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2005 (1) Wider die Gleichgültigkeit.

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Wider die Gleichgültigkeit –


bildungstheoretische
Überlegungen zu einer
naturgemäßen Berufsbildung

T H O M A S V O GE L

1. Einleitung
Mit dem Bericht des Club ofRome "Über die Grenzen des Wachstums" etablierte sich
seit Beginn der siebziger Jahre ein Bewusstsein für eine Krise des gesellschaftlichen
Naturverhältnisses. Auch in den Erziehungswissenschaften und in der Bildungspraxis
wurde das Problem kurze Zeit später aufgegriffen. Verschiedene Konzepte zur Lösung
wurden im Laufe der Zeit entwickelt. Zunächst ging es in den siebziger und zu Beginn
der 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Umweltbildung um die Thematisierung
der Symptome dieser Krise. Im Zentrum dieser Bemühungen stand die Förderung eines
bewussteren Umgangs mit Umweltmedien wie Wasser, Luft und Boden. Dieser Ansatz
erwies sich als unzureichend und wurde Anfang der achtziger Jahre durch Konzepte
verdrängt, die eine ökologische Betrachtungsweise des Problems in den Mittelpunkt
stellten. Die ökologische Bildung hatte sich zum Ziel gesetzt, die Naturkrise aus der
systemischen Perspektive einer eher ganzheitlichen Einbindung des Menschen in den
Naturprozess zu betrachten. Durch die Förderung eines ökologischen Bewusstseins
hoffte man, die Menschen zu einem fürsorglicheren Naturumgang zu bewegen.
Allerdings erwies sich auch dieses Konzept noch nicht als hinreichend: Zwar wurde
hierin das reduktionistische Naturverständnis als wesentliche Ursache des Problems
erkannt. Dem Problembewusstsein fehlte jedoch noch weitgehend die Einsicht der
gesellschaftlichen Ursachen und Beschränkungen eines Naturverständnisses, das die
Natur lediglich als Rohstoff betrachtete. Die gesellschaftlichen Dimensionen des
Problems fanden erst in Folge der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und

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Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro (Brasilien) stärkere Beachtung. In den
erziehungswissenschaftlichen Bemühungen folgt man seither dem dort beschlossenen
Konzept der Agenda 21 einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung.
Bildungsprozesse werden darin als eine unerlässliche Voraussetzung gesehen, eine
nachhaltige Entwicklung zu fördern und die Fähigkeit der Menschen zu verbessern, sich
mit Umwelt- und Entwicklungsfragen auseinander zu setzen. Um diese Zielsetzungen
wirksam zu erreichen, so heißt es in der Agenda 21, solle sich "eine umwelt- und
entwicklungsorientierte Bildung/Erziehung sowohl mit der Dynamik der
physikalischen/biologischen und der sozioökonomischen Umwelt als auch mit der
menschlichen (eventuell auch einschließlich der geistigen) Entwicklung befassen, in alle
Fachdisziplinen eingebunden werden und formale und nonformale Methoden und
wirksame Kommunikationsmittel anwenden" (Agenda 21, Kapitel 36). Die
Zielsetzungen der Agenda führten zu einem wichtigen Perspektivenwechsel in der
erziehungswissenschaftlichen und – parallel dazu – auch in der berufspädagogischen
(vgl. Fischer 1998) Diskussion über Ursachen und Lösungsansätze der gesellschaftlichen
Naturkrise. Das Konzept einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung umfasst sowohl
die notwendige Einbindung des Menschen in den Gesamtprozess der Natur als auch die
gesellschaftlichen Dimensionen der Naturkrise. Aber auch dieses Konzept wird
mittlerweile zunehmend kritisch beurteilt: Im Zentrum dieser Kritik steht der Vorwurf,
dass es bislang nicht gelungen sei, im Sinne des „Dreisäulentheorems" eine
Gleichstellung ökonomischer, ökologischer und sozialer Interessen herzustellen. Bei
dem Dreisäulentheorem handelt es sich lediglich um eine vermeintliche Gleichstellung,
in Wahrheit aber um eine Unterordnung des Nachhaltigkeitskonzepts unter die
Interessen von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Nachhaltigkeitsdebatte, so das Fazit
dieser Kritik, legitimiert im Grunde nur die herrschende Wirtschaftsform (vgl. Meyer-
Abich 2002, 22).

Trotz einer insgesamt positiven Entwicklung in den erziehungswissenschaftlichen


Bemühungen um Lösungsansätze zur Überwindung der gesellschaftlichen Naturkrise
kann man deshalb gesamtgesellschaftlich kaum eine Verbesserung der Situation
feststellen. In Anbetracht eines "Turbokapitalismus" im globalen Ausmaß sind die
Erfolge pädagogischer Aktivitäten um eine nachhaltige Entwicklung eher als bescheiden
zu bezeichnen.1 Es hat den Anschein, dass die Menschen immer wieder neu in einen
Aktionismus getrieben werden, der aufgrund unzureichender Reflektionen theoretischer
und gesellschaftlicher Voraussetzungen ins Leere läuft. Dabei übt der gegenwärtige
Ökonomismus einen so großen Druck auf das menschliche Bewusstsein aus, dass er
nahezu alle Erziehungsbemühungen überwiegt. Der wissenschaftlichen und praktischen
Arbeit fehlt – so lautet die hier vertretene Ausgangsthese – nach wie vor eine gründliche
Reflektion der gesellschaftlichen Voraussetzungen des Naturverständnisses und des

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Charles Taylor, einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, stellt fest, dass eine entfesselte
Ökonomie drohe, unsere ökologischen und kulturellen Grundlagen zu zerstören (vgl. Taylor 2005, S. 52).

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individuellen wie gesellschaftlichen Verhältnisses gegenüber der Natur. Ohne eine
solche Reflektion der gesellschaftlichen Einflüsse auf das Bewusstsein ist hingegen das
Plädoyer für eine Berufsbildung für eine nachhaltige Entwicklung idealistisch im
ideologischen Sinne. Im vorliegenden Beitrag wird deshalb eine veränderte Perspektive
auf die Ursachen der gesellschaftlichen Naturkrise skizziert. Hieraus werden
berufspädagogische Ansätze abgeleitet, wie dem Problem zu begegnen wäre.
Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Kritische Theorie, die das gesellschaftliche
Naturverhältnis besonders unter der Perspektive ihrer geistesgeschichtlichen Grundlagen
untersucht hatte.

Schon in der "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno 1975) maßen Horkheimer


und Adorno dem Naturverhältnis industriell-kapitalistischer Gesellschaften einen absolut
zentralen Stellenwert bei. Dabei äußerten sie sich sowohl skeptisch gegenüber den
Fortschrittsutopien der Moderne als auch kritisch gegenüber einer Ausblendung der
Natur sowie einen Dualismus von Natur und Kultur. Ihre Krisendiagnose weist
erstaunliche Parallelen zur ökologischen Problematik auf (vgl. Görg 1999, S. 114) und
es wundert von daher, dass diesem Ansatz in den Erziehungswissenschaften
insbesondere hinsichtlich der Diskussion um eine überzeugende Bildungstheorie zur
Lösung der gesellschaftlichen Naturkrise nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. 2

Das Konzept einer naturgemäßen Berufsbildung, wie es hier vertreten wird, geht von der
Hypothese aus, dass eine Bildungstheorie zur Lösung der gesellschaftlichen Naturkrise
auf der Grundlage einer Analyse und Kritik des gesellschaftlichen Naturverhältnisses zu
erfolgen hat. Es nimmt seinen Ausgangspunkt in der Kritik industriegesellschaftlicher
Wahrnehmungs-, Denk- und hieraus resultierender Handlungsstrukturen. Dabei
orientiert es sich in Anlehnung an die Kritische Theorie im Sinne einer "zweiten
Aufklärung" am Problemgehalt des Fortschrittsmythos der Industriegesellschaften, der
als Ursache der industriegesellschaftlichen Naturkrise betrachtet wird. Ziel des Ansatzes
ist es nicht nur, den gegenwärtigen menschlichen Naturumgang so zu regeln, dass er
auch langfristig möglich ist, d.h. seine eigenen Grundlagen nicht zerstört. Sondern es
geht hier um die weitergehende Problemstellung, was man tun muss, um überhaupt
humane Naturzustände herzustellen.

2Die Rezeption der Kritischen Theorie im Hinblick auf die gesellschaftliche Naturkrise scheint in der
Soziologie und Philosophie aktueller als in den Erziehungswissenschaften. Görg hat sich 2003 mit dem Thema
"Regulation der Naturverhältnisse - Zu einer kritischen Theorie der ökologischen Krise"
habilitiert. Böhme//Manzei haben ebenfalls die Kritische Theorie als Erklärungsansatz der gegenwärtigen
Naturkrise rezipiert und sich daran gemacht, eine kritische Theorie der Natur zu entwickeln. Sie brachten vor
kurzem einen Sammelband mit dem Titel "Kritische Theorie der Technik und der Natur" (Böhme/Manzei
2003) heraus. Ähnliches ist in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion zur Zeit kaum zu beobachten.

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2. Vom Scheitern der Aufklärung
Pädagogisches Handeln zur humanen Gestaltung der natürlichen Lebensgrundlagen des
Menschen hat zunächst vom Problemgehalt des industriegesellschaftlichen
Naturverständnisses auszugehen. Der Begriff "Naturverständnis" verweist dabei auf
einen vom Menschen eingenommenen Standpunkt zur Natur. Der Verstand ist die
menschliche Fähigkeit, "die Gegenstände und ihre Beziehungen durch Begriffe zu
denken" (Philosophisches Wörterbuch 1978, S. 705). Beim Naturverständnis einer
Kultur geht es also um die Frage, wie sie die Natur und die in ihr liegenden Beziehungen
durch Begriffe denkt. Diese Frage ist grundlegend für das Verhalten einer Kultur
gegenüber der Natur.3

Das neuzeitliche Naturverständnis hat sich im Zuge der Aufklärung aus einem neuen
Selbstverständnis des Menschen entwickelt: dieser befreite sich aus den engen Fesseln
mittelalterlich-religiösen Denkens hin zu der Überzeugung, der Mensch sei Subjekt der
Erkenntnis und der Geschichte und die Natur habe ihm lediglich als Objekt zur
Befriedigung seiner Bedürfnisse zu dienen. Dabei ging man von einem gemeinsamen
Denk- und Tätigkeitsmodus von Schöpfergott und menschlichem Geist aus. Unter 'Natur'
verstand man einen geistlosen (toten) Mechanismus. Das "Buch der Natur", so war
Galileo Galilei überzeugt, sei in der Sprache der Mathematik, der Wissenschaft von den
formalen Systemen, geschrieben4. Kaum einem Imperativ sind die Menschen seit der
Aufklärung gehorsamer gefolgt, als der Forderung Galileis, man müsse messen, was
messbar sei und messbar machen, was es nicht sei. Horkheimer und Adorno haben diese
geistesgeschichtliche Entwicklung in ihrer Untersuchung zur Dialektik der Aufklärung
folgendermaßen beschrieben: "Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich
nicht fügen will, gilt der Aufklärung verdächtig" (Horkheimer/Adorno 1975, S. 9). Seit
der Aufklärung streben die Industriegesellschaften im wahrsten Sinne des Wortes von
einer "Maß - Nahme" zur nächsten. Innerhalb dieses fortschreitenden Prozesses hat sich
das "Meßbarmachen" und "Maßnehmen", das Edmund Husserl als "Mathematisierung
der Welt" (1954, 53) beschrieben und als "Ideenkleid" entlarvt hatte, immer mehr zu
einem Selbstzweck entwickelt, der sich dem reflektierenden Bewusstsein entzieht und
zunehmend die natürlichen Existenzgrundlagen der Menschheit gefährdet.

3 Denn "je nachdem wie der Mensch 'Natur' versteht, wird er über 'Natur' verfügen, und im Verfügen über die
Natur verfügt er zugleich über die Bedingungen seines eigenen Lebens. Deshalb steht bei der Erkenntnis von
Natur immer die Existenz der Menschheit auf dem Spiel" (Picht 1993, S. 94).

4 Ihre Buchstaben seien Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, hatte Galilei festgestellt, und ohne
Kenntnis dieser Buchstaben und dieser Sprache sei es dem Menschen unmöglich, auch nur ein Wort zu
verstehen. Es sei ein sinnloses Herumirren in einem finsteren Labyrinth (vgl. Galilei in Schiemann 1996, S.
106).

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Am Beispiel der – ökonomisch motivierten – Veränderung der Landschaft im Zuge der
ökonomisch-naturwissenschaftlichem (s.u.) orientierten Industrialisierung der
Landwirtschaft ist sehr gut zu beobachten, wie das galileiische Deutungsmuster
konsequent bis in unsere Zeit umgesetzt wurde. Zunehmend unterwirft man die
Landschaft dem ökonomischen und technologischen Imperativ folgend einem
"Geometrisierungsprozess", der im sogenannten "Flurbereinigungsverfahren" zu immer
größeren Flächen und damit einhergehend zu einer drastischen Abnahme der Arten führt
(vgl. hierzu Bölsche 1982, S. 11 ff.). Am Beispiel der Flurbereinigung ist sehr gut zu
veranschaulichen, dass wir mit dem ökonomisch-naturwissenschaftlichem Maß lediglich
eine Natur sehen, mit der wir umgehen und die wir nach ökonomischen Imperativen
verändern können und dabei über unseren Erfolg einer Verwechslung zum Opfer fallen;
denn wie das Artensterben deutlich zeigt, hat die Natur nicht unsere, sondern ihre
eigenen Maßstäbe (vgl. Uexküll 1953, 9). Das Beispiel der Flurbereinigung verdeutlicht,
wie beschränkt letztendlich menschliches Denken in solchen Kategorien ist. Indem die
Menschen geometrische Formen in die Natur tragen, bleibt nur eine Natur übrig, die
diesem formalen Denken entspricht. Durch den Artenrückgang zeigt sich, welche
Wirkungen es hat, wenn der menschliche Verstand – wie es Kant forderte – der Natur
seine Gesetze vorschreibt oder – wie Kant an anderer Stelle forderte - wenn die
Gegenstände sich nach unserer Erkenntnis richten müssen (vgl. Kant 1981, Bd. 3, S. 25
und Bd. 5, S. 189). Das analytische Zerlegen der Natur in Begriffe, so C.F. v.
Weizsäcker, korreliert mit dem tatsächlichen Zerlegen und Zerstören der Natur heute
(vgl. v. Weizsäcker 1992, S. 50 f.)5.

3. Gestaltung der Natur als didaktische Perspektive


Das zur näheren Charakterisierung einer naturgemäßen Berufsbildung verwendete
Adjektiv "naturgemäß", zusammengesetzt aus den Begriffen "Natur" und "Maß", soll
den Focus auf den dargestellten Problemgehalt des industriegesellschaftlichen
ökonomisch-naturwissenschaftlich bestimmten Maßes der Natur lenken. Dabei geht es
nicht um die Bestimmung eines neuen Maßes der Natur; vielmehr müssen wir mit der
Naturkrise zunehmend anerkennen, dass eine solche Bestimmung nicht möglich ist. Es
ist auch durch die Aufklärung nicht gelungen, ein solches Maß festzulegen. Die
europäische Neuzeit hat sich unter völlig veränderten geschichtlichen Bedingungen den
Satz des Protagoras, der Mensch sei das Maß aller Dinge, zum versteckten Prinzip ihres
Kultur- und Geschichtsverständnisses gemacht und dessen Sinn in sein Gegenteil
verkehrt. Der Mensch hat sich zum Subjekt alles dessen erklärt, was gemessen werden
kann und auf Grund seiner Autonomie die unbeschränkte Verfügungsgewalt über alles,

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"Das Zerschneiden ... in der Form des Begriffs hat natürlich sein Korrelat in einem Zerschneiden der
wirklichen Welt, einem physischen Zerschneiden, einem Kaputtmachen von etwas, das ... gar nicht
wiederhergestellt werden kann, wo die Einheit nicht wieder zu gewinnen ist" (v. Weizsäcker 1992, S. 50 f.)

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was ihm in der Natur als "chrema", das heißt als Rohstoff für seine Produktion
zugänglich ist, in Anspruch genommen. "Er legt die Messwerte fest und regelt sie"
(Picht 2001, S. 20). Dabei ist die ursprünglich schon in der griechischen Philosophie
formulierte Einsicht verloren gegangen, dass die Natur eigene, ihr immanente Masse
haben könnte, dass nichts in der Natur Bestand haben kann, was sich nicht innerhalb
seiner spezifischen Maße hält und dass die Individuen, die Gesellschaften und die
Imperien zugrunde gehen, wenn sie ihr Maß überschreiten (vgl. ebd.).

Schon in der Stoa spielte der Begriff "naturgemäß" eine besondere Rolle. "Lebst du
naturgemäß", so formulierte Seneca, "so bist du nicht arm; lebst du nach
Wahnvorstellungen, so wirst du niemals reich sein. Die Natur fordert nur wenig, der
Wahn Unermeßliches" (Seneca 1993 Bd. 3, S. 56). Als Wahnvorstellung könnte man das
durch das ökonomische System determinierte naturwissenschaftliche Erkenntnismonopol
bezeichnen, das in Industriegesellschaften allein über die Frage entscheidet, was Natur
ist. Diese Wahnvorstellung hatte sich – wie oben veranschaulicht – im Prozess der
Formalisierung der Vernunft infolge der Aufklärung entwickelt. Dabei ist den Menschen
der Sinn für die Anerkennung von Grenzen der Naturnutzung verlorengegangen.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hatte bereits 1809 – ohne Kenntnis ökologischer
Krisen, rein aus der Analyse neuzeitlicher Denkstrukturen – die Probleme vorausgesehen
und davor gewarnt, dass die Menschen durch die Absolutsetzung ihres Geistes ihre
Lebensgrundlage zerstören werden; denn aus dieser Absolutsetzung des Geistes, so
Schelling, "entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen
und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger,
hungriger, giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer
vernichtende Widerspruch, daß es creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band
der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Übermuth, alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt"
(Schelling 1974, S. 374 f.). Schelling folgend ist es Aufgabe der Philosophie, die Natur
als einen unendlichen Gesamtprozess zu erfassen, der im letzten auch uns Menschen als
die Natur erkennende Naturwesen umgreift. Dabei geht es um die Rekonstruktion des
geistigen Bandes, "das uns lebendig mit der Natur verknüpft und das nur erhalten
werden kann, wenn wir uns in unserem geschichtlichen Sein nicht gegen die Natur
stellen, sondern uns aus ihr begreifen, und wenn wir von daher für den durch uns
hindurchgehenden Existenzzusammenhang von Natur und Geschichte Verantwortung
übernehmen" (Schmied-Kowarzik 1996, S. 94).

Es geht um die gesellschaftliche Konstitution der Natur. Bisher wurde im ökologischen


Diskurs – bis hin zum Nachhaltigkeitskonzept – in der Regel so diskutiert, als gelte es
eine Natur zu bewahren. Das ist aber der Problemlage unangemessen. Denn die Natur
auf der Erde ist immer schon ein soziales und historisches Produkt des Menschen
gewesen und die Bewahrungsmaxime täuscht darüber hinweg, dass wir ja immer schon
verändernd in die Natur eingreifen. Worauf es vielmehr ankäme und worauf eine
naturgemäße Berufsbildung rekurriert, wäre ein Konzept humaner Gestaltung der Natur,
das die Eingriffe im Hinblick auf die Möglichkeiten gelingenden Lebens in ihr

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organisiert. Naturgemäße Bildungsprozesse richten den Blick grundlegend auf die
Fragen, was im menschlichen Verständnis der Natur gemäß ist, wie das geistige Band,
das uns lebendig mit der Natur verknüpft, konstruiert ist und inwieweit Menschen
überhaupt das Maß der Natur bestimmen können. Die Gestaltung der Natur verlief bisher
weitgehend ungeplant und implizit als Ergebnis der beschriebenen
industriegesellschaftlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen. Auf
Grund der Krise wird Natur künftig nicht mehr als das unveränderlich Gegebene
anzusehen sein, sondern als das vielfältig vom Menschen zu Gestaltende. Die Gestaltung
der Natur bedarf bewusster Planungsprozesse, die sich mit der normativen Entscheidung
auseinander zu setzen haben, welches Naturverständnis, welchen Erkenntnistyp von
Natur und somit welches Verständnis vom Menschen in der Natur wir künftig
einnehmen wollen. Es ist die Forderung aufzustellen, dass die Planungsprozesse sich in
einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs mit der Leitfrage zu beschäftigen haben, welche
Natur wir wollen (vgl. Schmidt 2000). Diese Frage ist zugleich die didaktische Leitfrage
einer naturgemäßen Berufsbildung. Im Zentrum einer solchen Berufsbildung steht das
Problem der Bewahrung der Natur durch ihre bewusste Gestaltung. Drei didaktische
Leitkategorien – Ästhetik, Antizipation und Partizipation – sollen dabei die Bereiche
umschreiben, in denen Humankompetenzen gefördert werden müssen, die zur Förderung
einer so verstandenen nachhaltigen Entwicklung im Kontext eines solchen
Gestaltungsprozesses der Natur notwendig erscheinen.

Im Bereich der Ästhetik erfordert eine naturgemäße Berufsbildung eine umfassendere


Wahrnehmungsfähigkeit. Sie muss um der Überwindung von Naturferne und
Naturvergessenheit moderner zivilisatorischer Standards und um einer veränderten
ethischen Orientierung willen die Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmung von
natürlichen Gegebenheiten befördern. Klischeehafte und monokausale Wahrnehmungs-
und Deutungsmuster sind aufzubrechen und kulturell und biographisch vernachlässigte
Wahrnehmungsweisen zu (re-) aktivieren (vgl. Vogel 2000). Dadurch wäre eine größere
Offenheit für Probleme und Risiken, aber auch für Entwicklungspotenziale der
Industriegesellschaft im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung herbeizuführen.

Neben der Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeit ist durch eine


naturgemäße Berufsbildung die Fähigkeit zur Antizipation zu fördern. Antizipieren
bedeutet, sich mit der Zukunft auseinander zu setzen, künftige Ereignisse vorauszusehen,
die mittel- und langfristigen Konsequenzen gegenwärtiger Entscheidungen auszuwerten
und dabei unbeabsichtigte Nebenwirkungen oder auch Überraschungseffekte mit
einzubeziehen.6 Die Menschen müssen künftig zunehmend ohne konkrete Erfahrungen
lernen; denn sie müssen, wenn sie prognostizierte Katastrophen vermeiden wollen, allein
im Hinblick auf ihr mögliches Eintreten handeln bzw. Handlungen vermeiden. Zur

6
Die Förderung der Antizipation wurde bereits mehrfach als zentrales pädagogisches Ziel unserer Zeit
gefordert und konkretisiert (vgl. Anders 1986; vgl. Peccei 1980).

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Antizipation muss der Mensch deshalb aus dem Jetzt heraustreten und sich in einen sehr
breiten Raum der Voraussicht und der Verantwortung hineinbegeben.

Nahezu alle Fäden der derzeitigen Naturumformung laufen in Produktionsprozessen


zusammen. Den arbeitenden Menschen sind diese Prozesse allerdings weitestgehend
unverfügbar. Sie werden für ihre Arbeit entlohnt, deren Zweck allein durch das
ökonomische Ziel der Gewinnmaximierung bestimmt wird. Die arbeitende Bevölkerung
ist deshalb in der arbeitsteiligen, kapitalistisch organisierten Gesellschaft nicht nur vom
Bild ihrer Produkte ausgesperrt, sondern auch von der Freiheit, über die Verwendung
ihrer Produkte mitzuverfügen (vgl. Anders 1986, S. 363). Diese Kritik impliziert als
dritte Leitkategorie einer naturgemäßen Berufsbildung die Förderung der Kompetenzen
zur Partizipation. Partizipation bedeutet dabei die Fähigkeit, eine aktive,
gesellschaftliche Rolle zu übernehmen. Ohne Partizipation bzw. die Aussicht auf
Partizipation fehlt den Subjekten die Motivation zum verantwortungsbewussten
Handeln. Zur Förderung der Partizipation muss eine naturgemäße Berufsbildung die
rationale Einsicht in ökonomische, ökologische, soziale und technische Prozesse
vermitteln und sich mit Reformplänen zur Organisation innerbetrieblicher und
gesamtgesellschaftlicher Produktionsprozesse im Hinblick auf die Gestaltung der Natur
auseinandersetzen.

4.Zum Primat ästhetischer Erziehung in der


naturgemäßen Berufsbildung
Die wichtigste Voraussetzung für einen anderen Naturumgang besteht in der Förderung
der menschlichen Empfindsamkeit; denn die Ursachen für die Gleichgültigkeit, mit der
Menschen heute der äußeren und ihrer inneren Natur begegnen, liegen in einem Denken
und Wahrnehmen, das die Dinge ausschließlich in ihrer Nützlichkeit und
Kalkulierbarkeit für eigene Zwecke betrachtet. Das "identifizierende Denken", wie es
Adorno nannte, erfolgt mit Hilfe wissenschaftlicher Regeln, wird aber der sinnlichen
Fülle der Gegenstände nicht gerecht. Dieses Denken bestimmt unseren Naturumgang
und ist für die gegenwärtige gesellschaftliche Naturkrise verantwortlich. "Ein solches
Denken", so Schäfer in einer Rezeption der Kritischen Theorie, "tut seinen
Gegenständen Gewalt an, indem es das an ihnen nicht berücksichtigt, was in deren
begrifflichen Erfassung nicht aufgeht" (Schäfer 2004, S. 11). Gleichzeitig wird dem
Subjekt, das sich diesem Denken in der instrumentellen Weltbegegnung unterwirft,
Gewalt angetan. Das Subjekt "sieht sich gezwungen, um der Effektivität begrifflicher
Erkenntnis willen sich selbst den methodischen Regeln dieser Erkenntnis zu unterwerfen
und jedes andere Verhältnis zu sich und der Welt als 'irrational' zu verwerfen. Die
begriffene Welt (der Natur wie auch des eigenen Selbst) ist eine reduzierte Welt, und sie
verlangt als solche eine Unterwerfung des Subjekts unter die Regeln der Erkenntnis.

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Selbstbehauptung als Selbstverlust: Die Behauptung des Subjekts gegenüber der Welt
schlägt in seine Unterwerfung unter die Mittel dieser Weltbeherrschung um" (ebd.). Es
bedarf kaum der ausdrücklichen Erwähnung, dass es besonders in der beruflichen
Bildung um die Vermittlung "identifizierenden Denkens", das der Weltbeherrschung
dient, geht. Das Subjekt hat sich in diesen Bildungsprozessen besonders ausgeprägt und
gründlich den Regeln einer Erkenntnis zu unterwerfen, die nahezu ausschließlich der
Umformung der Welt für menschliche Zwecke dient. Mag es in Prozessen sogenannter
allgemeiner Bildung heute noch gelegentlich gelingen, die Menschen mit einer
Perspektive nichtidentifizierenden Denkens zu konfrontieren und so den Selbstverlust
durch identifizierendes Denken zu relativieren, so wird dies in der beruflichen Bildung –
besonders auch in einer Zeit zunehmender globaler Konkurrenz – zunehmend
unmöglich. Jede andere Weltbegegnung wird hier zunehmend als irrational und
überflüssig verworfen.

In einer Berufsbildung im Hinblick auf die Lösung der Naturkrise sollte es deshalb
zunächst nicht um die Fähigkeit gehen, Natur technisch umzuformen. Es sollte nicht um
die Forderung traditioneller Kompetenzen wie Fachwissen oder die Vertiefung der
Verwissenschaftlichung, nicht um die Vermittlung kognitiver Instruktionstechniken,
nicht um eine effektivere Lernorganisation gehen. An erster Stelle steht auch nicht die
Forderung nach Strukturveränderungen der Berufsbildung, wie sie unter den
Schlagworten "Interdisziplinarität", "Kooperation zwischen verschiedenen Lernorten",
"Vernetzung" und "Praxisorientierung" gegenwärtig heftig diskutiert werden. Wenn
Berufsbildung den Weg für eine nachhaltige Entwicklung bereiten soll, so stände am
Beginn eine ästhetische Bildung. Zuerst wären die "Organe" der Aufmerksamkeit und
Wahrnehmung, des Verstehens und der Urteilskraft sowie die Gestaltungsfähigkeit
auszubilden. In diesem Sinne müsste sich Berufsbildung zunächst auf die Person
konzentrieren und Möglichkeiten zu einer "Kultivierung der Sinne" (vgl. Rumpf 2000)
schaffen; denn "Ökonomie, Technik, Wissenschaft, Medien - sie alle, in ihrer
Verflochtenheit, sie rütteln stündlich am sinnlichen Fundament der Erfahrung unserer
Existenz. Es wird uns, der Tendenz nach, erspart, uns und unsere Welt zu spüren und zu
berühren. Das geschieht durch mannigfache Beschleunigungen, Erleichterungen,
Ablösungen (='Abstraktionen'). Das hier und jetzt Berührbare, Bewegte, sich Regende
wird gleichgültig oder störend" (Rumpf 2000, S. 29). Um das Überleben zu
gewährleisten, müssen wir erst wieder lernen, das Lebendige in uns und um uns zu
spüren. Es geht dabei um eine lebendige Erfahrung als Voraussetzung eines
Bewusstseins für die zukünftige Gestaltung der Natur.

Die Verwahrlosung, Verflüchtigung und Vergleichgültigung der an die Sinne


gebundenen Weltbeziehung, wie sie Berufsbildung zurzeit fördert, wären deshalb zu
allererst zum Bewusstsein zu bringen. In einer ästhetischen Berufsbildung müsste es um
eine Form der Selbstbildung gehen, wie sie schon Friedrich Schiller in seinen Briefen

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zur ästhetischen Erziehung des Menschen als Ausgangspunkt für politische
Veränderungen sah (vgl. Schiller 1793/2000, S. 17)7. Erst der durch eine ästhetische
Erziehung gebildete Mensch – so Schiller – mache sich "die Natur zu seinem Freund"
und ehrt ihre Freiheit, "indem er bloß ihre Willkühr zügelt" (ebd.). Ein Ziel ästhetischer
Erziehung wäre die Ausbildung einer "moralischen Phantasie" (Anders 1985). Günter
Anders hatte damit die Fähigkeit gemeint, "die Kapazität und Elastizität unseres
Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem
unabsehbaren Ausmaß dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also als
Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten" (Anders 1985, S.
273).

Weiteres Ziel eines ästhetischen Naturzugangs wäre es, die Selbstgewissheit


industriegesellschaftlicher Naturvorstellungen zu erschüttern bzw. einen Wandel in den
Naturvorstellungen der Menschen herbeizuführen. Dabei hätte eine ästhetische
Berufsbildung drei Aufgaben zu erfüllen:

 Die Überwindung der intellektuellen Distanz in der Weltbegegnung.

 Die Schulung der (Selbst-)Wahrnehmung: die bewusste Wahrnehmung mit allen


Sinnen fördern.

 Die Kultivierung der Sinne: eine reflexive Ordnung der Sinneswahrnehmung


herbeiführen.

5. Zur Umsetzung einer naturgemäßen


Berufsbildung
Es erfordert kaum neuer Konzepte, um eine ästhetische Berufsbildung als
Grundkategorie einer naturgemäßen Berufsbildung praktisch umzusetzen. Man könnte
sich hier an den vielfältigen Ideen orientieren, die für eine ästhetische Erziehung des
Menschen entwickelt wurden. Wichtig wäre allerdings, dass man diese Formen
beruflicher Bildung in Beziehung zur tätigen Weltbegegnung in Form menschlicher
Arbeitsprozesse setzt und nicht nur sieht oder liest sondern auch ein Gefühl dafür
entwickelt, was Menschen im Prozess ihrer Weltbeherrschung anrichten. Einige Ideen
dafür seien hier angedeutet:

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Schiller hatte bereits die später von Horkheimer und Adorno so genannte "Dialektik der Aufklärung"
beschrieben und die Entwicklung der Aufklärung als "bloß theoretische Kultur" kritisiert, die nur den Verstand
auf Kosten der Empfindungen ausbilde.

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 Szenische Übungen: Durch Übungen zum szenischen Verstehen könnte man die
Wahrnehmung auf dramatisch strukturierte Interaktionsprozesse lenken und
dadurch sachliche und subjektive Sinndimensionen verbinden. Affektive und
kognitive Anteile von Situationen werden dadurch gleichermaßen in den Fokus
der Aufmerksamkeit gelangen.

 Textarbeit: Besonders ergiebig sind Texte, die den Verlust der


Wahrnehmungsfähigkeit thematisieren.

 Rumpf schlägt praktische Übungen vor, sich beispielsweise mit der Erfahrung
von "Schwere" auseinander zu setzen. Solche Übungen sollen unsere
herkömmlichen "Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Kategorisierungsroutinen
(die uns erfahrungsstumpf machen) so zersetzen, dass wir 'Schwere spüren' -
aufmerksam, nachdenklich, neugierig“ (vgl. Rumpf 2000).

 Selbsterziehung: Als Gegenmittel zur "Hetze als Erkrankung des Zeiterlebens"


wäre eine stärkere Einbeziehung von Entspannungsübungen (z.B. autogenem
Training) und Meditation als Wege zur Stille und Ein-Sicht möglich.

Im Hinblick auf ein umfassenderes Naturverständnis wären in der Berufsbildung


verschiedene Erkenntnismodi – die wissenschaftliche Betrachtung ebenso wie die
sinnliche – gleichberechtigt und einander ergänzend zur Anschauung zu bringen. Dabei
könnte ein Rückgriff auf Goethe dienlich sein. Dieser vertrat bekanntlich eine andere
Vorstellung von Naturwissenschaft. Er wurde nicht müde, seine Zeitgenossen immer
wieder daran zu erinnern, "dass Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe" und er
die große Hoffnung hege, "dass nach einem Umschwung von Zeiten beide sich wieder
freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen
könnten" (Goethe zit. nach Lassek 1999, S. 12). Goethes „Vorschlag zur Güte“ (Goethe
1962), der heute als wichtiger Hinweis für einen ästhetischen Naturzugang dienen kann,
hatte zwar kaum eine ökologische Krise, wohl aber die sinnliche Verarmung der
Menschen, welche diese Krise wesentlich mitverursacht, vorausgesehen und deshalb
diesen „Vermittlungsvorschlag“ zwischen der zweckrationalen und der sinnlichen
Betrachtungsweise der Natur unterbreitet.

Die sinnliche Naturbetrachtung würde der Wiederherstellung der Natur in der


Vermittlung von Wissen und der Förderung der Naturwahrnehmung dienen und damit
die Grundlage für eine notwendige Politisierung der Natur bilden. Sie bildet
genaugenommen, wie bereits Goethe verdeutlichte, keinen Widerpart zur quantitativen
Natursicht, sondern ist grundsätzlich ihr Ausgangspunkt. Von Geburt an betrachtet der
Mensch die Natur zunächst ausschließlich mit seinen Sinnen, und erst im
Erziehungsprozess wird dem Kind die unmittelbare Naturbetrachtung zunehmend
„abgewöhnt“, werden Wahrnehmungs- und Denkstrukturen, die insbesondere der
Naturbeherrschung dienen, in seine Natursicht eingefügt. Aus dieser Entwicklung

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resultiert ein Verlust der Naturwahrnehmung und eine zunehmende Deformation im
gesellschaftlichen Verhalten gegenüber der Natur, der man nur durch eine
Wiederherstellung der Natur in der Vermittlung von Wissen begegnen kann. Sinnvoller
Weise sollte eine naturgemäße Berufsbildung deshalb dem Rat Wagenscheins folgen und
häufiger erst qualitativ und anschließend quantitativ, erst das Naturphänomen dann die
Theorien und Modellvorstellungen betrachten (vgl. Wagenschein 1970, S. 100 ff.).

Ein ästhetischer Zugang zur Natur könnte zu einer höheren Wertschätzung und
Anerkennung derselben führen und zugleich "ein Denken ... in zweiter Reflexion"
(Adorno 1975, S. 201) fördern, das Adorno in der "Negativen Dialektik" zur Korrektur
des Herrschaftsgestus identifizierenden Denkens im Sinn hatte. Diese
Bewusstseinsveränderung wäre für eine Haltung wichtig, die nicht grundsätzlich auf
Naturbeherrschung ausgelegt ist, sondern ein Gefühl der Verbundenheit mit der Natur
fördert, eine Haltung, die den betrachtenden Menschen und die Gesellschaft nicht
außerhalb der Natur stellt, sondern sie als Teil derselben empfinden lässt. Erst auf der
Grundlage des so erlangten Bewusstseins könnte sich eine Kultur entwickeln, die Natur
nicht als reines Material menschlicher Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftlicher
Verwertung betrachtet.

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