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ABWEHR-NEUROPSYCHOSEN
Freud, I. 5
D I E ABWEHR-NEUROPSYCHOSEN
Versuch einer psychologischen Theorie
der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen
und gewisser halluzinatorischer Psychosen
I
Ich beginne mit jener Abänderung, die mir an der Theorie
der hysterischen Neurose erforderlich scheint:
Daß der Symptomkomplex der Hysterie, soweit er bis jetzt
ein Verständnis zuläßt, die Annahme einer Spaltung des Bewußt-
seins mit Bildung separater psychischer Gruppen rechtfertigt,
dürfte seit den schönen Arbeiten von P. Ja net, J. B r e u e r u. a.
bereits zur allgemeinen Anerkennung gelangt sein. Weniger
geklärt sind die Meinungen über die Herkunft dieser Bewußt-
seinsspaltung und über die Rolle, welche dieser Charakter i m
Gefüge der hysterischen Neurose spielt.
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Nach der Lehre von Jan et ist die Bewußtseinsspaltung ein
primärer Zug der hysterischen Veränderung. Sie beruht auf einer
angeborenen Schwäche der Fähigkeit zur psychischen Synthese,
auf der Enge des „Bewußtseinsfeldes" (champ de conscience),
welche als psychisches Stigma die Degeneration der hysterischen
Individuen bezeugt.
Im Gegensatz zur Anschauung Ja nets, welche mir die mannig-
faltigsten Einwände zuzulassen scheint, steht jene, die J. B r e u e r
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in unserer gemeinsamen Mitteilung vertreten hat. Nach B r e u e r
ist „Grundlage und Bedingung" der Hysterie das Vorkommen
von eigentümlichen traumartigen Bewußtseinszuständen mit ein-
geschränkter Assoziationsfahigkeit, für welche er den Namen
„ h y p n o i d e Zustände" vorschlägt. Die Bewußtseinsspaltung ist
dann eine sekundäre, erworbene; sie kommt dadurch zustande,
daß die in hypnoiden Zuständen aufgetauchten Vorstellungen vom
assoziativen Verkehr mit dem übrigen Bewußtseinsinhalte abge-
schnitten sind.
schloß, daran zu vergessen, weil sie sich nicht die Kraft zutraute,
den Widerspruch dieser unverträglichen Vorstellung mit ihrem
Ich durch Denkarbeit zu lösen.
Solche unverträgliche Vorstellungen erwachsen bei weiblichen
Personen zumeist auf dem Boden des sexualen Erlebens und
Empfindens, und die Erkrankten erinnern sich auch mit aller
wünschenswerten Bestimmtheit ihrer Bemühungen zur Abwehr,
ihrer Absicht, das Ding „fortzuschieben", nicht daran zu denken,
es zu unterdrücken. Hieher gehörige Beispiele aus meiner Er-
fahrung, deren Anzahl ich mühelos vermehren könnte, sind
etwa: Der Fall eines jungen Mädchens, welches es sich verübelt,
wahrend der Pflege ihres kranken Vaters an den jungen Mann
zu denken, der ihr einen leisen erotischen Eindruck gemacht
hat 5 der Fall einer Erzieherin, die sich in ihren Herrn ver-
liebt hatte, und die beschloß, sich diese Neigung aus dem
Sinne zu schlagen, weil sie ihr mit ihrem Stolze unverträglich
1
schien u. dgl m.
Ich kann nun nicht behaupten, daß die Willensanstrengung,
etwas Derartiges aus seinen Gedanken zu drängen, ein patho-
logischer Akt ist, auch weiß ich nicht zu sagen, ob und auf
welche Weise das beabsichtigte Vergessen jenen Personen ge-
lingt, welche unter denselben psychischen Einwirkungen gesund
bleiben. Ich weiß nur, daß ein solches „Vergessen" den von mir
analysierten Patienten nicht gelungen ist, sondern zu verschie-
denen pathologischen Reaktionen geführt hat, die entweder eine
Hysterie oder eine Zwangsvorstellung, oder eine halluzinatorische
Psychose erzeugten. In der Fähigkeit, durch jene Willensanstren-
gung einen dieser Zustände hervorzurufen, die sämtlich mit Be-
wußtseinsspaltung verbunden sind, ist der Ausdruck einer patho-
logischen Disposition zu sehen, die aber nicht notwendig mit
II
Wenn bei einer disponierten Person die Eignung zur Kon-
version nicht vorhanden ist und doch zur Abwehr einer uner-
träglichen Vorstellung die Trennung derselben von ihrem Affekt
vorgenommen wird, dann m u ß dieser Affekt auf p s y c h i -
schem Gebiet verbleiben. Die nun geschwächte Vorstellung
bleibt abseits von aller Assoziation im Bewußtsein übrig, ihr frei
F r e u d , I.
72 Werke aus den Jahren 1892-1899
III
In beiden bisher betrachteten Fällen war die Abwehr der un-
verträglichen Vorstellung durch Trennung derselben von ihrem
Affekt geschehen; die Vorstellung war, wenngleich geschwächt
und isoliert, dem Bewußtsein verblieben. Eis gibt nun eine weit
energischere und erfolgreichere Art der Abwehr, die darin besteht,
daß das Ich die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt
verwirft und sich so benimmt, als ob die Vorstellung nie an das
Ich herangetreten wäre. A l l e i n i n dem M o m e n t , i n dem dies
g e l u n g e n ist, befindet sich die Person i n einer Psychose,
die man w o h l n u r als „ h a l l u z i n a t o r i s c h e V e r w o r r e n h e i t "
klassifizieren kann. Ein einziges Beispiel soll diese Behauptung
erläutern :
Ein junges Mädchen hat einem Mann eine erste impulsive
Neigung geschenkt und glaubt fest an seine Gegenliebe. Tat-
sächlich befindet sie sich im Irrtum; der junge Mann hat ein
anderes Motiv, ihr Haus aufzusuchen. Die Enttäuschungen bleiben
auch nicht aus; sie erwehrt sich ihrer zunächst, indem sie die
entsprechenden Erfahrungen hysterisch konvertiert, erhält so ihren
Glauben, daß er eines Tages kommen und um sie anhalten werde,
fühlt sich aber dabei infolge unvollständige^. Konversion und be-
ständigen Andranges neuer schmerzlicher Eindrücke unglücklich
und krank. Sie erwartet ihn endlich in höchster Spannung für
einen bestimmten Tag, den Tag einer Familienfeier. Der Tag
verrinnt, ohne daß er gekommen wäre. Nachdem alle Züge, mit
denen er ankommen könnte, vorüber sind, schlägt sie in hallu-
zinatorische Verworrenheit um. Er ist angekommen, sie hört
seine Stimme im Garten, eilt in Nachtkleidung herunter, ihn zu
empfangen. Von da an lebt sie durch zwei Monate in einem glück-
Die Abwehr-Neuropsychosen 75
lichen Traum, dessen Inhalt ist: er sei da, sei immer um sie, es
sei alles so wie vorhin (vor der Zeit der mühsam abgewehrten
Enttäuschungen). Hysterie und Verstimmung sind überwunden;
von der ganzen letzten Zeit des Zweifels und der Leiden wird
während der Krankheit nicht gesprochen; sie ist glücklich, solange
man sie ungestört läßt, und tobt nur dann, wenn eine Maßregel
ihrer Umgebung sie an etwas hindert, was sie ganz konsequent
aus ihrem seligen Traum folgern will. Diese seinerzeit unver-
ständliche Psychose wurde zehn Jahre später durch eine hyp-
notische Analyse aufgedeckt.
Die Tatsache, auf die ich aufmerksam mache, ist die, daß der
Inhalt einer solchen halluzinatorischen Psychose gerade i n der
H e r v o r h e b u n g j e n e r V o r s t e l l u n g besteht, die durch den
Anlaß der Erkrankung bedroht war. Man ist also berechtigt zu
sagen, daß das Ich durch die Flucht in die Psychose die uner-
trägliche Vorstellung abgewehrt hat; der Vorgang, durch den dies
erreicht worden ist, entzieht sich wiederum der Selbstwahrnehmung
wie der psychologisch-klinischen Analyse. Er ist als der Ausdruck
einer pathologischen Disposition höheren Grades anzusehen und
läßt sich etwa wie folgt umschreiben: Das Ich reißt sich von
der unerträglichen Vorstellung los, diese hängt aber untrennbar
mit einem Stück der Realität zusammen, und indem das Ich
diese Leistung vollbringt, hat es sich auch von der Realität ganz
oder teilweise losgelöst. Letzteres ist nach meiner Meinung die
Bedingung, unter der eigenen Vorstellungen halluzinatorische
Lebhaftigkeit zuerkannt wird, und somit befindet sich die Person
nach glücklich gelungener Abwehr in halluzinatorischer Ver-
worrenheit.
Ich verfüge nur über sehr wenige Analysen von derartigen
Psychosen; ich meine aber, es m u ß sich um einen sehr häufig
benützten Typus psychischer Erkrankung handeln, denn die als
analog aufzufassenden Beispiele der Mutter, die, über den Verlust
ihres Kindes erkrankt, jetzt unablässig ein Stück Holz im Arme
Freud,1. G
74 Werke aus den Jahren 1892-1899