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© Springer-Verlag 1999
Zusammenfassung. Trauer und Melancholie ist Freuds (1917) erster und zu-
gleich grundlegender Beitrag zum psychoanalytischen Verständnis der normalen
und pathologischen Trauer, der Psychopathologie der großen affektiven Störun-
gen und der psychodynamischen Determinanten der Depression. Gleichzeitig
stellt er die Weichen für bedeutende Entwicklungen der psychoanalytischen
1 Beitrag zur Festschrift für Arnold M. Cooper, M.D., Dezember 1998. Übersetzt von
E. Nemény, Berlin
Anschrift: Otto F. Kernberg, Professor of Psychiatry, The New York Hospital, Cornell Medi-
cal Center, 21 Bloomingdale Road, White Plains, NY 10605, USA
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Über-Ichs erst ganz kurz vor dieser Studie. Sowohl die strukturelle Entwicklung
des Über-Ichs, die Edith Jacobson so brilliant beschrieben hat als auch die
Wandlungen des Aggressionstriebs, später von Melanie Klein und von Freud
selbst beschrieben, waren wichtige Komponenten der sich entwickelnden Theo-
rie der Depression.
Wenn wir noch einmal auf die Determinanten von normaler und pathologischer
Depression zurückkommen, können wir jetzt den Gedanken von einer geneti-
schen Disposition zu pathologischer Aktivierung aggressiver Affekte ent-
wickeln. Diese werden in den Aggressionstrieb integriert, und zwar als Vorstel-
lungen vom Selbst und vom Objekt als Opfer und Verfolger, jeweils verbunden
mit intensiven Affekten von Angst und Wut. Das Ergebnis ist eine Anfälligkeit
für exzessive Aktivierung von Wut, Angst und Verzweiflung nach Frustrationen
und Objektverlust.
Das persönliche Temperament als eine genetisch determinierte, konstitutio-
nell gegebene Disposition zu einer bestimmten Intensität, Rhythmus und
Schwelle der Affektaktivierung bildet demnach die Brücke zwischen der ange-
borenen Disposition zu Aggression und den traumatischen Auswirkungen von
früher Trennung, Trauma und Frustration auf die Internalisierung von Objektbe-
ziehungen. Den bedeutendsten Einfluß auf die internalisierten Objektbeziehun-
gen, die in der dreigeteilten psychischen Struktur enthalten sind, nimmt die frü-
he Mutter-Kind-Interaktion. Diese frühe Interaktion muß allerdings nicht not-
wendigerweise „prägenital“ sein, sondern beinhaltet auch die frühe Entwicklung
eines archaischen Ödipus-Komplexes (Chasseguet-Smirgel 1986).
Schwere Frustrationen und Traumata in dieser frühen Interaktion mit daraus
folgender exzessiver Aktivierung von aggressiven und depressiven Affekten re-
sultieren dann in der strukturellen Verfestigung eines psychischen Apparats mit
einem „hypertrophischen“ Über-Ich- und der Prädisposition zu depressiven Re-
aktionen auf verhältnismäßig unbedeutende auslösende Faktoren aus der Um-
welt. Extrem starke angeborene Disposition zu depressivem Affekt fördert die
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