Sie sind auf Seite 1von 8

Forum Psychoanal (1999) 15:304–311

© Springer-Verlag 1999

„Trauer und Melancholie“, 80 Jahre später1


Otto F. Kernberg

“Mourning and melancholia” 80 years later

Summary. Mourning and Melancholia is Freud’s (1917) first, and fundamental


contribution to the psychoanalytic understanding of normal and pathological
mourning, the psychopathology of major affective disorders and the psychody-
namic determinants of depression. At the same time, it also marks major devel-
opments in psychoanalytic theory at large, particularly the early formulations of
the concept of the superego, the fundamental nature of identification processes,
and the role of aggression in psychopathology. There are several strikingly orig-
inal and fundamental propositions in the theory of the psychopathology of de-
pression put forth in “Mourning and Melancholia”. These include the central
importance of aggression turned against the self when intensely ambivalent ob-
ject investments are lost; the role of the superego in this self-directed aggres-
sion; the split in the self revealed in the superego’s attack on the ego, and the fu-
sion of another part of the self with an internalized object as the victim of that
attack. In what follows, I shall attempt to provide an overview of the develop-
ment of Freud’s ground breaking discoveries regarding depression and identifi-
cation in “Mourning and Melancholia”, and how these ideas are reflected in our
current psychoanalytic understanding of depression and of identification and its
central role in the build-up of psychic structures.

Zusammenfassung. Trauer und Melancholie ist Freuds (1917) erster und zu-
gleich grundlegender Beitrag zum psychoanalytischen Verständnis der normalen
und pathologischen Trauer, der Psychopathologie der großen affektiven Störun-
gen und der psychodynamischen Determinanten der Depression. Gleichzeitig
stellt er die Weichen für bedeutende Entwicklungen der psychoanalytischen
1 Beitrag zur Festschrift für Arnold M. Cooper, M.D., Dezember 1998. Übersetzt von
E. Nemény, Berlin
Anschrift: Otto F. Kernberg, Professor of Psychiatry, The New York Hospital, Cornell Medi-
cal Center, 21 Bloomingdale Road, White Plains, NY 10605, USA
„Trauer und Melancholie“, 80 Jahre später 305

Theorie, insbesondere für die frühen Formulierungen des Über-Ich-Konzepts,


der grundlegenden Bedeutung der Identifikationsprozesse und der Rolle der Ag-
gression in der Psychopathologie. In Trauer und Melancholie befinden sich
zahlreiche erstaunliche originelle und grundsätzliche Aussagen über die Theorie
der Psychopathologie der Depression, z.B. über die zentrale Bedeutung der ge-
gen das Selbst gewendeten Aggression bei Verlust von intensiv ambivalenten
Objektbesetzungen; über die Rolle des Über-Ichs in dieser gegen sich gewende-
ten Aggression, über die Spaltung im Selbst, die sich im Angriff des Über-Ichs
gegen das Ich äußert, und über die Verschmelzung eines anderen Teils des
Selbst mit einem internalisierten Objekt, das diesem Angriff zum Opfer fällt. Im
folgenden werde ich versuchen, einen Überblick zu geben über die Entwicklung
von Freuds wegweisenden Entdeckungen über Depression und Identifikation in
Trauer und Melancholie und darüber, wie sich diese Ideen in unserem zeitgenös-
sischen psychoanalytischen Verständnis der Depression, der Identifikation und
deren zentrale Rollen im Aufbau der psychischen Strukturen widerspiegeln.

Als erstes möchte ich die zeitgenössische Depressionstheorie diskutieren. Die


Beiträge von Karl Abraham (1924), Melanie Klein (1940), Edward Bibring
(1953) und Edith Jacobson (1971) ermöglichen uns, eine moderne psychoanaly-
tische Theorie der Depression zu formulieren. Melanie Klein beschrieb in ihrer
Darstellung der depressiven Position die Spaltung in der Psyche des Kleinkindes
zwischen den Beziehungen zur idealisierten und denen zur verfolgenden Mutter
und die Entstehung von Schuld und Depression, wenn die Integration dieser ge-
genseitig abgespaltenen Segmente des Ichs oder des Selbst und der entsprechen-
den inneren Objekte dem Kleinkind die eigene Aggression gegen die ideale
Mutter bewußt machen. Klein beschreibt die normale Konsolidierung des guten
inneren Objekts und des Ich, wenn die Aggression nicht übermäßig ist, und
zeigt, wie bestimmte Umstände die ausgeprägte Dominanz der aggressiven Be-
setzungen über die libidinösen Besetzungen fördern und eine solche normale In-
tegration verhindern, und wie daraus die Intoleranz gegenüber Ambivalenz, der
Mangel von Sicherheit über den eigenen Selbstwert und die Prädisposition für
pathologische Trauer und Melancholie entsteht. Im Gegensatz zu Freud war sie
der Meinung, daß die normale Trauer unbewußt auch darauf abzielt, das frühe
gute innere Objekt wiederherzustellen, und daß Ambivalenz sowohl für Norma-
lität als auch für Pathologie charakteristisch ist.
Edward Bibring (1953) beschrieb die Depression als Resultante aus der Ein-
sicht in den Verlust des idealen Selbst in Zusammenhang mit einer schwerwie-
genden Diskrepanz zwischen dem Idealselbst und dem Realselbst, und er wies
darauf hin, daß der depressive Affekt dem Ich die Möglichkeit zur Differenzie-
hung vom Über-Ich gibt. Meines Erachtens ist die Möglichkeit einer depressi-
ven Reaktion auf einen Verlust eines idealen Ich- oder Selbst-Zustands verein-
bar mit Melanie Kleins (1946) Darstellung der depressiven Position, wenn die
aus dem Selbst stammende Aggression im Sinne einer Ambivalenztoleranz an-
erkannt werden kann, und wenn der implizite Vergleich zwischen einem vergan-
genen illusorischen abgespaltenen idealisierten Selbst und dem realistischen in-
tegrierten aktuellen Selbst den Verlauf dieses Ideal-Selbstzustands signalisiert.
Edith Jacobson (1977) entwarf in ihrer Analyse der normalen, der neuroti-
schen, der Borderline- und der psychotischen Depression eine umfassende psy-
306 O.F. Kernberg

choanalytische Theorie der Psychopathologie der Depression. Sie beschrieb die


ursprünglich verschmolzenen oder undifferenzierten Einheiten der Selbst- und
Objektrepräsentanzen sowohl im libidinösen als auch im aggressiven Erleben
und die defensive Wiederverschmelzung der libidinösen Selbst- und Objektre-
präsentanz unter den Bedingungen der psychotischen Regression. Diese regres-
sive Wiederverschmelzung zieht in der psychotischen Depression auch die ag-
gressiv besetzten Selbst- und Objektrepräsentanzen im Ich in Mitleidenschaft
und beinhaltet eine Wiederverschmelzung der frühesten aggressiven Über-Ich-
Vorläufer mit den späteren idealisierten. Aus dieser regressiven Verschmelzung
der verfolgenden und der idealisierten Objekt-Repräsentanzen im Über-Ich ent-
steht die sadistische Forderung nach Perfektion und die charakteristische Grau-
samkeit des Über-Ichs in der Melancholie. Die Angriffe dieses sadistischen
Über-Ichs gelten den verschmolzenen aggressiven Selbst- und Objektrepräsen-
tanzen im Ich. Im Laufe dieses Vorgangs erliegt der fragile Rest des idealisierten
Segments des Selbst, das im Prozeß der Wiederverschmelzung im Ich überwäl-
tigt wurde, der allgemeinen Aktivierung von Schuld, Verzweiflung und Selbst-
beschuldigung, und als Folge entwickeln sich die nihilistischen, hypochondri-
schen und selbstabwertenden Wahnvorstellungen der psychotischen Depression.
In Jacobsons Konzeptualisierung bleiben in Borderlinezuständen die Gren-
zen zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen sowohl im libidinösen als auch
im aggressiven Segment der internalisierten Objektbeziehungen erhalten und
fördern somit die Abwehrprozesse von Dissoziation, Depersonalisation und Pro-
jektion, die diesen Patienten helfen, die sadistischen Über-Ich-Angriffe, die die
Depression charakterisieren, zu vermeiden. In der neurotischen Depression er-
lebt ein genügend gut integriertes Selbst verbunden mit integrierten Repräsen-
tanzen von signifikanten Anderen dennoch die Angriffe des Über-Ichs in Form
von übertriebener und pathologischer Schuld und Selbstentwertung. Ein solches
gut integriertes Selbst erfährt allerdings weder die Verschmelzungsprozesse, die
in der Melancholie die Schuld in eine totale, wahnhafte Entwertung des mit dem
Objekt identifizierten Selbst verwandeln, noch die primitiven Abwehrmechanis-
men, die die Borderlinezustände charakterisieren.

Ätiologische und psychodynamische Faktoren der Depression

In all diesen psychoanalytischen Theorien erscheint der depressive Affekt als


die Verbindung zwischen der Grunderfahrung des Verlusts eines idealen Selbst-
zustands als Ergebnis von einem Objektverlust, wobei angenommen wird, daß
der Objektverlust selbst durch die eigene Aggression verursacht wird. Die empi-
rische Erforschung der normalen Bindung und ihrer Pathologie durch John
Bowlby (1969) und seine Nachfolger und ihre Beschreibung der Phasen von
Protest, Verzweiflung und Ablösung als Ergebnis einer katastrophal verlänger-
ten Trennung des Säuglings von der Mutter bot eine grundlegende Verbindung
zwischen der psychoanalytischen Theorie der Depression einerseits und der Re-
aktion auf frühe Trennung andererseits. Frühe Trennung von der Mutter, wenn
sie exzessiv oder traumatisch ist, fördert den depressiven Affekt als eine basale
psychophysiologische Reaktion und ähnlich wird der depressive Affekt geför-
dert durch eine innere Empfindung von Verlust der Beziehung zwischen dem
Selbst und dem guten inneren Objekt durch Über-Ich-Angriffe gegen das Selbst.
Frühe Trennungen fördern den depressiven Affekt, die Kettenreaktion von Wut,
„Trauer und Melancholie“, 80 Jahre später 307

Verzweiflung und Entmutigung und ihre entsprechenden neurohormonalen Kor-


relate – wie wir heute wissen – im Menschen wie auch in anderen Primaten
(Suomi 1995). Dieser Zusammenhang zwischen empfundenem Gefühl und neu-
rochemischer Reaktion verbindet die psychoanalytische Theorie der internali-
sierten Objektbeziehungen mit der biologischen Forschung über genetische und
neurobiologische Determinanten des aggressiven und des depressiven Affekts.
Der depressive Affekt ist die Grundreaktion auf den Verlust von äußeren und in-
neren guten Objekten und dem damit einhergehenden Verlust von einem idealen
Selbstzustand.
Freud hat Vermutungen angestellt über die organischen Determinanten der
zyklischen Natur der Melancholie. Die zeitgenössische Forschung über geneti-
sche Dispositionen zu großen affektiven Störungen über ihren potentiellen Zu-
sammenhang mit der Abnormität der adrenergischen-noradrenergischen-dopa-
minergischen und serotonergischen Systeme, die den depressiven Affekt regu-
lieren und über die Hyperaktivität der Systeme der Hypothalamus-Hypophyse-
Nebenniere in der Depression und unter Streßbedingungen öffnete den Weg zum
Studium der biologischen Determinanten des Affekts im allgemeinen und des
depressiven Affekts im besonderen, einer Brücke zwischen den biologischen
und den psychodynamischen Determinanten der Depression als klinisches Phä-
nomen (Nemeroff et al. 1997).
Zur Zeit sind Psychoanalyse und Neurobiologie in ihrem Forschungsfokus
und ihrer Methodologie zu weit voneinander entfernt, um eine zufriedenstellen-
de Integration zu ermöglichen. Ich glaube dennoch, daß man heute vernünftiger-
weise annehmen kann, daß die Psychopathologie der Depression durch einen
komplementären Satz von ätiologischen Faktoren determiniert ist. Diese be-
inhalten auf der biologischen Seite eine abnorme, genetisch determinierte und
neurochemisch kontrollierte Aktivierung des Affekts der Depression unter Be-
dingungen der frühen Trennung und des Objektverlusts und auf der psychologi-
schen Seite die Entwicklung von pathologischen Ich- und Über-Ich-Strukturen
unter Bedingungen von schwerwiegender, konstitutionell determinierter oder
durch die Umwelt verursachter Aktivierung des aggressiven Affekts mit der dar-
aus folgenden Bedrohung der normalen Vorherrschaft von libidinös besetzten
internalisierten Objektbeziehungen im Ich und im Über-Ich gegenüber der ag-
gressiv besetzten.
Die Arbeiten von Melanie Klein und Edith Jacobson bereicherten die Ana-
lyse der normalen und pathologischen depressiven Reaktionen, indem sie die
Rolle der primitiven Abwehrmechanismen der Spaltung, der Idealisierung, der
Projektion und der Introjektion, der projektiven Identifikation, der Verleugnung,
der Omnipotenz und der Entwertung detailliert dargestellt haben. Eine zentrale
Dynamik, die beide Autorinnen beschrieben, besteht in einem Teufelskreis der
frühen aggressiven Reaktionen auf Frustration, der Neigung des Säuglings, die
eigene Aggression in das frustrierende Objekt zu projizieren und der Reinterna-
lisierung dieser aggressiv wahrgenommenen Objekte in die Grundschichten des
frühen Über-Ichs in Form von verfolgenden internalisierten Objektrepräsentan-
zen.
Diese Wandlungen der frühen Aggression ergänzen die Wechselfälle des
normalen und pathologischen Rückzugs der libidinösen Besetzung, die Freud in
Trauer und Melancholie beschrieben hat. Als Freud die entscheidende Funktion
der Aggression gegen das Objekt in der Melancholie hervorhob, hatte er seine
dualistische Triebtheorie noch nicht formuliert. Ebenso entstand die Theorie des
308 O.F. Kernberg

Über-Ichs erst ganz kurz vor dieser Studie. Sowohl die strukturelle Entwicklung
des Über-Ichs, die Edith Jacobson so brilliant beschrieben hat als auch die
Wandlungen des Aggressionstriebs, später von Melanie Klein und von Freud
selbst beschrieben, waren wichtige Komponenten der sich entwickelnden Theo-
rie der Depression.

Identifizierung als Internalisierung bedeutsamer Objektbeziehungen

Die vielleicht wichtigste theoretische Formulierung in Trauer und Melancholie,


die über den Gegenstand der Depression hinausgeht, war das Konzept der Iden-
tifizierung. Auf diesem Gebiet sind meiner Meinung nach die Arbeiten von Ro-
nald Fairbairn (1954) und Edith Jacobson (1964), die unabhängig voneinander
zu bemerkenswert ähnlichen Schlußfolgerungen gelangten, die wichtigsten Bei-
träge zu Freuds ursprünglichen Beobachtungen in Trauer und Melancholie
(1917), Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) und Das Ich und das Es
(1923). Wenn ich so kurz wie möglich zusammenfasse, wie ich die zeitgenössi-
sche Sicht der Identifizierung konzeptualisiere, würde ich als zentrales Konzept
die Identifikation als Internalisierung einer bedeutsamen Objektbeziehung her-
vorheben: in anderen Worten, die Internalisierung einer Objektrepräsentanz in
Beziehung zu einer Selbstrepräsentanz unter dem Einfluß eines intensiven Af-
fekts. Je intensiver der Affekt, desto bedeutsamer ist die Objektbeziehung, und
je bedeutsamer die Objektbeziehung, desto intensiver der Affektzustand. An
diesem Punkt deckt sich diese Theorie der Identifizierung mit der Theorie, daß
der depressive Affekt in der normalen und in der pathologischen Trauer zentral
ist: je intensiver die Prädisposition, mit depressivem Affekt auf Trennung und
Verlust zu reagieren, desto stärker ist die Identifizierung mit dem verlorenen
Objekt und mit dem verlorenen Selbst. Je schwerwiegender die Erfahrung von
Zurückweisung oder Verlust eines guten äußeren oder inneren Objekts, desto
größer das Potential für Depression.
Ob man Edith Jacobsons Formulierung akzeptiert, wonach die Libido und
die Aggression immer in die psychischen Strukturen eingehen als libidinöse
oder aggressive Affekte, die das Selbst mit den Objektrepräsentanzen verbin-
den; oder ob man Fairbairn folgt, der glaubt, daß Menschen ihre internalisierten
Objektbeziehungen spontan libidinös besetzen (in Form von libidinösen Selbst-
und Objektrepräsentanzen) und nur dann aggressiv besetzen, wenn sie in grund-
legenden libidinösen Bedürfnissen frustriert wurden, oder man meine eigene
theoretische Position (1992) vertritt, wonach Libido und Aggression als hierar-
chisch übergeordnete Integrale von grundlegenden libidinösen und aggressiven
Affekten konzipiert sind – das Konzept der Identifizierung als Internalisierung
einer bedeutsamen Objektbeziehung bildet eine gemeinsame Grundlage (wobei
die Identifizierung mit der Beziehung zwischen Selbst und Objekt und nicht nur
mit dem Objekt oder mit dem Selbst in dieser Interaktion erfolgt).
Dieses Konzept der Identifikation ermöglicht uns, die Entwicklung der Ich-
und Über-Ich-Strukturen so aufzufassen, daß sie aus einer progressiven Integra-
tion von dyadischen Einheiten der jeweiligen Selbstrepräsentanzen, Objektre-
präsentanzen und Affektzustände miteinander entstehen. Ich-Strukturen beinhal-
ten demnach ein integriertes Konzept des Selbst und integrierte Konzepte von
signifikanten Anderen, mit denen sich das Selbst in einer internalisierten Bezie-
hung befindet. Über-Ich-Strukturen wiederum beinhalten die integrierten
„Trauer und Melancholie“, 80 Jahre später 309

Schichten von verfolgenden, idealisierten und realistischen internalisierten Ob-


jektbeziehungen. Sowohl im Ich als auch im Über-Ich gibt es eine Ansammlung
von idealisierten Objektrepräsentanzen, wobei die idealisierten Repräsentanzen
von Selbst und Objekte im Über-Ich das Ich-Ideal bilden, und die idealisierten
Repräsentanzen derselben im Ich die gewünschten oder angestrebten Merkmale
des Selbst und der Beziehungen zu signifikanten Anderen repräsentieren. Die
intensivsten, nicht tolerierbaren aggressiven und sexualisierten dyadischen Ein-
heiten werden verdrängt und bilden das Es. Kurzum, die dyadischen Einheiten
von idealisierten Objektbeziehungen bilden die Bausteine des Ich, des Über-Ich
und des Es.
Das Konzept der Identifizierung erklärt die für Borderlinepatienten typi-
schen Inszenierungen, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten mit der Selbstre-
präsentanz identifizieren, wobei die entsprechende Objektrepräsentanz auf den
Therapeuten projiziert wird, um sich dann wiederum mit den Objektrepräsentan-
zen zu identifizieren, während die Selbstrepräsentanz auf den Therapeuten proji-
ziert wird, wie auch die entsprechenden Mechanismen der Identifikation mit
dem Aggressor, der Umwandlung vom Passiven ins Aktive und der Dynamik
der omnipotenten Kontrolle und der projektiven Identifizierung in der Übertra-
gung. Die Identifizierung mit der Beziehung zwischen Selbst und Objekt erklärt
auch, weshalb mit dem Verlust eines idealen guten Objekts der Verlust eines
idealen Selbstzustands einhergeht.

Das Zueinander von angeborerer Disposition zur Aggression


und traumatische Auswirkungen früher Trennung

Wenn wir noch einmal auf die Determinanten von normaler und pathologischer
Depression zurückkommen, können wir jetzt den Gedanken von einer geneti-
schen Disposition zu pathologischer Aktivierung aggressiver Affekte ent-
wickeln. Diese werden in den Aggressionstrieb integriert, und zwar als Vorstel-
lungen vom Selbst und vom Objekt als Opfer und Verfolger, jeweils verbunden
mit intensiven Affekten von Angst und Wut. Das Ergebnis ist eine Anfälligkeit
für exzessive Aktivierung von Wut, Angst und Verzweiflung nach Frustrationen
und Objektverlust.
Das persönliche Temperament als eine genetisch determinierte, konstitutio-
nell gegebene Disposition zu einer bestimmten Intensität, Rhythmus und
Schwelle der Affektaktivierung bildet demnach die Brücke zwischen der ange-
borenen Disposition zu Aggression und den traumatischen Auswirkungen von
früher Trennung, Trauma und Frustration auf die Internalisierung von Objektbe-
ziehungen. Den bedeutendsten Einfluß auf die internalisierten Objektbeziehun-
gen, die in der dreigeteilten psychischen Struktur enthalten sind, nimmt die frü-
he Mutter-Kind-Interaktion. Diese frühe Interaktion muß allerdings nicht not-
wendigerweise „prägenital“ sein, sondern beinhaltet auch die frühe Entwicklung
eines archaischen Ödipus-Komplexes (Chasseguet-Smirgel 1986).
Schwere Frustrationen und Traumata in dieser frühen Interaktion mit daraus
folgender exzessiver Aktivierung von aggressiven und depressiven Affekten re-
sultieren dann in der strukturellen Verfestigung eines psychischen Apparats mit
einem „hypertrophischen“ Über-Ich- und der Prädisposition zu depressiven Re-
aktionen auf verhältnismäßig unbedeutende auslösende Faktoren aus der Um-
welt. Extrem starke angeborene Disposition zu depressivem Affekt fördert die
310 O.F. Kernberg

Entwicklung solcher pathologischer Strukturen. Am anderen Extrem tragen die


strukturellen Folgen von schwerer Frustration und Trauma mit der daraus fol-
genden Aktivierung von exzessiver Aggression sogar ohne jedwede genetische
Disposition zum Aufbau einer schwer pathologischen, wenn auch gut integrier-
ten Über-Ich-Struktur bei, die im späteren Leben zu Depressionen prädisponie-
ren.
Eine depressiv-masochistische Persönlichkeitsstruktur prädisponiert zu cha-
rakteristischen Depressionen und zu Selbstunwertgefühlen. Ihr Über-Ich reagiert
auf multiple, unbewußt empfundene Schuldgefühle. Angst hingegen resultiert
aus unbewußtem intrapsychischen Konflikt; sie ist eine nichtspezifische Manife-
station einer aus diesem Konflikt herrührenden Gefahr (Kernberg 1992). Angst
kann auch ein Vorbote der drohenden Gefahr unbewußter Schuld und des Ob-
jektverlusts sein, die zur Depression führen.
In Trauer und Melancholie wird die zentrale Bedeutung der pathologisch
gesteigerten Ambivalenz, der gegen das Selbst gewendeten Aggression, der
schweren Pathologie der internalisierten Objektbeziehungen und der konstitutio-
nellen Disposition zur Aktivierung des depressiven Affekts hervorgerufen. Es
ist bemerkenswert, wie diese grundlegenden Komponenten von Freuds Beitrag
weiterhin im Zentrum unserer zeitgenössischen psychoanalytischen Theorie der
depressiven Pathologie stehen. Edith Jacobsons (1971) Definition von Verstim-
mungen („moods“) als generalisierte Affekte, die für eine Weile die gesamte
Welt der internalisierten Objektbeziehungen erfassen, zeigt die gegenseitige
Verstärkung der zwei bedeutendsten ätiologischen Faktoren der Depression auf:
die Intensität des depressiven Affekts und die Pathologie der internalisierten
Objektbeziehungen.
Die Pathologie der internalisierten Objektbeziehungen und des depressiven
Affekts beziehen sich beide auf die Psychopathologie der Aggression. Daher
schließt sich die wichtige – und im zeitgenössischen psychoanalytischen Den-
ken kontrovers diskutierte Frage nach der Beziehung zwischen Aggressions-
trieb, Affekten und Objektbeziehungen an. Die scharfe Unterscheidung zwi-
schen solchen Objektbeziehungstheorien, die das Konzept der Triebe verwerfen,
und anderen, die die zentrale motivationale Natur der Triebe anerkennen, ist ein
wichtiger Fokus der Entwicklung zeitgenössischer psychoanalytischer Theorie.
In allen meinen Arbeiten auf diesem Gebiet habe ich betont, daß ich eine hohe
Kompatibilität und Komplementarität der dualistischen Triebtheorie und der
Theorie der Strukturbildung durch internalisierte Objektbeziehungen sehe. Das
Konzept der Beziehung zwischen Affekten als Triebkomponenten und der Trie-
be als hierarchisch übergeordnete motivationale Systeme erlaubt uns meiner
Meinung nach, den von Freud beschriebenen unbewußten motivationalen Kräf-
ten gerecht zu werden. Zugleich beginnen wir mit der Integration der Psycho-
analyse und der Neurobiologie, indem wir die Determinanten und die Schicksa-
le der Affekte analysieren.

Literatur
Abraham K (1924) Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido aufgrund der Psycho-
analyse seelischer Störungen. Psychoanalytische Studien, Bd I. Fischer, Frankfurt aM
(1969)
Bibring E (1953) Das Problem der Depression. Psyche 6:81–101
Bowlby J (1969) Attachment and loss, vol 1. Basic Books, New York
„Trauer und Melancholie“, 80 Jahre später 311

Chasseguet-Smirgel J (1986) Zwei Bäume im Garten. Zur psychischen Bedeutung der Vater-
und Mutterbilder. Verlag Internationale Psychoanalyse, München Wien (1988)
Fairbairn W (1954) An object relations theory of the personality. Basic Books, New York
Freud S (1917) Trauer und Melancholie. GW Bd 10
Freud S (1921) Massenpsychologie und Ich-Analyse. GW Bd 13
Freud E (1923) Das Ich und das Es. GW Bd 13
Jacobson E (1964) Das Selbst und die Welt der Objekte. Suhrkamp, Frankfurt aM (1973)
Jacobson E (1971) Depression. Suhrkamp, Frankfurt aM (1977)
Kernberg O (1992) Aggression in personality disorders and perversions. Yale Univ Press,
New Haven London
Klein M (1940) Die Trauer und ihre Beziehung zu manisch-depressiven Zuständen. In: Das
Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse. Rowohlt, Reinbek
(1972)
Klein M (1946) Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen. Rowohlt, Reinbek
Nemeroff CB et al. (1997) Pathophysiological basis of psychiatric disorders: focus of mood
disorders and schizophrenia. In: Psychiatry, vol 1, pp 258–311
Suomi S (1995) Influence of attachment theory on ethological studies of biobehavioral devel-
opment in nonhuman primates. In: Goldberg S, Muir R, Kerr J (eds) Attachment theory:
Social development and clinical perspectives. Analytic Press, New Yersey, pp 185–230

Das könnte Ihnen auch gefallen