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Traktat 19

GAIA 13 (2004) no. 1

Obwohl der Umgang mit Stoffen dem Menschen selbstverständlich ist,


tritt diese Beziehung selten in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussion.
Ein Grund hierfür könnte gerade in der Alltäglichkeit des Umgangs mit Stoffen
liegen. Solange Stoffe die ihnen zugedachte Funktion erfüllen, wecken sie
weder Kritik noch Neugierde. Allenfalls bestimmte "Schadstoffe des Monats"
werden thematisiert. Ein anderer Grund liegt wohl darin, daß die Vielfalt der Stoffe
und ihrer Wirkungen eine solche Unübersichtlichkeit geschaffen hat, daß eine
bündelnde Perspektive der Beschreibung bisher nicht aussichtsreich erschien.
Das Konzept der Stoffgeschichten könnte die Leerstelle einer präzisen
Beobachtung und Beschreibung des Umgangs mit Stoffen füllen.
Denn zum einen verbindet sich mit diesem Konzept eine wissenschaftliche
Programmatik, zum anderen eine gesellschaftliche Aufgabe – nämlich
das Erzählen einer Geschichte, die soziales Handeln strukturiert
und damit eine Vermittlungschance im Spannungsfeld zwischen
Wissenschaft, Technik, Politik und Öffentlichkeit eröffnet.

Stoffgeschichten –
eine neue Perspektive für
transdisziplinäre Umweltforschung
Stefan Böschen, Armin Reller und Jens Soentgen*

1. Ein Konzept – Vor dem Hintergrund einer Reihe von Wie weitreichend ein solcher Perspek-
spektakulären Unfällen und Katastrophen tivenwechsel ist, zeigt ein Blick auf die
zwei Perspektiven (Seveso, Bhophal und andere) begann Entwicklung und den Stand der Umwelt-
Der Umgang mit Stoffen wandelte sich schließlich in den 1970er und 1980er forschung. Unter ökosystemarem Blick-
durch die Etablierung der chemischen Jahren eine generelle Chemiediskussion, winkel formulierte diese in den frühen
Industrie in der zweiten Hälfte des die zu einer Reflexion auf die Chemie, 1970er Jahren ihre Programme und lief
19. Jahrhunderts erheblich. Es wurden ihre Grundlagen und gesellschaftlichen damit in ein Dilemma hinein. Denn mit
nicht nur ganz neue, synthetische Stoffe Implikationen beitrug. Wie weitreichend der Beschreibung der Umweltwirkungen
in wachsender Zahl hergestellt, sondern diese Infragestellung war, zeigte sich als Eingriffe in Ökosysteme wurde eine
die Produktion von Stoffen in bis dahin nicht zuletzt in der Diskussion um Beschreibungssprache gefunden, die den
unvorstellbaren Mengen ermöglicht. Die grundlegende Perspektiven einer Chemie- technischen Zugriff auf Natur, welcher
Kehrseite dieser Entwicklung blieb nicht politik [2]. Im Zuge dieser Auseinander- der modernen Wissenschaft seit ihren
lange verborgen. Streitigkeiten auf Grund setzungen wurde der Umgang mit Chemi- Anfängen eigen ist [3], verlängert. Dabei
der konkurrierenden Naturnutzung durch kalien ganz neu strukturiert. So wichtig hatte doch gerade die technische Nutzung
andere Wirtschaftszweige zeigten, daß im diese Debatten waren, so verengte sich der Natur die beobachteten Probleme
"Stoffumsatzgewerbe" nicht nur Stoffe, in ihnen jedoch tendenziell der Blick erzeugt. Kann eine Problemlösung, die
sondern auch Schadstoffe entstanden. auf Gefahrstoffe und das Management den gleichen Denkmustern entspringt
Deren Regulierung wurde schon bald ihrer Ströme. Generelle Perspektiven für wie die Problemursache, überhaupt eine
notwendig. Im Zusammenhang mit der den gesellschaftlichen Umgang mit Lösung sein? Abhilfe wurde unter ande-
Umsetzung von Schutzmaßnahmen bil- Stoffen fehlen bis heute, die Einbettung rem in einer transdisziplinären Reformu-
dete sich eine wirkungsvolle Arbeits- von Stoffen in gesellschaftliche Hand- lierung der Programmatik gesucht, und
teilung zwischen Wissenschaft, Staat und lungszusammenhänge und Praxisdomä- dazu wurden auch Institutionen ein-
Industrie heraus und blieb in dieser nen ist bisher kaum untersucht worden. gerichtet, zum Beispiel im Kontext der
Form lange Zeit unangefochten [1]. Der Die Frage, inwiefern experimentell Klimawandelforschung. Auffällig bleibt
aufkommenden Umweltbewegung wurde spezifizierte Stoffeigenschaften in tech- aber auch hier die Diskrepanz zwischen
diese eingespielte Praxis des Umgangs nisch und praktisch nutzbare Stoff- programmatischen Entwürfen einerseits
mit Stoffen zunehmend problematisch. Funktionen übersetzt werden können, und der Praxis der Umweltforschung
geht über die Kompetenz der Chemie anderseits. Denn vielfach ist die Um-
*Postadresse : Dr. J. Soentgen als Naturwissenschaft hinaus. Um hier weltforschung von Detailanalysen be-
Wissenschaftszentrum Umwelt (WZU) weiterzukommen, scheint uns ein Per- herrscht und kaum anschlußfähig an
Universität Augsburg spektivenwechsel von dem mathema- politisch-öffentliche Entscheidungspro-
Universitätsstraße 1
D-86159 Augsburg (Deutschland)
tisierten Stoff(strom)management zu zesse [4]. Oder sie verlängert weiterhin
Stoffgeschichten, die über den Umgang die technokratische Perspektive, wie es
E-Mail: soentgen@wzu.uni-augsburg.de
mit Stoffen erzählen, sinnvoll. sich zum Beispiel sehr prägnant in der
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umweltwissenschaftlichen Programmatik neuzeitlicher Wissenschaft als Prozeß prägte hierfür den Begriff der "kahlen
Hans-Joachim Schellnhubers (Potsdam der "Reinigung" von allen narrativen Objekte", welche sich durch die weit-
Institut für Klimafolgenforschung) zeigt, Elementen beschrieben werden.2) Nun reichende Kontrolle der Randbedingun-
der nichts Geringeres als die zweite ist aber gerade im Zusammenhang gen ihrer Erzeugung auszeichnen. Die
Kopernikanische Revolution ausruft.1) mit dem Umweltdiskurs die konstitutive wissenschaftssoziologische Diskussion
Somit besteht eine doppelte Heraus- Bedeutung von "Narrationen" für die hat freilich deutlich gemacht, daß in der
forderung: Zum einen bedarf es über- Entwicklung gesellschaftlicher Problem- Wissenschaft selbst anderen Wissens-
greifender Konzepte, die den Anspruch bereiche aufgezeigt worden (für das formen (vor allem implizitem Wissen
auf Transdisziplinarität der Umwelt- Beispiel "Klima" [9]). Solche Narrationen oder Erfahrungswissen) eine erhebliche
forschung einzulösen vermögen; zum strukturieren die öffentliche Auseinander- Bedeutung zukommt.3)
anderen bedarf es einer Forschung, deren setzung und setzen zugleich den Rahmen Ebenso läßt sich auf der Ebene wissen-
Resultate nicht nur innerakademisch für spezifische wissenschaftliche Per- schaftlicher Konzeptionen zeigen, daß
kommuniziert werden können. Das Kon- spektiven zur Beschreibung der Problem- diese nicht allein einem wissenschaft-
zept der "Stoffgeschichte", das wir unter lage. lichen Diskurszusammenhang entsprin-
Weiterführung der Arbeit von Huppen- gen, sondern vielfach in Wechselwirkung
bauer und Reller [6] hier vorstellen wollen, 2.1. Stoffgeschichten als Heuristik mit übergeordneten Diskursen inner-
scheint die dargelegten empirischen halb der Gesellschaft entstehen. Ludvik
wie konzeptionellen Herausforderungen Um die Bedeutung von Stoffen zu un- Fleck [17] geht sogar so weit, diesen
behandeln zu können. Denn mit diesem tersuchen, ist nicht allein ihre chemische Prozeß als konstitutiv für Wissenschaft
Konzept wird – auf der empirischen Beschreibung nötig, sondern ebenso die anzusehen. Denn Einfachheit wie auch
Ebene – der Blick auf den gesellschaft- Analyse der unterschiedlichen Praxis- Klarheit des wissenschaftlichen Wissens
lichen Umgang mit Stoffen von den Ver- domänen und Diskurse, in denen Stoffen entsteht durch öffentliche Vermittlung
engungen der Management-Perspektive eine je kontext- beziehungsweise diskurs- von Forschungsergebnissen; "populäres
befreit und neu justiert. Des weiteren spezifische Bedeutung zuerkannt wird. Wissen" ist deshalb eine wesentliche
werden – auf der konzeptionellen Ebene Daraus ergibt sich eine Abgrenzung: Das Form wissenschaftlichen Wissens. Anders
– die Herausforderungen an eine trans- Konzept der Stoffgeschichten schließt gesagt: Wissenschaftler brauchen Ge-
disziplinäre Umweltforschung aufge- nicht an dasjenige vom Stoffwechsel schichten, um sich ihrer Erkenntnisse zu
griffen und produktiv gewendet. Stoff- an, das ausgehend von der Marxschen vergewissern. Zugleich ist die Erzählform
geschichten sind nicht nur eine Heuristik Analyse in der Hauptsache an der die Struktur, in welcher Wissen in öffent-
zur differenzierten Beschreibung des Formung von Natur durch menschliche lichen Diskursen auftaucht. Somit kommt
gesellschaftlichen Umgangs mit Stoffen, Arbeit ansetzt – und damit spezifische Erzählungen eine zweifache Aufgabe
sondern auch eine Stoffgeschichte, Verkürzungen des komplizierten Wech- zu: sie erzeugen zum einen Anschluß-
eine Erzählung virtueller oder faktischer selspiels zwischen Stoffen und Gesell- fähigkeit zu den verschiedenen außer-
Natur. Als solche kann sie als Vermittlerin schaft in Kauf nimmt. Denn hinter akademischen Bereichen; zum anderen
zwischen den unterschiedlichen Teil- der heute so geläufigen Metapher vom
systemen der Gesellschaft wirken. Vor Stoffkreislauf steht eine Vorstellung,
1)
diesem Hintergrund muß die doppelte welche die Natur als eine Art vergrößerte Dabei läßt er nicht unbedingt demokratie-
Perspektive des "Stoff-Blicks" und der Fabrik sieht, in der die Stoffe von einem theoretische Sensibilität erkennen, wenn er schreibt:
»Global telecommunication will ultimately
"Stoff-Erzählung" als ein zentrales Merk- Reservoir zum anderen wandern [10]. establish a cooperative system generating values,
mal angesehen werden. Diese beiden Zudem wird dabei als dominante Art preferences and decisions as crucial commonalities
Perspektiven sollen im folgenden ver- des Umgangs mit Stoffen die Arbeit of humanity online.« [5] Damit wird zum einen
deutlicht und entwickelt werden. angesehen. Doch die Vielfalt des eine Vereinheitlichung der Werte unterstellt, wie
sie gerade für plurale Demokratien untypisch ist,
Wechselspiels zwischen Stoffen und und zum anderen werden die typischen und
Gesellschaft geht über den Inhalt des notwendigen Auseinandersetzungen und Konflikte
2. Kontextualisierung: klassischen, an der Produktion von zwischen den Kulturen unterschlagen.
Perspektive des "Stoff-Blicks" Gütern und Waren orientierten Arbeits- 2)Entsprechend erlangte die methodisch angeleitete
begriffs hinaus. Auch kommunikative und experimentell verfahrende Naturforschung
Bei der Analyse von gesellschaftlich Prozesse beeinflussen den gesellschaft- gegenüber der Naturgeschichte einen immer
thematisierten Problemen kann die Wis- lichen Umgang mit der Natur. Ein größeren Stellenwert und löste diese zu Beginn
senschaft nicht mehr selbstverständlich praxistheoretischer Ansatz ist hier weiter- des 19. Jahrhunderts ab [8].
davon ausgehen, unbestrittener Sach- führend, in welchem »die einzelne Hand- 3)Diese schon immer stattfindende "verdeckte
walter des Wissens zur Beschreibung und lung als Teil von sozialen Handlungs- Kontextualisierung" zeigt sich unter anderem
Bearbeitung solcher Probleme zu sein. gefügen, von gemeinsamen, sozialen an der Bedeutung von "implizitem Wissen" oder
"Erfahrungswissen". Mit dem Topos des tacit
Andere Wissensakteure aus verschiede- Praktiken« [11] verstanden wird. knowledge [14] wird die Bedeutung von Know-
nen institutionellen Bereichen der Ge- Dabei war und ist die neuzeitliche how, technischen Tricks sowie eines Gefühls für
sellschaft werden für die Definition des Wissenschaftspraxis dadurch gekenn- Regeln und deren Anwendung hervorgehoben.
relevanten Wissens zunehmend wichtig. zeichnet, die Praxisdomänen begrenzt Klassisch ist die Studie von Harry Collins [15]
über Versuche zum Nachbau des TEA-Lasers.
Die Kontexte beginnen zu sprechen und zu halten. Diese scharfe Grenzziehung Sie zeigte, daß allein denen der Nachbau des
bedürfen einer systematischen Berück- ist einerseits funktional, anderseits führt Gerätes gelang, die in direktem Kontakt mit
sichtigung [7]. Unserer Auffassung nach sie zu einem "Laborblick" auf die den Erfindern standen. Verschriftlichtes Wissen
bietet sich als erster, aussichtsreicher Phänomene. Die Naturwissenschaft be- war nicht ausreichend. Entsprechend definiert
Schritt die Öffnung von Forschung für obachtet also nicht "die Natur", sondern Collins tacit knowledge als: »knowledge or abilities
that can be passed between scientists by personal
eine Erzählperspektive an. Eine solche eine zweite, von ihr selbst erzeugte contact but cannot be, or have not been, set out
Entwicklung ist alles andere als selbst- Natur, die sich den Anforderungen des or passed on in formulae, diagrams, or verbal
verständlich, kann doch die Entwicklung Laboratoriums fügt [12]. Bruno Latour [13] descriptions and instructions for action.« [16].
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unterstützen sie eine "Selbstdisziplinie- streichen und schließlich bestimmte möglichst ausgeprägte Stabilität oder
rung zum Kontext". Sie leiten Wissen- Therapeutika anbieten können, mit denen Wirkungsweise für spezifische Funktionen
schaftler dazu an, die möglichen An- Gesellschaften sich des diagnostizierten auszeichnet. Diese Zuschreibung hat
wendungsbezüge des erzeugten Wissens Problems erwehren können. Bisher wur- sich in einigen Fällen als Fehlschluß er-
mit zu reflektieren. den die relevanten "Problemgeschichten" wiesen, wobei das Fallbeispiel der Fluor-
durch die Naturwissenschaft definiert chlorkohlenwasserstoffe FCKW sicherlich
2.2. Konkretisierung der und entsprechende technische Lösungs- zu den prominenteren gehören dürfte.
kontextualistischen muster angeboten. Jedoch hat sich in- Diese rein synthetische Stoffklasse wurde
Wissenschaftsperspektive zwischen diese Situation verändert. wegen klar spezifizierter chemischer
Durch die Umwelt- und Risikodiskurse ("Stabilität") und physikalischer (durch
Bereits bei der Konstruktion von öffnete sich das Feld wissenschaftlicher die Zusammensetzung einstellbarer Siede-
Tatsachen spielen Erzählungen eine be- Wissensproduktion zur (politischen) Öf- punkt) Eigenschaften als das ideale
trächtliche Rolle. Diese wird um so fentlichkeit [18]. Von den verschiedensten Kühlmedium entwickelt und in großem
bedeutender, je stärker das Themenfeld Standorten innerhalb der Gesellschaft Maße eingesetzt. Unter den Bedingungen
mit gesellschaftlichen Problemdiskursen wird gesprochen, eine "Begrenzung der der Troposphäre sind diese Stoffe auch
interferiert. Denn hier werden nicht nur sprechenden Subjekte" [19] ist kaum mehr stabil (man schloß daraus, daß sie inert
die relevanten Problemperspektiven ver- möglich. Aus den ehedem "kahlen seien), können jedoch von den UV-
handelt, sondern ebenso die möglichen Objekten" entstehen "Risiko-Objekte" [13] Strahlen in der Stratosphäre aufgebrochen
Lösungsmuster – und die unterscheiden oder "extended facts" [20], bei denen werden (sie sind also nicht stabil unter
sich je nach Perspektive erheblich. Eine Akteure mit ganz unterschiedlichen Per- den Strahlungsbedingungen der Strato-
gute "Problemgeschichte" muß deshalb spektiven an der Konstruktion der Ob- sphäre). Mit der Stratosphäre kam ein
eine Diagnose der Situation hergeben, jekte mitwirken. anderer pragmatischer Kontext in den
die Dringlichkeit des Problems unter- Das Konzept der Re-Kontextualisie- Blick. Dies war die Voraussetzung, die
rung eröffnet hier neue Wege. Diese Fiktion der Inertheit in diesem Fall zu
4) Ein solcher Prozeß der Kontextualisierung läßt Idee wurde am Beispiel der Gentechno- "enttarnen".5) Solange die Stabilität allein
sich zum Teil schon an Einsichten der Ökologischen logie schon von Wolfgang Bonss, Rainer von der Wissenschaft definiert wurde,
Chemie studieren. Sie machte deutlich, daß es Hohlfeld und Regine Kollek in die war es eher wahrscheinlich, "diskursive
unmöglich sei, die Vielfalt möglicher Wirkungen Diskussion eingebracht [21]. Re-Kontex- Schläfer" zu erzeugen, also solche Stoffe,
von Chemikalien vollständig aufzuschlüsseln. tualisierung stellt sich dabei als eine bei denen man von einer Sicherheit
Jüngst wurde deshalb vorgeschlagen, die schadens-
bezogene Sichtweise zu überschreiten und auf Strategie der "reflektierten Transzen- ausging, die sich im nachhinein als
Gefährdungen umzustellen. Chemikalien sollten dierung des Laborkontextes" – also eine unbegründet herausstellte. Denn im
als regulationsbedürftig gelten, wenn sie ein Anreicherung "kahler Objekte" – und Rahmen herkömmlicher wissenschaft-
gewisses Gefährdungspotential aufweisen. letztlich als "Vergesellschaftungsform licher Praxis wurde relativ umstandslos
Dieses wiederum kann durch allgemeine Kriterien
beschrieben werden, wie zum Beispiel Persistenz
wissenschaftlichen Wissens" [21a] dar. aus der Stabilität von Stoffen im Labor-
und Reichweite [22]. Mit diesen Kriterien hat das Wichtige Anregungen und Perspektiven kontext auf ihre Inertheit geschlossen,
Vorsorgeprinzip nun Eingang in die Neuordnung erhält eine Heuristik der Kontextuali- ohne jedoch die unterschiedlichen An-
der europäischen Chemikalienpolitik gefunden. sierung mithin aus der Rekonstruktion wendungskontexte und Wirkungsfelder
5) Sherwood Rowland, einer der Erfinder der von pragmatischen und semantischen zu kennen.6) Das Leitbild "klassischer
FCKW-Ozonzerstörungshypothese, bemerkte Kontexten der komplexen Ausgangs- Naturforschung" [24] sah dies freilich erst
viele Jahre später: »In retrospect, the main advance phänomene. In der letzten Konsequenz gar nicht vor.
was to get out of the lab and into the real world führt ein so verstandener Kontextualis- Zur näheren Analyse und Differenzie-
by following a molecule from its release into the
atmosphere to its eventual destruction many years mus zu einem wissenschaftspolitischen rung von "Stoffgeschichten", die sich als
later.« [23] Programm, weil »die Schritte der Er- komplementäre Ergänzungen zur wissen-
6) Ein Fallbeispiel, das in diesem Zusammenhang
weiterung des Laborkontextes und die schaftlichen Beschreibung der Stoffe
instruktiv sein könnte, ist die Anwendung von Bedingungen der Anwendung selbst auffassen lassen, würde es sich anbieten,
Platin-Katalysatoren bei Fahrzeugen, die mit zum Forschungsgegenstand gemacht "Leitstoffe" zu identifizieren: Sie sollten
bleifreiem Benzin fahren. Hierzu wurden diverse werden.« [21a] Ausgangspunkt ist zwar entweder eine Konkurrenz unterschied-
Risikohypothesen formuliert. Eine davon besagte, wissenschaftliches Wissen, jedoch wird licher Stoffpraxen abbilden oder – und
daß es zu einer verstärkten Bildung von Salpeter-
säure in der Umwelt kommen würde. Grundlage für
es in seinen Wechselwirkungen mit der damit kontrastierend – das Monopol
dieses Argument war die Verwendung von Platin Gesellschaft aufgeschlüsselt.4) einer wissenschaftlichen Praxis wider-
als Katalysator bei Herstellungsverfahren dieser Hier ist ein Blick in die Welt der spiegeln. Unter die erste Gruppe fallen
Säure. Allerdings sind dabei die Randbedingungen Chemie hilfreich. Sie liefert eine Fülle beispielsweise die Farbstoffe, bei denen
deutlich andere (viel höherer Druck und von Beispielen dafür, wie die Perspektive es vor deren wissenschaftlicher Ent-
Temperatur), so daß diese Hypothese zurück-
gewiesen werden konnte. Jedoch gewinnt in der systematisch auf "kahle Objekte" be- schlüsselung vielerlei Rezepte und
jüngsten Zeit eine andere Risikohypothese an grenzt wurde. Ebenso kann man erfahren, Prozeduren der Herstellung gab. Zu der
Bedeutung. Es wurde entdeckt, daß Nano-Pt welche besonderen Herausforderungen zweiten Gruppe zählen beispielsweise die
wasserlöslich ist. Dies widerspricht allen bis- sich bei der Konstruktion von "Risiko- Silicone, eine vollkommen synthetische
herigen Vorstellungen über Stabilität und
Löslichkeit von Edelmetallen. Somit kann Platin
Objekten" stellen. Bisher beruhten die Substanzklasse, von der man annahm,
in Form kleinster Partikel bioverfügbar werden Sicherheitsvorstellungen in der Chemie daß sie unter gewöhnlichen Bedingungen
und möglicherweise in Organismen als Bio- auf Konzepten von "Stabilität" und "Inert- unzugänglich für Reaktionen sei [25]. 7)
katalysator wirken. Die Effekte sind noch un- heit" oder aber kontrollierbarer Reak- Die "Inert-Fiktion" war und ist ihrer-
erforscht, könnten aber ein hohes Risikopotential tivität, die sich aus gewissen chemischen seits so stabil, daß man diese Substanz-
bergen. Auch in diesem Fall hat der Anwendungs-
kontext ganz besondere Stabilitätsbedingungen, Parametern der jeweiligen Stoffe be- klasse in der Zwischenzeit in über
die durch Analogien aus dem Laborkontext nicht stimmen ließen. Ziel der Chemie war ja 14 000 Alltagsprodukten auf den Markt
erfaßt wurden. die Herstellung von Stoffen, die eine gebracht hat. Jedoch läßt sich die Ver-
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Exkurs oder das Papier zu beschreiben, welche


durch die gesellschaftlichen Formationen
Stoffe und ihre Wirkungsformen in Raum und Zeit: wandern und allmählich zu "nützlichen
Dingen" werden. Anfang der dreißiger
Das Beispiel der Silicone Jahre erschienen einige Bücher, die das
Die Nutzung von Stoffen geht in der Regel mit der Umgestaltung ihrer Zusammensetzung von Tretjakow entworfene Programm
und ihrer Erscheinungsform einher. Je nach den Erfordernissen werden mehr oder verwirklichten, und 1934 das erste, das
weniger komplizierte Abfolgen von chemischen und physikalischen Prozessen zur seine Struktur allein einer Sache ver-
Umwandlung, Umformung und Umverteilung von Stoffen verwendet. Ziel ist die Her-
stellung von Stoffen mit spezifischen Wirkungsformen, die dann eine Funktion erfüllen
dankte: Sage und Siegeszug des Kaffees –
können. So werden aus – hier im Bild unten links gezeigtem – Quarz oder Bergkristall Die Biographie eines weltwirtschaftlichen
(Siliciumdioxid, SiO2) mit hohem Energieaufwand das für die Chip-Industrie unersetz- Stoffes von Heinrich Eduard Jacob [27].
bare Halbleitermaterial Silicium, aber auch die im Alltag weitverbreiteten Silicone und Im Prolog schreibt der Autor: »Nicht die
Siloxane hergestellt. Aus einem Rohstoff entstehen so Stoffe mit sehr unterschiedlichen Vita Napoleons oder Cäsars wird hier
Wirkungsformen. Solche Stoffe kann man auch als portionierbare Technologien
bezeichnen, da sie für die Erfüllung bestimmter Funktionen gestaltet wurden. Wie jedes erzählt, sondern die Biographie eines
andere funktionelle Material auch, haben sie bestimmte Nebenwirkungen: Da Silicone Stoffes. Eines tausendjährigen, treuen
und Siloxane in sehr vielen Haushalts- und Pflegemitteln eingesetzt werden, gelangen und machtvollen Begleiters der ganzen
sie vorerst unbemerkt in Müllverbrennungsanlagen und Klärwerke. Diese beiden Menschheit. Eines Helden.« Und gegen
zweckmäßigen Einrichtungen verwerten die teils zu Biogas umgewandelten Abfall-
oder Reststoffe in Gasmotoren. Neben den wie geplant erwarteten Kohlenstoffverbin-
Ende seiner eindrucksvollen Geschichte
dungen finden auch die genannten Siliciumverbindungen ihren unvorherge- erzählt Jacob auch noch, wie er, in
sehenen Weg in den Verbrennungsraum des Motors. Im Gegensatz zu den Kohlenstoff- Rio de Janeiro unterwegs, einen Kaffee-
verbindungen ("Biogas"), die zu gasförmigem Kohlendioxid und Wasser verbrennen, zweig betrachtete und einen Tagtraum
werden sie zu – im Bild unten rechts gezeigten – festen Ablagerungen von Siliciumdioxid hatte: Er gehe an einem breiten, gelben
(SiO2, Quarz) umgewandelt, die sich bereits im Motorraum oder auf nachgeschalteten
Filtern und Katalysatoren absetzen und die Funktion des Gasmotors massiv beein- Fluß stromaufwärts und gelange über
trächtigen oder blockieren. Solche Überraschungsmomente kommen in Stoffgeschichten Paris, Venedig, Wien nach "Arabien".
häufiger vor: Der Protagonist taucht in Zusammenhängen auf, in denen man ihn nicht Erwachend nimmt er sich vor, eine
vermutet hat. "Mythologie der Rohstoffe" zu schreiben.
Immerhin bezeichnet die Deutsche
Biographische Enzyklopädie Jacob als
Begründer des modernen Sachbuchs.
Sein Werk über den Kaffee liest sich wie
ein Roman, bietet dem Leser indes auch
Reportagephotos und ein ausführliches
Literaturverzeichnis, was die Mischform
unterstreicht. Aktuellere Beispiele für
"Stoffbiographien" sind etwa Jürgen
Dahls Buch Aufschlüsse: Kalkstein,
Feuerstein, Schiefer – drei Versuche zur
Geologie [28] oder das von Philip Ball
H2O: Biographie des Wassers [29]. Für
das Projekt "Stoffgeschichten" läßt sich
aus diesen Büchern vieles lernen. Sie
nehmen die Aufgabe ernst, zu erzählen:
sie bringen stoffbezogene Themen in
eine zirkulationsfähige Form. Ihnen
gelingt, was auch das hier vorgestellte
Konzept beabsichtigt: Aufklärung über
Stoffe zu vermitteln. Im Fokus dieser
Stoffgeschichten steht allerdings fast
immer "der Stoff selbst", wie er sich aus
der Perspektive bestimmter Naturwissen-
mutung nicht ohne weiteres von der 3. Stoffgeschichten als schaften darstellt. Die gesellschaftliche
Hand weisen, daß auch in diesem Fall Bedeutung und Anwendungszusammen-
die unter Laborbedingungen realisierte "Stoff-Erzählung"
Stabilität der Substanzklasse nicht als Der einflußreiche russische Avantgar- 7)Silicone sind sogenannte siliciumorganische
Inertheit interpretiert werden dürfte. dist Sergej Tretjakow regte schon in den Verbindungen. Als Besonderheit weisen sie eine
Denn manche Mikroorganismen lernen, zwanziger Jahren des letzten Jahrhun- Silicium-Kohlenstoff-Bindung auf, die so in der
diese Stoffe in ihren Stoffwechsel zu derts "Biographien von Dingen" an [26]. Natur keine Analoga hat. Durch dieses Struktur-
merkmal ist der Aufbau dieser Stoffe gewisser-
integrieren. Die Silicone könnten daher Er nahm daran Anstoß, daß der "bürger- maßen teils anorganischer, teils organischer Natur,
unter Umständen zu einem weiteren liche Roman" einzelne Helden allzusehr wobei diese Kombination für die ganz besonderen
Beispiel in der Nachfolge von DDT und in den Mittelpunkt stelle. In einer Um- Eigenschaften maßgeblich ist. So sind Silicone
FCKW werden, bei denen zunächst un- kehrung empfahl der Marxist, es doch viel wärmebeständiger im Vergleich zu
erwünschte Wechselwirkungen im Zu- einmal anders zu versuchen, und herkömmlichen Kohlenstoffpolymeren und
können zugleich flexibler verarbeitet werden,
sammenhang mit anderen Kontexten nicht Menschen, sondern objektive Dinge weil sie sich einerseits als Flüssigkeiten,
von vornherein ausgeschlossen worden wie etwa den Wald, das Brot, die Kohle, anderseits als verformbare, plastisch-elastische
waren. das Eisen, den Flachs, die Baumwolle Massen verhalten [25a].
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hänge werden nicht systematisch mit- zählen. Andererseits darf sie auch nicht opinio, der Voreinstellung des Publikums,
reflektiert. Damit geht ein Teil der nur eine Plauderei sein, die einzelne orientiert, soll unterhalten, belehren und
Wirklichkeit eines Stoffes verloren. Seine Anekdoten aneinanderreiht, sonst landet zur Handlung motivieren – unbedingt zu
Form und seine davon abhängigen man bei den "kleinen Kulturgeschichten", vermeiden ist das taedium, die Lange-
Wirkungsweisen in unterschiedlichen die weniger aufklären wollen, sondern weile des Publikums. (Brevitas, Kürze
zeitlichen und räumlichen Kontexten eher unterhalten [31]. Es gibt hier keine ist übrigens nach Quintilian eine Grund-
werden eher zufällig beachtet, nur die Patentrezepte, wohl aber Beispiele, an tugend der narratio, sie muß keines-
ihm zugedachte Funktion ist von Be- denen man sich orientieren kann. Den wegs "vollständig" sein [32].) Gemessen
deutung. Hingegen fordert der Kontex- genannten Büchern von Jacob oder von an den mit Zahlen, Flußdiagrammen und
tualismus ja gerade eine Ausweitung Dahl gelingt es, eine zusammenhängende Szenarios bewehrten Formen, in denen
des Blickes hin auf die semantischen Geschichte zu erzählen, die dem Leser die Resultate von Umweltforschung
und pragmatischen Kontexte des gesell- ein Bild von dem Stoff, nicht nur eine üblicherweise dargestellt werden, mögen
schaftlichen Umgangs mit Stoffen. Es Summe von Einzelheiten vermittelt und Stoffgeschichten zunächst einmal recht
bedarf also der Verbindung der natur- insofern vollständig ist. Mit anderen unscheinbar daherkommen. Vielleicht
wissenschaftlich erarbeiteten Fakten mit Worten: Über die Vollständigkeit einer erscheinen sie harmlos, rein belletristisch
geistes- und sozialwissenschaftlichen Stoffgeschichte entscheidet nicht eine oder nicht ganz ernst zu nehmen. Stoff-
Kenntnissen und Methoden. Erst aus außerhalb ihrer liegende "objektive geschichten sind, vom Standpunkt der
der fruchtbaren Verbindung der unter- Sache", sondern der Leser, dessen Fragen etablierten Umweltforschung gesehen,
schiedlichen Perspektiven erwächst der beantwortet werden oder nicht. durchaus angreifbar. Sie wollen diese
"Stoff" für eine Stoffgeschichte. Stoffgeschichten sind also keineswegs Umweltforschung auch nicht ersetzen,
zeitlos, sondern auf ein bestimmtes sondern ergänzen. Denn die üblichen,
3.1. Was erzählt eine Stoffgeschichte? Publikum bezogen. Sie sind eine Erzäh- wissenschaftlich anerkannteren Formen,
lung im Sinne der alten Rhetoren: Die umweltrelevantes Wissen darzustellen,
Eine Stoffgeschichte verfolgt einen narratio, die sich immer auch an der verlieren sich oft in Details – und man
Stoff nicht nur durch bestimmte chemi-
sche Konstellationen und Prozesse hin-
durch, sondern durch verschiedene Zeiten
und Situationen. Sie zeigt, um das Bei-
spiel der Kaffeegeschichte des Eduard
Jacob nochmals in Erinnerung zu rufen,
die Kontexte der Entstehung des Stoffes,
und verfolgt ihn durch kulturelle und
politische Szenenwechsel hindurch bis
in die Gegenwart. Von einer life-cycle-
Analyse, die ebenfalls Stoffe (oder
Produkte) durch verschiedene Kontexte
hindurch verfolgt, unterscheidet sich
eine Stoffgeschichte in drei Aspekten.
Zum einen dadurch, daß sie nicht nur
ökonomische Kontexte berücksichtigt,
sondern auch kulturelle Aspekte des
Umgangs mit einem Stoff [30]. So be-
richtet Jacob in seinem Kaffeebuch
auch über diverse Trinkkulturen und
befaßt sich eingehend mit den Berliner
Kaffeehäusern. Weiter hat eine Stoff-
geschichte nicht das Ziel, konkrete
Indikatoren zu errechnen, die eine
Bewertung eines bestimmten Produkts
oder Produktionsweges erlauben. Viel-
mehr geht es darum, Verständnis für
Zusammenhänge zu wecken. Schließlich
richtet eine Stoffgeschichte das Augen-
merk nicht auf kurzlebige ökonomische
Zyklen, sondern öffnet den Blick von
vornherein für größere historische Zeit-
räume – wie ja auch Jacob sein Buch
mit einer Phantasie über die erste
Entdeckung der Wirkung der Kaffee-
bohne beginnt.
Bei einem so weit gefaßten Themen-
feld stellt sich unweigerlich das Pro-
blem der Auswahl. Eine Stoffgeschichte
kann natürlich nicht den Anspruch
haben, "alles" über einen Stoff zu er- Gewebte Stoffe können viel erzählen.
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sieht bald den Wald vor lauter Bäumen Darüber hinaus haben Stoffgeschichten 3.2. Wie werden Stoffgeschichten
nicht mehr. Eine Stoffgeschichte hin- eine wichtige kommunikative Funktion: erzählt?
gegen vermittelt einen Blick auf das Sie können stoffbezogenes Wissen in
Ganze, und zwar ohne jene plakativen eine literarische Form bringen, welche Die Herausforderung für den Ge-
Metaphern, die in der populären öko- es vermag, die Wände des Potential- schichtenerzähler liegt einmal darin, sein
logischen Diskussion so beliebt sind topfs, innerhalb dessen üblicherweise Publikum überhaupt für ein so sprödes
("ökologischer Fußabdruck", "Stoff- die Kommunikation über Stoffe und Thema, wie es Stoffe in ihren erkannten,
kreislauf", "ökologischer Rucksack"). Materialien kreist, zu durchtunneln. So versteckten oder erdachten Wirkungs-
Zugleich gehen sie von ausschnitthaften, können Geschichten über Stoffe, die formen nun einmal sind, zu interessieren.
mehr oder weniger willkürlich gewählten in der Öffentlichkeit bisher nur ein exo- Das ist die klassische rhetorische Heraus-
Zeitfenstern weg und wagen eine weiter tisches Nischenthema sind, was ihrer forderung des sogenannten genus humile,
ausgreifende Sicht. So können Entwick- tatsächlichen Bedeutung für die Repro- jener Redegattung, die es mit gemein-
lungen sichtbar werden, die bei den duktion der Gesellschaft keineswegs hin als langweilig oder gar abstoßend
präziseren, kürzer greifenden Analysen, entspricht, sich in die öffentliche Dis- wahrgenommenen Dingen zu tun hat
die etwa im Zusammenhang des Stoff- kussion einhaken: Eventuell kann sich (rhetorische Methoden, auch für solche
strommanagements üblich sind, nicht sogar ein regelrechter Diskurs formieren. Themen Aufmerksamkeit zu erzielen,
erfaßt werden. Insgesamt kann, so Die Auswahl der Stoffe wird nicht nennt Wessel [35]). Die zweite Heraus-
meinen wir, durch Stoffgeschichten das durch ein wissenschaftlich vorgeprägtes forderung liegt darin, die vielfältigen
Verständnis für stoffliche Prozesse ver- Suchmuster bestimmt, sondern folgt einer Fakten, welche zu einem Stoff in unter-
tieft werden. publizistischen Kategorie: der Aktuali- schiedlichen disziplinären Diskursen
Auch wird die Phantasie angeregt: tät [34]. Diejenigen Stoffe sollen be- gesichert wurden, zu einer Geschichte
Denn der Blick über die kleinen Einheiten schrieben werden, an deren Geschichte zu verbinden. Es kommt hier auf die
der supply-chains und der sogenannten die Gesellschaft ein begründetes Inter- alte Kunst der synopsis, der Zusammen-
life-cycles (die das "Leben" eines Stoffes esse hat oder doch haben sollte. Beispiele schau an. Wichtig ist, das geistige Band,
keineswegs ausschöpfen) gibt ein Gespür sind das Wasser, das Erdöl, "Plastik", sozusagen den Mittelbegriff zu finden,
für die Potentiale, die in einem Stoff Baumwolle, Papier, Kalkstein, Kohlen- der die Einzelheiten zu einem kommuni-
stecken. Geschichten regen die Phantasie dioxid, Sand, Staub und so weiter. Die zierbaren Ganzen verbindet. Eine Tech-
an. Die Gegenwart von Stoffen an er- Auswahl ist natürlich nicht annähernd nik, diese Einheit zu erreichen, welche
wünschten oder unerwünschten Orten vollständig, sie soll vor allem zeigen, sich in Stoffgeschichten häufig findet,
läßt an neue Landkarten denken, Stoff- daß sich der Titel einer Stoffgeschichte ist die Personalisierung. Ein Stoff wird
landkarten, auf denen sich ihre Her- nicht an naturwissenschaftlich geprägten dabei wie eine Person dargestellt und
kunft und Verbreitung, Wirkungsformen Kategorien orientiert, sondern an dem charakterisiert. Explizit geschieht dies
und Effekte in Raum und Zeit verfolgen Verständnis des breiteren Publikums, für etwa bei Jacob, der den Kaffee im Pro-
lassen [33]. das solche Geschichten erzählt werden. log zu seinem Buch als einen "Helden"
bezeichnet. Bisweilen wird die Persona-
lisierung auch implizit vorgenommen.
Sie ist übrigens keineswegs nur ein lite-
rarisches Procedere, sondern hat ein
fundamentum in re: Schon eine winzige
Stoffportion erzählt von den Umständen
ihrer Entstehung. An ihrer Form läßt
sich ihre Geschichte ablesen [6]. Stoff-
arten als Ganze sind darüber hinaus und
durch diese Mikrogeschichten hindurch
eingebunden in die Prozesse der sym-
Jens Soentgen (links): Geboren 1967 in Bensberg, Nordrhein-Westfalen, studierte zunächst bolischen und materiellen Reproduktion
Chemie, promovierte aber in Philosophie, mit einer Arbeit über den Stoffbegriff (Das Un- der Gesellschaft. Ihnen wächst damit
scheinbare, Berlin 1997). Lehraufträge führten ihn anschließend an mehrere Universitäten
in Deutschland. Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor für Philosophie tätig. eine zweite Geschichtlichkeit zu. Es gibt
Seit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) der daher tatsächlich eine gewisse Analogie
Universität Augsburg. Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken! 20 Praktiken der zwischen Stoffen und menschlichen In-
Philosophie (Wuppertal 2003). dividuen.
Stefan Böschen (Mitte): Geboren 1965 in Waldshut, Baden-Württemberg. Studium des Auf der Personalisierung aufbauend,
Chemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluß; 1995– 1998 Vertiefung in Philosophie sowie gibt es weitere Techniken, die in Stoff-
Soziologie; Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese, der Erarbeitung von Risiko-Wissen
im Laufe der Geschichte, analysiert an vier Fallstudien. Seit 1999 an der Universität geschichten vielfach auftauchen: Analog
Augsburg im Sonderforschungsbereich "Reflexive Modernisierung". Er ist WZU-Mitglied wie die Biographienforschung in mensch-
und Projektleiter. lichen Lebensgeschichten "Daseins-
Armin Reller (rechts): Geboren 1952 in Winterthur, Kanton Zürich. 1992–1998 ordentlicher themen" ausmacht [36], an denen sich
Professor am Institut für Anorganische und Angewandte Chemie der Universität Hamburg; eine Person abarbeitet, oder wie auch
daneben seit 1995 Leiter des Programms Solarchemie/Wasserstoff/Regenerative Energie- Historiker die Geschichte eines Landes
träger (BEW, Bern). 1999 Übernahme des neueingerichteten Lehrstuhls für Festkörper-
chemie im Institut für Physik der Universität Augsburg. Er ist Vorstandssprecher des WZU. oder eines Volkes durch gewisse Leit-
Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischen
themen strukturieren, lassen sich auch
High-Tech-Offensive gegründet. Unter dem Leitthema "Zukunftsfähiger Umgang mit für Stoffe Leitmotive formulieren, die
Stoffen, Materialien und Energie" bündelt das WZU die Umweltforschung an der Universität in der Geschichte eines Stoffes immer
Augsburg. Böschen, Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZU wieder, vielleicht in gewandelter Form,
zusammen. auftauchen. Beim Wasser kann man als
Traktat 25
GAIA 13 (2004) no. 1

ein solches Leitmotiv etwa seine natür- eine Kontroverse, VCH, Weinheim (1988). Post-Normal Science", in R. von Schomberg
liche Tendenz feststellen, Grenzen zu [3] Vergleiche W. van den Daele: "Der Traum (Ed.): Science, Politics and Morality –
von der 'alternativen' Wissenschaft", Scientific Uncertainty and Decision Making,
überschreiten oder diffusiv zu unter- Zeitschrift für Soziologie 16 (1987) 403–418. Kluwer, Dordrecht (1993), p. 85–123,
wandern [37]; für die Geschichte der [4] Vergleiche M. Burke: "Assessing the Envi- besonders p. 114f.
Baumwolle wird der Nord-Süd-Gegen- ronmental Health of Europe", Environmental [21] W. Bonss, R. Hohlfeld, R. Kollek (Ed.):
satz in seinen verschiedenen Ausprä- Science & Technology 34 (2000) 76A–80A. Wissenschaft als Kontext – Kontexte der
gungen ein solches Leitmotiv sein; beim [5] H.-J. Schellnhuber: " 'Earth system' analysis Wissenschaft, Junius, Hamburg (1993);
and the second Copernican revolution", insbesondere a) p. 185.
Kalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv den Nature 402 (1999), Supplement C19–C23; [22] Vergleiche M. Scheringer: Persistence and
Gegensatz zwischen einer Auflösungs- vergleiche aber auch H.-J. Schellnhuber: Spatial Range of Environmental Chemicals,
tendenz und der Fähigkeit, vorgegebene "Die Koevolution von Natur, Gesellschaft Wiley-VCH, Weinheim (2002).
Formen mimetisch genau abzubilden. und Wissenschaft – Eine Dreiecksbeziehung [23] S. Rowland: "Ozone Hole", in H. Newbold
Insgesamt läßt sich jedoch keine wird kritisch", GAIA 10/4 (2001) 258–262. (Ed.): Lifestories – World-renowned Scientists
[6] M. Huppenbauer, A. Reller: "Stoff, Zeit und Reflect on their Lives and the Future of Life
Anleitung für das Abfassen von Stoff- Energie – Ein transdisziplinärer Beitrag zu on Earth, University of California Press,
geschichten geben. Zum einen müßte ökologischen Fragen", GAIA 5/2 (1996) Berkeley CA (2000), p. 134–140, besonders
zu diesem Zweck ein größerer Fundus 103–115. p. 135f;
von Stoffgeschichten hinsichtlich ihrer [7] Vergleiche H. Nowotny, P. Scott, S. Böschen: Risikogenese – Prozesse gesell-
rhetorischen Strategien und ihrer Erzähl- M. Gibbons: Re-Thinking Science – schaftlicher Gefahrenwahrnehmung:
Knowledge Production in an Age of FCKW, Dioxin, DDT und Ökologische Chemie,
strukturen analysiert und mit anderen Uncertainty, Polity Press, Cambridge (2001). Leske + Budrich, Opladen (2000).
Natur- und Umweltgeschichten ver- [8] Vergleiche W. Lepenies: Das Ende der [24] S. Böschen, M. Scheringer, J. Jaeger: "Wozu
glichen werden (der Wald ist bereits Naturgeschichte – Wandel kultureller Selbst- Umweltforschung? Über das Spannungs-
Gegenstand erzähltheoretischer Unter- verständlichkeiten in den Wissenschaften des verhältnis zwischen Forschungstraditionen
suchungen [38]). Zum anderen ist das 18. und 19. Jahrhunderts, Suhrkamp, und umweltpolitischen Leitbildern – Teil II:
Frankfurt am Main (1987); Zum Leitbild 'Reflexive Umweltforschung' ",
Erzählen von Stoffgeschichten wie jedes
L. Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen – GAIA 10/3 (2001) 203–212.
niveauvolle Erzählen eine Kunst, die Zur Geschichte der Rationalität, S. Fischer, [25] A. Reller, M. Braungart, J. Soth, O. von
sich nur teilweise in Handlungsanwei- Frankfurt am Main (2001). Uexküll: "Silicone – eine vollsynthetische
sungen ausmünzen läßt. [9] Vergleiche W. Viehöver: "Diskurse als Materialklasse macht Geschichte(n)",
Narrationen", in R. Keller, A. Hirseland, GAIA 9/1 (2000) 13–24; insbesondere a) p.16.
W. Schneider, W. Viehöver (Ed.): Handbuch [26] S. Tretjakow: Die Arbeit des Schriftstellers,
Sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse, herausgegeben von H. Boehncke, Rowohlt,
4. Die Moral der Stoffgeschichte Band 1: Theorien und Methoden, Reinbek bei Hamburg (1972), p. 81–86.
Leske + Budrich, Opladen (2001), p. 177–206. [27] H.E. Jacob: Sage und Siegeszug des Kaffees
Stoffgeschichten haben ein Ziel: [10] M. Deneke: " Zur Tragfähigkeit des Stoff- – Die Biographie eines weltwirtschaftlichen
Aufklärung über Stoffe und deren wechselbegriffs", in G. Böhme, E. Schramm Stoffes, Rowohlt, Berlin (1934).
Wirkungsformen. Aus den historischen (Ed.): Soziale Naturwissenschaft – Wege zu [28] J. Dahl: Aufschlüsse: Kalkstein, Feuerstein,
einer Erweiterung der Ökologie, Fischer Schiefer – drei Versuche zur Geologie,
Studien lassen sich Tendenzen ablesen, Taschenbuch, Frankfurt am Main (1985), Langewiesche-Brandt, Ebenhausen bei
die Aussagen über die zukünftige Ent- p. 42–52. München (1977).
wicklung einer Stoffgeschichte ermög- [11] K.H. Hörning: Experten des Alltags – [29] P. Ball: H2O – Biographie des Wassers,
lichen. Sie gewinnen ihr Gewicht aus Die Wiederentdeckung des praktischen Piper, München (2002).
der Langzeitbetrachtung und können so Wissens, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist [30] A. Reller, S. Schmid: Kalk – Kulturgeschichte
(2001), p. 162. eines Stoffes, unveröffentlichtes Manuskript,
etwas wie ein "Gespür" für einen be- Universität Augsburg (2002).
[12] K. Knorr-Cetina: "Laboratorien: Instrumente
stimmten Stoff vermitteln. So kann es der Weltkonstruktion", in P. Hoyningen-Huene, [31] M. Eichhorn: Kulturgeschichte der "Kultur-
zu einem Wiedereintritt der Geschichte G. Hirsch (Ed.): Wozu Wissenschafts- geschichten": Typologie einer Literatur-
in sich selbst kommen: Dann nämlich, philosophie?, de Gruyter, Berlin (1988), gattung, Königshausen & Neumann,
wenn die Stoffgeschichte zu einem p. 315–344. Würzburg (2002).
[13] B. Latour: Das Parlament der Dinge – [32] J.G. Pankau: "Narratio", in G. Ueding (Ed.):
kreativeren und umsichtigeren Umgang Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 1,
mit dem Stoff selbst anregt. Für eine politische Ökologie, Suhrkamp,
Frankfurt am Main (2001). Niemeyer, Tübingen (1992), Sp. 1490–1495.
[14] M. Polanyi: Implizites Wissen, Suhrkamp, [33] A. Reller: "Skizze einer Geographie der
Für Hinweise und Diskussionen danken wir Frankfurt am Main (1966/1985). Ressourcen", Politische Ökologie Nr. 86
den Teilnehmern an dem WZU-Workshop [15] H. Collins: Changing Order: Replication (2003) 22–25.
"Stoffgeschichten" im November 2002: and Induction in Scientific Practice, [34] E. Dovifat: " Aktualität – Gegenwarts-
University of Chicago Press, Chicago IL wirkung" , in E. Dovifat (Ed.): Handbuch
Markus Huppenbauer, Renate Diessenbacher,
(1992). der Publizistik, Band 1: Allgemeine Publizistik,
Riyaz Haider, Simon Meissner und de Gruyter, Berlin (21971), p. 20–28.
Isabelle Sécher. [16] H. Collins: "Tacit Knowledge, Trust and the
Q of Sapphire", Social Studies of Science 31 [35] B. Wessel: "Attentum parare, facere", in
(2001) 71–85, insbesondere p. 72. G. Ueding (Ed.): Historisches Wörterbuch
[17] L. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer der Rhetorik, Band 1, Niemeyer, Tübingen
(1992), Sp. 1162–1163.
Literaturverzeichnis wissenschaftlichen Tatsache – Einführung in
die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, [36] H. Thomae: Das Individuum und seine Welt,
Suhrkamp, Frankfurt am Main (1935/1983). Hogrefe, Göttingen (1996).
[37] J. Soentgen: "Feuer, Erde, Wasser, Luft:
[1] Vergleiche S. Böschen: "Katastrophe und [18] S. Böschen: "Wissenschaftsfolgenabschätzung
Die Elemente in der globalen Welt",
institutionelle Lernfähigkeit – Seveso als – Über die Veränderung von Wissenschaft
Sendebeitrag zum Funkkolleg "Glück und
ambivalenter Wendepunkt der Chemiepolitik", im Zuge reflexiver Modernisierung", in
Globalisierung" des Hessischen Rundfunks
in L. Claussen, E. Geenen, E. Macamo (Ed.): S. Böschen, I. Schulz-Schaeffer (Ed.):
(eine Textversion erscheint 2004 bei
Entsetzliche soziale Prozesse – Theorie und Wissenschaft in der Wissensgesellschaft,
Suhrkamp, Frankfurt am Main).
Empirie der Katastrophen, Lit, Münster Westdeutscher Verlag, Opladen (2003).
[38] A. Lehmann (Ed.): Der Wald – ein deutscher
(2003), p. 139–162 (zugleich: Konflikte, [19] M. Foucault: Die Ordnung des Diskurses,
Mythos?, Reimer, Berlin (2000).
Krisen und Katastrophen – in sozialer und Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main
kultureller Sicht, Band 1). (1970).
[2] M. Held: Chemiepolitik – Gespräch über [20] S. Funtowicz, J. Ravetz: "The Emergence of (Eingegangen am 26. November 2003; OS)

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