen Erstsprache erfolgen.

3 Verfahren zur Analyse von Lernersprache


Bei der Analyse von Lernersprache ist zunächst vorrangig, wie Daten erhoben wurden (vgl.
Kapitel 5.2.6). So muss nicht nur die Art der Daten festgestellt werden (z. B. mündliche vs.
schriftliche Daten, kürzere Lückenübungen oder längere Texte), sondern auch wie sie er-
hoben wurden (z. B. einmalig oder mehrfach, mit gesteuerten oder ungesteuerten Elizitations-
verfahren, einzeln oder im Dialog, handschriftlich oder elektronisch), was dabei fokussiert
wurde (Produkt oder Prozess), und von wem die Daten stammen (z. B. von einer Person oder
mehreren), um Analysefehler zu vermeiden.
Nach der Datenerhebung, aber noch vor der eigentlichen Analyse erfolgt die Datenauf-
bereitung, bei der die Daten sorgfältig archiviert, systematisiert und entsprechenden Meta-
daten zugeordnet werden. Je nach erhobener Datenart erfolgt dies unterschiedlich. Nach

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300 5. Forschungsverfahren

heutigem Standard werden mündliche Lerneräußerungen zumindest auditiv aufgezeichnet,


oft sogar videographiert und im Anschluss mit Hilfe eines entsprechenden Notationssys-
tems transkribiert; erst auf Basis dieser Transkription werden Daten analysiert. Solche Tran-
skriptionen sollten möglichst mit einer geeigneten Software angefertigt werden, die später
auch Annotationen zulässt (vgl. Mempel/Mehlhorn 2014 und Kapitel 5.3.6). Von Vorteil ist
hierbei, dass in digitalisierten Korpora in der Regel beliebig viele Annotationsebenen einge-
fügt werden können (vgl. Kapitel 5.2.6).
Auch schriftliche Daten werden meist aufbereitet, um die Analyse zu erleichtern; im ein-
fachsten Fall handelt es sich um die Digitalisierung handschriftlich geschriebener Äußerungen
in einem Textverarbeitungsprogramm.
Die zu untersuchenden Äußerungselemente und Strukturen müssen als nächstes im
­Datenmaterial identifiziert und isoliert werden. Der Isolierungsprozess ist abhängig von
der Art des Erhebungsinstruments, des produzierten Textes, der Transkription, dem Unter-
suchungsinteresse und dem theoretischen Ansatz des Forschungsprojekts (vgl. Ahrenholz
2014).
Die Datenanalyse erfolgt entweder mit bereits vor der Datenerhebung festgelegten Kate-
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gorien, oder die Kategorien werden aus dem erhobenen Datenmaterial entwickelt (rationalis-
tische vs. empirische Kategorienbildung). Die Kategorisierungen sollten möglichst konsistent
durchgeführt und Zuordnungsentscheidungen bei der Ergebnispräsentation dokumentiert
werden. Neben der Entscheidung für eine Herangehensweise wird zwischen unterschiedli-
chen theoretischen Ansätzen für die Lernersprachenanalyse unterschieden. Für den europäi-
schen Kontext nennt Ahrenholz (2014: 171) drei besonders relevante Ansätze:
• strukturalistisch orientierte Analysen, die u. a. der Steuerung des Spracherwerbs durch uni-
versalgrammatische Prinzipien nachgehen (z. B. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983),
• die Funktionale Pragmatik, die den Sprachgebrauch in Handlungsmustern einschl. der
sozialen Einbettung der Sprachverwendung beschreibt (z. B. Ehlich/Rehbein 1979),
• den funktionalen konzeptorientierten Ansatz, bei dem die lernerseitige Sprachproduktion
als Bezugspunkt zur Untersuchung der Realisierung semantischer Grundkonzepte wie
Temporalität, Lokalität und Modalität dient (z. B. von Stutterheim 1997).
Der theoretische Ansatz bestimmt den Fokus der Analyse, kann in einer Theorietriangulie-
rung (vgl. Kapitel 4.4) aber mit anderen Ansätzen kombiniert werden, um unterschiedliche
Perspektiven auf erhobene Daten zu ermöglichen (vgl. z. B. die Untersuchung von Zweit-
spracherwerbsphasen in Wegener 1995).
In der Fremdsprachenforschung gibt es unterschiedliche Methoden zur Lernersprachen-
analyse. Wir gehen im Folgenden insbesondere auf die Möglichkeiten der Fehleranalyse,
kompetenzbezogener Analysen, Profilanalysen und Ratings ein.
Der Tradition der Kontrastiven Analyse folgend wird nach wie vor das Zusammenwirken
von Erstsprache, Lernersprache und Zielsprache v. a. anhand von Fehleranalysen untersucht.
Hierbei werden häufig nur Ausgangs- und Zielsprache verglichen, obwohl auch drei oder
mehrere Sprachen verglichen werden können (z. B. Kärchner-Ober 2009). Auch zur Erläute-
rung von Informationen zur Lernprogression, erreichten Lernniveaus, möglichen Fossilierun-
gen, interindividuellen Unterschieden u.v.m. werden Fehleranalysen durchgeführt. Bei allen

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5.3.7 Analyse von Lernersprache 301

Varianten ist der noch umstrittene Fehlerbegriff von zentraler Bedeutung; Fehler werden
i. d. R. als nicht normgerechte Äußerungen definiert.
Die typischen Schritte einer linguistischen Fehleranalyse sind Identifizierung, Klassifizie-
rung und Erklärung der einzelnen Fehler. In der Unterrichtspraxis kommen Fehlerkorrektur
und -bewertung hinzu; für die Unterrichtsvorbereitung ist die Fehlertherapie und -prophyla-
xe relevant (vgl. Kuhs 1987). Schon bei der Identifizierung von Fehlern müssen unterschied-
liche Überlegungen vollzogen werden, z. B. ob zwischen eindeutigen Fehlern (z. B. ein nicht
existentes oder in einem bestimmten Kontext nicht passendes Wort, eine falsche Endung, eine
falsch betonte Silbe) und graduellen Abweichungen (z. B. ein in Bezug auf das Register nicht
ganz passendes Wort, ein betonter Vokal im Deutschen oder Englischen, der weder als lang
noch als kurz klassifiziert werden kann) differenziert werden sollte. Anders als in der Mor-
phologie gibt es gerade im Bereich der Phonetik meist kein „Richtig“ oder „Falsch“; vielmehr
befinden sich Segmentalia und Suprasegmentalia in der Lernersprache auf einem Kontinuum
zwischen stark abweichender und zielsprachennaher Realisierung. Auf ein ähnliches Problem
trifft man bei der Analyse von Texten, weswegen für diese sprachlichen Ebenen oft andere
Analyseverfahren wie Ratings herangezogen werden.
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Nach der Identifizierung werden Fehler nach der Art der Abweichung klassifiziert. Hierfür
bestehen bereits mehrere Fehlerkataloge (z. B. Kleppin 1997), so dass man im Normalfall
keinen eigenen entwickeln muss. In einem dritten Schritt wird nach Fehlerursachen gesucht –
z. B. ein oder mehrere der im Abschnitt 5.3.7.2 genannten kognitiven Prozesse. Hat man die
Fehlerkategorien schon vor der Datenerhebung bestimmt, kann eine einfache Fehleranalyse
in bestimmten sprachlichen Bereichen mit geringerem Aufwand z. B. als Rating durchgeführt
werden. Allerdings soll hier vor einer Versimplifizierung des Prozesses gewarnt werden: Ge-
rade die Bestimmung einer Fehlerursache ist ohne Kombination mit introspektiven Methoden
äußerst schwierig, und sogar der erste Schritt, die Fehleridentifikation, kann zu Problemen
führen, wenn es sich z. B. um dialektal unterschiedlich ausgeprägte Merkmale handelt. Pro-
blematisch ist zudem, dass Fehleranalysen wenig über Fremdsprachenlernprozesse verraten
und keine Aussagen zu positivem Transfer geben können. Sprachliche Kreativität, Überpro-
duktionen bestimmter Strukturen sowie Vereinfachungs- und Vermeidungsstrategien werden
dabei ebenfalls kaum berücksichtigt.
Im Gegensatz zu Fehleranalysen legen kompetenzbezogene Analysen den Schwerpunkt
darauf, was Lernende in der Zielsprache bereits ausdrücken können. In der Fremdsprachen-
didaktik am bekanntesten hierfür sind wohl die Kann-Beschreibungen des Gemeinsamen
europäischen Referenzrahmens (GeR) und Erweiterungen wie der FREPA (Candelier et al.
2012), die anhand von Kompetenzlisten versuchen zu ermitteln, in welchem Maße bestimm-
te Kompetenzen von einzelnen Lernenden bereits gemeistert werden. Für die frühkindliche
Spracherwerbsforschung ist diese Art von Analyse das wohl wichtigste Analyseverfahren
schlechthin (ein bekanntes Beispiel sind die Screenings der MacArthur Communicative Deve-
lopment Inventories, CDI, u. a. Fenson et al. 2007). Solche Analysen können von der Lehrkraft,
vom Lernenden oder von anderen beteiligten Personen – beim Erstspracherwerb z. B. von
einem Betreuer – ausgefüllt werden und sind in unterschiedlichem Maße differenziert (vgl.
die Frage: „Versteht das Kind das Wort ‚Ameise‘?“ im CDI vs. „Kann das eigene Sprachver-
halten mit dem der Sprecher anderer Sprachen vergleichen“ im FREPA). Insgesamt hat die
Fremdsprachendidaktik in den letzten Jahren eine Wende von der Fehler- zur Kompetenzfo-

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302

5.3.7 Analyse von Lernersprache


Rekonstruktion von Erwerbsprozessen an sprachlichen Produkten

Sprachebenen (Phonetik, Orthographie, Morphologie, Syntax etc.) und


kognitive Prozesse (Transfer, Strategien, Übergeneralisierung etc.)
in mündlichen oder schriftlichen lernersprachlichen Datenkorpora deskriptiv oder normativ untersuchen

Kompetenzbezogene Analysen
Einordnung auf skalierten Kompetenzbeschreibungen
Korpora von
Lernersprache
Profilanalysen ['lɛʁnɐʃpʁaːxə]
Lernstadien in Modellen
„das individuelle sprachliche System, das
Lernende beim Aneignen einer
Ratings Zielsprache im Verlaufe ihres
Experteneinschätzungen spezifischer Merkmale Sprachlernprozesses aufbauen und das
ihren Äußerungen

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zugrundeliegt“
Fehleranalysen
Fehlerklassifikation und -erklärung

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5. Forschungsverfahren
5.3.7 Analyse von Lernersprache 303

kussierung erfahren, was sich u. a. auch in den Bildungsstandards sowie in Lehrwerken für
die Fremdsprachen widerspiegelt; eine ähnliche Entwicklung wäre für die wissenschaftliche
Analyse lernersprachlicher Äußerungen wünschenswert.
Kompetenzorientiert sind ebenfalls Profilanalysen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie
anhand bestimmter Kriterien natürliche Sprachaufnahmen analysieren. Oft setzen sie das
Ziel, notwendige Förderbereiche herauszustellen. Sie beruhen auf einem stufenweisen Ver-
ständnis der Lernersprachenentwicklung und legen unterschiedliche – meist syntaxbasierte –
Lernstadienmodelle zugrunde. Weil Profilanalysen spezifischen sprachlichen Elementen nach-
gehen, konzentrieren sie sich i. d. R. auf einen sprachlichen Bereich wie Grießhabers (2006,
2012) Profilanalyse für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, die syntaktische Strukturen
in mündlichen und schriftlichen Produktionen einzelner Lernender kategorisiert, oder auf
eine bestimmte Menge quantifizierbarer Elemente wie das Rapid Profile-Verfahren für Eng-
lisch als Fremdsprache (zuerst Pienemann/Johnston/Brindley 1988), das elizitierte mündliche
Lerneräußerungen kodiert. Wenn hier z. B. im Rahmen eines Elizitationstasks auf die Frage
„What is the man doing?“ geantwortet wird: „He read a book.“, können sowohl Aussagen
zur Morphologie (inkorrekte Deklination), zum Aspekt, zur Syntax (korrekte Wortfolge) und
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zur Lexik getroffen werden. Profilanalysen haben den Vorteil, in einem standardisierten Ver-
fahren unterschiedliche Lernende vergleichen zu können und somit in Situationen einsetzbar
zu sein, in denen Aufschlüsse über individuellen Lernzuwachs im Kontext einer ähnlichen
Situation benötigt werden.
Für die Untersuchung kleiner (z. B. phonetischer) Merkmale und großer sprachlicher Ein-
heiten (Texte) bieten sich Verfahren an, die Experteneinschätzungen heranziehen (Ratings).
In diesen Verfahren werden mindestens zwei Experten (je nach Untersuchungsaspekt z. B.
geschulte Erstprachler oder Schreibexperten) darum gebeten, spezifische Äußerungen, oft auf
einer bestimmten Skala, nach ihrer Korrektheit, Verständlichkeit und/oder Angemessenheit
einzuschätzen. Bei einer Analyse der phonetischen Ebene von Lernersprache können somit
neben akustischen Analysen im digitalen Sprachsignal (z. B. mit dem OpenSource-Programm
Praat, vgl. Richter 2008) auch eine perzeptive Bewertung durch trainierte Expertenhörer
(oft Erstsprachler), die Abweichungen einschätzen (vgl. Baur/Nickel 2009), herangezogen
werden. In Praat kann eine Rating-Skala hinzugefügt werden, um die akustischen Stimuli
auch auditiv zu bewerten. Die Triangulierung beider Methoden kann eine Balance zwischen
der inhärenten Subjektivität perzeptiver Bewertung und der Einseitigkeit von akustischen
Analysen als einzigem Auswertungsinstrument schaffen (vgl. Mehlhorn 2012: 206).
Sehr sinnvoll lassen sich Ratings auch in Hinblick auf textlinguistische Aspekte einsetzen, die
sich nur schwierig in ein richtig/falsch-Schema einordnen lassen und eher schwer bestimm-
bare Merkmale wie Angemessenheit, Kohärenz und Kohäsion einbeziehen. Ob eine Ellipse
oder eine pronominale Referenz im satzübergreifenden Zusammenhang kohäsionstiftend
ist, kann mit den o. g. Verfahren kaum bestimmt werden; stattdessen müssen Experten in der
jeweiligen Sprache die Angemessenheit einschätzen. In letzter Zeit finden u. a. wissenschafts-
sprachliche Aspekte eine besondere Betonung in der Erforschung der Lernersprache. Ratings
finden auch in Prüfungen wie dem TestDaF Anwendung; hier wird der Testteil „Schriftlicher
Ausdruck“ anhand diverser Kriterien wie „Sind die Sätze im Text miteinander verbunden,
d. h. ist der Text kohärent?“ (http://www.testdaf.de/) durch den Prüfer bewertet.

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304 5. Forschungsverfahren

Werden Lernerkorpora analysiert, liefern notierte Metadaten Deutungsmöglichkeiten zu


Hintergründen und Ursachen für bestimmte Auffälligkeiten. Für die korpusbasierte Sprach-
beschreibung können z. B. die Häufigkeit der Verwendung bestimmter Lemmata, Konstruk-
tionen oder grammatischer Formen, die Textlänge und das Auftreten von Chunking (die
Verwendung fester Wortgruppen, vgl. Aguado 2008) in Abhängigkeit von Faktoren wie
Lerndauer, Alter, Sprachlernerfahrung, Mehrsprachigkeit, Kursart, Sprachumgebung usw.
in Bezug auf das Sprachenlernen und Sprachverhalten im Alltag analysiert werden (vgl. Ka-
pitel 5.3.8 Korpusanalyse). Lernerkorpora können mit verschiedenen Methoden ausgewertet
werden. So sind z. B. Fehleranalysen und gesprächsanalytische Untersuchungen möglich.
Neben qualitativen Beschreibungen von Lernersprachen bieten Korpusanalysen Möglichkei-
ten der quantitativen Untersuchung, z. B. durch den statistischen Vergleich von Lernerdaten
mit erstsprachlichen Vergleichsdaten. So zeigt Nesselhauf (2005) in ihrer lernerkorpuslin-
guistischen Studie, in welchen Bereichen fortgeschrittene deutsche Lerner des Englischen im
Kollokationsgebrauch noch deutlich von Erstsprachlern abweichen.

4 Erforschung von Lernersprache – Perspektiven


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Um ein ganzheitliches Bild der Entwicklung von Lernersprache zu erhalten, ist es notwen-
dig, über Fehleranalysen und eine Konzentration auf interlingualen Transfer hinauszugehen
(Selinker 1992, passim). Auch die Prozesshaftigkeit der Lernersprachenentwicklung muss
stärkere Beachtung finden; Apeltauer (2010: 840) zufolge wird gegenwärtig noch weitgehend
die von Lernenden praktizierte Selbststeuerung, die für große individuelle Unterschiede bei
der Lernersprachentwicklung mitverantwortlich sein könnte, vernachlässigt, wie z. B. das
Elizitieren sprachlicher Daten für die Entwicklung der eigenen Lernersprache bei Gesprächs-
partnern. Ebenfalls unklar ist, in welchen Situationen und in welchem Ausmaß Transfer
(positiver sowie negativer) auftritt und wann sowie von welchen Lernenden bestimmte ko-
gnitive Prozesse in den Lernprozess eingehen. Hierbei würden grundlegende sprachlernbio-
graphische Daten (vorgelernte Sprachen, Umfang des erhaltenen Fremdprachenunterrichts,
Qualität und Quantität des Zielsprachenkontakts u.v.m.) das Wissen über Lernersprache
deutlich vergrößern.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Aguado, Karin (2008). Wie beeinflussbar ist die lernersprachliche Entwicklung? Theoretische Über-
legungen, empirische Erkenntnisse, didaktische Implikationen. In: Fremdsprache Deutsch 38,
53–58.
Ahrenholz, Bernt (2014). Lernersprachenanalyse. In: Settinieri, Julia et al. (Hg.), 167–181.
Apeltauer, Ernst (2010). Lernersprache(n). In: Krumm, Hans, Jürgen/Fandrych, Christian/Hufeisen,
Britta/Riemer, Claudia (Hg.). Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch.
1. Halbband. Berlin: de Gruyter, 833–842.
*Baur, Rupprecht S./Nickel, Aneta (2009). „Man kann doch sowieso merken, dass wir nicht Deutsch bin“.
Phonetische Analysen am ESA-Korpus. In: Ahrenholz, Bernt (Hg.) (2009). Empirische Befunde zu

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5.3.7 Analyse von Lernersprache 305

DaZ-Erwerb und Sprachförderung. Beiträge aus dem 3. Workshop Kinder mit Migrationshintergrund.
Freiburg i.Br.: Fillibach, 313–331.
Candelier, Michelle/Camilleri-Grima, Antoinette/Castellotti, Véronique/de Pietro, Jean-Françoise/
Lőrincz, Ildikó/Meißner, Franz-Joseph/Noguerol, Arthur/Schröder-Sura, Anna (2012). FREPA. A
­framework of reference for pluralistic approaches to languages and cultures: competences and re-
sources. Straßburg: Council of Europe Publishing.
*Clahsen, Harald/Meisel, Jürgen M./Pienemann, Manfred (1983). Deutsch als Zweitsprache. Der Sprach-
erwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen: Narr.
*Corder, Steven Pit (1967). The significance of learner’s errors. In: International Review of Applied
Linguistics 5, 161–170.
Corder, Steven Pit (1974). The elicitation of interlanguage. In: International Review of Ap-
plied Linguistics. Special issue of IRAL on the occasion of Bertil Malmberg’s 60th birthday,
45–58.
Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen (1979). Sprachliche Handlungsmuster. In: Soeffner, Hans-Georg
(Hg.). Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler,
243–274.
Fenson, Larry/Marchman, Virginia A./Thal, Donna J./Dale, Philip S./Reznick, J. Steven/Bates, Elizabeth
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(2007). MacArthur-Bates Communicative Development Inventories. User’s guide and technical ma-
nual. 2. Auflage. Baltimore: Paul H. Brookes Pub. Co.
Fries, Charles Carpenter (1945). Teaching and Learning English as a Foreign Language. Ann Arbor:
University of Michigan Press.
*Grießhaber, Wilhelm (2006). Endbericht der wissenschaftlichen Begleitung, März 2006. Projekt
„Deutsch und PC“. Münster: WWU Sprachenzentrum.
Grießhaber, Wilhelm (2012). Die Profilanalyse. In: Ahrenholz, Bernt (Hg.). Einblicke in die Zweitsprach-
erwerbsforschung und ihre methodischen Verfahren. Berlin: de Gruyter, 173–193.
Herdina, Philip/Jessner, Ulrike (2002). A dynamic model of multilingualism. Perspectives of change in
psycholinguistics. Clevedon: Multilingual Matters.
*Kärchner-Ober, Renate (2009). The German language is completely different from the English language.
Besonderheiten des Erwerbs von Deutsch als Tertiärsprache nach Englisch und einer Nicht-indoger-
manischen Erstsprache. Tübingen: Stauffenburg. [Referenzarbeit, s. Kap. 7]
Kleppin, Karin (1997). Fehler und Fehlerkorrektur. Berlin: Langenscheidt.
*Kuhs, Katharina (1987). Fehleranalyse am Schülertext. In: Apeltauer, Ernst (Hg.). Gesteuerter
Zweitspracherwerb. Voraussetzungen und Konsequenzen für den Unterricht. München: Hueber,
173–205.
Lado, Robert (1957). Linguistics across cultures. Applied linguistics for language teachers. Ann Arbor:
University of Michigan Press.
Mehlhorn, Grit (2012). Phonetik/Phonologie in der L3 – neuere Erkenntnisse aus der Psycholinguistik.
In: Deutsch als Fremdsprache 49, 201–207.
Mempel, Caterina/Mehlhorn, Grit (2014). Datenaufbereitung: Transkription und Annotation. In: Setti-
nieri, Julia et al. (Hg.), 147–166.
Nemser, William (1971). Approximative systems of foreign language learners. In: International Review
of Applied Linguistics 9, 115–123.
*Nesselhauf, Nadja (2005). Collocations in a learner corpus. Amsterdam: John Benjamins.
*Pienemann, Manfred/Johnston, Malcolm/Brindley, Geoff (1988). Constructing an acquisition-ba-
sed procedure for second languge assessment. In: Studies in Second Language Acquisition 10,
217–243.
Raabe, Horst (1974). Interimsprache und kontrastive Analyse. In: Raabe, Horst (Hg.). Trends in kont-
rastiver Linguistik. Bd. 1. Tübingen: Narr, 1–50.

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306 5. Forschungsverfahren

*Richter, Julia (2008). Phonetische Reduktion im Deutschen als L2. Eine empirische Querschnittsstudie.
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Selinker, Larry (1972). Interlanguage. In: International Review of Applied Linguistics 10, 219–231.
Selinker, Larry (1992). Rediscovering interlanguage. London: Longman.
Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia
(Hg.). Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schö-
ningh
*Stutterheim, Christiane von (1997). Einige Prinzipien des Textaufbaus. Empirische Untersuchungen
zur Produktion mündlicher Texte. Tübingen: Niemeyer.
*Wegener, Heide (1995). Das Genus im DaZ-Erwerb. Beobachtungen an Kindern aus Polen, Rußland
und der Türkei. In: Handwerker, Brigitte (Hg.). Fremde Sprache Deutsch. Grammatische Beschrei-
bung – Erwerbsverläufe – Lehrmethodik. Tübingen: Narr, 1–24.
Weinrich, Uriel (1953). Languages in contact. Findings and problems. New York: Linguistic Circle of
New York.
Zhao, Yuqin/Song, Li/Cherrington, Ruth (2013). Interlanguage. In: Byram, Michael/Hu, Adel-
heid (Hg.). Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Learning. London: Routledge,
357–359.
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»» Zur Vertiefung empfohlen

Ahrenholz, Bernt (2014). Lernersprachenanalyse. In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feld-


meier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmetho-
den für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 167–181.
Der Handbuchartikel skizziert Bereiche sprachlichen Wissens, erläutert Faktoren der lernersprach-
lichen Entwicklung, diskutiert Fragen der Datenerhebung und -interpretation. Die Analyse gespro-
chener Lernersprache wird am Beispiel einer mündlichen Erzählung zu der Bilderfolge Cat Story
veranschaulicht. Konkrete Übungen zur Lernersprachenanalyse und Lösungsvorschläge erleichtern
den Einstieg in diese Thematik.
Selinker, Larry (1992). Rediscovering interlanguage. London: Longman.
Die Monographie ist ein umfangreicher und gut lesbarer Überblick zur Entstehung und (Weiter-)
Entwicklung des Konzepts Lernersprache und deren forschungsmethodischer Perspektiven. Sie geht
auf die unterschiedlichen theoretischen Richtungen, die sich mit Lernersprache auseinandersetzen,
sowie auf die daraus entstandenen Kontroversen, Erweiterungen und Verzahnungen mit neueren
Forschungsergebnissen ein.

5.3.8 Korpusanalyse

Cordula Meißner/Daisy Lange/Christian Fandrych

1 Begriffsklärung
Die empirische Auseinandersetzung mit Korpusdaten ist für die eher anwendungsorientierten
Disziplinen der Fremdsprachenerwerbsforschung mittlerweile unerlässlich. Untersuchungen

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5.3.8 Korpusanalyse 307

auf der Basis breiter Datenkollektionen können dabei in linguistischen, didaktischen, kul-
turwissenschaftlichen, soziologischen sowie weiteren verwandten Kontexten angesiedelt und
mit je spezifischen Fragestellungen verbunden sein. In der Fremdsprachenerwerbsforschung
werden Korpora einerseits zum Zweck linguistischer Beschreibungen herangezogen, ins-
besondere, um Regelmäßigkeiten und Gebrauchsmuster einer Sprache (auch kontrastierend)
zu ermitteln oder auch Lernersprache selbst im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Sprach-
verwendung und Kompetenzentwicklung zu analysieren. Andererseits kommen Korpora u. a.
in der Lehrmaterial- und Curriculaentwicklung, der Testwissenschaft, der empirischen Unter-
richtsforschung sowie als Unterrichtsmedium selbst zur Anwendung. Das folgende Kapitel
stellt zentrale Begriffe und Methoden der Korpusanalyse vor und verweist auf entsprechende
Analysewerkzeuge.
Die Verwendung des Korpusbegriffs ist in den Kontexten linguistischer und didaktischer
Forschung nicht immer sehr einheitlich. Man kann Sammlungen von Sprachressourcen
bezüglich vielerlei Kriterien voneinander unterscheiden. Auswahl und Zuschnitt solcher
Sprachdatensammlungen sollten in erster Linie in Hinblick auf die Erfordernisse des spezi-
fischen Untersuchungsgegenstandes und der konkreten Forschungsfrage(n) erfolgen. Der hier
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zu Grunde gelegte Korpusbegriff orientiert sich an der in der Korpuslinguistik etablierten


und allgemein akzeptierten Definition, welche Korpora als größere, zu einem bestimmten
Zweck zusammengestellte Sammlungen authentischer schriftlicher Texte oder gesproche-
ner Äußerungen versteht, die digitalisiert vorliegen und somit elektronisch durchsuchbar
sind (Lüdeling/Walter 2010: 315). Unterschieden werden Korpustypen u. a. nach dem Ver-
wendungszweck (Referenzkorpora, Spezialkorpora, Vergleichskorpora, Parallelkorpora,
Lernerkorpora), dem Medium (Textkorpora, Korpora mündlicher Sprachdaten, multimodale
Korpora) oder der Entstehungszeit ihrer Texte (Korpora der Gegenwartssprache vs. Kor-
pora historischer Sprachstufen). Von besonderem Interesse für die Fremdsprachenerwerbs-
forschung und -didaktik sind Korpora, die geschriebene (z. B. das ICLE35) oder gesprochene
Lerner- bzw. L2-Daten enthalten (z. B. das GeWiss-Korpus36), und die gelegentlich sogar die
Kennzeichnung und Klassifizierung von Fehlern beinhalten (z. B. Falko37). In Verbindung mit
kontrastiven Analysen können solche Korpora Aufschlüsse über Lernstadien, -schwierig-
keiten oder Erwerbshierarchien geben (ausführlicher zu Lernerkorpora und ihrem Einsatz
in der Fremdsprachenerwerbs- und didaktischen Forschung vgl. Granger 2008, Lüdeling
2007)38. Lemnitzer/Zinsmeister (2010: 102–123) sowie Scherer (2006: 16–31) bieten in ih-
ren Einführungen zur Korpuslinguistik jeweils sowohl einen Überblick über verschiedene
Korpustypen als auch eine Auflistung entsprechender, international zur Verfügung stehender
Korpora. Bei der Beurteilung der Eignung eines Korpus für eine bestimmte Untersuchung
sind zudem Kriterien wie Zugänglichkeit und Funktionalitäten, die integrierten Sprachen
oder Varietäten, die Korpusgröße und -persistenz (statische oder dynamische Korpora), die

35 International Corpus of Learner English, http://www.uclouvain.be/en-cecl-icle.html (24. 3. 2014).


36 Gesprochene Wissenschaftssprache kontrastiv, https://gewiss.uni-leipzig.de/ (24. 3. 2014).
37 Fehlerannotiertes Lernerkorpus, https://www.linguistik.hu-berlin.de/institut/professuren/korpuslinguis-
tik/forschung/falko (24. 3. 2014).
38 Unter http://www.uclouvain.be/en-cecl-lcbiblio.html (24. 3. 2014) ist eine umfangreiche Bibliographie zu
Studien und methodischen Arbeiten im Zusammenhang mit Lernerkorpora (vorrangig im Bezug zum
Englischen als Fremdsprache) abrufbar.

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308 5. Forschungsverfahren

Ausgewogenheit bzw. Heterogenität der Korpusdaten zu beachten (vgl. Lemnitzer/Zins-


meister 2010: 102–107).
Für die Auswertung von Korpusdaten gilt, dass alles such- und analysierbar ist, was kodiert
ist (Lüdeling/Walter 2010: 316). Dies umfasst neben den Primärdaten wie den Original-
texten oder -kommunikationen (als Audio- oder Videosequenzen) auch Sekundär- und Meta-
daten. Für die Analyse gesprochener Sprache unentbehrlich sind Sekundärdaten in Form von
Transkripten, d. h. Verschriftungen von Audio- oder Videoaufzeichnungen nach zuvor fest-
gelegten Konventionen. Metadaten umfassen beschreibende Angaben zur Korpusentstehung,
den Korpusinhalten sowie zu bestimmten Korpusmerkmalen. Sie ermöglichen Vergleiche im
Hinblick auf bestimmte Charakteristika der Kommunikationen bzw. Texte und der Sprecher
bzw. Autoren. Für spezifischere Analysezwecke können zusätzliche Beschreibungsebenen in
Form von Annotationen notwendig sein. Annotationen sind vorab festgelegte oder induktiv
durch die Analyse des Datenmaterials gewonnene Kategorien, mit denen dieses nachträglich
ausgezeichnet wird. Sie ermöglichen es, die Daten nach den entsprechenden Kategorien zu
systematisieren und quantitativ wie qualitativ zu untersuchen (vgl. Abschnitt Qualitative
Methoden).
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2 Methoden der Korpusanalyse


Im Kern beinhaltet das korpusanalytische Vorgehen das elektronisch gestützte, z. T. auto-
matische Durchsuchen, Sortieren, Zählen, Vergleichen und Interpretieren (größerer Mengen)
von sprachlichen Roh- bzw. transkribierten oder durch Annotation aufbereiteten Daten.
Entsprechende Analyseschritte können sowohl im Rahmen eines induktiven als auch ei-
nes deduktiven Ansatzes Anwendung finden. Während theoriegeleitet (theory-driven) die
Korpusdaten nach dem Raster vordefinierter Kategorien auswertet werden, gewinnt man
beim datengeleiteten Vorgehen (corpus-driven) erst induktiv aus der Sichtung der Daten (vgl.
Tognini-Bonelli 2001) die Analysekategorien. Für das korpusgesteuerte Vorgehen stellt das
Korpus somit die Grundlage dar, von der ausgehend die Beschreibungseinheiten formuliert
und Gebrauchsregelmäßigkeiten beschrieben werden (Steyer/Lauer 2007: 493). Eine solche
Herangehensweise will vermeiden, nur die Daten zu erfassen, die mit zuvor festgelegten
Kategorien vereinbar sind (Bubenhofer 2009: 101). Datengeleitet-induktives und deduktives
Vorgehen können ergänzend ineinandergreifen: Aus Beschreibungskategorien, die daten-
geleitet ermittelt wurden, lassen sich Hypothesen ableiten, die wiederum an den Korpusdaten
überprüft werden können (vgl. Steyer/Lauer 2007).
Im Hinblick auf die fremdsprachendidaktische Forschung findet die Korpusanalyse als
Methode Anwendung u. a. zur empirischen Absicherung curricularer Entscheidungen, indem
etwa aus Korpora ermittelte Häufigkeiten sprachlicher Strukturen als Kriterium zur Auswahl
von Lern- und Lehrinhalten herangezogen werden (Schlüter 2002; Tesch 2000). Darüber
hinaus sind Korpora in der Sprachausbildung für stark ausdifferenzierte berufliche bzw. fach-
liche Bereiche von großer Bedeutung, da sie hier eine bedarfsgerechte Ermittlung curricularer
Inhalte ermöglichen. Korpusanalytisches Vorgehen bildet darüber hinaus die Grundlage der
korpusbasierten Lehrwerksanalyse (vgl. z. B. Niederhaus 2011) und findet Verwendung im
Bereich der Spracherwerbsforschung, bspw. in kontrastiven Untersuchungen von Lerner- und
Zielsprachen (vgl. Zeldes/Lüdeling/Hirschmann 2008, Granger/Paquot 2009).

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5.3.8 Korpusanalyse 309

Die im Folgenden vorgenommene Unterteilung in quantifizierende Analysemethoden ei-


nerseits und qualitative, beschreibend-deutende Herangehensweisen andererseits dient der
Übersichtlichkeit der Darstellung, findet sich jedoch in der Forschungspraxis nicht in derart
strikter Form. Auch in scheinbar rein quantitative Untersuchungen fließen qualitative Ver-
fahren und Entscheidungen ein. So geht einer quantifizierenden Analyse stets eine qualitative
Kategorisierungsentscheidung im Bezug auf die gezählten Einheiten voraus (vgl. Lüdeling
2007). Das qualitative Sichten von Einzelbelegen ist zudem unverzichtbarer Bestandteil
zur Validierung von quantitativen Analysen, welche zumeist auf der Formebene ansetzen
(müssen) und semantisch begründete Ambiguitäten (Homonymie, Polysemie und kontext-
spezifische Bedeutungsvarianten) systematisch ausblenden. Vor diesem Hintergrund ist zu
betonen, dass die in den folgenden Abschnitten Quantitative Methoden und Qualitative
Methoden dargestellten Analyseschritte in der Praxis integrativ Anwendung finden bzw.
entsprechend reflektiert werden sollten.

Quantitative Methoden
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Grundlage quantitativer korpusanalytischer Methoden ist das Zählen von Einheiten. In


Korpora können verschiedene Größen gezählt werden, so etwa die laufenden Wörter, also
alle einzelnen Wortformenvorkommen (token) oder alle unterschiedlichen Wörter unter Zu-
sammenfassung gleicher Wortformen (types), daneben aber auch etwa häufige Wortkom-
binationen. Zu beachten ist hierbei, dass die Zählung rein formbasiert erfolgt und homonyme
Formen zu fehlerhaften Ergebnissen führen.
Eine Aufbereitung der Korpusdaten durch Wortartenannotation und Lemmatisierung er-
möglicht es, neben den grammatisch desambiguierten Wortformen auch Lemmata zu zählen.
Hierbei kann jedoch vor allem eine kombinierte Auswertung aufschlussreich sein, da sich re-
levante Unterschiede etwa in Lernerproduktionen auch auf spezifische Wortformen beziehen
können (vgl. z. B. die Ergebnisse von Granger/Paquot 2009).
Ein Vorgehen im Sinne einer quantitativen Korpusanalyse bedeutet, den Untersuchungs-
gegenstand in suchbarer und auszählbarer Form zu operationalisieren und dabei theoreti-
sche Konzepte in empirische Häufigkeiten zu übersetzen. Die Fragestellung wird dabei so
formuliert, dass die Häufigkeit, welche im Korpus unter den in Frage stehenden Bedingun-
gen ermittelt wird, die abhängige Variable darstellt (vgl. Stefanowitsch 2005). Ein Beispiel
soll diesen Ansatz verdeutlichen: Zeldes/Lüdeling/Hirschmann (2008) untersuchen, welche
Strukturen für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache als schwierig anzusehen sind,
indem sie in vergleichbaren wortartenannotierten Erstsprachler- und Lernerkorpora die
Vorkommenshäufigkeit aller Wortformentypes und Wortartentag-Abfolgen auszählen. Sie
operationalisieren die Schwierigkeit im Erwerb einer Struktur über Abweichungen in der
Gebrauchshäufigkeit bei Lernern und Erstsprachlern und interpretieren die in den Lerner-
texten signifikant mindergebrauchten Einheiten bzw. Strukturen als Bereiche von Erwerbs-
schwierigkeiten.
Zur Durchführung quantitativer Korpusanalysen stehen zahlreiche Softwarewerkzeuge
zur Verfügung (vgl. Wiechmann/Fuhs 2006 für einen Überblick). Ihre Anwendung erfolgt in
der Regel lokal auf dem Computer des Forschers und setzt voraus, dass das zu untersuchende
Korpus ebenfalls lokal zur Verfügung steht. Große öffentlich zugängliche Korpora wie etwa

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310 5. Forschungsverfahren

Cosmas Corpus Search, Management and Analysis System/DGD Datenbank für Gesproche-
nes Deutsch, DWDS Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache (für das Deutsche) oder
BNC British National Corpus, VOICE Vienna-Oxford International Corpus of English, (für
das Englische) sind hingegen oft nur online verfügbar. Die Analysemöglichkeiten sind dann
auf das beschränkt, was die Weboberfläche des Korpusbetreibers anbietet (dies umfasst oft
vor allem unterschiedlich umfangreiche Konkordanzsuchen).
Im Folgenden werden grundlegende Werkzeuge der quantitativen Korpusanalyse vor-
gestellt, mit denen sich Textsammlungen in ihrer Gesamtheit charakterisieren lassen (Wort-
listen, Schlüsselwortanalysen, N-Gramme, Type-Token-Verhältnis), sowie solche, die auf
die quantitative Analyse ausgewählter Einheiten abzielen (Quantitative Konkordanzsuche,
Kookkurrenzanalyse).

Methoden zur quantitativen Korpusbeschreibung

Wortlisten: Um eine Textsammlung quantitativ zu charakterisieren, bieten Wortlisten eine


erste Zugriffsmöglichkeit, d. h. Listen aller im Korpus auftretenden Wortformen mit Angabe
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der Häufigkeit ihres Vorkommens. Sie können für den durch die Korpuszusammenstellung
repräsentierten Sprachverwendungsbereich Aufschluss über frequente und weniger frequente
Einheiten geben und so etwa bei der Bestimmung von Lernwortschätzen zu Rate gezogen
werden. Entscheidend für die Bewertung von Wortlisten ist die der Zählung zugrunde gelegte
Wort-Definition, in die u. a. Entscheidungen bzgl. der Art der Grenzmarkierung oder hinsicht-
lich der Beachtung der Großschreibung einfließen. Bspw. würde die Beachtung der Groß-
schreibung in deutschen Sprachdaten dazu führen, dass Wortvorkommen an Satzanfängen
anders behandelt werden als im Satz. Eine Wortdefinition, die Leerzeichen als Grenzsymbole
zugrunde legt, würde z. B. bei englischen Daten mit Spatien innerhalb von Komposita dazu
führen, dass die Kompositumsbestandteile jeweils separat gezählt werden. Es ist daher zu
beachten, wie die Parameter der Wortdefinition in der Korpusanalysesoftware voreingestellt
sind bzw. wie sie für die eigene Untersuchung gewählt werden. Unabhängig von der kon-
kreten Korpuszusammensetzung werden in Wortlisten immer wenige hoch- und viele nied-
rigfrequente Einheiten erscheinen (vgl. Baroni 2009). Die häufigen Einheiten umfassen dabei
i. d. R. Funktionswörter. Neben der frequenzbezogenen Sortierung bietet Korpusanalysesoft-
ware für Wortlisten oft auch eine alphabetische sowie eine rückläufige Sortierungsoption an,
welche es ermöglichen, gezielt bspw. verschiedene Wortbildungstypen zu untersuchen. Der
über frequenzbasierte Wortlisten ermittelte häufigste Wortschatz wird etwa zur Bestimmung
von Grund- und Aufbauwortschätzen herangezogen (vgl. Tschirner 2005).
Keyword-Analyse: Neben den häufigsten Wörtern eines Korpus können diejenigen von
Interesse sein, die es von vergleichsrelevanten anderen Textsammlungen unterscheiden.
Solche Wörter lassen sich mittels Keyword-Analysen ermitteln. Die Schlüsselwörter (key
words) eines Textes oder einer Textsammlung sind jene, die signifikant häufiger auftreten, als
aufgrund ihrer Vorkommenshäufigkeit in einem Referenzkorpus zu erwarten wäre. Grund-
lage ist dabei der Vergleich der Wortliste des untersuchten Korpus mit der Wortliste eines
Referenzkorpus: Bei der statistischen Ermittlung wird für jedes Wort des Spezialkorpus (z. B.
akademische Lehrbuchtexte verschiedener Fächer) die Häufigkeit bestimmt und mittels Sig-
nifikanztest mit der Häufigkeit der Wörter in einem Referenzkorpus (z. B. einem gemein-

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5.3.8 Korpusanalyse 311

sprachlichen Korpus) verglichen. Lassen sich signifikante Unterschiede feststellen, handelt


es sich um Schlüsselwörter des Spezialkorpus, im Beispiel also um Einheiten, die typisch
für akademische Lehrbuchtexte sind. Durch Schlüsselwortanalysen lässt sich der inhaltlich
und stilistisch charakteristische Wortschatz eines Sprachverwendungsbereichs bestimmen.
Zu beachten ist hierbei, dass die Aussagekraft einer Keyword-Analyse stark davon abhängt,
wie geeignet und ausgewogen das verwendete Referenzkorpus ist. Schlüsselwortanalysen
können bspw. bei der Ermittlung domänenspezifischer Wortschätze zur Anwendung kom-
men. So zieht Paquot (2007) keyness als ein grundlegendes Kriterium heran, um eine pro-
duktionsorientierte Wortliste des akademischen Englisch zu erstellen. Sie ermittelt hierzu
die Schlüsselwörter eines Korpus akademischer Texte im Vergleich zu einem belletristischen
Korpus, aus welchen sie dann nach Häufigkeits- und Verbreitungskriterien die Einheiten ihrer
Wortschatzliste gewinnt.
Häufige Wortfolgen: Neben den prominenten Einzelwörtern eines Korpus können seine
häufigsten Type-Verbindungen oder N-Gramme (N steht für die Anzahl der Types) ermittelt
werden. Biber/Conrad/Cortes (2004) charakterisieren mit Hilfe dieses Maßes kontrastiv den
mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch in der akademischen Lehre.
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Type-Token-Verhältnis: Der Type-Token Quotient (engl. type-token ratio, kurz TTR) ist ein
Maß zur Beschreibung der Wortschatzvarianz bzw. lexikalischen Vielfalt. Zu seiner Berech-
nung wird die Anzahl der Types eines Textes oder einer Textsammlung durch die Anzahl der
Tokens geteilt. Je näher der Quotient bei 1 liegt, desto größer die lexikalische Vielfalt. Das
Maß findet u. a. Anwendung zur Einschätzung des Schwierigkeitsgrades von Texten oder
zur Beschreibung des Wortschatzreichtums von Lernertexten, anhand dessen die lexikalische
Kompetenz der Schreibenden eingeschätzt werden kann. Zu beachten ist bei der Verwendung
des TTR einerseits dessen starke Abhängigkeit von der Textlänge, zum anderen sein rein
quantitativer Charakter, welcher die Art der gezählten Wörter unberücksichtigt lässt. Soll
in einer Untersuchung etwas über die Sprachkompetenz eines Lerners ausgesagt werden, ist
nicht nur die Anzahl verwendeter Types relevant, sondern etwa auch, ob es sich hierbei um
Einheiten des Grundwortschatzes handelt oder um spezifischere, niedrigfrequentere Ein-
heiten fortgeschrittener Sprachstände (vgl. Daller/van Hout/Treffers-Daller (2003) für eine
diesbezügliche Diskussion des TTR).

Methoden zur quantitativen Beschreibung ausgewählter Einheiten in Korpora

Quantitative Konkordanzsuche: Der einfachste Weg, die Häufigkeit einer untersuchten Ein-
heit zu ermitteln, ist die Konkordanzsuche. Nach Eingabe des Suchbegriffs oder der komple-
xen Suchanfrage erhält man die Anzahl aller Treffer im Korpus und die zugehörigen Belege,
die anschließend auf mögliche Fehltreffer geprüft werden sollten. Im Normalfall wird die
Konkordanzsuche als Wortformensuche ausgeführt, d. h. bei flektierenden Wortarten sind
ggf. alle einzelnen Wortformen einzugeben, die gefunden werden sollen. Die Suche nach
Lemmata setzt ein diesbezüglich annotiertes Korpus voraus (z. B. bietet das DWDS eine solche
lemmabezogene Abfrage an). Im Abschnitt Qualitative Methoden wird ausführlich auf die
Arbeit mit Konkordanzsuchen eingegangen.
Kookkurrenzanalyse: Die mit einer untersuchten Einheit typischerweise gemeinsam auftre-
tenden Wörter lassen sich über statistische Zusammenhangsmaße in der Kookkurrenzanalyse

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312 5. Forschungsverfahren

ermitteln. Zur Berechnung von Kookkurrenzen bzw. Kollokationen im empirisch-statistischen


Sinn sind Entscheidungen hinsichtlich der Spanne zu treffen, in welcher die Kookkurrenz-
partner vom Suchwort rechts oder links entfernt auftreten können (collocational span).
Neben der Festlegung des Abstandes ist die Wahl des statistischen Zusammenhangsmaßes
von Einfluss auf die ermittelten Kookkurrenzen. Während auf die Stärke der Kookkurrenz
abzielende Maße wie Mutual Information (MI) niedrigfrequente Wörter mit beschränkter
Kombinationsfähigkeit übergewichten, erhalten bei den auf die Sicherheit der Kookkurrenz
abzielenden Signifikanzmaßen wie dem t-Wert höherfrequente Wörter mit vielen Belegen für
die fragliche Kombination eine stärkere Gewichtung (MI gibt daher eher Auskunft über das
lexikalisch/idiomatische Verhalten eines Wortes, der t-Wert eher über sein grammatisches,
vgl. Hunston 2002: 74). Analog zu der beschriebenen Ermittlung von Assoziationen zwischen
Worttypes lassen sich in entsprechend aufbereiteten Datensammlungen auch Kookkurenzen
von einzelnen Wörtern bzw. Lexemen und grammatischen Strukturen errechnen, wie dies
etwa unter dem Begriff der Collostructional Analysis verfolgt wird (vgl. Stefanowitsch/Gries
2009). Mittels statistischer Kookkurrenzanalysen können für Fremdsprachenlernende wich-
tige Einblicke in die Verwendungstypik sprachlicher Ausdrücke gewonnen werden. Über die
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korpuslinguistisch ermittelten Kookkurrenzpartner lässt sich so bspw. eine inhaltliche Diffe-


renzierung von Synonymen vornehmen oder die semantische Prosodie eines Ausdrucks, d. h.
eine ihm aus wiederkehrenden Gebrauchsumgebungen zuwachsende konnotative Bedeutung,
erfassen (vgl. Hunston 2002).

Qualitative Methoden

Vorwiegend qualitativ ausgerichtete Korpusanalysen verfolgen das Ziel bestimmte in den


Korpusdaten abgebildete (sprachliche) Phänomene zunächst zu ermitteln, sie zu klassifizieren,
einzuordnen und zu interpretieren (Scherer 2006: 36). Konkret kann die qualitative Arbeit
mit Korpusdaten dazu dienen, die Komplexität sprachlicher Phänomene zu erforschen, Re-
gelmäßigkeiten und Muster im Sprachgebrauch zu erkennen, diese mit anderen Daten zu
vergleichen, aber auch Kategorien zur Aufbereitung des Korpus aufzustellen und diese in
weiterführenden (mitunter auch frequenzorientierten) Analysen anzuwenden. Anders als bei
der Analyse von vom Kontext abstrahierten sprachlichen Einheiten in quantitativen Unter-
suchungen liegen qualitativen Auswertungen von Korpora meist umfangreichere Belegaus-
schnitte zu Grunde. Der konkrete Verwendungskontext einer sprachlichen Einheit dient dem
Forscher dazu, zu erkennen, wie in bestimmten Beispielen Bedeutungen generiert und welche
Lesarten aktualisiert werden (Wynne 2008: 711).
Die explorativ-interpretative Arbeit mit Korpusdaten bedient sich einer Anzahl an Me-
thoden, die nicht ausschließlich korpuslinguistisch im engeren Sinn orientiert sein müssen.
Im Folgenden sollen einige dieser Methoden benannt und im Hinblick auf verschiedene An-
wendungsfelder diskutiert werden.

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5.3.8 Korpusanalyse 313

Methoden qualitativer Korpusanalyse auf Grundlage von Volltexten

Volltexte können einerseits einer ersten Orientierung hinsichtlich des Untersuchungsgegen-


standes dienen, im Rahmen derer Hypothesen generiert werden. Andererseits lassen sich
an kompletten Texten eines bestimmten Genres oder bestimmter Varietäten, einer spezi-
fischen Sprecher- oder Autorengruppe Charakteristika herausarbeiten, klassifizieren und/
oder mit denen anderer Texttypen oder Sprachnutzer vergleichen. Methoden der Text-,
Diskurs- oder Konversationsanalyse können im Rahmen von Bedarfsanalysen, kontras-
tiven Untersuchungen (vgl. Schmied 2009), u. a. zu Lernersprache, oder im Hinblick auf
die Erstellung von Curricula oder Lehrmaterialien zur Anwendung kommen. Abgesehen
von Untersuchungen zu rein sprachlichen und textuellen Aspekten können je nach Art
der Daten aber auch konkrete Inhalte der in den Korpora verfügbaren Texte von Relevanz
sein, denen methodisch auf vielfältige Weise nachgegangen werden kann (vgl. hierzu Ka-
pitel 5.3.3–5.3.6).
Das Sichten vollständiger Texte und Kommunikationen ist häufig Ausgangspunkt für die
explorative Erarbeitung von Kategorisierungen für spätere Analysestufen. Ein hermeneuti-
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sches Vorgehen bezüglich der manuellen Identifikation und Klassifizierung bestimmter in den
Daten abgebildeter Phänomene sowie die rückwirkende und prüfende Anwendung dieser
Klassen auf die Datensamples sollte in nachvollziehbaren induktiven und deduktiven Zy-
klen erfolgen und nach Möglichkeit durch weitere Forscherpersonen validiert werden (vgl.
Lüdeling 2007: 38–39). Die aus den Auswertungsprozessen gewonnenen Kategorien lassen
sich schließlich als Annotationen in das Datenkorpus einbinden und sind insbesondere für
diejenigen Untersuchungsaspekte nötig, für die es entsprechende empirisch gewonnene
Kategorien oder Standards nicht gibt. Für einzelne Beschreibungsebenen stehen bereits er-
probte Tagsets zur Verfügung, an denen sich die manuelle Annotation orientieren kann und
die für die jeweiligen Datensamples adaptiert werden können, so zum Beispiel das Stutt-
gart-Tübingen-TagSet (STTS) für die Wortartenannotation (POS-Tagging). Für die technische
Integration induktiv erarbeiteter Annotationen können neben speziell in der Korpuslinguistik
genutzten Werkzeugen wie @nnotate39 oder dem Annotation-Panel des EXMARaLDA-Par-
titureditors auch verschiedene QDA-Tools (Qualitative Data Analysis) verwendet werden,
sofern die zur Verfügung stehenden Korpora das Herunterladen ganzer Texte zur Weiterver-
arbeitung zulassen. Verfügbare Tools zur (halb-)automatischen Annotation sind zum Bei-
spiel der TreeTagger40 oder WebAnno41, das im Rahmen der CLARIN-Initiative42 aufgebaut
wurde. Bei der Nutzung derartiger Tagger ist zu beachten, dass die automatisch annotierten
Daten einer manuellen Qualitätsüberprüfung unterzogen werden sollten, da insbesondere
im Hinblick auf Ambiguitäten bestimmter Wortformen unzuverlässige Kategorisierungen
erfolgen können (vgl. hierzu auch die Hinweise von Lüdeling 2007: 32). Bei der Auswahl der
Annotationssoftware sollte berücksichtigt werden, ob eine elektronische Weiterverarbeitung
oder Verfügbarmachung für weitere Analyseschritte, ggf. mit zusätzlichen Such- oder Ana-
lysewerkzeugen, gewährleistet bleibt.

39 http://www.coli.uni-saarland.de/projects/sfb378/negra-corpus/annotate.html (24. 3. 2014).


40 http://www.cis.uni-muenchen.de/~schmid/tools/TreeTagger/ (24. 3. 2014).
41 https://code.google.com/p/webanno/ (24. 3. 2014).
42 https://www.clarin.eu/content/about (24. 3. 2014).

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314

5.3.8 Korpusanalyse
elektronisch gestützte Analyse größerer Mengen von Sprachdaten
Korpus (ling.) Korpusanalysen

größere, zweckgebunden zusammengestellte, Muster des Sprachgebrauchs beschreiben


digitalisierte Sammlungen authentischer Kompetenzentwicklung analysieren
schriftlicher und mündlicher Texte mit Metadaten
induktiv (corpus driven)
und Annotationen deduktiv (theory driven)
z.B. ICLE, GeWiss, FALKO, COSMAS/DGD ...
types und tokens

Korpustypen
Referenz-, Spezial-, Vergleichs-, Parallel-, Volltextsuche
Lernerkorpora (nach Verwendungszweck) durchsuchen Inhaltsanalyse
sortieren Tag-Set-Suche
schriftliche Textkorpora, mündliche Sprach- Konkordanzsuche
zählen
daten, multimodale Korpora (nach Medium)

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vergleichen Schlüsselwortanalysen
Gegenwartssprache, historische interpretieren Type-Token-Verhältnis
Sprachstufen (nach Entstehungszeit) Kookkurrenzanalyse
5. Forschungsverfahren

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5.3.8 Korpusanalyse 315

Für die Fremdsprachenerwerbsforschung hat sich die Analyse und Beschreibung von
Lernersprache und damit im Zusammenhang auch die Annotation von Fehlern als äußerst
fruchtbar erwiesen (vgl. Granger 2008). Das Lernerkorpus Falko stellt fehlerannotierte Ler-
nertexte für Analysen frei zur Verfügung (zu Prinzipien und Problemen im Zusammenhang
mit Fehlerannotation vgl. Lüdeling 2007). Im Hinblick auf die Erforschung von Transfers und
Interferenzen, von Fehlerursachen, der Lernprogression und zur Ermittlung von potenziellen
Problemen für bestimmte Lernergruppen ist zudem der Vergleich zu Sprachstrukturen der
jeweiligen Erstsprachen mittels entsprechender Parallelkorpora oder (multilingualer) Ver-
gleichskorpora notwendig (vgl. auch Römer 2008: 117). Lernertexte und deren Analyse lassen
sich darüber hinaus auch als Mittel der Sprachsensibilisierung und -förderung nutzen. So
zeigt Mukherjee (2006), wie die Fehleranalyse englischsprachiger Lernertexte von deutschen
Schülern zur motivierenden und konstruktiven Auseinandersetzung mit der Fremdsprache
beitragen kann (vgl. dazu auch Römer 2008: 121).

Methoden qualitativer Korpusanalyse auf Grundlage von Konkordanzsuchen


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Konkordanzen sind im Rahmen qualitativ orientierter Korpusanalysen eine häufig genutzte


Visualisierungsform, über die eine Analysegrundlage zusammengetragen und ggf. spezifiziert
werden kann. Sie dienen beispielsweise der Untersuchung von Mustern und paradigma-
tischen Beziehungen, die sprachliche Einheiten im Sprachsystem eingehen können. Kon-
kordanzwerkzeuge umfassen die Suchmöglichkeit nach Wörtern, Wortverbindungen und
Annotationen. Die Ergebnisansicht erfolgt tabellarisch als Keyword-in-Context-Darstellung
(KWIC-Konkordanz), d. h. Belege des Suchausdrucks werden mit einer definierten Anzahl
der sie umgebenden Wörter angezeigt (vgl. Abb. 1). Online abruf- und analysierbare Korpora
wie FOLK (über die DGD243), GeWiss, MICASE, das BNC u. a. bieten ein implementiertes
Werkzeug für solche Konkordanzsuchen an. Für die Arbeit mit eigens erstellten oder unver-
öffentlichten Korpora stehen zahlreiche Tools zur Verfügung (vgl. Wiechmann/Fuhs 2006
und 2.1).

Abbildung 1: Konkordanzansicht zum Suchwort „vermitteln“ in den deutschsprachigen Korpora des GeWiss-
Korpus

Darüber hinaus bieten Konkordanztools weitere Optionen zur Aufbereitung der Ergebnisse
für eine eingehendere Analyse. Im Hinblick auf qualitativ bearbeitbare Forschungsfragen
43 http://dgd.ids-mannheim.de:8080/dgd/pragdb.dgd_extern.welcome (24. 3. 2014).

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316 5. Forschungsverfahren

gehört hierzu die Erweiterung der Konkordanz um zusätzliche Angaben wie Metadaten oder
Annotationen, die Möglichkeit des manuellen An- und Abwählens von Belegen, das Filtern
der Ergebnisse nach bestimmten Kriterien, das Sortieren sowohl des Kontextes als auch an-
derer hinzugewählter Parameter, sowie das Exportieren der Belege, um die lokale Weiter-
verarbeitung mit Hilfe anderer Programme zu gewährleisten (detaillierter zu den einzelnen
Operationen vgl. z. B. Wynne 2008). Diese Analyseoptionen erlauben es, relevante Belege
in der Art auszuwählen, anzuordnen und zu reduzieren, wie es für das Forschungsinteresse
erforderlich ist und so die Grundlage für die interpretative Auseinandersetzung mit den
Datensamples zu schaffen.

3 Potenzial korpusanalytischen Vorgehens


Bisher ermöglichen die meist verwendeten Formen der Korpusaufbereitung und die gängigen
korpusanalytischen Instrumente v. a. einen formorientierten Zugang zu Sprachdaten. Da-
durch können zum einen Informationen zu bestimmten Arten von sprachbezogenen Daten
(etwa Wortformen) sehr schnell und einfach abgerufen werden und in vielerlei Hinsicht für
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sprachdidaktische bzw. -forschungsbezogene Fragestellungen genutzt werden (bspw. all-


gemeine und domänenspezifische Wortschatzerhebung und Lexikographie, Fehleranalyse,
Lernerwortschatz-Analyse, empirische Überprüfung von Vorkommen und Verwendung aus-
gewählter grammatisch-struktureller Phänomene). So können die genannten Phänomene (die
Existenz geeigneter Korpora immer vorausgesetzt) auf einer sehr viel breiteren empirischen
Basis untersucht und in ihrer didaktischen bzw. Spracherwerbsrelevanz eingeschätzt werden.
Gleiches gilt für die Erstellung und Analyse von lernprozessbezogenen Korpora (wie etwa
Korpora mit Unterrichtsvideographien). Andererseits besteht die Gefahr, dass Phänomene,
die an der sprachlichen Oberfläche nicht (direkt) ablesbar sind (bspw. komplexe semantische
und pragmatische Phänomene wie etwa bestimmte sprachliche Handlungen und Handlungs-
verkettungen; Ambiguitäten verschiedener Art; stark interpretationsbedürftige Phänomene)
dabei aus dem Blick geraten können. Hier gilt es, in den verschiedenen Forschungsfeldern
umfangreiche qualitative Analysekategorien auf- und auszubauen, zu diskutieren und letzt-
lich mit entsprechenden Annotationsverfahren zu verbinden, so dass derartige Phänomene
auch anhand größerer Korpora untersucht werden können. Ähnliches gilt für die Dimensio­
nen der Multimodalität (Gestik, Mimik, Proxemik) und Intonation in ihrem ­Zusammenspiel
mit verbalem Handeln. Die Entwicklung entsprechender Analysekategorien und ihre kriti-
sche empirische Überprüfung und Weiterentwicklung ist nur möglich, wenn Korpora einer
möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – im Idealfall online, wobei im
Einzelfall datenschutzrechtliche Fragen zu berücksichtigen sind (etwa bei videographierten
Daten). Daneben ist es aus didaktischer wie auch aus forschungsmethodischer Sicht wün-
schenswert, nicht nur bzw. nicht in erster Linie den quantitativen, sondern auch und vor allem
den qualitativen Ausbau der Korpora voranzutreiben. Dies betrifft etwa den systematischen
Ausbau von Korpora gesprochener Sprache; die Anlage von umfangreichen und konsistenten
Korpus-Metadaten; die Annotation sowie den Ausbau der Bandbreite von relevanten sprach-
lichen Ereignissen, die in Korpora abgebildet werden. Daneben gilt es, Nutzungsbedürfnisse
und Nutzungsverhalten von zentralen Nutzergruppen empirisch genauer zu erforschen (von
Forschenden über Fremdsprachenlehrende bis hin zu den Lernenden) und auf dieser Grund-

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5.3.8 Korpusanalyse 317

lage flexible und nutzergerechte Korpusanalyse-Funktionalitäten zu schaffen. Mit Sicherheit


wird der weitere Ausbau von Korpora und die damit einhergehenden forschungsmetho-
dischen Möglichkeiten, Wünsche und Probleme sowie die Bewertung der so erzielten Er-
gebnisse einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass forschungsmethodische Fragestellungen
in der Fremdsprachendidaktik einen noch höheren Stellenwert einnehmen werden als dies
bisher ohnehin schon der Fall war.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erörterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
*Biber, Douglas/Conrad, Susan/Cortes, Viviana (2004). If you look at …: Lexical Bundles in University
Teaching and Textbooks. In: Applied Linguistics 25, 371–405.*
Bubenhofer, Noah (2009). Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kul-
turanalyse. Berlin: de Gruyter.
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*Daller, Helmut/van Hout, Roeland/Treffers-Daller, Jeanine (2003). Lexical Richness in the Spontaneous
Spech of Bilinguals. In: Applied Linguistics 24, 197–222.
Granger, Sylviane (2008). Learner Corpora. In: Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.), 259–275.
*Granger, Sylviane/Paquot, Magali (2009). Lexical Verbs in Academic Discourse: A corpus-driven Study
of Learner Use. In: Charles, Maggi/Pecorari, Diane/Hunston, Susan (Hg.). Academic Writing. At the
Interface of Corpus and Discourse. London: Contiunuum, 193–214.
Hunston, Susan (2002). Corpora in applied linguistics. Cambridge: University Press.
Lemnitzer, Lothar/Zinsmeister, Heike (2010). Korpuslinguistik. Eine Einführung, 2. Aufl. (= Narr Stu-
dienbücher). Tübingen: Narr.
Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.) (2008). Corpus Linguistics. Handbücher zur Sprach- und Kommuni-
kationswissenschaft (HSK) 29.1, Berlin: de Gruyter.
Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.) (2009). Corpus Linguistics. Handbücher zur Sprach- und Kommuni-
kationswissenschaft (HSK) 29.2, Berlin: de Gruyter.
Lüdeling, Anke/Walter, Maik (2010). Korpuslinguistik. In: Krumm, Hans-Jürgen/Fandrych, Christi-
an/Hufeisen, Britta/Riemer, Claudia (Hg.). Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Handbücher zur
Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) 35.1. Berlin: de Gruyter, 315–322.
Mukherjee, Joybrato (2006). Corpus linguistics and language pedagogy: the state of the art – and
beyond. In: Braun, Sabine/Kohn, Kurt/Mukherjee, Joybrato (Hg.). Corpus Technology and Language
Pedagogy: New Resources, New Tools, New Methods. Frankfurt am Main: Lang, 5–24.
*Niederhaus, Constanze (2011). Fachsprachlichkeit in Lehrbüchern. Korpuslinguistische Analysen von
Fachtexten in der beruflichen Bildung. Münster: Waxmann.
*Paquot, Magali (2007). Towards a productively-oriented Academic Word List. In: Walinski, Jacek/Kre-
dens, Krzysztof/Gozdz-Roszkowski, Stanislaw (Hg.). Corpora and ICT in Language Studies. Frankfurt
am Main: Lang, 127–140.
Scherer, Carmen (2006). Korpuslinguistik. Heidelberg: Winter.
*Schlüter, Norbert (2002): Present Perfect: Eine korpuslinguistische Analyse des englischen Perfekts mit
Vermittlungsvorschlägen für den Sprachunterricht.Tübingen: Narr. (Reihe Language in Performance
25 (LiP))
Stefanowitsch, Anatol (2005). Quantitative Korpuslinguistik und sprachliche Wirklichkeit. In: Solte-
Gresser, Christiane/Struve, Karen/Ueckmann, Natascha (Hg.). Von der Wirklichkeit zur Wissenschaft:

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318 5. Forschungsverfahren

aktuelle Forschungsmethoden in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften. Münster: LIT,


147–161.
Steyer, Kathrin/Lauer, Meike (2007). „Corpus-Driven“: Linguistische Interpretation von Kookkurrenz-
beziehungen. In: Eichinger, Ludwig/Kämper, Heidrun (Hg.). Sprach-Perspektiven. Germanistische
Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache. Tübingen: Narr, 493–509.
*Tesch, Felcitas (2000): Das englische Präsens in der gesprochenen Sprache: Tempus – Kookkurrenz –
Signalgrammatik. Augsburg: Wißner.
Tognini-Bonelli, Elena (2001). Corpus Linguistics at Work. Amsterdam: Benjamins.
*Tschirner, Erwin (2005). Korpora, Häufigkeitslisten, Wortschatzerwerb. In: Heine, Antje/Hennig, Mat-
hilde/Tschirner, Erwin (Hg.). Deutsch als Fremdsprache – Konturen und Perspektiven eines Faches.
München: Judicium, 133–149.
Wynne, Martin (2008). Searching and concordancing. In: Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.) (2008),
706–737.
*Zeldes, Amir/Lüdeling, Anke/Hirschmann, Hagen (2008). What’s hard? Quantitative evidence for dif-
ficult constructions in German learner data. In: Arppe, Antti/Sinnemäki, Kaius/Nikanne, Urpo (Hg.).
Proceedings of Quantitative Investigations in Theoretical Linguistics 3 (QITL-3), Helsinki, 74–77.
[Online: http://www.ling.helsinki.fi/sky/tapahtumat/qitl/ QITL3_Proceedings.pdf] (10. 2. 2014)P
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»» Zur Vertiefung empfohlen

Baroni, Marco (2009). Distributions in text. In: Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.), 803–822.
Der Handbuchartikel stellt grundlegende Eigenheiten von Häufigkeitsverteilungen in Texten bzw.
Korpora dar. Er geht insbesondere auf das Zipfsche Gesetz ein, welches besagt, dass für beliebige
natürlichsprachige Textsammlungen immer nur wenige Types mit hoher Tokenfrequenz und viele
Types mit niedriger Tokenfrequenz zu erwarten sind. Auch praktische Auswirkungen für die Korpus-
analyse, wie die resultierende unhintergehbare Belegknappheit im Bezug auf viele Einheiten, werden
diskutiert.
Lüdeling, Anke (2007). Das Zusammenspiel von qualitativen und quantitativen Methoden in der
Korpuslinguistik. In: Kallmeyer, Werner/Zifonun, Gisela (Hg.). Sprachkorpora – Datenmenge
und Erkenntnisfortschritt (IDS-Jahrbuch 2006). Berlin: de Gruyter, 28–48.
Der Beitrag legt zunächst dar, inwiefern auch quantitative Korpusanalysen in jedem Fall auf voraus-
gehenden qualitativen Datenkategorisierungsentscheidungen beruhen und durch diese beeinflusst
sind. Am Beispiel der Fehlerannotation von Lernerdaten wird dann ein Verfahren der Mehrebene-
nenannotation vorgestellt, welches es erlaubt verschiedene, auch konfligierende Interpretationen in
von den Rohdaten getrennten Ebenen festzuhalten und transparent auswertbar zu machen.
Römer, Ute (2008). Corpora and language teaching. In: Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.),
112–131.
Römer untersucht in ihrem Beitrag die Beziehungen zwischen Korpuslinguistik und der Sprach-
vermittlung und gibt im Zuge dessen einen gelungenen Überblick über wichtige pädagogische und
methodisch-didaktische Anwendungsfelder von Korpora im Rahmen der Sprachlehre.
Stefanowitsch, Anatol/Gries, Stefan Th. (2009). Corpora and grammar. In: Lüdeling, Anke/Kytö,
Merja (Hg.), 933–952.
Der Handbuchartikel stellt den korpuslinguistischen Ansatz der Collostruction-Analyse vor, welcher
Muster gemeinsamen Auftretens von lexikalischen Elementen und grammatischen Strukturen erfas-

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5.3.9 Statistische Verfahren – Einleitung 319

sen will. Das statistische Verfahren wird an Beispielen illustriert und im Kontext früherer kollokati-
onsbasierter Ansätze eingeordnet.
Schmied, Josef (2009). Contrastive corpus studies. In: Lüdeling, Anke/Kytö, Merja (Hg.),
1140–1159.
Der Beitrag skizziert aktuelle Entwicklungen und Ansätze in der kontrastiven Korpusanalyse und
zeigt ihr Potential für verschiedene linguistische Disziplinen auf. Schmied betont dabei den Wert mul-
tilingualer Korpora für Untersuchungen in diesem Feld, gibt aber auch einen Ausblick auf mögliche
Anwendungsbereiche in weiteren Fächern.
Wiechmann, Daniel/Fuhs, Stefan (2006). Concordancing software. In: Corpus Linguistics and
Linguistic Theory 2, 107–127.
Der Artikel diskutiert und evaluiert die Funktionalitäten von zehn (kostenpflichtigen und freien)
Konkordanzwerkzeugen. Er geht u. a. auf Anforderungen für den Dateninput, die jeweils angebote-
nen Analyse- und Darstellungsoptionen sowie die Exportmöglichkeiten ein.

5.3.9 Statistische Verfahren – Einleitung


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Urška Grum/Wolfgang Zydatiß

1 Zur Faktorenkomplexion des fremdsprachlichen Unterrichts


Fremdsprachenunterricht, also das Lehren und Lernen einer Fremdsprache innerhalb einer
Institution (in die auch Einwirkungen von außen hineinspielen), ist ein hoch komplexes,
soziokulturell eingebettetes Handlungsfeld. Fremdsprachendidaktische Forschung muss sich
m.a.W. der Faktorenkomplexion des fremdsprachlichen Unterrichts stellen; d. h. die sich
wechselseitig beeinflussenden Variablen müssen (so weit wie möglich) berücksichtigt bzw.
isoliert und damit kontrolliert oder überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Ausgehend von
einer klar formulierten Fragestellung bieten statistische Verfahren fremdsprachendidaktisch
Forschenden systematische Prozeduren, mit denen in Hypothesenform ausgewiesene For-
schungsfragen objektiv überprüft und zahlenmäßig erfasste Forschungsergebnisse beschrie-
ben und interpretiert werden können. Statistische Verfahren sind somit ein unverzichtbares
„kulturelles Werkzeug“ (Vygotsky), um:
• Informationen über einen Untersuchungsgegenstand systematisch zu sammeln und dar-
zustellen,
• aus Ergebnissen begründete Schlussfolgerungen zu ziehen sowie
• validierbare Verallgemeinerungen in Bezug auf das jeweilige Erkenntnisinteresse zu for-
mulieren.
Etablierte statistische Verfahren (als mathematisch fundierte standardisierte Prozeduren)
haben den großen Vorteil, in der Diskursgemeinschaft empirisch-quantitativ Forschender
anerkannt und nachvollziehbar zu sein. Damit ist nicht nur eine höhere Qualität und größere
Reichweite der aus den Forschungsergebnissen gezogenen Konsequenzen zu erzielen, sondern
auch die Wiederholbarkeit der Analysen (unter analogen oder variierten Bedingungen) mög-
lich, um so unser Wissen über Lehr-Lernprozesse von Fremdsprachen unter institutionell-­

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320 5. Forschungsverfahren

unterrichtlichen Bedingungen kontinuierlich voranzubringen. Diese empirische Realität zu


‚befragen‘ (sprich, zu erforschen), muss Aufgabe einer angewandt-praxisorientierten Dis-
ziplin wie der Fremdsprachendidaktik sein, die sich (rational-reflexiver Prämissen folgend)
letztendlich der Optimierung fremdsprachlicher Lernergebnisse verschreibt. Ein kompetenter
Umgang mit statistischen Methoden ist für quantitativ Forschende daher unabdingbar. Ka-
pitel 5. 3. 10 und 5. 3. 11 geben einen Überblick über ausgewählte statistische Verfahren und
bieten so eine erste Orientierungshilfe. Zur Konkretisierung und Veranschaulichung werden
hier zunächst Beispiele von Einsatzmöglichkeiten statistischer Verfahren in der fremdspra-
chendidaktischen Forschung gegeben.
Erst in jüngster Zeit werden vermehrt statistische Forschungsmethoden in der Fremd-
sprachenforschung eingesetzt. Rein quantitative Vorgehensweisen stellen in den Qualifi-
kationsarbeiten nach wie vor jedoch eine Minderheit dar; gelegentlich wird von ihnen als
Ergänzung zu qualitativen Methoden Gebrauch gemacht, z. B. im Rahmen von Daten- oder
Methodentriangulationen (mixed methods research) (s. Kapitel 3.3). Dieser Trend zur Multi-
perspektivität auf einen komplexen Forschungsgegenstand kann nur begrüßt werden. Aber
auch hier gilt es, das Wissen um statistische Verfahren und die Qualität in der Anwendung
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auszubauen. In diesem Zuge ließe sich auch der Mythos zerschlagen, für quantitative Studien
seien hohe Stichprobenzahlen nötig, die von einzelnen forschenden Personen nie erreicht
werden können. Auch Studien mit kleinen Stichprobengrößen können zu aufschlussreichen,
methodisch sauberen Ergebnissen führen (vgl. z. B. Bortz/Lienert 2008). Zudem kann bei der
Studienplanung a priori der optimale Stichprobenumfang ermittelt werden (s. u.).
Nachfolgend werden Qualifikations- und Forschungsarbeiten beschrieben, in denen in sehr
unterschiedlichem Ausmaß quantitative Methoden zum Einsatz kommen. Da sich die Fremd-
sprachenforschung diesbezüglich noch in der Entwicklungsphase befindet, ist die jeweilige
Anwendung und Interpretation statistischer Analysen von ganz unterschiedlicher Qualität.

2 Anwendungsbeispiele statistischer Verfahren


Bevor Daten statistisch ausgewertet werden können, müssen sie in eine statistisch auswert-
bare Zahlenform gebracht werden. Beispielsweise beschreibt Özkul (2011) in ihrer Studie sehr
ausführlich, wie die Antworten einer Fragebogenerhebung zur Berufs- und Studienfachwahl
von Englischlehrenden als Zahlen kodiert in die Statistiksoftware SPSS (Statistical Package for
the Social Sciences) aufgenommen werden können. Auch Bellingrodt (2011) zeigt, wie Daten
einer Fragebogenerhebung (hier zum Einsatz von ePortfolios im Fremdsprachenunterricht)
für SPSS kodiert werden können. Eine kostenlose Alternative zu SPSS bietet die Open-Source-
Statistiksoftware R (www.r-project.org). Beide Statistikprogramme übernehmen die Berech-
nung und grafische Darstellung deskriptiver statistischer Werte wie auch die Berechnungen
und Analysen komplexerer statistischer Verfahren.
Das gewählte statistische Verfahren leitet sich aus der Fragestellung an die Daten ab. Ge-
wöhnlich wird zunächst die Verteilung der Daten beschrieben. Dazu eigenen sich grafische
Darstellungen (z. B. Histogramm, Polygon, Streudiagramm, Boxplot) und deskriptiv-statisti-
sche Kennzahlen, wie Maße zentraler Tendenz (z. B. Modus, Median, arithmetisches Mittel)
und Dispersionsmaße (z. B. Spannweite, Quartilsabstand, Varianz, Standardabweichung). Es
ist essentiell zu ermitteln, wie die Daten verteilt sind, da dies einen Einfluss auf die Wahl

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5.3.9 Statistische Verfahren – Einleitung 321

geeigneter statistischer Verfahren und deren Auswertung hat. Viele gängige statistische Ana-
lyseverfahren setzen normalverteilte Daten voraus, da ihr mathematisches Modell auf dieser
Grundannahme beruht. Mathematische Details dazu lassen sich ausführlicher etwa in Bortz/
Schuster (2010), Field (2013) oder Rasch et al. (2010) nachlesen. Auf die mathematische
Berechnung deskriptiver Kennwerte (arithmetisches Mittel, Varianz, Standardabweichung)
geht Duscha (2007) in seiner Arbeit zum Einfluss von Schrift auf das Fremdsprachenlernen
in der Grundschule näher ein, bevor er diese in inferenzstatistische Folgeanalysen einfließen
lässt.
Sollen die gewonnenen Daten nicht nur zusammenfassend beschrieben, sondern auf ihrer
Basis auch allgemeingültige, über die Stichprobe hinausgehende Hypothesen überprüft wer-
den, müssen inferenzstatistische Verfahren herangezogen werden. Beispielsweise wird in der
Studie von Staschen-Dielmann (2012) zur narrativen Kompetenz im bilingualen Geschichts-
unterricht u. a. folgende, ungerichtete Forschungshypothese untersucht: Die Stichprobe der
Schülerinnen und Schüler aus der 10. Jahrgangsstufe unterscheidet sich hinsichtlich des An-
teils akademischer Lexik in schriftlichen Aufgaben von der der 12. Jahrgangsstufe. Diese Hy-
pothese lässt sich in eine Nullhypothese (H0: Es besteht kein systematischer Unterschied, die
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Befunde resultieren zufällig aus der Zusammensetzung der Stichprobe.) und eine gegenläufige
Alternativhypothese (H1: Es besteht ein systematischer Unterschied, die Befunde resultieren
nicht zufällig aus der Zusammensetzung der Stichprobe.) aufteilen. Mit Hilfe eines statisti-
schen Tests lässt sich nun formal prüfen, ob die H0 unter Annahme eines geringen Restrisiko-
faktors, falsch zu liegen, zugunsten der H1 verworfen werden kann. Es liegen eine ungerichte-
te Hypothese, metrisch skalierte, normalverteilte Daten sowie zwei unabhängige Stichproben
vor, so dass ein zweiseitiger t-Test für unabhängige Stichproben gerechnet werden kann (vgl.
Kapitel 5. 3. 11). Aufgrund der Befunde (t(124) = -7.99***) kann die H0 abgelehnt und die H1,
unter einem geringen Restrisiko von maximal 1 % bei der Ablehnung der H0 falsch zu liegen
(p < .001), angenommen werden. T-Testverfahren sind in der Fremdsprachenforschung recht
weit verbreitet, da oftmals in Hinblick auf die Wirksamkeit eines Unterschiedsmerkmals oder
Treatments (z. B. Bilingualer Sachfachunterricht, Einsatz vom Schriftbild, Verwendung von
ePortfolios) zwei unterschiedliche Schülergruppen (Experimental- vs. Kontrollgruppe) mit-
einander verglichen werden sollen. In anderen Fällen interessiert beispielsweise der Vergleich
von zwei Gruppen, die mehrfach einem Treatment ausgesetzt wurden; dann kann ein t-Test
für abhängige Stichproben herangezogen werden.
Sollen mehr als zwei Gruppen verglichen werden, kann eine Varianzanalyse (Analysis of
Variance = ANOVA) eingesetzt werden. Sollen mehr als zwei Gruppen in Bezug auf mehre-
re Einflussfaktoren gleichzeitig verglichen werden, ließe sich eine MANOVA (Multivariate
ANOVA) durchführen (vgl. z. B. Bortz/Schuster 2010, Field 2013). Beispielsweise untersuchte
Biebricher (2008) in ihrer Studie zu Effekten extensiven Lesens in der Fremdsprache u. a.
anhand einer univariaten Varianzanalyse mit Messwiederholung, welche Unterschiede zwi-
schen der Experimental- und Kontrollgruppe bezüglich der Ergebnisse eines C-Tests vor und
nach dem Treatment (selbstgesteuertes, extensives englisches Lesen) erreicht werden. Es wird
also geprüft, ob sich die Allgemeine englische Sprachkompetenz (gemessen an einem C-Test)
in den beiden Gruppen durch den vermuteten Einfluss des Treatments unterscheidet. Auch
Marx (2005) setzt eine univariate Varianzanalyse mit Messwiederholung ein, um Einfluss-
faktoren auf Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache (Deutsch als Fremd-

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322 5. Forschungsverfahren

sprache nach Englisch) in einer Experimental- und einer Kontrollgruppe zu analysieren, die
beide mehrfach getestet wurden. Hingegen werden Unterschiedshypothesen zwischen den
beiden Gruppen bezüglich eines Merkmals zu einem bestimmten Messzeitpunkt mit Hilfe
eines Mann-Whitney-U-Tests untersucht. Dieser stellt das ordinale Pendant zum t-Test für
unabhängige Stichproben dar (vgl. Kapitel 5. 3. 11).
Richtet sich die Forschungsfrage nicht auf die Untersuchung von Unterschiedshypothesen,
sondern auf die von Zusammenhängen zwischen Variablen, eignen sich korrelationsstatis-
tische Verfahren zur Aufklärung. Beispielsweise war für Hochstetter (2011) in ihrer Studie
zu diagnostischen Kompetenzen von Grundschullehrerinnen im Englischunterricht u. a. die
Frage interessant, ob es einen statistischen Zusammenhang zwischen der Güte der Einschät-
zung von Schülerleistungen durch Lehrende und der Übereinstimmung der Einschätzungsur-
teile der Lehrkräfte untereinander gab. Da es sich um metrische Daten bei beiden Variablen
handelte, wurde die Korrelation nach Pearson berechnet (r = –.80**, p = .002). So konnte
folgender statistischer Zusammenhang festgestellt werden: Je besser die Leistung des Kindes,
desto übereinstimmender die Einschätzungen der Lehrkräfte. In der Studie von Grum (2012)
hingegen lagen die Daten der Variablen metrisch und ordinal skaliert vor, so dass alle Korre-
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lationen über den Korrelationskoeffizienten Spearmans Rho berechnet wurden.


In der fremdsprachendidaktischen Forschung sieht man sich oft mit der Faktorenkomple-
xion des fremdsprachlichen Unterrichts konfrontiert: Es sind viele mögliche Einflussfaktoren
zu berücksichtigen, die Zusammenhänge verschiedener Variablen sind nicht erkennbar, viele
Variablen nicht direkt messbar – man sieht sich einer Vielzahl konfundierender Variablen
gegenüber. Um Licht in das Datendickicht zu werfen, kann sich eine exploratorische Faktoren-
analyse (EFA) eignen. Dieses multivariate statistische Analyseverfahren bietet die Möglich-
keit, eine große Anzahl von beobachteten Variablen auf eine kleinere, übergeordnete Anzahl
nicht direkt beobachtbarer Variablen (Faktoren) zu reduzieren (vgl. Kap. 5. 3. 11). Grum (2012)
machte sich die EFA in ihrer Studie zu mündlichen englischen Sprachkompetenzen zunutze.
Hier wurde eine große Anzahl an Daten zur mündlichen englischen Sprachfähigkeit erhoben.
Über eine EFA ließen sich die Variablen, die am höchsten untereinander korrelierten, zu über-
geordneten Faktoren zusammenfassen. Diese Faktoren flossen anschließend in weiterfüh-
rende Analysen ein. So wurde zum einen über die EFA sichtbar, dass für dialogische Sprach-
verwendungen zum Teil andere Sprachkompetenzen aktiviert werden als für monologische.
Folgeanalysen auf Basis der berechneten Faktoren konnten zeigen, dass sich mündliche und
schriftsprachliche Kompetenzen für fortgeschrittene Englischlernende deutlicher voneinan­
der unterscheiden als für weniger fortgeschrittene. In analoger Weise konnte Zydatiß (2007)
über einen dreistündigen Sprachleistungs- und Sprachfähigkeitstest drei distinktive Faktoren
identifizieren, die eine datenreduzierende, inhaltliche Interpretation der vielfältigen Skalen
dieses Tests erlauben; und zwar die Kompetenzen des Leseverstehens und des textgebunde­
nen Schreibens sowie die Allgemeine Sprachfähigkeit (operationalisiert über die verschiede-
nen Exemplare eines C-Tests). Hinsichtlich einer Erhellung von Hintergrundinformationen
bei der Evaluation des Schulversuchs zum Bilingualen Unterricht konnte andererseits mittels
einer EFA gezeigt werden, dass sich Schülerinnen und Schüler in bilingualen Zügen z. B. hoch
signifikant von Regelschülerinnen und -schülern unterscheiden, was die aktive Nutzung des
Internets angeht (wobei die Frage offen bleiben muss, ob dies als Ursache oder Wirkung zu

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5.3.9 Statistische Verfahren – Einleitung 323

interpretieren ist). Ohne den Einsatz statistischer Analyseverfahren wären diese empirischen
Befunde nicht möglich gewesen.
Zur Entscheidungsfindung darüber, welche Fragestellung mit welchem Auswertungsver-
fahren beantwortet werden kann bzw. welche statistischen Analysen mit welchen Daten
durchgeführt werden können, sind Baumdiagramme, wie z. B. in Field (2013: 916) oder Porte
(2010: 292–293) dargestellt, sehr hilfreich. Denn vor der Anwendung eines statistischen
Verfahrens ist es unabdingbar, sich genau über dessen Voraussetzungen und die Reichweite
der Ergebnisinterpretation zu informieren. Zudem kann zur Qualitätssteigerung einer em-
pirischen Studie a priori mittels Power-Analyse der optimale Stichprobenumfang berechnet
werden (vgl. Kapitel 5. 3. 11) oder z. B. Rasch u. a. 2010, Bortz/Lienert 2008). Kann auf die
Stichprobengröße jedoch kein Einfluss genommen werden (was in der schulischen Fremd-
sprachenforschung durchaus der Fall sein kann), lassen sich a posteriori Effekt- und Teststärke
(power) berechnen und so die Qualität eines gefundenen Effekts beurteilen und die Sinnhaf-
tigkeit einer Folgestudie abschätzen. Zudem ermöglichen diese Parameter die Vergleichbarkeit
verschiedener Studien, so wie es sich etwa Hattie (2009) zunutze gemacht hat. In Grum (2012)
wurden für alle dort durchgeführten t-Tests deren Effekt- und Teststärke berechnet.
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3 Abschließender Appell
Der Umgang mit statistischen Verfahren gilt (nicht zuletzt unter fremdsprachendidaktisch
Forschenden) als schwierig bzw. mühsam. Er ist nicht selten angstbesetzt oder wird als irre-
levant abgetan. Wer sich im Rahmen einer wissenschaftsfundierten wie berufsfeldbezogenen
Lehrerbildung genuin für die Vermittlung und den Erwerb von Fremdsprachen unter schu-
lisch-unterrichtlichen Bedingungen interessiert, wird an einer forschungsbasierten quanti-
tativen Empirie – verbunden mit einem vergleichend-prüfenden und generalisieren Nach-
denken – nicht vorbeikommen. Eine derartige Forschung sollte den zusätzlichen Anspruch
haben, die eigenen Ergebnisse und Implikationen so zu modellieren, dass daraus curriculare
Weichenstellungen erwachsen und unterrichtsmethodische Konsequenzen sichtbar werden.

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert. In eckigen Klammern werden statistische Analyseverfahren ge-
nannt, die in der jeweiligen Studie verwendet oder diskutiert werden und über deskriptive
Kennwerte hinausgehen.
*Bellingrodt, Lena Christine (2011): ePortfolios im Fremdsprachenunterricht. Empirische Studien zur
Förderung autonomen Lernens. Frankfurt/Main: Lang. [Cramer’s V]
*Biebricher, Christine (2008): Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens. Tü-
bingen: Narr. [Cronbachs Alpha, Varianzanalyse, Korrelation (Pearson)] [Referenzarbeit, Kapitel 7]
Bortz, Jürgen/Lienert Gustav R. (2008): Kurzgefasste Statistik für die klinische Forschung. Leitfaden für
die verteilungsfreie Analyse kleiner Stichproben. 3. Auflage. Berlin: Springer.
Bortz, Jürgen/Schuster, Christof (2010): Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 7. Auflage.
Berlin: Springer.

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324 5. Forschungsverfahren

*Duscha, Michael (2007): Der Einfluss der Schrift auf das Fremdsprachenlernen in der Grundschule.
Dargestellt am Beispiel des Englischunterrichts in Niedersachsen. Dissertation. Universität Braun-
schweig. http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00 021 088 (06. 02. 2015). [t-Test]
Field, Andy P. (2013): Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics. 4. Auflage. London: Sage.
*Grum, Urška (2012): Mündliche Sprachkompetenzen deutschsprachiger Lerner des Englischen. Ent-
wicklung eines Kompetenzmodells zur Leistungsheterogenität. Frankfurt/M.: Lang. [t-Test, Rang-
korrelation (Spearman), Effekt-, Teststärke, exploratorische Faktorenanalyse; diskutiert: Kolmogo-
roff-Smirnov-Anpassungstest (KSA-Test), Levene-Test, Mann-Whitney-U-Test, Chi-Quadrat-Test,
Rangkorrelation (Kendall), Varianzanalyse]
Hattie, John (2009). Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement.
Oxford: Routledge.
*Hochstetter, Johanna (2011): Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule. Tübin-
gen: Narr. [Korrelation (Pearson)] [Referenzarbeit, Kapitel 7]
*Marx, Nicole (2005): Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache. Zum Nutzen eines
Sensibilisierungsunterrichts in „DaFnE“. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Mann-
Whitney-U-Test, t-Test, Varianzanalyse] [Referenzarbeit, Kapitel 7]
*Özkul, Senem (2011): Berufsziel Englischlehrer/in. Berufswahlmotive der Lehramtsstudierenden in
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Anglistik/Amerikanistik. Berlin: Langenscheidt. [Chi-Quadrat-Test, t-Test, Korrelation (Pearson)]


[Referenzarbeit, Kapitel 7]
Porte, Graeme Keith (2010): Appraising Research in Second Language Learning: A practical approach
to critical analysis of quantitative research. 2. Auflage. Amsterdam: Benjamins.
Rasch, Björn/Hofmann, Wilhelm/Friese, Malte/Naumann, Ewald (2010): Quantitative Methoden 1.
Einführung in die Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler. 3. Auflage. Berlin: Springer.
*Staschen-Dielmann, Susanne (2012): Narrative Kompetenz im bilingualen Geschichtsunterricht. Frank-
furt/M.: Lang. [Chi-Quadrat-Test, t-Test, Korrelation (Pearson)]
*Zydatiß, Wolfgang (2007): Deutsch-Englische Züge in Berlin (DEZIBEL). Frankfurt/M.: Lang. [Chi-
Quadrat-Test, t-Test, Varianzanalyse, Korrelation (Pearson), exploratorische Faktorenanalyse]

5.3.10 D
 eskriptiv- und Inferenzstatistik

Julia Settinieri

1 Begriffsklärung
Der Begriff Statistik umfasst alle Rechenverfahren, die der Beschreibung und Analyse quan-
titativer Daten dienen. Die Spannbreite reicht dabei von sehr einfachen, problemlos im Kopf
zu rechnenden Verfahren bis hin zu sehr komplexen, ausschließlich mit Statistik-Software
zu bewältigenden. Dieses Kapitel erläutert statistische Grundüberlegungen und gibt einen
Überblick über die unterschiedlichen Verfahrensgruppen und ihre Einsatzmöglichkeiten mit
dem Ziel, eine Auswahl aus Grundverfahren treffen zu können. Abschließend werden Mög-
lichkeiten und Grenzen statistischen Erkenntnisgewinns diskutiert, wobei ein besonderer
Schwerpunkt auf in jüngerer Zeit verstärkt diskutierten effektstärkenbasierten methodischen
Herangehensweisen liegt.

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 325

2 Skalenniveaus44
Der erste Schritt im Rahmen quantitativer Datenanalyse besteht darin, alle für die Unter-
suchung relevanten Beobachtungen (z. B. eine Unterrichtsbeobachtung, einen schriftlichen
Test oder auch das Sprachverhalten von Kindern im KiTa-Alltag) in Zahlen umzuwandeln
(sofern sie nicht ohnehin schon in Zahlenform vorliegen). Bei der Kodierung müssen ver-
schiedene Regeln beachtet werden, die im Folgenden erläutert werden.
Zunächst gilt, dass die Konversion einer Beobachtung bzw. einer Messung in eine Zahl
einerseits von Eigenschaften des Merkmals selbst, andererseits von der Abbildung dieser
Eigenschaften durch das Messinstrument abhängt. So können Merkmale beispielsweise latent
oder manifest, dichotom, kategorial, diskret oder stetig ausgeprägt sein (Eigenschaften des
Merkmals). Gleichzeitig kann eine genuin stetige Variable wie das Lebensalter sowohl dis-
kret in Jahren (z. B. 14, 34, 25 Jahre usw.) als auch kategorial (z. B. Kinder vs. Jugendliche
vs. Erwachsene) als auch dichotom (z. B. unter 18 vs. über 18 Jahren) modelliert werden
(Eigenschaften des Messinstruments). In Abhängigkeit davon, wie differenziert das Merkmal
selbst ist und wie differenziert das Instrument es misst, können vier unterschiedliche Skalen-
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niveaus zur Abbildung von Merkmalen unterschieden werden, die jeweils unterschiedliche
Rechenverfahren zulassen.
Kann über die unterschiedlichen Ausprägungen einer Variable lediglich ausgesagt werden,
ob das Merkmal bei den Untersuchungsteilnehmern jeweils in gleicher oder unterschiedlicher
Form vorhanden (oder auch nicht vorhanden) ist, so handelt es sich um ein Merkmal auf No-
minalskalenniveau. Dies trifft auf Variablen wie das Geschlecht, Sprachen, die jemand spricht,
oder auch den Aufenthaltsstatus zu. Nominalen Merkmalen wird im Zuge der Kodierung
einfach eine beliebige Zahl zugeordnet, wobei lediglich darauf geachtet werden muss, dass
jeder gegebenen Merkmalsausprägung genau eine und immer dieselbe Zahl zugeordnet wird.
Möchte ich beispielsweise Untersuchungsteilnehmer danach klassifizieren, ob sie Deutsch
jeweils als L1 oder nicht als L1 sprechen, so spielt es keine Rolle, ob ich die Nichtmutter-
sprachler mit 1 und die Muttersprachler mit 2 oder umgekehrt kodiere oder auch ganz andere
Zahlen wähle; wichtig ist nur, dass allen Nichtmuttersprachlern respektive allen Mutter-
sprachlern die gleiche Zahl zugeordnet wird und dass sich diese Zahlen zwischen beiden
Gruppen wiederum voneinander unterscheiden.
Auf dem nächsthöheren Skalenniveau, der Ordinalskala, ist es nun nicht nur möglich,
etwas über die Gleich- oder Verschiedenheit von Merkmalsausprägungen zu sagen, sondern
die unterschiedlichen Ausprägungen darüber hinaus auch in eine Rangfolge zu bringen. Die
Anordnung spiegelt dabei die unterschiedliche Intensität der Merkmalsausprägung wider,
so dass Zahlen in aufsteigender Folge zugeordnet werden können. Rankings oder Schul-
abschlüsse sind Beispiele für ordinalskalierte Variablen. So ist es beispielsweise möglich, die
Aussage zu treffen, dass eine Person mit Abitur einen höheren Schulabschluss hat als eine
mit Hauptschulabschluss, so dass eine Kodierung von Schulabschlüssen z. B. mit 0 = kein
Abschluss, 1 = Hauptschulabschluss, 2 = Realschulabschluss, 3 = Abitur möglich wäre. Dabei
könnten theoretisch auch beliebige andere Zahlen, wie z. B. 2, 5, 23 und 69 vergeben werden,
solange diese den Abschlüssen, denen sie zugeordnet werden, entsprechend aufsteigen.

44 Die Ausführungen dieses Abschnitts folgen in enger Anlehnung Rasch et al. (2006: 1–28).

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326 5. Forschungsverfahren

Variablen auf Intervallskalenniveau als dritte Variablengruppe zeichnen sich zusätzlich


dadurch aus, dass zwischen den einzelnen Merkmalsstufen exakt gleich große Abstände be-
stehen (Kriterium der Gleichabständigkeit), bei Verhältnisskalen tritt noch ein sog. absoluter
oder auch natürlicher Nullpunkt als Kriterium hinzu. Die Verhältnisskala vereint somit alle
genannten möglichen Skalencharakteristika auf sich.
Für statistische Zwecke können Intervall- und Verhältnisskala als metrische Skalen zusam-
mengefasst werden. Metrische Variablenausprägungen werden durch Zahlen repräsentiert,
die die charakteristische Gleichabständigkeit der Skalenschritte abbilden. Dies gilt z. B. für Va-
riablen wie Alter, Umfang erhaltenen Sprachunterrichts, Aufenthaltsdauer im Zielland usw.
Zu beachten ist, dass manche Merkmale aufgrund im Alltag bereits zugeordneter Zahlen
metrisch skaliert erscheinen, obwohl sie tatsächlich lediglich die Anforderungen an eine or-
dinale Skala erfüllen. So sind Schulnoten beispielsweise ordinalskaliert, da sie das Merkmal
der Gleichabständigkeit nicht erfüllen. Zwar kann man wohl in der Regel davon ausgehen,
dass alle Zweierschüler eine bessere Leistung gezeigt haben als die Dreierschüler und diese
wiederum als die Viererschüler, dass mithin eine ordinale Rangfolge gegeben ist. Man kann
jedoch nicht sagen, dass alle Zweierschüler eine exakt gleich gute Leistung erbracht hätten
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oder dass die Abstände zwischen allen Zweien und Dreien genauso groß wären wie die
zwischen allen Dreien und Vieren. Die Vergabe von Zahlen bei der Notengebung suggeriert
hier also eine Genauigkeit der Leistungsmessung, die de facto gar nicht gegeben ist.
Zusammenfassend erlauben Variablen unterschiedlicher Skalenniveaus die in Tabelle 1 in
Übersicht dargestellten Aussagen und Rechenoperationen, wobei die höheren die niedrigeren
jeweils mit einschließen:

Skalentyp mögliche Aussagen Beispiele mögliche Relationen

Nominalskala gleich/ungleich Geschlecht, L1, Auf- =, ≠


enthaltsstatus
Ordinalskala größer/kleiner Ranking, Schul- =, ≠
abschluss, Schulnote >, <
Intervallskala Gleichheit von Temperatur in =, ≠
­(Metrische Skala) Differenzen Celsius, Intelligenz- >, <
quotient, Pegelstand +, –
Verhältnisskala Gleichheit von Alter, Umfang erhal- =, ≠
­(Metrische Skala) ­Verhältnissen tenen Sprachunter- >, <
richts, Aufenthalts- +, –
dauer im Zielland ×, ÷
Tabelle 1: Skalenniveaus

3 Deskriptiv- vs. Inferenzstatistik


Liegen schließlich alle Variablen in Zahlenform vor, kann mit der Analyse begonnen werden.
Dabei kann Statistik entweder dazu dienen, die Vielzahl der einzelnen Messwerte zusammen-
zufassen, so dass sie als Ganzes interpretierbar werden, oder dazu, Aussagen darüber zu

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 327

treffen, ob die Zahlenverhältnisse in einer einzelnen Studie, die durchgeführt wurde, mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit auch als exemplarisch für vergleichbare Kontexte gelten können
oder ob sie über die vorliegenden Daten hinaus nicht verallgemeinerbar sind.
Der Begriff ‚Statistik‘ umfasst somit in unserem Verständnis alle quantitativen Analysetechniken,
mit denen empirische Daten zusammenfassend beschrieben werden können (deskriptive Statistik)
bzw. mit denen auf Grund empirischer Daten Aussagen über die Richtigkeit von Hypothesen for-
muliert werden können (Inferenzstatistik). (Bortz 2005: 15)

Deskriptivstatistik

Die deskriptive Statistik versucht also, die häufig sehr unüberschaubare Zahlenmenge, die
im Rahmen quantitativer Untersuchungen entsteht, mittels weniger Kennwerte zusammen-
zufassen. „Hier werden Eigenschaften der Merkmale in einer Stichprobe beschrieben. Eine
bestimmte Gruppe wird zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben und analysiert. De-
skriptivstatistische Ergebnisse sagen ausschließlich etwas über die Objekte aus, die tatsächlich
untersucht wurden.“ (Wirtz/Nachtigall 2006: 29).
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Bei der Beschreibung einer Stichprobe geht es einerseits um die Frage, welche Werte in
Bezug auf eine bestimmte Variable sehr häufig vorkommen und typische Werte darstellen
(→ Maße der zentralen Tendenz), andererseits darum, wie viele Abweichungen es von diesen
typischen Werten gibt (→ Streuungsmaße). In Abhängigkeit vom Skalenniveau der Varia-
ble werden dabei unterschiedliche statistische Kennwerte verwendet (vgl. Tab. 3), wobei
wiederum gilt, dass für höhere Skalen prinzipiell auch Kennwerte niedrigerer Skalen zur
Stichprobenbeschreibung herangezogen werden können. Um die folgenden Ausführungen
zu veranschaulichen, wird ein Rechenbeispiel eingesetzt.

Rechenbeispiel45

Nehmen wir an, wir hätten mit 30 Lernern, die seit einigen Monaten in Deutschland leben
und von Beginn ihres Aufenthalts an studienvorbereitende Deutschkurse desselben Kurs-
anbieters besuchen, einen Sprachtest durchgeführt, in dem maximal 100 Punkte zu erreichen
waren. Die Bestehensgrenze für den Test liegt bei 50 Punkten. Je 15 Lerner unterscheiden
sich in einem für die Studie relevanten Merkmal, nehmen wir an der L1, von den anderen
15, was in Tabelle 2 durch A vs. B symbolisiert wird. Außerdem wurde die Kontaktdauer
mit der getesteten Sprache (in Monaten) erfasst, die gleichzeitig auch die Unterrichtsdauer
in Monaten darstellt.
Untersucht werden sollen die folgenden Fragestellungen:
– Schneiden Untersuchungsteilnehmer mit L1 A vs. B im Test gleich oder unterschiedlich
gut ab?
– Besteht ein Zusammenhang zwischen der Kontaktdauer mit der Zielsprache und den Test-
ergebnissen?

45 Vgl. bzgl. Anwendungsbeispielen und Ergebnissatzformulierungen für einzelne Testverfahren z. B. auch


Larson-Hall (2012) und Gültekin-Karakoç/Feldmeier (2014) sowie erstere auch zu geeigneten graphischen
Darstellungsmöglichkeiten, letztere auch zu einführenden Erläuterungen zu den entsprechenden mathe-
matischen Formeln und zur Vorgehensweise in SPSS.

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328 5. Forschungsverfahren

TN 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
TW 52 45 90 44 24 39 58 66 50 64 80 83 76 61 85
KD 2 8 8 1 1 3 1 2 4 7 7 6 3 4 6
L1 A A A B A B B A A B B A B B A

TN 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
TW 52 83 86 60 28 65 86 81 83 76 66 55 95 47 95
KD 9 14 13 9 8 10 10 8 12 16 17 11 9 13 14
L1 B B B A B A A B A B A B B A A
Tabelle 2: Testwerte (TW) und Kontaktdauer mit der Zielsprache in Monaten (KD) sowie L1 von 30 Untersu-
hungsteilnehmern (TN, laufend durchnummeriert)46

Als Maß der zentralen Tendenz für nominalskalierte Variablen wird der Modus oder Mo-
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dalwert verwendet, der schlicht angibt, welche Merkmalsausprägung in der Stichprobe am


häufigsten vorkommt. Kommen mehr als ein Merkmal in gleicher Anzahl am häufigsten vor,
kann es auch mehrere Modalwerte geben, wie im Rechenbeispiel z. B. die je zweimal vorkom-
menden Werte 2, 6, 8 und 10 für die Kontaktdauer in Monaten der Gruppe A. Der Median, der
ab Ordinalskalenniveau herangezogen werden kann, referiert den mittleren Wert in einer auf-
steigend angeordneten Werteverteilung. Er halbiert die Verteilung sozusagen. Im Falle einer
geraden Anzahl von Messwerten wird der Median als arithmetisches Mittel der beiden in der
Mitte der Verteilung liegenden Werten gebildet. Im vorliegenden Rechenbeispiel müssten die
Kontaktdauerwerte für die Gruppe A folglich 1, 2, 2, 4, 6, 6, 8, ← 8 →, 9, 10, 10, 12, 13, 14,
17 angeordnet werden, was einen Median von 8 Monaten ergäbe. Der Mittelwert im Sinne
des arithmetischen Mittels schließlich darf nur für metrische Daten berechnet werden und
stellt den Durchschnittswert aller Messergebnisse (Summe aller Messwerte, geteilt durch die
Anzahl der Messwerte) dar, für die durchschnittliche Kontaktdauer der Gruppe A also (1 + 2
+ 2 + 4 + 6 + 6 + 8 + 8 + 9 + 10 + 10 + 12 + 13 + 14 + 17) : 15 = 8,13 Monate.
Da nominale Daten im eigentlichen Sinne keinen Mittelwert haben (sondern lediglich
häufiger und weniger häufig vorkommende Ausprägungen), können sie auch nicht um einen
Mittelwert streuen. Streuungskennwerte können folglich nur für ordinale und metrische
Variablen angegeben werden. Ab Ordinalskalenniveau gibt die Variationsbreite (auch range)
an, in welchem Bereich die Werte liegen, indem sie die Differenz zwischen dem größten und
dem kleinsten vorkommenden Wert angibt (z. B. 17–1 = 16). Auch der niedrigste und höchste
Wert selbst (Minimum und Maximum, z. B. 1 und 17) können referiert werden. Ergänzend
zeigt der Quartilsabstand an, wie stark die mittlere Hälfte der Messwerte streut, wobei wie
folgt vorgegangen wird: Die durch den Median bereits mittig geteilten Hälften der Verteilung
werden erneut jeweils mittig geteilt, d. h., die Verteilung wird insgesamt geviertelt (1, 2, 2 ←

46 Obwohl es sich nur um 30 Untersuchungsteilnehmer und drei Variablen handelt und obwohl der Test
nicht in seinen Einzelaufgaben, sondern bereits in Form eines Summenwertes abgebildet ist, sind aus
der Wertetabelle auf den ersten Blick kaum Tendenzen bzgl. der Fragestellungen zu erkennen, was den
Nutzen deskriptiver Statistik unmittelbar einsichtig erscheinen lässt.

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 329

4 → 6, 6, 8, ← 8 →, 9, 10, 10 ← 12 → 13, 14, 17). Die drei Werte, die die vier Viertel jeweils
voneinander trennen, werden Quartile genannt. Das zweite Quartil ist ja der Median, und
der Quartilsabstand wird nun gebildet, indem die Differenz zwischen dem dritten und ersten
Quartil berechnet wird (z. B. 12–4 = 8). Median und Quartilsabstand zusammen vermitteln
einen Eindruck von der Symmetrie der Verteilung, ob sie beispielsweise links- oder rechtssteil
ist, ob sich ein Deckeneffekt abzeichnet o. Ä.

Maße der zentralen Tendenz Streuungsmaße

Nominalskala Modus/Modalwert (Mo) ---


Ordinalskala Median (Md) Spannweite (R [= range]),
Quartilsabstand (QA)
metrische Skala Arithmetisches Mittel/Mittelwert Varianz (s2), Standardabweichung
(M, x̅) (s, SD [= standard deviation])
Tabelle 3: Maße der zentralen Tendenz und Streuungsmaße
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Bei metrischen Daten schließlich wird die Streuung als Varianz angegeben, die sich aus der
Summe der quadrierten Abweichungen aller einzelnen Messwerte vom Mittelwert, divi-
diert durch die Anzahl der Messwerte (z. B. [1–8,13]2 + [2–8,13]2 + [2–8,13]2 + [4–8,13]2
+ [6–8,13]2 + [6–8,13]2 + [8–8,13]2 + [8–8,13]2 + [9–8,13]2 + [10–8,13]2 + [10–8,13]2 +
[12–8,13]2 + [13–8,13]2 + [14–8,13]2 + [17–8,13]2 : 15 = 22,67) berechnet. Zieht man die
Wurzel aus der Varianz, erhält man die Standardabweichung (z. B. 4,72), die den Vorteil hat,
dass ihr Maß der Achsenskalierung entspricht und daher unmittelbar interpretiert werden
kann (z. B. 4,72 Monate). Maße der zentralen Tendenz und Streuungsmaße sollten in empiri-
schen Studien stets für jede einzelne Variable angegeben werden. In der Regel werden dabei

Testwert in Punkten von 0 – 100 Kontaktdauer in Monaten


Gruppe A Gruppe B Gesamt Gruppe A Gruppe B gesamt

Modus 66, 83 76 83 2, 6, 8, 10 1, 3, 7, 8, 9 8
Median 66 64 65,5 8 8 8
Mittelwert 66,47 65,20 65,83 8,13 7,60 7,87
Spannweite 71 67 71 16 15 16
Minimum 24 28 24 1 1 1
Maximum 95 95 95 17 16 17
Quartilsabstand 35 29 31,5 8 8 7,5
Varianz 414,84 372,03 380,28 22,27 21,40 21,15
Standard­ 20,37 19,29 19,50 4,72 4,63 4,60
abweichung

Tabelle 4: Vollständige deskriptive Statistik für das Rechenbeispiel (in Publikationen zu referierende Werte
durch Fettung hervorgehoben)

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330 5. Forschungsverfahren

für jede Variable nur die höchstmöglichen Kennwerte der zentralen Tendenz und Streuung
referiert (vgl. Tab. 4). Alternativ ist jedoch auch die Wahl eines niedrigeren Skalenniveaus
möglich. Im vorliegenden Beispiel wäre es z. B. denkbar, angesichts der relativ kleinen Stich-
probe und der Tatsache, dass bei einem nicht-normierten Test nicht ohne Weiteres von einer
Gleichabständigkeit der Skalenwerte auszugehen ist, zumindest die Testwertvariable auf Or-
dinalniveau herunterzuskalieren. In ähnlicher Weise betrachtet auch die Referenzarbeit von
Marx (2005: 216–217) Daten aus einem Hörverstehenstest lediglich als ordinalskaliert, da sie
zwei Gruppen vergleicht, die nur aus 14 Personen bestehen. Darüber hinaus handelt es sich
bei dem eingesetzten Hörverstehenstest um keinen normierten Test, so dass das Kriterium
der Gleichabständigkeit nicht als gegeben gelten kann.

Inferenzstatistik
Zumeist möchte quantitative Forschung aber nicht nur eine bestimmte, ausgewählte Gruppe
beschreiben, sondern vielmehr aus den Daten auch verallgemeinernde Schlussfolgerungen
ziehen. Diesem Zwecke dient die Inferenzstatistik (auch schließende Statistik). „Die erfassten
Personen oder Objekte werden als repräsentative Teilmenge einer Gesamtheit (Population)
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aufgefasst. Signifikanztests […] ermöglichen es, mit einer gewissen Fehlerwahrscheinlichkeit


von den Verhältnissen in der Stichprobe auf die Verhältnisse in der Population zu schließen.“
(Wirtz/Nachtigall 2006: 29). Die Begriffe Population und Stichprobe können dabei wie folgt
definiert werden:
Als Grundgesamtheit (Population) bezeichnen wir allgemein alle potenziell untersuchbaren Ein-
heiten oder ‚Elemente‘, die ein gemeinsames Merkmal (oder eine gemeinsame Merkmalskombina-
tion) aufweisen. […] Eine Stichprobe stellt eine Teilmenge aller Untersuchungsobjekte dar, die die
untersuchungsrelevanten Eigenschaften der Grundgesamtheit möglichst genau abbilden soll. Eine
Stichprobe ist somit ein ‚Miniaturbild‘ der Grundgesamtheit. (Bortz 2005: 86; Hervorhebung im
Original)

Auf welche Population eine Studie zielt, wird im Zuge der Formulierung einer genauen
Forschungsfrage vom Forscher selbst festgelegt. Für die Sprachlehr- und -lernforschung
interessante Populationen könnten z. B. alle Integrationskursteilnehmenden Deutschlands,
alle Schülerinnen und Schüler, die im 1. Schuljahr mit Englisch als Fremdsprache beginnen
und monolingual mit Deutsch als L1 aufgewachsen sind, oder auch alle Studierenden eines
bestimmten Faches einer bestimmten Universität sein. Da eine Grundgesamtheit aus rein
forschungspraktischen Gründen in den seltensten Fällen vollständig untersucht werden
kann, muss eine begründete Auswahl an Untersuchungsteilnehmern getroffen werden. Ent-
scheidendes Kriterium ist dabei, dass die Stichprobe in allen für die Fragestellung relevanten
Merkmalen repräsentativ für die Population sein sollte. Das bedeutet beispielsweise, dass in
eine Stichprobe prozentual ebenso viele Sprecher einer bestimmten L1, durchschnittlich eben-
so gebildete Personen usw. eingehen sollten wie in der Grundgesamtheit, der sie entstammt,
vorhanden sind. Probanden dürfen folglich keineswegs beliebig ausgewählt werden. Vielmehr
spielt das Sampling eine zentrale Rolle für die Güte einer empirischen Untersuchung und
sollte sehr genau reflektiert werden (s. Kapitel 4.3).47 Zusammenfassend kann festgehalten

47 Zu Methoden der Stichprobenziehung in quantitativen Studien vgl. z. B. Bortz (2005: 86–89), Bortz/Dö-
ring (2006: 393–487), Raithel (2008: 54–61) und Meindl (2011: 132–134).

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 331

werden, dass Deskriptivstatistik einen tatsächlich vorliegenden Datensatz beschreibt, wäh-


rend Inferenzstatistik Sachverhalte in der Population lediglich mit einer gewissen Fehler-
wahrscheinlichkeit aus der Stichprobe heraus schätzt (vgl. Popham/Sirotnik 1973: 40).
Inferenzstatistik geht dabei grundsätzlich hypothesentestend vor, wobei rechnerisch be-
trachtet sog. Null- und Alternativhypothesen formuliert und gegeneinander getestet werden.
„Die Alternativhypothese postuliert dabei einen bestimmten Effekt, den die Nullhypothese
negiert.“ (Bortz/Döring 2006: 25). In Publikationen wird aber zumeist nur die Alternativhy­
pothese angeführt. Bezogen auf das vorliegende Rechenbeispiel könnten die Untersuchungs-
hypothesen beispielsweise lauten:
– Teilnehmer der L1-Gruppen A und B schneiden im Test unterschiedlich gut ab (ungerich-
tete Hypothese). Alternativ könnte beispielsweise auch angenommen werden: Teilnehmer
der Gruppe A schneiden im Test besser als Teilnehmer der Gruppe B ab (gerichtete Hy-
pothese48).
– Kontaktdauer mit der Zielsprache und Testergebnisse korrelieren positiv miteinander.
Wichtig ist, dass die Hypothesen mit Blick auf die Population aufgestellt werden.
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Ein signifikantes Ergebnis liegt vor, wenn ein Signifikanztest eine sehr geringe Irrtumswahrschein-
lichkeit ermittelt. Dies bedeutet, dass sich das gefundene Stichprobenergebnis nicht gut mit der
Annahme vereinbaren lässt, dass in der Population die Nullhypothese gilt. Man lehnt deshalb die
Nullhypothese ab und akzeptiert die Alternativhypothese. (Bortz/Döring 2006: 26–27)

Welches statistische Verfahren jeweils zur Hypothesentestung eingesetzt werden kann, hängt
von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst ist zwischen einfachen (univariaten und bivariaten)
und komplexen (multivariaten) Verfahren, d. h. Verfahren, die mehrere Variablen in Bezie-
hung zueinander modellieren, zu unterscheiden.
Im Rahmen einfacher statistischer Verfahren hängt die Wahl zunächst davon ab, wie die
entsprechenden Variablen skaliert sind und ob eine Unterschieds- oder Zusammenhangs-
hypothese getestet werden soll. Im Falle einer Unterschiedshypothese ist für die Auswahl zu-
sätzlich entscheidend, ob Unterschiede zwischen zwei oder mehr als zwei Gruppen untersucht
werden sollen und ob die Stichproben voneinander unabhängig oder miteinander verbunden
sind. Diese Auswahlkriterien sollen im Folgenden genauer erläutert werden.
Unterschiedshypothesen postulieren einen Unterschied bzgl. einer Variablen zwischen zwei
oder mehreren Gruppen, z. B. ‚Teilnehmer der L1-Gruppen A und B schneiden im Test un-
terschiedlich gut ab‘. Zusammenhangshypothesen hingegen beziehen sich auf eine einzige
Gruppe bzw. Stichprobe, für die ein Zusammenhang zwischen zwei Variablen vermutet wird,
z. B. ‚Kontaktdauer mit der Zielsprache und Testergebnisse korrelieren positiv miteinander‘.
Sie sind in Je-desto-Formulierungen transformierbar, z. B. ‚Je länger Kontakt mit der Ziel-
sprache besteht, desto besser fallen die Testergebnisse aus‘. Sind die zwei Variablen metrisch
skaliert (wie im vorliegenden Beispiel), wird Pearsons r (auch Produkt-Moment-Korrelation)

48 Ob eine Hypothese gerichtet oder ungerichtet formuliert wird, d. h., ob eine Annahme über die Richtung
eines Unterschieds oder Zusammenhangs formuliert wird oder ob dies offen gelassen wird, hängt vom
Stand der bereits vorhandenen Forschung zum Thema ab. Lässt sich aus Vorstudien eine Richtungsannah-
me ableiten, sollte eine gerichtete Hypothese formuliert werden (vgl. genauer z. B. Brown 1988: 109–111,
Meindl 2011: 148–152, Kuckartz et al. 2013: 144–151).

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332 5. Forschungsverfahren

nominal ordinal metrisch

zwei Stichproben unabhängige Chi-Quadrat- Mann-Whitney- t-Test für un-


Stichproben Test U-Test/Rang- abhängige Stich-
summentest proben
abhängige Stich- McNemar-Test Wilcoxon-Test t-Test für
proben abhängige Stich-
proben
mehr als zwei unabhängige Chi-Quadrat- Kruskal-Wallis- Varianzanalyse/
Stichproben Stichproben Test Test ANOVA
abhängige Stich- Cochrans Q-Test Friedman-Test Varianzanalyse
proben mit Messwieder-
holung
Tabelle 5: Überblick über Testverfahren zur Unterschiedstestung (vgl. auch ähnliche Übersichten z. B. in
Brown 1988: 160 – 161, Larson-Hall 2010: 129 – 147, Meindl 2011: 245 – 248, Field 2013: 916, Gültekin-Kara-
koç/Feldmeier 2014: 207)
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als Korrelationskoeffizient berechnet; sind beide oder eine von beiden Variablen lediglich
ordinalskaliert, wird Spearmans Rho verwendet. Im Rechenbeispiel korrelieren Kontaktdauer
und Testergebnisse beispielsweise mit r = .43, p = .02 miteinander.49 Für nominale Daten kann
der Kontingenzkoeffizient C herangezogen werden (vgl. Bortz 2005: 234–235).
Bei der Berechnung von Gruppenunterschieden ist weiter zu prüfen, ob die zu verglei­
chenden Stichproben voneinander unabhängig gezogen wurden, ob es sich z. B. um Männer
vs. Frauen oder auch um Lerner mit L1 Kurdisch vs. Arabisch vs. Türkisch handelt oder ob­
die Stichproben in irgendeiner Art und Weise miteinander verbunden, d. h. voneinander
abhängig sind. Verbundene Stichproben liegen z. B. vor, wenn Messwiederholungen durch-
geführt werden, um zu prüfen, ob sich der Sprachstand derselben Lerner zwischen dem Zeit-
punkt T1 und dem Zeitpunkt T2 signifikant verbessert hat. Ist dies der Fall, sind Verfahrens-
varianten der Rechenwege für unabhängige Stichproben einzusetzen (vgl. Tab. 5 für eine
Übersicht).
Im vorliegenden Beispiel würde die Unterschiedshypothese beispielsweise mit einem t-
Test geprüft, da zwei unabhängige Stichproben (Lerner der Gruppen A und B) vorliegen,
die bezüglich einer metrisch skalierten Variablen (dem Sprachtest) miteinander verglichen
werden sollen. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen ist nicht signifikant (t (28) = –.18,
p = .86).
Für alle Verfahren gelten spezifische Voraussetzungen, wie z. B. Normalverteilung oder
Varianzhomogenität der Daten, die im Vorfeld der Testung zu prüfen sind (vgl. genauer z. B.
Larson-Hall 2010: 250–251). Sind Voraussetzungen metrischer Verfahren verletzt, ist es im
Rahmen einfacher statistischer Verfahren häufig sinnvoll, die korrespondierenden ordinalen
Verfahren einzusetzen. Einen Einblick in komplexere statistische Verfahren bietet das Folge-
kapitel (vgl. für eine knappe Verfahrensübersicht auch Settinieri 2012: 266).

49 Zur Interpretation dieser und der folgenden statistischen Kennwerte vgl. die Erläuterungen in Abschnitt
4.

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 333

4 Signifikanz, Effektstärke, Teststärke und Stichprobenumfang


Herkömmlich werden statistische Ergebnisse auf Grundlage eines p-Wertes (p für engl. pro-
bability) interpretiert, also der prozentualen Angabe einer Wahrscheinlichkeit. Und zwar gibt
der Wert an, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, ein vorgefundenes (oder noch deutlicher für
die Alternativhypothese sprechendes) Ergebnis in einer Stichprobe vorzufinden, wenn in der
Population die Nullhypothese gilt (vgl. genauer Faller 2004: 175).
Ein p-Wert von 0.05 oder 5 % sagt aus, dass der Mittelwert unserer Stichprobe so weit vom Popu-
lationsmittelwert abweicht, dass er (oder ein extremerer Wert) per Zufall in 5 % aller Stichproben
vorkommen würde, die aus dieser Population gezogen werden. Es hat sich nun im Laufe der Zeit
eingebürgert, diese Wahrscheinlichkeit von 5 % für selten genug zu erachten, um den Schluss zu
ziehen, dass unsere Stichprobe wohl nicht aus einer Population stammt, von der sie so weit ab-
weicht, dass dies nur in 5 % der Fälle auch zufälligerweise zustande kommen kann. (Faller 2004: 175)

Letztendlich handelt es sich also um eine willkürliche, konventionelle Festlegung des Sig-
nifikanz-Niveaus. Eingebürgert haben sich ferner weitere Niveau-Abstufungen.50
Bedacht werden sollte allerdings, dass 5 % Fehlerquote auch bedeuten, dass durchschnittlich
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jede 20. Messung fälschlich signifikant wird. Dieser Umstand wird vor allem dann kritisch,
wenn eine große Anzahl von Hypothesentestungen durchgeführt wird (vgl. Faller 2004: 175,
Larson-Hall 2010: 252, Bühner/Ziegler 2009: 551–554). Außerdem bedeutet ein nicht sig­
nifikantes Ergebnis keinesfalls, dass die Nullhypothese deshalb zutreffend wäre; vielmehr
bleibt die Frage, ob ein Effekt vorliegt, genau genommen offen (vgl. Bortz/Döring 2006:
26–27). Denn neben dem sog. Alpha-Fehler (auch Fehler 1. Art), der im Signifikanz-Niveau
ausgedrückt wird, ist auch der Beta-Fehler (auch Fehler 2. Art) in Betracht zu ziehen. Während
der Alpha-Fehler den Fall beschreibt, dass ein in der Stichprobe vorgefundener Effekt in der
Population nicht vorhanden ist, bezieht sich der Beta-Fehler auf den umgekehrten Fall, dass in
der Stichprobe kein Effekt gefunden wird, obwohl er in der Population existiert (vgl. Tab. 6).
Obgleich sich die Forschung lange Zeit ausschließlich auf den Alpha-Fehler konzentriert
hat, gibt es Forschungszusammenhänge, in denen ein Beta-Fehler durchaus problematischer
als ein Alpha-Fehler sein kann. Denkt man z. B. an die Medizinforschung, so wäre es u. U.
problematischer, die tatsächlich sehr hohe Wirksamkeit eines Medikaments im Kampf gegen
eine gefährliche Krankheit nicht entdeckt zu haben als ein unwirksames, den Zustand eines
Patienten aber auch nicht verschlimmerndes Medikament fälschlich für wirksam gehalten
zu haben.

Population
H0 H1
H0 ✔ Beta-Fehler
Stichprobenentscheidung
H1 Alpha-Fehler ✔
Tabelle 6: Alpha- und Beta-Fehler

50 So findet sich in der Literatur häufig eine Differenzierung in p > 0.05 (nicht signifikant, n.s.), p ≤ 0.05*
(signifikant), p ≤ 0.01** (sehr signifikant) und p ≤ 0.001*** (hoch signifikant).

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334 5. Forschungsverfahren

Die (alleinige) Aussagekraft des p-Wertes wird nun allerdings zunehmend noch viel grund-
sätzlicher in Frage gestellt, wie Faller (2004: 175–176; vgl. auch Larson-Hall 2012: 248–249)
zusammenfassend erläutert:
Die Signifikanzprüfung hat mehrere erhebliche Nachteile: 1. Sie setzt ein willkürliches, dichotomes
Kriterium; 2. ob dieses Kriterium erfüllt wird oder nicht, hängt aber sehr wesentlich von der Stich-
probengröße ab; 3. sie gibt uns keine Information über die Größe und 4. über die […] Bedeutsamkeit
eines Effekts […]. Im Gegenteil: Ein und derselbe Effekt kann in der einen Studie signifikant sein, in
einer anderen, bis auf die Stichprobengröße identischen Studie hingegen nicht. […]
Dass sich Wissenszuwachs entlang derartiger Ja-oder-Nein-Entscheidungen vollzieht, ist wenig
plausibel; viel interessanter ist dagegen die Frage, wie groß ein Unterschied zwischen zwei Gruppen
oder wie stark ein Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen ist. Darüber enthält der p-Wert
jedoch keinerlei Information. […] ‚Sehr signifikant‘ heißt nicht ‚sehr wichtig‘.

Die Abhängigkeit des Signifikanzwertes von der Stichprobengröße hängt damit zusammen,
dass die Standardabweichung in sehr großen Stichproben verhältnismäßig klein ausfällt, so
dass größere Abweichungen vom Mittelwert entsprechend seltener vorkommen (vgl. Faller
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2004: 176). Dieser Zusammenhang hat zur Folge, dass bei sehr großen Stichproben auch
sehr kleine Effekte signifikant werden, obwohl sie erkenntnistheoretisch unbedeutend sind,
und bei sehr kleinen Stichproben größere, theoretisch bedeutsame Effekte nicht aufgedeckt
werden können, obgleich sie vorhanden sind. Daher wird immer häufiger die zusätzliche In-
betrachtnahme von Effektstärkemaßen gefordert, welche weitere Interpretationshilfen bieten
können (vgl. z. B. Rasch et al. 2006: 65–76, Albert/Marx 2010: 159–165, Larson-Hall 2010:
114–120). Die relative Effektstärke ist ein von der Stichprobengröße unabhängiges und da-
mit grundsätzlich auch über unterschiedliche Studien vergleichbares Maß: „Effect size is a
measure of how important the differences between groups are, or how strong the relationship
between variables is.“ (Larson-Hall 2012: 248). A priori kann unter Berücksichtigung der
gewünschten minimalen Effektstärke ein optimaler Stichprobenumfang für die Untersuchung
berechnet werden. Während Stichprobengrößen herkömmlich entweder als anfallende Stich-
proben oder Daumenregeln, wie z. B. mindestens zehn Fälle pro Zelle bzw. pro Gruppe (vgl.
z. B. Raithel 2008: 61–62) oder auch mindestens 30, um von einer Normalverteilung der
Daten ausgehen zu können (vgl. z. B. Meindl 2011: 137), folgend gebildet wurden, ist es somit
möglich, optimale Stichprobengrößen zu berechnen (z. B. Rasch et al. 2006: 103, Larson-Hall
2010: 104–111). Dies geschieht mittels Power-Analyse.51 Die Power oder Teststärke ist dabei
definiert als die Wahrscheinlichkeit, mit der ein in einer Population vorhandener Effekt einer
bestimmten Mindestgröße mit einer bestimmten Stichprobengröße N und einem festgelegten
Alpha-Fehler auch tatsächlich entdeckt werden kann.
Die Wahrscheinlichkeit, dass man bei zutreffender Alternativhypothese ein signifikantes Ergebnis
erhält und dann auch die richtige Entscheidung trifft (also die Alternativhypothese auch annimmt),
wird als Teststärke (power) des Signifikanztests bezeichnet. Sie wird mit dem griechischen Buch-

51 Vgl. genauer z. B. Rasch et al. (2006: 103), Atteslander (2010: 281–283), Larson-Hall (2010: 104–111);
vgl. auch einschlägige Webseiten, wie z. B. G*Power 3 (http://www.psycho.uni-duesseldorf.de/abteilun-
gen/aap/gpower3) (10. 07. 2015) oder den Statistics Calculators (http://danielsoper.com/statcalc3/default.
aspx) (10. 07. 2015).

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 335

staben ε (epsilon) gekennzeichnet und ist das Komplement zum Beta-Risiko, also ε = 1-β. (Meindl
2011: 153; Hervorhebung im Original)

Eine Power-Analyse zielt also auf die Frage, wie groß eine Stichprobe sein muss, damit ein be-
stimmter Effekt überhaupt entdeckt werden kann. Sinnvollerweise sollte die Teststärke min-
destens .50, idealerweise aber .80 und mehr betragen (Larson-Hall 2010: 96 und 100–111).
Die Durchführung einer Power-Analyse im Vorfeld einer empirischen Studie kann einerseits
dazu beitragen, Studien mit zu kleiner Stichprobe und Teststärke gar nicht erst durchzuführen
bzw. andererseits Studien von vornherein mit einem genau berechneten, zur Aufdeckung
eines bestimmten Effekts notwendigen N planen zu können (Stichprobenplanung).
A posteriori kann ein Blick auf die Effekt- und Teststärken im Falle signifikanter Ergeb-
nisse die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Studien ermöglichen, im Falle nicht signifikanter
Ergebnisse aufzeigen, ob eine weitere Untersuchung auf Basis einer größeren Stichprobe
interessant sein könnte.
Als Effektstärkemaß für t-Tests wird häufig Cohens d (Cohen 1988; berechnet aus der
Differenz beider Stichprobenmittelwerte, geteilt durch die gemeinsame Standardabweichung
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über alle Messwerte, vgl. z. B. Lind 2012: 7–8) herangezogen, wobei konventionell d = 0.2
als kleiner, 0.5 als mittlerer und 0.8 als großer Effekt gelten und der Wert weder nach oben
noch nach unten begrenzt ist.52 Larson-Hall (2012: 252) verweist jedoch auf Oswald/Plonsky
(2010: 99), die auf Grundlage der Sichtung von Metaanalysen (s. Kapitel 4.5) spezifisch für
die Zweitsprachenerwerbsforschung tentativ d = 0.4, 0.7 und 1.0 als Richtwerte vorschla-
gen. Im vorliegenden Rechenbeispiel liegt die Effektstärke bei d = 0.06, ist also sehr gering.
Ein Beispiel für die konsequente Berücksichtigung der Effektstärke im Rahmen eines quasi-
experimentellen Vergleichs zwischen zwei unverbundenen Stichproben ist die Studie von
Pietrzykowska (2011), die Effekte typographischer Hervorhebung linguistischer Strukturen
auf den Erwerb indirekter Fragesätze untersucht. Obwohl mehrere Testergebnisse nicht sig-
nifikant sind, lassen sich durch den Einbezug von Effektstärken in die Diskussion der Ergeb-
nisse relevante Schlussfolgerungen ziehen.
Die Stärke des Zusammenhangs zwischen zwei metrisch skalierten Variablen wird hin-
gegen in der Regel mit dem Produkt-Moment-Korrelationskoeffizienten r ausgedrückt, wobei
r = 0.1 als kleiner, 0.3 als mittlerer und 0.5 als großer Effekt gelten (Cohen 1992: 156–157).
Der Wert kann positiv oder negativ zwischen 0 und ±1 schwanken, wobei -1 einen maxima-
len negativen und +1 einen maximalen positiven Zusammenhang darstellt, während 0 für
einen Nicht-Zusammenhang steht. Letztendlich hängt die Interpretation der Größe eines
Effekts aber immer auch von der Fragestellung und von den Effektgrößen vergleichbarer
Studien ab, so dass Richtwerte grundsätzlich zu relativieren sind. Wie weiter oben bereits
erwähnt, liegt der Zusammenhang zwischen Kontaktdauer und Testergebnissen bei r = .43,
was einen mittleren Effekt darstellt. Der Beitrag von Piske, MacKay und Flege (2001) zeigt
exemplarisch, wie auf Basis korrelationaler Analysen der Einfluss unterschiedlicher Faktoren
52 „Effektgrößen für Unterschiede werden Abstandsmaße genannt, weil sie den Abstand der beiden Mit-
telwerte repräsentieren. […] Die Effektgröße d drückt einen Mittelwertsunterschied durch die Stan-
dardisierung folglich in Standardabweichungseinheiten aus. Ein d von 1 oder -1 entspricht also einer
Standardabweichungseinheit und kann auch entsprechend interpretiert werden.“ (Schäfer 2011: 76, vgl.
auch Larson-Hall 2012: 248). Für ANOVA-Analysen wird analog Eta-Quadrat herangezogen, das als pro-
zentuale Varianzaufklärung interpretiert werden kann (Larson-Hall 2012: 249, 258).

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336 5. Forschungsverfahren

auf den Spracherwerb (hier die Akzentuiertheit von L2-Aussprache) modelliert werden kann.
Außerdem verdeutlicht die Studie, dass Korrelationen zwischen Variablen nicht als kausale
Zusammenhänge missverstanden werden dürfen.

Cohens d Pearsons r

Klein +/- 0,2 +/- 0,1


Mittel +/- 0,5 +/- 0,3
Groß +/- 0,8 +/- 0,5
Tabelle 7: Häufig verwendete Effektstärkenmaße (vgl. Ellis 2010: 13 – 14 für eine Gesamtübersicht)

Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass der Wert der relativen Effektstärke von der
Standardabweichung beeinflusst wird, die in unterschiedlichen Studien wiederum unter-
schiedlich groß sein kann, was bei der Interpretation von Metaanalysen bedacht werden muss
(vgl. zu weiteren Einschränkungen auch Lind 2012: 8–11).
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Ebenfalls für die Einschätzung der praktischen Bedeutsamkeit der Ergebnisse einer quan-
titativen Studie herangezogen werden sollte die absolute Effektstärke, also beispielsweise der
Mittelwertunterschied zwischen zwei Stichproben. Wie wir die Größe dieses Unterschieds
einschätzen, hängt zunächst einmal damit zusammen, wie gut die verwendete Skala bereits
erforscht ist, d. h., einerseits von unserem Wissen darüber, wie groß Effekte in vorherigen
Studien auf dieser Skala waren, andererseits von unserem Wissen über lebensweltliche Kon-
sequenzen von Unterschieden einer bestimmten Größenordnung. Lind (2012: 12–13) zieht
als Beispiel einer sehr gut erforschten Skala Temperaturmessungen in Celsius heran.
Die Temperaturskala ist uns Menschen seit langem gut vertraut. Wir wissen z. B. [sic] wie viel
Energie notwendig ist, die Temperatur eines Liters Wasser von 20 Grad Celsius Raumtemperatur
auf 100 Grad Kochtemperatur anzuheben. Wir wissen auch, welche Konsequenzen ein Anstieg
der Körpertemperatur auf 40 Grad hat und wie wir unsere Bekleidung ändern müssen, wenn die
Außentemperatur um ca. 5 Grad steigt oder fällt. (Lind 2012: 12–13)

In den Sozialwissenschaften hingegen variieren die Operationalisierungen und die verwen-


deten Skalen häufig stark und messen deutlich ungenauer, was die Interpretation von Mess-
wertunterschieden erschwert. Darüber hinaus ist in der Regel nicht klar zu entscheiden, ab
wann ein gemessener Effekt tatsächlich bedeutsam ist. Wie groß muss beispielsweise eine
Verbesserung in den Mathematik-Ergebnissen des PISA-Tests sein, damit der Effekt sich a)
bis zum Schulabschluss hält und b) tatsächlich zu besser qualifizierten Arbeitskräften führt?
Zentral für die Einschätzung solcher Fragen ist in den Sozialwissenschaften stets der Ver-
gleich. Wie groß ist der Effekt einer Intervention im Vergleich zu alternativen Interventionen
bzw. zu einer Kontrollgruppe? Wie aufwändig ist es, ebenfalls im Vergleich zu alternativen
Vorgehensweisen, diesen Effekt zu erzielen? Lohnt sich der Aufwand (Effizienz)? Und die
zentrale und am schwierigsten zu beantwortende Frage lautet: Haben gemessene Effekte
auch tatsächlich eine Auswirkung auf das Verhalten von Menschen (prognostische Validität;
vgl. Lind 2012: 18–21)?

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 337

Zusammenfassend sind also vier miteinander interagierende Wirkgrößen für die Planung
und Interpretation einer quantitativen Studie relevant: Stichprobenumfang, Signifikanzni­
veau, Effektgröße und Teststärke (vgl. Abb. 1 und 2). Schließlich kann zusätzlich auch das
Konfidenzintervall des Unterschieds zwischen Gruppen berechnet werden, um einen Ein-
druck davon zu vermitteln, innerhalb welcher Bandbreite der Effekt mit 95 %-iger Wahr-
scheinlichkeit liegt (Faller 2004: 178).
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Abbildung 1: Zusammenhang von Alpha-Fehler, Beta-Fehler, Effektstärke und Teststärke (Bortz 2005: 123;
ergänzt um Effekt und Teststärke)

In Publikationen referiert werden im Bereich der Inferenzstatistik neben dem p-Wert regulär
die für die einzelnen Verfahren spezifischen Kennwerte, die häufig, aber nicht immer, auch
namensgebend für das Verfahren sind, wie z. B. im Falle des Chi-Quadrat- oder des t-Tests.
Darüber hinaus müssen in einigen Fällen auch Freiheitsgrade53 angegeben werden. Zusätzlich
sollten Angaben zu Effekt- und Teststärke in die Interpretation eingehen.

Abbildung 2: Wechselseitige Beziehungen im Signifikanztest (nach Bortz/Döring 2006: 627)

53 Freiheitsgrade „[b]estimmen die Genauigkeit von Populationsschätzern und damit die Form von Ver-
teilungen, die auf Schätzern basieren wie z. B. der t-Verteilung. Die Zahl der Freiheitsgrade gibt an, wie
viele Werte theoretisch frei variieren können, wenn das Ergebnis bereits feststeht […]“ (Rasch et al. 2006:
53–55). Dabei hat jede einzelne Varianz n-1 Freiheitsgrade.

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338

5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik


Verfahren zur Beschreibung und Analyse quantitativer Daten

1 Daten (Messwerte) mit spezifischen Merkmalen


Umwandlung von
- Eigenschaften eines Merkmals
Beobachtungen in
- Abbildung der Eigenschaften durch das Messinstrument
Zahlen
- Skalenbildung: nominal, ordinal, metrisch
(Kodierung)

2 deskriptive Statistik (beschreibend)


statistische - zahlenmäßige Beschreibung von Eigenschaften einer Stichprobe
Berechnungen - zusammenfassende Darstellung großer Datenmengen
- Kennwerte: Maße der zentralen Tendenz und Streuungsmaße abhängig vom
Skalenniveau

Inferenzstatistik (schließend)
- Feststellen der Signifikanz einer Beschreibung für die Population

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3 - häufig hypothesentestend (Null- vs. Alternativhypothese)
Interpretation der - einfache (uni- bzw. bivariate) und komplexe (multivariate) Verfahren
Rechenergebnisse - verallgemeinernde Schlussfolgerungen
5. Forschungsverfahren

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5.3.10 Deskriptiv- und Inferenzstatistik 339

5 Schlussfolgerungen
Zusammenfassend kann also festgehalten werden: „Ein signifikanter Effekt sollte eben nicht
mit einem wichtigen Effekt verwechselt werden. Ob ein Effekt nämlich auch inhaltlich von
Interesse ist, hängt von seiner Größe und der Fragestellung ab. Was aber erfahren wir über
die Größe des Effektes, wenn wir einen Signifikanztest gemacht haben? Die Antwort ist: gar
nichts.“ (Schäfer 2011: 71; Hervorhebung im Original).
Für die Sprachlehr- und -lernforschung eröffnet die Abkehr von der ausschließlichen Fixie-
rung auf den p-Wert interessante Perspektiven, und zwar sowohl bzgl. der Planung als auch
der Auswertung quantitativer Studien. Einerseits können auch Studien mit (aus forschungs-
praktischen Gründen häufig nur erreichbaren) vergleichsweise kleinen Stichproben einen
Erkenntnisgewinn mit sich bringen, wenn zusätzlich auf die Effektstärken geschaut wird und
Replikationsstudien zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Und in den Fällen, in denen auch
große Stichproben gezogen werden können, ermöglicht eine Power-Analyse, genau zu bestim-
men, wie viele Probanden benötigt werden, um einen Effekt einer bestimmten, theoretisch
als relevant erachteten Stärke auch tatsächlich aufdecken zu können.54
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›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Albert, Ruth/Marx, Nicole (2010). Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehrforschung. An-
leitung zu quantitativen Studien von der Planungsphase bis zum Forschungsbericht. Tübingen: Narr.
Atteslander, Peter (2010). Methoden der empirischen Sozialforschung. 13. neu bearbeitete und erwei-
terte Auflage. Berlin: Erich Schmidt.
Bortz, Jürgen (2005). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 6. vollständig überarbeitete und
aktualisierte Auflage. Heidelberg: Springer.
Bortz, Jürgen/Döring, Nicola (2006). Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwis-
senschaftler. 4. überarbeitete Auflage. Heidelberg: Springer.
Brown, James Dean (1988). Understanding Research in Second Language Learning. A Teacher’s Guide
to Statistics and Research Design. Cambridge: Cambridge University Press.
Bühner, Markus/Ziegler, Matthias (2009). Statistik für Psychologen und Sozialwissenschaftler. München:
Pearson.
Cohen, Jacob (1988). Statistical Power Analysis for the Behavioral Sciences. 2. Auflage. Hillsdale, NJ:
Lawrence Erlbaum.
Cohen, Jacob (1992). A Power Primer. In: Psychological Bulletin 112, 155–159.
Ellis, Paul D. (2010). The Essential Guide to Effect Sizes. Statistical Power, Meta-Analysis, and the Inter-
pretation of Research Results. Cambridge: Cambridge University Press.
Faller, Hermann (2004). Signifikanz, Effektstärke und Konfidenzintervall. Significance, Effect Size, and
Confidence Interval. In: Rehabilitation 43, 174–178.
Field, Andy (2013). Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics (and sex and drugs and rock ’n’
roll). 4. Auflage. Los Angeles, CA: Sage.

54 Thomas Eckes, Nazan Gültekin-Karakoç sowie dem Herausgeberteam danke ich herzlich für ihre hilf-
reichen Anmerkungen zu früheren Versionen dieses Aufsatzes.

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340 5. Forschungsverfahren

Gültekin-Karakoç, Nazan/Feldmeier, Alexis (2014). Analyse quantitativer Daten. In: Settinieri, Julia/
Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Einführung
in empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh,
183–211.
Hatch, Evelyn/Lazaraton, Anne (1991). The Research Manual. Design and Statistics for Applied Lin-
guistics. New York: Newbury House.
Kuckartz, Udo/Rädiker, Stefan/Ebert, Thomas/Schehl, Julia (2013). Statistik. Eine verständliche Einfüh-
rung. 2. überarbeitete Auflage. Wiesbaden: Springer VS.
Larson-Hall, Jenifer (2010). A Guide to Doing Statistics in Second Language Research Using SPSS. New
York: Routledge.
Larson-Hall, Jenifer (2012). How to run statistical analyses. In: Mackey, Alison/Gass, Susan M. (Hg.).
Research Methods in Second Language Acquisition. Malden, MA: Wiley-Blackwell, 245–274.
Lind, Georg (2012). Effektstärken: Statistische, praktische und theoretische Bedeutsamkeit empirischer
Studien. [http://kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123 456 789/21 776/Lind_217 760.pdf?­
sequence=2] (10. 07. 2015).
*Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache. Zum Nutzen eines
Sensibilisierungsunterrichts in „DaFnE“. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. [Refe-
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renzarbeit, Kapitel 7]
Meindl, Claudia (2011). Methodik für Linguisten. Eine Einführung in Statistik und Versuchsplanung.
Tübingen: Narr.
Oswald, Frederick L./Plonsky, Luke (2010). Meta-analysis in second language research: Choices and
challenges. In: Annual Review of Applied Linguistics 30, 85–110.
*Pietrzykowska, Agnieszka (2011). The influence of visual input enhancement on the acquisition of
English embedded questions. In: Pawlak, Mirosław (Hg.). Extending the Boundaries of Research on
Second Language Learning and Teaching. Berlin: Springer, 3–13.
*Piske, Torsten/MacKay, Ian R. A./Flege, James Emil (2001). Factors affecting degree of foreign accent
in an L2. A review. In: Journal of Phonetics 29, 191–215.
Popham, William James/Sirotnik, Kenneth A. (1973). Educational Statistics. Use and Interpretation.
2. Auflage. New York: Harper and Row.
Raithel, Jürgen (2008). Quantitative Forschung. Ein Praxiskurs. 2. durchgesehene Auflage. Wiesbaden:
VS.
Rasch, Björn/Friese, Malte/Hofmann, Wilhelm/Naumann, Ewald (2006). Quantitative Methoden 1/2. 2.
erweiterte Auflage. Heidelberg: Springer.
Schäfer, Thomas (2011). Statistik II. Inferenzstatistik. Wiesbaden: VS.
Settinieri, Julia (2012). Statistische Verfahren. Grundlagenbeitrag. In: Doff, Sabine (Hg.). Fremdsprachen-
unterricht empirisch erforschen. Grundlagen – Methoden – Anwendung. Tübingen: Narr, 249–270.
Wirtz, Christof/Nachtigall, Markus (2006). Deskriptive Statistik. Statistische Methoden für Psychologen
1. 4. überarbeitete Auflage. Weinheim: Juventa.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Brown, James Dean (1988). Understanding Research in Second Language Learning. A Teacher’s
Guide to Statistics and Research Design. Cambridge: Cambridge University Press.
Diese fachspezifische Einführung von Brown (1988) ist ein absoluter Klassiker, der grundlegend in
quantitative Forschungslogik einführt. Wiederholungs- und Anwendungsübungen am Ende jedes
Kapitels ermöglichen, das Verständnis des Gelesenen selbständig zu überprüfen.

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 341

Rasch, Björn/Friese, Malte/Hofmann, Wilhelm/Naumann, Ewald (2006). Quantitative Methoden


1/2. 2. erweiterte Auflage. Heidelberg: Springer.
Diese Einführung erläutert sehr kleinschrittig statistische Grundlagen, stellt allerdings ausschließlich
Grundverfahren dar und spart multivariate Verfahren aus. Dafür sind Überlegungen zu Effekt- und
Teststärke sowie zum Stichprobenumfang ausführlich berücksichtigt, ohne dabei zu mathematisch
zu werden. Übungen und Aufgaben sowie ergänzende Online-Materialien bieten Gelegenheit, den
Stoff zu vertiefen.
Larson-Hall, Jenifer (2010). A Guide to Doing Statistics in Second Language Research Using
SPSS. New York: Routledge.
Eine der wenigen aktuellen fachspezifischen Einführung in statistische Analysen bietet Larson-Hall
(2010). Besonders lesenswert ist Kapitel 4, das unter dem Titel „Changing the Way We Do Statis-
tics“ auf neuere Überlegungen zu Effekt- und Teststärkeanalysen eingeht. Eine Kurzversion, die
insbesondere auch Rechenwebseiten, Ergebnissatzformulierungen, Graphikoptionen und Beispiel-
studien bietet, ist Larson-Hall (2012; s. o.).
Field, Andy (2013). Discovering Statistics Using IBM SPSS Statistics (and sex and drugs and rock
’n’ roll). 4. Auflage. Los Angeles, CA: Sage.
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Diese englischsprachige Einführung in Statistik mit SPSS ist einerseits unterhaltsam und auch für
Einsteiger verständlich geschrieben, umfasst andererseits alle relevanten Grundlagen und Verfahren,
so dass sich die Anschaffung auch längerfristig lohnt. Der Autor hat darüber hinaus zahlreiche wei-
tere Statistik-Einführungen geschrieben, u. a. auch R-basierte.
Backhaus, Klaus/Erichson, Bernd/Plinke, Wulff/Weiber, Rolf (2006). Multivariate Analysever-
fahren. Eine anwendungsorientierte Anwendung. 11. Auflage. Berlin: Springer.
Der Klassiker im Bereich der multivariaten Analyseverfahren ist Backhaus et al. (2006), der kapitel-
weise in die einschlägigen Verfahren einführt, so dass es problemlos möglich ist, auch nur zu einem
ausgewählten Verfahren zu lesen. Allerdings ist auch diese Einführung wiederum nicht auf unser
Fach bezogen. Eine fachspezifische, wenn auch etwas ältere Einführung bieten Hatch/Lazaraton
(1991; s. o.).

5.3.11 E
 xploratorische und konfirmatorische
Faktorenanalysen

Thomas Eckes

1 Einleitung
Faktorenanalysen bilden eine Klasse multivariater statistischer Analyseverfahren, die darauf
abzielen, Zusammenhänge zwischen einer großen Zahl von beobachteten (manifesten) Varia-
blen (z. B. Skalen, Aufgaben oder Items von Sprachtests) auf eine deutlich geringere Zahl
von nicht direkt beobachtbaren Variablen (z. B. fremdsprachliche Kompetenzen, Formen der
Sprachlernmotivation) zurückzuführen. Diese nicht direkt beobachtbaren Variablen werden
als Faktoren, latente Variablen oder Dimensionen bezeichnet.
Bei einer exploratorischen Faktorenanalyse (EFA) ist vor der Untersuchung weder die Zahl
der Faktoren noch die Art ihrer Beziehung zu den beobachteten Variablen bekannt. Eine

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342 5. Forschungsverfahren

EFA dient dazu, in den Daten möglicherweise vorhandene Strukturen aufzudecken. Diese
Strukturen können zu Hypothesen darüber führen, wie die beobachteten Zusammenhänge
zustande gekommen sind. Hierfür sind die Faktoren inhaltlich zu interpretieren, d. h., es sind
die theoretisch bedeutsamen Variablen (Konstrukte) zu bestimmen, die den manifesten Varia-
blen zugrunde liegen. Gibt es bereits Hypothesen oder Erklärungsansätze, so können diese
mittels einer konfirmatorischen Faktorenanalyse (confirmatory factor analysis; CFA) über-
prüft werden. Eine CFA verlangt präzise Annahmen darüber, welche Faktoren mit welchen
Variablen in Verbindung stehen; sie lässt sich damit der Formulierung und Analyse von
Strukturgleichungsmodellen (structural equation modeling; SEM) subsumieren.
EFA und CFA teilen die Grundannahme, dass beobachtete Zusammenhänge zwischen
einer Vielzahl von Variablen auf einige wenige Faktoren zurückgehen. Unterschiede zwischen
EFA und CFA liegen primär in den theoretischen Voraussetzungen und im Ziel der Analyse
bzw. im Stand der Forschung (Brown 2006, Bandalos/Finney 2010, Fabrigar/Wegener 2012):
In frühen Phasen eines Forschungsprozesses hilft eine EFA, beobachtete Zusammenhänge
zwischen Variablen zu ordnen, die Anzahl von Faktoren zu bestimmen oder Messinstrumente
(Skalen) zu entwickeln bzw. zu validieren; hierunter fällt auch die Analyse der dimensio-
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nalen Struktur von Sprachtests. In späteren Phasen, wenn schon erste empirisch gesicherte
Erkenntnisse im fraglichen Gegenstandsbereich vorliegen, können im Rahmen einer CFA
weiterführende Hypothesen über relevante Faktoren und ihre Beziehungen zu beobachteten
Variablen formuliert und getestet werden. Eine CFA erlaubt auch den Vergleich konkur-
rierender Hypothesen oder Modelle.

2 Exploratorische Faktorenanalyse (EFA)


Konzeption

Die Grundidee der EFA sei anhand eines fiktiven Beispiels erläutert. Um einen Test des Lese-
verstehens in Deutsch als Fremdsprache zu entwickeln, mögen die folgenden sieben Test-
verfahren oder Skalen vorliegen: (1) Ein Lesetext mit fünf Multiple-Choice-Aufgaben (Skala
von 0 bis 5 Punkten); (2) ein Text mit drei offenen Fragen (0 bis 3 Punkte); (3) ein C-Test (vier
Lückentexte mit je 20 Lücken; 0 bis 80 Punkte); (4) ein mündlich zu reproduzierender Text
(0 bis 3 Punkte); (5) ein schriftlich zusammenzufassender Text (0 bis 3 Punkte); (6) ein Wort-
schatztest (0 bis 20 Punkte); (7) ein Grammatiktest (0 bis 20 Punkte).
Hat eine Stichprobe von Deutschlernenden jedes dieser Testverfahren bearbeitet, lassen
sich die paarweisen Zusammenhänge zwischen den Verfahren ermitteln, vorzugsweise durch
Berechnung der Produkt-Moment-Korrelation (PMK). Die resultierenden 21 Korrelationen
werden in einer Matrix angeordnet. Diese Korrelationsmatrix dient der EFA als Daten-
basis.
Die Fragen, die zu beantworten sind, könnten wie folgt lauten: Messen alle sieben Ver-
fahren dieselbe zugrunde liegende Dimension, also die Kompetenz im Leseverstehen, oder
messen sie verschiedene Dimensionen? Um welche Dimensionen handelt es sich? Sind alle
Verfahren gleichermaßen geeignet zur Messung einer gegebenen Dimension? Antworten
auf diese Fragen hätten auch Konsequenzen für die Testauswertung (z. B. Berechnung von
Testwerten im Gesamttest oder in Subtests) sowie für die Interpretation und Verwendung der
Testergebnisse (z. B. für Zwecke der Einstufung oder Zertifizierung).

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 343

Im Folgenden gehe ich davon aus, dass die manifesten Variablen in standardisierter Form
vorliegen, d. h., die Werteverteilungen aller Variablen haben denselben arithmetischen Mittel-
wert (M = 0) und dieselbe Standardabweichung (SD = 1) bzw. Varianz (Var = 1; so genannte
z-Standardisierung). Die Beziehung zwischen einer standardisierten Variablen z; und den
Faktoren f1 bis fk wird in der Grundgleichung der EFA (common factor model) wie folgt aus­
gedrückt:
 (1)

Die Gewichtungskoeffizienten ai1 bis aik geben an, wie gut die Variable zi durch die Faktoren f1
bis fk erklärt wird; diese Koeffizienten werden auch Faktorladungen genannt. Faktorladungen
können als Korrelationen zwischen Variablen und Faktoren interpretiert werden. Die Fak-
toren f1 bis fk heißen gemeinsame Faktoren. Schließlich steht ui für die Residualvariable
(uniqueness component; manchmal auch Fehlervariable genannt); die Residualvariable setzt
sich zusammen aus (zufälligen) Messfehlern und (wahren) Anteilen, die auf Einflüsse eines
oder mehrerer spezifischer Faktoren zurückgehen. Spezifische Faktoren sind Faktoren, die nur
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auf eine einzige Variable Einfluss nehmen. Im obigen Beispiel könnte dies z. B. bedeuten, dass
die Leistung im Multiple-Choice-Test nicht nur von der Lesekompetenz, sondern auch von der
strategischen Kompetenz beim Lösen von Multiple-Choice-Aufgaben abhängt.
Abbildung 1 veranschaulicht das Modell der EFA am Beispiel eines einzigen Faktors. Eine
grafische Darstellung dieser Art heißt auch Pfaddiagramm. Die Testverfahren bilden die
manifesten Variablen; die Korrelationen zwischen den Testverfahren werden auf den Faktor
Lesekompetenz zurückgeführt (die Pfeile zeigen die Richtung des Einflusses an). Die Residual-
variablen sind mit u1 bis u7, die Faktorladungen mit a11 bis a71 bezeichnet.

Abbildung 1: Pfaddiagramm eines (fiktiven) EFA-Modells mit einem einzigen Faktor (Lesekompetenz) und
sieben manifesten Variablen (Testverfahren)

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344 5. Forschungsverfahren

Setzt man unkorrelierte (orthogonale) Faktoren voraus, lässt sich die Varianz einer Variablen
zi, Var(zi) = 1, als Summe der quadrierten Faktorladungen und der Varianz der Residualkom-
ponenten (Residualvarianz), Var(ui), darstellen:
 (2)

Die Summe der Faktorladungsquadrate wird Kommunalität genannt. Bei der Kommunalität
einer beobachteten Variablen handelt es sich um den Varianzanteil, der durch die Faktoren
erklärt wird, oder anders ausgedrückt, um den Anteil der gemeinsamen Varianz an der Ge-
samtvarianz einer Variablen. Die Höhe der durch einen Faktor erklärten Varianz aller stan-
dardisierten Variablen wird Eigenwert des Faktors genannt. Je höher der Eigenwert eines
Faktors, desto größer ist sein Einfluss auf die Variablen. Abbildung 2 veranschaulicht die
Varianzzerlegung im Modell der EFA.
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Abbildung 2: Aufteilung der Gesamtvarianz einer standardisierten Variablen gemäß EFA in die gemeinsame
Varianz (Summe der Faktorladungsquadrate), die spezifische Varianz und die durch zufällige Messfehler
bedingte Varianz

Die Reliabilität einer Variablen setzt sich aus der Kommunalität (Anteil gemeinsamer Varianz)
und der Spezifität (Anteil spezifischer Varianz) zusammen. Vergleicht man die Kommunalität
einer Variablen mit ihrer Reliabilität, lässt sich der mögliche Einfluss spezifischer Faktoren
abschätzen. Liegt die Kommunalität etwa auf Höhe der Reliabilität, teilt die Variable einen
Großteil ihrer Varianz mit den gemeinsamen Faktoren; spezifische Faktoren sind dann von
geringer oder gar keiner Bedeutung. Fällt dagegen die Kommunalität deutlich niedriger aus
als die Reliabilität, ist anzunehmen, dass die Residualvarianz in erheblichem Maße auf einen
oder mehrere spezifische Faktoren und nicht bloß auf Messfehler zurückgeht.

Hauptschritte einer EFA

Die Durchführung einer EFA gliedert sich in mehrere Schritte. Einige dieser Schritte erfordern
Entscheidungen, die sich nicht oder nicht ausschließlich an objektiven Kriterien orientieren.
Abbildung 3 gibt nach Art eines Flussdiagramms die Hauptschritte und ihre Abfolge wieder.
Ausführliche Darstellungen geben z. B. Eid/Gollwitzer/Schmitt (2015), Hair et al. (2014) so-

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 345

wie Tabachnick/Fidell (2014). Hinweise zur praktischen Anwendung finden sich bei Henson/
Roberts (2006) sowie Osborne/Costello/Kellow (2008).
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Abbildung 3: Hauptschritte einer exploratorischen Faktorenanalyse

Zunächst ist das Ziel der Analyse zu klären. Liegen bereits Hypothesen über Faktorstrukturen
vor und sind diese empirisch zu prüfen, dann handelt es sich um eine konfirmatorische Fra-
gestellung, die mit einer CFA (oder einem SEM-Ansatz) zu untersuchen wäre; andernfalls
wäre eine EFA angezeigt.
Prinzipiell können Zusammenhänge zwischen Variablen, Fällen oder anderen Analysee-
inheiten betrachtet werden. Üblicherweise werden Korrelationen zwischen Variablen be-
rechnet und analysiert (auch R-Technik genannt; vgl. Bortz/Schuster 2010). Werden dagegen
Fälle (z. B. Testteilnehmer, Beurteiler oder Interviewer) mit Methoden der EFA untersucht,

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346 5. Forschungsverfahren

spricht man von Q-Technik. Mittels Q-Technik haben z. B. Diederich/French/Carlton (1961)


Beurteiler danach klassifiziert, wie sie die Qualität von Englischaufsätzen auf einer neun-
stufigen Skala bewerteten. Allerdings finden sich Anwendungen dieser Technik eher selten,
auch weil Clusteranalysen für die Klassifikation von Objekten oder Personen in der Regel
geeigneter sind (Eckes/Roßbach 1980, Bacher/Pöge/Wenzig 2010, Everitt et al. 2011).
Vor der Durchführung einer EFA ist zu prüfen, ob die Daten bestimmte Voraussetzungen
erfüllen. Ein Teil der Voraussetzungen betrifft das Design der Untersuchung, insbesondere
den Stichprobenumfang (N), die Anzahl der manifesten Variablen und das Skalenniveau der
Variablen. Wird der Umfang N zu klein gewählt, sind ungenaue oder instabile Ergebnisse
(z. B. verzerrte Schätzungen der Faktorladungen) zu erwarten. In den meisten Fällen, ins-
besondere bei Kommunalitäten unter .60, ist ein N deutlich über 100 erforderlich. Hat man
eine grobe Vorstellung von der Anzahl der gemeinsamen Faktoren, wären pro Faktor fünf
oder mehr Variablen zu berücksichtigen (Hair et al. 2014). Die Variablen selber sollten zu-
mindest annähernd als intervallskaliert betrachtet werden können.
Ein anderer Teil von Voraussetzungen bezieht sich auf die Korrelationsmatrix als Daten-
basis einer EFA. Üblicherweise werden lineare Zusammenhänge zwischen den Variablen an-
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genommen (z. B. bei Berechnung der PMK). Daher sollten bivariate Streudiagramme (scatter-
plots) auf Abweichungen von der Linearität untersucht werden. Zudem sollten wenigstens
einige Variablen substanziell miteinander korrelieren. Liegt z. B. keine Einzelkorrelation hö-
her als .30, wäre eine EFA wenig sinnvoll (der Anteil gemeinsamer Varianz läge sehr niedrig).
Ein statistischer Test hierzu ist der Bartlett-Test auf Sphärizität. Ein signifikantes Ergebnis
des Tests spräche dafür, dass die Variablen in der Population tatsächlich korreliert sind; damit
wäre eine Mindestvoraussetzung für die Durchführung einer EFA erfüllt.
Die Faktorenextraktion, also die Bestimmung der Faktoren bzw. Faktorladungen, kann
nach mehreren Methoden erfolgen. Häufig kommen die Hauptachsenanalyse (principal axis
factoring; PAF) oder die Maximum-Likelihood-Methode (ML-Methode) zur Anwendung.
Letztere ist zugleich die Standardmethode im Rahmen einer CFA; sie wird im Abschnitt zur
CFA kurz besprochen.
Die PAF ist mit der Hauptkomponentenanalyse (principal component analysis, PCA) ver-
wandt. Aber anders als die PAF (bzw. das Modell der EFA) unterscheidet die PCA nicht
zwischen gemeinsamer Varianz, spezifischer Varianz und Fehlervarianz einer beobachteten
Variablen; Ziel ist es, die gesamte Varianz aufzuklären. Folglich fallen Unterschiede zwischen
PAF- und PCA-Ergebnissen (unter sonst gleichen Bedingungen) umso größer aus, je höher
die Anteile von spezifischer Varianz und Fehlervarianz sind. Die PCA ist eine Methode der
statistischen Datenreduktion; sie dient dazu, eine Vielzahl von beobachteten Variablen unter
möglichst geringem Informationsverlust zusammenzufassen, d. h. in Hauptkomponenten zu
bündeln. Diese Hauptkomponenten bilden neue, unkorrelierte Variablen, die sich etwa als
Prädiktoren in einer multiplen Regressionsanalyse verwenden lassen. Allerdings kommt die
PCA häufig auch dann zum Einsatz, wenn eine Analyse nach dem EFA-Modell angezeigt
wäre. Kritische Einschätzungen dieser weit verbreiteten Praxis geben z. B. Bandalos/Boehm-
Kaufman (2009), Fabrigar/Wegener (2012) und Eid/Gollwitzer/Schmitt (2015).
Im Fall einer PAF werden die gemeinsamen Faktoren aus einer reduzierten Korrelations-
matrix extrahiert. Diese Matrix ergibt sich aus der Ausgangsmatrix, indem die Einsen in der
Hauptdiagonalen um den Anteil der Residualvarianz gemindert werden, d. h., in der Haupt-

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 347

diagonalen stehen die Kommunalitäten (bei einer PCA bleibt es dagegen bei den Einsen,
weil die Gesamtvarianz der Variablen aufzuklären ist). Da aber die Kommunalitäten vor der
Analyse noch unbekannt sind, müssen diese zunächst geschätzt werden (z. B. durch das Qua-
drat der multiplen Korrelation einer gegebenen Variablen mit allen anderen Variablen). Die
Faktoren werden dann in einem iterativen Verfahren so extrahiert, dass sie (a) sukzessive ein
Maximum an (gemeinsamer) Varianz der Variablen erklären und (b) voneinander unabhängig
sind.
Im nächsten Schritt ist die geeignete Anzahl von Faktoren zu bestimmen. Hierfür stehen
wieder mehrere Methoden zur Verfügung. Den Standard bildet der Scree-Test – eine grafische
Methode, bei der die Ordnungszahl der Faktoren auf der horizontalen Achse und die Höhe
der Eigenwerte auf der vertikalen Achse abgetragen werden. Diejenigen Faktoren gelten als
substanziell, deren Eigenwerte links von einem „Knick“ im Verlauf der Eigenwerte liegen.
Daneben empfiehlt sich eine so genannte Parallelanalyse. Hierbei werden die Eigenwerte
der empirischen Korrelationsmatrix mit den Eigenwerten von Matrizen gleicher Größe, die
ausschließlich Zufallskorrelationen enthalten, verglichen. Für eine Interpretation in Frage
kommen diejenigen Faktoren, deren Eigenwerte größer sind als die Eigenwerte, die aus einer
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Analyse der Zufallsdaten resultieren. Das häufig verwendete Kaiser-Kriterium, nach dem
Faktoren mit Eigenwerten größer als 1 beizubehalten sind, kommt allenfalls im Rahmen
einer PCA in Betracht; es hat sich zudem in Methodenstudien als wenig geeignet erwiesen
(Bandalos/Boehm-Kaufman 2009, Lorenzo-Seva/Timmermann/Kiers 2011).
Die Extraktion der Faktoren folgt statistischen Kriterien wie dem der sukzessiven Auf-
klärung maximaler Varianz. Das hat zur Folge, dass die meisten Variablen hoch auf dem
ersten, varianzstärksten Faktor laden, mit deutlich niedrigeren Ladungen auf dem zweiten
und allen weiteren Faktoren. Eine inhaltliche Interpretation der Faktoren wird dadurch er-
schwert. Um leichter interpretierbare Faktoren zu gewinnen, wird die Faktorlösung in aller
Regel transformiert. Diese Transformation wird als Rotation bezeichnet. Auf den Anteil der
gemeinsamen Varianz an der Gesamtvarianz der Variablen hat eine Rotation keinen Einfluss
(die Varianz wird zwischen den Faktoren nur umverteilt). Ziel ist zumeist eine so genann-
te Einfachstruktur: Auf jedem Faktor sollten einige Variablen möglichst hoch und andere
möglichst niedrig laden; außerdem sollten auf verschiedenen Faktoren verschiedene Variablen
möglichst hoch laden. Als Minimum gelten Ladungen von ±0.30 bis ±0.40. Eine solide Basis
für inhaltliche Interpretationen bieten Ladungen von ±0.70 oder höher; in diesem Fall erklärt
ein Faktor wenigstens rund 50 % der Varianz einer Variablen (Hair et al. 2014).
Es sind zwei Klassen von Rotationsmethoden zu unterscheiden. Bei einer orthogonalen Ro-
tation (z. B. Varimax) bleiben die Faktoren unkorreliert, bei einer obliquen (schiefwinkligen)
Rotation (z. B. Promax) können untereinander korrelierte Faktoren resultieren. Eine oblique
Rotation kommt insbesondere dann in Betracht, wenn es gute empirische und/oder theo-
retische Gründe gibt, Korrelationen zwischen den Faktoren bzw. zwischen den Konstrukten,
die sie repräsentieren, anzunehmen. Beispielsweise sind im Bereich des Sprachtestens Teil-
kompetenzen wie Leseverstehen und Hörverstehen als korreliert anzunehmen, sodass eine
oblique Rotation der Faktoren angemessener wäre. Sollten die betrachteten Faktoren tatsäch-
lich unkorreliert sein, würde eine oblique Rotation eine orthogonale Lösung liefern.
Im Falle einer obliquen Rotation dürfen die Faktorladungen allerdings nicht mehr wie
Korrelationen zwischen (manifesten) Variablen und Faktoren interpretiert werden. Vielmehr

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348 5. Forschungsverfahren

ist zwischen Musterkoeffizienten und Strukturkoeffizienten zu unterscheiden. Ein Musterko-


effizient gibt die spezifische Beziehung zwischen einer Variablen und einem Faktor wieder;
Einflüsse anderer Faktoren sind dabei herausgerechnet (statistisch kontrolliert). Ein Struktur-
koeffizient gibt die einfache Korrelation zwischen einer Variablen und einem Faktor wieder;
diese Korrelation schließt auch Einflüsse der anderen, korrelierten Faktoren ein. Sind die
Faktoren nur schwach korreliert, nehmen Muster- und Strukturkoeffizienten ähnliche Werte
an.
Um die Faktorlösung und deren Interpretation empirisch abzusichern bzw. zu validieren,
sind weitere Untersuchungen durchzuführen. Hierzu zählen die Variation der Extraktions-
und Rotationsverfahren, die Überprüfung der Stabilität der Faktorlösung anhand von Daten
einer unabhängigen Stichprobe von Teilnehmern und die Formulierung eines faktorenana-
lytischen Erklärungsmodells, das auf den Ergebnissen der EFA aufbaut und anhand einer
CFA getestet wird.

EFA-Anwendungen
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Die hier skizzierten Anwendungen des EFA-Modells dienen lediglich der Illustration von
Themen und Fragestellungen in fremdsprachendidaktischen Studien. Eine Besprechung ein-
zelner Auswertungsschritte ist aus Platzgründen nicht möglich; auch sind in vielen Arbeiten
die Analysen nicht detailliert genug beschrieben.
Grotjahn (1987) ging der Frage nach, ob C-Tests als Lesetests verstanden werden können.
Eine EFA der Korrelationen zwischen einem französischen C-Test und acht Untertests eines
traditionellen Französischtests (u. a. zum Leseverstehen) lieferte einen einzigen Faktor. Auf
diesem Faktor lud der C-Test mit .82 deutlich höher als die meisten Untertests und auch höher
als der Untertest zum Leseverstehen (mit einer Ladung von .41) – ein Hinweis darauf, dass
C-Tests nicht bloß Lesetests sind.
Andere Studien zielten auf die Analyse der Lernstrategien und Interessen beim Lese-
verstehen in Englisch als Fremdsprache (Finkbeiner 2005), auf die Dimensionalität eines
207 Items umfassenden Englischtests (Zydatiß 2007), auf eine Betrachtung der Faktoren,
die mündlicher Kompetenz in der Fremdsprache Englisch zugrunde liegen (Grum 2012),
auf die Struktur curricularer Standards in der fremdsprachlichen Lehrerbildung (Schneider/
Bodensohn 2008) oder auf die Konstruktion von Skalen zur Messung von Fremdsprach-
verwendungsangst (foreign language anxiety), Sprachlernmotivation und sprachbezogenen
Einstellungen (Grotjahn 2004, Gardner 2010).

3 Konfirmatorische Faktorenanalyse (CFA)


Konzeption

Wie bereits ausgeführt ist die CFA ein hypothesentestendes, die EFA ein hypothesengenerie-
rendes Verfahren. Das bedeutet u. a., dass bei einer EFA die Zahl der (gemeinsamen) Faktoren
anhand der Daten empirisch ermittelt, bei einer CFA a priori festgelegt wird. Ebenso wird
bei einer EFA die Zuordnung der manifesten Variablen zu Faktoren datengeleitet zumeist im
Sinne der Einfachstruktur vorgenommen, bei einer CFA erfolgt die Zuordnung hypothesen-
geleitet. Die Datenbasis einer CFA bildet in der Regel nicht eine Korrelationsmatrix, sondern

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 349

eine Kovarianzmatrix; in dieser Matrix sind die Variablen nur zentriert (d. h. M = 0), nicht
aber standardisiert.
Das Pfaddiagramm in Abbildung 4 veranschaulicht ein einfaches CFA-Modell mit zwei
latenten Faktoren, denen je zwei manifeste Variablen zugeordnet sind. Der erste Faktor steht
für Sprachrezeption und die beiden zugehörigen Variablen sind separate Tests des Lese- und
Hörverstehens; der zweite Faktor steht für Sprachproduktion mit zugeordneten Tests der
schriftlichen bzw. mündlichen Produktion. Zudem wird postuliert, dass beide Faktoren mit-
einander korreliert sind (dargestellt durch den Doppelpfeil). Die Residual- bzw. Fehlerterme
sind mit u1 bis u4, die Faktorladungen mit a11 und a21 (für Faktor 1, Rezeption) bzw. a32 und
a42 (für Faktor 2, Produktion) bezeichnet. Ziel der Analyse ist es, die im Pfaddiagramm wie-
dergegebenen Hypothesen auf ihre Geltung hin zu prüfen.
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Abbildung 4: Pfaddiagramm eines (fiktiven) CFA-Messmodells mit zwei korrelierten Faktoren (Rezeption, Pro-
duktion) und je zwei zugeordneten manifesten Variablen

Hauptschritte einer CFA

Die Abfolge der Hauptschritte einer CFA ist in Abbildung 5 wiedergegeben. Hier können
diese zum Teil komplexen Schritte nur sehr knapp umrissen werden (vgl. für detaillierte Dar-
stellungen Bühner 2011, Eid/Gollwitzer/Schmitt 2015, Hair et al. 2014).
Zunächst ist die hypothetische Struktur in ein Messmodell zu übersetzen; d. h., es ist ein
CFA-Modell zu spezifizieren, aus dem hervorgeht, welche Faktoren auf welche manifesten
Variablen Einfluss nehmen; die Faktoren selber können frei miteinander korrelieren. Im all-
gemeineren SEM-Ansatz ist neben einem Messmodell ein Strukturmodell zu spezifizieren. Ein
Strukturmodell definiert die Art der Beziehungen zwischen den Faktoren, also z. B., welche
Faktoren auf bestimmte andere Faktoren direkt oder indirekt Einfluss nehmen (Kunnan 1998,
Brown 2006, Ockey 2014).
Damit ein CFA-Modell überprüft werden kann, ist zu gewährleisten, dass alle Parameter
des Modells (z. B. Faktorladungen oder Faktorkorrelationen) anhand der gegebenen Daten
eindeutig bestimmt werden können; d. h., das Modell muss statistisch identifizierbar sein. Die
Modellidentifikation wird begünstigt, wenn pro Faktor mindestens drei manifeste Variablen
(Indikatoren) erhoben werden (Hair et al. 2014).
Die Schätzung der Modellparameter erfolgt meist mittels der Maximum-Likelihood-Me-
thode. Diese Methode setzt neben einem hinreichend großen Stichprobenumfang (In’nami/
Koizumi 2013) voraus, dass die manifesten Variablen mindestens intervallskaliert und multi-

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350 5. Forschungsverfahren
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Abbildung 5: Hauptschritte einer konfirmatorischen Faktorenanalyse

variat normalverteilt sind. Das Prinzip der ML-Methode besteht darin, die vom Messmodell
implizierte Kovarianzmatrix so zu schätzen, dass sie (a) die Modellvoraussetzungen erfüllt
und (b) möglichst gut mit der empirischen Kovarianzmatrix übereinstimmt. Sind die Voraus-
setzungen für eine ML-Schätzung nicht erfüllt, können weniger anspruchsvolle Methoden
zur Anwendung kommen (z. B. weighted least squares, WLS; Brown 2006, Eid/Gollwitzer/
Schmitt 2015).
Die Güte der Übereinstimmung zwischen Daten und Modell, also die Anpassungsgüte
oder der Modellfit, lässt sich anhand einer ganzen Reihe von statistischen Maßen bestimmen.
Ein Beispiel ist der root mean square error of approximation (RMSEA). Der RMSEA gibt an,
wie gering die Abweichung des zu prüfenden Modells vom wahren Modell ist. Bei RMSEA-
Werten kleiner als .08 spricht man von einer „akzeptablen“ Anpassung, Werte kleiner als .05
indizieren eine „gute“ Anpassung. Ist die Anpassung zufrieden stellend, wird das Modell
beibehalten; ansonsten wird das Modell verworfen. In der Regel ist es ratsam, eine Ent-
scheidung über die Annahme oder Ablehnung eines Modells auf mehrere verschiedene Maße
zu stützen. Statt ein Modell zu verwerfen, könnte in Frage kommen, die Spezifikation des
Modells hypothesengeleitet zu modifizieren (z. B. Korrelationen zwischen einzelnen Faktoren
zuzulassen). So genannte Modifikationsindizes können hierfür wichtige Anhaltspunkte lie-

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 351

fern. Die Option der Modellmodifikation rückt den Prozess des Hypothesentestens allerdings
mehr in die Nähe eines exploratorischen Vorgehens.

CFA-Anwendungen

Auch hier seien Themen und Fragestellungen anhand von Untersuchungen illustriert. Das in
Abbildung 4 gezeigte CFA-Modell untersuchten Eckes/Grotjahn (2006) unter Einbeziehung
eines deutschen C-Tests. Der beste Modellfit ergab sich für ein Modell, in dem der C-Test
dem Produktionsfaktor zugeordnet war. Da aber beide Faktoren, Produktion und Rezeption,
hoch miteinander korrelierten und das Ein-Faktor-Modell ebenfalls eine zufrieden stellende
Anpassung lieferte, konnten die Ergebnisse als Beleg dafür interpretiert werden, dass C-Tests
allgemeine Sprachkompetenz messen.
Shin (2005) verglich vier unterschiedlich komplexe Modelle der Struktur des Test of English
as a Foreign Language (TOEFL) und betrachtete den relativen Modellfit in Abhängigkeit vom
Fähigkeitsniveau der Sprecher. Die Struktur des TOEFL erwies sich als weitgehend invariant
gegenüber den Niveauunterschieden (vgl. auch In’nami/Koizumi 2010, 2011). Porsch (2010)
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untersuchte die Dimensionalität von Schreibproduktionen in der Fremdsprache Englisch. Die


Daten stützten ein CFA-Modell mit einem einzigen Faktor (Schreibkompetenz) und vier Krite-
rien bzw. manifesten Variablen (Inhalt, Organisation, Grammatik, Lexik). König et al. (2013)
betrachteten die Struktur der Berufswahlmotivation angehender Lehrerinnen und Lehrer.
Gute Anpassungswerte erzielte ein Modell mit 11 Faktoren. Im Ländervergleich dominierten
vier motivationale Faktoren: der intrinsische Wert der Lehrertätigkeit, die selbst eingeschätzte
Lehrbefähigung, der Wunsch, einen sozialen Beitrag zu leisten, und der Wunsch, mit Kindern
und Jugendlichen zu arbeiten.
Ein Beispiel für die Anwendung des SEM-Ansatzes findet sich bei Nold/Haudeck/Schnait-
mann (1997). Die Autoren untersuchten die Einflüsse von Lernstrategien und anderen kogni-
tiven, motivationalen und sozialen Faktoren auf die rezeptive und produktive Englischleis-
tung in Realschulklassen des achten Schuljahres. Lernstrategien und motivationale Faktoren
erwiesen sich dabei als einflussreich, während der soziale Faktor des Klassenklimas eher
unbedeutend war.

4 Computerprogramme
Programme zur Durchführung exploratorischer Faktorenanalysen sind in allen gängigen
kommerziellen Statistikpaketen verfügbar (z. B. in SPSS oder SAS). Dabei ist zu beachten,
dass diese Statistikpakete häufig Voreinstellungen anbieten (z. B. eine PCA als Extraktions-
methode oder das Kaiser-Kriterium zur Bestimmung der Faktorenzahl), von denen in den
meisten Fällen abzuraten ist. Daneben gibt es eine Reihe frei zugänglicher, leistungsstarker
Programme, von denen CEFA (Browne et al. 2010), FACTOR (Lorenzo-Seva/Ferrando 2013)
oder die im Programmpaket R (www.r-project.org) vorhandenen Routinen (z. B. Kubinger/
Rasch/Yanagida 2011) besonders empfehlenswert sind. Für konfirmatorische Faktorenana-
lysen stehen kommerzielle Spezialprogramme wie AMOS, EQS, LISREL oder Mplus zur Ver-
fügung. Auch hier bietet R eine kostenlose Alternative.

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352

5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen


beobachtbare Variablen nicht beobachtbare
Variablen

Variable 1 Variable 2
Faktor 1

Variable 3 Variable 4 multivariate


statistische Faktor 2

Daten
Variable 5 Variable 6 Analysen
Faktorlösung

Variable 7 Variable n Faktor k


(Personen x Faktoren)

(Personen x Variablen)
Zusammenhänge

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Exploratorische Faktorenanalyse (EFA) Konfirmatorische Faktorenanalyse (CFA)
Erkunden von Zusammenhängen, Struktu- Formulieren und Testen von Hypothesen,
rieren von Daten Vergleichen von Modellen
5. Forschungsverfahren

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 353

›› Literatur

Forschungsarbeiten, in denen die hier erläuterten Verfahren angewendet werden, sind mit
einem Sternchen markiert.
Bacher, Johann/Pöge, Andreas/Wenzig, Knut (2010). Clusteranalyse: Anwendungsorientierte Einfüh-
rung in Klassifikationsverfahren. 3. Auflage. München: Oldenbourg.
Bandalos, Deborah L./Boehm-Kaufman, Meggen R. (2009). Four common misconceptions in explorato-
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Myths and Urban Legends: Doctrine, Verity and Fable in the Organizational and Social Sciences.
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Bandalos, Deborah L./Finney, Sara J. (2010). Factor analysis: Exploratory and confirmatory. In: Han-
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Sciences. New York: Routledge, 93–114.
Bortz, Jürgen/Schuster, Christof (2010). Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. 7. Auflage.
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Brown, Timothy A. (2006). Confirmatory Factor Analysis for Applied Research. New York: Guilford.
Browne, Michael W./Cudeck, Robert/Tateneni, Krishna/Mels, Gerhard (2010). CEFA: Comprehensive
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exploratory factor analysis, version 3.04 [Computersoftware und Manual]. [Online: http://faculty.
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Bühner, Markus (2011). Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. 3. Auflage. München:
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*Diederich, Paul B./French, John W./Carlton, Sydell T. (1961). Factors in Judgments of Writing Ability
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*Eckes, Thomas/Grotjahn, Rüdiger (2006). A closer look at the construct validity of C-tests. In: Langua-
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Eckes, Thomas/Roßbach, Helmut (1980). Clusteranalysen. Stuttgart: Kohlhammer.
Eid, Michael/Gollwitzer, Mario/Schmitt, Manfred (2015). Statistik und Forschungsmethoden. 4. Auflage.
Weinheim: Beltz.
Everitt, Brian S./Landau, Sabine/Leese, Morven/Stahl, Daniel (2011). Cluster Analysis. 5. Auflage.
Chichester, UK: Wiley.
Fabrigar, Leandre R./Wegener, Duane T. (2012). Exploratory Factor Analysis. New York: Oxford Uni-
versity Press.
*Finkbeiner, Claudia (2005). Interessen und Strategien beim fremdsprachlichen Lesen: Wie Schülerinnen
und Schüler englische Texte lesen und verstehen. Tübingen: Narr.
*Gardner, Robert C. (2010). Motivation and Second Language Acquisition: The Socio-Educational Model.
New York: Lang.
*Grotjahn, Rüdiger (1987). Ist der C-Test ein Lesetest? In: Addison, Anthony/Vogel, Klaus (Hg.). Lehren
und Lernen von Fremdsprachen im Studium. Bochum: AKS-Verlag, 230–248.
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vation und Einstellungen gegenüber Sprechern der eigenen und der fremden Sprache. In: Zeitschrift
für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 9(2). [Online: http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-09–2/
beitrag/Grotjahn2.htm] (15. 07. 2015)
*Grum, Urška (2012). Mündliche Sprachkompetenzen deutschsprachiger Lerner des Englischen: Entwick-
lung eines Kompetenzmodells zur Leistungsheterogenität. Frankfurt/Main: Lang.
Hair, Joseph F./Black, William C./Babin, Barry J./Anderson, Rolph E. (2014). Multivariate Data Ana-
lysis. 7. Auflage. Essex, UK: Pearson.

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354 5. Forschungsverfahren

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Common errors and some comment on improved practice. In: Educational and Psychological Mea-
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learning research be successfully replicated? In: International Journal of Testing 10, 262–273.
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search: A review. In: Language Assessment Quarterly 8, 250–276.
In’nami, Yo/Koizumi, Rie (2013). Review of sample size for structural equation models in second
language testing and learning research: A Monte Carlo approach. In: International Journal of Testing
13, 329–353.
*König, Johannes/Rothland, Martin/Darge, Kerstin/Lünnemann, Melanie/Tachtsoglou, Sarantis (2013).
Erfassung und Struktur berufswahlrelevanter Faktoren für die Lehrerausbildung und den Lehrerberuf
in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 16, 553–577.
Kubinger, Klaus D./Rasch, Dieter/Yanagida, Takuya (2011). Statistik in der Psychologie: Vom Einfüh-
rungskurs bis zur Dissertation. Göttingen: Hogrefe.
Kunnan, Antony J. (1998). An introduction to structural equation modelling for language assessment
research. In: Language Testing 15, 295–332.
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Lorenzo-Seva, Urbano/Ferrando, Pere J. (2013). Manual of the program FACTOR, version 9.20 [Compu-
tersoftware und Manual]. [Online: http://psico.fcep.urv.es/utilitats/factor/index.html] (15. 07. 2015)
Lorenzo-Seva, Urbano/Timmerman, Marieke E./Kiers, Henk A. L. (2011). The Hull method for selecting
the number of common factors. In: Multivariate Behavioral Research 46, 340–364.
*Nold, Günter/Haudeck, Helga/Schnaitmann, Gerhard W. (1997). Die Rolle von Lernstrategien im
Fremdsprachenunterricht. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 8(1), 27–50.
Ockey, Gary J. (2014). Exploratory factor analysis and structural equation modeling. In: Kunnan, An-
tony J. (Hg.). The Companion to Language Assessment (Bd. 3). Chichester, UK: Wiley, 1224–1244.
Osborne, Jason W./Costello, Anna B./Kellow, J. Thomas (2008). Best practices in exploratory factor
analysis. In: Osborne, Jason W. (Hg.). Best Practices in Quantitative Methods. Thousand Oaks, CA:
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*Porsch, Raphaela (2010). Schreibkompetenzvermittlung im Englischunterricht in der Sekundarstufe I:
Empirische Analysen zu Leistungen, Einstellungen, Unterrichtsmethoden und Zusammenhängen von
Leistungen in der Mutter- und Fremdsprache. Münster: Waxmann.
*Schneider, Christoph/Bodensohn, Rainer (2008). Curriculare Standards der fremdsprachlichen Lehrer-
bildung in der Praxis: Empirische Erkenntnisse. In: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung, Sonder-
heft 13, 215–236.
*Shin, Sang-Keun (2005). Did they take the same test? Examinee language proficiency and the structure
of language tests. In: Language Testing 22(1), 31–57.
Tabachnick, Barbara G./Fidell, Linda S. (2014). Using Multivariate Statistics. 6. Auflage. Essex, UK:
Pearson.
*Zydatiß, Wolfgang (2007). Deutsch-Englische Züge in Berlin (DEZIBEL): Eine Evaluation des bilingua-
len Sachfachunterrichts an Gymnasien. Frankfurt/Main: Lang.

»» Zur Vertiefung empfohlen

Bühner, Markus (2011). Einführung in die Test- und Fragebogenkonstruktion. 3. Auflage. Mün-
chen: Pearson Studium.

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5.3.11 Exploratorische und konfirmatorische Faktorenanalysen 355

Der Autor setzt sich in Kapitel 6 mit der EFA und in Kapitel 7 mit der CFA auseinander. In beiden Ka-
piteln werden die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen detailliert und zugleich anschaulich
dargestellt. Die praktische Durchführung einer EFA wird mittels SPSS, die Durchführung einer CFA
mittels AMOS anhand von Beispielen gut nachvollziehbar erläutert.
Eid, Michael/Gollwitzer, Mario/Schmitt, Manfred (2015). Statistik und Forschungsmethoden.
4. Auflage. Weinheim: Beltz.
Die Autoren geben in ihrem über 1000 Seiten umfassenden Lehrbuch eine testtheoretisch fundierte
Darstellung faktorenanalytischer Modelle und Methoden. Einen Schwerpunkt bilden die Anwendung
von Maximum-Likelihood-Methoden der Parameterschätzung und die Überprüfung der Modell-
anpassung.
Hair, Joseph F./Black, William C./Babin, Barry J./Anderson, Rolph E. (2014). Multivariate Data
Analysis. 7. Auflage. Essex, UK: Pearson.
Die Autoren behandeln in ihrem bewährten Lehrbuch ausführlich die einzelnen Schritte, die bei der
Durchführung einer EFA bzw. CFA zu beachten sind. Der gewachsenen Bedeutung konfirmatorischer
Ansätze tragen die Autoren durch drei separate Kapitel zu den Grundlagen von SEM, zur CFA und
zur Modellprüfung Rechnung.
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6. Etappen im Forschungsprozess:
Erfahrungen und Empfehlungen

Friederike Klippel

Eine Forschungsarbeit in Angriff zu nehmen, ähnelt dem Aufbruch zu einem Abenteuer.


Das trifft sowohl für die Person zu, die mit der Forschung beginnt, als auch für die, die sie
ggf. dabei betreut. Abenteuerreisen sind mit einer guten Reiseleitung weniger riskant. Für
Forschungsnoviz_innen ist daher eine solche Betreuung von großer Bedeutung. Angesichts
der möglichen individuellen Unterschiede, die sich im jeweiligen Fall aufgrund der Arbeits-
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und Lebenssituationen, der Persönlichkeiten von Forscher_in und Betreuer_in, des Themas
und des Forschungsansatzes ergeben, erscheint es schwierig, allgemeingültige Ratschläge
und Empfehlungen zu formulieren. Wir verstehen dieses Kapitel daher nicht als ein abzuar-
beitendes Programm, das feste Vorgaben für die einzelnen Etappen einer wissenschaftlichen
Arbeit macht, sondern vielmehr als Hinweis auf Leitlinien, als Anregung zur Reflexion, als
Angebot von Optionen, als Entscheidungshilfe oder Denkanstoß.
Die Empfehlungen dieses Kapitels beruhen zum ersten auf unserer addierten Betreuungs-
erfahrung, die weit über 50 abgeschlossene Promotionen und etwa zehn Habilitationen sowie
mehrere hundert Abschlussarbeiten in den fremdsprachendidaktischen Fächern umfasst, zum
zweiten auf bewährten Techniken wissenschaftlichen Arbeitens allgemein, wie wir sie selbst
praktizieren, unseren Doktorand_innen empfehlen und sie in den einschlägigen, fachunspezi-
fischen Handreichungen zu finden sind. Unsere Leitung von und Mitwirkung bei Graduier-
tenkollegs und Graduiertenschulen, Sommerschulen, Nachwuchstagungen, internationalen
und regionalen Doktorandenseminaren und Forschungskollegs haben uns darüber hinaus
Einblicke in sehr unterschiedliche Herausforderungen und Fragen zum Forschungsprozess in
allen seinen Stadien verschafft. Wir meinen also, die FAQs (frequently asked questions) aus
Sicht der Nachwuchswissenschaftler_innen und Betreuer_innen ganz gut zu kennen, und
haben auf dieser Basis die Struktur und die Inhalte von Kapitel 6 geplant. Dennoch kann
ein solches Kapitel sicherlich nicht für alle individuell existierenden Probleme oder Fragen
Antworten bereithalten und auch das intensive Gespräch mit der/m jeweiligen Betreuer_in
nicht ersetzen.
Auch erfahrene Wissenschaftler_innen, die Promovend_innen und Habilitand_innen be-
treuen, können eventuell von einzelnen Ideen und Empfehlungen profitieren, die im Fol-
genden thematisiert werden. Forschen (und Forschende zu betreuen) bedeutet immer auch,
dass man selbst viel lernt. Da kann es hilfreich sein, die eigene Reflexion festzuhalten und
in Form eines Forschungs- oder Betreuungs-Tagebuchs zu dokumentieren, um sich so den
eigenen Entwicklungsprozess bewusst zu machen und wertvolle Einsichten nicht zu ver-
gessen.

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358 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Jeder, der in einem Feld forscht, ist Teil einer community of practice. Eine solche Gemein-
schaft definiert sich u. a. durch eine Reihe von allgemein akzeptierten Arbeitsweisen, Werten
und Einstellungen. Für junge Wissenschaftler_innen ist es wichtig, sich in die community of
practice zu integrieren. Das geschieht durch Teilnahme am Diskurs, etwa durch Lektüre der
Fachliteratur, bei Konferenzen und anderen Veranstaltungen sowie durch die Präsentation
der eigenen Forschung.
Die folgenden Kapitel liefern praktische Hinweise und Reflexionshilfen für alle Phasen
des Forschungsprozesses. Im Groben folgen die einzelnen Kapitel dem Ablauf eines For-
schungsprojekts mit abschließender Veröffentlichung: So beginnt Kapitel 6.1 mit der Genese
der Forschungsfrage, deren klare Festlegung für Forschungsnoviz_innen in der Regel nicht
ganz einfach ist. Bei den meisten fremdsprachendidaktischen Forschungsvorhaben spielt das
Verhältnis zwischen dem Praxisfeld des Unterrichts oder der Lehrerbildung, um nur zwei der
häufig untersuchten Bereiche zu nennen, und der zugrundegelegten Theorie eine zentrale
Rolle; dies ist Thema von Kapitel 6.2. In Kapitel 6.3 finden sich Hinweise und Erläuterungen
zur Erstellung der Literaturüberblicke zum untersuchten Thema und zum gewählten For-
schungsansatz. Die Gestaltung der eigenen Untersuchung bzw. die Konzeption des Designs
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ist eine besonders anspruchsvolle Herausforderung, die häufig in einem langwierigen Pro-
zess von einer vagen Kernidee über mehrere Phasen der Präzisierung, der Ergänzung, der
Umgestaltung und nicht selten auch des beherzten Zusammenschrumpfens hin zu einem
komplexen – und gleichzeitig doch realisierbaren – Vorhaben bewältigt wird. Diesen kreati-
ven Prozess, der von Forschungsnoviz_innen auch ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz
erfordert, beschreibt Kapitel 6.4. Kapitel 6.5 gibt im Anschluss sodann Hinweise dazu, wie
auf der Grundlage eines solchen präzisierten Forschungsvorhabens Zeit- und Arbeitspläne
erstellt werden können, und macht deutlich, dass sie im Zuge einer metakognitiven Kon-
trolle und Steuerung des Arbeitsprozesses immer wieder den aktuellen Gegebenheiten und
Einsichten entsprechend umzustoßen bzw. weiterzuentwickeln sind. Sind Datenerhebung
oder Dokumentensammlung abgeschlossen und die Ergebnisse erarbeitet, stellt sich die He-
rausforderung, den Ertrag der Forschungsarbeit so darzubieten, dass die zentralen Befunde
deutlich herausgestellt, die offenen Fragen thematisiert und die gesammelten Erträge in den
theoretischen Forschungszusammenhang eingeordnet werden (Kapitel 6.6). Anregungen für
die Präsentation der eigenen Forschung in allen Phasen des Forschungsprojekts in mündlicher
oder schriftlicher Form liefert Kapitel 6.7, das auch die unterschiedlichen Optionen der ab-
schließenden Publikation erörtert. Das letzte Kapitel (6.8) befasst sich mit wichtigen Aspekten
der Betreuung von wissenschaftlichen Arbeiten und will sowohl Betreuenden als auch Be-
treuten Hinweise geben, wie dieses Verhältnis für alle Beteiligten fruchtbar und konstruktiv
gestaltet werden kann, damit das Abenteuer des Forschungsvorhabens gelingt.

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6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage 359

6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage

Daniela Caspari

Themen von Forschungsarbeiten, die der wissenschaftlichen Qualifizierung dienen, also Dis-
sertationen und Habilitationsschriften, können entweder im Rahmen eines größeren Projekts
entstehen oder als Einzelstudie. Im ersten Fall sind Thema und Fragestellung in der Regel
weitgehend vorgegeben; im zweiten Fall erwartet man, dass die betreffende Forscherin oder
der Forscher Thema und Forschungsfrage selbst vorschlägt. In der Fremdsprachenforschung
sind die meisten solcher Qualifikationsarbeiten bislang als Einzelstudien entstanden und sie
spiegeln damit auch die Forschungsthemen der Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaft-
lerinnen wider.
Bis Thema, Forschungsfrage und Methode präzise bestimmt sind, kann es leicht mehrere
Wochen oder auch Monate dauern. Aber diese Zeit und Mühe sind gut investiert, denn bei
diesem Findungsprozess handelt sich keineswegs um eine lästige und unnütze Vorarbeit.
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Es ist vielmehr ein wichtiger Teil der Forschungsarbeit selbst, in dem nach und nach die
entscheidenden Weichen für das Projekt gestellt und die Betreuerinnen und Betreuer einge-
bunden werden. Zumeist verläuft dieser herausfordernde Prozess zirkulär, denn die Aspekte
„Thema“, „Forschungsfrage“ und „Design“ bzw. „Methode“ sind sehr eng miteinander ver-
bunden und beeinflussen sich gegenseitig: Präzisierungen oder Veränderungen an einem der
Aspekte erfordern zumeist auch Veränderungen an den beiden anderen.

6.1.1 Wie finde ich ein Thema?

Ausgangspunkte für die Themenfindung können das eigene Studium oder die eigene Praxis
sein (vgl. Schart 2001). So liefern Themen, über die man immer schon mehr wissen wollte,
oder Praxiserfahrung, über die man schon längst einmal gründlicher nachdenken wollte, gute
Startpunkte. Eine andere Möglichkeit besteht darin, mit der Themenwahl auf eine bestimm-
te berufliche Richtung (z. B. Aus- und Fortbildung, Lehrmaterialienentwicklung, Bildungs-
administration) hinzuarbeiten und sich ein Themenfeld neu zu erschließen, in dem man
zukünftig gerne tätig sein möchte. Man kann aber auch damit beginnen, sich einen Überblick
über mögliche Forschungsgebiete und aktuelle Trends in der Fremdsprachendidaktik zu ver-
schaffen. Um herauszufinden, zu welchen Themen gerade geforscht wird, eignen sich neben
unregelmäßig erscheinenden Forschungsüberblicken (z. B. Behrent et al. 2011, Doff 2015,
Gnutzmann/Königs/Küster 2011) und der auf Selbsteintrag beruhenden Chronologie der
Dissertationen und Habilitationen im deutschsprachigen Raum (Sauer 2006, fortgeführt von
Friederike Klippel unter http://www.dgff.de/de/qualifikationsarbeiten.html) eine Durchsicht
aktueller Zeitschriften und Sammelbände. Auf diese Weise erfährt man indirekt ebenfalls,
welche Themen gerade nicht im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen, obwohl es sich
möglicherweise um zentrale Fragen der Fremdsprachendidaktik bzw. des Fremdsprachen-
unterrichts handelt, die es lohnen, unter neuen Gesichtspunkten weiter erforscht zu werden.
Möglicherweise kann auch eine Liste der Forschungsschwerpunkte und Abschlussarbeiten in

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360 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

der Didaktik der jeweiligen Universität Anregungen geben, genau wie eine Empfehlung des
potentiellen Betreuers bzw. der Betreuerin oder anderer Doktoranden und Doktorandinnen.
Wichtig ist, dass einem das Thema persönlich so wichtig ist bzw. wird, dass man sich gut
vorstellen kann, ihm mit Freude und forschender Leidenschaft mehrere Jahre seines Lebens
zu widmen.
Sobald erste Ideen gefunden sind, empfiehlt es sich, einen groben Überblick über das For-
schungsgebiet zu gewinnen. So erfährt man, welche Fragen bereits intensiver diskutiert wor-
den sind und wo es möglicherweise noch Forschungsbedarf gibt. Eine allererste Orientierung
über die zentralen Aspekte, Strukturen und Fragen eines Forschungsgebietes und die an ihm
arbeitenden Forscherinnen und Forscher bieten aktuelle Einführungen, Handbücher und Le-
xika. Auch Sammelbände und Themenhefte von Zeitschriften können eine gute Einführung
darstellen. Für einen genaueren Überblick sind jedoch die Suche nach Forschungsüberblicken
(state of the art-Beiträge in Fachzeitschriften, z. B. Language Teaching) und Rezensionen
sowie Datenbankabfragen (z. B. Fachportal Pädagogik, Informationszentrum Fremdsprachen-
forschung (ifs), Bildungsserver) unerlässlich. Ist die entsprechende Literatur identifiziert, soll-
te man sich Zeit zum ‚Einlesen‘ lassen. Dabei ist es nicht nur wichtig, durch gezielte, the-
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matisch vorstrukturierte Lektüre einen Überblick über das Thema mit seinen verschiedenen
Teilbereichen, Aspekten und Ansatzpunkten zu gewinnen. Es ist ebenfalls sinnvoll, über das
Thema hinaus Einblick in angrenzende Themen und Gebiete zu gewinnen, entweder um sich
abzugrenzen oder um zusätzliche Anregungen zu erhalten. Dieses gezielt suchende und bei-
läufig findende Lesen dauert seine Zeit.
Bereits in dieser vorbereitenden Lesephase kann mit dem Führen eines Forschungstage-
buches begonnen werden. In manchen Ansätzen der qualitativen Sozialforschung, insbeson-
dere in der ethnographischen Feldforschung (Friebertshäuser/Panagiotopoulou 2010) und in
der Aktionsforschung (Altrichter/Posch 2007), ist das Führen eines Forschungstagebuches als
systematisches Selbstreflexions- und Datensicherungsinstrument obligatorisch. Aber auch für
jedes andere Forschungsprojekt ist das regelmäßige schriftliche Reflektieren über den eigenen
Forschungsprozess von Vorteil: Es sichert wichtige Informationen und (auch spontane) Ideen,
Überlegungen und Thesen, es erhöht die Selbstaufmerksamkeit, ermöglicht (beim Wieder-
lesen) eine De-Zentrierung, lässt die Genese von Gedanken, Standpunkten und Entscheidun-
gen nachvollziehen und erlaubt eine Übersicht über das, was man bereits geschafft hat. Inhalte
eines solchen Forschungstagebuches, das entweder als gebundenes Heft, als Ordner oder in
elektronischer Form geführt werden kann, sind in regelmäßigen Abständen die Reflexion der
Forschungsziele, der persönlichen Sicht auf den Forschungsgegenstand und den Forschungs-
prozess sowie die Dokumentation der einzelnen Forschungsschritte, einschließlich der dabei
auftauchenden Probleme (z. B. auch als Vor- bzw. Nachbereitung von Gesprächen mit den
Betreuerinnen und Betreuern oder im Forschungskolloquium, siehe auch Kapitel 6.7 und 6.8).
Dazu kommen die ‚Funde‘ aus der alltäglichen Arbeit und aus Gesprächen, z. B. Hinweise
auf Literatur, andere Quellen oder Personen, interessante Zitate (mit genauer Angabe der
Fundstelle), Überlegungen zu Forschungsmethoden, neue Fragen und Interpretationen, aber
auch die eigenen Emotionen. Hilfreich ist es, sich feste Zeiten für die Einträge zu reservieren,
jeweils Datum, Ort und ggf. Situation zu notieren und das Tagebuch möglichst übersichtlich
zu gestalten (Randspalte, Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen, Unterstreichungen, Symbole …).
Je nach persönlichem Arbeitsstil können auch vorstrukturierte Blätter verwendet werden.

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6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage 361

Bei der Eingrenzung des Themas können bestimmte Techniken aus einschlägigen Ratgebern
helfen (z. B. Beinke et al. 2011: 21–30, Boeglin 2012: 131–140, Esselborn-Krumbiegel 2014:
33–70, Kornmeier 2010: 48–53). Man kann z. B. überlegen, was man bereits aus anderen
Zusammenhängen über den Themenbereich weiß, was einen an dem Thema fasziniert bzw.
irritiert, möglichst viele Fragen zu einem Themenbereich stellen und mögliche Antworten
antizipieren, W-Fragen an das Thema stellen oder versuchen, das Thema aus mehreren Per-
spektiven zu betrachten. Auch das Clustern von Assoziationen und ihre Strukturierung in
Form von Mindmaps können dabei helfen, den Themenschwerpunkt zu identifizieren. Wenn
man unsicher ist, ob man mit dem gefundenen Thema tatsächlich die kommenden Monate
oder Jahre verbringen will, könnte es helfen, mit der gleichen Sorgfalt ein alternatives Thema
zu suchen, sich der Diskussion zu beiden Themen in einem Doktorandenseminar zu stellen –
und dann auf sein Bauchgefühl zu achten.
Oftmals besteht die Sorge, dass ein Thema möglicherweise nicht neu bzw. nicht spektakulär
genug sei oder nicht ausreichend neue Erkenntnisse verspreche. Oder auch, dass man in Kon-
kurrenz zu anderen stehe, die zur gleichen Zeit am gleichen Thema arbeiten. Diese Sorge ist
in aller Regel unbegründet, denn selbst sehr ähnliche Arbeiten, z. B. zwei empirische Arbeiten
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mit fast identischem Titel, werden sich bzgl. der Fragestellung, der zugrunde gelegten Theo-
rien oder der Forschungsmethoden, in aller Regel deutlich unterscheiden. Dies entbindet
einen aber natürlich nicht von der Pflicht, sich mit diesen Arbeiten intensiv auseinanderzuset-
zen. Gerade bei aktuellen Themen ist damit zu rechnen, dass man nicht der bzw. die Einzige
ist, die sich gerade dafür interessiert. Und auch bei länger nicht bearbeiteten bzw. zeitlosen
Themen gilt, dass sie niemals abgeschlossen sind. Denn jede wissenschaftliche Arbeit trägt
einen neuen Aspekt, eine neue Sichtweise oder ein neues Ergebnis zum Gesamtmosaik des
jeweiligen Themenbereiches bei.

6.1.2 Wie formuliere ich eine Forschungsfrage?

Während der Suche und Eingrenzung des Themas konkretisiert sich das Erkenntnisinteresse:
Zu welchem Thema möchte man arbeiten, was interessiert einen daran und warum interes-
siert es einen? Im nächsten Schritt gilt es zu bestimmen, was genau man herausfinden möchte,
d. h. es gilt, die Forschungsfrage bzw. Hypothese zu formulieren. Das bedeutet, dass man aus-
gehend vom eigenen Erkenntnisinteresse unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungs-
standes und der geeigneten Forschungsmethodik (zum Zusammenhang siehe Abschnitt 3)
eine solch präzise Fragestellung herausarbeitet, dass zum gewählten Thema tatsächlich neue
Ergebnisse und Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Forschungsfrage ist der Start-
punkt des Forschungsprojektes und wird im Verlauf der Arbeit oftmals weiter ausdifferenziert
oder präzisiert. Möglicherweise muss sie mit steigendem Wissensstand oder je nach auf-
findbaren Materialien bzw. aufgrund der Datenlage auch noch einmal verändert werden,
damit sie tatsächlich im Rahmen eines zeitlich und ressourcenmäßig begrenzten Projektes
erfolgreich bearbeitet werden kann. Während das zirkuläre ‚Einkreisen‘ der Forschungsfrage
typisch für historische und hermeneutische Arbeiten und sogar ein fester Bestandteil vieler
qualitativer Arbeiten ist, wird in quantitativen Arbeiten die eingangs formulierte Hypothese
im Forschungsprozess selbst nicht mehr verändert.

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362 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Die Formulierung der Forschungsfrage setzt eine theoretische Verortung in Bezug auf
das gewählte Thema voraus und sie führt zu einer Beschränkung und Richtungsbestim-
mung: Was möchte ich mit meiner Arbeit herausfinden? Welches Problem möchte ich be-
arbeiten, welchen Widerspruch klären, welche Frage beantworten? Die Forschungsfrage
definiert somit Ziel und Zweck der Arbeit. Dies kann in Form unterschiedlicher Fragen
geschehen (vgl. z. B. Kornmeier 2010: 54–68), z. B. kann ein Gegenstandsbereich genauer
beschrieben oder systematisiert werden, es können Interpretationen oder Erklärungen für
einen Tatbestand gefunden werden oder es können neue Anwendungsfelder erschlossen
werden.
Gute Forschungsfragen, d. h. Forschungsfragen, die sich im Rahmen einer Forschungs-
arbeit systematisch und ausreichend tief beantworten lassen, sind i. d. R. sehr konkret, sie
sind kurz und eindeutig, sie bestehen aus nur einer Frage (ggf. mit Nebenfragen) bzw. einer
These oder einer pro-contra-Aussage, sie sind klar, einfach und genau formuliert. Dazu sind
sie für den Schreibenden interessant, sie entsprechen dem Stand der Wissenschaft und sind
im Fachkontext relevant und beantwortbar.1 Die größte Herausforderung besteht darin, die
Frage nicht zu weit, aber auch nicht zu eng zu formulieren. Umgekehrt kann man nicht
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hinreichend entwickelte Forschungsfragen u. a. daran erkennen, dass sie unklar sind, zu weit
gefasst sind, in sich widersprüchlich sind, dass sie auf unklaren Vorannahmen beruht oder
dass es sich nicht um eine echte Frage, sondern um als eine als Frage formulierte Behauptung
oder eine beeinflussende bzw. tendenziöse Frage handelt (vgl. z. B. Karmasin/Ribing 2010:
23–24).
Das Formulieren einer einfachen, konkreten und ausreichend eng gefassten Forschungs-
frage verlangt i. d. R. mehrere Anläufe (hilfreiche Techniken wie Freewriting, Mindmaps,
Präzisierungen findet man z. B. bei Wolfsberger 2010: 77–85) und sollte in Rückkopplung
mit dem Betreuer bzw. der Betreuerin erfolgen. Für ein Dissertationsprojekt ist es nicht un-
gewöhnlich, wenn Lesephase und die ersten Formulierungen der Forschungsfrage ein halbes
Jahr in Anspruch nehmen. Aber dieser Aufwand lohnt sich, denn die Forschungsfrage leitet
den nachfolgenden Lese- und Schreibprozess, sie hilft bei der gezielten Suche und Sichtung
von Literatur bzw. Material und bei der Entwicklung der Struktur bzw. des Argumentations-
gangs der Arbeit. Denn jedes Kapitel der Arbeit zielt zielt durch Beantwortung einer Teilfrage
darauf, dass am Ende die Forschungsfrage beantwortet werden kann.

6.1.3 Wie hängen Thema, Forschungsfrage und


Forschungsmethode zusammen?

Mit der Formulierung der Forschungsfrage einher geht die Entscheidung für eine bestimmte
Forschungsmethodik. Während die Wahl eines Themas noch keine Entscheidung bzgl. einer
bestimmten Forschungstradition impliziert, legt die Forschungsfrage in aller Regel zumindest
die Forschungstradition, oft auch bestimmte Forschungsverfahren bzw. -methoden nahe. Dies
soll am Beispiel des Themas „Umgang mit Schülerfehlern“ skizziert werden.

1 Vgl. als Beispiele hierzu die Forschungsfragen in der Darstellung der Referenzarbeiten (Kapitel 7).

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6.1 Von der Idee zur Forschungsfrage 363

• Interessiert am Thema der Aspekt der Veränderungen im Umgang mit Fehlern von 1970
bis heute, ist die Arbeit in der historischen Tradition angesiedelt (vgl. Kapitel 3.1). Inner-
halb dieser Tradition können ganz unterschiedliche Forschungsfragen gestellt werden, z. B.
folgende: Wie haben sich die Curricula bzw. die entsprechenden Verordnungen in diesem
Zeitraum verändert? Wie hat sich die Korrekturpraxis in Klassenarbeiten oder Abitur-
arbeiten verändert? Wie haben sich die Auffassungen der Lehrkräfte diesbezüglich ver-
ändert? Diese Fragen legen unterschiedliche Verfahren nahe. Z. B. könnte man die erste
Frage gut durch eine Dokumentenanalyse der entsprechenden offiziellen Vorschriften be-
antworten.
• Interessiert dabei der Aspekt, was überhaupt ein Fehler ist, bzw. was als Fehler gilt, käme
eine theoretische bzw. konzeptionelle Arbeit in Frage (vgl. Kapitel 3.2). Innerhalb dieser
Forschungsrichtung könnte man z. B. folgende Fragen beantworten: Welche Definitionen
und Bezugsnormen werden für den Begriff Fehler herangezogen? Welche Fehlertypen
werden unterschieden? Welche Hinweise zum Umgang mit Schülerfehlern kann man aus
der Vorstellung konzeptioneller Mündlichkeit gewinnen? Wie unterscheiden sich die Ver-
ordnungen der Bundesländer zur Definition von und zum Umgang mit Fehlern? Zur Be-
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antwortung eignen sich jeweils hermeneutische, d. h. analysierende und vergleichende


Verfahren.
• Fragen, die sich auf die individuelle Wahrnehmung und den Umgang mit Fehlern beziehen,
können mit einer qualitativ empirischen Arbeit beantwortet werden, auf Lernerseite z. B.:
Was fangen Lernende mit Tipps und Tricks zur Fehlervermeidung an? Wie gehen sie mit
schriftlichen Fehlerkorrekturen um? Auf Seite der Lehrenden z. B.: Welche unterschiedli-
chen Auffassungen zum Umgang mit Fehlern haben angehende Lehrkräfte? Wie verändern
sie sich im Laufe ihres Referendariates? Für diese Fragen wären z. B. halbstandardisierte
Fragebögen und Verfahren der Typenbildung geeignet.
• Möchte man dagegen Genaueres über einen bestimmten Einzelaspekt erhalten, käme eine
Arbeit in der quantitativ empirischen Forschungstradition in Frage. Mit den dort üblichen
Verfahren könnten z. B. die Frage beantwortet werden: Welche Fehler markieren Lehr-
kräfte in schriftlichen Klassenarbeiten in Klasse 10? Wie bewerten Lehrkräfte das Kriterium
„sprachliche Korrektheit“ in einer mündlichen Prüfung zum Mittleren Schulabschluss? Ver-
ändert sich ihr Bewertungsverhalten durch ein Bewertertraining? Die letzte Frage könnte
z. B. im Rahmen einer Interventionsstudie mit Experimental- und Kontrollgruppe beant-
wortet werden.
An diesen Beispielen wird deutlich, dass es zu jedem Thema eine Vielzahl interessanter For-
schungsfragen gibt und dass sie je nach interessierendem Aspekt innerhalb unterschiedlicher
Forschungstraditionen bearbeitet werden können. Erst mit der Formulierung der Forschungs-
frage legt man sich fest, denn eine gute Forschungsfrage beruht auf der Passung von Thema,
zu erforschendem Aspekt und Forschungsmethodik. Sind diese Entscheidungen getroffen,
kann das Verfassen des Exposés (s. Kapitel 6.7) in Angriff genommen werden.

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364 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

›› Literatur

Altrichter, Herbert/Posch, Peter (2007). Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. 4. Auflage.
Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Beinke, Christiane/Brinkschulte, Melanie/Bunn, Lothar/Thürmer, Stefan (2011). Die Seminararbeit.
Konstanz: UVK-Verlags-Gesellschaft.
Behrent, Sigrid/Doff, Sabine/Marx, Nicole/Ziegler, Gudrun (2011). Review of doctoral research in se-
cond language acquisition in Germany (2006–2009). In: Language Teaching 44, 237–261.
Boeglin, Martha (2012). Wissenschaftlich Arbeiten Schritt für Schritt. München: Fink. [= UTB]
Doff, Sabine (2015). Qualifikationsschriften in der Fremdsprachenforschung im deutschsprachigen
Raum 2007–2013: Titel, Themen, Trends. In: Doff, Sabine/Grünewald, Andreas (Hg.). WECHSEL-
Jahre? Wandel und Wirken in der Fremdsprachenforschung. Trier: WVT, 143–152.
Esselborn-Krumbiegel, Helga (2014). Von der Idee zum Text. Paderborn: Schöningh.
Friebertshäuser, Barbara/Panagiotopoulou, Argyro (2010). Ethnographische Feldforschung. In: Frie-
bertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, Annedore (Hg.). Handbuch Qualitative Forschungs-
methoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juventa, 301–322.
Gnutzmann, Claus/Königs, Frank G./Küster, Lutz (2011). Fremdsprachenunterricht und seine Er-
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forschung. Ein subjektiver Blick auf 40 Jahre Forschungsgeschichte und auf aktuelle Forschungs-
tendenzen in Deutschland. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 40, 5–28.
Karmasin, Matthias/Ribing, Rainer (2010). Die Gestaltung wissenschaftlicher Arbeiten. Ein Leitfaden
für Seminararbeiten, Bachelor-, Master- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen. 5. aktualisierte
Auflage. Wien: Facultas. [= UTB]
Kornmeier, Martin (2010). Wissenschaftlich schreiben leicht gemacht für Bachelor, Master und Dis-
sertationen. 3. Auflage. Bern: Haupt. [= UTB]
Sauer, Helmut (2006). Dissertationen, Habilitationen und Kongresse zum Lehren und Lernen fremder
Sprachen. Eine Dokumentation. Tübingen: Narr.
Schart, Michael (2001). Aller Anfang ist Biografie – Vom Werden und Wirken der Fragestellung in der
qualitativen Forschung. In: Müller-Hartmann, Andreas/Schocker-von Ditfurth, Marita (Hg.) (2001).
Qualitative Forschung im Bereich Fremdsprachen lehren und lernen. Tübingen: Narr, 40-61.
Wolfsberger, Judith (2010). Frei geschrieben. Mut, Freiheit und Strategie für wissenschaftliche Abschluss-
arbeiten. 3. Auflage. Wien: Böhlau. [= UTB]

6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis

Daniela Caspari

Nicht selten werden Promovend/innen in der Fremdsprachendidaktik gefragt, ob sie eine


‚theoretische oder praktische Arbeit‘ schrieben. Gemeint ist damit vermutlich, ob die Arbeit
eher auf einen Beitrag zur Theoriebildung, auf einen Beitrag zur Erforschung der Praxis
oder auf ein Beitrag zur Veränderung bzw. Verbesserung der Praxis abziele. Möglicherweise
ist mit der Frage auch gemeint, in welcher Forschungstradition sich die Arbeit verortet, der
historischen, der theoretisch-konzeptuellen oder der empirischen (s. Kapitel 3.1 bis 3.3 und
Kapitel 6.1). Dass diese vermeintlich einfache Frage auf so unterschiedliche Ebenen abzielen
kann, deutet bereits an, dass es darauf keine einfache Antwort geben kann. Dies liegt auch

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6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis 365

in der Fremdsprachendidaktik als wissenschaftlicher Disziplin begründet, die sich als an-
gewandte Wissenschaft in dem Sinne versteht, dass jegliche Forschung direkt oder indirekt
auf das Verstehen und/oder die Veränderung von Praxis abzielt (vgl. Kapitel 2). Fremdspra-
chendidaktische Studien können somit niemals ‚reine‘ Theorie- oder ‚reine‘ Praxisarbeiten
sein, sondern sie erforschen auf unterschiedliche Art und mit unterschiedlicher Zielsetzung
die komplexen Bezüge zwischen Theorie und Praxis. Dieses Kapitel soll daher – ungeachtet
einer noch ausstehenden Theorie des Theorie-Praxis-Bezuges in der Fremdsprachendidak-
tik – den Blick für die möglichen Wechselspiele schärfen und erweitern. Dies kann dazu
beitragen, die mit der Forschungsarbeit verbundenen Absichten zu klären und gezielt ein
solches Design auszuwählen, das den eigenen Voraussetzungen und Absichten am besten
entspricht.

6.2.1  um Verhältnis von Theorie und Praxis in der


Z
fremdsprachendidaktischen Forschung
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Im Rahmen dieses forschungspraktischen Beitrags können die vielschichtigen Begriffe „Theo-


rie“, „Praxis“ und „Empirie“ nicht detailliert definiert werden (vgl. z. B. Kron 1999). Es muss
daher genügen, „Theorie“ als „ein nach wissenschaftlichen Regeln entstandenes Ergebnis oder
Produkt theoretischer und/oder empirischer Erkenntnisse“ [zu verstehen], das in Begriffen
und Sätzen ausgedrückt wird“ (Kron 1999: 75). „Praxis“ soll hier im Sinne von „Lebenspraxis“
oder „Alltagshandeln“ (Kron 1999: 34–35) im Feld des Lehrens und Lernens von Fremd-
sprachen verstanden werden, das von den Beteiligten selbst und von externen Forscher/innen
mithilfe empirischer Methoden beschrieben, reflektiert, analysiert und interpretiert werden
kann. Dies kann mit oder ohne die Absicht geschehen, die Praxis zu bewerten und/oder zu
verändern.
Breidbach (1997: 44–47) unterscheidet in seinen Vorüberlegungen für den Entwurf einer
reflexiven Didaktik für den bilingualen Sachfachunterricht in Anlehnung an Kron (1999)
unter Verweis auf Weniger (1929, wiedergegeben in Breidbach 2007: 45) vier verschiedene
Formen des Bezugs zwischen Theorie und Praxis:
• Theorie der Theorie: Bildung von Theorien unabhängig von der Unterrichtspraxis
• Praxis des Unterrichts: handelnder Vollzug unabhängig von Theoriebildung
• Theorie der Praxis: Herstellen eines gegenseitigen Verweisungszusammenhangs zwischen
Theorie und Praxis
• Praxis der Theoriebildung: Aktivität der Erstellung einer Theorie
Dieser Einteilungsversuch illustriert, wie schwierig es ist, das komplexe Wechselverhältnis
von Theorie und Praxis zu strukturieren, allein schon, weil Theorie und Praxis keine klar von-
einander abgrenzbaren, dichotomen Kategorien sind. Zudem hat fremdsprachendidaktische
Theoriebildung i. d. R. direkt oder indirekt die Praxis des Lehrens und Lernens von Sprachen
zum Inhalt, und Praxis umfasst neben dem handelnden Vollzug zumindest auch die Theo-
rien der beteiligten Akteur/innen. Statt theoretisch unterschiedliche Formen von Theorie-
Praxis-Bezügen weiter auszudifferenzieren, scheint es für die fremdsprachendidaktische For-

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366 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

schungspraxis sinnvoller, mögliche Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis ausgehend


vom Forschungsdesign zu beschreiben. Im Folgenden wird ein solcher erster Versuch unter­
nommen.

6.2.2 Das Theorie-Praxis-Verhältnis im Forschungsdesign

In Tabelle 1 werden fünf verschiedene Grundtypen des Theorie-Praxis-Bezugs fremdspra-


chendidaktischer Forschung unterschieden. Angegeben ist zunächst der Ausgangspunkt der
Forschung: Geht man von bereits vorliegenden Theorien, d. h. von elaborierten Theorien,
Modellen oder Konzepten (zur Unterscheidung vgl. Kron 1999: 77–78), auch aus anderen Dis-
ziplinen, aus oder ist die beobachtbare bzw. erlebte Praxis der Ausgangspunkt? Danach ist zu
entscheiden, welches Ziel mit der Forschungsarbeit verfolgt wird: Möchte man primär einen
Beitrag zur Theoriebildung oder primär einen Beitrag für die Praxis leisten? In Abhängigkeit
von Ausgangspunkt und Zielsetzung der Forschungsarbeit sind unterschiedliche Forschungs-
zugänge und -designs geeignet.
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• Geht es darum, vorhandene theoretische Ansätze z. B. auf eine neue Frage zu beziehen oder
unter einem neuen Aspekt zu betrachten, um daraus eine eigene Theorie oder ein eigenes
Modell bzw. Konzept zu entwickeln, so handelt es sich um Typ 1 (theoretische Forschung,
vgl. Kapitel 3.2). Dieser Typ findet ebenfalls in historischen Forschungsarbeiten Verwen-
dung, in denen es darum geht, vorhandene Texte und Dokumente unter bestimmten Fra-
gestellungen zu analysieren, um daraus neue Erkenntnisse über bestimmte Bereiche des
Fremdsprachenlehrens und -lernens zu gewinnen (vgl. Kapitel 3.1).
• Soll die Gültigkeit, Eignung oder Wirksamkeit vorliegender oder (weiter-) entwickelter
Theorien, Modelle bzw. Konzepte an der Praxis überprüft werden, so gilt Typ 2. Ausgangs-
punkt der empirischen Untersuchung ist bzw. sind die aus den theoretischen Überlegungen
abgeleitete (Hypo-)Thesen, die z. B. in Form eines Experimentes mit Interventions- und
Kontrollgruppen überprüft werden können (vgl. Kapitel 3.3).
• Besteht das Ziel jedoch darin, theoretische Ansätze für die Weiterentwicklung der Praxis
nutzbar zu machen, so handelt es sich um Typ 3. Denn hier erfolgt die Übernahme vor-
liegender Theorien, Modelle und Konzepte bzw. ihre (Weiter-) Entwicklung mit dem Ziel,
daraus Anwendungsmöglichkeiten für die Praxis zu generieren, z. B. in Form von Unter-
richtsvorschlägen, Aufgaben oder Lernhilfen. In der Regel wird die Eignung dieser Vor-
schläge anschließend in der Praxis überprüft, meist in Form von Fallstudien. Anhand dieser
Ergebnisse können abschließend die entwickelten Anwendungsmöglichkeiten überarbeitet
werden und/oder die Ergebnisse für die Weiterentwicklung der Theorie genutzt werden
(Prototypen: Entwicklungs- und Evaluationsforschung, vgl. Kapitel 3.3).
• Von der Praxis aus gehen die Typen 4 und 5. Das Ziel von Typ 4 besteht in der Entwick-
lung einer Theorie auf der Grundlage der in einer empirischen Untersuchung der Praxis
gewonnenen Daten. Die Erhebung erfolgt zunächst datengeleitet, d. h. ohne vorgängige
theoretische Kategorien (Prototyp: Grounded Theory, vgl. Kapitel 5.3.3).
• Besteht das Ziel der Forschung in der systematischen und überprüfbaren Veränderung kon-
kreter Praxissituationen, so eignet sich Typ 5. Ausgehend von der Analyse dieser Praxis

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Ausgangs- Ziel Forschungsschritte/Forschungsverfahren Bedeutung der Beispiel


punkt Praxis

Typ 1 Theorie(n) Theoriebildung hermeneutische Verfahren Objektbereich theoretische For-


der Theorie- schung, histori-
bildung sche Forschung
Typ 2 Theorie(n) Überprüfung 1. Entwicklung 2. theoriege- 3. ggf. Weiter- Untersuchungs- Experiment
der Theorie an von Modell, leitete Anwen- entwicklung des gegenstand,
der Praxis These, Hy- dung empiri- Modells bzw. i. d. R. im Labor
pothese scher Verfahren der Theorie
(deduktives
Vorgehen)
Typ 3 Theorie(n) Nutzbarmachen 1. Entwicklung 2. theoriegelei- 3. ggf. empiri- 4. ggf. Weiter- Ziel der For- Entwicklungs-
6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis

von Theorie für von Theorie, tete Entwick- sche Erprobung entwicklung schungsbemü- forschung
die Praxis Modell, Kon- lung praktischer in der Praxis der Theorie auf hungen Evaluations-
zept Realisierungs- der Basis der forschung
möglichkeiten empirischen
(deduktives Ergebnisse
Vorgehen)
Typ 4 Praxis Theoriebildung 1. datengelei- 2. Theorie der 3. ggf. Weiter- Untersuchungs- Grounded Theory
tete empirische beobachteten entwicklung der gegenstand,
Untersuchung Praxis (indukti- Theorie durch im Feld
der Praxis ves Vorgehen) erneute Be-
obachtung der
Praxis

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Typ 5 Praxis Veränderung 1. Analyse der 2. theo- 3. Überprüfung 4. theoriege- Ausgangspunkt Aktionsforschung
der Praxis Praxis riegeleitete ihrer Wirksam- leitete Weiter- und Ziel der
Entwicklung keit entwicklung Forschungs-
von Handlungs- der Handlungs- bemühungen
alternativen alternativen,
367

ggf. erneute
Überprüfung
Tabelle 1: Theorie-Praxis-Bezüge in der fremdsprachendidaktischen Forschung
368 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

werden theoriegeleitet Lösungen bzw. alternative Handlungsmöglichkeiten erarbeitet und


systematisch erprobt. Nach der Überprüfung ihrer Wirksamkeit werden sie weiterent-
wickelt und ggf. erneut eingesetzt (Prototyp: Aktionsforschung, vgl. Kapitel 4.2).
Diese grobe Einteilung soll dabei helfen, den passenden Grundtyp für das eigene Forschungs-
projekt zu finden, der dann in einem Design konkretisiert werden muss (vgl. Kapitel 6.4).
Die vorstehende Einteilung verfolgt somit nicht das Ziel, eine umfassende und trennscharfe
Systematik der möglichen Theorie-Praxis-Bezüge zu leisten. Deutlich wird dabei jedoch, dass
es sich in den einzelnen Typen durchaus um unterschiedliche Formen von Theorie und Praxis
handelt. So kann die Praxis entweder Untersuchungsgegenstand, Ziel der Forschung oder
Objektbereich der Theoriebildung sein. Auch der empirische Zugang erfolgt ja nach Typ auf
unterschiedliche Weise: induktiv oder deduktiv, theorie- oder datengeleitet.

6.2.3 Weitere Dimensionen


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Um sich über diese Grundtypen hinaus der eigenen Verortungen und Ziele noch bewuss-
ter zu werden und die eigenen Stärken gezielt zu nutzen, kann es sinnvoll sein, über die
grundsätzliche Anlage eines Designs hinaus weitere Entscheidungsdimensionen und Phasen
des Forschungsprozesses unter Theorie-Praxis-Bezügen zu betrachten (vgl. auch Caspari
2011).
Dazu gehört zunächst die Person des/der Forscher/in: Auf welche Ausbildung, Berufs-
erfahrung sowie welchen fachlichen bzw. fachwissenschaftlichen Hintergrund rekurrieren
er bzw. sie für die Forschungsarbeit? Über welche fachlichen und forschungsmethodischen
Kompetenzen verfügt er/sie bereits und welche ist er/sie bereit zu erwerben? Welchem Hand-
lungsfeld fühlt er/sie sich primär zugehörig?
Auch Forschungsgegenstand und Forschungsfrage können in Hinblick auf Theorie-Praxis-
Bezüge betrachtet werden: Aus welchem Kontext stammen Thema und Forschungsfrage? Wie
sind sie entstanden? Handelt es sich um theoretische Fragen oder sind eigene oder fremde
Praxisprobleme der Ausgangspunkt?
Besonders wichtig ist es, die Ziele und Absichten des Forschungsprojektes in Hinblick auf
Theorie-Praxis-Bezüge zu durchdenken: Welche Ziele und Absichten werden mit der For-
schungsarbeit primär verfolgt: Soll sie eher die Praxis verändern oder die Theorie weiter ent-
wickeln oder beides? Welche weiteren Ziele und Absichten sind dem/der Forscher/in mögli-
cherweise ebenfalls wichtig? Was soll mit den Ergebnissen geschehen? Diese Fragen betreffen
ebenfalls die avisierte Zielgruppe: Für wen sind das Thema, die Forschungsfrage und die
Ergebnisse (möglicherweise) relevant? Dies hat u. a. Auswirkungen darauf, wo und in welcher
Form die Ergebnisse veröffentlicht werden und in welcher Sprache bzw. in welchem Duktus
die Arbeit verfasst wird. Hierbei sind ggf. auch weitere ‚Verwertungszusammenhänge‘ z. B.
in Form von Handreichungen oder Fortbildungen zu bedenken.

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6.2 Wechselspiele zwischen Theorie und Praxis 369

6.2.4 Konsequenzen

Für die Präzisierung des eigenen Anliegens und für die eigene Positionierung ist es wichtig,
sich vor und während der Forschungsarbeit die oben aufgeführten Fragen zu stellen und
sie z. B. im Forschungstagebuch (vgl. Kapitel 6.1) für sich zu beantworten. Darüber hinaus
regen die Fragen dazu an, die eigenen Vorannahmen und die eigene Rolle als Forscher/in zu
reflektieren und die persönliche Entwicklung im Forschungsprozess wahrzunehmen. Auch
wenn eine entsprechende Darlegung bislang nur in qualitativen Forschungsdesigns gefordert
wird, so ist zwecks eigener Bewusstwerdung und zur Erhöhung der Transparenz sicher auch
für Forschungsarbeiten in anderen Traditionen sinnvoll, diese Aspekte zu reflektieren. In den
in Abschnitt 2 unterschiedenen Typen fremdsprachendidaktischer Arbeiten schlägt sich dann
die ‚grobe Richtung‘ des geplanten Forschungsprojektes nieder. Darüber hinaus unterscheiden
sie die großen Etappen des Forschungsprozesses und können daher eine Hilfestellung bei der
Planung des Projektes sein (vgl. auch Kapitel 6.5). Nicht zuletzt können sie dabei helfen, den
Aufbau der schriftlichen Fassung der Arbeit zu planen und zu überlegen, welche Aspekte
möglicherweise besser in einer externen Publikation oder einer anderen Form der Anschluss-
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kommunikation aufgehoben sind.


Diese Überlegungen zeigen, dass die eingangs gestellte Frage nach einer ‚theoretischen‘
oder ‚praktischen‘ Arbeit tatsächlich zu kurz greift. Jede fremdsprachendidaktische For-
schungsarbeit hat es mit Theorie(n) und mit Praxis zu tun. Immer geht es darum, vergangene
oder gegenwärtige Praxis genauer zu verstehen, und, sei es auf einer Metaebene, sie zu
beschreiben oder zu erklären. Dazu ist theoretische Reflexion nötig, die enger oder breiter
erfolgt. Nicht immer will oder kann man durch die Forschung zukünftige Praxis direkt beein-
flussen und verändern. Das Ergebnis einer Forschungsarbeit sollte jedoch stets einen Erkennt-
nisgewinn für die Theorie (und ggf. für die Praxis) liefern.

›› Literatur

Breidbach, Stephan (2007). Bildung, Kultur, Wissenschaft. Reflexive Didaktik für den bilingualen Sach-
fachunterricht. Münster: Waxmann.
Caspari, Daniela (2011). Zum Verhältnis von „Theorie“ und „Praxis“ im Forschungsfeld „Lehren und
Lernen von Fremdsprachen“. In: Bausch, Karl-Richard/Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank G./
Krumm, Hans-Jürgen (Hg.). Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen: Forschungs-
ethik, Forschungsmethodik und Politik. Arbeitspapiere der 31. Frühjahrskonferenz zur Erforschung
des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 42–51.
Kron, Friedrich W. (1999). Wissenschaftstheorie für Pädagogen. Tübingen: E. Reinhardt. [= UTB]

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370 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand

Michael K. Legutke

Ein unabdingbarer Baustein jeder fremdsprachendidaktischen Forschungsarbeit ist der Li-


teraturüberblick, der als eine eigene Textsorte bezeichnet werden kann. Er erscheint in der
Regel in zwei Formen mit teils unterschiedlichen Funktionen in der Forschungsarbeit. Zum
einen bezieht er sich in einer inhaltlichen Orientierung auf den Forschungsgegenstand (Li-
teraturüberblick 1), zum anderen auf das Design und forschungsmethodologische Aspekte der
Studie (Literaturüberblick 2). Beide Formen sollen im Folgenden unter drei Fragestellungen
erörtert werden. (1) Welche Ziele verfolgt der Literaturüberblick bzw. welche Funktionen
lassen sich für ihn benennen? (2) Wie ist er zu erstellen und zu schreiben? (3) Wann sollte er
verfasst werden?
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6.3.1 Was? Merkmale und Funktionen Literaturüberblick

Jegliche Forschungsarbeit muss auf bekanntem Wissen aufbauen und bestrebt sein, dieses
zu erweitern. Der Literaturüberblick 1 ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil er dem
Forschungsvorhaben Legitimität und Glaubwürdigkeit bei den Lesern, der Gemeinschaft
der Forschenden und nicht zuletzt innerhalb größerer gesellschaftlicher Zusammenhänge
verleiht. Er macht nämlich deutlich, dass es sich hier um originäre Forschung handelt und
nicht um die Reproduktion vorhandenen Wissens. Damit dieses übergeordnete Ziel erreicht
werden kann, muss er so verfasst sein, dass er vier Funktionen erfüllt. Diese sollen hier in
idealtypischer Abfolge nachgezeichnet werden.
Positionierung im Forschungsfeld: Der Forschende muss nicht nur deutlich machen, in
welchem Forschungsfeld sein Projekt angesiedelt ist (s. Kapitel 2), sondern auch darlegen,
wie es sich zu den dort formulierten Positionen und bereits vorhandenen Forschungsergeb-
nissen verhält, d. h. er muss die Forschungsfrage in ihrem Verhältnis zum Forschungsstand
erörtern, indem er beispielsweise Positionen und Gegenpositionen entfaltet und sich von
folgenden Fragen leiten lässt: Welche Ergebnisse liegen bisher vor? Welches sind mögliche
Anknüpfungspunkte für das eigene Projekt? Welche Traditionslinien lassen sich nachzeichnen
und können aufgenommen werden? Welche Schwerpunkte der Argumentation lassen sich
hervorheben? Dabei kann es sinnvoll sein, nach empirisch gewonnenen Forschungsergebnis-
sen und theoretischen Positionen zu unterscheiden. Da es angesichts der Faktorenkomplexion
fremdsprachendidaktischer Forschung (und abhängig von der Forschungsfrage) notwendig
sein wird, Positionen und Erkenntnisse affiner Disziplinen im Literaturüberblick zu berück-
sichtigen, stellt sich immer auch die Frage der Abgrenzung und Beschränkung: eine besondere
Herausforderung, auf die noch einzugehen sein wird.
Theoretische Fundierung: Eine weitere Funktion des Literaturüberblicks ist die kritische
Auseinandersetzung mit den zentralen theoretischen Konzepten, die der Forschungsfrage zu-
grunde liegen. Auch diese müssen im Zusammenhang vorhandener Arbeiten dargestellt, mög-
licherweise gegeneinander abgeglichen und für das eigene Projekt genau bestimmt werden.

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6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand 371

Herausarbeiten von Forschungslücken: Während die beiden ersten Funktionen darauf


zielen, deutlich zu machen, was andere geforscht und zu sagen haben, geht es nachfolgend
darum, Forschungslücken zu benennen, die beim Studium der Literatur deutlich wurden. Ziel
ist es, den Raum zu skizzieren, in dem die eigene Forschung angesiedelt werden soll.
Besetzung einer Forschungslücke: Sind die Desiderata herausgearbeitet, gilt es schließlich,
eine oder mehrere der Lücken zu ‚besetzen‘, indem hervorgehoben und begründet wird,
warum es notwendig und sinnvoll ist, diese zu bearbeiten. Die Relevanz der eigenen Studie
tritt damit deutlich in Erscheinung.
Während der Literaturüberblick 1 den Forschungsgegenstand, zugrunde liegende Konzepte
und vorhandene bzw. fehlende Forschungsergebnisse fokussiert, ist der Literaturüberblick 2
auf das Design der Studie und die gewählten Forschungsverfahren, nämlich die Gewinnung
von Dokumenten, Texten und/oder Daten sowie deren Aufarbeitung und Analyse bezogen.
Auch wenn der Literaturüberblick 1 und der Literaturüberblick 2 eng zusammenhängen, was
sich in der Darstellung auch spiegeln wird (s. u.), werden sie in der Regel in unterschiedlichen
Kapiteln der Forschungsarbeit erscheinen. Der Literaturüberblick 2 muss folgenden zwei
Zielen dienen:
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Begründung des Designs: Er muss zum einen transparent machen, warum das gewählte
Design für die Bearbeitung der spezifischen Forschungsfrage als angemessener Weg gelten
kann und auf welche Quellen sich diese Überzeugung stützt. Quellen sind u. a. forschungs-
methodologische Erörterungen und vergleichbare Studien.
Beschreibung und Begründung der Forschungswerkzeuge: Um zu verdeutlichen, weshalb
die gewählten Forschungswerkzeuge als gegenstandsangemessen gelten können, sind diese
nicht nur zu beschreiben, sondern auch in ihren Grenzen und Möglichkeiten zu erörtern. Auch
hier muss transparent werden, welche Quellen die Einschätzung stützen. Dokumentierte For-
schungsvorhaben können inspirierend gewirkt haben, indem sie das Potenzial bestimmter
Werkzeuge belegen oder erkennbar machen, welche Herausforderungen mit ihrem Einsatz
verbunden sind.
Auch wenn Literaturüberblick 1 und Literaturüberblick 2 in der Regel in separaten Ka-
piteln erscheinen, sind vor allem bei qualitativen Arbeiten auch andere Lösungen denkbar.
So können es der Verlauf des Erkenntnisgewinns und der Argumentation durchaus vertretbar
machen, dass die Auseinandersetzung mit der Literatur an verschiedenen Stellen in die Arbeit
einfließt.
Auf ein Missverständnis, den Literaturüberblick 2 betreffend, sei hier noch abschließend
hingewiesen: Auch wenn empirische Forschungsarbeiten, die dem qualitativen Paradigma
verpflichtet sind, in den Fremdsprachendidaktiken spätestens seit der Jahrtausendwende nicht
mehr grundsätzlich in Frage gestellt werden (vgl. Müller-Hartmann/Schocker-v. Ditfurth
2001), fühlen sich Novizen vor allem bei der Verfassung von Qualifikationsarbeiten immer
noch genötigt, im Zusammenhang des Literaturüberblicks 2 allgemeine Begründungen des
Forschungsparadigmas und grundsätzliche Überlegungen zu Gütekriterien qualitativer For-
schung zu erörtern. Solche Grundsatzüberlegungen sind nicht erforderlich. Der Literatur-
überblick 2 fokussiert ausschließlich das Projekt, sein Design und seine Forschungswerk-
zeuge. Selbstverständlich muss dargelegt werden, dass die eigene Arbeit den Gütekriterien
fachdidaktischer Forschung genügt.

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372 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

6.3.2 Wie? Schritte und Verfahren

Die Abfassung des Literaturüberblicks setzt umfangreiche und systematische Rechercheakti-


vitäten voraus. Lesen, lesen und nochmals lesen, lautet die Devise. Der Fokus der Recherche
sollte so angelegt sein, dass das empirische und theoretische Umfeld der Forschungsfrage
weiträumig gesichtet und eingeschätzt werden kann. Dabei sollten nicht nur die letzten
5–10 Jahre einbezogen, sondern durchaus auch frühere Perioden der Fremdsprachendidaktik
sowie Forschungen im Feld anderer Fremdsprachen berücksichtigt werden. Diese weite An-
lage der Recherche impliziert allerdings nicht, dass die Lektürebefunde alle in den Literatur-
überblick eingehen werden. Vielmehr sind Verdichtungen und Synthesen gefordert. Eine zu
frühe Begrenzung der Suche birgt andererseits die Gefahr, dass die im Forschungsfeld vor-
handenen Schätze verborgen bleiben. Einzelne Schritte auf dem Weg zum Literaturüberblick
sollen nun kurz angesprochen werden.
Bereits die Erstellung des Exposés und die vorläufige Formulierung einer Forschungsfrage
(s. Kapitel 6.1) war mit einer Literaturrecherche verbunden. Diese gilt es nun gezielt aus-
zuweiten und in einer annotierten Bibliographie zu dokumentieren, die alphabetisch nach
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Autoren geordnet ist. Letztere enthält nicht nur die genauen bibliographischen Angaben,
sondern eine kurze Zusammenfassung des Beitrags/der Studie sowie erste, stichwortartige
Einschätzungen/Vermutungen, ob und wenn ja in welcher Weise der Text für das eigene Pro-
jekt relevant ist. Der Einstieg in die systematische und vertiefende Recherchearbeit erfolgt
am besten über folgende Quellen:2
• Einschlägige Fachlexika: z. B. Byram/Hu 2013; Palacio Martínez, Ignacio M./Alonso
Alonso, María Rosa/Cal Varela, Mario/López Rúa, Paula/Varela Pérez, José Ramón 2007,
Surkamp 2010.
• Einschlägige Handbücher: Burwitz-Melzer/Mehlhorn/Riemer/Bausch/Krumm 2016; Co-
hen/Manion/Morrison 2011; Friebertshäuser/Langer/Prengel 2010, Hallet/Königs 2010;
Hinkel 2005, 2011; Krumm et al. 2011; Long/Doughty 2009.
• Forschungsüberblicke: Arbeitspapiere der Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremd-
sprachenunterrichts (Übersicht in: Burwitz-Melzer/Königs/Riemer 2015: 241–247), State-
of-the-Art Articles und Research Timelines in: Language Teaching.
• Einschlägige Überblicksdarstellungen: z. B. Dörnyei 2007.
• Einschlägige Fachzeitschriften: Applied Linguistics, Language Teaching, Fremdsprachen
lehren und lernen, The Modern Language Journal, Zeitschrift für Fremdsprachenforschung.
• Nationale und internationale Datenbanken: Fachportal Pädagogik, Informationszentrum
für Fremdsprachenforschung der Universität Marburg (IFS).
Für die Organisation und Verwaltung der Literatur und der annotierten Bibliographie bietet
sich die Verwendung einer elektronischen Hilfe an.3 Aus der annotierten Bibliographie wird
später ein wesentlicher Teil des Literaturverzeichnisses für die Publikation der Forschungs-
arbeit gewonnen.

2 Die folgenden Angaben sind als Beispiele zu verstehen.


3 Wiederum nur als Beispiele seien genannt: LitRat, Citavi, EndNote. Informationen finden sich im Internet
zu den genannten Programmen und in den zahlreichen Doktorandenforen (z. B. doktorandenforum.de).

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6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand 373

Parallel zur Recherche müssen die Systematisierung und eine differenziertere Bewertung
der Literatur im Hinblick auf das Forschungsfeld und den konkreten Forschungsgegenstand
erfolgen. Hier helfen Mind-Maps, Flussdiagramme oder Hierarchisierungen. Wie schon oben
angedeutet, empfiehlt es sich nach inhaltlichen und methodischen Gesichtspunkten zu un-
terscheiden, wenn Zusammenhänge hergestellt und Verknüpfungen zum eigenen Projekt
vorgenommen werden.4
Die annotierte Bibliographie und die visualisierten Darstellungen von Zusammenhängen
sind Bausteine des Literaturüberblicks, aber nicht mit ihm gleichzusetzen. Nunan und Bailey
(2009) verdeutlichen den Unterschied mit dem anschaulichen Bild einer Flickendecke (quilt):
The difference between an annotated bibliography and a literature review is that the former consists
of separate entries arranged alphabetically by author, while the literature review is thematically
organized: It extracts, records, and synthesizes the main points, issues, findings, and research me-
thods of previous studies. We like to use the analogy of a quilt to explain the relationship. The
annotations are like bits of cloth, the raw materials, assembled and organized before you start
quilting. An effective literature review, in contrast, is more like a well-designed and carefully exe-
cuted quilt. It is a unified whole. (Nunan/Bailey 2009: 35)
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Entsprechend den o. g. Funktionen empfiehlt es sich, die rhetorische Struktur des Literatur-
überblicks in drei großen Argumentationsblöcken zu entfalten. Im ersten Block geht es um
die Markierung eines Themenfeldes (die Bedeutung des Themas in der fremdsprachendidakti-
schen Forschung hervorheben, Hintergrundinformationen liefern, Definitionen von Begriffen
vornehmen, einen Überblick über vorhandenes Wissen und bisherige Forschungen liefern).
Der zweite Block fokussiert Forschungslücken (formulieren, was nicht gesehen, berücksich-
tigt, erörtert wurde, was bisher fehlt, Fragen formulieren und Probleme benennen, zeigen
welche Traditionen aufgenommen oder fortgesetzt werden müssen). Der dritte Block schließ-
lich liefert die Argumente dafür, wie die geplante Forschungsarbeit die Lücke besetzen wird
und leitet damit über zur detaillierten Ankündigung des eigenen Projekts (eine Gegenposition
zur Forschungslage beziehen, sich abgrenzen, die eigene Position verdeutlichen). Hier könnte
auch der Ort sein, an dem methodische Fragen bereits angesprochen werden (Literaturüber-
blick 2). In der Regel findet der Literaturüberblick 2 jedoch dort seinen Platz, wo das Design
und die Forschungsverfahren erörtert werden.5
Um sich mit der rhetorischen Struktur des Literaturüberblicks und seinem Aufbau ver-
traut zu machen, lohnt es sich für Forschende, unterschiedliche Textbeispiele, etwa in den
Referenzarbeiten, zu rezipieren. Beispiele zur Anlage des Literaturüberblicks finden sich auch
bei Bitchener (2010) und O’Leary (2014). Für das Abfassen des Literaturüberblicks zitieren
Nunan und Bailey (2009) mit Bezug auf Wiersma (2008) acht Merkpunkte, die eine gute
Orientierung bieten können. Sie sollen deshalb auch diesen Abschnitt abschließen:

4 Beispiele für Verfahren der Systematisierung der Ergebnisse der Literaturrecherche finden sich u. a. in:
Bitchener (2010: 59–67) und O’Leary (2014: 85–104). Anregungen zur Textzusammenstellung liefert
auch das Kapitel 5.2.2.
5 Die rhetorische Struktur des Literaturüberblicks ist von der anglo-amerikanischen Forschung zum akade-
mischen Schreiben mit Bezug auf das CARS-Modell (Creating a Research Space) differenziert untersucht
worden, siehe z. B. Swales 1990, Kwan 2006. Dort werden auch Beispiele für Argumentationsverläufe
gegeben.

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374 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

1. Select studies that relate most directly to the problem at hand.


2. Tie together the results of the studies so that their relevance is clear. Do not simply provide
a compendium of seemingly unrelated references in paragraph form.
3. When conflicting findings are reported across studies – and this is quite common in educa-
tional research – carefully examine the variations in the findings and possible explanations
for them. Ignoring variation and simply averaging effects loses information and fails to
recognize the complexity of the problem.
4. Make the case that the research area reviewed is incomplete or requires extension. This
establishes the need for research in this area. (Note: This does not make the case that the
proposed research is going to meet the need or is of significance.)
5. Although the information from the literature must be properly referenced, do not make
the review a series of quotations.
6. The review should be organized according to major points relevant to the problem. Do not
force the review into a chronological organization, for example, which may confuse the
relevance and continuity among the studies reviewed.
7. Give the reader some indication of the relative importance of the results from studies re-
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viewed. Some results have more bearing on the problem than others and this should be
indicated.
8. Provide closure for the section. Do not terminate with comments from the final study re-
viewed. Provide a summary and pull together the most important results. (Nunan/Bailey
2009: 35–36).

6.3.3 Wann? Entwurf und Revision

Bei der Beratung von Qualifikationsarbeiten taucht immer wieder die Frage auf, wann der
Literaturüberblick am besten zu verfassen sei. Auch wenn die generelle Antwort lautet, dass
es sich um einen fortlaufenden Prozess handelt, der nicht zuletzt vom Verlauf der Arbeit
abhängt, ist es dennoch sinnvoll, nach Forschungsverfahren zu unterscheiden, die eher linear
vorgehen (hypothesenprüfende Vorgehensweise) und solchen, die eher zyklisch vorgehen
(hermeneutische, historische oder empirisch-interpretative Vorgehensweise). Da erstere Ver-
fahren theoretisch präzise bestimmte Konstrukte und klar definierte Schrittabfolgen für Sam-
plingentscheidungen sowie angestrebte Messungen voraussetzen, ist es durchaus möglich
und sinnvoll, bereits vor der Datenerhebung und Auswertung den Literaturüberblick (1 und
2) zu verfassen. Dieser bedarf dann immer noch einer abschließenden Revision, hat jedoch
weitgehend schon seine Endgestalt gefunden.
Deutlich anders verhält es sich mit der zweiten Gruppe von Vorgehensweisen. Diese brin-
gen in der Regel eine wiederholte Beschäftigung mit Daten, Texten und Dokumenten mit
sich, die nicht selten zur Modifikation der Forschungsfrage und zur Befassung mit neuen
Theorien führt. Zunächst nicht geplante Recherchen und Lektüreprozesse werden ausgelöst
und verändern so den Literaturüberblick. Auch im zweiten Fall ist trotzdem anzuraten, vor
der Befassung mit Daten, Texten und Dokumenten den schriftlichen Entwurf des Literatur-
überblicks (1 und 2) zu versuchen, wohl wissend, dass je nach dem Verlauf des Forschungs-

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6.3 Literaturüberblick und Forschungsstand 375

prozesses Modifikationen (Kürzungen, Erweiterungen, Neugewichtungen) unerlässlich sein


werden.
Die kritische Frage, der sich alle Forschenden unabhängig von ihrer Vorgehensweise stellen
müssen, ist die nach der Funktionalität der referierten und erörterten Arbeiten für das eigene
Projekt: Sind die hier behandelten Wissensbestände (Theorien, Forschungsergebnisse, Ver-
fahren) wirklich erforderlich, damit das Besondere, das Innovative des eigenen Projekts einge-
ordnet und nachvollzogen werden kann? Ein Teil der Überlegungen wird, wie oben schon
angedeutet, auch der Frage gelten, ob die im Zusammenhang der Recherche erfolgten Aus-
flüge in affine Disziplinen und Forschungsfelder, die ohne Frage die Perspektive erweiterten,
für die Arbeit selbst noch funktional sind und deshalb bei der Darstellung auch berücksichtigt
werden müssten. Oftmals ist diese Entscheidung erst auf der Basis einer Gesamtschau der
Ergebnisse möglich. Diese zentralen Fragen werden auch den letzten Revisionsvorgang des
Literaturüberblicks leiten, bevor die Arbeit eingereicht oder publiziert wird. Dabei kann sich
zeigen, dass es sehr sinnvoll ist, Kürzungen vorzunehmen. Im Verlauf dieser letzten Revision
empfiehlt es sich, dafür Sorge zu tragen, dass der Literaturüberblick mit den anderen Teilen
der Forschungsarbeit wirklich vernetzt ist (z. B. bei der Erörterung der Ergebnisse oder der
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Zusammenfassung der Erträge), damit der ‚rote Faden‘ der Argumentation klar in Erschei-
nung tritt.

›› Literatur

Bitchener, John (2010). Writing an Applied Linguistics Thesis or Dissertation. A Guide to Presenting
Empirical Research. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank/Riemer, Claudia (Hg.) (2015). Lernen an allen Orten. Die Rolle der
Lernorte beim Lehren und Lernen von Fremdsprachen. Tübingen: Narr.
Burwitz-Melzer, Eva/Mehlhorn, Grit/Riemer, Claudia/Bausch, Karl-Richard/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.)
(2016). Handbuch Fremdsprachenunterricht. 6. Auflage. Tübingen: Francke.
Byram, Michael/Hu, Adelheid (Hg.) (2013). Routledge Encyclopedia of Language Teaching and Lear-
ning. 2. Auflage. London: Routledge.
Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2011). Research Methods in Education. 7. Auflage.
London: Routledge.
Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Quantitative, Qualitative and Mixed
Methodologies. Oxford: Oxford University Press.
Friebertshäuser, Barbara/Langer, Antje/Prengel, Annedore (Hg.) (2010). Handbuch Qualitative For-
schungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 3. Auflage. Weinheim: Juventa.
Hallet, Wolfgang/Königs, Frank (Hg.) (2010). Handbuch Fremdsprachendidaktik. Seelze-Velber: Klett
Kallmeyer.
Hinkel, Eli (Hg.) (2005). Handbook of Research in Second Language Teaching and Learning. Volume I.
London: Lawrence Erlbaum.
Hinkel, Eli (Hg.) (2011). Handbook of Research in Second Language Teaching and Learning. Volume II.
London: Routledge.
Krumm, Hans-Jürgen et al. (Hg.) (2011). Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein Internationales
Handbuch. Berlin: De Gruyter.
Kwan, Becky (2006). The schematic structure of literature reviews in doctoral theses of Applied Lin-
guistics. English for Specific Purposes 25, 30–55.

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376 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Long, Michael/Doughty, Catherine (Hg.) (2009). The Handbook of Language Teaching. Chichester, U. K.:
Wiley-Blackwell.
Müller-Hartmann, Andreas/Schocker-v. Ditfurth, Marita (Hg.) (2001). Qualitative Forschung im Bereich
Fremdsprachen lehren und lernen. Tübingen: Narr.
Nunan, David/Bailey, Kathleen (2009). Exploring Second Language Classroom Research. A Comprehen-
sive Guide. Boston: Heinle Cengage Learning.
O’Leary, Zina (2014). Doing Your Research Project. 2. Auflage. Los Angeles: SAGE.
Palacio Martínez, Ignacio M./Alonso Alonso, María Rosa/Cal Varela, Mario/López Rúa, Paula/Varela
Pérez, José Ramón (2007). Diccionario de enseňanza y aprendizaje de languas. Madrid: En-Clave-
ELE.
Wiersma, William. (2008). Research Methods in Education. An Introduction. 9. Auflage. Boston: Pear-
son.
Surkamp, Carola (Hg.) (2010). Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. Ansätze. Methoden. Grund-
begriffe. Stuttgart: Metzler.
Swales, John (1990). Genre Analysis: English in Academic Research Settings. Cambridge: Cambridge
University Press.
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6.4 Gestaltung des Designs

Karen Schramm

Eine besonders kreative Phase des Forschungsprozesses betrifft die Gestaltung des Designs
der Gesamtuntersuchung. Voraussetzung für diesbezügliche Überlegungen ist eine klar for-
mulierte, in umfassender Lektüre zum Forschungsstand präzisierte und theoretisch verortete
Forschungsfrage. Erst auf dieser Grundlage kann die Gestaltung beginnen, die selbstver-
ständlich auch bei historischen und theoretischen Studien von großer Bedeutung ist, um
komplexe Fragestellungen systematisch untersuchen zu können. Die Verwendung des Begriffs
Design ist jedoch auf empirische Arbeiten bezogen und die Gestaltung solcher Designs soll
in diesem Kapitel genauer beleuchtet werden.
Wie auch bei der Konzeption von historischen und theoretischen Arbeiten stellt es dabei
eine besondere Herausforderung dar, die passende Balance zu finden zwischen der Ambition,
forscherische Höchstleistungen zu erbringen und neue Erkenntnisse über möglichst umfas-
sende Zusammenhänge zu erarbeiten einerseits, und der Begrenztheit zeitlicher und anderer
Ressourcen, die für das Forschungsprojekt zur Verfügung stehen, andererseits. Die Gestaltung
des Designs ist daher neben dem gedanklichen Spiel mit den verschiedenen Möglichkeiten
auch ein Prozess, der eine weitsichtige Abschätzung des Arbeitsaufwands und eine kühle
Reduktion unrealistischer, weil überfrachteter Arbeitsvorhaben erfordert:
The setting up of the research is a balancing act, for it requires the harmonizing of planned possi-
bilities with workable, coherent practice, i.e. the resolution of the difference between what could
be done/what one would like to do and what will actually work/what one can actually do, for, at
the end of the day, research has to work. (Cohen/Marion/Morrison 2007: 78; Hervorhebungen im
Original)

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6.4 Gestaltung des Designs 377

6.4.1  on der Forschungsfrage zum vorläufigen


V
Design-Entwurf

Mit der zumindest vorläufigen Bestimmung der Forschungsfrage hat der bzw. die Forscher_in
für sich geklärt, welche Untersuchungsgegenstände oder theoretischen Konstrukte fokussiert
werden sollen. Auf dieser Grundlage kann er oder sie für die Design-Gestaltung erste Über-
legungen dahingehend anstellen, welche gegenstandsadäquaten, aussagekräftigen Daten
dazu erfasst oder erhoben werden können. Zu dieser Frage sollte man sich einführend in
einschlägigen Forschungshandbüchern informieren, um die theoretischen Hintergründe der
gewählten Verfahren und mögliche Alternativen kennen zu lernen.
Der weitere Weg der Design-Gestaltung fällt je nach Forschungsparadigma sehr unter-
schiedlich aus. Wie Abbildung 1 aus Lamnek (2010: 120) zeigt, gehen quantitative bzw. ana-
lytisch-nomologische Studien von Theorien und Hypothesen aus (vgl. Kapitel 3.3). Die theo-
retischen Begriffe, die mit der Hypothese fokussiert werden, sind bei solchen Studien mithilfe
von Indikatoren zu operationalisieren. Den Begriff der Operationalisierung definiert Flick
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(2014: 311) als „Maßnahme zur empirischen Erfassung von Merkmalsauspägungen. Dabei
werden ein Datenerhebungsverfahren und Messoperationen festgelegt.“ Cohen/Manion/
Morrison (2007: 81) beschreiben diesen Prozess auch als Übersetzen oder Herunterbrechen
allgemeiner Ziele in immer konkretere Elemente:
The process of operationalization is critical for effective research. Operationalization means speci-
fying a set of operations or behaviours that can be measured, addressed or manipulated. What is
required here is translating a very general research aim or purpose into specific, concrete questions
to which specific, concrete answers can be given. The process moves from the general to the par-
ticular, from the abstract to the concrete. Thus the researcher breaks down each general research
purpose or general aim into more specific research purposes and constituent elements, continuing
the process until specific, concrete questions have been reached to which specific answers can be
provided. (Cohen/Manion/Morrison 2007: 81; Hervorhebung im Original)

Bei der Operationalisierung ist der Frage nach der Inhalts- und Konstruktvalidität besondere
Aufmerksamkeit zu schenken, d. h. danach, ob „das Messinstrument oder der Test den zu un-
tersuchenden Gegenstand erschöpfend erfasst“ (Flick 2014: 266) und „inwieweit das von einer
Methode erfasste Konstrukt mit möglichst vielen anderen Variablen in theoretisch begründ-
baren Zusammenhängen steht und hieraus Hypothesen ableitbar sind, die einer empirischen
Prüfung standhalten“ (Flick 2014: 267; s. auch Kapitel 2).
Ausgangspunkt für die Design-Gestaltung im Rahmen qualitativer Forschung bzw. des ex-
plorativ-interpretativen Paradigmas (vgl. Kapitel 3.3) sind dagegen die soziale Realität und die
daraus entwickelten Alltagsbegriffe (s. Abb. 1). Die entsprechende Design-Entwicklung beginnt
deshalb oft mit Explorationen des Feldes und einer ersten Intuition, welche Arten von Daten für
den Untersuchungszweck geeignet sein könnten. Diese ergibt sich in der Regel aus vorliegenden
Forschungsberichten zum fokussierten Themenfeld, in denen Erfahrungen mit den eingesetzten
Verfahren von anderen Forschenden thematisiert und Gesamtdesigns kritisch reflektiert wer-
den. Insofern ist zum Zeitpunkt erster Design-Gestaltungsversuche eine erneute Rezeption von
Vorgängerstudien, die in methodologisch-methodischer Hinsicht Inspiration oder zumindest
Orientierung bieten, unter eben dieser spezifischen Perspektive empfehlenswert.

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378 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen
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Abbildung 1: Stellenwert der Operationalisierung in der quantitativen und qualitativen Sozialforschung


(Lamnek 2010: 120)

An der Weitergabe solch methodologisch-methodischer Erfahrung in Forschungsbeiträgen


zeigt sich auch der genuin kooperative Charakter von Forschung: Unabhängig von Zeit und
Ort werden auf diese Weise an Kolleg_innen wertvolle Einsichten vermittelt, damit im Ge-
samtgefüge der Anstrengungen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft Fortschritt möglich
wird. Wer in diesem Geiste kooperativer Wissenschaft von transparenten Vorgängerstudien
für die eigene Empirie profitiert hat, wird später bei der Präsentation der eigenen Unter-
suchungsergebnisse (s. Kapitel 6.6) auch nicht versucht sein, forschungsmethodische Pro-
bleme zu verbergen, sondern diesbezüglich vielmehr gewinnbringende Reflexionen anstellen,
weil er oder sie Zweck und Relevanz selbstkritischer Forschungsmethodenreflexion bei der
eigenen Orientierung bereits gewinnbringend erlebt hat.
Wenig erfolgversprechend ist es dagegen, wenn die ersten Überlegungen zur Datengewin-
nung ohne ein gewisses Informationsniveau ex negativo erfolgen, beispielsweise weil man
gehört hat, dass Transkribieren aufwändig sei, oder weil man glaubt, dass statistische Rechen-
verfahren schwierig seien. Das jeweilige Handwerkszeug ist durchaus erlernbar, wobei es
natürlich vorteilhaft ist, wenn die Betreuungsperson und die Peers diese Kompetenzen bereits
beherrschen und Noviz_innen bei der selbständigen Aneignung solcher Forschungsverfahren
unterstützen.
Haben Forscher_innen Typen von Daten identifiziert, die sich zur Beantwortung ihrer For-
schungsfrage eignen, stellen sich u. a. Fragen nach der Korpusgröße und der Datentriangulati-

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6.4 Gestaltung des Designs 379

on. Welche Personen, Zeitpunkte und Orte sind für die Datengewinnung besonders geeignet?
Hier kommen Fragen des Sampling (s. Kapitel 4.3) und der Forschungsethik (s. Kapitel 4.6) ins
Spiel. Weitergehend ist zu überlegen, mit welchen Aufbereitungs- und Auswertungsmethoden
diese Daten bearbeitet werden sollen (s. Kapitel 5.3). Weiß man beispielsweise um das Tran-
skriptionsverhältnis für ein Interview von 1:5 oder 1:10 oder für eine gesprächsanalytische
Transkription von 1:60 oder 1:80, dann lässt sich der Aufwand in Arbeitsstunden allein für die
Aufbereitung schon bei der Design-Entwicklung überschlagen. Entsprechende Überlegungen
sind auch zur Eingabe statistischer Daten und zum Zeitaufwand von Auswertungen im Vor-
feld anzustellen. Sie können zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Reduktion des jeweiligen
Korpus führen. So werden gewissermaßen rückwärtsgerichtete Entscheidungen notwendig,
bei denen Überlegungen zur Aufbereitung und Analyse auf die Größe und Zusammensetzung
des Datenkorpus zurückverweisen und bei denen Überlegungen zur Gewinnung von Daten
Einsicht in die Notwendigkeit zur Veränderung der Forschungsfrage mit sich bringen. Auch
der umgekehrte Fall vorwärtsgerichteter Entscheidungen tritt natürlich auf: Nach einem ers-
ten Design-Entwurf wird deutlich, dass sich auf dieser Grundlage die Forschungsfrage noch
nicht hinreichend beantworten lässt und dass weitere Daten, eine Methodentriangulation
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oder ein komplexeres Design erforderlich werden.


Parallel zu und gewissermaßen im Wechselspiel mit diesem Einstieg in die Design-­
Gestaltung über die Frage nach untersuchungsgegenstandsadäquaten Daten ist auch die
Orientierung an prototypischen Designs sinnvoll, die aufgrund eines Forschungsparadigmas
(s. Kapitel 3.3) oder einer Tradition in einem bestimmten Untersuchungsfeld naheliegen (s.
Kapitel 4.2). Sie bieten ebenfalls Ausgangspunkte dafür, einen vorläufigen Entwurf eines
empirischen Forschungsdesigns zu konzipieren, der anschließend in einem kontinuierlichen
Prozess von Revisionen und Präzisierungen weiterentwickelt wird. Bei quantitativen Studien
wird diese Planungsphase vor der Datenhebung durchgeführt und nimmt einen beträcht-
lichen Anteil der Gesamtarbeitszeit für das Forschungsprojekt ein, während bei qualitativen
Studien spezifische Fragen der Design-Gestaltung teilweise erst nach ersten Datenerhebungen
präzisiert werden.

6.4.2 Revisionen und Präzisierungen des Designs

Kontinuierliche Revisionen und Präzisierungen eines ersten groben Design-Entwurfs führen


nach einem längeren Arbeitsprozess zu einem voll ausgearbeiteten, tragfähigen Forschungs-
design. Dabei ist im Hinblick auf Gütekriterien, die angesichts der ersten Design-Entschei-
dungen zu präzisieren sind (s. Kapitel 2), zu prüfen, ob bzw. in welcher Weise das geplante
Vorgehen erlaubt, sie einzuhalten. Solche Überarbeitungen bestehen häufig aus den folgenden
drei Prozessen: (a) der Überprüfung der Untersuchungsschwerpunkte bzw. Variablen, (b) der
Überprüfung von Daten pro Variable und (c) der Abstimmung der Verfahren bzw. Teilstudien
aufeinander.
(a) Die Betreuungserfahrung zeigt, dass einige Doktorand_innen empirische Designs im
ersten Zugriff zu breit anlegen, da ihnen aufgrund der Faktorenkomplexion des Fremd-
sprachenunterrichts viele Aspekte des zu untersuchenden Phänomens wichtig, ja un-

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380 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

verzichtbar für die geplante Studie erscheinen. Der Weg zur Einsicht, dass die eigene
Untersuchung nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Realität erforschen kann, ist im
ersten Moment nicht selten von Gefühlen der Enttäuschung oder der Belanglosigkeit
des eigenen Projekts begleitet. Je mehr es jedoch gelingt, den Blick auch bereits über die
Datengewinnung hinaus auf die arbeitsaufwändigen Aufbereitungs- und Auswertungs-
verfahren zu lenken, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Fokussierung auf
vermeintlich geringfügige Realitätsausschnitte auch als befreiend erlebt wird.
Dass ein wohldurchdachtes Design mit mehreren Variablen durchaus zu bewältigen ist,
zeigt die Referenzarbeit von Biebricher (2008): Sie illustriert den Fall einer Dissertation,
die erfolgreich mit einer sehr hohen Zahl an sowohl quantitativen Daten (C-Test, Leseteil
des Preliminary English Test, Fragebogen) als auch qualitativen Daten (Beobachtung,
Fragebogen, nicht-standardisierte Leseprobe, Leitfadeninterview und impulsgestützte
Stellungnahmen) arbeitet.
(b) Neben der Herausforderung, die zu berücksichtigenden theoretischen Konstrukte aus-
zuwählen, gilt es im Design-Gestaltungsprozess auch kontinuierlich die Überlegungen
zum Datenkorpus zu verfeinern, das zu jeweils einem theoretischen Konstrukt bzw. Un-
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tersuchungsgegenstand erhoben wird. Auch stellt sich die Frage, ob jeweils mehrere Erhe-
bungsmethoden zum Einsatz kommen sollen (zur Methodentriangulation s. Kapitel 4.4).
Als Gegenpol zu Biebrichers (2008) Arbeit kann die Referenzarbeit von Arras (2007) als
Beispiel dafür herangezogen werden, dass in der Hauptstudie ein sehr begrenztes Inventar
an Datentypen, in diesem Fall Daten Lauten Denkens und retrospektive Daten, verwendet
wird. Zwar nutzt die Verfasserin in zwei Vorstudien auch Fragebogenerhebungen und
problemzentrierte Interviews, um die Forschungsfragen genauer fassen zu können, doch
in ihrer Hauptuntersuchung nimmt sie eine rigorose Begrenzung der Datentypen vor
und ermöglicht so eine tiefgehende Auseinandersetzung mit entsprechenden qualitativen
Analysestrategien.
(c) Aus einer Kernidee für ein einfaches empirisches Design kann im Prozess des gestalte-
rischen Nachdenkens auch ein komplexeres Design entstehen, in dem in zielführender
Weise mehrere Teilstudien miteinander kombiniert werden, die parallel oder sequenziell
aufeinander bezogen sind (s. Kapitel 3.3). Bei sequentiellen Designs sollten die Gewich-
tung und die jeweilige Funktion der Teilstudien im Zusammenspiel genau geklärt werden.
Im Fall von parallelen Studien ist die Verschränkung der Teilstudien miteinander im Detail
zu bedenken; besonderes Augenmerk sollte dabei der Frage gelten, in welchen Phasen
des Forschungsprozesses Zusammenhänge zwischen verschiedenen Methoden hergestellt
werden (s. zu Fragen des mixing von Methoden einführend Kuckartz 2014).
Grundsätzlich erscheint es hilfreich für gestalterische Überlegungen, für Beratungs-
gespräche und nicht zuletzt auch für Leser_innen, wenn Forscher_innen ihr Design auch
graphisch darstellen. Eine solche Darstellung zwingt naturgemäß zur Begrenzung auf
das Wesentliche; wenn dabei die Variablen und die jeweilige Erhebungsmethode incl.
Korpusgröße explizit angegeben und die Zusammenhänge zu Aufbereitungs- und die
Auswertungsmethoden präzise abgebildet werden, lassen sich mögliche Design-Probleme
wie ein fehlender Zusammenhalt zwischen einzelnen Verfahren, Gestaltungslücken oder
überdimensionierte Korpusgrößen oft leichter erkennen als in Fließtexten. Eine weitere
wichtige Möglichkeit, die Gestaltung des Designs voranzutreiben, stellen Pilotierungen

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6.4 Gestaltung des Designs 381

dar. Zahlreiche der in Kapitel 7 vorbestellen Referenzarbeiten illustrieren, dass wichtige


Präzisierungen des Designs erst auf dieser Grundlage vorgenommen werden konnten (s.
Arras 2007, Biebricher 2008, Özkul 2011, Tassinari 2010).

6.4.3 Fazit

Nach einem ersten vorläufigen Design-Entwurf, der häufig zur Verfeinerungsarbeit bezüglich
der Forschungsfrage zurückführt, werden im weiteren Gestaltungsprozess detaillierte Revi-
sions- und Präzisierungsprozesse erforderlich. Die Vorstellung, ein Design könne einfach so
aus dem Ärmel geschüttelt werden, wäre illusorisch; es muss vielmehr in zahlreichen Runden
immer wieder umstrukturiert und immer weiter verfeinert werden. Deshalb erscheint es
wichtig, sich in Vorbereitung auf diese Phase der Design-Gestaltung klar zu machen, dass es
sich um einen anspruchsvollen kreativen Prozess handelt, der gründliches Nachdenken, gute
Beratung von klug ausgewählten Mentor_innen mit Erfahrung in den relevanten Bereichen,
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Geduld, Hartnäckigkeit und Lernbereitschaft erfordert. Settinieri (2014: 66–67) formuliert


dazu u. a. die folgenden Maximen:
Denke Deine Untersuchung bis ganz zum Schluss durch! […] Pilotiere Deine Datenerhebungsinstru-
mente, was das Verhalten der Datenerhebenden und der Untersuchungsteilnehmenden einschließt!
Ändere und optimiere Dein Forschungsdesign auf der Grundlage der Pilotierung, nötigenfalls auch
mehrmals! […] Präsentiere nach der Pilotierung, aber vor der eigentlichen Datenerhebung bei jeder
sich bietenden Gelegenheit das Design Deiner Studie und hole nicht nur inhaltsbezogenes, sondern
auch methodisches Feedback dazu ein! Vernetze Dich mit Forschenden auf unterschiedlichen Qua-
lifikationsebenen und rege den gegenseitigen unterstützenden Austausch bzgl. Datenerhebung,
-aufbereitung, – auswertung und -interpretation an! Gehe davon aus, dass Du in jedem Fall irgend-
welche Methodenfehler begehst, suche aktiv nach ihnen, reflektiere sie im Rahmen Deiner Arbeit
und beziehe sie in Deine Ergebnispräsentation ein […]! (Settinieri 2014: 66–67)

Handlungsleitend sollten im Prozess der Design-Gestaltung zum einen die Frage nach der
Forschungsökonomie sein – also danach, ob das Design eine effiziente Beantwortung der
Forschungsfrage erlaubt – und zum anderen die Frage nach der Forschungsökologie – also
danach, ob das Design nachhaltig ist und sparsam mit Ressourcen umgeht.

›› Literatur

Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als
Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]
Cohen, Louis/Manion, Lawrence/Morrison, Keith (2007). Research Methods in Education. London:
Routledge.

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382 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Flick, Uwe (2014). Sozialforschung. Methoden und Anwendungen. Ein Überblick für die BA-Studien-
gänge. 2. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag.
Kuckartz, Udo (2014). Mixed Methods. Methodologie, Forschungsdesigns und Analyseverfahren. Wies-
baden: Springer VS.
Lamnek, Siegfried (2010). Qualitative Sozialforschung. 5. überarbeitete Auflage. Weinheim: Beltz.
Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. München: Langenscheidt. [Referenzarbeit, s. Ka-
pitel 7]
Settinieri, Julia (2014). Planung einer empirischen Studie. In: Settinieri, Julia/Demirkaya, Sevilen/Feld-
meier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empirische Forschungsmethoden für
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 57–71.
Tassinari, Maria G. (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien.
Frankfurt/Main: Lang. [Referenzarbeit, s. Kapitel 7]

6.5 Prozessplanung und -steuerung


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Karen Schramm

6.5.1 Planung komplexer Arbeitsprozesse

Ein neues Forschungsprojekt zu beginnen, bedeutet oft nicht nur, sich auf ein neues the-
matisches Abenteuer einzulassen, sondern sehr oft ist es auch so, dass das neue Projekt in
seinen Dimensionen die bisherigen Forschungserfahrungen der Beteiligten übersteigt. Bei
Qualifikationsarbeiten ist dies mit der Steigerung der Anforderungen von einer BA- über
eine MA-Arbeit bis hin zu einer Dissertation oder gar Habilitation systematisch so angelegt.
Aber auch bei anderen, beispielsweise kooperativen Forschungsprojekten ist es kein seltener
Fall, dass Fremdsprachendidaktiker_innen in Bezug auf die Komplexität der neuen Studie
über ihre bisherigen Forschungserfahrungen hinausgehen und sich in diesem Prozess – wie
auch Nachwuchswissenschaftler_innen im Qualifikationsprozess – weiterentwickeln. Somit
ist der Beginn eines neuen Projekts zumeist nicht nur in thematischer, sondern auch in orga-
nisatorischer Hinsicht das Sich-Vorwagen in ein unbekanntes Terrain.
Dass dabei so manche Überraschung lauert, hat Riemer (2014: 17) mit dem Bild der For-
schungspraxis als „anstrengende[r] Trekkingtour“ verdeutlicht. Unter Bezugnahme auf Ale-
mann (1984) spricht sie von schwierigen Wegabschnitten wie dem „Gipfel der Konfusion“,
dem „Pass des Geldes“, dem „Wald der Müdigkeit“ oder dem „Sumpf der verlorenen Ma-
nuskripte“ (Riemer 2014: 18–19). Die Metapher der Trekking-Tour veranschaulicht einerseits,
dass nicht alle Wegstrecken im Detail vorausgesehen werden können, und macht andererseits
auch deutlich, dass gerade deshalb eine gute Vorbereitung notwendig ist, um auf dieser an-
strengenden Tour den unweigerlichen Überraschungen und unerwarteten Anforderungen
erfolgreich begegnen zu können.
Somit sind Kompetenzen im Projektmanagement und insbesondere in der Zeit- und Ar-
beitsplanung hilfreich. An vielen Universitäten wird gefordert, bereits im Exposé eine erste
Planung der Arbeitsschritte und des jeweiligen Zeitbedarfs vorzunehmen. Dies kann bei-

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6.5 Prozessplanung und -steuerung 383

spielsweise in Form eines Flowcharts geschehen. Die Herausforderung liegt dabei gerade
darin, die naturgemäß zunächst noch diffusen Vorstellungen über den Arbeitsprozess best-
möglich zu konkretisieren und in eine – praktisch realisierbare – lineare Reihenfolge zu
bringen. Erst die explizite schriftliche Planung erlaubt es in vielen Fällen, auch Details recht-
zeitig zu berücksichtigen, beispielsweise dass die Datenerhebung an einer Schule nur zu
bestimmtem Phasen des Schuljahrs realistisch erscheint oder dass eine Schulung zu einer
relevanten Analyse-Software nur zu bestimmten Zeitpunkten angeboten wird. Gleichzeitig
ist natürlich zu betonen, dass die Planung immer wieder den (teils unerwarteten) Realitäten
anzupassen ist – deshalb erscheint eine Feinplanung für die nächsten Wochen zusätzlich zu
einer Grobplanung für die nächsten Monate geeignet. Der Wunsch nach einer solchen Struk-
tur in Form von Arbeits- und Zeitplänen ist bei Doktorand_innen je nach Persönlichkeitstyp
unterschiedlich ausgeprägt: Während einige die Freiheit genießen, auf der Trekking-Tour
nach Gespür spontane Entscheidungen über den Reiseverlauf zu treffen, gewinnen andere
Sicherheit aus einem vorstrukturierten Pfad, der ihnen ein zielorientiertes Voranschreiten
ermöglicht. Über die diesbezüglichen Wünsche nachzudenken und mit der/dem Betreuer_in
darüber zu sprechen, kann eventueller Frustration auf der einen oder anderen Seite vor-
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beugen.
In diesem Planungsprozess empfiehlt es sich, Meilensteine zu definieren; dies sind konkrete
Arbeitsprodukte wie beispielsweise der Erstentwurf eines Kapitels, das Transkriptkorpus oder
der Anhang der Dissertation. Im Falle einer gelungenen Planung sind die Meilensteine die
Fixpunkte, die bei der Trekking-Tour als nächstes Etappenziel angepeilt werden. Das bedeutet
auch, dass nicht das bleierne Gewicht der gesamten fertigzustellenden Dissertation auf den
Schultern zu tragen ist, sondern pro Etappe von beispielsweise zwei oder drei Monaten ‚nur‘
das aktuelle Arbeitspaket – dies kann sehr erleichternd sein und Gefühlen von Überforderung
oder Mutlosigkeit entgegenwirken.
Eine solche Planung ist auch eine wichtige Grundlage für Betreuungsgespräche, in denen
Betreuer_innen aufgrund ihrer Forschungserfahrung bereits manches Problem voraussehen
und rechtzeitig im Vorfeld ansprechen können (vgl. auch Kapitel 6.8). Dazu gehören u. a.
Fragen der Reihenfolge (z. B. Lässt sich das Theoriekapitel tatsächlich schon schreiben, bevor
das Forschungsdesign steht?), der zeitlichen Planung (Dauert es tatsächlich nur vier Wochen,
die Genehmigung der Schulbehörde einzuholen?) oder des Arbeitsaufwands (Ist es realistisch,
ein Videokorpus von 15 Unterrichtsstunden in zwei Monaten zu transkribieren?). In manchen
Fällen können Betreuer_innen auch Hinweise zu den in der Planung noch nicht berück-
sichtigten Arbeitsphasen geben. Beispielsweise wird die Notwendigkeit zur Pilotierung, zur
kommunikativen Validierung oder zur Erstellung eines Anhangs, der Transparenz über die
Analyse schafft, in den ersten Schritten zur Planung eines Dissertationsprojekts oft noch
nicht erkannt. Auch das Einholen von Feedback zu Kapitelentwürfen und die entsprechenden
Revisionsprozesse bleiben von Doktorand_innen bei den ersten Planungen häufig unberück-
sichtigt – ebenso wie die aufwändige Gesamtformatierung.
Anzumerken ist in Bezug auf die Zeitplanung, dass sich historische, theoretische sowie
empirische Forschungsarbeiten (und hier wiederum hypothesengenerierende und hypothe-
senüberprüfende) deutlich in der zeitlichen Gewichtung der verschiedenen Arbeitsphasen
unterscheiden. Bei historischen Arbeiten benötigt vor allem die Suche nach den Quellen
erfahrungsgemäß viel Zeit, da sich deren Fundorte erst im Verlauf der Recherche erschließen.

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384 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Theoretische Arbeiten zeichnen sich insbesondere durch eine umfängliche Literaturrecherche


und iterative Leseprozesse aus. Während Forscher_innen sich bei empirischen Projekten,
mit denen sie Hypothesen generieren wollen, eher frühzeitig ins Feld begeben und an die
Datenerhebung wagen, erfordern hypothesenüberprüfende Studien eine deutlich längere
Vorbereitungszeit, bevor die Datenerhebung sinnvollerweise stattfinden kann. Demgegen-
über steht dann wiederum bei hypothesengenerierenden Projekten eine in der Regel deutlich
längere Auswertungsphase als bei hypothesenüberprüfenden Studien.

6.5.2 Steuerung komplexer Arbeitsprozesse

Selbstverständlich sind auch die besten Planungen dazu da, angesichts neuer Einsichten und
praktischer Erfordernisse umgestoßen zu werden. Dies sollte wohlüberlegt und zielorientiert
geschehen. Keinesfalls darf der Steuerungsprozess ein hilfloses Dahintreiben im Strom der
vielen Möglichkeiten oder der vielen wohlgemeinten Ratschläge von unterschiedlichen Seiten
sein.
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Damit ist das Spannungsfeld von Fremd- und Selbststeuerung bei einem komplexen Ar-
beitsprozess wie der Erstellung einer Dissertation angesprochen. Wichtig erscheint, dass der
oder die Doktorand_in auf der Trekkingtour den Kompass selbst in der Hand hat und durch
kontinuierliche Orientierung den Weg zum Ziel eigenständig findet. Um dabei zielführende
Entscheidungen treffen zu können, ist die Einbindung in eine community of practice von
Forschenden von höchster Bedeutung. Der Austausch mit erfahreneren ‚Doktorgeschwis-
tern‘ liefert wertvolle Anregungen über bereits bestandene (bzw. für den/die Noviz_in noch
zu bestehende Abenteuer). Gleichermaßen tragen die Denkanstöße, die man selbst als Dok-
torand_in den ‚Doktorgeschwistern‘ anbieten kann, zur eigenen Reflexion bei: Es ist kein
seltener Fall, dass man an den Projekten anderer, in die man emotional weniger involviert
ist, methodische Probleme klarer erkennt als am eigenen und daraus Nutzen für das eigene
Projekt zieht. Auch das Gespräch mit mehreren professoralen Berater_innen stellt den Zu-
gang zu einer Vielfalt von Erfahrungsperspektiven sicher und ist keinesfalls als ‚Verrat‘ an
der oder dem eigenen Betreuer_in zu begreifen. Entscheidend ist dabei, dass Beratung jeweils
als Denkanstoß oder als Anregung – nicht als Handlungsdirektive – verstanden wird. Dok-
torand_innen sollten Entscheidungen nicht aus Vertrauen in die Ratschläge anderer, sondern
auf der Grundlage einer klaren eigenständigen Orientierung und entsprechend gefestigter
Überzeugung treffen.
Zur Dokumentation und Reflexion möglicher Handlungsalternativen bietet sich ein For-
schertagebuch oder ein Logbuch an. Eine solche Dokumentation kann dabei helfen, regel-
mäßig auf einer Metaebene den eigenen Tourverlauf zu reflektieren, Bilanz zu ziehen und
die nächsten Etappen zu planen. Beispielsweise kann es an einem Punkt der Arbeit zu der
Entscheidung kommen, einen bereits erarbeiteten Themenbereich aus der Dissertation aus-
zugliedern und zu einem späteren Zeitpunkt einen Artikel darüber zu schreiben. Regelmäßig
Bilanz zu ziehen, ist auch Voraussetzung für das Erkennen des eigenen Fortschritts. Beispiels-
weise kann es die Motivation anfachen und die Konturen für die nächsten Arbeitsschritte
klarer erkennbar werden lassen, wenn man bereits geschriebene Kapitel ausdruckt oder die
fertiggestellten Teile in der Gliederung farbig markiert.

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6.5 Prozessplanung und -steuerung 385

Dass es neben der klugen Steuerung durch gründliches Nachdenken auch einer guten Kon-
dition und eines gewissen sportlichen bzw. intellektuellen Ehrgeizes bedarf, ist vermutlich
selbstverständlich. Es wird bei Dissertationsprojekten kaum zu vermeiden sein, dass in den
verschiedenen Phasen eine hohe Arbeitsbelastung entsteht, die es nicht nur in kognitiver,
sondern auch in affektiver und sozialer Hinsicht zu bewältigen gilt. Der vertrauensvolle Aus-
tausch mit Peers über erfolgreiche Strategien zum Umgang mit diesen Herausforderungen ist
dabei hilfreich: Wie haben andere Doktorand_innen Motivationstiefs oder gar Verzweiflung
überwunden? Welche Maßnahmen haben sie ergriffen, um Abstand zu gewinnen und um
auf ihre Gesundheit zu achten? Wie haben sie sich selbst angefeuert? Welche Arbeiten haben
sie delegiert? Wie haben sie Partner, Familie und Freunde zu strategischen Verbündeten in
Sachen Dissertationsprojekt gemacht? Gerade der letzte Punkt erscheint für den erfolgreichen
Abschluss einer Dissertation von besonderer Bedeutung; die Unterstützung durch das soziale
Umfeld spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle.
In den verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses stellen sich hinsichtlich der De-
tailplanung und Steuerung teils charakteristische Herausforderungen. Bei der empirischen
Datenerhebung könnte eine solche Herausforderung beispielsweise darin bestehen, dass das
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Feld schwer zugänglich ist oder die hohen Ansprüche der Forscherin oder des Forschers nicht
mittragen kann – hier gilt es, sich nicht entmutigen zu lassen und Kompromisse zu schlie-
ßen, die als wichtige Forschungserfahrung auch in der Dissertation dokumentiert werden. In
vielen Fällen wird auch eine zeitliche Abhängigkeit der Datenerhebungen zu bedenken sein:
So wird in Bezug auf das videobasierte Laute Erinnern beispielsweise häufig postuliert, dass
es innerhalb von 24 Stunden geschehen solle. In Bezug auf problemzentrierte Interviews ist
zu bedenken, dass die entsprechenden Impulse für das Interview möglicherweise nicht nur
erhoben, sondern auch bereits transkribiert oder gar analysiert sein müssen, um ihre Funktion
zu erfüllen. Auch könnte es wichtig sein, die Erhebungen so zu planen, dass die Forschungs-
partner_innen sich darüber nicht austauschen können; zu diesem Zweck wären simultane
Erhebungen durch Forschungsassistent_innen eine Lösung.
Die Datenverwaltung ist bei großen Mengen von Dokumenten, Texten und Daten eine
nicht zu unterschätzende Herausforderung, der man nur durch akribische Sorgfalt im Er-
hebungsprozess und gute – heute in der Regel digitale – Ablagesysteme gerecht werden
kann. Sollen beispielsweise verschiedene Daten wie Videoaufnahmen und Lerner_innentexte
mittels eines Klassenspiegels zugeordnet werden, so ist das keine triviale Herausforderung,
die unmittelbar im Zuge der Erhebungen zu erledigen ist. Auch eine sichere Aufbewahrung
ist wichtig, um die in aufwändigen Arbeitsprozessen gewonnenen Dokumente, Texte und
Daten vor Kindern und neugierigen Haustieren, vor Feuer und Wasser und insbesondere vor
dem digitalen Verpuffen (versehentliches Löschen, fehlende Datensicherung bei gestohlenen
oder kaputten Laptops etc.) zu schützen.
Bei der Datenaufbereitung kann eine erfolgreiche Steuerung darin bestehen, sich eine
hochkonzentrierte Arbeit wie das Transkribieren aufzuteilen (beispielsweise nicht länger als
zwei Stunden am Stück), sich gute Ausrüstung zu besorgen (beispielsweise mit Einstellungen
für Wiederholungsschleifen zu arbeiten) oder sich eine Datenbank passend zum eigenen Pro-
jekt einzurichten. Sollten mehrere Personen an solchen Aufbereitungsprozessen beteiligt sein,
sind Schulungen einzuplanen, um die Einheitlichkeit sicherzustellen.

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386 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Die Analyse stellt bei interpretativen Auswertungen möglicherweise die höchsten Anfor-
derungen an die metakognitive Kontrolle und Steuerung des gesamten Prozesses. Die ver-
tiefte Beschäftigung mit Detailanalysen einerseits und die Suche nach einer Gesamtstrategie
für die Analyse andererseits kommen oft einem Balanceakt gleich. Hilfreich ist es in der Regel,
exemplarische Einzelanalysen im Rahmen eines Kolloquiums oder einer Arbeitsgruppe, die
idealerweise mit dem Projekt schon längere Zeit vertraut ist, vorzustellen. Die kritischen
Freunde werden mit ihren Nachfragen dazu beitragen, die Analyse auf der Mikroebene zu
schärfen und ihre Einbindung auf der Makroebene genauer zu fassen. Nicht nur, aber beson-
ders bei unerwarteten Befunden wird eine erneute Auseinandersetzung mit der Forschungs-
literatur notwendig. In der Regel ist nach der Analyse qualitativer Daten auch die Frage zu
stellen, wie die konkreten Befunde abstrahiert und modelliert werden können.
Bei der Erstellung des Schlusskapitels ist bei empirischen Projekten eine Rückbindung der
Ergebnisse an den Forschungsstand oder eine (oder mehrere) Theorie(n) gefordert. Wichtige
Fragen sind hier u. a.: Wie kann der Bogen zur Einleitung und zum Theoriekapitel geschlagen
werden? Welche zitierfähigen Passagen fassen hieb- und stichfest die eigenen Arbeitsergeb-
nisse zusammen? Welche Forschungsdesiderata ergeben sich daraus für zukünftige Unter-
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suchungen? Bei historischen und theoretischen Arbeiten geht es dagegen in der Regel um
einen Ausblick auf weiterhin offene oder neu entstandene Fragen.
Ist die Trekking-Tour zu einem glücklichen Abschluss gekommen, steht am Ende nicht nur
der fachliche Ertrag bzw. das eigene Buch, sondern der oder die Doktorand_in wird in der
Regel auch einen großen persönlichen Gewinn aus der Autonomie- und Selbstwirksamkeits-
erfahrung der abenteuerlichen Reise ziehen. Es steht zu erwarten, dass dieser persönliche
Gewinn an Mut, Veränderung anzugehen und Verantwortung zu übernehmen, auf der wei-
teren Reise des Lebens erkennbar werden wird.

›› Literatur

Alemann, Heine von (1984). Der Forschungsprozeß. Eine Einführung in die Praxis der empirischen
Sozialforschung. 2. Aufl. Stuttgart: Teubner.
Riemer, Claudia (2014). Forschungsmethodologie Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. In: Settinieri,
Julia/Demirkaya, Sevilen/Feldmeier, Alexis/Gültekin-Karakoç, Nazan/Riemer, Claudia (Hg.). Empi-
rische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn: Schöningh, 15–31.

6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge

Michael K. Legutke

Nach der Gewinnung von Daten, Dokumenten oder Texten sowie deren Aufbereitung und
Analyse sieht sich der/die Forscher_in mit der Herausforderung konfrontiert, die gewonne-
nen Erkenntnisse und erarbeiteten Erträge so zu bündeln und darzustellen, dass sowohl das
Besondere der Studie in Erscheinung tritt, als auch die Fragen angesprochen werden, die offen

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6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 387

bleiben mussten oder die sich als Folge der Untersuchung neu stellen. Das folgende Kapitel
bietet einige Anregungen dazu, was beim Umgang mit dieser Herausforderung zu bedenken
ist, wenn die entsprechenden Teile der Forschungsarbeit abgefasst werden.
Auch wenn die Zusammenfassung und Diskussion der Erträge in Abhängigkeit von den
Forschungstraditionen (historisch, theoretisch, empirisch, vgl. Kapitel 3) sowie dem For-
schungsansatz und den gewählten Vorgehensweisen (quantitativ, qualitativ, mixed methods)
in zum Teil unterschiedlicher Form erfolgen wird, wie noch zu erläutern ist, sollte sich der/die
Forscher_in in jedem Fall an folgenden Zielen orientieren. Dabei kann es durchaus sinnvoll
sein, bei der Darstellung inhaltliche und methodische Aspekte getrennt zu erörtern:
• Die Zusammenfassung und Diskussion geschieht mit klarem Bezug zu der Forschungs-
frage/ den Forschungsfragen und schlägt argumentativ die Brücke zum Forschungsstand
und Literaturüberblick (vgl. Kapitel 6.3).
• Die Erträge werden in die mit dem Forschungsstand erörterten theoretischen Zusammen-
hänge eingeordnet.
• Der Geltungsanspruch und die Reichweite der Erträge werden erörtert und offene Fragen
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benannt. Damit wird deutlich, warum die Erträge der Studie ernst zu nehmen sind und
warum sie den Gütekriterien fremdsprachendidaktischer Forschung entsprechen.
• Die theoretische Bedeutung der Studie und mögliche Implikationen für praktisches Han-
deln werden verdeutlicht.
• Perspektiven für weitere Forschungen, die sich aus den Erträgen herleiten lassen, werden
skizziert.
• Das gesamte Design wird ebenso wie einzelne Forschungsentscheidungen und Verfahren
auf der Basis der Erträge kritisch reflektiert.
• Besonders gewinnbringende ebenso wie problematische Ereignisse im Forschungsprozess
werden, sofern vorhanden, benannt und diskutiert.
• Der Text ist leserfreundlich formuliert, sprachlich zugänglich und nachvollziehbar. Er trägt
mit dieser Qualität der sozialen Verpflichtung von Forschung Rechnung – ist es doch ein
Bestimmungsmerkmal von Forschung, dass sie wahrgenommen und diskutiert wird. Die
sprachlich-argumentative Qualität der Zusammenfassung und Diskussion schaffen dafür
eine wichtige Voraussetzung.
• In mehreren Handbüchern findet sich der Hinweis, der/die Forscher_in solle versuchen,
die Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse als Geschichte zu konzeptualisieren:
„Your findings need to tell a story related to your aims, objectives and research questions“
(O’Leary 2014: 288; vgl. auch Dörnyei 2007: 292–93). Damit ist nicht gemeint, der/die
Forscher_in solle versuchen, den Gang der Arbeit chronologisch nachzuerzählen. Die An-
regung ist vielmehr metaphorisch zu verstehen, nämlich als Hinweis, darüber nachzuden-
ken, wie die Darstellung der Erträge und ihrer Diskussion anschaulich gestaltet werden
kann. Eine solche Empfehlung mag sich für historische und empirische Forschungen eher
realisieren lassen als für theoretisch-konzeptuelle Arbeiten; als generelle Aufforderung,
sich um Leserbezogenenheit und Lebendigkeit der Darstelllung zu bemühen, sollte sie
auf jeden Fall ernst genommen werden. Welche Möglichkeiten der Realisierung einzelne
Forscher_innen gewählt haben, zeigen exemplarisch die Referenzarbeiten im Kapitel 7
dieses Handbuchs.

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388 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Unter Berücksichtigung von Forschungstraditionen und Vorgehensweisen ist es angebracht,


spezifische Anregungen für empirische (Abschnitt 1) und historische sowie theoretische For-
schung (Abschnitt 2) gesondert aufzuführen.

6.6.1 Erträge empirischer Arbeiten

1 Quantitative Forschungsarbeiten
Für quantitativ arbeitende Forscher_innen stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, ob
die Präsentation und die Diskussion der Ergebnisse verschränkt oder in getrennten Kapiteln
erfolgen soll. Für beide Varianten kann es gute Gründe geben. Eine verschränkte Darstellung
bietet einerseits den Vorteil, dass dadurch eine fortlaufende Argumentation entfaltet und
kontinuierlich Theoriebezüge hergestellt werden können. Diese Art der Darstellung kann es
dem/der Leser_in erleichtern, der Argumentation, die sich ja auf Messergebnisse stützt, zu
folgen; sie wäre dann leserfreundlicher. Sie eignet sich sicher besonders bei kürzeren For-
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schungsbeiträgen, etwa in Fachzeitschriften.


Andererseits kann die Breite unterschiedlicher Ergebnistypen, die sich aus den zur Be-
antwortung der Forschungsfrage(n) zielführenden statistischen Verfahren ableiten, eine
Darstellung in zwei getrennten Kapiteln nahe legen. Eine integrierte Darstellung wäre
möglicherweise zu unübersichtlich. Eine solche Trennung kann sich vor allem bei größe-
ren Forschungsprojekten, etwa bei Qualifikationsarbeiten (Promotionen, Habilitationen),
anbieten. Die Entscheidung wird aber letzten Endes von den Forschungsfragen und den
statistischen Auswertungsverfahren abhängen. In der anglo-amerikanischen Tradition (Ap-
plied Linguistics) hat sich auch für kürzere Darstellungen in Fachzeitschriften unter den
Überschriften Findings/Results und Discussion eine Zweiteilung als Regelfall durchgesetzt.6
Neben dieser Grundsatzentscheidung müssen auf jeden Fall zwei weitere Herausforderun-
gen gemeistert werden. Die erste beinhaltet die wichtige Frage des Präsentationssamplings;
es geht darum zu entscheiden, welche Ergebnisse der Analyse prominent dargestellt und
diskutiert werden sollen (s. Kapitel 4.3). Forscher_innen sollten der Versuchung widerstehen,
für jedes einzelne Messergebnis oder jede einzelne Variable der Studie Graphen, Kurven, Ta-
bellen, Skalen oder Schaubilder anzubieten. Man kann dieser Versuchung leicht erliegen, denn
die verfügbaren Statistiksoftwareprogramme ermöglichen auf Knopfdruck die graphische
Darstellung von Ergebnissen, die durch deskriptive oder komplexere statistische Verfahren
gewonnen wurden.
Die zweite Herausforderung betrifft die Art der Darstellung und ihre sprachliche Form.
O’Leary bringt die Herausforderung folgendermaßen auf den Begriff:
Now when it comes to how your data should be presented, I think there is one golden rule: your
presentation should not be hard work for the reader. Most people’s eyes glaze over when it comes
to statistics, so your data should not be hard to decipher. You should not need to be a statistician
to understand it. Your challenge is to present your data graphically and verbally so that meanings

6 Vgl. z. B. Forschungsbeiträge in der Zeitschrift TESOL Quarterly. Auch in der deutschsprachigen Zeitschrift
für Fremdsprachenforschung zeigt sich bei der Darstellung quantitativer Forschung die Tendenz zur Zwei-
teilung.

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6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 389

are clear. Any graphs and tables you present should ease the task for the reader. So while you need
to include adequate information, you do not want to go into information overload. (O’Leary 2014:
288).
Gezielt eingesetzte Graphiken, Kurven und Tabellen können ohne Frage dazu beitragen, die
Darstellung insgesamt leserfreundlich und in ihrer inneren Logik gut nachvollziehbar zu
machen. Allerdings gilt es darauf zu achten, dass der begleitende Text nicht einfach die Aus-
sage der Graphen verbal verdoppelt, sondern vielmehr einordnet, ergänzt oder weiterführt.7

2 Qualitative Forschungsarbeiten
Während Forscher_innen bei der Abfassung quantitativer Forschungsarbeiten in der Regel
einem konventionalisierten Schema folgen, in dem Präsentation und Diskussion der Ergebnis-
se einen festen Platz in der Reihenfolge der Kapitel einnehmen, haben qualitativ arbeitende
Forscher_innen einen deutlich größeren Spielraum, der sich nicht zuletzt auf die hier zur De-
batte stehende Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse bezieht. Dies hängt einmal
mit dem grundlegend explorativen und iterativen Vorgehen qualitativer Forschung zusam-
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men. Die Abfassung der Arbeit ist deshalb nicht so sehr die Herstellung eines Endprodukts,
sondern ein notwendiger Teil des Forschungsprozesses selbst, der den/die Forscher_in nicht
nur zur Entwicklung neuer Ideen und damit zur Reinterpretation der Daten antreibt, sondern
ihm/ihr häufig auch die Aufnahme neuer theoretischer Konzepte und die Auseinandersetzung
mit weiterer Literatur abverlangt. Zum anderen sind Zusammenfassung und Diskussion der
Ergebnisse von den zur Aufarbeitung und Interpretation der Daten herangezogenen Me-
thoden abhängig (siehe Kapitel 5.3.2 bis 5.3.6), die zwar unterschiedliche Verfahrensweisen
und Schrittabfolgen vorsehen, die andererseits aber auch für notwendige Anpassungen an
den Forschungsgegenstand offen sind. Da Forscher_innen aufgrund des iterativen Charakters
qualitativer Forschung oftmals nicht umhin können, Datensätze wiederholt zu analysieren,
fällt die Entscheidung manchmal schwer, die Datenanalyse zu beenden. Der Forschungspro-
zess muss aber zu Ende kommen; eine zusammenfasende Präsentation und Diskussion der
Ergebnisse sind gefordert. Aus der Beratungspraxis können die folgenden Empfehlungen
gegeben werden, die bei der Erstellung der Endfassung der Forschungsarbeit bedacht werden
sollten:8
Der/die Forscher_in muss ebenso wie bei quantitativen Arbeiten entscheiden, welche Er-
träge der Datenaufarbeitung und Analyse zur Beantwortung der Forschungsfrage(n) unbe-
dingt und prominent dargestellt werden müssen (Präsentationssampling). Die Beantwortung
dieser Frage ist vielfach von den Samplingentscheidungen abhängig, welche die Datenanalyse
(Datensampling) leiteten (siehe Kapitel 4.3). Das Präsentationssampling sollte auf jeden Fall
transparent gemacht werden.
Auch wenn es für manche qualitative Forschungsarbeit durchaus sinnvoll sein kann, die
Zusammenfassung der Ergebnisse und ihre Diskussion in zwei separaten Kapiteln vor-
zunehmen, legen es das explorative und iterative Vorgehen der Datenanalyse häufig nahe,
7 Hinweise für die Abfassung quantitativer Studien unter Berücksichtigung der Darstellung und Diskussi-
on der Erträge liefern u. a.: Dörnyei 2007: 277–289, O’Leary 2014: 274–289.
8 Ausführliche Darstellungen zur Abfassung qualitativer Studien, insbesondere zur Zusammenfassung und
Diskussion der Erträge bieten Dörnyei 2007: 290–300, Holliday 2007, Richards 2009: 191–207, Silverman
2000: 201–256.

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390 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

die Darstellung der Erträge in Etappen und/oder thematisch gegliedert in Teilkapiteln unter
Berücksichtigung weiterer Forschungsliteratur vorzunehmen. Der/die Forscher_in muss dann
deutlich machen, wie sich die Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammenfügen. Leser_innen
brauchen klare Orientierungspunkte, damit sie der Argumentation folgen können. Die Be-
reitstellung solcher Markierungen und damit die Herstellung von Kohärenz sind wichtige
Aufgaben der Forscher_innen. Da qualitative Studien in der Regel komplexe Phänomene
und ihre Bedeutungen aufdecken, indem sie verschiedene Perspektiven und Stimmen, die des
Forschers/der Forscherin eingeschlossen, berücksichtigen, besteht die Gefahr, dass für den/die
Leser_in die Übersicht verloren geht.
Qualitative Forschung hilft erschließen, was konkrete Menschen in spezifischen sozialen
und institutionellen Kontexten tun, wie sie interagieren, wie sie ihr Handeln bewerten und
verstehen, wenn sie Sprachen lernen oder lehren. Die Präsentation der Erträge einer Studie
kann deshalb erheblich an Lebendigkeit und Aussagekraft gewinnen, wenn sie Beteiligte
direkt durch Zitate aus den Daten zu Wort kommen lässt und wenn es gelingt, konkrete Zu-
sammenhänge anschaulich zu beschreiben. Immerhin ist die Argumentation in vielen Fällen
auf den ‚Stimmen‘ der Forschungspartner_innen aufgebaut. Es besteht allerdings auch die
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Gefahr, dass durch den Rekurs auf zu viele Daten die Darstellung zwar lebendig wird, aber in
der Deskription stecken bleibt, die Stimmen nicht mehr interpretierend und kommentierend
eingeordnet werden. Dörnyei fasst hier prägnant zusammen: „The challenge is to achieve a
thick description without the study being overly desriptive but rather analytical as a whole“
(Dönyei 2007: 297). Eine gelungene Zusammenfassung der Erträge wird sich folglich durch
eine Balance zwischen Partikularem und Allgemeinerem auszeichnen, dem Zitat aus den
Daten und dem interpretierenden und einordnenden Kommentar.
Ähnliches gilt in Bezug auf die Berücksichtigung des Kontextes, dem die Daten ent-
stammen. Nur indem die Darstellung der Erträge deren Kontexabhängigkeit transparent
macht, kann für den/die Leser_in deutlich werden, ob und wenn ja, in welcher Weise die
für den besonderen Kontext erarbeiteten Erträge über ihn hinaus Geltung beanspruchen
dürfen.
Nicht nur im vorliegenden Beitrag, sondern an mehreren Stellen dieses Handbuchs ist im
Zusammenhang der Erörterung qualitativer Verfahren der Datenaufarbeitung und Analyse
deutlich geworden, dass solche Forschungsverfahren zwei miteinader verschränkte Funk-
tionen haben. Zum einen helfen sie die Forschungsfragen zu beantworten, zum anderen
liegt es in ihrer Natur, neue Perspektiven auf den Forschungsstand zu eröffnen; bisherige
Forschung, die der Literaturbericht bündelte, muss möglicherweise neu bewertet werden.
Forschungen, die bisher nicht berücksichtig wurden, müssen u. U. in die Erörterung auf-
genommen werden. Forscher_innen sollten für solche reflexiven Prozesse offen und bereit
sein, im Lichte der Erträge den Literaturüberblick möglicherweise zu modifizieren und/ oder
zu erweitern (s. Kapitel 6.3).
Schließlich gilt es bei der Zusammenfassung und Diskussion der Erträge qualitativer Ar-
beiten zu prüfen, ob und wenn ja, in welcher Weise an dieser Stelle die Rolle des Forschers/
der Forscherin explizit thematisiert und kritisch reflektiert werden muss.

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6.6 Zusammenfassung und Diskussion der Erträge 391

6.6.2 Erträge theoretischer und historischer Arbeiten

Die generellen Empfehlungen, die zu Beginn dieses Beitrags formuliert wurden, haben auch
für theoretische Arbeiten Gültigkeit. Im Kapitel 3.2 wird die Vielfalt theoretisch-konzeptueller
Forschung über die Darstellung unterschiedlicher Typen und Funktionen geordnet. Vielfalt
und Unterschiedlichkeit spiegeln sich auch in Inhalt und Form der Zusammenfassung und
Erörterung der Erträge. Gemeinsam ist theoretischen Arbeiten das Bestreben, auf der Basis
vorhandener einzelner Konzepte und/ oder umfassenderer Theorien etwas Neues zu ent-
wickeln. Damit dieses Neue sichtbar wird, müssen das Vorhandene gewichtet, Zusammen-
hänge verdeutlicht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und/ oder Teil-
aspekte neu kombiniert werden. Verbunden damit ist die Notwendigkeit, dem/der Leser_in
schlüssige, durch Belege fundierte Argumentationen anzubieten, die in plausiblen Schluss-
folgerungen münden. Eine solche Bündelung der Erträge kann durch die Fokussierung auf
einen repräsentativen (Teil-) Gegenstand der Studie erfolgen.
Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. (1) In Arbeiten, in denen es um die Entwicklung
umfassender theoretischer Konzepte der Sprachvermittlung geht, könnte die Modellierung
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eines spezifischen Konzepts den Fokus bilden, unter dem Erträge aus einer diachronen Re-
konstruktion und kritischen Erörterung affiner Konzepte auch anderer Disziplinen zusam-
mengführt und auf ihre Implikationen für die Praxis überprüft werden. Die Modellierung
bietet zudem die Möglichkeit, gegenwärtige Diskurse im Umfeld des bearbeiteten Konzepts
neu zu gewichten. (2) Bei Arbeiten, die der Analyse und Auswahl von Lehrmaterial gelten,
könnte eine zusammenfassende Erörterung der Erträge mit Hilfe eines theoretisch fundier-
ten Materialensembles aus Texten, Aufgaben und Übungen erfolgen, verknüpft mit einem
begründeten Plädoyer, dieses in einem empirisch ausgerichteten Folgeprojekt zu validie-
ren.
Das Entscheidende und zugleich Herausfordernde für Forscher_innen ist es, einen für den
jeweiligen Typus theoretischer Forschung angemessenen Fokus für die Zusammenfassung der
Erträge zu finden. Letzten Endes wird es vom Forschungsgegenstand, der Forschungsfrage
und dem Typus theoretisch-konzeptueller Forschung abhängen, wie Ergebnisse zu bündeln
und argumentativ abzusichern sind.
In der historisch arbeitenden Forschung besteht der bei weitem überwiegende Teil ei-
ner Studie aus der Darstellung der Ergebnisse. Auf der Basis der kritisch geprüften, nach
thematischen und systematischen Gesichtspunkten geordneten Quellen und deren mehr-
facher, gründlicher Analyse werden Prozesse, Phänomene, Diskurse oder andere historische
Gegebenheiten in einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit dargestellt. Dabei müssen Ar-
gumentationslinien entworfen, durch Quellen und Informationen aus der Sekundärliteratur
(etwa zum historischen Kontext) belegt und miteinander verknüpft werden, damit die For-
schungsergebnisse sowohl in ihrem deskriptiven Charakter (diese Fakten etc. sind belegt;
„so war es“) als auch in ihrer Erklärung des Vergangenen sichtbar werden. Wichtig ist dabei
immer, zwischen der Aussage von Quellen und dem Referieren weiterer Literatur auf der
einen Seite und den eigenen auf den Quellen basierenden Schlussfolgerungen und Inter-
pretationen sprachlich klar zu unterscheiden. Durch häufiges Zitieren aus den Quellen wird
die Argumentation anschaulich; allerdings kann es erforderlich sein, sprachliche oder inhalt-
liche Besonderheiten der Quellen für geschichtliche Laien zu erläutern, da meistens weder

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392 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Spezialkenntnisse noch Vertrautheit mit früheren sprachlichen Konventionen vorausgesetzt


werden können.
Wenn man über die Vergangenheit schreibt, benutzt man im Deutschen in der Regel das
Imperfekt. Lediglich Einleitung und Ausführungen zum forscherischen Vorgehen werden im
Präsens verfasst. Da man heute wesentlich entspannter mit dem Umstand zurecht kommt
als früher, dass auch eine historiographische Forschungsarbeit subjektive Züge trägt, ist der
Gebrauch des Pronomens ‚ich‘ nicht länger verpönt. Auch wenn die historische Forschung
sich in der Gegenwart stärker an sozialwissenschaftlichen oder linguistischen Analysever-
fahren orientiert, sollte man nicht vergessen, dass einer historischen Abhandlung auch Ge-
schichten innewohnen. Besonders gelungen sind historische Forschungsarbeiten dann, wenn
sie die gefundenen Fakten und die quellenbasierten Interpretationen zu einem Gesamtbild
verdichten, das als facettenreicher und mehrdimensionaler Blick in die Geschichte überzeugt.

6.6.3 Fazit: das Schlusskapitel


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Während kürzere Forschungsbeiträge in der Regel eine Conclusio, einen Schlussteil, in die
Zusammenfassung und Diskussion der Erträge integrieren, werden größere Arbeiten wie
Dissertationschriften ein eigenes Schlusskapitel vorsehen, in dem einige der zu Anfang dieses
Beitrags genannten zentralen Punkte angesprochen bzw. ‚abgearbeitet‘ werden. Dazu ge-
hören die Frage nach der Reichweite der Studie und ihrer Grenzen; offene Fragen wären hier
zu nennen wie neue Fragen, die sich zukünftiger Forschung stellen. Bei aller notwendigen
kritischen Selbstreflexion sollte der/die Forscher_in sich allerdings nicht scheuen, selbst-
bewusst die eigene Forschungsleistung herauszustellen. Der/die Leser_in sollte mit einem po-
sitiven Eindruck, die Forschungsleistung betreffend, die Lektüre beenden. Welche konkreten
Wege einzelne Forscher_innen einschlagen, um die Zusmammenfassung und Diskussion der
Ergebnisse zu realisieren und wie sie integriert oder separat die Studie mit einer Conlusio
komplettieren, zeigen die Referenzarbeiten in Kapitel 7, die nicht zuletzt auch deshalb als
ermutigende Beispiele zur Lektüre empfohlen werden.

›› Literatur

Bitchener, John (2010). Writing an Applied Linguistics Thesis or Dissertation. A Guide to Presenting
Empirical Research. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Dörnyei, Zoltan (2007). Research Methods in Applied Linguistics. Quantitative, Qualitative and Mixed
Methodologies. Oxford: Oxford University Press.
Holliday, Adrian (2007). Doing and Writing Qualitative Research. 2nd edition. Los Angeles: SAGE.
O’Leary, Zina (2014). Doing Your Research Project. 2nd edition. Los Angeles: SAGE.
Richards, Lyn (2013). Handling Qualiative data. A Practical Guide. 2nd edition. Los Angeles: SAGE.
Silverman, David (2000). Doing Qualitative Reserch. A Practical Handbook. Los Angeles: SAGE.

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6.7 Präsentation von Forschung 393

6.7 Präsentation von Forschung

Friederike Klippel

In den einzelnen Phasen einer Forschungsarbeit verfolgt man mit der Präsentation der ei-
genen Ideen und Ergebnisse unterschiedliche Zwecke und spricht daher andere Personen-
kreise an. Am Ende des Schreibprozesses – so schreiben es die meisten Promotionsordnungen
vor – steht dann die Publikation der Arbeit in digitaler oder Printform.9 Die Wissenschaft
kann sich nur weiterentwickeln, wenn neue Erkenntnisse kommuniziert und für weitere
Forschung nutzbar gemacht werden. Auch die Gesellschaft hat ein Interesse daran, relevante
Forschungsergebnisse zu erfahren, die – im Falle der Fremdsprachendidaktik – beispielsweise
den schulischen Fremdsprachenunterricht, Materialien und Verfahren für die Vermittlung von
Zweitsprachen oder die Lehrerbildung verbessern können, um nur einige praxisrelevante
Aspekte zu nennen. Vor der Veröffentlichung der gesamten Arbeit, zu der im zweiten Ab-
schnitt noch viel gesagt wird, soll es im Folgenden jedoch zuerst um Präsentationen im Ver-
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lauf des Forschungsvorhabens gehen. Dabei wird der Begriff ‚Präsentation‘ weit gefasst und
schließt auch Veröffentlichungen von Teilen des Forschungsprojekts und Gespräche über das
Projekt ein.

6.7.1 Präsentationen während des Forschungsprozesses

1 Im Recherchestadium
Wer ein Forschungsvorhaben beginnt, ist zunächst damit befasst, möglichst breit und genau
die bereits vorhandenen einschlägigen Vorarbeiten und Erkenntnisse zur eigenen Forschungs-
frage zu erfassen. In den ersten Stadien der Literaturrecherche, der Präzisierung der For-
schungsfrage und der Entscheidung für ein bestimmtes Forschungsdesign geht es vor allem
darum, sich selbst klar zu werden, was man wie untersuchen will. In dieser explorativen
Phase kann es nützlich sein, seine Überlegungen im Rahmen eines lokalen Doktorandenkol-
loquiums oder Oberseminars, auch eines fächerübergreifenden, zu erläutern, um von anderen
Feedback und Anregungen zu erhalten. Da alle Teilnehmer in einer solchen Veranstaltung
‚im gleichen Boot sitzen‘, aber bereits unterschiedlich weite Strecken in ihrer Forschung zu-
rückgelegt haben, ist der Diskurs in der Regel sehr konstruktiv und unterstützend. Zugleich
hilft es dem eigenen Denken, wenn man seine Ideen, Fragen und Theorien für ein Publikum
formulieren muss, das zwar mit wissenschaftlichem Arbeiten vertraut, nicht jedoch Experte
für das eigene Thema ist. Nicht zuletzt sind solche Präsentationen für das Arbeitsverhältnis
zum Betreuer wichtig, einerseits um Rückmeldungen zu erhalten, andererseits um ihn oder
sie über die Entwicklung der Arbeit auf dem Laufenden zu halten.

9 Für Bachelor- und Masterarbeiten besteht dieses Erfordernis nicht, denn sie gelten nicht in gleichem
Maße als eigenständige Forschungsleistung, obwohl dies gerade im Fall von Masterarbeiten durchaus
der Fall sein kann. Daher gibt es zunehmend Tendenzen, besonders gelungene Arbeiten z. B. über die
Dokumentenserver der Universitäten oder in Aufsatzform zu veröffentlichen.

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394 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Doktoranden fragen gelegentlich, ab welchem Zeitpunkt sie ihr Thema auf der eigenen
oder der Universitäts-Webseite, in den sozialen Netzwerken, auf Blogs oder bei Umfragen (in
der Anglistik etwa AREAS zu laufenden Promotionen, in der Fremdsprachendidaktik beim
Informationszentrum Fremdsprachenforschung (ifs) an der Universität Marburg) angeben
sollten. Dabei sind einige Aspekte gegeneinander abzuwägen. Auch wenn es sehr unwahr-
scheinlich ist, dass jemand anderes dasselbe Thema ebenfalls für eine Arbeit übernimmt,
so steckt doch in der Formulierung des Themas schon ein gewisses geistiges Eigentum, das
man eventuell schützen möchte, jedenfalls so lange, bis die Arbeit etwas fortgeschritten ist.
Auch mag es ungünstig sein, eine Arbeit zu einem Thema anzukündigen, von der man in
einem frühen Stadium eventuell noch gar nicht weiß, ob sich dazu ausreichend Daten oder
Dokumente werden finden lassen, so dass die Forschungsfrage beantwortet werden kann. Al-
lerdings kann es manchmal auch von Vorteil sein, wenn man ein Thema für sich ‚besetzt‘, d. h.
in der Fachöffentlichkeit als jemand bekannt wird, der/die sich mit einer bestimmten Frage
näher befasst. Das sollte idealerweise jedoch nicht nur durch dessen Nennung auf einer Seite
oder Liste erfolgen, sondern durch einen wissenschaftlichen Beitrag, i. d. R. ein Exposé, einen
Vortrag bei einer Konferenz oder einen Artikel.
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Wenn man sich um ein Stipendium oder die Aufnahme in ein Graduiertenkolleg oder eine
Graduiertenschule bewerben möchte, dann ist es erforderlich, das eigene Forschungsprojekt
in Form eines Exposés, incl. einer (kommentierten) Arbeitsgliederung, eines Literaturver-
zeichnisses sowie eines Arbeits- und Zeitplans zu präsentieren. Das Exposé sollte Angaben
zum Forschungsfeld, zum Forschungsstand, zur Forschungsfrage und zum geplanten For-
schungsansatz enthalten. Es ist dabei allen Beteiligten klar, dass sich Arbeitstitel, einzelne
Abschnitte der Gliederung oder auch der genaue Fokus der Forschungsfrage im Verlauf des
Forschungsprozesses noch ändern können. Ein solches Exposé gibt also Auskunft über das
Projekt auf der Basis des aktuellen Kenntnisstandes, und man braucht weder extrem beschei-
den zu sein noch sollte man das eigene Vorhaben zu vollmundig anpreisen. Zudem erhält man
durch das Feedback der Auswahlkommission wertvolle Hinweise auf das eigene Vorhaben
und dessen eventuelle Schwachstellen.

2 Im Erarbeitungszeitraum
Während der gesamten Entstehungszeit einer wissenschaftlichen Studie kann der Austausch
im Doktorandenseminar hilfreich sein. Hier kann man seinen Forschungsüberblick darbieten,
die für die Pilotierung vorgesehenen Forschungsinstrumente diskutieren oder das durchgese-
hene Daten- oder Dokumentenkorpus vorstellen. Wenn Forschungsfragen und Vorgehens-
weise weitgehend geklärt sind, dann ist der Zeitpunkt gekommen, bei überregionalen oder
interdisziplinären Doktorandentreffen, Workshops oder Nachwuchstagungen zum eigenen
Vorhaben vorzutragen, um von einem weiteren Personenkreis Rückmeldungen zu erhalten
und in den Diskussionen zu ganz anders ausgerichteten Arbeiten etwas zu lernen. Im Be-
reich der Fremdsprachendidaktik gibt es dazu die alle zwei Jahre stattfindende Nachwuchs-
tagung der DGFF; eine Gelegenheit zur forschungsmethodischen Weiterbildung und zur Vor-
stellung der eigenen Arbeit bietet zudem die DGFF Sommerschule, die etwa alle drei Jahre
an wechselnden Universitäten veranstaltet wird. Nachwuchswissenschaftler_innen in der
Fremdsprachendidaktik sind auch bei ähnlichen Workshops und Tagungen der Deutschen

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6.7 Präsentation von Forschung 395

Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), anderer Fachdidaktiken oder in der Sprach-


bzw. Kulturwissenschaft willkommen.
Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten der Präsentation bei solchen Veranstaltungen.
Man kann seine Arbeit im Rahmen eines Vortrags, eines Thesenpapiers, eines Posters oder
einer Powerpoint/Prezi-Präsentation zur Diskussion stellen. Oftmals ist es auch möglich,
eigene Daten in Datensitzungen einzubringen, die im Rahmen von Methoden-Workshops
veranstaltet werden. Welche Form man wählt, hängt dabei sowohl vom Arbeitsstand als
auch von den eigenen Erwartungen an die Rückmeldungen ab, die man sich zu eventuell
bestehenden Fragen oder Problemen erhofft. Es ist sicher sinnvoll, einerseits mit möglichst
klaren Fragen in diese Präsentationen zu gehen („Wozu ich gerne von euch eine Rückmel-
dung haben möchte …“), sie andererseits aber vor allem als Chance dafür zu begreifen, die
eigenen Überlegungen und forschungsmethodischen Entscheidungen auf der Basis der Re-
aktionen anderer (Nachwuchs-) Wissenschaftler_innen erneut zu überdenken. Sich mit den
Fragen und Kommentaren anderer auseinanderzusetzen, muss nicht bedeuten, dass man von
anderen geäußerten Kritikpunkte oder Anregungen in jedem Fall aufnimmt; wichtig ist der
eigene Reflexionsprozess.
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Immer häufiger finden auch in den geisteswissenschaftlichen Fächern Poster-Präsentatio-


nen bei Konferenzen statt, was vermutlich durch die starke Zunahme empirischer Arbeiten
ausgelöst wurde. Poster waren vor einiger Zeit vor allem in den empirisch arbeitenden Na-
tur- und Verhaltenswissenschaften üblich. Bei der Gestaltung eines Posters gilt es – ebenso
wie bei Powerpoint-Präsentationen – der (typo)grafischen, farblichen und der inhaltlichen
Ebene gleichermaßen Aufmerksamkeit zu schenken, um das Projekt optimal zu präsentieren.
Klarheit und Beschränkung auf das Wesentliche sollten die leitenden Gedanken dabei sein.
Das Forschungsprojekt wird so knapp und anschaulich wie möglich dargestellt, so dass das
Poster in etwa fünf Minuten gelesen werden kann. Dabei erfolgt die Leserführung entweder
von links nach rechts (Querfomat) oder von oben nach unten (Hochformat). Die Textteile sind
kurz gehalten; selbst-erklärende Schaubilder oder Grafiken verdeutlichen Zusammenhänge
und/oder Ergebnisse. Über sinnvolle Farbgebung und Fontwahl informiert man sich am bes-
ten auf einschlägigen Webseiten.
Einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit stellt man sich, wenn man in einem fort-
geschrittenen Stadium Näheres zu seinem Forschungsprojekt als Bericht in einer Fachzeit-
schrift, z. B. der Zeitschrift für Fremdsprachenforschung (ZFF) oder Fremdsprachen Lehren
und Lernen (FLUL) veröffentlicht. Ein solcher Schritt sollte jedoch erst erfolgen, wenn man
einen guten Überblick über das betreffende Forschungsfeld gewonnen hat, die Forschungs-
frage und das Design geklärt sind und erste Zwischenergebnisse vorliegen. Während ein
Forschungsbericht in der entsprechenden Rubrik einer Fachzeitschrift klar signalisiert, dass es
sich um ‚work in progress‘ handelt, wird dies bei einem ‚normalen‘ wissenschaftlichen Beitrag
in einer Zeitschrift oder Sammelband i. d. R. weniger deutlich. Möchte man Zwischenergeb-
nisse oder Teile der noch nicht erschienenen Doktorarbeit oder Habilitationsschrift vorab
publizieren, so ist als erstes der Blick in die jeweilige Promotions- oder Habilitationsordnung
sinnvoll, ob solche Vorabpublikation gestattet sind. Selbst wenn es keine offizielle Regelung
gibt, so ist zu überlegen, ob man wichtige Erkenntnisse und Ergebnisse der eigenen For-
schungsarbeit vor der Gesamtveröffentlichung bekannt machen möchte.

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396 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

Manchmal mag es günstig sein, sich frühzeitig als Experte in einem Feld zu melden, oder
man hält die eigenen Forschungsergebnisse für so brisant und interessant, dass man sie vor
dem Abschluss des Verfahrens bereits bekannt machen möchte. Das ist vor allem dann der Fall,
wenn es sich um ein sich rasch entwickelndes aktuelles Forschungsfeld handelt. Allerdings ist
es nicht akzeptabel, lange Passagen aus einem vorab erschienenen eigenen Aufsatz wörtlich
und ohne Verweis auf die frühere Publikation später in der Dissertation zu verwenden. Zwar
handelt es sich bei solch langen Selbstzitaten nicht um ein Plagiat (also einen Diebstahl geis-
tigen Eigentums anderer) im engeren Sinne, da man ja jeweils Autor_in ist, dennoch werden
solche Textübernahmen in den Geisteswissenschaften sehr negativ eingeschätzt. Ist eine Vor-
abpublikation zu einem Forschungsprojekt, an dem mehrere Wissenschaftler_innen beteiligt
sind, unter multipler Autorenschaft erschienen, wäre eine wörtliche Übernahme von langen
Textpassagen unter keinen Umständen angebracht, da es sich um eine gemeinschaftlich ver-
antwortete Publikation und das geistige Eigentum aller Autor_innen handelt.
Der positive Effekt eines vorab publizierten Aufsatzes liegt darin, dass man sich im wis-
senschaftlichen Schreiben übt und auf knappem Raum wesentliche Aspekte des Forschungs-
vorhabens darstellen muss. Im Erfolgsfall schafft das Selbstvertrauen für den Schreibprozess.
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Werden in einem Aufsatz bestimmte Teile des Forschungsprojekts abschließend behandelt,


so kann dies die Fertigstellung der umfassenderen Studie sehr fördern.
Für Habilitationen und – bisher noch selten – für Promotionen besteht die Möglichkeit
der Einreichung einer kumulativen Qualifikationsschrift. Das heißt, dass eine Anzahl von
Aufsätzen (Zahlen schwanken zwischen fünf und zehn) zu einem ihnen gemeinsamen For-
schungsfeld mit verbindenden Textpassagen in der Summe die Dissertation oder Habilitati-
onsschrift darstellen und als äquivalent zu einer Monographie anzusehen sind. Die Aufsätze
müssen i. d. R. bereits in renommierten Fachzeitschriften publiziert oder zur Veröffentlichung
angenommen worden sein. Man geht davon aus, dass das Peer-Review-Verfahren der Zeit-
schriften eine gewisse Qualitätsgarantie darstellt. Im Falle kumulativer Habilitationen oder
Promotionen sind Vorab-Publikationen also Teil der wissenschaftlichen Qualifikation.
Der Schreibprozess selbst unterliegt bestimmten Konventionen, die sprachen- und fächer-
abhängig sind. In vielen deutschsprachigen Handbüchern zum wissenschaftlichen Arbeiten
und Schreiben findet man Hinweise zu Textgestaltung, Formatierung und bibliographischen
Angaben (z. B. Esselborn-Krummbiegel 2012). Zudem existieren an vielen Universitätsinsti-
tuten style sheets oder Vorgaben der Promotionsordnung zur Gestaltung des Manuskripts.
Bislang gibt es nur sehr wenige speziell auf das wissenschaftliche Schreiben in der fremd-
sprachendidaktischen Forschung ausgerichtete Publikationen; diese finden sich vor allem im
englischsprachigen Kontext, etwa Holliday (2012) oder Bitchener (2010): letzterer enthält
für die Darstellung empirischer Arbeiten aus dem Bereich der Applied Linguistics wertvolle
Anregungen und zahlreiche Beispiele.

6.7.2 Präsentationen nach der Fertigstellung der Arbeit

Am intensivsten denkt man über die Präsentation seiner Forschung nach, wenn die Arbeit
fertig geschrieben ist. Zuerst gilt es an vielen Universitäten, die Arbeit im Rahmen einer
Disputation vorzustellen und zu verteidigen. Ein Blick in die Promotionsordnung und das

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6.7 Präsentation von Forschung 397

Gespräch mit dem/der Betreuer_in hilft, die richtige Form zu finden. Mancherorts wird eine
Powerpoint Präsentation erwartet, anderenorts ist sie verpönt. Auch Fokus und Länge variie-
ren, ebenso der organisatorische Rahmen und die Anwesenheit von Zuhörenden aus der Uni-
versität oder darüber hinaus. Immer ist es jedoch erforderlich, die eigene Arbeit knapp und
präzise zusammenzufassen. Weiterhin ist es von Vorteil, in der Präsentation auf die Monita
der Gutachten einzugehen und sich auf diesbezügliche Fragen vorzubereiten.
Nach Abschluss des Verfahrens steht die Frage der Veröffentlichung an. Da es unterschied-
liche Formen und Orte der Publikation gibt, muss man Kosten, Nutzen, Aufwand und Zeit-
rahmen gegeneinander abwägen. Oft schreiben die Promotionsordnungen die Abgabe einer
bestimmten Anzahl von Pflichtexemplaren (je nach Publikationsart) und eine bestimmte Frist
vor, innerhalb derer die Dissertation erscheinen soll (meist ein oder zwei Jahre), damit der/
die Doktorand_in den erworbenen Titel auch führen darf. Man kann daher die Publikation
nicht lange aufschieben, was auch aus anderen Gründen nicht sinnvoll wäre. Denn lässt man
zwischen der Einreichung und der Überarbeitung in Vorbereitung der Veröffentlichung zu
viel Zeit verstreichen, ist es sehr mühsam, sich wieder in die Gedankengänge und Zusam-
menhänge der eigenen Arbeit so weit zu vertiefen, dass man sie sinnvoll (und eventuell unter
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Berücksichtigung der in den Gutachten gemachten Auflagen) in die endgültige Form bringen
kann. Zudem kann sich bei einem aktuellen Thema der Diskussionsstand rasch ändern, so
dass nach einer gewissen Zeit vielleicht einige Teile der Arbeit nicht mehr aktuell sind oder
man sie intensiver überarbeiten muss.
Am günstigsten, schnellsten und billigsten ist die Online-Veröffentlichung auf der Univer-
sitäts-Webseite. Auch dazu muss man den Text erneut im Detail durchgehen, einzelne Passa-
gen gegebenenfalls umarbeiten und gründlich Korrektur lesen. Auf der Universitäts-Webseite
allerdings ist die Arbeit, in die man viele Jahre Mühen investiert hat, für das Fachpublikum
gegenwärtig noch sehr schwer aufzufinden. Bislang werden Online-Veröffentlichungen nicht
systematisch erfasst und auch nicht rezensiert. Damit sind sie für den Fachdiskurs und das
Praxisfeld momentan noch wenig sichtbar. Das könnte sich allerdings mit der Weiterentwick-
lung von Open-Access-Angeboten und Veränderungen im Rezensionswesen bald ändern. Ei-
nige Universitäten verlangen bei einer Online-Publikation zusätzlich die Abgabe von einigen
gedruckten Pflichtexemplaren für die eigene Universitätsbibliothek, die man im Copyshop
herstellen lassen kann.
Der Gang zum Copyshop ist in der Regel die zweit-günstigste Variante, was das Finanzielle
betrifft. Je nach den Regeln der lokalen Promotionsordnungen müssen bis zu über 100 Exem-
plare eingereicht werden, da die eigene Universitätsbibliothek andere Bibliotheken damit ver-
sorgt. Aber auch für diese Art der Veröffentlichung gelten die gleichen Nachteile wie für die
Online-Publikation. Es gibt kein Marketing, keine Rezensionen und keine Wirkung der Arbeit
auf Wissenschaft oder Praxis. Zudem sind die im Copyshop verfügbaren Klebebindungen oft
so wenig haltbar, dass das ‚Buch‘ bei Gebrauch nach einiger Zeit zerfleddert.
Für die Publikation der Forschungsarbeit als Buch bestehen verschiedene Optionen. Eine
Reihe von Verlagen hat sich auf Dissertationen spezialisiert und bietet entweder ein ge-
nerelles Verlagsprogramm, allgemeine Reihen (z. B. Europäische Hochschulschriften) oder
eventuell auch stärker fachbezogenene Schriftenreihen an. Als Autor muss man sein Ma-
nuskript in druckfertiger Form einreichen und dazu eine verlagsspezifische Druckvorlage
berücksichtigen. Da in diesen Verlagen keine fachspezifischen Lektorate zu finden sind, gibt

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398 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

es auch keinerlei inhaltliche Rückmeldung oder ‚Betreuung‘ bei der Manuskripterstellung.


Man ist also für die orthografische und formelle Korrektheit ebenso wie für die inhaltliche
Gestaltung ausschließlich selbst verantwortlich. Für den Druck des Buches in einer üblicher-
weise niedrigen Gesamtauflage (ca. 200–300; einige Promotionsordnungen verlangen eine
Mindestauflage etwa von 150) muss ein Druckkostenzuschuss gezahlt werden, dessen Höhe
nach Umfang des Buches, Bindung und Umschlaggestaltung schwankt, wohl aber meist im
unteren vierstelligen Bereich liegen dürfte. Der Herstellungsprozess dauert meist nur wenige
Wochen, so dass eine rasche Veröffentlichung erfolgen kann. Die Verlage werben auf ihren
Webseiten und durch gedruckte Kataloge für ihr Programm. Allerdings besteht die Gefahr,
dass das Werk im Strom der Neuerscheinungen ‚untergeht‘.
Sichtbarer für die Fachwelt ist eine Veröffentlichung in einer der vielen fremdsprachen-
didaktischen Reihen, die es bei unterschiedlichen Verlagen gibt. Solche Reihen werden von
Universitätsbibliotheken im Abonnement angeschafft und von Zeitschriften für Rezensionen
berücksichtigt. Möchte man sein Werk dort platzieren, muss es von den Herausgeber_innen
der jeweiligen Reihe akzeptiert werden. Das bedeutet auch, dass man abgelehnt werden
kann – etwa wenn das Thema nicht zur Reihe passt oder die Arbeit den Qualitätsansprüchen
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der Herausgeber_innen nicht entspricht – oder dass man nur mit Auflagen angenommen
werden kann. Es ist in den meisten Fällen so, dass der Text der Forschungsarbeit für die
Publikation erneut überarbeitet und gegebenenfalls gekürzt werden muss, denn sowohl die
Kritikpunkte in den Gutachten als auch in den Kommentaren der Reihenherausgeber_innen
müssen aufgegriffen werden, was eine nochmalige gründliche Befassung mit dem Manuskript
erfordert. Zudem gilt es auch hier eine bestimmte Formatvorlage zu beachten, sich gege-
benenfalls um Copyright-Fragen zu kümmern und einen Druckkostenzuschuss zu zahlen.
Wenn das Buch in einer renommierten Reihe akzeptiert wurde, ist es jedoch einfacher, sich
um einen Zuschuss zu den Druckkosten bei der eigenen Universität, bei Stipendien- oder
Drittmittelgebern zu bewerben. Als Teil einer bekannten Schriftenreihe wird das Werk in der
Fach-Community breit rezipiert.
Bei fremdsprachendidaktischen Forschungsarbeiten, die in deutscher Sprache geschrieben
wurden, ist es auch sinnvoll, an weitere, internationale Veröffentlichungen zum eigenen For-
schungsthema in einer anderen Sprache zu denken. Dazu können einzelne Aspekte der Arbeit
fokussiert werden. Eine andere Möglichkeit besteht – je nach Thema – in der Aufbereitung
von (Teil-)Ergebnissen für Lehrerfortbildungen oder Materialien für die Praxis. Da in den
seltensten Fällen alle Überlegungen und Ausarbeitungen, die im Verlauf einer großen For-
schungsarbeit entstehen, letztlich Eingang in die Abschlusspublikation finden, hat man für
eine gewisse Zeit ausreichend Material, um zum Thema der eigenen Forschung mit unter-
schiedlicher Schwerpunktsetzung zu publizieren.
Ist die Promotion oder Habilitation abgeschlossen und das Werk erschienen, liegt es nahe,
seine Arbeit in einschlägigen Listen und Publikationsorganen zu melden. Für die Fremd-
sprachendidaktik ist die auf der Webseite der DGFF geführte Liste der Promotionen und
Habilitationen in den fremdsprachendidaktischen Fächern (s. Sauer-Klippel-Liste der DGFF)
das zentrale Element der Dokumentation; in der Anglistik erscheint jährlich ein Buch mit
Zusammenfassungen von gerade publizierten Monographien (English and American Studies
in German: a Supplement to Anglia; Summaries of Theses and Monographs), die von den
jeweiligen Autoren selbst erstellt werden. Schließlich kann man sein Projekt in der For-

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6.7 Präsentation von Forschung 399

schungsdatenbank des ifs (Informationszentrum Fremdsprachenforschung an der Philipps-


Universität Marburg) als abgeschlossen eintragen und dem ifs nach erfolgtem Druck der
Forschungsarbeit ein Exemplar zukommen lassen, damit es verschlagwortet und in die For-
schungsdatenbank des ifs und automatisch auch in die fächerübergreifende Datenbank „Pro-
motionen und Habilitationen der Bildungsforschung in Deutschland“ (ProHabil) eingepflegt
wird. Wer sich als Mitglied bei der Verwertungsgesellschaft Wort registriert, einem Zusam-
menschluss von Autor_innen und Verlagen, erhält für seine Publikation(en) einmal Tan-
tiemen. Mehrere Hunderttausend Autoren aus allen Bereichen von Literatur, Medien und
Wissenschaft lassen sich von der VG Wort vertreten.
Wissenschaft lebt vom geistigen Austausch, vom Diskurs. Daher ist es für jede/n Forschen-
de/n wichtig, sich mit den Forschungsfragen, den Methoden und Ergebnissen der eigenen
Arbeit einer breiteren (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit zu stellen. Das kann auf sehr unter-
schiedliche Weise geschehen. Aber immer ist es wichtig, dass das, was Forschende schreiben
oder vortragen, für die Zuhörer oder Leser verständlich ist. Denn nur dann können sich diese
mit den Inhalten auseinandersetzen und der Argumentation des/r Forschenden folgen. Die
Verständlichkeit wissenschaftlicher Präsentationen und Texte beruht vor allem auf klarer
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Strukturierung und einer präzisen, jargonfreien Sprache.

›› Literatur

Bitchener, John (2010). Writing an Applied Linguistics Thesis or Dissertation. A Guide to Presenting
Empirical Research. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Esselborn-Krummbiegel, Helga (2012). Richtig wissenschaftlich schreiben. Wissenschaftssprache in Re-
geln und Übungen. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh.
Holliday, Adrian (2012). Doing and Writing Qualitative Research. 2nd edition. Los Angeles: SAGE.
Lobin, Henning (2012). Die wissenschaftliche Präsentation: Konzept – Visualisierung – Durchführung.
Paderborn: Schöningh.

»» Wichtige Webseiten

Hinweise zur Gestaltung von Postern: http://betterposters.blogspot.de/[24. 11. 2015]


Informationszentrum Fremdsprachenforschung: https://www.uni-marburg.de/ifs
Sauer-Klippel-Liste der DGFF: http://www.dgff.de/de/qualifikationsarbeiten.html
Verwertungsgesellschaft Wort: www.vgwort.de

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400 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten

Daniela Caspari

Während auf dem Titelblatt der Dissertations- oder Habilitationsschrift allein der Name des
Verfassers bzw. der Verfasserin steht, erfährt man im Vorwort oder der Danksagung zumeist,
wer noch zu diesem Werk beigetragen hat. Vor den Kolleg/innen, Freund/innen und Familien-
angehören werden zumeist der bzw. die Betreuer/innen genannt. Hinter den meist zwei oder
drei Zeilen Dank verbirgt sich in der Regel eine mehrjährige Beziehung, in der Betreuer/-
innen und Nachwuchswissenschaftler/innen gemeinsam auf dieses Ziel hingearbeitet haben.
Da zu einer erfolgreichen Beziehung immer beide Partner/innen beitragen, wendet sich dieses
Kapitel ausdrücklich an beide.
Sprach man noch vor nicht langer Zeit von „Doktorvater“ bzw. „Doktormutter“, so hat sich
inzwischen der neutralere Begriff „Betreuer“ bzw. „Betreuerin“ durchgesetzt. Er bezeichnet
das professionelle Verhältnis zwischen Promovend/innen bzw. Habilitand/innen und Betreu-
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er/innen, das von einer klaren Rollenverteilung und gegenseitigen Verbindlichkeiten geprägt
ist. Trotz aller offiziellen Leitlinien für ein solches Betreuungsverhältnis (siehe Angaben im
Literaturverzeichnis), hängt die Ausgestaltung dieser meist sehr allgemein gehaltenen For-
mulierungen von der konkreten Situation und von den jeweiligen Personen ab. Eine Einzel-
betreuung wird in der Regel anders ablaufen als die Betreuung in einem Graduiertenkolleg
oder innerhalb eines strukturierten Promotionsprogramms, wo meist mehrere Personen als
Ansprechpartner/innen für die Nachwuchswissenschaftler/innen fungieren; auch kann sich
die Betreuung von wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen anders gestalten als von extern Pro-
movend/innen. Die folgenden Ausführungen betreffen in erster Linie das Betreuungsver-
hältnis zum bzw. zur Hauptbetreuer/in. 10
Das Aufgabenspektrum und die Auffassungen bzgl. der Rolle der Betreuer/in können im
deutschsprachigen Raum vom supervisor der anglo-amerikanischen Universität, bei dem
vor allem die Funktion des Coachens im Mittelpunkt steht, bis zum directeur de recherche
der französischen Universitäten reichen, der klare Vorgaben und Erwartungen an die Pro-
movenden/innen richtet. Umgekehrt können die Erwartungen der Promovend/innen von
engmaschiger Führung bis zu völliger Eigenständigkeit reichen, je nach Persönlichkeit, Er-
fahrung, Vorwissen, sowie wissenschaftlichem und kulturellem Hintergrund. Daher ist es
wichtig, sich rechtzeitig über die gegenseitigen Erwartungen zu verständigen. Diese können
in Form eines schriftlichen Betreuungsvertrages festgehalten werden (s. Angaben im Li-
teraturverzeichnis). Auch wenn der Abschluss eines solchen Vertrages von der Universität
nicht verlangt wird, kann er im Sinne einer verbindlichen Absichtserklärung beider Seiten
sinnvoll sein.

10 In dieses Kapitel sind eine Reihe von Überlegungen aus einem Beitrag von Caspari et al. 2011 eingegan-
gen, in dem sich drei Nachwuchswissenschaftler/innen und zwei Betreuer/innen über die gegenseitigen
Erwartungen an ein gutes Betreuungsverhältnis ausgetauscht haben.

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6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten 401

6.8.1  echselseitige Erwartungen an das


W
Betreuungsverhältnis

Promovend/innen und Habilitand/innen hegen höchst unterschiedliche Erwartungen an ihre


Betreuung. Dies betrifft zum einen die Häufigkeit von Gesprächen bzw. Rückmeldungen.
Sie reicht vom Wunsch nach wöchentlicher Konsultation bis zum nur zweimaligen Treffen:
einmal, um Thema und Titel zu besprechen, und das zweite Mal, um Rückmeldungen zum
fast fertigen Manuskript zu erbitten. Sicher hängt die Häufigkeit individueller Beratungen
vom Stadium der Arbeit und aktuell anstehenden Aufgaben und Fragen ab; grundsätzlich
ist sie immer dann anzuraten, wenn es um Rückmeldung zu größeren Arbeitsphasen oder
um Entscheidungen hinsichtlich neuer Arbeitsschritte geht. Dabei kann die Vorstellung und
Diskussion des aktuellen Arbeitsstandes im Doktorandenkolleg ein individuelles Gespräch
durchaus ersetzen.
Auch in Bezug auf Umfang, Breite und Tiefe der Beratung existieren ganz unterschiedliche
Wünsche. Sie reichen von einer kurzen Bestätigung, dass man sich auf dem richtigen Weg
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befindet, bis zur intensiven Diskussion einzelner Details, von der 15-minütigen Abstimmung
bis zu mehrstündigen tiefen Gesprächen. Auch hier lässt sich keine Regel aufstellen, jedoch
sind die Betreuer/innen vor allem dafür da, bei grundlegenden Fragen zu beraten, nicht aber
dafür, jede einzelne Entscheidung mit abzuwägen. Generell wird bei der Anfertigung einer
Dissertation in der Fremdsprachendiaktik von den Promovend/innen, noch mehr von den
Habilitand/innen, eine hohe Selbständigkeit und Eigenverantwortung erwartet. So gehören
z. B. die Themensuche, Formulierung der Forschungsfrage und Gestaltung des Forschungs-
designs in den Verantwortungsbereich der Promovend/innen; die Betreuer/innen geben hier
lediglich Ratschläge. Auch eine fundierte Diskussion einzelner Details können die Betreuer/-
innen in aller Regel nicht leisten, zumal sie normalerweise nicht so tief in das Thema einge-
arbeitet sind wie die Doktorand/innen selbst.
Grundsätzlich besteht die Aufgabe der Betreuer/innen vor allem darin, die Arbeit als Gan-
zes im Blick behalten. Dazu gehört in erster Linie, bei der Gesamtkonzeption der Arbeit zu
beraten sowie bei der Konzeption der einzelnen Schritte und bei der Besprechung der einzel-
nen Teile ihren jewiligen Beitrag zur Gesamtargumentation einzuschätzen, um so inhaltliche
oder methodische Sackgassen vermeiden zu helfen. Auch Hinweise auf ein angemessenes
Maß (z. B. bzgl. des Literaturberichtes oder der Anzahl der notwendigen Probanden für ein
Experiment) und auf realistische, ‚gangbare‘ Wege sind wichtig, damit die Arbeit in angemes-
sener Zeit bearbeitet werden kann. Und falls man einmal gar nicht weiterkommt, werden die
Betreuer/innen auch akut Hilfe und Ermutigung geben.
Aus den Beispielen wird deutlich, dass beide Seiten sich darüber verständigen sollten,
was sie im konkreten Fall und zum jeweiligen Zeitpunkt für notwendig bzw. angemessen
halten. Dafür sollten sie möglichst klar ihre gegenseitigen Wünsche und Erwartungen kom-
munizieren und gemeinsam überlegen, was wer wann leisten kann. Zu dieser Absprache
gehört auch zu akzeptieren, dass die Betreuer/innen manches nicht für ihre Aufgabe halten.
Die Basis eines gelungenen Betreuungsverhältnisses besteht darin, dass gemeinsam ge-
troffene Vereinbarungen und Absprachen eingehalten werden bzw. dass man sich rechtzeitig
informiert, wenn man sie nicht einhalten kann. Für Promovend/innen ist es z. B. wichtig, dass

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402 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

sie zeitnah Rückmeldung erhalten. Wenn man den vereinbarten Termin als Betreuer/in jedoch
einmal nicht einhalten kann, weil die Betreuung von Nachwuchswissenschaftler/innen nur
einen kleinen Teil der Aufgaben darstellt und daher manchmal unerwartete Termine, wichtige
Projekte, deadlines oder allgemeine Arbeitsüberlastung dazwischen kommen, empfiehlt es
sich, einen neuen, zeitnahen Terminzu vereinbaren.
Für das gegenseitige Verständnis ist weiterhin wichtig, dass das Anfertigen einer For-
schungsarbeit nicht nur für die Promovend/innen einen Lernprozess darstellt, sondern
ebenfalls für die Betreuer/innen, insbesondere wenn Thema oder Forschungsmethode nicht
zu den eigenen Schwerpunkten und Praktiken gehören. In Rücksprache mit dem bzw. der
Hauptbetreuer/in kann es sinnvoll sein, sich bei Expert/innen extern Rat und Hilfe zu holen.
Grundsätzlich ist anzuraten, auch außerhalb des eigenen Institutes bzw. der eigenen Uni-
versität nach Austausch und Anregung zu suchen und sich insbesondere mit anderen Nach-
wuchswissenschaftler/innen zu vernetzen (vgl. auch Kapitel 6.7). Falls man als Promovend/in
dabei durch stark divergierende oder gegensätzliche Rückmeldungen verunsichert wird, sollte
man dies unbedingt mit dem bzw. der Hauptbetreuer/in besprechen – vielleicht muss man
sein Anliegen oder sein Design nur besser ausschärfen oder genauer begründen, vielleicht
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sollte man es aber auch verändern.


Zum Aufbau von Netzwerken ist ebenfalls der Besuch von Kongressen und Tagungen
wichtig. Hierzu können die Betreuer/innen der Forschungsarbeit entsprechende Hinweise
geben. Auch durch Empfehlungen und die Ermutigung zu eigenen Beiträgen und, zumindest
am Anfang, entsprechende praktische Unterstützung können sie den Eintritt der Promovend/-
innen in die scientific community unterstützen.

6.8.2 Praktische Hinweise

Im Vorfeld von Betreuungsgesprächen ist es hilfreich, wenn der Promovend bzw. die Pro-
movendin schriftlich den aktuellen Stand der Arbeit skizziert und die aktuelle Gliederung
(incl. Thema und Forschungsfrage) sowie das Literaturverzeichnis mitschickt. Außerdem ist es
hilfreich, möglichst genau mitzuteilen, was man besprechen möchte. Dies klärt und fokussiert
die eigenen Gedanken und gibt den Betreuer/innen die Möglichkeit, sich vorzubereiten. Bei
der Abgabe von einzelnen Kapiteln ist es ebenfalls sinnvoll, zusätzlich die aktuelle Glie-
derung und das Gesamtliteraturverzeichnis mitzuschicken sowie konkrete Fragen oder Hin-
weise zu formulieren, z. B. „Bitte achten Sie besonders auf …“, „Bitte sagen Sie mir, ob diese
Argumentation stimmig ist.“, „Was steht als nächstes an?“
Es ist verständlich, dass man als Promovend/in nicht nur eine Rückmeldung erhalten
möchte, ob die Arbeit in die richtige Richtung geht, sondern – besonders gegen Ende – auch,
welche Note sie wohl erhalten wird. Dazu kann sich jedoch kein/e Betreuer/in äußern, weil
die Note erst durch die Kommission beschlossen wird. Bei einer sich noch zu entwickeln-
den wissenschaftlichen Arbeit ist es zudem schwierig, Prognosen über die Qualität des zu
erwartenden Gesamtproduktes abzugeben. Die an eine Forschungsarbeit üblicherweise an-
gelegten Qualitäts- bzw. Beurteilungskriterien findet man in den entsprechenden Kapiteln
dieses Handbuches; was davon den Betreuer/innen besondes wichtig ist, erfährt man direkt
oder indirekt im Gespräch und aus den Rückmeldungen zur eigenen Arbeit. In Deutsch-

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6.8 Betreuung von Forschungsarbeiten 403

land ist es in der Regel die gleiche Person, die eine Dissertation als Erstbetreuer/in begleitet
und sie nach dem Abschluss als Erstgutachter/in bewertet. Zwischen diesen beiden Rollen
zu unterscheiden, fällt nicht immer leicht; so darf man als Promovend/in z. B. von einem
freundlichen, zugewandten Verhalten des bzw. der Betreuer/in nicht automatisch auf eine
gute Note schließen. Im Umkehrschluss muss eine zurückhaltende oder kritische Betreuung
nicht bedeuten, dass die Qualitäten der Arbeit beim abschließenden Urteil nicht angemessen
gewürdigt werden.
Da die Note der Dissertationsschrift von der Kommission beschlossen wird, ist es wichtig,
rechtzeitig mit dem bzw. der Hauptbetreuer/in zu beraten, wer als Zweitgutachter/in und –
wenn die Abgabe der Arbeit in Aussicht steht und die Promotionsordnung dies vorsieht – wer
als Kommissionsmitglied in Frage kommen könnte.
Aus den vorstehenden Überlegungen wird deutlich, dass die besondere Beziehung zwi-
schen Betreuer/in und Promovend/in bzw. Habilitand/in von beiden gemeinsam ausgestaltet
werden muss. Eine gute Basis dafür sind – interessanterweise – die gleichen Eigenschaften,
die auch als Gütekriterien an eine wissenschaftliche Arbeit angelegt werden: Kommunikation,
Transparenz, Konsistenz, Ehrlichkeit, Respekt, Rationalität. Dazu kommen ein gegenseitiges
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Grundvertrauen sowie die Verbindlichkeit von Absprachen.

›› Literatur

Caspari, Daniela/Deutsch, Bettina/Küster, Lutz/Plikat, Jochen/Siebel, Katrin (2011). Doktorvater, Dok-


tormutter, Doktorkind: gekreuzte Blicke auf ein nicht unproblematisches Verhältnis. In: Zeitschrift
für Fremdsprachenforschung 22, 243–252.

»» Weiterführende Hinweise

Hochschulrektorenkonferenz (2012). Zur Qualitätssicherung in Promotionsverfahren. Empfehlungen


des Präsidiums der HRK vom vom 23. 4. 2012 an die promotionsberechtigten Hochschulen. http://
www.hrk.de/positionen/gesamtliste-beschluesse/position/convention/zur-qualitaetssicherung-in-
promotionsverfahren/ (29. 11. 2015).
Humboldt-Universität zu Berlin [o. J.]. Betreuungshinweise für Promotionen. https://www.hu-berlin.de/
de/postdoktoranden/forsch/betr_hinw/InfoJournal_all (29. 11. 2015).
Universität Bielefeld Rektorat (2010). Leitlinien der guten Betreuung von Promotionen an der Univer-
sität Bielefeld. https://www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Studium/SL_K5/angebote_promovierende/
LeitlinienBetreuung20 100 510.pdf, (29. 11. 2015).
Wissenschaftsrat (2011). Anforderungen an die Qualitätssicherung der Promotion. Positionspapier.
http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/1704–11.pdf (29. 11. 2015).

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404 6. Etappen im Forschungsprozess: Erfahrungen und Empfehlungen

»» Betreuungsvereinbarung: Empfehlungen und Beispiele

Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) (2014). Empfehlungen für das Erstellen von Betreuungsver-
einbarungen. http://www.dfg.de/formulare/1_90/1_90.pdf (29. 11. 2015).
Universität Erlangen-Nürnberg [o. J.]. Leitfaden zur guten Praxis für die Durchführung und Betreu-
ung einer Promotion. http://www.promotion.uni-erlangen.de/pdfs/Leitfaden%20gute%20Praxis%20​
­Promotion.pdf (29. 11. 2015).
Universität Vechta [o. J.]. Mustervereinbarung zur Betreuung von Doktorandinnen und Doktoranden
(Betreuungsvereinbarung). https://startpage.com/do/dsearch?query=Doktoranden+­Betreuung+Uni
+Vechta&cat=web&pl=opensearch&language=deutsch. (29. 11. 2015)
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7. Referenzarbeiten

In diesem Kapitel sind zwölf Referenzarbeiten erfasst, auf die in verschiedenen Kapiteln des
Handbuchs unter spezifischen methodischen Fragestellungen verwiesen wird. Hier werden
diese Dissertationen als Gesamtstudie kurz vorgestellt, und zwar von den jeweiligen Autor_
innen selbst. Es handelt sich um Zusammenfassungen der Untersuchungen unter metho-
dischen Gesichtspunkten. Sie sollen ein Globalverständnis der Referenzarbeiten ermöglichen,
sodass in anderen Kapiteln ohne weitere Erläuterungen methodische Details daraus auf-
gegriffen werden können. Nach welchen Prinzipien diese zwölf Referenzarbeiten ausgewählt
wurden, ist in Kapitel 1 genauer beschrieben.

Es handelt sich um folgende Dissertationen aus dem Zeitraum 2002–2011:


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Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als
Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr.
Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
Tübingen: Narr.
Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für
Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt.
Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Eine qualitative In-
terviewstudie zum ausbildungsbiographischen Ertrag des assistant-Jahres. München: Langenscheidt.
Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine
empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr.
Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache: zum Nutzen eines Sen-
sibilisierungsunterrichts im ‚DaFnE‘. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. München: Langenscheidt.
Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion ge-
schlechtsspezifischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Narr.
Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht – Eine empi-
rische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen im Unterricht der Klasse 7. Tübingen:
Narr.
Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische
Pädagogik.
Tassinari, Maria G. (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen, Strategien.
Frankfurt/Main: Lang.

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406 7. Referenzarbeiten

Ulrike Arras

Darstellung der Referenzarbeit


Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der
Fremdsprache?

1. T
 hema und Forschungsfragen

Die Leistungsbeurteilung ist neben der Erstellung valider Testaufgaben und der objektiven
Prüfungsdurchführung ein weiterer Gegenstand der Qualitätssicherung einer Prüfung. Denn
die Anforderungen, die in einem Sprachtest gestellt werden, ergeben sich nicht allein aus
den Schwierigkeitsfaktoren der Aufgabenstellung, etwa der Komplexität des Themas, der
erwarteten Textsorte oder den erforderlichen sprachlichen Mittel, sondern auch aus den Beur-
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teilungsmaßstäben. Dabei sind die Konstrukt-konforme Interpretation und die konsistente


Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe für die valide Beurteilung (schriftlicher oder münd-
licher) Prüfungsleistungen entscheidend. Hierzu ist es erforderlich, die mit der Beurteilung
von Prüfungsleistungen betrauten Personen in der Handhabung des Beurteilungsinstrumen-
tariums zu schulen.
Aber selbst bei intensiver Schulung bleibt die Beurteilungsarbeit selbst weitgehend im
Dunkeln. So bedürfen etwa die folgenden Fragen einer genaueren Betrachtung:
• Wie verläuft die konkrete Beurteilungsarbeit? Welche Prozesse lassen sich dabei beobach-
ten?
• Wie wird das Beurteilungsinstrumentarium gehandhabt, das die Institution vorgibt? Wel-
chen Stellenwert haben etwa die Beurteilungskriterien, die in skalierter Form als Raster
für die Beurteilung zur Verfügung stehen?
• Wie werden die vorgegebenen Maßstäbe interpretiert?
• Worauf richtet sich das Augenmerk bei Lektüre und Bewertung?
• Welche Determinanten beeinflussen die Wahrnehmung und damit das Urteil? Welche Text-
faktoren sind ausschlaggebend für ein bestimmtes Urteil? Und vor allem: Welche, von der
eigentlichen Leistung unabhängige, also testkonstrukt-irrelevante, beispielsweise affektive,
Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung?
Die Untersuchung hatte als Grundlage schriftliche Leistungen aus dem Subtest ‚Schriftli-
cher Ausdruck‘ der standardisierten und seit 2001 weltweit administrierten Prüfung ‚Test
Deutsch als Fremdsprache‘. Mit dem TestDaF können ausländische Studierende nachweisen,
dass sie über solche sprachlichen Kompetenzen verfügen, die für ein Hochschulstudium in
Deutschland erforderlich sind. Die schriftlichen (und auch mündlichen) Leistungen werden
von eigens geschulten BeurteilerInnen bewertet. Das Bewertungsverfahren sowie das Beur-
teilungsinstrumentarium sind standardisiert. Leistungen aus dem Prüfungsteil ‚Schriftlicher
Ausdruck‘ werden anhand von neun Einzelkriterien beurteilt, das Beurteilungsverfahren
sieht eine Kombination aus holistischem und analytischem Beurteilungsverfahren vor.

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Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? 407

2. D
 atenerhebung

Die Arbeit bediente sich eines Mehrmethodendesigns auf der Basis von Fallstudien und be­
stand aus zwei Vorstudien und einer Hauptuntersuchung. Die Hauptuntersuchung erhob qua-
litative introspektive Daten zunächst anhand von Laut-Denken-Protokollen mit vier Beurtei­
lerinnen (Primärdaten), die je acht Leistungen aus dem TestDaF-Prüfungsteil ‚Schriftlicher
Ausdruck‘ bewerteten; dies diente der Eruierung spezifischer Beurteilungsstrategien und
-prozesse. Das Verfahren des Lauten Denkens hat sich bereits in ähnlichen Forschungszusam-
menhängen bewährt (etwa Lumley 2005). Denn trotz der Einschränkungen hinsichtlich der
Generalisierbarkeit der identifizierbaren Strategien und Prozesse sind es gerade introspektive
Verfahren, die Einblicke in die individuell geprägten Vorgehensweisen und internen Prozesse
ermöglichen. Introspektion hat im vorliegenden Fall ein breites Repertoire an Strategien und
Strategiebündeln sichtbar machen können.
Zusätzlich wurde zu Übungszwecken die Beurteilung einer Leistung unter Laut-Denken-
Bedingungen vorgeschaltet, um eine gewisse Vertrautheit mit dem ungewohnten lauten Den-
ken zu gewährleisten und zudem korrigierend und kommentierend eingreifen zu können.
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Die Protokolle wurden aufgezeichnet. Am nächsten Tag wurden retrospektive Interviews


mit allen vier Beurteilerinnen durchgeführt, in denen anhand der Audio-Datei der Protokolle
problemzentriert um Kommentierung spezieller Handlungen und Äußerungen zur Beurtei-
lungsarbeit gebeten wurde.
In der Phase der beiden Vorstudien wurden qualitative Daten mittels einer Fragebogen-
erhebung und per problemzentrierter Interviews erfasst und das für die Hauptuntersuchung
entwickelte introspektive Verfahren erprobt. Ziel der Vorstudien war es, zunächst explorativ
Einblicke in die Bewertungsarbeit, ihre Prozesse und spezifischen Schwierigkeiten zu erlangen
und auf dieser Basis die o. g. Forschungsfragen zu fokussieren, methodische Entscheidungen
für die Hauptuntersuchung zu treffen und das Verfahren des Lauten Denkens während der
Beurteilungsarbeit zu testen.

3. D
 atenaufbereitung und Datenauswertung

Alle Daten der Hauptstudie wurden transkribiert. Es handelte sich um nahezu 13 Stunden
Laut-Denken-Protokolle bei vier Versuchspersonen, die je 8 schriftliche Leistungen beur-
teilten, dazu noch knapp 8 Stunden retrospektive Interviews. Die Transkription der Protokolle
erwies sich als aufwendig, weil auch Pausen und Abbrüche abgebildet werden mussten, um
zugrundeliegende Prozesse zu erfassen. Zudem wurden die Laut-Denken-Protokolle seg-
mentiert und kodiert, um möglichst genau die Strategien und deren Prozesshaftigkeit nach-
zuvollziehen. Bei den retrospektiven Interviews hingegen war eine einfache Transkriptions-
weise ausreichend, denn hier sollten lediglich problemzentriert ausgewählte Phänomene aus
den Laut-Denken-Sitzungen näher beleuchtet werden. Der Redefluss in den Interviews war
zudem stringenter, weil die Versuchspersonen nicht (wie im Falle der Laut-Denken-Sitzungen)
zwischen der zu beurteilenden Leistung, den Beurteilungskriterien und dem schriftlichen
Festhalten der Einstufung wechseln mussten.

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408 7. Referenzarbeiten

Die Segmentierung der Verbaldaten aus den Protokollen erfolgte mit dem Ziel Einzel-
handlungen und ihren Prozesscharakter im Verlauf der Beurteilungsarbeit nachvollziehbar
zu machen. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses standen dabei Problemlösestrategien und
die Rolle der Beurteilungskriterien.
Die Entwicklung des Kodiersystems und dessen praktische Anwendung erwiesen sich als
komplex. Mehrfach musste das Kodiersystem verändert und justiert werden, um die eru-
ierten Prozesse und Strategien weitgehend zuverlässig zu erfassen. Zudem erwies sich die
Kodierung selbst als fehleranfällig, denn sie ist in hohem Maße interpretativ, weil ggf. auch
prosodische und implizite Informationen einbezogen werden müssen, was ein manuelles Vor-
gehen erforderlich machte. Zur Erhöhung der Reliabilität wurde deshalb eine Zweitkodierung
im zeitlichen Abstand von ca. drei Monaten durchgeführt.
Die durch Transkription, Segmentierung und Kodierung eruierten Einzelhandlungen wur-
den sodann systematisiert.
Aufgrund der Fülle der Einzelhandlungen und Strategien musste für die Darstellung der
Befunde eine Auswahl vorgenommen werden. Auswahlkriterien waren dabei zum einen
die Dominanz bzw. Frequenz bestimmter Strategien, zum anderen Hinweise auf spezifische
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Problemlöse- und Beurteilungsstrategien. Auf dieser Grundlage wurden zum einen jene
Handlungen interpretiert, die den Umgang mit dem Beurteilungsverfahren sowie die Rolle
der Beurteilungskriterien dokumentieren, zum anderen jene Beobachtungen, die über das
TestDaF-Beurteilungsinstrumentarium hinauswiesen, so z. B. Strategien, die vermutlich auf
zugrundeliegende subjektive Annahmen und auf persönliche Erfahrungen gründen, was sich
oftmals aus den Kommentaren und Bezügen in den Protokollen und in den retrospektiven
Interviews ablesen ließ. Darüber hinaus wurden deskriptive Analysen der Resultate der Beur-
teilungsarbeit vorgenommen und mit den Daten der qualitativen Analysen trianguliert. Bei-
spielsweise wurde die Beurteilungsübereinstimmung zwischen den vier Teilnehmerinnen
analysiert und ihre Leistungseinstufungen in Beziehung gesetzt zur Zeit, die sie für die Beur-
teilung der einzelnen schriftlichen Leistungen benötigten.

4. E
 rgebnisse

Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Beurteilung (schriftlicher) Leistungen eine komplexe
kognitive Handlung darstellt, die aus verschiedenen, sich ergänzenden und aufeinander auf-
bauenden Strategien und Strategiebündeln besteht. Sie werden zum einen von persönlichen
und zum anderen von institutionellen Faktoren geprägt. Persönlichkeitsfaktoren sind bei-
spielsweise individuelle Vorlieben und Erfahrungen, besonders natürlich berufliche Erfah-
rungen im Kontext Sprachunterricht. Andere Strategien hingegen sind durch das Beurtei-
lungsinstrumentarium bestimmt, welches von der Testinstitution vorgegeben wird, etwa das
standardisierte Beurteilungsverfahren oder die Schulungsmaßnahmen, die das Testkonstrukt
und die Beurteilungsmaßstäbe operationalisieren.
Folgende Hauptergebnisse können festgehalten werden:
1. Die Beurteilungsarbeit erfolgt in weitgehend klar trennbaren und interpersonell relevanten
Phasen. Diese sind stark durch die institutionellen Vorgaben geprägt, insbesondere durch

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Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? 409

das vom TestDaF-Institut vorgegebene standardisierte Beurteilungsverfahren, durch das


Beurteilungsinstrumentarium sowie durch entsprechende Schulungen und Monitoring-
Maßnahmen.
2. Eine Vielzahl an Strategien kann eruiert und beschrieben werden. Die Kategorisierung
zeigte, dass sie zum einen auf eigenen, v. a. auch beruflichen, Erfahrungen und subjektiven
Theorien, zum anderen auf die Standardisierung der Beurteilungsarbeit gründen. Meist
treten die Strategien in Clustern auf, d. h. in bestimmten Phasen oder bei bestimmten
Problemen der Beurteilungsarbeit werden bestimmte Strategien eingesetzt, die wiederum
bestimmte Strategien nach sich ziehen.
3. Von besonderer Bedeutung bei der Urteilsfindung ist das Testkonstrukt, auf welches die
Versuchspersonen, auch auf der Basis subjektiver Daten und Hypothesen, referieren. So
wird insbesondere auf die Funktion des TestDaF referiert als Begründung für bestimmte
Leistungseinstufungen, etwa vor dem Hintergrund der Frage, ob ein Text ‚hochschultaug-
lich‘ ist.
4. Als Herzstück der Beurteilungsarbeit erweist sich das Beurteilungsraster, welches die
Maßstäbe in Form von skalierten Leistungsbeschreibungen (Deskriptoren) präsentiert. Es
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wird stark und in unterschiedlicher Weise und Ausprägung frequentiert, ist weitgehend
verinnerlicht und dient den Versuchspersonen als Sprachmaterial für die Formulierung
ihrer Urteile.

Literatur

Arras, Ulrike (2007). Wie beurteilen wir Leistung in der Fremdsprache? Strategien und Prozesse bei der
Beurteilung schriftlicher Leistungen in der Fremdsprache am Beispiel der Prüfung „Test Deutsch als
Fremdsprache“ (TestDaF). Tübingen: Narr.
Lumley, Tom (2005). Assessing Second Language Writing. The Rater’s Perspective. Frankfurt/Main:
Lang.

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410 7. Referenzarbeiten

Christine Biebricher

Darstellung der Referenzarbeit:


Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache

1. T
 hema und Forschungsfragen

Die Studie beschäftigt sich mit dem Lesen der Fremdsprache Englisch an Realschulen. Sie
evaluiert, inwieweit extensives Lesen Auswirkungen auf die Lese- und Sprachkompetenz,
Motivation und Lesesozialisation deutscher Realschüler hat. Im internationalen Kontext wird
extensives Lesen als Möglichkeit gesehen, Lesekompetenz, Motivation und Lesesozialisation
positiv beeinflussen zu können. Dies wird für den deutschen Forschungskontext untersucht.
Den drei 9. Realschulklassen (n = 75), die die Experimentalgruppe bildeten, wurde für vier
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Monate eine englische Klassenbibliothek mit 95 Texten verschiedener Genres und Schwierig-
keitsstufen zur Verfügung gestellt, von denen mindestens vier gelesen werden sollten. Wäh-
rend einer Unterrichtsstunde pro Woche (45 Minuten) wurde still und individuell gelesen,
die Teilnehmer konnten zusätzlich Bücher ausleihen. Die Teilnahme am Leseprojekt war
freiwillig und gelesene Texte wurden nicht im Unterricht besprochen. In den drei Kontroll-
gruppen (n = 85) fand gewöhnlicher Englischunterricht statt. Alle Teilnehmer kamen aus dem
gleichen Schulamtsbezirk in Baden-Württemberg.

Für die Lese- und Sprachkompetenz beantwortete die Untersuchung die folgenden Fragen:
1. Können Schülerinnen und Schüler durch extensives Lesen ihre fremdsprachliche Lesekom-
petenz verbessern?
2. Wirkt sich extensives fremdsprachliches Lesen auf die allgemeine englische Sprachkom-
petenz aus?
3. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in diesen Bereichen?
Für den Bereich der Lesemotivation wurde untersucht:
1. Hat extensives Lesen Auswirkungen auf die Lesemotivation?
2. Verändert sich die englische Selbstwirksamkeitserwartung durch Erfolgserlebnisse?
Für die fremdsprachliche Lesesozialisation wurden folgende Fragen evaluiert:
1. Führt extensives Lesen eine Veränderung im Leseverhalten und in der Einstellung zur
Sprache herbei?
2. Kann die Lesesozialisation durch extensives Lesen unterstützt werden?
3. Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede bei fremdsprachlichem Lesen?
Schließlich wurde insgesamt geprüft, ob sich innerhalb eines kurzen Zeitraums von vier
Monaten Veränderungen in einzelnen Bereichen ergaben.

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Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache 411

2. D
 atenerhebung

Die Untersuchung bediente sich eines quasi-experimentellen Interventionsdesigns mit non-


äquivalenten Kontrollgruppen sowie mit Vorher-Nachher-Messungen. Um die Sprachkom-
petenz vor dem Treatment (extensives Lesen) kontrollieren zu können, wurde jeder Ex-
perimentalgruppe, die durch die Bereitschaft der Lehrer zum Treatment festgelegt wurde,
im Vorfeld eine Kontrollgruppe zugeordnet. Hierzu wurde ein C-Test mit allen Schulen im
Schulbezirk der Experimentalgruppen durchgeführt (19 Klassen, n = 524 Schülerinnen und
Schüler), dessen Ergebnis bezüglich der Durchschnittspunkte, der Varianz innerhalb der Grup-
pe, Gruppengröße und des Geschlechterverhältnisses die Basis für das Matching darstellte.
Als Methoden der Datenerhebung wurden in der Studie im qualitativen Bereich Beobach-
tung, Befragung (Fragebogen und Leitfadeninterview) und impulsgestützte Stellungnahmen
eingesetzt, im quantitativen Bereich ein Teil des Fragebogens und verschiedene Sprachtests.
Vor Beginn des Treatments erfolgte die Erfassung des fremdsprachlichen Leseverstehens der
Experimental- und Kontrollgruppen mit dem Leseteil des standardisierten Sprachtests ‚Pre-
liminary English Test (PET)‘, der dem B1-Niveau des Gemeinsamen europäischen Referenz-
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rahmens entspricht. Zur Erhebung der Lesemotivation und -gewohnheiten erhielten alle
Gruppen einen halboffenen Fragebogen sowie einen geschlossenen Fragebogen zur Selbst-
wirksamkeitserwartung.
Während des Treatments wurden in den Experimentalgruppen drei nicht-standardisierte
Leseproben durchgeführt, in denen das Leseverstehen relativ langer englischer Texte über-
prüft wurde. Die Teilnehmer lasen jeweils ein Kapitel eines Readers und waren aufgefordert,
Informationen zum Inhalt auf Deutsch wiederzugeben oder zu inferieren. Die Jugendlichen
hielten ihre Einstellung zum Leseprojekt und ihre Lesemotivation in zwei impulsgestützten
Stellungnahmen nach drei und nach neun Wochen des Treatments fest. Schließlich gaben alle
am Treatment Beteiligten einen schriftlichen Kurzkommentar in vorgefertigtem Format zu
jedem gelesenen Text ab, der nach Titel sortiert in der Klasse verblieb. Dies diente zur Fest-
stellung der Leseinteressen, aber auch als Leseempfehlung innerhalb der Klassen.
Nach Abschluss des Treatments wurden mit allen Schülerinnen und Schülern der Experi-
mental- und Kontrollgruppen der bereits zuvor eingesetzte C-Test und der Leseteil des PET
durchgeführt. Zusätzlich erhielten alle einen halboffenen, leicht abgewandelten Fragebogen
und erneut den geschlossenen Fragebogen zu Selbstwirksamkeitserwartung. Aus den Ex-
perimentalteilnehmern wurden aufgrund der Ergebnisse aller Instrumente 26 Interviewkan-
didaten ausgewählt, woraus wiederum sechs für Fallbeispiele ausgesucht wurden.

3. D
 atenaufbereitung

Alle eingesetzten Instrumente wurden in einer Pilotphase sowie in einer Vorstudie erprobt,
validiert und teilweise modifiziert. Ergebnisse der Vorstudie führten zu leichten Verände-
rungen in der Hauptstudie. Längere Einträge in ein ‚Reading Notebook‘ erwiesen sich in der
Vorstudie beispielsweise als wenig hilfreich und wurden durch Kurzkommentare zu Texten
ersetzt.

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412 7. Referenzarbeiten

Die Ergebnisse der Sprachtests (C-Test und PET) wurden jeweils getrennt und nach Gruppen
sortiert zur Auswertung in SPSS eingegeben.
Vor der Auswertung der Leseproben stellten drei Englischlehrer schriftlich Antwortmög-
lichkeiten für jede Leseprobe zusammen. Zur höheren Interrater-Reliabilität wurden diese im
Anschluss mit der Untersuchungsleiterin diskutiert und wurde ein gemeinsamer Erwartungs-
horizont und ein Auswertungsschema festgelegt.
Geschlossene Items der verschiedenen Fragebogen wurden in SPSS kodiert, wobei kleinere
Werte geringere Zustimmung bedeuteten (‚trifft nicht zu‘ = 1; bzw. ‚überhaupt nicht‘ = 1).
Offene Items sowie die Inhalte der jeweiligen impulsgestützten Stellungnahmen wurden
elektronisch erfasst und anonymisiert.
Alle durchgeführten Interviews wurden vollständig transkribiert. Da Inhalte im Vorder-
grund der Untersuchung standen, wurde die Darstellung des Gesprächs an die Schriftsprache
angeglichen und dialektale Redewendungen im Transkript geglättet und es wurde ein Post-
Skript zum Interviewpartner angelegt. Alle interviewten Personen wurden pseudonymisiert.
Erstellte Transkriptionen wurden den Interviewpartnern zur kommunikativen Validierung
vorgelegt und daraufhin erfolgte Änderungen wurden in das Transkript eingearbeitet und
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als solche kenntlich gemacht.

4. D
 atenauswertung

Fragebogen: Für geschlossene Items des Fragebogens wurden mit SPSS zunächst Mittelwerte,
Standardabweichungen sowie Häufigkeiten berechnet. Identische Items im Fragebogen vor
und nach dem Treatment wurden im Anschluss mit Hilfe des Wilcoxon-Tests für nichtpara-
metrische Tests auf signifikante Veränderungen im Leseverhalten, der Lesemotivation, der
Lesehäufigkeit und der lesebezogenen Selbstwirksamkeitserwartung geprüft. Offene Items
wurden nach Fragen sortiert und teilweise quantifiziert (z. B. Lieblingsbücher der Klassen-
bibliothek) sowie inhaltlich strukturiert und in ähnliche Themenblocks gruppiert. In einem
nächsten Schritt wurden so entstandene Gruppen unter neuen Kategorien subsumiert. Das
entstandene Kategoriensystem wurde mit Frequenzanalysen und Mittelwerten der geschlos-
senen Items in Beziehung gesetzt und hinsichtlich der Forschungsfragen interpretiert.
Schriftliche Stellungnahmen: Die Aussagen der Teilnehmer waren bereits durch die gege-
benen Impulse (Aufgaben) vorstrukturiert. Beide Stellungnahmen wurden in ähnlicher Weise
wie der Fragebogen ausgewertet.
Interview: Durch den Leitfaden war das Interview zwar bereits in Themenbereiche ge-
gliedert, doch wurde es in einem ersten Schritt daraufhin durchgesehen, ob andere Themen an
weiteren Stellen des Interviews angesprochen wurden. Nach der inhaltlichen Strukturierung
wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Aussagen der Interviewten herausgearbeitet
sowie verschiedene Kategorien, die zu den Ergebnissen der Fragebogen und schriftlichen
Stellungnahmen in Beziehung gesetzt und interpretiert wurden.
Fallbeispiele: In Anlehnung an thematisches Kodieren wurden einzelne Fälle nach be-
stimmten Kriterien ausgewählt und analysiert (criterion sampling). Zur Auswertung dieser
sechs Fallbeispiele wurden alle verfügbaren Daten herangezogen.

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Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache 413

Sprachtests: Zunächst wurde versucht, die interne Validität durch die Parallelisierung
der Experimental- und Kontrollgruppen zu erhöhen und personengebundene Störvaria-
blen gering zu halten. Sequenzeffekte wurden durch den relativ großen zeitlichen Abstand
limitiert. Nachdem die drei parallelisierten Experimental- und Kontrollgruppen-Paare auf
Varianzhomogenität überprüft worden waren, wurden die Ergebnisse des C-Tests (Indikator
Sprachkompetenz) und des PET-Leseteils (Indikator Lesekompetenz) mit einer univariaten
Varianzanalyse (Analysis of Variance = ANOVA) mit Messwiederholung berechnet, um sig-
nifikante Veränderungen zwischen Test- und Kontrollgruppen, dem Prä- und Post-Test und
einem Effekt des Treatments feststellen zu können.
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Abbildung 1: Forschungsdesign

5. E
 rgebnisse

Bezüglich der Forschungsfragen, ob extensives Lesen sich auf die fremdsprachliche Lese-
kompetenz und die allgemeine Sprachkompetenz auswirkt und ob es geschlechtsspezifische
Unterschiede hierzu gibt, zeigte die Untersuchung, dass extensives Lesen zur verbesserten
Lesekompetenz beitrug, dass die allgemeine Sprachkompetenz in zwei der drei Gruppen
signifikant anstieg und Mädchen häufig die besseren Ergebnisse in beiden Bereichen erziel-
ten. Extensives Lesen hatte in der Untersuchung signifikante positive Auswirkungen auf die
Lesemotivation, während die Motivation der Kontrollgruppen kontinuierlich abfiel. Exten-
sives Lesen förderte die Wertschätzung englischer Texte und leistete somit einen Beitrag zur
Lesesozialisation. Tendenziell lasen Mädchen mehr und mit höherer Motivation. Allerdings
ließ die Untersuchung keine eindeutigen Schlussfolgerungen über die Zusammenhänge von
Lesemotivation und Lesekompetenz zu. Erhöhte Lesemotivation hatte nicht unbedingt ein
besseres Ergebnis im Lesetest zur Folge, wie beispielsweise die Ergebnisse vieler Jungen
bestätigten. Umgekehrt konnten vereinzelt verbesserte Leistungen erzielt werden, obwohl
kaum Lesemotivation bestand. Auch ein Zusammenhang von Lesemenge, Lesemotivation
und Leseverstehen reichte nicht als Erklärung für die Ergebnisse der Tests aus.

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414 7. Referenzarbeiten

Obgleich der gewählte multiperspektivische Ansatz der Untersuchung mit seiner Vielzahl
an Erhebungsinstrumenten notwendig erschien, bliebe zu bedenken, ob dies nicht zu einer
Testermüdung bei den Teilnehmern führte. Beispielsweise hätte auf Leseproben und einen
der Fragebogen zur Selbstwirksamkeitserwartung verzichtet werden können. In zukünftigen
Forschungen wäre zu untersuchen, ob sich regelmäßiges extensives Lesen über einen längeren
Zeitraum, beispielsweise über ein Schuljahr hinweg, positiv auf Lese- und Sprachkompetenz
sowie Lesemotivation auswirkt ebenso wie die Zusammenhänge von Lesemotivation und Le-
sekompetenz in der Fremdsprache genauer zu erforschen wären. Kritik an extensivem Lesen
als lediglich input ohne erwarteten output legt Forschungen nahe, die sich mit extensivem
Lesen einschließlich Aufgaben dazu beschäftigen und Auswirkungen auf die Lesekompetenz
und -motivation untersuchen.

Literatur

Biebricher, Christine (2008). Lesen in der Fremdsprache. Eine Studie zu Effekten extensiven Lesens.
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Tübingen: Narr.

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Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation 415

Sabine Doff

Darstellung der Referenzarbeit:


Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition
und Innovation

1. T
 hema und Forschungsfragen

Gegenstand der Dissertationsschrift ist der Unterricht in den neueren Fremdsprachen (Franzö-
sisch und insbesondere Englisch) für Mädchen im 19. Jahrhundert in Deutschland. Der Fokus
liegt auf der Methodik des Englischunterrichts an höheren Mädchenschulen bis zum Beginn
des 20. Jahrhunderts; das Phänomen wird im ideengeschichtlichen (Kapitel 1: ‚Ideengeschicht-
liche Grundlagen: Deutsche Entwürfe von Weiblichkeit und Bildung‘), sozialhistorischen (Ka-
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

pitel 2: ‚Sozialhistorische Aspekte der weiblichen Bildungsfrage: Die Frauenbewegung‘) und


bildungshistorischen (Kapitel 3: ‚Entwicklung des höheren Mädchenschulwesens in Deutsch-
land‘) Kontext verortet. Zugrunde liegt die These, dass die bis heute viel diskutierte markante
Affinität von Mädchen und Frauen zu den neueren Fremdsprachen (vgl. Kapitel 4: ‚Die Eng-
lischlehrerinnen‘) wesentlich die methodische Ausgestaltung des Unterrichts in diesen Schul-
fächern sowie dessen didaktische Ausrichtung (Kapitel 5: ‚Geschichte des Faches Englisch und
seiner Didaktik im Kontext der weiblichen Bildung‘) über den Untersuchungszeitraum hinaus
prägte. Die Arbeit nähert sich dem Untersuchungsgegenstand in der Schnittmenge zwischen
Fremdsprachendidaktik, Historischer Bildungsforschung und Genderforschung.

2. Z
 usammenstellung der Dokumente

Dieser interdisziplinäre Ansatz spiegelt sich in der Zusammenstellung der Dokumente: Be-
rücksichtigt wurden neben Standardwerken zur deutschen Bildungsgeschichte die gehäuft im
letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entstandenen Quellensammlungen zur weiblichen Bil-
dungsgeschichte. Daneben wurden weitere, bis dato nicht in diesem Umfang berücksichtigte
historische Originalquellen in großem Umfang herangezogen. Dazu gehören vorrangig im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erschienene einschlägige Zeitschriften, u. a. zum Fremd-
sprachenunterricht und zur weiblichen Bildung, sowie Schulprogrammschriften. Bei letzteren
handelt es sich um jährliche Veröffentlichungen von Einzelschulen, die im 17. und 18. Jahr-
hundert ursprünglich das Programm der öffentlichen Prüfung enthielten; ab der Mitte des
18. Jahrhunderts wurde häufig eine wissenschaftliche Abhandlung (z. B. über das Lehren und
Lernen von Fremdsprachen) beigefügt. Seit dem 2. Viertel des 19. Jahrhunderts enthielten
diese Schriften ferner einen Bericht über das vergangene Schuljahr. Bei den Zeitschriften
wurden schwerpunktmäßig diejenigen ausgewählt, die für die Entwicklung des höheren
Mädchenschulwesens von Bedeutung waren. Insgesamt neun Zeitschriften (u. a. ‚Die Lehrerin
in Schule und Haus‘, Leipzig, ab 1849 sowie ‚Die Mädchenschule‘, Bonn: Weber, ab 1888)

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416 7. Referenzarbeiten

wurden innerhalb des Untersuchungszeitraums einer vollständigen Durchsicht unterzogen,


v. a. im Hinblick auf Fragen, die den Fremdsprachenunterricht betreffen. Daneben wurde
eine möglichst vollständige Berücksichtigung der Schulprogrammschriften des 19. Jahrhun-
derts aus allen deutschen Ländern angestrebt, die sich auf den Fremdsprachenunterricht,
­insbesondere den für Mädchen, im Kontext der höheren Bildung beziehen. Grundlage der
Recherche der Schulprogrammschriften waren existierende einschlägige Bibliographien sowie
die (Online-)Kataloge der Staatsbibliotheken in München und Berlin. Es stellte sich dabei
heraus, dass die Quellenlage für Schulprogrammschriften insbesondere für den Fremdspra-
chenunterricht an höheren Mädchenschulen in Preußen besonders günstig ist. Einbezogen
wurden ferner relevante Stundentafeln und Curricula für den Sprachenunterricht an höheren
Schulen sowie Lehrbücher und andere Unterrichtsmaterialien des Untersuchungszeitraums,
die explizit für den neusprachlichen Unterricht für Mädchen erstellt wurden.

3. Interpretation der Dokumente


Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Im ersten Schritt wurden die herangezogenen Quellen zunächst nach ihren formalen Merk-
malen (äußere Quellenkritik) sowie nach dem Aussagewert ihres Inhalts (innere Quellen-
kritik) analysiert. Die wichtigsten Analyseschritte der äußeren Quellenkritik waren die Kritik
der Provenienz, Echtheit und Originalität. Bei der inneren Quellenkritik erwiesen sich als
zentrale Analysekriterien der Standpunkt bzw. Horizont der Autor/innen sowie der Kontext
der jeweiligen Quelle.
Der Anspruch bei der Interpretation der Dokumente war, den Zeitgeist der untersuch-
ten Periode zu verstehen sowie die kulturelle Atmosphäre einzuschätzen, um den Unter-
suchungsgegenstand auf diesem Hintergrund adäquat analysieren zu können. Grundlegende
Deutungsmuster für die Interpretation bildeten zwei Prämissen: Erstens wurde dem politi-
schen, ökonomischen und sozialen Bezugsrahmen hohe Bedeutung für die Untersuchung des
Ausschnitts der (weiblichen) Bildungsgeschichte zugewiesen. Im Umkehrschluss gilt, dass
Schul- und Bildungsgeschichte neue Sichtweisen auf politische, ökonomische oder kulturelle
Geschichte ermöglichen. Zweitens wurde eine teleologische Entwicklung von Geschichte de-
zidiert abgelehnt, d. h. es wurde nicht davon ausgegangen, dass Reformen im Fremdsprachen-
unterricht automatisch mit Fortschritt gleichzusetzen sind. Im Umkehrschluss werden zeitlich
frühere Konzepte und Methoden nicht automatisch als defizitär, jüngere nicht automatisch
als überlegen begriffen.
Die Standardwerke zur deutschen Bildungsgeschichte sowie Quellensammlungen zur
weiblichen Bildungsgeschichte wurden zur Kontextualisierung herangezogen, dienten also
insbesondere der ideengeschichtlichen und sozialhistorischen Einbettung des Untersuchungs-
gegenstandes. Es stellte sich dabei heraus, dass erstere das höhere Mädchenbildungswesen
nicht selten stiefmütterlich behandeln und dass letztere – was als korrespondierende Entwick-
lung dazu aufgefasst werden kann – vielfach als Teil der Genderforschung im letzten Drittel
des 20. Jahrhunderts aufgefasst werden können. Dies galt es, bei der Interpretation dieser
Dokumente entsprechend zu berücksichtigen.
Auf der Grundlage des umfangreichen Quellenmaterials kann die Vielschichtigkeit eines
lange gewachsenen und bis heute andauernden historischen Prozesses dargestellt werden.

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Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation 417

Interpretiert wurden die Quellen ausgehend von den erläuterten generellen Grundannahmen
sowie von der oben genannten spezifischen These. Letztere diente in einem zyklischen Prozess
im Laufe des Quellenstudiums als Grundlage für die Auswahl und Bewertung von Quellen;
sie wurde parallel dazu immer weiter ausdifferenziert, wenn sich aus den Quellen neue
Erkenntnisse ergaben. Ziel dieses hermeneutischen Vorgehens war es, durch das Zusammen-
spiel von Fragestellung und Quellenarbeit Einsichten in historische Begründungszusammen-
hänge, Denkweisen und Ereignisse zu gewinnen. Als für den Untersuchungsgegenstand be-
sonders lohnenswerte Quellen erwiesen sich die Schulprogrammschriften sowie einschlägige
Zeitschriftenbeiträge. Gerade in letzteren hatten auch die beteiligten Frauen selbst die seltene
Chance, ihren Standpunkt darzulegen.

4. E
 rgebnisse

Die den Ausgangspunkt für die Arbeit bildende These wurde bestätigt und konnte ausgewei-
tet werden.
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Die Ergebnisse zeigen, dass nicht nur die Inhalte und Lehrpläne, sondern auch die in Schul-
programmschriften und Zeitschriften dokumentierte Didaktik der neueren Fremdsprachen im
19. Jahrhundert eine mitunter erhebliche Abweichung von den dominanten didaktischen An-
sätzen in den klassischen Sprachen zeigten. Diese spezifische, d. h., stark verkürzt gesprochen,
im Wesentlichen auf die mündliche Sprachfertigkeit fokussierte Ausrichtung der Neuspra-
chendidaktik wurde in der Regel an höheren Mädchenschulen von Lehrerinnen unterrichtet,
fernab von staatlicher Regulierung und Normierung. Der Staat zeigte an der Regulierung des
höheren Mädchenschulwesens bis zum letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nur sehr geringes
Interesse, was dazu führte, dass Mädchenschulen eine Art didaktisches Experimentierfeld
boten, in dem die Erprobung von Innovationen leichter möglich war als im staatlichen Re-
gelschulsystem für Knaben.
Über die Ausgangsfragen hinaus konnte gezeigt werden, dass die Anforderungen an Lehr-
kräfte in den neueren Sprachen sich sukzessive wandelten (z. B. der wachsende Anspruch an
die Sprachkompetenz der Lehrkräfte). Dieser Wandel begünstigte die während des 19. Jahr-
hunderts vom universitären Studium ausgeschlossenen Frauen in diesem Beruf stark, da sie
anstelle von oder zusätzlich zum Lehrerinnenseminar längere Auslandsaufenthalte vorzugs-
weise in England oder/und Frankreich realisierten. Die Untersuchung legt mit diesem Teil-
ergebnis nahe, dass die neueren Fremdsprachen die Fächer waren, die den Lehrerinnen den
Weg in das höhere (Regel-)Schulwesen ermöglichten.
Somit konnte sowohl in personeller als auch in inhaltlicher Hinsicht eine spezifisch weib-
lich geprägte Neusprachendidaktik nachgewiesen werden.
Durch die ab 1880 einsetzende Neusprachliche Reformbewegung, die nicht wenige mar-
kante Überschneidungen mit dieser weiblichen Tradition des Fremdsprachunterrichts zeigte,
erhielt dieses Konzept eine theoretisch fundierte Grundlegung. Die Ergebnisse legen nahe,
dass beide Strömungen in vielerlei Hinsicht auf das gleiche Ziel – primär die Stärkung der
Mündlichkeit – hinwirkten; inhaltliche Ergänzungen in zentralen Punkten sowie personelle
Überschneidungen (viele Neusprachenreformer waren zumindest zeitweise an höheren Mäd-
chenschulen tätig) ermöglichten eine wirksame Durchsetzung von methodisch-didaktischen

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418 7. Referenzarbeiten

Neuerungen in einem Fremdsprachenunterricht im höheren Mädchen- und mit einiger Ver-


zögerung sowie abgeschwächt auch im höheren Knabenschulwesen.
Die Einflüsse dieser Tradition reichen bis über den Untersuchungszeitrahmen hinaus; viele
ihrer Leitlinien erwiesen sich als für den heutigen Fremdsprachenunterricht aktuell – wenn
auch unter veränderten Vorzeichen. Der in dieser Arbeit ausschnitthaft geleistete Blick in
die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts verdeutlicht, dass eine kritische historische
Betrachtungsweise der Brüche und Konstanten durchaus Hilfestellungen für ein wacheres
Verständnis gegenwärtiger Problemstellungen und aktueller Herausforderungen liefern kann.

Literatur

Doff, Sabine (2002). Englischlernen zwischen Tradition und Innovation. Fremdsprachenunterricht für
Mädchen im 19. Jahrhundert. München: Langenscheidt.
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Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung 419

Susanne Ehrenreich

Darstellung der Referenzarbeit:


Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und
Fremdsprachenlehrerbildung

1. T
 hema und Forschungsfragen

Ausgangspunkt der Studie war folgende vorläufige Forschungsfrage: (Inwiefern) Ist das
Fremdsprachenassistenten-Jahr ertragreich für angehende FremdsprachenlehrerInnen? Da
es keine soliden Voruntersuchungen zum Thema gab, war die Durchführung einer explorati-
ven Studie qualitativen Zuschnitts angezeigt. Diese methodologische Entscheidung brachte
recht unmittelbar eine Neuakzentuierung mit sich. Schon die ersten Interviewdaten zeigten
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

deutlich, dass die vorläufige Fragestellung normativ verkürzt, d. h. auf die Relevanz des As-
sistentenjahres für die Lehrerbildung ausgerichtet war. Darüber hinaus mussten jedoch auch
die subjektiven Bedeutungszuschreibungen der Akteure berücksichtigt und aus einer phä-
nomenologischen Perspektive ergänzt werden. Die für die Datenauswertung maßgeblichen
Einzelfragen lauteten daher:
1. Wie stellt sich ein Auslandsaufenthalt als Fremdsprachenassistent/in (FSA) in einem eng-
lischsprachigen Land aus der Perspektive der Beteiligten dar?
2a. Wie bewerten die Beteiligten Ertrag und Auswirkung ihres Auslandsaufenthaltes als
deutsche/r FSA in einem englischsprachigen Land?
2b. Wie sind Ertrag und Auswirkung eines Auslandsaufenthaltes als FSA in einem englisch-
sprachigen Land im Licht der Lehrerbildung zu bewerten?
3. Welche Implikationen birgt die Gegenüberstellung dieser beiden Perspektiven im Blick
auf Ausbildungsinhalte und Struktur der Fremdsprachenlehrerbildung?
Die konzeptuelle Integration der phänomenologischen und der evaluativen Perspektive auf
das Assistentenjahr gelang mithilfe des entwicklungstheoretisch ausgerichteten berufsbio-
graphischen Ansatzes von Terhart (2001). Als Gütekriterien wurden die Kriterien der inter-
subjektiven Nachvollziehbarkeit und der Indikation des Forschungsprozesses angelegt.

2. D
 atenerhebung

Für die Erforschung der Wirksamkeit eines Ausbildungsabschnitts wäre die Durchführung
einer Langzeitstudie ideal. Aus Gründen der Machbarkeit war in diesem Fall jedoch eine
Querschnittsuntersuchung angezeigt; die Frage, ob und inwiefern sich die Bewertung des
Ertrags des assistant-Jahres in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausbildungsphase unter-
scheidet, wurde über die kriteriengeleitete Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe
gelöst. Folgende Strategien wurden hierzu kombiniert: die Berücksichtigung quantitativer

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420 7. Referenzarbeiten

Angaben zur Population, die gezielte und die theoretische Auswahl (vgl. Silverman 2000:
104). Damit bestimmten sechs Kriterien die Auswahl der UntersuchungsteilnehmerInnen:
die Ausbildungs- bzw. Berufsphase zum Zeitpunkt des Interviews, das Geschlecht, das Her-
kunftsbundesland, das Zielland, die subjektive Bewertung der Fremdsprachenassistenz sowie
die Aufenthaltsdauer bzw. frühzeitige Rückkehr. Der Feldzugang erfolgte über ein multiples
Schneeballsystem, bei 22 Befragten war eine theoretische Sättigung erreicht.
Als Datenerhebungsinstrument wurde das Interview gewählt, weil es u. a. eine gewisse
‚Hebammenfunktion‘ der Forscherin bei der Ko-Konstruktion der Daten ermöglicht. Für die
Entwicklung der Interviewform war die Balance zwischen Offenheit und Strukturierung
leitend, zum Einsatz kam daher das ‚teilstrukturierte Leitfadeninterview mit Erzählimpulsen‘.
Zur Kontextualisierung der Interviewsituation wurden vor dem Interview relevante Anga-
ben zur Person erfasst, Informationen zum Interviewverlauf wurden in einem Postskriptum
festgehalten. Der Interview-Leitfaden gliederte sich in eine offene Eingangsfrage nach der
wichtigsten Erfahrung während des assistant-Jahres und in die thematischen Bereiche Per-
son, Sprache, Interkulturelles Lernen, Schule und Unterricht sowie einige Ausblicksfragen.
Die Abfolge der Fragen wurde größtenteils durch die InterviewpartnerInnen bestimmt. Nach
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

vier Pilotinterviews wurde der Leitfaden ohne große Veränderungen für die Gesamtstudie
übernommen. Die Interviewgespräche wurden von der Forscherin über einen Zeitraum von
sieben Monaten durchgeführt und dauerten durchschnittlich je einhundert Minuten.

3. D
 atenaufbereitung

Für die Transkriptionsregeln galt das Prinzip der guten Lesbarkeit, wodurch gleichzeitig der
forschungsethische Anspruch einer fairen Repräsentation der Befragten erfüllt wurde. Die
Transkriptionen wurden von der Forscherin durchgeführt; die anonymisierten Transkripte
wurden im Zuge des member check von den Interviewpartnern gegengelesen und anschlie-
ßend in das Textmanagement-Programm MAXQDA importiert.

4. D
 atenauswertung

Für das Auswertungsdesign wurden kategorisierende Verfahren (vgl. den Ansatz der Groun-
ded Theory von Glaser/Strauss 1967) mit sequentiellen Analyseverfahren kombiniert. Darü-
ber hinaus wurde nicht nur darauf geachtet, was gesagt, sondern auch darauf, wie etwas ge-
sagt wurde (vgl. Freeman 1996). Die Auswertung erfolgte in folgenden fünf Arbeitsschritten:
1. Materialbezogene Kategorienbildung und Entwicklung einer Inhaltsübersicht: Die inten-
sive Lektüre und Interpretation von zunächst drei Interviewtexten diente der Entwicklung
der Auswertungskategorien. Diese wurden zum einen datenbasiert gebildet, zum anderen
in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur, dem Interviewleitfaden und dem kon-
zeptuellen Bezugsrahmen der Studie. Ein erstes Netzwerk dieser Kategorien wurde erstellt
und als zusätzliches Arbeitsinstrument wurde ein mehrteiliges Überblicksschema für die
Einzelinterviews entwickelt.

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Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung 421

2. Konstruktion und Erprobung des Kategoriensystems: Anschließend wurden die vorläufig


entwickelten Kategorien zu einem hierarchisch angelegten Kategoriensystem (Codesystem)
angeordnet und in die Software MAXQDA importiert. Einige Kategorien wurden dabei
mit so genannten Code-Memos versehen. Im Zuge der – nun elektronischen – Codierung
zweier weiterer Interviewtexte wurde das vorläufige Codesystem auf seine Reichweite und
Flexibilität geprüft und minimal modifiziert.
3. (Vergleichende) Einzelfallanalyse und Codierung sämtlicher Interviewtexte: In dieser mul-
tifunktionalen Arbeitsphase wurde codierend am Einzeltext und zunehmend auch text-
übergreifend und -vergleichend gearbeitet. Insgesamt bewährte sich das System mit seinen
350 Kategorien in der Anwendung auf alle Texte. Die Memo-Funktion des Programms
wurde genutzt, um Ankerbeispiele, Literaturhinweise und insbesondere erste textüber-
greifende theoretische Bezüge zu dokumentieren. Zusätzlich wurde für jedes Interview die
oben genannte Inhaltsübersicht erstellt.
4. Synoptische Themenanalyse: Hier erfolgte die synoptische Datenanalyse, bei der über die
Programmfunktion des Text-Retrievals alle einer Kategorie zugeordneten Textstellen ver-
gleichend analysiert, in ihrer empirischen Ausprägung bewertet und interpretiert wurden.
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Narrative Passagen wurden entsprechend ausgewertet.


5. Textimmanente und -übergreifende axiale Themenanalyse mit dem Ziel der Theorieent-
wicklung: In Schritt 3 und 4 kristallisierten sich zentrale Kategorien heraus, die in ihrem
axialen Zusammenhang zu analysieren waren (vgl. Strauss/Corbin 1990: 114). Dabei wur-
den Ursachen, Bedingungen, Korrelationen und Konsequenzen bestimmter Phänomene
textimmanent und -übergreifend zueinander in Beziehung gesetzt. Weitere theoretische
Rahmenkonzepte umfassten Entwicklungsverläufe, Identitäten sowie die von ehemaligen
AssistentInnen geteilten Relevanzsysteme.

5. E
 rgebnisse

Die Erwartungen an das FSA-Jahr einerseits und die retrospektiv erfolgten Interpretatio-
nen prägen als subjektive Relevanzen die Bewertung des jeweils Erlebten. Persönliches tritt
während des Jahres und im Rückblick stark in den Vordergrund, die Fremdsprache – in der
Regel das Hauptmotiv für den Aufenthalt – bekommt in der Gesamterfahrung eine neben-
geordnete Rolle zugewiesen. Der (inter-)kulturelle Bereich bleibt zeitübergreifend von zen-
traler Bedeutung, wird aber von ambivalenten Erträgen bestimmt. Schule und Unterricht
im Zielland geben häufig Anlass zu Enttäuschung. Im Ergebnis zeigt die Studie, dass die
durch Mythen des ‚Sprach- und Kulturbades‘ verklärte Sicht auf den Auslandaufenthalt auf-
zugeben ist. Dieser ist vielmehr als spezifischer Lernort zu begreifen, den es vorzubereiten,
zu strukturieren und zu reflektieren gilt.

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422 7. Referenzarbeiten

Literatur

Ehrenreich, Susanne (2004). Auslandsaufenthalt und Fremdsprachenlehrerbildung. Das assistant-Jahr


als ausbildungsbiographische Phase. München: Langenscheidt.
Freeman, Donald (1996). ‚To take them at their word‘: Language data in the study of teachers’ knowled-
ge. In: Harvard Educational Review 66, 732–761.
Glaser, Barney/Strauss, Anselm (1967). The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative
Research. Chicago: Aldine.
Silverman, David (2000). Doing Qualitative Research. A Practical Handbook. London: Sage.
Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1990). Basics of Qualitative Research. London: Sage.
Terhart, Ewald (2001). Lehrerberuf und Lehrerbildung. Forschungsbefunde, Problemanalysen, Reform-
konzepte. Weinheim: Beltz.
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Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule 423

Johanna Hochstetter

Darstellung der Referenzarbeit:


Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz
im Englischunterricht der Grundschule

1. T
 hema und Forschungsfragen

Im Fremdsprachenunterricht der Grundschule stehen die mündlichen Kompetenzen Hör-


verstehen und Sprechen im Mittelpunkt. Um mündliche Kompetenzen gezielt fördern zu
können, müssen im Unterricht immer wieder die bereits erworbenen Kompetenzen in diesem
Bereich festgestellt und analysiert werden. Im Sinne eines adaptiven Unterrichts, der die
individuelle Förderung der Lerner zum Ziel hat, dient eine solche Analyse als Ausgangspunkt
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

für differenzierte Unterrichtsangebote und erfordert diagnostische Kompetenz der Lehrenden.


Mündliche Kompetenzen lassen sich insbesondere in dieser Altersstufe nicht mit klassischen
paper-and-pencil-Testformaten erheben, sie sind aber der direkten Beobachtung zugänglich.
Ein Hilfsmittel für die systematische Beobachtung sind strukturierte Beobachtungsbögen.
Für die Untersuchung stellten sich damit zwei Aufgaben: die Entwicklung von Beobach-
tungsbögen für das Fach Englisch in der Grundschule und die Erprobung dieser Bögen. Für
die Entwicklung der Beobachtungsbögen lauteten die zentralen Fragen, welche Beobach-
tungskriterien für welche Art von Aufgaben sich eignen und in welcher Weise eine Abstufung
im Grad des Könnens (Skalierung) beobachtbar ist.
In der Erprobungsphase standen zwei weitere Forschungsfragen im Zentrum der Unter-
suchung. Zum einen sollte untersucht werden, inwieweit verschiedene Lehrkräfte Sprach-
produktions- und/oder -rezeptionsleistungen ein und desselben Kindes mit Hilfe der Be-
obachtungsbögen übereinstimmend beurteilen. Zum anderen ging die Studie der Frage nach,
welche Überzeugungen Lehrkräfte hinsichtlich der Arbeit mit Beobachtungsbögen äußern.

2. D
 atenerhebung

Zur Beantwortung dieser Fragen wurde in der Entwicklungsphase Fachliteratur zu den The-
mengebieten Diagnostik (z. B. Klieme/Leutner 2006; von der Groeben 2003: 7), und hier spe-
ziell Beobachtungsverfahren (z. B. Feeley 2002), und zu mündlichen Kompetenzen im Fremd-
sprachenunterricht (z. B. Europarat 2001) hinzugezogen. Als weitere wichtige Grundlage für
die Entwicklung der Beobachtungsbögen wurden vier Unterrichtsstunden Englischunterricht
an einer Grundschule videografiert; die Lehrkraft war Seminarleiterin für Englischunterricht
in der Grundschule und bereit, Unterricht mit Fokus auf mündliche Rezeptions- und Pro-
duktionsaufgaben zu gestalten. Aus diesen Unterrichtsstunden wurden vier Sequenzen zu
Hörverstehens- und Sprechaufgaben transkribiert. Zwei weitere Videosequenzen wurden aus

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424 7. Referenzarbeiten

dem Projekt E-LINGO1 hinzugezogen. Alle Videosequenzen wurden unter der Fragestellung
ausgewertet, inwieweit mündliche Teilkompetenzen wie z. B. Flüssigkeit oder Aussprache
beobachtbar sind. In mehreren Überarbeitungsschleifen entstand dabei ein Baukastensystem
mit sieben Beispielbeobachtungsbögen.
Als Grundmuster dient für alle Bögen eine Dreiteilung. Im obersten Abschnitt der Bögen
ist Platz für Angaben zum Kind, zum Aufgabentyp (z. B. Rollenspiel, Präsentation) und für
das erwartete verbale oder non-verbale Verhalten des Kindes. Im zentralen Bereich befin-
det sich das Feld ‚Beobachtungen‘. Dieses enthält in Abhängigkeit vom Aufgabentyp Be-
obachtungskategorien mit Deskriptoren auf vier Niveaustufen. Für folgende Beobachtungs-
kategorien wurden Skalen erarbeitet: ‚Aussprache‘, ‚Korrektheit‘, ‚Flüssigkeit‘, ‚Spektrum‘,
‚soziolinguistische Angemessenheit‘ und – für Hörverstehensaufgaben – ‚Korrektheit der
Reaktion‘ sowie ‚Schnelligkeit der Reaktion‘ sowie übergeordnet die Kategorie ‚Lernkom-
petenz‘. Es wurde eine vierstufige Skalierung gewählt, um eine Tendenz zur Mitte oder Zen-
traltendenz zu erschweren und keine Parallelität zur sechsteiligen deutschen Notenskala na-
hezulegen. Im dritten Abschnitt der Bögen befinden sich die beiden Freitextfelder ‚Sonstiges‘
und ‚Fördermaßnahmen‘, in denen besondere Stärken und Schwächen notiert und nächste
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Lernschritte – auch gemeinsam mit dem Kind – geplant und dokumentiert werden können.
Für die Erprobung wurden fünf Grundschullehrerinnen gewonnen, die bis auf eine Multi-
plikatorin für Englisch in der Grundschule arbeiteten und von der Schulrätin angesprochen
worden waren. Nach einem Einführungsworkshop, in dem anhand von Beispiel-Videosequen-
zen das Beobachten geübt worden war, wurden in der Erprobungsphase die Beobachtungs-
bögen sowohl direkt im Unterricht als auch in zwei Workshops mit Videosequenzen erprobt.
Die Erprobungen im Unterricht fanden während des ‚normalen‘ Unterrichts statt. Die Lehr-
kräfte wurden gebeten, Hörverstehens- und/oder Sprachproduktionsaufgaben unterrichtlich
zu initiieren und zu beobachten; Themen und Aufgaben wurden ihnen nicht vorgegeben.
Als Vorgabe für die zu beobachtenden Kinder galt, dass möglichst Schüler und Schülerinnen
verschiedener Leistungsniveaus berücksichtigt werden sollten. Um untersuchen zu können,
inwieweit verschiedene Lehrkräfte Sprachproduktions- und/oder -rezeptionsleistungen ein
und desselben Kindes übereinstimmend beurteilen, wurden die Beobachtungssituationen
im Unterricht der fünf Lehrkräfte videografiert. Durch die Videoaufnahmen konnten alle
fünf Lehrkräfte in zwei gemeinsamen Workshops dieselben Kinder einschätzen. Es liegen
für zwölf beobachtete Kinder von jeder der fünf Lehrkräfte ein Beobachtungsbogen aus der
Einschätzung im Workshop und ein zusätzlicher Beobachtungsbogen von der unterrichtenden
Lehrkraft aus ihrem Unterricht vor.
Zur Beantwortung der zweiten Frage bezüglich der lehrerseitigen Überzeugungen wur-
den sowohl teilstandardisierte Leitfadeninterviews mit jeder einzelnen Lehrkraft zu ihrem
Unterricht geführt als auch Gruppengespräche im Rahmen der Workshops zu Fragen der
Beobachtung und Bewertung einzelner Schüler und Schülerinnen initiiert und als Audio-
Dateien erhoben.

1 E-LINGO war ein Fern- und Kontaktstudiengang zum Frühen Fremdsprachenlernen, der von der Päda-
gogischen Hochschule Freiburg in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der
Justus-Liebig-Universität Gießen angeboten wurde.

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Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule 425

3. D
 atenaufbereitung und Datenauswertung

In der quantitativen Datenanalyse wurden mit Hilfe von Häufigkeitsberechnungen alle Beur-
teilungen zu einem Kind sowie alle Beurteilungen zu einer Kategorie, seien sie im Unterricht
oder im Workshop entstanden, auf ihre Übereinstimmung hin verglichen. Um der Frage nach-
zugehen, ob einzelne Lehrkräfte in ihren Urteilen eine statistisch signifikante Tendenz zur
Milde oder Strenge aufweisen, wurden t-Tests für abhängige Stichproben paarweise für alle
Lehrkräfte sowie eine einfaktorielle Anova gerechnet. Korrelationsberechnungen (Pearsons
r) dienten dazu, Zusammenhänge zwischen den Leistungen einzelner Kinder und der Über-
einstimmung, mit der sie bewertet wurden, zu analysieren.
Zur Beantwortung der zweiten Frage bezüglich der Überzeugungen wurden die Interviews
und Gruppengespräche für die Auswertung in Anlehnung an die Transkriptionsregeln von
Mayring (Mayring 2003: 49) transkribiert und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen.
Die Kategorienbildung erfolgte induktiv. Das gesamte Material wurde von zwei Kodiere-
rinnen getrennt voneinander kodiert.
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4. E
 rgebnisse

Die quantitativen Auswertungen der ausgefüllten Beobachtungsbögen ergeben für sechs


der acht entwickelten Skalen (‚Aussprache‘, ‚Korrektheit‘, ‚Flüssigkeit‘, ‚Spektrum‘ und – für
Hörverstehensaufgaben – ‚Korrektheit der Reaktion‘ sowie ‚Schnelligkeit der Reaktion‘), zu-
friedenstellende bis gute Werte für die Übereinstimmung.2 Für zwei Skalen (‚Lernkompetenz‘
und ‚soziolinguistische Angemessenheit‘) besteht weiterer Forschungsbedarf. Eine statistisch
signifikante Tendenz zur Milde oder Strenge einzelner Lehrkräfte kann in den vorliegenden
Daten nicht festgestellt werden. Durch die Korrelationsberechnungen zeigt sich folgender
Zusammenhang: Je leistungsstärker ein Kind eingeschätzt wird, desto übereinstimmender
wird es bewertet, und umgekehrt, je leistungsschwächer ein Kind wahrgenommen wird, desto
weniger übereinstimmend wird es beurteilt.
Die Auswertungen der qualitativen Daten geben wichtige Hinweise, warum es in be-
stimmten Fällen zu unterschiedlichen Einschätzungen der Schülerleistung kam. Dies trat z. B.
in folgenden Fällen auf:
• wenn Kinder sich selbst korrigierten und die Lehrkräfte uneinig waren, ob sie dies als
korrekt oder als inkorrekt ansehen wollten,
• wenn Lehrkräfte nicht das Beobachtete an sich zu dokumentieren versuchten, sondern das
Wahrgenommene sogleich anhand von unterschiedlichen Attributionen interpretierten
(z. B. „die Schülerin ist sonst besser“).
Die Intention der Beobachtungsbögen, Raum zu geben für eine detaillierte Dokumentation
der Beobachtungen und diese wiederum für eine formative Leistungsrückmeldung und zur
adaptiven Planung von Unterricht zu nutzen, steht im Kontrast zu zentralen Überzeugungen

2 Als zufriedenstellend wird eine Übereinstimmung der Bewertungen von mehr als 66 %, als gut von mehr
als 80 % angesehen.

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426 7. Referenzarbeiten

von mindestens einem Teil der befragten Lehrkräfte. Aus den Formulierungen zweier Lehr-
kräfte in den Interviews lässt sich ein Konzept rekonstruieren, nach dem sie als Lehrkräfte
die Kinder umfassend wahrnehmen, ihre Beobachtungen vollständig ‚im Kopf‘ abspeichern
und zu späteren Zeitpunkten wieder abrufen können. Eine detaillierte Dokumentation der
Beobachtungen erscheint ihnen folglich auch nicht zwingend notwendig.
Aus den Ergebnissen kann abgeleitet werden, dass die diagnostische Kompetenz von Lehr-
kräften nicht allein dadurch weiterentwickelt werden kann, dass sie in den Umgang mit
Beobachtungsverfahren eingeführt werden. Neben sprachbezogen-fachlichen Kenntnissen
erscheint es notwendig, auch Kenntnisse über die Grenzen und Probleme von Beobachtungen
zu vermitteln, um zu ermöglichen, dass Konzepte von der ‚Unfehlbarkeit‘ der eigenen Er-
innerung an Beobachtetes reflektiert und hinterfragt werden können. Es ergeben sich erste
Hinweise aus der Studie, dass der Einsatz von Videoaufnahmen in Workshops Lehrkräften
die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Wahrnehmungen zu reflektieren.

Literatur
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Europarat (Hg.) (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beur-
teilen. München: Langenscheidt.
Feeley, Thomas Hugh (2002). Comment on halo effects in rating and evaluation research. In: Human
Communication Research 28(4), 578–586.
Hochstetter, Johanna (2011). Diagnostische Kompetenz im Englischunterricht der Grundschule: Eine
empirische Studie zum Einsatz von Beobachtungsbögen. Tübingen: Narr.
Klieme, Eckhard/Leutner, Detlev (2006). Kompetenzmodelle zur Erfassung individueller Lernergebnisse
und zur Bilanzierung von Bildungsprozessen: Beschreibung eines neu eingerichteten Schwerpunkt-
programms der DFG. In: Zeitschrift für Pädagogik 52(6), 876–903.
Mayring, Philipp (2003). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 8. Auflage. Weinheim:
Beltz.
Von der Groeben, Annemarie (2003). Verstehen lernen: Diagnostik als didaktische Herausforderung.
In: Pädagogik 55(4), 6–9.

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Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache 427

Nicole Marx

Darstellung der Referenzarbeit:


Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im
Deutschen als Tertiärsprache

1. T
 hema und Forschungsfragen

Ziel der experimentellen Studie war es, die Auswirkung eines auf die besondere Lernsitua­
tion heutiger Deutsch-als-Fremdsprache-Lernender ausgerichteten Unterrichts zu überprüfen.
Thematisch bewegte sich die Arbeit im Feld der Tertiärsprachendidaktik. Diese basiert auf
Erkenntnissen der Mehrsprachigkeitsforschung und konzipiert einen Unterricht, der beson-
ders auf Lernende einer zweiten oder weiteren Fremdsprache (im Folgenden: Tertiärsprache
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bzw. L3) ausgerichtet ist. Über die Unterstützung von Erstsprachenkenntnissen, Lernumge-
bung und motivationalen Faktoren hinaus hebt die Tertiärsprachendidaktik die lernfördernde
Wirkung einer früher gelernten L2 hervor, die für wissenserweiternde Strukturen und Wort-
schatz sowie durch Lernerfahrungen gewonnene Strategien der neuen L3 Pate steht.
Ungeklärt war allerdings, ob eine Sensibilisierung für mitgebrachte Lernerfahrungen und
die Interlanguage der L2 erstens möglich und zweitens förderlich ist. Somit fragte die Unter-
suchung danach, ob der mehrfach geforderte Einbezug der L2, die bei DaF-Lernenden heut-
zutage fast ausnahmslos Englisch ist, gewinnbringend für das Lernen des DaF nach Englisch
(DaFnE) genutzt werden könne.
Die übergreifende Fragestellung der Untersuchung lautete: Unterstützt eine besondere
DaFnE-Sensibilisierung das Lernen des Deutschen als L3? Die auf den Erkenntnissen der
bisherigen Forschung basierende Ausgangshypothese besagte, dass sensibilisierte Lernende
ihre Kenntnisse der L2 während der Rezeption eines gesprochenen L3-Textes eher zu nutzen
wissen als nicht sensibilisierte. Da sich der Großteil der bisherigen Tertiärsprachenforschung
mit produktiven Fertigkeiten befasste, sollte sich die Studie der weniger untersuchten sprach-
lichen Fertigkeit des Hörverstehens widmen.

2. D
 atenerhebung

Versuchspersonen waren 18 angehende ausländische Studierende mit nicht-germanischen


Erstsprachen im Alter von 18–25 Jahren in englischsprachigen naturwissenschaftlichen Stu-
diengängen einer deutschen Hochschule. Alle waren ohne Deutschkenntnisse eingereist und
wohnten zur Zeit des Untersuchungsbeginns erst wenige Tage oder Wochen in Deutschland.
Um der Fragestellung nachzugehen, wurde im Rahmen von Nullanfängerkursen mit jeweils
16 Unterrichtsstunden pro Woche in einer sechswöchigen Intensivphase eine Interventions-
studie mit experimentellem Design durchgeführt. Nach einem Eingangstest und Fragebogen
zum Zweck einer Gruppenbalancierung wurden die Versuchspersonen in zwei curricular

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428 7. Referenzarbeiten

identische, parallel laufende Kurse eingeteilt. Die unabhängige Variable stellte der Rückgriff
auf Prinzipien der L3-Didaktik dar: Während die Kontrollgruppe möglichst ohne Einbezug
der L2 die neue L3 lernte, erhielt die Experimentalgruppe einen Sprachunterricht, bei dem
wöchentlich wenige Unterrichtsstunden (etwa 15–20 %) durch einen gezielten DaFnE-Unter-
richt (‚Sensibilisierungsunterricht‘) ersetzt wurden. Die abhängige Variable zu den jeweiligen
Hypothesen stellte dann das Ergebnis bei den unterschiedlichen Messinstrumenten (Hörver-
stehenstests sowie Fragebogendaten) dar.
Um Störfaktoren möglichst gering zu halten, wurden weitere Variablen kontrolliert. Dies
bezog sich auf die Einteilung in die Gruppen (Quotenverfahren mit Balancierung nach Ge-
schlecht, Alter und Herkunftsland), auf die Kursbedingungen (Materialien, Curriculum,
Räumlichkeiten, Zeiten, Diensterfahrung der Lehrerinnen etc.) und auf die Datenerhebung
(während des Regelunterrichts, gleiche aufgenommene Hörtexte, Aufgabenstellungen und
Instruktionen etc.). Auch die als Messinstrumente eingesetzten Hörtexte waren innerhalb der
Kategorien angeglichen, so dass bei Texttyp 2 und 3 (s. u.) der Schwierigkeitsgrad aller zehn
Texte vergleichbar war. (Eine Angleichung des Schwierigkeitsgrads des Texttyps 1 war nicht
sinnvoll, da diese die wöchentliche Lernprogression nachzeichnen sollte).
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Die Hauptfragestellung wurde in vier Untersuchungsfragen aufgeteilt, wozu jeweils eine


Hypothese aufgestellt wurde. Die Messinstrumente bezogen sich direkt auf die zu prüfenden
Hypothesen:

Hypothese Messinstrument(e)

1: DaFnE-sensibilisierte Lernende wissen ihr Texttyp 1: dem Niveau der Lernenden ent-
L2-Vorwissen besser zu nutzen und erzielen sprechende Hörverstehenstexte und hohe
daher bessere Testergebnisse bei Aufgaben, Kognatendichte (GER Stufe A1) mit Aufgaben
die ihrem Sprachniveau entsprechen und viele zum selektiven Hörverstehen
L2-Kognaten enthalten.
2: Sensibilisierte Lernende wissen ihre L2- Radio-Nachrichtentexte mit offenen Aufgaben
Kenntnisse beim Hören schwieriger Texte mit zum globalen und selektiven Hörverstehen:
vielen englisch-deutschen Kognaten eher zu Texttyp 2 (Texte mit vielen deutsch-eng-
ihrem Vorteil zu nutzen. lischen Kognaten);
Texttyp 3 (Texte ohne viele deutsch-englische
3: Mit fortschreitender Zeit werden die
Kognaten)
Unterschiede zwischen den beiden Lerner-
gruppen deutlicher.
4: Sensibilisierte Lernende sind sich bewuss- Retrospektive Erklärungen (schriftlich) zu den
ter, welche Vorteile sie aus vorher gelernten vom Lernenden wahrgenommenen Gründen
Fremdsprachen und vorherigen Lernerfahrun- für erfolgreiches Verstehen;
gen mitbringen. qualitative Fragebögen zum Unterricht
Tabelle 1: Hypothesen und Messinstrumente in der Studie

Die Datenerhebung zu allen Hörtexten erfolgte zu den regulären Kurszeiten als Vortest zum
Kursbeginn (Woche 0), für Texttyp 1 wöchentlich während des Intensivkurses (Wochen 1, 2,
3, 4, 5, 6), für Texttyp 2 und 3 alle zwei Wochen (Wochen 2, 4, 6) und schließlich für alle Text-
typen einmalig als Posttest sechs Wochen nach Ende des Intensivkurses (Woche 12).

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Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache 429

3. D
 atenauswertung

Die Datenauswertung wurde durch zwei unabhängige Rater durchgeführt und der Mittelwert
aus den Ratings zur Datenanalyse verwendet. Für Texttyp 1 wurden Ergebnisse anhand einer
korrekten Antwort auf geschlossene Fragen zum Text berechnet; für Texttyp 2 und 3 gingen
sowohl die Anzahl der verstandenen Satzglieder als auch die Anzahl der aufgegriffenen
Kognaten in die Auswertung ein. Die Antworten zu den Fragebögen und die retrospektiven
Erklärungen wurden eingesammelt und kategorisiert.
Um die Mittelwerte der zwei Gruppen zu vergleichen, wurden unterschiedliche statistische
Verfahren herangezogen. Bei Texttyp 1, bei dem die Texte zu den unterschiedlichen Erhe-
bungszeiten nicht das gleiche Niveau aufwiesen, wurden auf Grund der kleinen Gruppengrö-
ßen non-parametrische Mann-Whitney-U-Tests (ein Test für unabhängige Gruppen-Designs)
vollzogen. Bei den Texttypen 2 und 3 (Nachrichtentexte) sowie bei den Kognatenergebnissen
wurden Varianzanalysen mit Messwiederholung (MANOVAs) verwendet. Beide sehr aus-
sagekräftigen Tests ziehen die Anzahl der beobachteten Fälle in Betracht, was besonders bei
kleineren Gruppengrößen einen α-Fehler zu vermeiden hilft. Zur Überprüfung der MANO-
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

VA-Ergebnisse wurden auch post-hoc Analysen (U-Tests) durchgeführt, um Unterschieden


zu spezifischen Testzeiten nachzugehen.
Die retrospektiven Erklärungen wurden quantitativ ausgewertet (Anzahl und Art der Er-
klärungen für das Verstehen, die statistisch durch Varianzanalyse und post-hoc durch Mann-
Whitney-U-Tests überprüft wurden), die Fragebogen zu subjektiven Beurteilungen des Kurses
und des Wertes der L2 beim Lernen einer L3 jedoch durch Kategorisierung und Darlegung
der Kommentare qualitativ.

4. E
 rgebnisse3

Beim Texttyp 1 ergaben Mann-Whitney-U-Tests signifikante Unterschiede zwischen der


Experimental- und der Kontrollgruppe zu vier von den insgesamt sieben Erhebungszeiten
nach Kursanfang. Somit konnte die erste Hypothese bestätigt werden: Lernende mit einer
Sensibilisierung in der besonderen Situation des DaFnE-Lernens nutzen ihre (Vor-) Kennt-
nisse besser als ihre mit den gleichen Voraussetzungen angefangenen Kommilitonen.
Zur Prüfung der zweiten Hypothese wurden Texttyp 2 und 3 eingesetzt. Hier haben die
durchgeführten Analysen signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen beim Ver-
stehen des Hörtexttyps 2 (hohe Kognatendichte) ergeben (F (1;9) = 7,079, p < ,05). Zudem
konnte die Sensibilisierungsgruppe mehr Kognaten bei diesem Texttyp erfassen als die Kon-
trollgruppe (F (1;9) = 6,039, p < ,05). Beim Verstehen des Texttyps 3 (niedrige Kognatendichte)
waren keine Unterschiede zwischen den zwei Lernergruppen nachzuweisen (F (1;9) = 0,126,
p = n.s.). Somit wurde auch die zweite Hypothese bestätigt: Der Sensibilisierungskurs verhalf
den Lernenden zu einem besseren Textverstehen, allerdings nur bei solchen Texten, die mehr
deutsch-englische Parallelen enthielten.

3 Aus Platzgründen wird hier auf eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse verzichtet; stattdessen wird
exemplarisch von einigen statistischen Ergebnissen berichtet.

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430 7. Referenzarbeiten

Die dritte Hypothese, dass Unterschiede zwischen den zwei Gruppen im Laufe der Er-
hebungszeit größer würden, musste sowohl für Texttyp 2 (F(4;9) = 1,157, p = n.s.) als auch
für Texttyp 3 (F(4;9) = 0,254, p = n.s.) widerlegt werden. Dies könnte auf Mehreres hindeuten,
u. a. darauf, dass fortschreitende Erfahrung mit dem Sensibilisierungsunterricht zwar hilf-
reich ist, aber eventuell weniger bedeutend als die Tatsache, dass ein Auslöser (trigger) zum
Nutzen der L2 bereits früh gesetzt wurde.
Bei der vierten Frage ging es darum, ob sich sensibilisierte Lernende über ihre Vorteile als
Tertiärsprachenlernende bewusster sind als solche, die keinen gezielten DaFnE-Unterricht
erhalten. Unterschiedliche Ergebnisse, die an dieser Stelle nicht referiert werden können,
bestätigten diese Hypothese, zeigten aber auch, dass reflektierte Vorteile v. a. auf der Mikro-
ebene verhaftet bleiben.
So kann geschlussfolgert werden, dass der Sensibilisierungskurs im Vergleich zu einem
herkömmlichen DaF-Unterricht in mehrfacher Hinsicht, insbesondere auf lexikalischer Ebene,
eine positive Auswirkung auf den tatsächlichen Lernerfolg hatte, was sich in den Ergeb-
nissen der Hörverstehenstests, der Retrospektionen und Fragebögen sowie der hier nicht dis-
kutierten Abschlussprüfungen spiegelte. Das unterstützende Potential der L2 wird allerdings
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

erst dann wirksam, wenn Lernenden die Gelegenheit eingeräumt wird, diese zu reflektieren
und zu üben.

Literatur

Marx, Nicole (2005). Hörverstehensleistungen im Deutschen als Tertiärsprache: zum Nutzen eines Sen-
sibilisierungsunterrichts im ‚DaFnE‘. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

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Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in 431

Senem Aydın

Darstellung der Referenzarbeit:


Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in

1. T
 hema und Forschungsfragen

Es gibt zahlreiche Untersuchungen zur Frage, weshalb sich Abiturienten für den Lehrerberuf
entscheiden (u. a. Oesterreich 1987; Krieger 2000; Ulich 2004). Bei diesen Untersuchungen
wurde jedoch die Rolle des Fachinteresses kaum differenziert erforscht. In dieser Studie wur-
den deshalb Berufs- und Studienfachwahlmotive von Lehramtsstudierenden in der Anglistik
/Amerikanistik mit einem Fokus auf den geschlechtstypischen Unterschieden untersucht.
Außerdem wurde das Phänomen Berufsentscheidungssicherheit und dessen Gründe hin-
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

terfragt, welche Rückschlüsse auf die von Lehramtsstudierenden wahrgenommene Unat-


traktivität des Lehrerberufs erlauben. Vor diesem Hintergrund verfolgte die Untersuchung
die folgenden drei Forschungsfragen:
• Welche Gründe bewegen junge Menschen dazu, den Lehrerberuf zu ergreifen?
• Wie unterscheiden sich die Berufs- und Studienfachwahlmotive der weiblichen und männ-
lichen Lehramtsstudierenden?
• Welche Bedingungen oder Umstände erzeugen eine Unsicherheit bezüglich der bereits
getroffenen Berufswahlentscheidung als Lehrer/in?

2. D
 atenerhebung

Da es sich bei dem Forschungsthema um ein subjektiv-internes und nicht direkt beobacht-
bares Phänomen handelt, wurde eine teilstandardisierte schriftliche Befragung als Unter-
suchungsmethode eingesetzt. Bei derartigen Forschungsinhalten kann es vorkommen, dass
Probanden Motive angeben, die nicht der Lebenswirklichkeit entsprechen. Um das Ausmaß
der sozialen Erwünschtheit im Antwortverhalten von Probanden möglichst gering zu halten,
wurde die Befragung anonym durchgeführt. Ein weiterer Grund für die Methodenwahl war,
dass eine möglichst große Zahl von Probanden erreicht werden sollte, um repräsentative bzw.
aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Die Konstruktion eines ausgereiften und selbsterklä-
renden Fragebogens wurde in drei Phasen erreicht. Die Vorbefragung wurde mit Hilfe dreier
offener Fragen zur Berufs- und Studienfachwahl sowie Berufsentscheidungssicherheit kon-
zipiert. Beabsichtigt wurde damit, ausgehend von den freien und spontanen Formulierungen
der Befragten eine konkrete Sammlung von Antwortmöglichkeiten für die Hauptbefragung
zu gewinnen. Die Ergebnisse der Vorbefragung wurden mit Hilfe des Programms MAXQDA
statistisch ausgewertet. Aus den in der Vorbefragung gewonnenen Antworten der Befragten
wurden Motivkategorien der Berufs- und Studienfachwahl gebildet:

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432 7. Referenzarbeiten

• intrinsische Berufswahlmotive (Kompetenz und Interessen, pädagogische Motive, gesell-


schaftsbezogene Motive);
• extrinsische Berufswahlmotive (tätigkeitsbezogene Motive, pragmatische Motive, erfah-
rungsbestimmte Motive, Studienbedingungen, sonstige Motive, wie z. B. Berufswahl als
Verlegenheitslösung);
• intrinsische Studienfachwahlmotive (Verbesserung der Sprachkenntnisse, sprachliche Kom-
petenz, Interesse/Desinteresse, gesellschaftsbezogene Motive, Freude an der Sprache);
• extrinsische Studienfachwahlmotive (erfahrungsbestimmte Motive, tätigkeitsbezogene
Motive, pragmatische Motive, Studienbedingungen).
In einem weiteren Schritt wurde anhand der Pilotierung der ersten Version des Fragebogens
festgestellt, welche Fragenkomplexe relevant sind und auf welche Antworten der Befragten
später in Form von Antwortmöglichkeiten für die geschlossenen Fragen eingegangen werden
sollte. Im Anschluss an die Pilotierung wurde in der letzten Erstellungsphase die endgültige
Version des Fragebogens angefertigt, die aus fünf Teilen bestand: Fragen zur Person und Her-
kunftsfamilie, zur Berufswahl, zur Berufsentscheidungssicherheit, zur Studienfachwahl und
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

schließlich zur Reflexion der Befragten über die Studie.


Die Zielgruppe bestand aus Lehramtsstudierenden der Anglistik/Amerikanistik, die sich
noch in der Anfangsphase ihres Studiums befanden. Grundlegend hierfür war die Annahme,
dass die Beweggründe für einen Beruf bzw. für ein Studium in der Anfangsphase noch frisch
und somit gut zu untersuchen sind. Die Hauptbefragung fand von Mitte Oktober bis Ende
Dezember 2008 statt. Es konnten 19 Universitäten aus zehn Bundesländern für die Teilnahme
an dieser Studie gewonnen werden. Von insgesamt 2575 verschickten Fragebögen wurden
1727 zurückgesandt und 1709 (Frauen 76,24 %; Männer 23,76 %; 65,7 % aus dem ersten bis
dritten Semester) davon konnten in die Auswertung aufgenommen werden. Daraus errechnet
sich eine verwertbare Rücklaufquote von 66,37 %.

3. D
 atenaufbearbeitung

Um die erhobenen Daten mit SPSS (Statistical Package for the Social Sciences) auswerten zu
können, müssen die in Papierform vorliegenden Daten in eine Rohdatentabelle nach einem
Kodierplan übertragen werden, womit die Daten sowohl für die quantitative als auch für
die qualitative Analyse zugänglich gemacht werden. Es wird eine Liste aller im Fragebogen
erhobenen Variablen mit den dazugehörigen Ausprägungen bzw. Antwortvorgaben erstellt,
wobei jeder Variablen und jeder Merkmalsausprägung ein spezieller Kode zugeordnet wird.
Die Angaben zu den offenen Fragen wurden in ein digitales Dokument übertragen und in-
haltsanalytisch ausgewertet.

4. D
 atenauswertung

Bei der Datenauswertung wurde zunächst anhand des Signifikanztests untersucht, ob zwi-
schen den Variablen des Fragebogens signifikante Korrelationen auftreten. Die signifikanten

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Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in 433

Zusammenhänge zwischen den zwei korrelierten Merkmalen wurden innerhalb der inter-
pretativen Auswertung analysiert. Während die Ergebnisse der deskriptiven Analyse lediglich
über die Stichprobe der vorliegenden Studie Informationen geben, bringen die Resultate
eines Signifikanztests die Tendenzen der gesamten Population ans Licht. Um eine übersicht-
liche und den zeitlichen Etappen des Berufsentscheidungsprozesses entsprechende Glie-
derung und somit eine strukturierte Diskussion der umfangreichen Forschungsergebnisse
zu ermöglichen, wurde ein Phasenmodell entwickelt. Nach Ansicht der Forscherin wird ein
Berufswähler in der Vorentscheidungsphase von extrinsischen und intrinsischen Gründen
bei seiner Berufswahl beeinflusst. Im Anschluss daran entscheidet er sich entweder direkt für
eine Tätigkeit oder testet erst alternative Berufe (Entscheidungsphase). Nachdem die Person
ihre Wahl getroffen hat, kann sie entweder mit ihrer Entscheidung zufrieden sein und in der
Tätigkeit verbleiben oder unzufrieden sein und eine Alternative (Nachentscheidungsphase)
suchen.

5. Ergebnisse
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Die Lehramtsstudentinnen orientieren sich in ihrer Berufsentscheidung vornehmlich an


pädagogischen Motiven. Dementsprechend kamen an erster Stelle Aussagen hinsichtlich der
Liebe zu Kindern („ich mag Kinder“; „ich arbeite gerne mit Kindern und Jugendlichen“).
Auch die anderen am häufigsten genannten Berufswahlmotive der Frauen beziehen sich auf
den sozialen Aspekt der Tätigkeit: das Interesse an einem Beruf mit viel Kontakt zu anderen
Menschen und der Wunsch, eine soziale und sinnvolle Tätigkeit auszuüben. In der Rangfolge
der Männer kam das Motiv ‚Erfüllung einer sozialen und sinnvollen Aufgabe‘ an erster Stelle.
Darauf folgte der Grund, dass sie gerne mit Kindern und Jugendlichen arbeiteten. Weitere
Motive waren: „Ich habe die Möglichkeit, zur Erziehung der nächsten Generationen beizutra-
gen“ und „ich bin an einem Beruf mit viel Kontakt zu den anderen Menschen interessiert“.
Sowohl Frauen als auch Männer wurden in ihrer Studienfachwahl v. a. durch ihr Interesse
an englischsprachigen Ländern und Kulturen sowie durch ihren Wunsch nach einer Verbes-
serung ihrer Sprachkenntnisse während des Studiums bewegt. An dritter Stelle folgte bei
den Frauen die Begeisterung für Fremdsprachen, während die Männer ihre bereits vor dem
Studium vorhandenen Englischkenntnisse als Beweggrund angaben. Ein hochsignifikanter
Unterschied konnte bei der subjektiven Einschätzung der eigenen Sprachbegabung festgestellt
werden: Frauen betrachteten sich häufiger als sprachbegabt als Männer. Am stärksten wurde
die Berufs- und Studienfachwahl beider Geschlechter durch positive Erfahrungen mit eigenen
Lehrern (64,7 %) beeinflusst. Die Probanden möchten in ihrem Berufsleben ‚gute‘ Lehrper-
sonen nachahmen oder Erfahrungen, die sie mit ‚schlechten‘ Lehrpersonen gemacht haben,
mit einem besseren Unterricht übertreffen. Dieser Befund ist deshalb erwähnenswert, weil
er die relativ hohe Bewertung des Motivs und den Stellenwert der Vorbildfunktion der Lehr-
kräfte bei der Berufswahl verdeutlicht. Betrachtet man die Angaben bezüglich der Berufsent-
scheidungssicherheit, so ist festzustellen, dass mehr Männer als Frauen in ihrer Entscheidung
unsicher waren. Der häufigste Grund für die Unsicherheit der Frauen war: „Weil ich mich
auch für einen anderen Beruf interessiere“. Die Männer gaben dagegen am häufigsten an,
dass sie sich in ihrer Lebensplanung noch nicht ganz sicher seien. Die Zahl der Studierenden,

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434 7. Referenzarbeiten

die keineswegs Lehrer werden wollten, war bei den Männern ebenfalls höher als bei den
Frauen.

Literatur

Kiel, Ewald/Pollak, Guido/Eberle, Thomas (2007). Lehrer werden ist nicht schwer …?! Die problemati-
sche Studienwahl von Lehramtsstudierenden. In: Pädagogik 59(9), 11–15.
Krause, Andreas/Dorsemagen, Cosima (2007). Ergebnisse der Lehrerbelastungsforschung: Orientierung
im Forschungsdschungel Verlag für Sozialwissenschaften. In: Rothland, Martin (Hg.). Belastung und
Beanspruchung im Lehrerberuf. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 52–80.
Krieger, Rainer (2000). Berufswahlmotive und Erziehungsvorstellungen im Wandel: Generationenver-
gleiche bei Lehramt-Studierenden. In: Krampen, Günter/Zayer, Hermann (Hg.). Psychologiedidaktik
und Evaluation II. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag, 239–255.
Nieskens, Birgit (2009). Wer interessiert sich für den Lehrerberuf – und wer nicht? Berufswahl im
Spannungsfeld von subjektiver und objektiver Passung. Göttingen: Cuvillier.
Oesterreich, Detlef (1987). Die Berufswahlentscheidung von jungen Lehrern. Berlin: Max-Planck-Institut
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für Bildungsforschung.
Özkul, Senem (2011). Berufsziel Englischlehrer/in. München: Langenscheidt.
Ulich, Klaus (2004). Ich will Lehrer/in werden: Eine Untersuchung zu den Berufsmotiven von Studie-
renden. Weinheim: Beltz.

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Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet 435

Michael Schart

Darstellung der Referenzarbeit:


Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv
betrachtet

1. T
 hema und Forschungsfragen

Die Studie beschäftigt sich mit dem subjektiven Verständnis des Projektunterrichts bei Leh-
renden für Deutsch als Fremdsprache. Sie wurde im Rahmen von Sommerkursen an deut-
schen Universitäten durchgeführt. Der Forschungsprozess zielt dabei auf ein verstehendes
Nachvollziehen jener Überlegungen, auf die Lehrende ihr Handeln im Unterricht stützen,
nicht aber auf die Untersuchung unterrichtlicher Praxis selbst. Forschungsleitend waren die
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folgenden Fragestellungen:
1. Was meinen Lehrende konkret, wenn sie von Projektunterricht sprechen? Welche subjekti-
ven Sichtweisen zu Einsatzmöglichkeiten, Ablauf und Effizienz von Projektarbeit werden
formuliert?
2. Welche typischen Argumentationslinien und -muster lassen sich aufzeigen?
3. Welche Rolle spielen die jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen und Entschei-
dungsmaximen?
4. Welche Rückschlüsse lassen sich auf Möglichkeiten und Grenzen von Projektarbeit im
Kontext der Sommerkurse an deutschen Universitäten (bzw. vergleichbarer Kursformen)
ziehen?
5. Welche Konsequenzen ergeben sich für die wissenschaftlichen Diskussionen um den Pro-
jektunterricht einerseits und die Aus- und Fortbildung von Lehrenden andererseits?

2. D
 atenerhebung

Wie der Titel der Arbeit verdeutlicht, stehen qualitative Verfahren der Datenproduktion und
-analyse im Zentrum des Forschungsprozesses. Genauer betrachtet verfolgte die Studie jedoch
einen mixed-methods-Ansatz: Zunächst wurde eine Fragebogenerhebung durchgeführt, deren
Ergebnisse dann den Ausgangspunkt für problemorientierte, halbstandardisierte Interviews
darstellten. Die Fragebögen enthielten offene und geschlossene Items und wurden – in zwei
unterschiedlichen Versionen – zunächst an die Organisatorinnen und Organisatoren der Som-
merkurse, darauffolgend auch an die dort tätigen Lehrenden verschickt. Dieses Vorgehen
erleichterte es, direkte Kontakte mit den Personen im zu untersuchenden Feld aufzubauen.
Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung bildeten zugleich eine wichtige Grundlage für die
Konstruktion des allgemeinen Interviewleitfadens sowie die Formulierung individueller Fra-
gestellungen für jedes der Interviews. Nicht zuletzt ergaben sich aus den Fragebögen bereits

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436 7. Referenzarbeiten

Antworten auf einzelne Forschungsfragen. Für die Studie wurden 13 Interviews mit 17 Leh-
renden geführt. Sie dauerten zwischen 60 und 120 Minuten.

3. D
 atenaufbereitung

Alle Interviews wurden audiographisch aufgezeichnet und komplett transkribiert, wobei


die Interviewäußerungen in ein normales Schriftdeutsch überführt und sprachbegleitende
Handlungen nur dann notiert wurden, wenn sie offensichtlich die Aussage einer Passage
beeinflussten. Nach der Transkription erhielten die Interviewpartnerinnen und -partner die
Möglichkeit, ihre Äußerungen zu korrigieren oder zu ergänzen. Die autorisierten Transkrip-
tionen wurden schließlich gemeinsam mit den qualitativen Daten aus den Fragebögen in
eine QDA-Software eingelesen (WinMAX, jetzt: MAXQDA), die quantitativen Daten für die
weitere Analyse über die Software SPSS erfasst. Alle aufbereiteten Daten befinden sich auf
einer der Publikation beiliegenden CD.
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4. D
 atenauswertung

Die qualitative Datenanalyse erfolgte in mehreren Schritten. Als Ergebnis einer initiierenden
Textarbeit an den Transkriptionen wurden zunächst vertiefende Einzelfallinterpretationen
für alle Interviews vorgenommen. Die Grundlage dafür bildeten die Prinzipien der inhaltlich
strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse. Bei dieser formulierenden Interpretation spie-
len genaue Wiedergaben von Textpassagen eine hervorgehobene Rolle. Die Interviewpart-
nerinnen und -partner kommen in den Darstellungen so viel wie möglich selbst zu Wort und
ihre Kernaussagen dienen als Ankerpunkte für eine dichte Beschreibung des Falls. In diesen
Einzelfalldarstellungen geht es vor allem darum, eine emische Perspektive einzunehmen,
individuelle Denk- und Erklärungsweisen zu verstehen und die Heterogenität subjektiver
Sichtweisen zum Projektunterricht aufzuzeigen.
Im Unterschied dazu strebt der sich anschließende Schritt der Datenauswertung – die ty-
penbildende Inhaltsanalyse – danach, die Vielfalt der Sichtweisen in Strukturen einzubinden,
Ambivalenzen aufzulösen und die Betrachtung auf eine abstraktere Ebene zu führen. Mit
Hilfe einer QDA-Software wurde das gesamte Textmaterial auf wiederkehrende Themen hin
betrachtet und einzelne Passagen wurden durch Kodierung einem oder mehreren Themen
zugeordnet. Die Kodierungen ergaben sich einerseits deduktiv aus dem Aufbau des Inter-
viewleitfadens, andererseits wurden sie aber auch im Prozess der Analyse induktiv aus dem
Textmaterial gebildet.
Die Datenanalyse vollzog sich durch den thematischen Vergleich der gebildeten Kategorien
und das Herausarbeiten von multidimensionalen Beziehungsmustern zwischen verschiedenen
Textpassagen. Die Orientierung wechselte also in dieser Phase der Datenauswertung von den
einzelnen Fällen zu den Themen und vom Konkreten zum Allgemeineren. Prinzipiell folgte
der Analyseprozess zwar den vier grundlegenden Stufen der Typenbildung (Erarbeiten von
relevanten Vergleichsdimensionen, Gruppieren der Fälle anhand empirischer Regelmäßig-
keiten, Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Charakterisierung der gebildeten Ty-

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Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet 437

pen), doch der thematische Vergleich wurde nicht auf die Forschungssubjekte selbst bezogen,
sondern auf einzelne ihrer Ansichten, Probleme und Konzeptionen. Typisiert wurden somit
Formen der Wahrnehmung und des Erklärens, zu denen sich die einzelnen Interviewpart-
nerinnen und -partner in wechselnden Kombinationen zuordnen lassen. Als Ergebnis der
komparativen Analysen konnten die überindividuellen Typen zu Argumentationslinien und
-mustern zusammengesetzt werden.
Die Auswertung der quantitativen Daten beschränkte sich auf eine deskriptive statistische
Analyse. So wurden vor allem die Mittelwerte betrachtet, um Gemeinsamkeiten und Un-
terschiede zu verdeutlichen. Die Stärke bzw. die Schwäche der Zusammenhänge zwischen
einzelnen Items wurde mit Hilfe des Korrelationskoeffizienten untersucht. Die Ergebnisse
wurden abschließend mit den Erkenntnissen aus der qualitativen Inhaltsanalyse verknüpft.

5. E
 rgebnisse

Die Studie verdeutlicht, dass die individuellen Projektbegriffe ihren Ausgang im beruflichen
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Selbstverständnis der DaF-Lehrenden nehmen, in ihren grundlegenden Einstellungen zum


Gegenstand und zu den Zielen des institutionellen Fremdsprachenunterrichts. Lehrende for-
men sich aus einer vagen Idee ihre eigene, für sie praktikable Projektkonzeption, indem sie
diese weitestgehend widerspruchsfrei mit ihren Vorstellungen eines effektiven Fremdspra-
chenunterrichts verschmelzen. Dabei erfahren einzelne Aspekte besondere Aufmerksamkeit,
während andere vernachlässigt oder weitgehend ausgeblendet werden (Forschungsfrage 1).
Als Ergebnis der Analyse kann auch dargestellt werden, auf welchen Wegen sich diese
subjektive Einpassung der Projektidee vollzieht. Dafür werden zunächst die beiden ideal-
typischen Argumentationslinien in Form einer Diskussion von zwei fiktiven Lehrenden dar-
gestellt (Forschungsfrage 2). In ihrer Gegensätzlichkeit verdeutlichen ihre Argumentationen
die wahrgenommenen Entscheidungsspielräume beim Projektunterricht in den Sommer-
kursen (Forschungsfrage 3).
Als ein weiteres Ergebnis der komparativen Analyse können anschließend vier unter-
schiedliche Argumentationsmuster beschrieben werden (Forschungsfrage 2). Diese spielen
eine herausgehobene Rolle bei der Integration der Projektidee in die didaktischen Überlegun-
gen von DaF-Lehrenden und tragen damit zu einem besseren Verständnis der Unterschiede in
den individuellen Projektdefinitionen bei. Jede dieser vier prinzipiellen Orientierungen führt
zwangsläufig zu anderen Schlussfolgerungen darüber, mit welchen Zielen die Projektarbeit
verknüpft, welche Möglichkeiten ihr eingeräumt und welche Grenzen ihr gesetzt werden.
Jede wirkt anders auf den Stellenwert zurück, der Projekten innerhalb eines komplexeren
Kursprogramms zugesprochen wird, und jede nimmt schließlich ihren besonderen Einfluss
darauf, wie die institutionellen Rahmenbedingungen beurteilt werden. So zeigt etwa die
Verknüpfung mit den quantitativen Daten aus der Fragebogenerhebung, dass die Einstel-
lungen von Organisatorinnen und Organisatoren einerseits und Lehrenden andererseits einen
entscheidenden Einfluss daraus ausüben, ob bzw. in welcher Form Projektunterricht in den
Sommerkursen durchgeführt wird (Forschungsfragen 3 und 4).
In den 17 Einzelfalldarstellungen zeigen sich sehr unterschiedliche, individuelle Kon-
figurationen dieser vier Argumentationsmuster. Die Lehrenden bringen sie jeweils in eine

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438 7. Referenzarbeiten

andere Hierarchie und ergänzen diese immer mit Faktoren, die nur für ihren Fall von Interes-
se sind und die Bedeutung des jeweiligen Kontextes für die subjektiven Wahrnehmungen
herausstellen. Vor diesem Hintergrund geht die Ergebnisdarstellung abschließend auf theo-
retische Implikationen ein und bringt die Frage der Aus- und Fortbildung zur Diskussion
(Forschungsfrage 5). Da die individuellen Interpretationen der Projektidee im beruflichen
Selbstverständnis der Lehrenden wurzeln, sind sie eng mit dem Wertesystem der betreffenden
Person verknüpft. Das lässt sie relativ resistent gegen abstrakte Innovationsbemühungen er-
scheinen. Die Studie veranschaulicht somit am Beispiel des Projektunterrichts, wie die Reich-
weite didaktischer Modelle durch die Subjektivität der Lehrenden begrenzt wird. Sie bietet
damit weitere Evidenz für die Notwendigkeit reflexiver und erfahrungsorientierter Modelle
der Aus- und Fortbildung von Lehrenden.

Literatur

Schart, Michael (2003). Projektunterricht – subjektiv betrachtet. Eine qualitative Studie mit Lehrenden
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für Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.

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Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? 439

Barbara Schmenk

Darstellung der Referenzarbeit:


Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches
Fremdsprachenlernen?

1. T
 hema und Forschungsfragen

Die Arbeit widmet sich der Rolle und Bedeutung von gender in der Erforschung des Fremd-
sprachenlehrens und -lernens. Das Geschlecht als Gegenstand der Fremdsprachenforschung
spielte zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit nur eine marginale Rolle, lediglich der ver-
breitete Glaube an eine weibliche Überlegenheit beim Fremdsprachenlernen war bemerkens-
wert. Wenn das Geschlecht überhaupt berücksichtigt wurde, dann nur als ein ‚Faktor‘, der
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gemäß dem dominanten quantitativ-nomologischen forschungsmethodischen Paradigma vor-


nehmlich anglo-amerikanischer Provenienz konzeptualisiert wurde als Prädiktor von Fremd-
sprachenlernprozessen, zum Teil auch im Verbund mit weiteren individuell unterschiedlich
ausgeprägten Faktoren wie Motivation, Lernstrategieverwendung, kognitive Stile u. a.
Die seit den 90er Jahren entstandenen Arbeiten im Bereich der Gender Studies hingegen
konzeptualisierten das Geschlecht als eine kulturell konstruierte Kategorie und verwendeten
diskursanalytische Ansätze und forschungsmethodische Zugriffe, die es ermöglichten, das
Geschlecht als historisch-kulturell kontextualisierbare Kategorie einer kulturwissenschaftlich-
diskursanalytisch orientierten Analyse zu unterziehen.
Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten zum Thema gender lag die Aufgabe meiner Arbeit
darin, den Geschlechterdiskurs in der Fremdsprachenforschung in einer kritischen (Diskurs-)
Analyse genauer unter die Lupe zu nehmen und die spezifischen ‚Wahrheiten‘, die er her-
vorgebracht hat (wie etwa die weibliche Überlegenheit etc.), nicht lediglich als ‚empirische
Fakten‘ zu akzeptieren, sondern diese als im historisch-kulturellen Kontext entstandene Inter-
pretationen von empirischen Beobachtungen nachzuzeichnen und zu hinterfragen.

2. D
 atenerhebung

Das für die Arbeit zusammengestellte Korpus von Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung
besteht aus all denjenigen mir zugänglichen internationalen Publikationen zur Rolle des Ge-
schlechts beim Fremdsprachenlernen in englischer und deutscher Sprache, die seit den 1950er
Jahren veröffentlich wurden (mehrheitlich empirische Studien zum Einfluss des Geschlechts
auf Sprachlernprozesse und -erfolg) sowie Überblicksdarstellungen, die sich u. a. dem Thema
Geschlecht beim Fremdsprachenlernen widmen.
Die Studie ist in ihrem Charakter eine Metastudie, da sie sich nicht direkt mit empirischen
Daten befasst, sondern mit dem Korpus vorhandener Arbeiten bzw. Publikationen. Derglei-
chen Metastudien existieren beispielsweise in der Psychologie, waren bis dato aber lediglich

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440 7. Referenzarbeiten

quantitativer Art, d. h. es wurden Statistiken erstellt, die Einzelstudien und ihre Daten jeweils
berücksichtigten und die gleich einer Sammelstatistik eine Gesamttendenz errechneten. Für
meine Arbeit erwies sich eine solche quantitative Metastudie allerdings als nicht hinreichend,
da sie lediglich die Befunde von Studien zur Geschlechtsspezifik en gros akzeptiert hätte. Die
Sichtung der vorhandenen Forschungsbefunde zeigte jedoch, dass diese sehr heterogen sind
und quantitative Metadaten entsprechend inkonsistent waren und weiterer Erklärungen und
differenzierter Betrachtungen bedurften.
Die Heterogenität bzw. Widersprüchlichkeit der Forschungsergebnisse zum Faktor Ge-
schlecht machte vielmehr eine qualitativ-interpretative Herangehensweise erforderlich, die
es ermöglichte, das Zustandekommen bestimmter empirischer Daten, Befunde und Interpre-
tationen zu ermitteln. Für die Studie wurden deshalb neben der Darstellung der Ergebnisse
in diesem Forschungsbereich auch detaillierte Analysen von insgesamt vier Einzelstudien
vorgenommen (jeweils zwei zu den unterschiedlichen Geschlechtskonzeptionen anhand von
sex bzw. gender), um die jeweils zugrunde liegenden Argumentations- und Interpretations-
muster freizulegen und zu ermitteln, wie die Kategorie Geschlecht im Kontext von Fremd-
sprachenlernprozessen konzeptualisiert wird und welche Bedeutungen ihr jeweils beigemes-
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sen werden.

3. D
 atenauswertung und -interpretation

Mit Hilfe der Analysekategorien der Gender Studies und speziell im Anschluss an Foucaults
Diskursbegriff bestand die Aufgabe darin, den in der Fremdsprachenforschung etablierten
Geschlechterdiskurs genauer zu analysieren, um zu ermitteln, wie dort bestimmte ‚Wahr-
heiten‘ zustande kommen bzw. konstruiert werden. Statt das Geschlecht als eine empirische
oder gar biologische Gegebenheit zu setzen, sollte es als diskursiv konstruierte Kategorie
erfasst werden, die jeweils in Forschungsarbeiten geschaffen und unter Rekurs auf bestehende
Diskurse (re-)produziert wird. Zu diesem Zweck wurden die verschiedenen Studien jeweils
daraufhin untersucht (S. 134),
• was über ‚Geschlecht‘ ausgesagt wird (Wird von einem biologischen Konzept von Ge-
schlecht als sex ausgegangen oder von einem eher soziokulturellen Konzept im Sinne von
gender? Ist die Studie von vornherein auf die Messung von Geschlechtsspezifika angelegt
oder erweisen sich solche erst als Nebenprodukt? Wenn ja, wie werden diese erklärt?
Welche Daten wurden genau erhoben, welche statistisch signifikanten Ergebnisse wurden
ermittelt, wie werden diese erklärt und begründet?);
• was unausgesprochen vorausgesetzt wird (Wie wird sex bzw. gender operationalisiert, was
wird dabei über die Zweigeschlechtlichkeit angenommen, ohne dass es explizit thematisiert
bzw. gemessen wird? Viele Erklärungen in Studien erweisen sich bei näherer Betrachtung
als reine Behauptungen über Geschlechtsspezifika, die auf inferierten Annahmen über
Weiblichkeit und Männlichkeit basieren, die nicht in der betreffenden Studie gemessen
wurden);
• wo, wie und aus welchem Grund die Aussagen über ‚Geschlecht‘ innerhalb der Ausfüh-
rungen eingebunden sind;

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Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? 441

• welche argumentative Rolle unausgesprochen vorausgesetzte Annahmen über ‚Geschlecht‘


innerhalb der betreffenden Publikation spielen (Sind die Ergebnisse der Studie tatsäch-
lich auf die erhobenen Daten zurückzuführen oder werden diese vielmehr mit Hilfe von
Vorannahmen über die Zweigeschlechtlichkeit und verbreitete Stereotype über Weiblich-
keit und Männlichkeit interpretiert? Argumente zugunsten von Geschlechts-‚Spezifika‘
unterschlagen i. d. R. die Differenziertheit statistischer Messungen und Daten und legen
stattdessen nahe, dass es sich bei männlichen und weiblichen Lernenden um zwei klar
unterscheidbare Gruppen handelt).

4. E
 rgebnisse

Die Untersuchung hat gemäß ihrer doppelten Perspektive sowohl Ergebnisse im Sinne ei-
ner state-of-the-art Zusammenschau der Forschungsergebnisse im Bereich Geschlecht und
Fremdsprachenlernen hervorgebracht als auch darüber hinaus Prinzipien der Beschaffenheit
des Geschlechterdiskurses in der Fremdsprachenforschung sichtbar gemacht, die sich auch
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in anderen Disziplinen und Kontexten finden. Insofern konnten viele Befunde aus den Gen-
der Studies auch für die Fremdsprachenforschung bestätigt werden. Darüber hinaus wurde
deutlich, wie sich der Glaube an Geschlechtsspezifika (und nicht die empirisch erhobenen
Daten) auch auf die Theoriebildung der Fremdsprachenforschung auswirkt. Das Geschlecht
wird zum sinnbildenden Zentrum in Argumentationen zum vermeintlich geschlechtsspezi-
fischen Fremdsprachenlernen, so dass man meist unbemerkt implizite Modelle des Sprachen-
lernens konstruiert, die mit den Einsichten der Fremdsprachenforschung oft wenig zu tun
haben.
• Feminisierung und Empirie: Fakten und Mythen
Empirische Forschung zum Geschlecht ist zum Zeitpunkt der Entstehung der Arbeit primär
darauf gerichtet, Geschlechtsspezifika zu bestimmen. Man geht damit implizit davon aus,
dass das Geschlecht ein Faktor ist, der zu unterschiedlichen Lernweisen, Haltungen oder
Erfolgen führt. Forschungsdesigns, die auf dieser Annahme beruhen, können deshalb nur
die Existenz dessen bestätigen, was schon a priori gesetzt wurde: dass es zwei unterschied-
liche Gruppen von Lernenden gibt, männliche und weibliche. Empirische Erhebungen
bestätigen diese klare Unterscheidbarkeit jedoch nicht, gleich, ob die Mittelwerte weibli-
cher Probanden höher liegen oder nicht. In der Interpretation dieser Daten wird jedoch
grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Gruppe der männlichen Lernenden distinktive
Merkmale aufweist (die stereotyp männlichen Attribute wie Dominanz, Wettbewerbs-
orientierung, analytisches Denken, Aggressivität), die sie von der Gruppe der weiblichen
Lernenden unterscheidet (denen wiederum stereotyp weibliche Attribute zugeschrieben
werden wie Einfühlsamkeit oder Kooperativität). Im Ergebnis werden so die heterogenen
empirischen Daten vereinheitlicht und pauschal interpretiert zugunsten von Thesen zu
einem besseren Lernergeschlecht (sei dies weiblich der männlich) oder zu geschlechtsspezi-
fischem Sprachenlernen. Diese Thesen erweisen sich als Resultate einer self-fulfilling pro-
phecy, was man auch als Mythenbildung bezeichnen kann, die sich im Alltag fortwährend
zu bestätigen scheint und die in der Forschung ungeprüft übernommen wird.

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442 7. Referenzarbeiten

• Gender-Binarität als epistemologische Falle


Aufgrund der binären Verfasstheit des Faktors Geschlecht und seiner immanenten Kom-
plementarität gerät man in eine epistemologische Falle, wenn man das Geschlecht als
Gegebenes nimmt und seinen Einfluss bestimmen möchte. Auch eine Trennung von sex
und gender erweist sich hier nicht als hinreichend zur Differenzierung, verweist diese doch
auch immer nur zurück auf die basale Annahme der Zweigeschlechtlichkeit.
• Glauben und Wissen: Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen und Theorie(miss-)
bildungen
Sowohl die strukturelle Verfasstheit der Kategorie Geschlecht – seine Binarität – als auch
die hinreichend verbreiteten Geschlechterstereotype über Männlichkeit und Weiblichkeit
verführen dazu, Theorien über geschlechtsspezifisches Lernen aufzustellen, die sich bei
Licht betrachtet als kaum haltbar erweisen. Die Logik dieser Argumentationen speist sich
primär aus dem Glauben an eine kategorische Unterscheidbarkeit der Geschlechter sowie
dem nachträglich inferierten Alltagswissen über Männer und Frauen. Kausale Verknüp-
fungen dieser Art lassen sich jedoch nicht von den erhobenen empirischen Daten ableiten,
sondern entstammen anderen Diskursen, die außerhalb der Fremdsprachenforschung exis-
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

tieren und deren Wahrheit somit auch in der Fremdsprachenforschung wiederum bestätigt
wird.

Literatur

Schmenk, Barbara (2002, 2009). Geschlechtsspezifisches Fremdsprachenlernen? Zur Konstruktion ge-


schlechtsspezifischer Lerner- und Lernbilder in der Fremdsprachenforschung. Tübingen: Narr.

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Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht 443

Torben Schmidt

Darstellung der Referenzarbeit:


Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit
Selbstlernsoftware im Englischunterricht

1. T
 hema und Forschungsfragen

Während Lernsoftware als gängiges Musterbeispiel für individualisiertes Lernen gilt, wurde
in dieser Studie der folgenden bisher kaum beachteten Frage nachgegangen: Inwieweit kann
Selbstlernsoftware entgegen dem intendierten Verwendungszweck im Kontext individuali-
sierten Übens eingesetzt werden, um gemeinsames Lernen im Klassenzimmer voranzutreiben
und eine weitergehende Ausbildung der sprachlichen Fertigkeiten in einem kommunikativen
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Fremdsprachenunterricht zu erzielen? Dies war der Ansatzpunkt für die explorativ-inter-


pretativ angelegte Unterrichtsforschung, die im Sinne einer Methoden-, Perspektiven- und
Datentriangulation die Vielfalt der Einflussfaktoren bei der Arbeit mit Selbstlernsoftware
(English Coach 2000, Cornelsen) in Partnerphasen des Englischunterrichts in Klasse 7 zu
erfassen und in ihrem Zusammenspiel zu analysieren versuchte. Dabei wurden fünf Haupt-
fragen für die Untersuchung definiert:
• Wie beeinflussen Aspekte der Programmbedienung, der Steuerung der Übungsformate
sowie insgesamt technische Rahmenbedingungen das Arbeiten mit der Software im Eng-
lischunterricht?
• Welche Möglichkeiten und Grenzen der didaktischen Interaktionen zwischen Software
und Lernenden ergeben sich (z. B. im Rahmen des Umgangs mit Aufgabenstellungen, Ein-
gaberückmeldungen und Leistungsbewertungen sowie im Kontext der Nutzung sprach-
licher Hilfs- und Unterstützungsangebote)?
• Welche Merkmale der Kooperation und Kommunikation der Lernenden untereinander sind
für Partnerarbeitsphasen mit der Lernsoftware charakteristisch?
• Eignet sich die für das individualisierte Üben konzipierte Software auch als Unterrichts-
medium, und welche Vor-, Begleit- und Folgeaufgaben zur Softwarearbeit sind für den
unterrichtlichen Einsatz sinnvoll?
• Welche Rolle kommt der betreuenden Lehrperson in Phasen des unterrichtlichen Arbeitens
mit der Lernsoftware zu?

2. D
 atenerhebung

Die Datenerhebung wurde in vier siebten Klassen mit insgesamt 127 Schülerinnen eines
Mädchengymnasiums durchgeführt. Im Sinne der Methoden- und Perspektiventriangulation
wurden unterrichtliche Handlungen und Interaktionen erfasst. Zu Beginn wurde zur Klärung

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444 7. Referenzarbeiten

der Ausgangslage zunächst ein Anfangsfragebogen für die beteiligten Schülerinnen eingesetzt,
dessen Fokus insbesondere auf Art und Umfang der Computernutzung zu Hause, Vorerfah-
rungen der Schülerinnen mit Englisch-Lernsoftware, Umfang und Art der Computernutzung
im schulischen Kontext sowie auf Erfahrungen mit kooperativen Lern- und Arbeitsformen
im Englischunterricht lag. Ein Anfangsfragebogen für die vier beteiligten Lehrkräfte, der vom
Aufbau und den Inhalten her dem Schülerinnenfragebogen ähnelte, hatte insbesondere die
bisherige unterrichtliche Mediennutzung der Lehrkräfte (allgemeine Einstellungen zur Com-
puternutzung, Art und Umfang des Einsatzes, besuchte Fortbildungen etc.) als Schwerpunkt.
Im Rahmen der Datenerhebung während des Unterrichts wurde dann im Laufe des ge-
samten Schuljahres in den vier teilnehmenden Klassen in insgesamt 50 Unterrichtsstunden
videographiert. Dabei wurde die Software zu Übungszwecken (Vokalen, Grammatik, Hör-
verstehen) oder als inhaltlicher Impulsgeber (z. B. Arbeit mit Hörtexten im Programm als
vorbereitende Aktivität für weitere Unterrichtsaktivitäten) eingesetzt. Per Zufallssampling
wurde regelmäßig jeweils ein Schülerinnenpaar bei der Bearbeitung der Softwareübungen
videographiert. Parallel dazu wurde das Bildschirmgeschehen mit der Bildschirmaufzeich-
nungssoftware Camtasia (TechSmith) aufgezeichnet. Darüber hinaus wurden unterrichtliche
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Vorbereitungs-, Begleit- und Folgeaktivitäten zur Softwarearbeit (z. B. die Entwicklung und
Präsentation mündlicher und schriftlicher Produkte) ebenfalls filmisch dokumentiert. Vom
Forschenden erstellte Feldnotizen dienten als ergänzende Quelle.
Außerhalb des Unterrichts wurden zu thematisch relevanten Aspekten und Bezug neh-
mend auf konkrete Unterrichtssituationen regelmäßig mit den Schülerinnen und Lehrkräften
leitfadengestützte, retrospektive Interviews (20 Interviews mit Schülerinnen und 10 Inter-
views mit Lehrkräften, Dauer jeweils ca. 15 Min.) durchgeführt. Außerdem führten pro
Klasse jeweils drei Schülerinnen ein Lerntagebuch; insgesamt wurden dabei ca. 100 Lern-
tagebucheinträge erstellt. Die Phase der Datenerhebung wurde am Ende des Schuljahres mit
Abschlussfragebögen für die Lehrkräfte bzw. für die Schülerinnen sowie einem retrospektiven
Gruppeninterview mit den vier Lehrkräften abgeschlossen.

3. D
 atenaufbereitung

Im Zentrum der Datenaufbereitung stand neben der Überführung der Fragebogenergebnis-


se in ein Statistikprogramm sowie der Pseudonymisierung und Strukturierung der bereits
schriftlich vorliegenden Daten (Lerntagebucheinträge, Feldnotizen, Lernertexte) insbesondere
die Transkription der Audio- und Videoaufzeichnungen (Partnerarbeit mit der Software in-
klusive Bildschirmgeschehen, retrospektive Interviews mit Schülerinnen und Lehrkräften).
Dabei wurde für die Erfassung der Partnerarbeit mit der Software die halbinterpretative Ar-
beitstranskription (HIAT) als Methode gewählt. So wurden in Partiturschreibweise, angelehnt
an eine Zeitachse, sowohl die auf dem Bildschirm sichtbaren Aktivitäten (was wurde ange-
klickt, welche Meldungen erschienen etc.), die verbale Kommunikation der Schülerinnen vor
dem Computer sowie – falls für die Beschreibung der Kommunikations- und Interaktionspro-
zesse und die Bearbeitung der Softwareübungen relevant – einzelne paraverbale (Lautstärke,
Betonung) und nonverbale Besonderheiten (z. B. bestimmte Gesten) in Tabellenform in Word
in ihrer Gleichzeitigkeit erfasst.

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Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht 445

Im Gegensatz zu dieser relativ detailreichen und diskursanalytisch orientierten Transkripti-


on der Partnerarbeitsprozesse mit der Software wurde bei der Verschriftung der retrospektiven
Interviews mit den Lehrenden und Schülerinnen mit Blick auf eine primär inhaltsanalytisch
orientierte Auswertung auf die Erfassung non- und paraverbaler Besonderheiten verzichtet.

4. D
 atenauswertung

Die Transkripte der Videoaufzeichnungen der Partnerarbeitsphasen mit der Software stellten
die für die Untersuchung zentralen Daten dar. Dabei wurde im Zuge der Datenauswertung
zunächst ausgehend von den Forschungsfragen ein grober Kodierungskatalog entwickelt,
der im weiteren Verlauf des Kodierungsprozesses sukzessive erweitert und verfeinert wurde.
Ziel dieses Vorgehens war es, die erhobenen Videodaten der Partnerarbeit am Computer
zu codieren, zu kategorisieren und insgesamt häufig auftretende Phänomene und typische
Abläufe zu identifizieren. Insgesamt wurden in fünf Hauptkategorien 48 Codes definiert, die
dann wiederum teilweise in weitere Untercodes aufgeteilt wurden. In der Hauptkategorie B
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

„Umgang mit den schriftlichen Aufgabenstellungen und Fehlerrückmeldungen, Nutzung der


Hilfs- und Informationsangebote der Software“ wurden etwa unter dem Code B4 „Es tauchen
Probleme auf, weil die Schülerinnen die Aufgabenstellung nicht verstehen“ die Untercodes B1
„Nutzung der Programmhilfen“, B2 „Rufen der Lehrperson“, B3 „Abbruch und Überspringen
einer Übung“ und B4 „Abbruch und Neustart der Übung“ als typische Verhaltensweisen
identifiziert und in Codes überführt.
In einem nächsten Schritt wurden die so codierten Daten im Sinne der Datentriangulati-
on mit den anderen Datenquellen (z. B. relevante, erklärende oder vertiefende Aussagen in
Interviews, Lerntagebüchern und Feldnotizen, quantitative und qualitative Ergebnisse der
eingesetzten Fragebögen) verglichen, verknüpft und somit inhaltlich dazu in Bezug gesetzt.
Die entsprechenden Daten und Textstellen der Interviews und Lerntagebücher wurden in
MAXQDA gekennzeichnet, mit Kommentaren und Code- bzw. Kategorieverknüpfungen ver-
sehen, sodass eine rasche Zuordnung, ein problemloses Auffinden der Passagen, eine Zu-
sammenführung der Ergebnisse und schließlich eine auf verschiedenen Datenquellen und
Perspektiven basierende Interpretation gewährleistet werden konnte.

5. E
 rgebnisse

• Optisch und akustisch teilweise nicht sinnhaft gestaltete, bedienungstechnisch zu schwieri-


ge oder fehlerhafte Übungsformate in Kombination mit zu ungenauen Aufgabenstellungen
und regelmäßig auftretenden Hardwareproblemen wirkten sich negativ auf die Konzen-
tration und Motivation der Schülerinnen aus.
• Grundsätzlich schätzten es die Schülerinnen sehr, mit einem interaktiven Medium zu arbei-
ten, das sie korrigiert und bewertet, das den Lernverlauf speichert, das spielerische Übungs-
formate bietet und das bei auftretenden sprachlichen Problemen verschiedene Hilfs- und
Informationsangebote (z. B. Wörterbuch, Mini-Grammatik) bereithält. Schwächen in den
Bereichen der Eingabeanalyse, des informierenden Fehlerfeedbacks und der Lerntipps

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446 7. Referenzarbeiten

wirkten allerdings immer wieder störend. Außerdem waren einige Aufgabenstellungen


zu unpräzise bzw. zu kompliziert, sodass die Schülerinnen teilweise nicht verstanden, wie
die jeweilige Übung zu bearbeiten ist. Nur durch eine Erhöhung des Bedienkomforts der
Software, kombiniert mit einer gezielten Schulung der computerbezogenen Fähigkeiten der
Lernenden, konnte die Aufmerksamkeit vollständig auf die Übungsinhalte und weg von
Bedienungsfragen gelenkt werden.
• Insgesamt wirkte die Partnerarbeit mit der Lernsoftware in hohem Maße kommunikations-
und kooperationsfördernd, weil permanent im Dialog mit der jeweiligen Lernpartnerin
sprachliche Probleme diskutiert, Lösungsvorschläge begründet sowie Eingaberückmel-
dungen, Korrekturen und Bewertungen durch das Programm durchdacht und verarbeitet
werden mussten.
• Bestimmte Übungsformate und Inhalte des Programms (z. B. das Hörverstehensformat
Listen & Act oder die vertonten Bildgeschichten) lassen sich mit verschiedenen lernerakti-
vierenden und kommunikativen Begleit- und Folgeaufgaben zur Softwarearbeit sinnvoll
verknüpfen (z. B. kreative Schreibaufgaben, Partnerinterviews, Internetrecherchen, Ent-
wicklung und Präsentation von Dialogen und kleinen Szenen). Solche Aufgaben intensi-
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vierten die verbalen Auseinandersetzungen mit den Programminhalten zwischen den ge-
meinsam arbeitenden Lernenden, wirkten motivations- und konzentrationssteigernd und
bewegten die Lernenden insgesamt zu einem gezielten Gebrauch der Fremdsprache.
• Die Integration der Selbstlernsoftware in den Unterricht veränderte maßgeblich die Lehrer-
rolle: Die Lehrkraft wurde als sprachlicher Experte, Hilfs- und Bewertungsinstanz zu-
rückgedrängt und agierte eher als Moderator, Organisator und Experte im Hintergrund.
Gleichzeitig wurde die Lehrkraft als technischer Experte gefordert, der diverse Hard- und
Softwareprobleme lösen musste.

Literatur

Schmidt, Torben (2007). Gemeinsames Lernen mit Selbstlernsoftware im Englischunterricht – Eine empi-
rische Analyse lernprogrammgestützter Partnerarbeitsphasen im Unterricht der Klasse 7. Tübingen:
Narr.

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Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht 447

Götz Schwab

Darstellung der Referenzarbeit


Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und
Fremdsprachenunterricht

1. T
 hema und Forschungsfrage

Ausgangspunkt der Arbeit ist die Frage nach interaktionalen Prozessen im Fremdsprachen-
unterricht mit lernschwachen und/oder benachteiligten Schülerinnen und Schülern, wie man
sie insbesondere in Hauptschulbildungsgängen findet. Der Fokus liegt dabei auf der Lehrer-
Schüler-Interaktion und den damit verbundenen Partizipationsstrukturen im Englischunter-
richt.
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Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung fokussiert somit das mündliche Engagement


der Beteiligten. Damit wird von vornherein der Blick auf einen ganz bestimmten Teilaspekt
des Unterrichts gerichtet. Dieses Forschungsinteresse spiegelt sich auch in der forschungs-
leitenden Frage wider, wie sie der Arbeit zugrunde gelegt wurde: Wie gestaltet sich die unter-
richtliche Interaktion zwischen Schülerinnen/ Schülern und Lehrkraft in einem so genannten
kommunikativ geführten Englischunterricht zum Ende der regulären Hauptschulzeit (Klasse
8/9)?
Die Arbeit folgt einem qualitativen Paradigma. Sie stellt den Versuch dar, Englischunter-
richt mittels eines konversationsanalytischen Untersuchungsinstrumentariums emisch, d. h.
aus Sicht der Beteiligten – Schüler wie Lehrer – darzustellen und in den Kontext fremd-
sprachendidaktischer Forschung zu stellen. In der einschlägigen angelsächsischen Literatur
wird dieser Ansatz auch als Conversation Analysis for Second Language Acquisition (CA for
SLA) bezeichnet (Markee/Kasper 2004).

2. D
 atenerhebung

Die Datenerhebung erfolgte insbesondere durch digitale Video- und Audiomitschnitte des
Unterrichts im Abstand von vier bis sechs Wochen. Es wurde bewusst nur eine Kamera
eingesetzt, um die Unterrichtsatmosphäre nicht zu sehr zu strapazieren. Bewährt hat sich die
parallele Audioaufnahme mit einem zusätzlichen Gerät in zentraler Position. Damit konnten
Schwierigkeiten bei der Verständlichkeit von Schülerbeiträgen reduziert werden. Zu jeder
Aufnahme wurden Feldnotizen angefertigt. Die Erhebung war auf eine Klasse beschränkt
und erstreckte sich über zwei Schuljahre in den Klassenstufen 8 respektive 9. Sie kann somit
als explorative Einzelfall- bzw. Longitudinalstudie bezeichnet werden.
Bei der Auswahl der Klasse wurde darauf geachtet, dass neben der zielsprachlichen Kom-
petenz der Lehrkraft auch die unterrichtliche Interaktion und hier vor allem das verbale Enga-
gement auf Schülerseite deutlich wird, was eher in höheren Klassen zu finden ist. Diesbezüg-

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448 7. Referenzarbeiten

lich weist das Korpus eine große Bandbreite an beispielhaften Sequenzen auf, die zweifellos
auch für andere Lerngruppen und andere Unterrichtssettings von Bedeutung sein können.
Um ein möglichst natürliches Setting abzubilden, wurde auf jegliche Form der Beeinflussung
von unterrichtlichen Inhalten verzichtet.
Insgesamt konnten 13 Aufnahmen gemacht werden. Eine weitere Aufnahme wurde von
den Schülern selbst erstellt, umfasst aber nur einen Teil der Gruppe (5 Schüler), welche einen
Zusatzunterricht für bessere Lerner besuchten. Damit befindet sich die Untersuchung quan-
titativ leicht über dem, was Seedhouse (2004) als durchschnittliche Anzahl an erhobenen
Unterrichtsstunden in konversationsanalytischen Arbeiten angibt (5 bis 10 Stunden). Die
Gesamtzeit der Aufnahmen beträgt 8 Zeitstunden und 33 Minuten.
Die Rolle des Videografen kann als Beobachter ohne direkte Aufgabe oder, wie Friedrichs
(1990: 97) es nennt, „observer-as-participant“ bezeichnet werden. Die Anwesenheit im Unter-
richt beschränkte sich somit rein auf die Aufnahmetätigkeit.
Um weitere Einblicke in die Klassen- und Lernsituation zu erlangen wurden mit den
Schülern Leitfadeninterviews und mit der Lehrkraft ein retrospektives (stimulated recall)
Interview geführt.
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3. D
 atenaufbereitung

Zur Aufbereitung wurden die Unterrichtsmitschnitte komplett verschriftet. Zunächst wurden


Grobtranskriptionen erstellt, die als Unterstützung bei der Sichtung des Materials dienten.
Die eigentliche Auswahl der Sequenzen erfolgt dann in einem nächsten Schritt. Diese Se-
lektion orientierte sich einerseits an der allgemeinen Zielsetzung der Arbeit (forschungs-
leitende Frage), andererseits aber auch am Material selbst. Ein solch phänomenologischer
Ansatz führt zu einer rekursiven Vorgehensweise, bei der das Erkenntnisinteresse nicht a
priori festgeschrieben, sondern vielmehr im Laufe des Forschungsprozesses konkretisiert wird
(Deppermann 2001). Die Gesprächspraktik ‚Schülerinitiative‘ kann als ein solches Phänomen
angesehen werden, welches als zentrales Element von Schülerpartizipation im Verlauf der
Untersuchung herausgearbeitet werden konnte. Insgesamt wurden n = 81 Sequenzen, mit
einer Länge zwischen 7 Sekunden und 3 Minuten und 53 Sekunden, identifiziert und gemäß
der Transkriptionskonvention GAT (Selting et al. 1998) fein transkribiert, was mithilfe einer
Transkriptionsoftware (www.transana.org) geschah. Auch die Interviews mit der Lehrkraft
sowie die Leitfadeninterviews wurden verschriftet, wobei die literarische Umschrift gemäß
der Standardorthografie des Deutschen erfolgte.

4. D
 atenauswertung

Da es sich um vornehmlich verbale Daten handelte, wurde mit der Konversationsanalyse


eine Analysemethode gewählt, die nicht nur in der ethnografischen Tradition verwurzelt ist
(Garfinkel/Sacks 1970), sondern auch im Kontext fremdsprachenspezifischer Untersuchungen
mehr und mehr an Bedeutung gewinnt (Markee/Kasper 2004). Gerade die mikroanalytische
Rigorosität der Konversationsanalyse ermöglicht dem Forschenden äußerst detaillierte Ein-

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Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht 449

sichten in unterrichtliche Interaktionsabläufe, wie sie wohl kaum mit einer anderen Methode
möglich wären.
Die identifizierten Sequenzen ließen sich im Zuge der Analyse ordnen und zu so genannten
Kollektionen zusammenfassen. Die verwendete Software Transana ermöglichte dabei nicht
nur das gleichzeitige Abspielen der Videos und synchrone Betrachten der Transkripte, sondern
auch eine Einordnung der Sequenzen bzw. Teilsequenzen in das generierte Kategoriensystem.
Neben der Gesprächsinitiation durch Lehrer oder Lerner schließt dies umfassendere Sequenz-
typen in der Lehrer-Schüler-Interaktion, unterrichtliches Reparaturverhalten (‚Korrektur‘),
aber auch sprachliche Merkmale, die für die Partizipationsgestaltung auf Schülerseite relevant
sind, mit ein. Innerhalb der Kategorien wurden Ankerbeispiele ausgewählt und ausführ-
lich diskutiert. Aufgrund der Komplexität der einzelnen Sequenzen mussten diese z. T. in
Teilsequenzen untergliedert und unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretiert werden.
Die Interviewdaten wurden kategorisiert und in den Analyseprozess eingebunden, indem
sie den Unterrichtssequenzen gegenübergestellt wurden. Rückblickend lässt sich jedoch sagen,
dass dieser Schritt nur wenig zum besseren Verständnis des unterrichtlichen Handelns bei-
getragen hat. Eine gesprächsanalytische Herangehensweise scheint vielmehr ausreichend zu
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

sein, um unterrichtliche Interaktionsstrukturen zu erforschen (vgl. Markee/Kasper 2004).

5. E
 rgebnisse

Die Untersuchungsergebnisse lassen sich auf drei Ebenen darstellen:


1. Unterrichtsstruktur: Die Lehrer-Schüler-Interaktion kann als multilogische Diskursform
bezeichnet werden, die im quasi öffentlichen Raum des Unterrichts unter Beteiligung aller
Anwesenden, jeweils mit unterschiedlichen Rollen, stattfindet. Die interaktional-inhalt-
liche Rahmung findet dabei grundsätzlich durch die Lehrkraft statt. Neben dieser klar
gesteuerten Interaktionsform kommt es jedoch immer wieder zu Situationen mit erhöhter
Schülerpartizipation. Diese sind sequentiell vorwiegend in eingebetteten Nebensequenzen
anzutreffen.
2. Partizipationsmöglichkeiten: Die Dominanz der Lehrkraft liegt in erster Linie darin be-
gründet, dass sie Gespräche in den allermeisten Fällen initiiert und beendet. Schüler­
partizipation kann somit als ein Gewährenlassen seitens der Lehrkraft bezeichnet werden.
Besonders deutlich wird dies, wenn Schülerinnen und Schüler Raum zur Eigeninitiative
erhalten.
3. Realisierung der Partizipation: Diese Eigeninitiative wird hier als Schülerinitiative bezeich-
net und ist ein Charakteristikum besonders intensiver Partizipation. Dabei zeigte sich,
dass Schülerinitiative als eigenständige und komplexe Gesprächspraktik zu bezeichnen ist,
welche insbesondere diskursive Kompetenzen erfordert, wie z. B. die Fähigkeit Beiträge
zum genau richtigen Zeitpunkt einzubringen. Gerade bei den z. T. deutlichen sprachlichen
Defiziten von Schülerinnen und Schülern in Hauptschulbildungsgängen ist dies kein leich-
tes Unterfangen.
Insgesamt zeigte die Untersuchung, wie Lernende im Fremdsprachenunterricht wieder-
holt versuchen, ihr kommunikatives Potential einzusetzen und auszuspielen. Wenngleich

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450 7. Referenzarbeiten

die institutionelle Konversation stark reglementiert ist, ergeben sich doch immer wieder
Möglichkeiten der stärkeren Partizipation von Schülerinnen und Schülern, auch wenn die
linguistischen Kompetenzen in der Zielsprache klar beschränkt sind. Entscheidend hierbei
ist das kommunikative Geschick der Lehrkraft, gerade in der den Fremdsprachenunterricht
dominierenden direkten Lehrer-Schüler-Interaktion.

Literatur

Deppermann, Arnulf (2001). Gespräche analysieren. Eine Einführung. Opladen: Leske und Budrich.
Friedrichs, Jürgen (1990). Methoden empirischer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Garfinkel, Harold/Sacks, Harvey (1970). On formal structures of practical action. In: McKinney, John C./
Tiryakian, Edward A. (Hg.). Theoretical Sociology. New York: Appleton-Century-Crofts, 337–366.
Markee, Numa/Kasper, Gabriele (2004). Classroom talks: An introduction. In: The Modern Language
Journal 88(4), 491–500.
Schwab, Götz (2009). Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische
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Pädagogik.
Seedhouse, Paul (2004). The Interactional Architecture of the Language Classroom: A Conversation
Analysis Perspective. Oxford: Blackwell.
Selting, Margret/Auer, Peter/Barden, Birgit/Bergmann, Jörg R./Couper-Kuhlen, Elizabeth/Günthner,
Susanne/Meier, Christoph/Quasthoff, Uta M./Schlobinski, Peter/Uhmann, Susanne (1998). Ge-
sprächsanalytisches Transkriptionssystem (GAT). In: Linguistische Berichte 173, 91–122.

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Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen 451

Maria Giovanna Tassinari

Darstellung der Referenzarbeit:


Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes
Fremdsprachenlernen

1. T
 hema und Forschungsfragen

In der Arbeit ging es zum Ersten darum, eine wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte
Definition von Lernerautonomie beim Fremdsprachenlernen zu erarbeiten. Auf deren Basis
wurde zum Zweiten ein Instrument zur Beschreibung von Kompetenzen und Strategien von
Lernenden entwickelt, um Lernende und Lehrende in autonomisierenden Lernprozessen zu
unterstützen. Dieses Instrument, ein dynamisches Autonomiemodell mit Deskriptoren, wur-
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de drittens theoretisch und empirisch von Expertinnen validiert und viertens an Studierenden
und Lehrenden erprobt. Die zentralen Forschungsfragen waren:
1. Wie kann Lernerautonomie beim Fremdsprachenlernen wissenschaftlich begründet und
praxisorientiert definiert und beschrieben werden?
2. Wie können daraus ein Autonomiemodell und Deskriptoren entwickelt werden?
3. Wie können Autonomiemodell und Deskriptoren theoretisch und empirisch validiert wer-
den?
4. Wie können diese Erkenntnisse zum Nutzen von Lernenden und Lehrenden sinnvoll umge-
setzt werden?

2. P
 hasen des Forschungsprozesses und Datenerhebung

Die Komplexität der Fragestellung erforderte eine explorativ‑interpretative Zugangsweise


(Grotjahn 2006), sodass das Forschungsdesign ein enges Zusammenspiel zwischen einem
theoretisch‑konzeptuellen und einem empirischen Zugang vorsah.
Ziele des Theorieteils (Frage 1) waren Beschreibung und Definition von Lernerautonomie.
Die Ziele des empirischen Teils (Fragen 2 bis 4) lagen in der Entwicklung, Validierung und
Erprobung des dynamischen Autonomiemodells mit seinen Deskriptoren. Tabelle 1 bildet die
Phasen des Forschungsprozesses sowie deren Zielsetzung und zeitlichen Ablauf ab.

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Phase Zielsetzung und zeitliche Verortung im Forschungsprozeß


452

Phase 1 Ziel: Erarbeitung einer Definition, Festlegung der Grundkomponenten von Lernerauto-
Literaturrecherche und nomie, Ermittlung von Ansätzen für die Entwicklung von Deskriptoren
‑analyse

Phase 2 Ziel: Festlegung nachvoll-


Erarbeitung einer Methode für ziehbarer Kriterien und
die Entwicklung der Deskrip­ Schritte für die Entwick-
toren lung von Deskriptoren
Phase 3 Ziel: Erarbeitung eines wissenschaftlich basierten und praxisorientier-
Entwicklung des Autonomiemo- ten Instruments für die Unterstützung von Lernenden und Lehrenden
dells (AM) und der Deskriptoren in autonomisierenden Lern- und Lehrprozessen
Phase 4 Ziel: Erarbeitung und
Pilotstudie Erprobung eines Ver-
fahrens für die Validie-
rung und Erprobung
des AM und der De-
skriptoren
Phase 5 Ziels: intersubjektive
Empirischer Teil: Validierungs- Validierung des AM
verfahren und der Deskripto-
ren bzw. Hinweise
für deren Überarbei-
tung

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Phase 6 Ziel: Erprobung des AM
Empirischer Teil: Erprobung und der Deskriptoren
an Lernenden und
Lehrenden
Phase 7 Zielsetzung: Darstellung und Reflexion über die Ergebnisse und Erkenntnisse des gesamten Forschungs-
Wissenschaftliches Schreiben prozesses
7. Referenzarbeiten

Tabelle 1: Phasen des Forschungsprozesses


Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen 453

Ausgangspunkt bildete die Analyse der einschlägigen Literatur, hauptsächlich aus dem
deutsch-, englisch- und französischsprachigen Raum, anhand mehrerer Forschungsfragen:
Wie bzw. anhand welcher Kriterien wird Lernerautonomie insgesamt definiert? Welche Kom-
petenzen werden festgelegt und wie werden sie beschrieben? Welche Entwicklungsstufen von
Lernerautonomie werden genannt? Daraus ergaben sich Grundkomponenten von Lerner-
autonomie sowie Ansätze für die Entwicklung von Deskriptoren für Kompetenzen, Strategien
und Einstellungen von Lernenden.
In Phase 2 wurden die Deskriptoren in Anlehnung an einige Prinzipien der für den Ge-
meinsamen Europäischen Referenzrahmen entwickelten Methode definiert (Europarat 2001:
200–217). In Phase 3 wurden das dynamische Autonomiemodell und die Deskriptoren ent-
wickelt. In Phase 4 (Pilotstudie) wurden die Verfahren und die Instrumente der Hauptstudie
erprobt.
Im Fokus der Phase 5 standen die Entwicklung und Durchführung eines qualitativen Ver-
fahrens für die intersubjektive Validierung des dynamischen Autonomiemodells und der
Deskriptoren. Dadurch sollte über Autonomiemodell und Deskriptoren ein intersubjektiver
Konsens erzielt und somit deren Nachvollziehbarkeit sichergestellt werden.
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Das Validierungsverfahren, eine themenzentrierte Expertendiskussion, wurde in Anleh-


nung an Flick (2000: 131–142) entwickelt, pilotiert und in der Hauptstudie mit zwei ver-
schiedenen Expertengruppen mit leicht unterschiedlichen Schwerpunkten durchgeführt.
Für die Auswahl der Expertinnen wurden Kriterien festgelegt, z. B. wissenschaftliche Aus-
einandersetzung mit dem Themenkomplex und berufliche Erfahrung in der Förderung von
Lernerautonomie beim Fremdsprachenlernen. Zu den Expertengruppen gehörten Fachwis-
senschaftlerinnen und Didaktikerinnen. Zusätzlich erfolgte die Datenerhebung für das Vali-
dierungsverfahren über Aufgaben der Struktur-Lege-Technik.
Zugleich fand eine Erprobung mit Studierenden und Lehrenden statt (Phase 6), deren Ziel
es war, Feedback zur Selbsteinschätzung auf der Basis des dynamischen Autonomiemodells
und der Deskriptoren zu erhalten. Außerdem sollte die Befragung von Studierenden und
Lehrenden zur Triangulation der Daten beitragen.
Für die Erprobung wurden das Autonomiemodell und die Deskriptoren als Checklisten
zur Selbsteinschätzung aufbereitet. Zwei Gruppen von Studierenden führten eine Selbstein-
schätzung ihrer Lernkompetenzen anhand der Checklisten durch und gaben dazu Feedback.
Zudem wurden zwei Lehrende zum Einsatz der Selbsteinschätzung mit diesen Checklisten
in autonomiefördernden Lehrsituationen befragt.
Die Datenerhebung der Erprobung sah folgende Schritte vor: (i) Erhebung persönlicher
Daten der Befragten; (ii) Leitfadeninterview zu Einstellungen und Erfahrungen der Befragten
mit Lernerautonomie; (iii) Durchführung einer Selbsteinschätzung mit den Checklisten sowie
(iv) Feedback zur Selbsteinschätzung.
Die Expertendiskussionen (Phase 5), die Interviews mit Studierenden und Lehrenden
sowie die Feedbackgespräche (Phase 6) wurden aufgenommen und transkribiert. Die in der
Struktur-Lege-Technik (Phase 5) von den Expertinnen erarbeiteten Materialien sowie die von
den Studierenden ausgefüllten Checklisten (Phase 6) wurden eingesammelt.

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454 7. Referenzarbeiten

3. D
 atenaufbereitung und Datenauswertung

Das dynamische Autonomiemodell wurde auf der Basis der Literaturanalyse konzipiert.
Wichtig hierfür waren die Festlegung der Komponenten von Lernerautonomie sowie die
Abbildung ihrer gegenseitigen Beziehungen im autonomen Lernprozess. Die Modellbildung
(Phase 3) erfolgte in mehreren Schritten: Das Modell wurde mehrmals im akademischen Kon-
text vorgestellt und mehrfach überarbeitet.
Die Transkripte der Expertendiskussionen wurden im Hinblick auf verschiedene Leitfragen
in einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht. Darüber hinaus wurden Argumente und Vor-
schläge der Expertinnen kontextualisiert, d. h. zuerst im Kontext der Diskussion, dann anhand
von Hintergrundinformationen über den beruflichen und akademischen Bezugsrahmen der
Expertinnen analysiert, um sie angemessen zu interpretieren und im Hinblick auf die Fra-
gestellung zu gewichten. Dadurch konnte die Validität der Ergebnisse gesichert werden.
Außerdem wurde für die Expertendiskussionen eine Gesprächsanalyse mit dem Ziel durch-
geführt, die Validität des Verfahrens abzusichern und die Rolle der Forscherin in den Dis-
kussionen aufzuschlüsseln und zu reflektieren. In der Gesprächsanalyse wurden die Experten-
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diskussionen in ihrer Gesamtheit auf die Prinzipien gut gelungener Kommunikation hin
analysiert. Darüber hinaus wurden die Beiträge der Diskussionsteilnehmerinnen sowie der
Forscherin auf ihren illokutionären Gehalt hin untersucht (Sprechakttheorie, Searle 1979).
So konnte ein genaues Bild der jeweiligen Diskussionen erarbeitet werden. Ebenso wurden
das kommunikative Verhalten und die Haltung der Forscherin in der Diskussion im Detail
analysiert.

4. E
 rgebnisse

Als Ergebnisse liegen zum ersten die Definition von Lernerautonomie, das dynamische
Autonomiemodell und die Deskriptoren vor sowie die Methode für die Entwicklung des
Autonomiemodells und der Deskriptoren. Diese besteht aus einem doppelten Zugang: Die
Erkenntnisse aus einer gezielten Analyse der einschlägigen Literatur (Phase 1) konnten an-
hand nachvollziehbarer Kriterien und Schritte (Phase 2) in ein praxisorientiertes Instrument
umgesetzt werden (Phase 3).
Das Validierungsverfahren diente der Absicherung des Autonomiemodells. Die themen-
und zielorientierten Diskussionen mit Expertinnen erwiesen sich als geeignet, um den in-
tersubjektiven Konsens über das Autonomiemodell und die Deskriptoren zu erlangen. Die
Gesprächsanalyse ermöglichte außerdem einen tiefgreifenden Einblick in kommunikations-
dynamische Aspekte der Expertendiskussionen und unterstrich somit die Validität des Ver-
fahrens: Die Diskussionen konnten als inhaltlich und wissenschaftlich relevant betrachtet
werden. Sie waren sachlich und erfüllten alle wichtigen kommunikativen Merkmale einer
erfolgreichen Diskussion. Durch einen regen, sachlichen und ausgewogenen Austausch führ-
ten die Diskussionen zu einer gemeinsamen Bedeutungskonstruktion und konnten somit als
gemeinschaftlicher Erkenntnisprozess betrachtet werden.
Zum Ergebnis der Forschungsfrage 3 gehört außerdem die Reflexion zur Rolle der Forsche-
rin. Diese wurde zum einen durch die genaue Definition und die Abgrenzung zwischen mei-

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Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen 455

ner Aufgabe als Forscherin und als Diskussionsleiterin durchgeführt, zum anderen durch die
Gesprächsanalyse untermauert, insbesondere durch die genaue Aufstellung meiner Sprech-
akte und die Reflexion über meine Haltungen in der Diskussion.
Die Studierenden hielten die Checklisten zur Selbsteinschätzung für ein gutes Instrument
zur Reflexion über den eigenen Lernprozess (Forschungsfrage 4). Sie erreichten dadurch eine
tiefere Bewusstheit über ihre Einstellungen und Kompetenzen sowie einen Überblick über
verschiedene Lernmöglichkeiten. Auch die Lehrenden hielten einen gezielten Einsatz der
Checklisten in autonomiefördernden Lernprozessen für sinnvoll und ertragreich.

Literatur

Europarat, Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001). Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für
Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Berlin: Langenscheidt.
Flick, Uwe (2000). Qualitative Forschung. Theorien, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozial-
wissenschaften. 5. Auflage. Reinbek: Rowohlt.
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Grotjahn, Rüdiger (2006). Zur Methodologie der Fremdsprachenerwerbsforschung. In: Scherfer, Peter/
Wolff, Dieter (Hg.). Vom Lehren und Lernen fremder Sprachen: Eine vorläufige Bestandsaufnahme.
Frankfurt/Main: Lang, 247–270.
Searle, John (1979). Expression and Meaning. Studies in the Theory of Speech Acts. Cambridge: Cam-
bridge University Press.
Tassinari, Maria Giovanna (2010). Autonomes Fremdsprachenlernen: Komponenten, Kompetenzen,
Strategien. Frankfurt/Main: Lang.

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8. Fremdsprachendidaktische
Forschung im Kontext

Friederike Klippel/Michael K. Legutke

An mehreren Stellen in diesem Handbuch scheint auf, in welcher Art und Weise die un-
terschiedlichen Kontexte auf die fremdsprachendidaktische Forschung wirken, sei es, dass
bestimmte Forschungsfelder stärker oder weniger stark beachtet werden, sei es, dass die For-
schenden selbst in anderen Kontexten tätig sind. Internationale Entwicklungen beeinflussen
die häufig gewählten Forschungsmethoden oder -themen und die öffentliche Förderung gibt
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

bestimmte Parameter vor. Schließlich tragen bildungspolitische, gesellschaftliche und wissen-


schaftliche Kontexte auch dazu bei, wie viel Forschung überhaupt möglich ist. Fragen, die sich
aus diesen unterschiedlichen Zusammenhängen ergeben, sollen im abschließenden Kapitel
des Handbuches skizziert werden, ohne dass es möglich ist, tiefergehende wissenschaftstheo-
retische und -soziologische Aspekte breit zu entfalten. Die unterschiedlichen Kontexte werden
dabei in Form von konzentrischen Kreisen in den Blick genommen.

8.1 Kontext Fach

Der engste Kontext für die Fachdidaktik einer Fremdsprache im deutschsprachigen Raum ist
die jeweilige Philologie. Anders als an anglo-amerikanischen Universitäten, an denen die
Schwesterdisziplin Applied Linguistics der Sprachwissenschaft oder auch der Psychologie
zugeordnet ist, bestehen an den meisten deutschen Universitäten und den Pädagogischen
Hochschulen enge Verbindungen zwischen der Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft
einer Philologie und deren zugehöriger Fachdidaktik. Für die fachdidaktische Forschung hat
diese Nähe einige Konsequenzen. Zum ersten zeigt ein Blick auf die Forschungstraditionen (s.
Kapitel 3), dass etwa literatur- und kulturdidaktische Arbeiten im deutschsprachigen Raum
viel häufiger durchgeführt werden als anderswo und dass entsprechende Themen auch mit
der zunehmenden empirischen Ausrichtung der fremdsprachendidaktischen Forschung nicht
an Bedeutung verloren haben. Der innerfachliche Dialog mag diese thematische Ausrichtung
fördern; wichtig ist aber sicher auch, dass die Forscher_innen in der Fremdsprachendidaktik
in der Regel selbst über die Philologien wissenschaftlich sozialisiert wurden und in diesen
Feldern über Kenntnisse verfügen und Interessen verfolgen.
Zum zweiten bestehen latente Beziehungen zwischen Forschungsthemen und -verfahren
in einem fremdsprachendidaktischen Fach und der jeweiligen Philologie, wenn man daran
denkt, dass Forschung anschlussfähig sein soll und fachintern kommuniziert wird. Als stärker

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458 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext

auf ein bestimmtes Praxisfeld gerichtete Disziplinen, nämlich Schule oder Bildungseinrich-
tungen, werden die Fremdsprachendidaktiken in ihrem Fachkontext gelegentlich als zu wenig
theoretisch und ‚wissenschaftlich‘ angesehen, da sie u. a. die Verbesserung der Praxis durch
neue Erkenntnisse zum Ziel haben. Es mag also vorkommen, dass fremdsprachendidaktische
Forschung bewusst so ausgerichtet wird, dass sie im Gesamtfach nicht in dieser Weise kriti-
siert werden kann.
Zum dritten bedeutet die fachliche Anbindung für Fremdsprachendidaktiker_innen aber
auch, dass man mit den aktuellen Entwicklungen der Forschung in der Sprach-, Literatur- oder
Kulturwissenschaft in der entsprechenden Zielsprache konfrontiert wird, was wiederum für
die fachdidaktische Forschung Anregungen liefert. Kennzeichnend für diese Zusammenhänge
sind u. a. erkennbar fachspezifische Prägungen fremdsprachendidaktischer Forschungsschwer-
punkte. Als Beispiele solcher Prägungen seien genannt: Untersuchungen von Unterrichtsdis-
kursen (geprägt durch die Pragmalinguistik), genre-didaktische Forschungen (geprägt durch
die fachspezifische Textlinguistik und Literaturwissenschaft) oder Studien zum kulturellen
Lernen mit Jugendliteratur (geprägt durch fachspezifische Kultur- und Literaturwissenschaft).
Dass sich die romanistische Fachdidaktik der Erforschung der Mehrsprachigkeit zugewandt
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

hat, ist sicher nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sich das Fach selbst als konstitutiv
mehrsprachig versteht. Trotz der Nähe zum Fach sind die Fremdsprachendidaktiken jedoch
selbständige Wissenschaftsdisziplinen, die genuine Forschungsgegenstände bearbeiten. Ihre
Aufgabe ist es folglich auch nicht, fachwissenschaftliche Inhalte in die Praxis zu transferieren,
sondern ihr Selbstverständnis zielt auf die – interdisziplinär verankerte – eigenständige Er-
forschung unterrichtsbezogener Fragestellungen.

8.2 Kontext Universität bzw. Hochschule

Während bis in die 1960er Jahre fremdsprachendidaktische Forschungsarbeiten vor allem


von Lehrer_innen und somit im Kontext der Schule durchgeführt wurden, verlagerte sich die
Forschung nach der Etablierung der Englisch- und der Französischdidaktik an den Pädagogi-
schen Hochschulen (s. Kapitel 3) allmählich in den Hochschulbereich. Mit der Einrichtung von
Professuren, die zunächst mit promovierten Lehrkräften besetzt wurden, entstand zudem das
Erfordernis, die wissenschaftliche Qualifizierung durch Promotionen und (später) Habilitatio-
nen in einem fremdsprachendidaktischen Fach zu ermöglichen, um Nachwuchs für die Profes-
suren auszubilden. An den Pädagogischen Hochschulen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten
in den alten Bundesländern in die Universitäten integriert wurden (z. B. in den frühen 1970er
Jahren in Hessen, 1980 in Nordrhein-Westfalen, bis heute nicht in Baden-Württemberg),
vertraten die Professuren jeweils das ganze Fach, also Englisch oder Französisch, und waren
somit auch für die fachwissenschaftliche Ausbildung der angehenden Lehrkräfte zuständig.
Dadurch waren die Forschungsarbeiten dieser Wissenschaftler_innen nicht automatisch auf
engere fachdidaktische Themen beschränkt.
An den Universitäten wirkt sich vielerorts die geringe personelle Ausstattung der fremd-
sprachendidaktischen Professuren insofern auf die Forschung aus, als an vielen Standorten die
Belastung durch Lehre und Prüfungen sehr hoch ist – höher als in den fachwissenschaftlichen

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8.2 Kontext Universität bzw. Hochschule 459

Bereichen, in denen sich mehrere Professuren befinden, die zudem in der Regel über mehr
wissenschaftliches Personal verfügen. Weitere Aufgaben in der Praktikumsbetreuung und der
Lehrerfortbildung reduzieren zusätzlich die für die Forschung zur Verfügung stehende Zeit.
Gleichzeitig besteht auch für die Wissenschaftler_innen in den Fremdsprachendidaktiken
der Druck, Drittmittel für Forschungsprojekte einzuwerben, um Zielvorgaben zu erreichen
und allgemeinen Leistungserwartungen zu genügen. Aufgrund der geringen Repräsentanz
von Fachdidaktiker_innen aus den Geisteswissenschaften in Auswahlgremien für Drittmittel,
etwa unter den Gutachter_innen der DFG, sind die Aussichten, tatsächlich eine Drittmittel-
Finanzierung für fremdsprachendidaktische Forschung zu erhalten, nicht besonders gut. Auch
ist insgesamt die Zahl der Förderprogramme bei Forschungsförderungsinstitutionen eher
gering, die zu fremdsprachendidaktischen Forschungsthemen passen. Für das Fach Deutsch
als Zweitsprache/Deutsch als Fremdsprache stellt sich die Situation allerdings besser dar, weil
in diesem Bereich Fördermittel für Entwicklungsprojekte bereit stehen, in deren Folge auch
Forschungsprojekte möglich werden (s. Teilkapitel 4). Entwicklungen in einzelnen Bundes-
ländern, die im Gefolge der Exzellenzinitiativen des Bundes ähnliche Förderprogramme auf-
gelegt haben, bieten möglicherweise auch neue Perspektiven für die fremdsprachendidakti-
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sche Forschung, wie das FaBiT-Projekt (Fachbezogene Bildungsprozesse in Transformation)


der Universität Bremen zeigt. In diesem Forschungsprojekt arbeiten insgesamt sechs Vertre-
ter_innen unterschiedlicher Fachdidaktiken und des Zentrums für Lehrerbildung zusammen
(Doff/Bikner-Ahsbahs/Grünewald/Lehmann-Wermser/Peters/Roviró 2014).
Da heute ein erheblicher Anteil der fremdsprachendidaktischen Forschung im Rahmen von
wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten entsteht, ist die Rekrutierung des wissenschaft-
lichen Nachwuchses eine wichtige Aufgabe. In der Regel werden daher in den fremdspra-
chendidaktischen Fächern besonders erfolgreiche Absolvent_innen eines Lehramtsstudiums
angesprochen, ob sie promovieren möchten – denn man kann ein Fach wie Englisch- oder
Französischdidaktik, anders als Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, ja nicht als alleini-
ges wissenschaftliches Fach im BA studieren. Da eine erfolgreiche Promotion im staatlichen
Schuldienst weder eine bessere Bezahlung noch eine bessere Stellung bewirkt, ist das Interesse
an wissenschaftlicher Arbeit in der Fachdidaktik auch bei hervorragenden Absolvent_innen
so lange sehr gering, solange die Einstellungschancen im Schuldienst gut sind. Die Beschäf-
tigung auf einer halben Qualifikationsstelle von unsicherer Dauer an einer Universität kann
mit dem sicheren, meist unbefristeten Status im Schuldienst in der Regel nicht konkurrieren.
Daher liegen die Zahlen für erfolgte Promotionen in den Fachdidaktiken meist wesentlich
unter denen in den fachwissenschaftlichen Bereichen. Auch herausragend qualifizierte Ab-
solvent_innen, die zunächst den Wunsch äußern, nach abgeschlossenem Referendariat in die
Forschung zurückzukehren, setzen diesen Wunsch oftmals nicht in die Praxis um, weil entwe-
der an den Hochschulen angemessene Qualifikationsstellen fehlen oder die Kultusministerien
kaum Abordnungen von Lehrkräften an die Hochschulen ermöglichen.

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460 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext

8.3 Kontext Lehrerbildung

Heute sind die fremdsprachendidaktischen Professuren, mit Ausnahme von Baden-Württem-


berg, an den Universitäten verankert und dort vor allem in der Ausbildung von Lehrkräften
für alle Schulformen (für die Schulfremdsprachen und Deutsch als Zweitsprache) oder für
den Einsatz im Deutschunterricht in nicht deutschsprachigen Regionen (Deutsch als Fremd-
sprache) tätig. Diese Schwerpunktsetzung in der Lehre und der damit verknüpfte Kontakt
zum Praxisfeld wirken anregend auf die Auswahl der Forschungsthemen.
In der Zusammenarbeit mit anderen Fachdidaktiken und den Bildungswissenschaften, die
heute vielfach an den Lehrerbildungszentren verortet ist, entstehen weitere Impulse für die
Forschung. Derzeit geschieht dies häufig im Rahmen von Verbundprojekten und -aktivitäten,
die bei der Qualitätsoffensive Lehrerbildung (Förderung durch das BMBF ab 2015) einge-
worben wurden. Diese Kooperationen sind für alle Beteiligten deshalb anregend, weil Fra-
gestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven und mit eventuell sehr unterschiedlichen
Forschungsmethoden angegangen werden und deshalb auch neue Erkenntnisse versprechen.
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Gerade für die pädagogische und psychologische Forschung ist ein fachlicher Fokus oftmals
interessant. Im Gegenzug profitiert die Fremdsprachendidaktik von der Forschungsmetho-
denkompetenz der empirischen Bildungswissenschaften.
Da die Lehrerbildung und die mit ihr verbundene Schulentwicklung in der Verantwortung
der Länder liegt, können Institutionen in diesem Feld (Ministerien, Fortbildungsinstitute und
Lehrerakademien) Impulse für Forschung geben, indem sie etwa die wissenschaftliche Be-
gleitung und Evaluation von Entwicklungsprojekten finanzieren und Fachdidaktiker_innen
zur Mitarbeit einladen. Ein Beispiel für solche Forschung ist die von Nordrhein-Westfalen in
Auftrag gegebene „Evaluation Englisch in der Grundschule“ EVENING (Groot-Wilken 2009,
Börner/Engel/Groot-Wilken 2013). Im Hamburger Schulversuch „alles<<könner“ wurden in
Zusammenarbeit mit dem IPN Kiel u. a. Materialien zur Weiterentwicklung und Implemen-
tierung kompetenzorientierten Unterrichts für unterschiedliche Unterrichtsfächer, z. B. für.
Englisch, erstellt sowie Forschungsprojekte angestoßen (Harms/Schroeter/Klüh 2016).1 Auch
in Bremen wurde in Kooperation zwischen dem Landesinstitut und der Universität eine
Reihe von Schulbegleitforschungsprojekten durchgeführt (z. B. Bechtel 2015). Vergleichbare
Evaluationsstudien und Ergebnisse wissenschaftlicher Begleitung von Schulprojekten ließen
sich auch für einige andere Bundesländer nennen.
Der Kontext der Lehrerbildung bringt jedoch noch weitere Aspekte ins Spiel. In den ein-
zelnen Bundesländern existieren unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten auf das Praxisfeld
Schule zum Zwecke der Forschung. Ob Fremdsprachendidaktiker_innen daher Zugang zum
Unterricht, zu Lehrkräften und Schüler_innen erhalten, hängt sehr stark von den jeweils
notwendigen Genehmigungsverfahren ab. In einem Bundesland wie Bayern, das Forschung
in den Schulen sehr restriktiv handhabt, mag so manches wichtige Forschungsvorhaben an
dieser Hürde scheitern.

1 Vgl. http://www.hamburg.de/alleskoenner (30. 12. 2015).

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8.4 Kontext Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik 461

8.4 Kontext Bildungs-, Kultur- und Sprachenpolitik

Erheblichen Einfluss auf die fremdsprachendidaktische Forschung haben bildungspolitische


Entwicklungen – auf deutscher und auf internationaler Ebene. So hat der Gemeinsame euro-
päische Referenzrahmen für Sprachen (GeR), der die Verabschiedung von Bildungsstandards
in Deutschland beeinflusste, vielfältige affine Forschungsvorhaben motiviert. Die Einrichtung
des IQB (Institut für Qualitätssicherung im Bildungswesen) schuf zudem weitere Projekte, in
deren Rahmen fremdsprachendidaktische Forschung erfolgte. Einzelne Bundesländer haben
zudem länderspezifische Institutionen eingerichtet, die sich mit der Qualitätssicherung auf
Landesebene befassen und Forschung anstoßen.
Am Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache lässt sich verdeutlichen, wie die Unter-
suchungsgegenstände zu bestimmten Zeitpunkten stark durch die Bildungspolitik oder die
auswärtige Kulturpolitik verändert werden: Die Auswirkungen der Integrationskursverord-
nung und die entsprechende Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge für
den Bereich der DaZ-Erwachsenenbildung in Deutschland sind Beispiele für diesen Einfluss
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im Inland. Die Initiative Schulen: Partner der Zukunft (PASCH), mit der der Deutschunter-
richt weltweit an Schulen gefördert wurde, illustriert den auslandsbezogenen Fall. Solche
massiven Veränderungen im Unterrichtswesen wecken selbstverständlich das Interesse von
Forscher_innen im Fach DaF/DaZ.
Darüber hinaus sind Mittlerorganisationen der auswärtigen Kulturpolitik wie beispiels-
weise der DAAD und das Goethe-Institut nicht nur einflussreiche Akteure, wenn es um
die Anbahnung von internationalen Forschungskooperationen geht, sondern sie gestalten
ausgewählte Forschungsbereiche, die in ihrem zentralen bildungs-, kultur- und sprachen-
politischen Interessenfeld liegen, aktiv mit. Als Beispiel kann das Test-DaF-Institut angeführt
werden, das als Aninstitut der Ruhr-Universität Bochum von der Gesellschaft für Akademi-
sche Studienvorbereitung und Testentwicklung e. V. beraten wird und dessen Budget und
Aufgaben von diesem Verein beschlossen werden; Mitglieder des Vereins sind neben vielen
anderen DAAD, Hochschulrektorenkonferenz und Goethe-Institut.2 Vielfach ermöglichen die
von einflussreichen Akteuren der Kulturpolitik geförderten Entwicklungsprojekte in ihrer
Peripherie fachdidaktische Forschungsprojekte. Ein prägnantes Beispiel ist das vom Goethe-
Institut in Verbindung mit der Süddeutschen Zeitung über 10 Jahre an der Justus-Liebig-
Universität Gießen geförderte Entwicklungsprojekt „JETZT Deutsch lernen“. Es bot den For-
schungskontext für die explorativ-interpretative Studie zu interkulturellen Interaktionen im
Chat (Marques-Schäfer 2013).
Von besonderer Bedeutung für fremdsprachendidaktische Forschungen sind die kultur-
und bildungspolitischen Initiativen zahlreicher Stiftungen, von denen stellvertretend einige
genannt werden, die vor allem im Bildungsbereich und zum Teil auch auf dem Feld des
Lehrens und Lernens fremder Sprachen aktiv sind: Baden-Württembergstiftung (ehemals
Landesstiftung Baden-Württemberg), BMW-Stiftung, Dr. Werner Jackstädt-Stiftung, Körber-
Stiftung, Hertie-Stiftung Mercator Stiftung, Robert-Bosch-Stiftung, Stiftung Lernen, Telekom
Stiftung, Volkswagenstiftung. Ähnlich wie im Falle der o. g. Mittlerorganisationen werden
von den Stiftungen in der Regel innovative Entwicklungsprojekte gefördert, die im bildungs-
2 Vgl. https://www.testdaf.de/ueber-uns/gremien (30. 12. 2015).

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462 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext

politischen Trend liegen. Im Umfeld solcher Projekte können an den beteiligten Hochschulen
Möglichkeiten und Freiräume für Forschung entstehen, die ohne das Engagement der Stif-
tungen nicht existieren würden. Als Beispiel diene das von der Baden-Württembergstiftung
in Kooperation mit dem Land Hessen, den Pädagogischen Hochschulen Freiburg und Heidel-
berg und der Justus-Liebig-Universität Gießen geförderte Entwicklungsprojekt „E-LINGO.
Didaktik des frühen Fremdsprachenlernens“, das zur Realisierung eines Masterprogramms im
Blended-Learning-Format führte (Landesstiftung 2008). Im Windschatten des Projekts ent-
standen eine Promotion zum frühen Englischlernen (Drese 2008) und zwei Promotionen zur
Qualifizierung von Lehrkräften für den Primarbereich Englisch (Benitt 2015, Zibelius 2015).
Auf ein weiteres, ebenfalls von einer Stiftung ermöglichtes und durch lokale und interna-
tionale Wirtschaftsunternehmen gestütztes Beispiel der Universität Wuppertal wird in dem
Teilkapitel „Kontext Wirtschaft“ verwiesen. In den Bereichen DaZ/Sprachbildung engagiert
sich das von der Mercator-Stiftung unterstützte Mercator-Institut an der Universität zu Köln.
Derzeit werden z. B. in vielen Bundesländern Forschungs- und Entwicklungsprojekte mit dem
Ziel einer Verbesserung der diesbezüglichen Ausbildung von Studierenden aller Lehrämter
gefördert.
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Einerseits ist es sehr positiv zu sehen, dass fremdsprachendidaktische Forschung durch die
Veränderungen des Bildungswesens und seiner Parameter gefördert wird. Andererseits muss
man jedoch fragen, inwieweit eine solche ideelle oder materielle Förderung die Ergebnisse
in gewisser Weise präjudiziert und die Erforschung anderer, ebenfalls wichtiger Fragen ver-
hindert. Was geschieht mit unliebsamen Ergebnissen in solchen Forschungsprojekten, die im
öffentlichen Auftrag handeln? Zuweilen werden bildungspolitische Weichenstellungen voll-
zogen, ohne dass es eine Begleitforschung oder wissenschaftliche Evaluation gibt. Das war
etwa beim Begegnungssprachenunterricht in den nordrhein-westfälischen Grundschulen in
den 1990er Jahren der Fall. Ein signifikantes Beispiel aus der jüngsten Gegenwart ist die von
den Bundesländern praktizierte Inklusion, der eine qualifizierte und vorgelagerte Begleit-
forschung für die Fachdidaktiken fehlt. Im Umkehrschluss führen allerdings auch erfreulich
positive Forschungsergebnisse nicht automatisch zu bildungspolitischen Veränderungen.
In der Fremdsprachendidaktik selbst gibt es bisher keine Diskussion um öffentliche För-
derung bestimmter Forschungsvorhaben und damit zusammenhängend um Auftragsfor-
schung. Das DESI-Projekt war ein bedeutendes, mit öffentlichen Geldern gefördertes Groß-
projekt für den Sprachunterricht und wurde durch einen Wissenschaftlichen Beirat beraten
(Beck/Klieme 2007, DESI-Konsortium 2008, Göbel 2007). Allerdings sind die dort erhobenen
Daten, etwa die Videodaten, nach Abschluss des Projekts nicht allgemein für die weitere
Forschung zugänglich, was die Frage nach der Nachhaltigkeit aufwirft. Auch bei anderen,
vor allem den durch Drittmittel geförderten Projekten ist Nachhaltigkeit von Forschungs-
ergebnissen ein ernstes Thema. Insbesondere bei Entwicklungsprojekten stellt sich die Frage,
ob und wie lange das geschaffene Material oder Konzept praktisch verwendet wird. Dies ist
eine grundsätzliche Problematik, die die Fremdsprachendidaktik wie andere Wissenschaften
betrifft.
Wissenschaftler_innen agieren vielfach in der Beratung von Institutionen, öffentlichen
Einrichtungen, Gremien und gesellschaftlichen Initiativen. Aus diesen Kontexten ergeben sich
für sie eventuell Einblicke in Entwicklungen, die einen gewissen Informationsvorsprung im
Hinblick auf geplante Fördermaßnahmen darstellen können. In diesem Zusammenhang stellt

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8.5 Kontext Wirtschaft 463

sich die Frage nach der Transparenz der Auswahlkriterien für solche Berater_innen. In demo-
kratischer Hinsicht besorgniserregend erscheint die Tatsache, dass selbst auf ministerialer Ebe-
ne häufig an den entsprechenden Fachverbänden vorbei die Zusammenarbeit mit Einzelper-
sonen gesucht wird, die in dieser Zusammenarbeit selbstverständlich auch eigene Interessen
verfolgen (müssen) und entsprechend der politischen Interessen auch ausgewechselt werden.

8.5 Kontext Wirtschaft

Ohne Frage gehen auch von den für die Fremdsprachendidaktiken relevanten Wirtschafts-
unternehmen Impulse aus, etwa den privaten Sprachenschulen oder den Verlagen für Lehr-
material. Besonders letztere können durch die Arbeit der z. T. mit Wissenschaftler_innen
besetzten Beratungsgruppen, die bei einschlägigen Verlagen bestehen, Forschungsthemen
anstoßen. Fremdsprachendidaktiker_innen haben somit einerseits die Möglichkeit, an wirt-
schaftlichen Entwicklungen zu partizipieren und andererseits deren Richtung mitzubestim-
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men – auch wenn dies nur in begrenztem Maße möglich ist. Damit eröffnen sich im direkten
Kontakt mit den Prozessen der Materialentwicklung Aufgaben für Forschung, die besonders
in Umbruchsphasen an Brisanz gewinnen. So macht die Digitalisierung des letzten Jahrzehnts
ein neues Nachdenken über Konzeption und Implementierung von Lehr- und Lernmaterialien
dringend erforderlich, denn die zukünftige Rolle und Ausgestaltung der Bildungsverlage ist
nicht geklärt. Trotz des engen fachlichen Verhältnisses und partieller Kooperation der Fremd-
sprachendidaktiken mit Verlagen haben letztere bisher nicht in eine systematische Nutzer-
forschung investiert. Dies könnte erklären, weshalb im Forschungsfeld Lehrwerks- und Mate-
rialforschung die Analyse bereits vorliegender, also historischer und gegenwärtiger Lehr- und
Lernmaterialien bei weitem dominiert, eine systematische Erforschung von Notwendigkeiten
der Anpassung von Lehrmaterialien an das sich verändernde Bildungssystem und die Lernge-
wohnheiten der Menschen – beispielsweise im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen
Fachdidaktiken – jedoch kaum entwickelt ist. Von dem für die fremdsprachendidaktische
Forschung wichtigsten Wirtschaftszweig, den Bildungsverlagen, sind auch in Zukunft nur
sehr eingeschränkte Mittel für die Forschungsförderung zu erwarten, wie auch andere Wirt-
schaftszweige kaum Interessen entwickeln dürften, größere Forschungsvorhaben zu fördern.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass es Forscher_innen immer wieder gelingt, lokale wie in-
ternational agierende Wirtschaftsunternehmen für die Förderung einzelner (lokaler) Projekte
zu gewinnen. Als Beispiel diene das MobiDic -Projekt (Mobile Dictionaries) der Bergischen
Universität Wuppertal, das den Einsatz von portablen elektronischen Wörterbüchern in Eng-
lisch Grundkursen an Haupt- und Gesamtschulen in Wuppertal untersuchte. Die Basisför-
derung durch die Dr. Werner Jäckstädt-Stiftung (s. o.) konnte durch Mittel der Stadtsparkasse
Wuppertal und Sachspenden der Firmen Casio und Sharp ergänzt werden (Diehr/Gießler/
Kassel 2016)3. Gerade die Verflechtung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Interessen in
Projekten dieser Art macht es jedoch zwingend erforderlich, dass Forscher_innen auf die

3 S. http://www.anglistik.uni-wuppertal.de/forschung/forschungsprojekte/mobile-​dictionaries/​­mobidic-​home.​
html (30. 12. 2015).

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464 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext

Transparenz des Forschungsdesigns und die Darstellung sämtlicher Forschungsergebnisse


achten, damit die Unabhängigkeit der Forschung gewahrt bleibt.

8.6 Kontext Gesellschaft und Fazit

Der Weg durch die konzentrischen Kreise verdeutlicht, in welch vielfältiger Art und Weise
die einzelnen Kontexte auf die fremdsprachendidaktische Forschung einwirken und wie diese
Impulse aufnimmt. Für eine praxisorientierte Disziplin, die den Anspruch erhebt, das Lehren
und Lernen von Sprachen besser zu verstehen sowie auf der Basis der gewonnenen Erkennt-
nisse weiter zu entwickeln und zu verbessern, stellt sich die Frage, ob und wenn ja, in welcher
Weise sie die Kontexte beeinflussen und damit ihre Entscheidungs- und Handlungsspiel-
räume bestimmen und/oder gar erweitern kann. Diese Frage berührt ein komplexes Geflecht
von Zusammenhängen und unterschiedlichen Diskursen, weshalb es kaum verwundert, dass
sie in innerhalb der Disziplin kontrovers erörtert wird (vgl. Bausch/Burwitz-Melzer/Königs/
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Krumm 2011).
In Bezug auf bildungspolitische Entscheidungen sind Problemfelder erkennbar, die die
fremdsprachendidaktische Forschung als „nachholende Forschung“ (Hallet 2011) erscheinen
lassen; eine Forschung die „man je nach Standort als Bearbeitung, als Kritik, als Korrektur
und Reparatur […] bezeichnen kann“ (Hallet 2011: 65). Prägnantes Beispiel ist hier sicher
die Einführung der Bildungsstandards (vgl. Königs 2011). Andererseits lassen sich auch Bei-
spiele anführen, die zeigen, dass Bewegungen in der Praxis, begleitet von zunächst einzelnen
Forschungsprojekten, durchaus von der Bildungspolitik aufgenommen werden und diese
beeinflussen. Die Geschichte des bilingualen Unterrichts illustriert diesen Fall: Entstanden als
eine Bewegung der Schulpraxis hat sich das Konzept bundesweit durchgesetzt und zugleich
weitere Forschung in erheblichem Ausmaß stimuliert.
Das vielschichtige Wechselverhältnis von fremdsprachendidaktischer Forschung und
Bildungspolitik einerseits und Öffentlichkeit andererseits lässt sich an der Einführung von
Fremdsprachen in den Grundschulbereich verdeutlichen. Diese erfolgte in einigen Bundes-
ländern mit unterschiedlich aufwändiger Begleitforschung und stimulierte eine ganze Pa-
lette vorwiegend empirischer Studien zu Teilaspekten frühen Fremdsprachenlernens. Die
Ergebnisse der Studien bestätigen einerseits, dass die Kinder trotz begrenzter Zeitbudgets
mit Begeisterung das neue Fach annehmen und Teilkompetenzen erwerben, die in den wei-
terführenden Schulen ausgebaut werden können. Andererseits haben sie signifikante Defizite
bezüglich der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte aufgedeckt, die von der Bildungspolitik
der Länder weitgehend nicht beachtet werden. Der Fremdsprachenunterricht in der Grund-
schule hatte lange den Status eines ‚heißen Themas‘. Wie häufig bei heißen Themen bedienten
sich unterschiedliche Interessengruppen (etwa Lehrer- und Elternverbände) einzelner For-
schungsmeinungen, die sie über die Presse lancierten. Der offensive Umgang mit der Instru-
mentalisierung von isolierten Forschungsergebnissen durch Interessengruppen ist genauso
wie das Einbringen von differenzierten Forschungsergebnissen in den öffentlichen Diskurs
sicher eine der wichtigen Aufgaben von Forscher_innen.

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8.6 Kontext Gesellschaft und Fazit 465

Um letzteres bemüht sich z. B. die Mehrsprachigkeitsdidaktik, indem sie vernetztes Spra-


chenlernen als Bildungsaufgabe beschreibt und Wege seiner Realisierung erörtert. Sie reagiert
damit auf die soziokulturellen Entwicklungen der weltweiten Migrationsbewegungen und
der wirtschaftlichen Globalisierung, die immer offensichtlicher werden lassen, dass etablierte
Sprachunterrichtskonzepte in einer multilingualen Schule der Revision bedürfen (Hu 2003,
Meißner/Beckmann/Schröder-Sura 2008).
Fremdsprachendidaktische Forschung ist eine gesellschaftlich alimentierte Tätigkeit. Ge-
sellschaftliche Institutionen haben deshalb zu Recht einen gewissen Anspruch auf verwert-
bare Forschungsergebnisse und verlässliche Beratung in öffentlichen Einrichtungen, Gremien
und Initiativen. Allerdings würde man die Leistungsfähigkeit auch einer praxisorientierten
Wissenschaft wie der Fremdsprachendidaktik gründlich missverstehen, würde man sie aus-
schließlich danach bewerten, wie stark sie direkt auf die Praxis einwirkt und dabei praktische
Probleme löst. In vielen Kapiteln dieses Handbuchs wird das differenzierte Verhältnis von
Theorie und Empirie und damit auch das Verhältnis von Forschung und Praxis nicht zuletzt
mit Bezug auf die allgemeinen Gütekriterien von Forschung erläutert. Fremdsprachendidak-
tische Forschung muss – wie alle Forschung – unabhängig, zuvörderst am Erkenntnisgewinn
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orientiert und von grundlegenden ethischen Prinzipien geleitet sein. Zu dieser Unabhängig-
keit gehört u. a. die Bereitschaft und Fähigkeit der Forscher_innen, neue Fragen zu stellen,
dem bildungspolitischen Mainstream analytisch und kritisch zu begegnen, den Mut zu zeigen,
auch gegen den Strom zu schwimmen und damit den Trends zu widerstehen, die möglicher-
weise einfache Lösungen signalisieren. Nicht zuletzt gehört es zur forscherischen Haltung,
auch sich selbst und das eigene Projekt immer wieder kritisch zu reflektieren.

›› Literatur

Bausch, Karl-Richard/Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (2011). Er-


forschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen: Forschungsethik, Forschungsmethodik und
Politik. Tübingen: Narr.
Bechtel, M. (Hrsg.) (2015). Fördern durch Aufgabenorientierung. Bremer Schulbegleitforschung zu Lern-
aufgaben im Französisch- und Spanischunterricht der Sekundarstufe I. Frankfurt/M.: Lang.
Beck, Bärbel/Klieme, Eckhard (Hg.) (2007). Sprachliche Kompetenzen: Konzepte und Messung. DESI-
Studie (Deusch-Englisch Schülerleistungen International). Weinheim: Beltz.
Benitt, Nora (2015). Becoming a (Better) Language Teacher. Classroom Action Research and Teacher
Learning. Tübingen: Narr.
Börner, Otfried/Engel, Gabi/Groot-Wilken, Bernd (Hg.) (2013). Hörverstehen, Leseverstehen, Sprechen.
Diagnose und Förderung von sprachlichen Kompetenzen im Englischunterricht der Primarstufe.
Münster: Waxmann.
DESI-Konsortium (Hg.) (2008). Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse
der DESI-Studie. Weinheim: Beltz.
Diehr, Bärbel/Gießler, Ralf/Kassel, Jan Philipp (2016). Englisch lernen mit portablen elektronischen
Wörterbüchern. Ergebnisse der Studie Mobile Dictionaries. Frankfurt: Lang.
Doff, Sabine/Bikner-Ahbahs, Angelika/Grünewald, Andreas/Komoss, Regine/Lehmann-Wermser,
Andrea/Peters, Maria/Roviró, Bàrbara (2014). Change and continuity in subject-specific contexts:

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466 8. Fremdsprachendidaktische Forschung im Kontext

Research report of an interdisciplinary project group at the University of Bremen. Zeitschrift für
Fremdsprachenforschung 25/1, 73–88.
Drese, Karin (2008). Einschätzung der Sprechleistung von Lernern im Englischunterricht der Grund-
schule. Gießen: Universitäts Bibliothek [Online:
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/6338] (30. 12. 2015).
Göbel, Kerstin (2007). Qualität im interkulturellen Englischunterricht: eine Videostudie. Münster:
Waxmann.
Groot-Wilken, Bernd (2009). Design, Struktur und Durchführung der Evaluationsstudie EVENING in
Nordrhein-Westfalen. In: Engel, Gabi/Groot-Wilken, Bernd/Thürmann, Eike (Hg.) (2009) Englisch in
der Primarstufe. Chancen und Herausforderungen. Berlin: Cornelsen, 124–139.
Hallet, Wolfgang (2011). Agenda-setting. Bildungspolitik und nachholende Fremdsprachenforschung.
In: Bausch, Karl-Richard/Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.), 64–72.
Harms, Ute/Schroeter, Burkhard/Klüh, Barbara (Hg.) (2016). Die Entwicklung kompetenzorientierten
Unterrichts in Zusammenarbeit von Forschung und Schulpraxis. komdif und der Hamburger Schul-
versuch alles»könner. Münster: Waxmann.
Hu, Adelheid (2003). Schulischer Fremdsprachenunterricht und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit.
Tübingen: Narr.
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Königs, Frank (2011). Eine Frage der Ehre – und nicht nur eine, und nicht nur der Ehre. Grundsätzliche
Anmerkungen zur Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen. In: Bausch, Karl-Richard/
Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank/Krumm, Hans-Jürgen (Hg.), 113–124.
Landesstiftung Baden-Württemberg (Hg.) (2008). E-LINGO. Didaktik des frühen Fremdsprachenlernens.
Erfahrungen und Ergebnisse mit Blended-Learning in einem Masterstudiengang. Tübingen: Narr.
Marques-Schäfer, Gabriela (2013). Deutsch lernen online. Eine Analyse interkultureller Interaktionen
im Chat. Tübingen: Narr.
Meißner, Franz-Josef/Beckmann, Christine/Schröder-Sura, Anna (2008). Mehrsprachigkeit fördern.
Vielfalt und Reichtum Europas in der Schule nutzen (MES). Zwei deutsche Stichproben einer interna-
tionalen Studie in den Klassen 5 und 9 zu Sprachen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr.
Zibelius, Marja (2015). Cooperative Learning in Virtual Space. A Critical Look at New Ways of Language
Teacher Education. Tübingen: Narr.

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Register

A Aufbereitung Berichts- und Meinungs-


action research 72 von Daten 185 – 187 daten 63
Ad-hoc-Stichprobe 83 Aufnahmen 149 Beta-Fehler 333, 337
adjacency pair 289 Auftragsforschung 13, 462 Betreuung 357, 400 ff.
Aktionsforschung 67, 70, Ausstrahlungseffekt 161 Betreuungsgespräch 383
72 – 74, 197, 368 Auswahl 127 Betreuungsvertrag 400
allgemein-rekonstruktives Ver- qualitative Merkmale between-method 92
fahren 243 der 136 Beurteilung 147
Alpha-Fehler 333 f., 337 Auswahl und Zusammen- Bibliographie 33 f., 373
Alteritätsforschung 234 stellung von Texten 135 Bibliographien 127, 129
Alternativhypothese 321, 331 Auswahl von Dokumen- Bibliothekskataloge 127
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Analyse ten 124 Bildungspolitik 213, 461, 464


deduktive 258 auswärtige Kulturpolitik 461 bildungspolitische Positionie-
induktive 258 Auswertung 308 rung 43
kategorisierende 266 bildungswissenschaftliche
kompetenzbezogene 301, B Positionierung 43
303 Beobachtung Binnensicht 70
kontrastive 307 teilnehmende 144 bivariate Verfahren 331
multivariate 321 f. Beeinflussung 203
univariate 321 Befragung 155 ff. C
von Daten 239 mündliche 155, 162 ff. case studies 68
von Diskursen 226 offene 156 CFA 348
Analyseprozess 272, 275 schriftliche 155 – 161, 251 Chi-Quadrat 337
analytisch-nomologisch 8, 51 semi-offene 156 Cohens d 335
analytisch-nomologisches standardisierte 156 community of practice 358
Paradigma 52 Befragungsfehler 168 complete observer 143
Ankerbeispiele 289 Begleitforschung 464 complete participant 143
Ankeritems 210 Belege 65 Conclusio 392
anonym 113 Organisation der 65 context 283
Anonymisierung 113 Überprüfbarkeit der 65 criterion sampling 84
Anordnung Beobachtung 141 ff. Critical Discourse Analy-
zeitliche 54 gesteuerte (auch: struk- sis 224
ANOVA 321 turierte, systemati-
Antwortoption 160 sche) 142 D
anwendungsorientierte nicht-teilnehmende 142 data driven 287
Wissenschaft 12 teilnehmende 142 Daten 61, 121, 377 f.
approach 68 ungesteuerte (auch: un- Analyse von 245
Artefakte 63, 200 strukturierte, unsystema- deskriptive 63
assessment literacy 213 tische) 142 Gewinnung von 245
Audioaufnahmen 145, 149 Beobachtungsbericht 145 Gruppierung der 276
Audio-Tagebücher 178 Beobachtungsbogen 146, 148 Interpretation von 245
Audio- und Videodaten 149, Bequemlichkeitsauswahl 83 intervallskalierte 159
282 Beratung 384, 401, 462 narrative 63

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468 Register

normalverteilte 321 Suche von 124 videobasiertes lautes 176


ordinale 159 Verfügbarkeit von 127 Erkenntnisinteresse 11, 120,
qualitative 63 Dokumentensammlung 124, 361
quantitative 63 129 Erkenntnisprozess 248
rangskalierte 159 Dokumenttypen 124 Erträge
Verteilung der 320 Drittmittel 459 Diskussion der 386
Datenanalyse 99, 101, 269, empirischer Arbeiten 388
276 E historischer Arbeiten 391
Datenaufbereitung 299 f. EFA 348 theoretischer Arbeiten 391
Datenbanken 99, 127, 138, Effekte Zusammenfassung der 386
185 – 187 Signifikanz der 100 Erzählimpulse 167
Datenfriedhöfe 121, 204, 245 Effektgröße 83, 101, 337 ethischer Code 108
Datenmanagement 65 Effektstärke 99 ff., 103, Ethnographie 51, 144
Datenmitschnitt 170 333–337, 339 Ethnomethodologie 243
Datensampling 79 Effektstärkeindizes 101 etisch 8, 141 f.
Datenschutz 111 Eigentümerschaft (owner- etische Perspektive 51
Datentriangulation 91, 237 ship) 177 Evaluation 460
de-anonymisiert 113 f. Einfach-Item 159 Evaluationsforschung 366
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deduktive Analyse 258 Einstufungstest 206 f., 211 Evaluation von ausgewählten
dehoaxing 110 Einwilligung 111 Studien 99
desensitizing 110 Einwilligungserklärung 111, Event-Sampling 86
Design 56, 376 113 Experiment 51, 366
mehrmethodisches 252 Einzelfall 270, 274 f. experimentelle Interpreta-
prototypisches 3, 67 f. Einzelinterview 156 tion 231
deskriptiv 49 f. Elizitierung 182 Experteninterview 163, 167
Deskriptivstatistik 324, 326 f. embedded design 55 explanativ 49 f.
Diagnosetest 206 f. emisch 8, 141 f., 282, 284 explanatory design 54
d Indizes 100 emische Perspektive 51, 254 explorativ 49 f.
discourse analysis 281 Empirie 47, 50 f. explorativ-interpretativ 9,
Diskurs 25, 222 empirische Forschung 28, 49 51, 53
Diskursanalyse 36, 222 English language bias 99 explorativ-interpretatives
Diskursdaten 63 Entwicklungsforschung 366 Paradigma 377
Diskursebene 222 episodisches Interview 250 exploratorische Faktorenana-
Diskursfragment 222, 224 epistemologisch 8 lyse 342
Diskursstrang 222 Ereignisstichproben (event- exploratory design 55
Diskussion der Erträge 386 sampling 147 Exposé 382, 394
Disputation 396 Erfahrungsbericht 50 Extraktion 348
Doktorandenkolloquium 393 Erfahrungsraum 249 Extraktion der Faktoren 347
Doktorandenseminar 394 konjunktiver 252 Exzellenzinitiative 459
Dokumentarische Me- Erfahrungswissen 249
thode 243, 273, 276 erfassen 121, 182, 193, 200 F
Dokumente 61, 121, 124, 127, Erfassung 182 f., 185, 196 f. Fach 457
133, 193, 221 Ergebnisse Fach-Community 398
Anordnung von 124 Untersuchung der 99 Fachkontext 458
Auswahl von 124 erheben 121, 182 Fachliteratur
halboffizielle 62, 125 Erhebung 182–185, 196 f. Rezeption und Verarbeitung
öffentliche 125 Erinnern vorhandener 245
offizielle 62, 125 lautes 174 Fachöffentlichkeit 394
private 62, 125 stimulusbasiertes lau- fachspezifische Prägung 458
Sammlung von 124 tes 182 Faktor 341, 346–349

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Register 469

Faktoren Forschungslücke 371 Gewichtung 54


latente 349 Forschungsmethode 119 f., graue Literatur 126
Faktorenanalyse 341 362 Grounded Theory 87, 128,
exploratorische 322, 341, Forschungsmethodologie 244 243 f., 259, 263, 275, 366
351 Forschungspartner_innen Grundgesamtheit 79, 81 f.,
konfirmatorische 342, 348, ‚Stimmen‘ der 390 246, 330
351 Forschungsprogramm Sub- Grundlagenforschung 10
Faktorenextraktion 346 jektive Theorien (FST) 67, Gruppendiskussion 156, 162,
Faktorenkomplexion 12, 15, 70 – 72, 74, 141 166, 249
40, 90, 319, 322 Forschungsprozess 1 f., 245, Gruppeninterview 156
Faktorladung 343 f., 346 f., 251, 276, 357 f. Gültigkeit 18
349 Linearität des 248 Gutachter/innen 459
Fallbeschreibung Forschungsstand 370 Gütekriterien 16 ff., 207 f.,
zusammenfassende 249 Forschungstagebuch 145, 360 209, 243, 371
Fallmatrix 265 Forschungstradition 24, 362 f. qualitative 250
Fallstudie 67–70, 74 Forschungsüberblick 135
rekonstruktive 251 Forschungsverfahren 119 H
Fallvergleich 69 Forschungszugang 7 ff. Handlungen
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Fehleranalyse 301, 304 objektivistischer 8 sprachliche 288


Fehlverhalten 114 subjektivistischer 8 Handlungsforschung 72
Feld 144, 272 Frage Handlungsmuster 281
Feldnotiz 145 geschlossene 156 Häufigkeitsanalyse 257
Feldrückzug 110 halboffene 156 Heidelberger Strukturlege-
focus group interview 166 offene 156 Technik 71
formativ 207 Fragebogen 155 – 162, 168 Hermeneutik 225, 229 f., 234
Forschendentriangulation 285 standardisierter 157 Untersuchungsfeld der 239
Forscher/in Freiwilligkeit der Teil- hermeneutische Deutungs-
Rolle als 369 nahme 111 methoden 231
ForscherInnentriangulation 92 Fremdbeobachtung 144 hermeneutische Methodik 231
Forschertagebuch 145, 384 Fremdsprachendidaktik 1, 5 hermeneutischer Trug-
Forschung 7 ff. Konstrukte der 41 schluss 233
angewandte 10 fremdsprachendidaktische hermeneutischer Zirkel 225,
empirische 49 Reihe 398 232
Funktionen theoreti- Fremdverstehen 234, 249 hermeneutisches Verfah-
scher 40 Funktionale Pragmatik 280 f. ren 225, 229
historische 28, 31, 33, 129, Heterogenität
193, 223, 225, 366 externe 270
interdisziplinäre 12 G Heuristik 124, 126 f.
theoretische 39, 366 GAT 286 theoretische 273
Typen theoretischer 40 gatekeepers 79, 84 HIAT 286
Forschungsansatz 68 Gegenstandsangemessen- Hinlänglichkeit (suffi-
Forschungsbericht 395 heit 16, 18 ciency) 246
Forschungsbeziehung 109 geistiges Eigentum 114, 394 historische Lehrbuchana-
Forschungsdatenbank 398 Gelegenheitsstichprobe 83 lyse 35
Forschungsentscheidung 59 generalisierbar 98, 103 historische Quellen 32, 220
Forschungsethik 108, 379 Generalisierbarkeit 88, 99, historisch-sozialer Kon-
Forschungsfeld 13 – 15 103, 211 text 223
Zugang zum 109 Gesellschaft 464 hoch-inferent 93, 148
Forschungsfrage 129, 194, Gesprächsanalyse 280 Homogenität
319, 359, 361 ff. Gesprächspraktik 287 ff. interne 270

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470 Register

Horizontverschmelzung 234 f. kontextuelle 232 induktive 261 f., 263


Hypothesen 361, 377 kulturanalytische 232 theoriegeleitete 260
Überprüfung von 50 psychologisch-mimeti- Kategoriensystem 146, 258,
Hypothesen generieren 50 sche 232 261 – 265
hypothesengenerierende Ver- reflektierende 249 Kategorisierung 245, 258, 313
fahren 246 strukturale 231 kausale Zusammenhänge 50
hypothesentestende Ver- textimmanente 231 Kennwerte
fahren 246 Verfahren der 224 deskriptive 321
von Daten 245 Keyword-Analyse 310
I intersubjektive Nachvollzieh- Klumpenstichprobe 81
ideographisch 9 barkeit 17, 253, 288 Kode 263 f., 266
Impact-/Washback-Studie 213 Intertextualität 42, 223 natürlicher 247
Indikatorenanalyse 257 Intervallskala 326 Kodebaum 263
Indizes Intervallskalenniveau 326 Kodierbuch 100
empirische 99 Interventionsstudie 199 f., Kodieren 264, 320
induktive Analyse 258 209, 211, 213, 243 axiales 247
Inferenzniveau 148 Interview 155 – 157, offenes 247
Inferenzstatistik 324, 326 f., 162 – 170, 178, 249, 251 selektives 247
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330, 337 episodisches 250 theoretisches 252


inferenzstatistische Verfah- fokussiertes 165 Kodiermemo 264
ren 321 leitfadengestütztes Kodierparadigma 247
Inhaltsanalyse 252, 256 – 266 163 – 165 Kodierplan 99
deduktive 258, 261 narratives 162, 165 f., 250 Kodierschema 100
induktive 258, 261 problemzentriertes 165 kodiert 320
inhaltlich strukturie- problemzentriertes semi­ Kodierung 100, 147, 245 f.,
rende 265 strukturiertes 178 264, 266
qualitative 256, 258– 262, qualitatives 162 ff. von ausgewählten Stu-
266 quantitatives 162 dien 99
quantitative 257 f. retrospektives 167 Kodierverfahren 247
Innenperspektive 144 Interviewerverhalten 167, 170 Kodings 264
Rekonstruktion der 142 Interviewformat 162 Kommunalität 344, 346 f.
Innensicht 70 Intra-Coder-Reliabiltät 93 Kompetenztest 206 f., 211
innere Sprache (inner Intra-Rater-Reliabiltät 93 Konfidenzintervall 337
speech) 174 Introspektion 161, 173 Konkordanzsuche 315
Intensitätsanalyse 257 introspektives Verfahren 174 quantitative 311
interactional analysis 281 IRF-exchange 281, 289 Konkordanzwerkzeuge 315
Interaktion 280 IRT-Analyse 209 Kontext 105, 223, 283, 390,
Interaktionsanalyse 280 f. Itemformulierung 159 457
Inter-Coder- bzw. Item-Response-Theory geistiger 223
Inter-Rater-Reliabilität 93 (IRT) 209 historischer 223
Inter-Coder-Reliabilität 17, Iterativität 246 natürlicher 200
93, 258 politischer 223
interdisziplinär 12, 95 K sozialer 223
Interimsprache 297 Kamera 149 Kontextdaten 64, 199, 202
interlanguage 297 f. Kategorie 258, 260 f., 263 f., Kontext Hochschule 458
Internetforschung 111, 114 266, 271 Kontextualität 283
Interpretation 99, 142, 224 f. Kategorienbildung 247, 259, Kontext Universität 458
experimentelle 231 261 Kontingenzanalyse 257
formulierende 249 deduktive 260 Kontingenzkoeffizient C 332
komparative 231 deduktiv-induktive 259 kontrastive Analyse 307

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Register 471

Konversationsanalyse 280 f. standardisierte 211 Methodentriangulation 92,


Konzept- und Theoriebil- Leitfaden 163 – 166, 170, 178 284
dung 244 Leitfadeninterview 163 – 166 methodenübergreifend 92
Kookkurrenzanalyse 312 Lernerkorpora 304, 309, 315 Methodik
Korpora Lernerprodukte 126, 194 – 198 hermeneutische 231
lernprozessbezogene 316 Lernersprache 182, 297 ff., metrisch 326, 328 f., 332
Korpus 187 ff., 191 303 f. metrische Skala 326
imaginäres 128 Lernersprachenana- Mittelwert 328
konkretes 128 lyse 299 – 304 Mittlerorganisation 461
virtuelles 128 Likert-Skalen 158 mixed methodologies 92
Korpusanalyse 306, 308 lineare Vorgehensweisen 120 mixed methods 54, 92, 320
qualitative 313 Literaturrecherche 99 Mixed-Methods-Sampling 88
Korpusaufbereitung 316 Literaturüberblick 370, 373 mixed models 54
Korpusbegriff 307 Literatur- und Kulturdidak- Modalwert 328
Korpusbeschreibung tik 40, 230 Modellbildung 41
quantitative 310 Literaturvermittlung Modellfall 275
Korpusdaten 306, 308 Konzepte der 40 Modelltyp 275
Korpuserstellung 124, 126, Moderatorenanalysen 103
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182, 187 – 191 M moralische Perspektive 108


Korpuslinguistik 307 Machbarkeit 85 Multi-Item 159
Korpustyp 307 Makro- und Mikroanalyse 225 Multimodalität 316
Korrelation 100, 322, 336 Mann-Whitney-U-Tests 322 multiple choice 156
korrelationsstatistische Ver- MANOVA 321 multivariat 322, 341
fahren 322 Materialentwicklung 45, 463 Musterdurchlauf 283
Kulturpolitik 461 Materialforschung 463
auswärtige 461 MAXQDA 263 N
Kulturvermittlung Median 328 Nachbarschaftspaar 289
Konzepte der 40 Mehrfachauswahloption 156 Nachfragen 163, 166
kumulative Qualifikations- Mehrmethoden-Ansatz 284 Nachhaltigkeit 462
schrift 396 Mehrmethodendesign 178 nachholende Forschung 464
Mehrsprachigkeitsdidak- Nachvollziehbarkeit
L tik 465 intersubjektive 17, 288
Labor 144 Meilenstein 383 Nachwuchs 459
Längs- und Querschnitt- Merkmal 270, 325–328, 330, Nachwuchstagung 394
daten 122 334 Natürlichkeit 196 f., 202
latente Variable 341 merkmalsheterogen 272 Neusprachenreform 32
lautes Denken 174 merkmalshomogen 272 niedrig-inferent 93, 148
lautes Erinnern 174 Merkmalsraum 271 nominal 328 f., 332
Lehrbuchanalyse Messinstrument 103 Nominalskala 326
historische 35 Meta-Analysen 98 Nominalskalenniveau 325
Lehrerbildung 29, 460 Metadaten 188 f., 191, 308, nominalskaliert 328
Lehrerfrage 289 316 nomothetisch 8
Lehr- und Lernmaterial Methode 308 ff., 313 Nullhypothese 321, 331
Analyse 42 dokumentarische 243, 249,
Auswahl 42 276 O
Lehr- und Unterrichtsmateria- historische 220, 222, 226 objektivistisch 8
lien 126 qualitative 312 Objektivität 16 f., 73, 208
Lehrwerk 463 quantitative 309, 320 observer-as-participant 143
Lehrwerkanalyse 266 quantitative korpusana- öffentlich 125
Leistungsuntersuchung lytische 309 Öffentlichkeit 464

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472 Register

off-line retrospection 176 Primär- und Sekundärdoku- innere 221


online/offline 143 mente 124 Quellensammlungen 34
on-line retrospection 176 principal axis factoring Quellentext 225
Online-Veröffentlichung 397 (PAF) 346 Quotenauswahlstrategien 82
ontologisch 8 principal component analysis Quotenstichprobe 83
Operationalisierung 377 (PCA) 346
ordinal 326, 328 ff., 332 Prinzip der maximalen Kon- R
Ordinalskala 325 f. trastierung 128 range 328
Ordinalskalenniveau 328 Prinzip der minimalen Kon- Rating 303
outcome measures 99 trastierung 128 Rating-Skalen 158
Produkt- und Prozess- Rationalismus 51
P daten 122 Reaktivität 176
PAF 346 Produkte Realien und Objekte 126
Paradigma 9 unterrichtsbezo- recency-effect 160
analytisch-nomologisches 9 gene 193 – 199 Recherche 372
explorativ-interpretatives 9, Profilanalyse 303 Recherchestadium 393
377 Profilmatrix 265 Redeanteil 284
paralleles Design 55 Projektmanagement 382 Referenzarbeit 3, 405 ff.
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participant-as-observer 143 Promotionsordnung 397 reflection-in-action 177


Partizipationsgrad 143 Prototyp 272 reflection-on-action 177
PCA 346 f. prototypisches Design 9, 379 Reflexivität 243
Pearsons r 331 Prozess Reichweite 18, 223, 319, 323
Perspektive 120 zyklischer heuristischer 220 Relativismus 51
emische 51, 243, 254 prudentielle Perspektive 108 Relevanz 10
etische 51 Pseudonym 113 Reliabilität 16, 73, 93,
moralische 108 Pseudonymisierung 113 207 – 209
prudentielle 108 publication bias 99, 101 Relikte 126
Pfaddiagramm 343, 349 Publikation 99, 101, 393, 397 Replikation 98
phänomenologische Arbei- purposive sampling 84 approximative 102
ten 43 p-Wert 333 f., 337, 339 konstruktive 102
Pilotierung 168, 185, 380 konzeptuelle 102
Plagiarismus 114 Q systematische 102
Plagiat 396 QDA-Software 276 Replikationsstudien 98, 102
Population 80, 330 f. qualitatives Gütekriterium repräsentative Stichprobe 80
Positionseffekt 168 Flexibilität 250 repräsentative Textmenge 330
Poster-Präsentation 395 Offenheit 250 Repräsentativität 17, 79
Power-Analyse 101, 323 Transparenz 250 Ressourcen 138
Powerpoint-Präsentation 395 Qualitätsoffensive Lehrer- retrospektives Verfahren 174
Praktikabilität 208 bildung 460 Rezeptionsästhetik 44, 230
Prä-/Posttest-Design 209 f. Qualitätssicherung 461 rhetorische Struktur 373
Präsentation 393, 395 quantifizieren 284 r Indizes 100
Präsentationssampling 79, quantitative Inhaltsana- Rotation 347 f.
388 f. lyse 257
Praxis 365, 368 Quartil 329 S
primacy-effect 160 Quartilsabstand 328 Sampling 78, 91, 168, 251,
Primärdaten 62, 66, 188, 252, Quasi-Experiment 52 330, 379
308 Quellen 124, 129, 133, 225 abweichender Fälle 86
Aufbewahrung von 66 Quellenkorpus 220 extremer Fälle 86
Sicherung von 66 Quellenkritik 36, 221 kritischer Fälle 86
äußere 221 maximaler Variation 86

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Register 473

theoretisches 245 repräsentative 80 Thema 359–362


typischer Fälle 86 theoretische 83 Themenmatrix 265
Sampling-Strategien unabhängige 332 theoretical sampling 87, 91,
probabilistische 81 verbundene 332 128, 246
Sättigung (saturation) 128, Stichprobengröße 79, 83, 320, theoretische Arbeiten 132, 135
246, 250 334 theoretische Forschung 30,
theoretische 245 f. Stichprobenumfang 323, 333, 61, 366
Schlüsselvariablen 102 337 Funktionen 40
Schlüsselwortanalyse 311 Stichprobenziehung 79 Typen 40
Schlusskapitel 392 Stiftung 461 Theorie 47, 105, 365 f., 368
Schneeballprinzip 127 stimulated recall 174, 182 Theoriebildung 39, 247, 288
Schreibprozess 396 Stimulus 184 Theoriegenerierung
Schulprogramm 32 Streuung 329 datengeleitete 244
scientific community 402 Strukturgleichungsmodell 342 Theorientriangulation 93
Segmentierung 288 subjektivistisch 9 Theorie-Praxis-Bezug 11, 13,
Sekundärdaten 62, 188, 308 Suche 365 – 368
Sekundär-Literatur systematische 127 Theorie- und Modellbil-
wissenschaftliche 124 summativ 207 dung 132
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Selbstauswahl 82 Synthese 35, 98 theory driven 287


Selbstbeobachtung 144 Szenario 184 f. Totalerhebung 80
Selbstreflexivität 239 Transferdesign 55
Sensibilität T Transkribieren 186
theoretische 245 Tagebuch 161 Transkription 147, 187, 218,
Sequentialität 283 Tertiärdaten 62, 188 286, 300
Sequenzanalyse 283 Test 205 – 214 Transkriptionsprogramm 186
Signifikanz 330 f., 333 f., 337, summativer 206 Transkriptionsprozess 254
339 Testanalyse 208 f. Transkriptionssoftware 185 ff.
Skalenniveau 325 ff., 330 Testeinsatz 211 ff. Transkriptionssystem 286
Skalentypen 158 testen 205 – 214 Transparenz 99, 109 f., 243,
Softwarewerkzeuge 309 formatives 206 464
Spearmans Rho 322, 332 Testentwicklung 208, 213 Triangulation 18, 90
Sprache Testethik 208 methodeninterne 92
innere (inner speech) 174 Teststärke 83, 333 ff., 337 triangulatory design 55
Sprachenpolitik 461 Textauslegung trianguliert 251
Spracherwerbsrelevanz 316 qualitative 223 Trugschluss
Sprachlernbiographie 162 Texte 61, 121, 133, 182, hermeneutischer 233
Sprachvermittlung 194 – 199, 201, 258 t-Test 321, 332, 337
Konzepte der 40 affine primäre 134 Typenbildung 250, 254,
SPSS 320 Auswahl und Zusammen- 269–276
Standardabweichung 329, stellung 135 sinngenetische 278
334, 336 primäre 61, 133 soziogenetische 278
Statistik 327 sekundäre 61, 133 Type-Token-Verhältnis 311
statistische Verfahren 99, Textinterpretation Typologie 270–273
319 f., 323 Methoden der 223 Konstruktion von 269
Stegreiferzählung 165 text retrieval 263 f. multidimensionale 275
Stichprobe 79, 127 f., 327, 330, Textzusammenstellung 132 natürliche 273
332, 334 qualitative Entscheidungen
geschichtete 81 zur 137 U
mehrstufige 82 quantitative Entscheidun- Überblicksdarstellung 134
nicht-repräsentative 80 gen zur 136 Überblicksforschung

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474 Register

vergleichende 43 hypothesengenerie- W
Unabhängigkeit 465 rende 246 Wahrnehmungsprozess 235
univariat 321 hypothesentestende 246 washback-Studie 213
univariate Verfahren 331 inferenzstatistische 321 Wirtschaft 463
unterrichtsbezogenes Pro- introspektives 174 Wissenschaft 1 ff.
dukt 62 f., 193 f., 197, 200 korrelationsstatistische 322 anwendungsorientierte 12
Unterrichtsforschung 280 multivariate 331 wissenschaftliche Beglei-
videobasierte 150, 284 retrospektives 174 tung 460
Unterrichtsvideographien statistische 319 wissenschaftlicher Beitrag 395
Korpora mit 316 typenbildendes 270 wissenschaftliche (Sekundär-)
Unterschiedshypothese 331 f. univariate 331 Literatur 124
Vergleich 246, 272 within-method 92
V Vergleichen Wortliste 310
Valenzanalyse 257 Technik des 252
validieren 98, 105 Verhalten 141 Z
Validierung 90, 102, 208 f., Verhältnisskala 326 Zeitplanung 383
309 Verlag 463 Zeitschriftenjahrgänge 127
Validierungsstudie 212 Veröffentlichung 393, 397 f. Zeitstichproben (time-
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Validität 17 f., 73, 90, 99, 178, Vertiefungsdesign 54 f. sampling) 147


208 f., 377 Vertraulichkeit 113 Zeit- und Arbeitsplanung 382
Variable 271, 326 Video 147, 282 Zitationsanalyse 128
latente 341 Videoaufnahmen 149 Zufallsstichprobe 81
manifeste 341 ff., 349 videobasierte Unterrichts- Zufallsstichprobenauswahl 81
Varianzanalyse 321 forschung 150, 284 Zugänglichkeit 85, 125
Variationsbreite 328 Videodaten 150 Zusammenfassung der Er-
Verallgemeinerungsdesign 55 Videographie 150 träge 386
Verbalprotokoll 174 Videointeraktionsana- Zusammenhangshypo-
Verbundprojekt 460 lysen 150 these 331
Verfahren Vollerhebung 80 zyklischer heuristischer Pro-
allgemein-rekonstrukti- Vorauswahl 135 zess 220
ves 243 Vorgehen zyklische Vorgehenswei-
bivariate 331 zyklisches 120, 246 sen 120, 246
hermeneutisches 225, 229

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Die Autorinnen und Autoren

Karin Aguado, Prof. Dr., Universität Kassel, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Fremdsprachen-
lehr- und -lernforschung
Ulrike Arras, Dr., Ruhr-Universität Bochum, TestDaF-Institut Bochum, Testentwicklung
Senem Aydın, Dr., Justus- Liebig-Universität Augsburg, Department für Anglistik und Amerikanistik,
Didaktik des Englischen
Christine Biebricher, Dr. phil., The University of Auckland, Faculty of Education and Social Work,
International Languages Exchanges and Pathways (ILEP)
Eva Burwitz-Melzer, Prof. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Didaktik des
Englischen
Daniela Caspari, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Romanische Philologie, Didaktik der
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Romanischen Sprachen und Literaturen


Sabine Doff, Prof. Dr., Universität Bremen, Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften, Fremd-
sprachendidaktik Englisch
Thomas Eckes, Priv.-Doz. Dr., Ruhr-Universität Bochum, TestDaF-Institut, Abteilung Psychometrie und
Sprachtestforschung
Susanne Ehrenreich, Prof. Dr., Technische Universität Dortmund, Applied Linguistics and English
Language Education
Christian Fandrych, Prof. Dr., Universität Leipzig, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Bereich Lin-
guistik
Urška Grum, Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Englische Philologie, Didaktik des Englischen
Claudia Harsch, Prof. Dr., Universität Bremen, Fachbereich 10 Sprachlehr- und -lernforschung, Fremd-
sprachenzentrum der Hochschulen im Land Bremen
Lena Heine, Prof. Dr., Ruhr-Universität Bochum, Seminar für Sprachlehrforschung
Johanna Hochstetter, Dr., Freie Universität Berlin, Center for Research in Primary Education
Friederike Klippel, Prof. em. Dr. Dr. h. c., LMU München, Department für Anglistik und Amerikanistik,
Didaktik der englischen Sprache und Literatur.
Petra Knorr, Dr., Universität Leipzig, Institut für Anglistik, Didaktik des Englischen
Elisabeth Kolb, Dr., Kaisheim
Daisy Lange, M. A., Universität Leipzig, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Bereich Linguistik
Michael K. Legutke, Prof. em. Dr., Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Anglistik, Didkatik der
englischen Sprache und Literatur
Nicole Marx, Prof. Dr., Universität Bremen, Fachbereich 10: Sprach- und Literaturwissenschaften,
Deutsch als Zweitsprache / Fremdsprache
Grit Mehlhorn, Prof. Dr., Universität Leipzig, Institut für Slavistik, Didaktik der slavischen Sprachen
Cordula Meißner, Dr., Universität Leipzig, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Bereich Linguistik
Verena Mezger, M. A., Universität Potsdam, Institut für Germanistik, Deutsch als Fremd- und Zweit-
sprache
Claudia Riemer, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft,
Deutsch als Fremd- und Zweitsprache
Dorottya Ruisz, Dr., London

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476 Die Autorinnen und Autoren

Michael Schart, Dr., Associate Professor, Keio Universität Tokio, Japan, Juristische Fakultät, Deutsch-
landstudien/Deutsch als Fremdsprache
Christin Schellhardt, MA, Universität Potsdam, Institut für Germanistik, Deutsch als Fremd- und Zweit-
sprache
Barbara Schmenk, Prof. Dr., University of Waterloo, Kanada, Germanistik/Deutsch als Fremdsprache
Torben Schmidt, Prof. Dr., Leuphana Universität Lüneburg, Institute of English Studies
Karen Schramm, Prof. Dr., Universität Wien, Institut für Germanistik, Deutsch als Fremdsprache
Götz Schwab, Prof. Dr., Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Institut für Mehrsprachigkeit, Fachbereich
Englisch
Julia Settinieri, Prof. Dr., Universität Paderborn, Institut für Germanistik und Vergleichende Literatur-
wissenschaft, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache Schramm
Yazgül Şimşek, Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanistisches Institut, Centrum für
Mehrsprachigkeit und Spracherwerb
Ivo Steininger, Dr., Universität Gießen, Institut für Anglistik, Didaktik des Englischen
Giovanna Tassinari, Dr., Freie Universität Berlin, Sprachenzentrum
Laurenz Volkmann, Prof. Dr., Englische Fachdidaktik, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Wolfgang Zydatiß, Prof. Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Anglistik und Amerikanistik,
Lizenziert für UB_Kassel am 29.05.2021 um 18:09 Uhr

Fachdidaktik Englisch (CLIL)

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