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2003 (1) Neue Medien – Neues.

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Neue Medien - Neues


Naturverständnis?
Kritische Anmerkungen zum
Einsatz Neuer Medien im
Kontext einer naturgemäßen
Berufsbildung

T H O M A S V O GE L

1. Einleitung
Neue Medien verändern und bestimmen zunehmend Bildungsprozesse. Dabei ist erst
zum Teil absehbar, in welcher Weise sie das Lernen und das Bewußtsein der Menschen
beeinflussen. Es stellt sich die Frage, ob die Neuen Medien sich im Hinblick auf eine
humane gesellschaftliche Entwicklung eher positiv oder eher negativ auswirken
beziehungsweise wie sie in Lehr-/Lernprozessen einzusetzen sind, damit sie bestimmte
Entwicklungen fördern und bedeutsame Einsichten nicht behindern. Hinsichtlich dieser
Problemstellung soll im folgenden der mögliche EinflußNeuer Medien auf das
Naturverständnis und eine nachhaltige Entwicklung diskutiert werden. Dabei sind
zunächst Detailfragen zu klären. Einerseits geht es darum, welche Funktionen Medien in
Lehr-/Lernprozessen erfüllen können und was die Neuen Medien im Vergleich zu
herkömmlichen besonders charakterisiert. Andererseits ist der Problemgehalt im
Naturverständnis unserer gegenwärtigen Kultur zu beleuchten und eine didaktische
Perspektive einer naturgemäßen Berufsbildung zu skizzieren. Auf dieser Grundlage sind

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dann der EinflußNeuer Medien auf das Naturverständnis sowie Chancen und Risiken
ihres Einsatzes in Lehr-/Lernprozessen für eine nachhaltige Entwicklung zu diskutieren.

2. Funktionen von Medien in Lehr-/Lernprozessen


In der Umgangssprache bezeichnet der Begriff "Medium" ein Mittel oder einen Mittler.
In der Pädagogik versteht man allgemein unter Medium die Form, in der Inhalte
repräsentiert sind. Dabei unterscheidet man reale, modellhafte, abbildhafte und
symbolische Formen der Wiedergabe von Sachverhalten. Medien bilden das Fundament
für die unterrichtliche Kommunikation. Im Rahmen von Lehr-/Lernprozessen können sie
eine Vielzahl von Funktionen erfüllen:

In ihrer Repräsentationsfunktion des Lerninhalts steuern Medien den Lernprozess. Sie


versachlichen ihn indem sie den Blick vom Lehrenden auf die Sache lenken. Medien
veranschaulichen, konkretisieren oder detaillieren Lerninhalte. Vielfach erhofft man sich
von Medien zusätzlich eine Förderung der Lern-Motivation: sie sollen Emotionen
freisetzen und Interesse wecken. Durch den sinnvollen Einsatz von Medien kann der
Lerninhalt abwechslungsreich gestaltet und die Lernintensität erhöht werden. In
Lerngruppen erleichtern Medien eine innere Differenzierung, weil ihr Einsatz ein
unterschiedliches Lerntempo und den individuellen Zugang zu Lerninhalten ermöglicht.
Sie können dabei gleichzeitig die selbständige Erarbeitung eines Lernfeldes sowie die
Selbststeuerung und Selbstorganisation des Lernprozesses durch die Lernenden fördern.

Hinsichtlich der bis hier dargestellten Funktionen bestehen zwischen herkömmlichen


und Neuen Medien keine wesentlichen Unterschiede. Neue Medien transformieren
innerhalb eines Systems mittels Digitalisierung menschliche Praxis in Text, stehende und
bewegte Bilder, Grafik und Ton, ermöglichen den Zugang und Austausch von diesen
Informationen und eröffnen die Möglichkeit der Tele-Kommunikation. Betrachtet man
jede einzelne Möglichkeit der Neuen Medien isoliert, so wird deutlich, dass wesentliche
Unterschiede zu herkömmlichen "alten" Medien wie Fernsehen, Radio, Tonband, Fotos,
Dias usw. in der Quantität der Informationen, die gespeichert und abgerufen werden
können, in ihrer systemischen Vernetzung sowie in der Beschleunigung des
Informationsflusses bestehen. Hinsichtlich der Informationsaufbereitung werden den
Neuen Medien folgende charakteristischen Funktionen und Gestaltungspotentiale
zugeschrieben (vgl. Zimmer 1997, 24 ff.):

1. Präsentation: Durch die Integration von statischen und dynamischen


Symbolsystemen für das Sehen und Hören können Informationen der realen Welt
transfomiert werden.

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2. Interaktivität: Die Lernsoftware kann dem Benutzer in begrenztem Umfang
Rückmeldung (über Lernfortschritte oder Fehler) geben und ihm Hilfsangebote
(Hyperlinks, Lernwege, Navigation) unterbreiten.

3. Simulation: Anhand mathematisierter Modelle können Programme die Wirkungen


und Nebenwirkungen von Eingriffen in Systeme veranschaulichen.

4. Kommunikation: Über vernetzte Computer kann multimedial, also in


Symbolsystemen des Sehens und Hörens synchron und asynchron kommuniziert
werden.

Im Vergleich zu herkömmlichen Medien erhofft man sich von Neuen Medien


zusammengefasst eine bessere Veranschaulichung von Informationen durch die
umfassendere Kombination von Symbolsystemen, eine bessere Motivation der
Lernenden, eine Verbesserung des Informationsaustauschs sowie eine bessere
Veranschaulichung und Planbarkeit von Wirkungszusammenhängen in Systemen.

3. Zum Naturverständnis unserer Kultur


Der Begriff "Naturverständnis" verweist auf einen vom Menschen eingenommenen
Standpunkt zur Natur. Der Verstand wird dabei als menschliche Fähigkeit definiert, "die
Gegenstände und ihre Beziehungen durch Begriffe zu denken" (Philosophisches
Wörterbuch 1978, 705). Beim Naturverständnis einer Kultur geht es also um die Frage,
wie sie die Natur und die in ihr liegenden Beziehungen durch Begriffe denkt. Diese
Frage ist grundlegend für das Verhalten einer Kultur gegenüber der Natur; denn "je
nachdem wie der Mensch 'Natur' versteht, wird er über 'Natur' verfügen, und im
Verfügen über die Natur verfügt er zugleich über die Bedingungen seines eigenen
Lebens. Deshalb steht bei der Erkenntnis von Natur immer die Existenz der Menschheit
auf dem Spiel" (Picht 1993, 94).

Das neuzeitliche Naturverständnis hat sich im Zuge der Aufklärung aus einem neuen
Selbstverständnis des Menschen entwickelt: dieser befreite sich aus den engen Fesseln
mittelalterlich - religiösen Denkens hin zu der Überzeugung, der Mensch sei Subjekt der
Erkenntnis und der Geschichte und die Natur habe ihm lediglich als Objekt zur
Befriedigung seiner Bedürfnisse zu dienen. Dabei ging man von einem gemeinsamen
Denk- und Tätigkeitsmodus von Schöpfergott und menschlichem Geist aus. Unter 'Natur'
verstand man einen geistlosen (toten) Mechanismus. Das "Buch der Natur", so war
Galileo Galilei überzeugt, sei in der Sprache der Mathematik, der Wissenschaft von den
formalen Systemen, geschrieben. Ihre Buchstaben seien Dreiecke, Kreise und andere
geometrische Figuren, und ohne Kenntnis dieser Buchstaben und dieser Sprache sei es
dem Menschen unmöglich, auch nur ein Wort zu verstehen. Es sei ein sinnloses

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Herumirren in einem finsteren Labyrint (vgl. Galilei in Schiemann 1996, 106). Kaum
einem Imperativ sind die Menschen seit der Aufklärung gehorsamer gefolgt, als der
Forderung Galileis, man müsse messen, was meßbar sei und meßbar machen, was es
nicht sei. "Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will,
gilt der Aufklärung verdächtig" (Horkheimer/Adorno 1975, 9). Seit dieser Zeit streben
die Industriegesellschaften im wahrsten Sinne des Wortes von einer "Maß - Nahme" zur
nächsten. Innerhalb dieses fortschreitenden Prozesses hat sich das "Meßbarmachen" und
"Maßnehmen", das Edmund Husserl als "Mathematisierung der Welt" beschrieben und
als "Ideenkleid" entlarvt hatte, immer mehr zu einem Selbstzweck entwickelt, der sich
dem reflektierenden Bewußtsein entzieht und zunehmend die natürlichen
Existenzgrundlagen der Menschheit gefährdet.

Im Zentrum der ökonomischen Rationalität, die das Naturverständnis unserer Kultur


ebenso stark prägt wie das naturwissenschaftlich - technologische Denken, steht
ebenfalls das rechnerische Kalkül. In der historischen Entwicklung und in der Struktur
bestehen zwischen der ökonomischen und der technologischen Vernunft deutliche
Parallelen. In der Periode der Aufklärung bestand das Ziel der ökonomischen
Rationalität jenseits ihrer materiellen Zwecksetzungen darin, "die Gesetze der
menschlichen Tätigkeit ebenso strikt berechenbar und vorhersehbar zu machen wie die
Funktionsgesetze des kosmischen Uhrwerks" (Gorz 1989, 162). Gorz vergleicht die
ökonomische Rationalität mit der Mathematisierung der Natur durch die
Naturwissenschaften. Ebenso wie dort übersetzt die Mathematisierung in der Ökonomie
einen bestimmten Typus von Beziehung zur Lebenswelt in Formalisierungen und
verkleidet das menschliche Naturverhältnis in symbolisch -mathematische Theorien (vgl.
ebd.). Das ökonomische Bewußtsein erzeugt deshalb ebenso wie die
Naturwissenschaften ein reduktionistisches Naturverständnis. Die Naturkrise der
Industriegesellschaft beginnt also in ihren Denkstrukturen. Weil in Naturwissenschaft,
Technologie und Wirtschaft im Hinblick auf das Mensch - Natur - Verhältnis
dogmatische Wahrnehmungs- und Denkmuster und daraus resultierende Ziele verfolgt
werden, besitzt die wissenschaftlich - technische Welt ein Übermaß an
Zerstörungswissen der Natur und leidet an einem Mangel an Erhaltungswissen.

4.Zur didaktischen Perspektive einer naturgemäßen


Berufsbildung 1
Welche Bedeutung hat das hier skizzierte Naturverständnis im Hinblick auf eine
naturgemäße Berufsbildung? Wenn man in Berufsbildungsprozessen ein ökonomisches
beziehungsweise ein naturwissenschaftliches Naturverständnis, wie es skizziert wurde,

1Der Ausdruck "naturgemäße Berufsbildung" ist in "Naturerkenntnis und Naturbearbeitung in der gewerblich-
technischen Berufsbildung" (Vogel 2000) näher erläutert.

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unreflektiert vermittelt, so fördert man die Herausbildung einer Mentalität, die uns
Menschen Glauben macht, diese Denkweisen und Methoden seien die einzigen legitimen
Wege zur Erfassung der gesamten Realität. Solche Bildungsprozesse, die vielfach Ziel
beruflicher Bildung sind (vgl. Vogel 2000), vermitteln eine reduzierte, statische "Wenn-
dann-Natur" und fördern eine Denkweise, in der wir "die Natur nur im Hinblick auf
unsere Maßstäbe befragt, sie nur mit unseren Maßen gemessen und gewogen" haben
(Uexkuell 1953, 9). Dabei entwickeln die Lernenden lediglich ein pragmatisches
Naturverständnis, welches keine ethische Orientierung für eine nachhaltige Entwicklung
bietet. Solche Bildungsprozesse fördern lediglich die "Vereinheitlichung der
intellektuellen Funktion kraft welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht"
(Horkheiner/Adorno 1944/1975, 35) und erzeugen die moderne Gleichgültigkeit, mit der
die Menschen der Industriegesellschaften der Natur begegnen. Um diese
Naturentfremdung im naturwissenschaftlichen und ökonomischen Denken zu
überwinden, müssen Natur und menschliches Natursein ganzheitlich gedacht werden.
Erst auf der Grundlage eines veränderten Naturverständnisses können auch Wissenschaft
und Ökonomie anders gedacht werden.

Bisher verlief die Gestaltung der Natur weitgehend ungeplant und implizit als Ergebnis
kultureller Entwicklungen. Auf Grund der Krise wird Natur künftig nicht mehr als das
unveränderlich Gegebene anzusehen sein, sondern als das vielfältig vom Menschen zu
Gestaltende. Die Gestaltung der Natur bedarf bewußter Planungsprozesse, die sich mit
der normativen Entscheidung auseinanderzusetzen haben, welches Naturverständnis,
welchen Erkenntnistyp von Natur und somit welches Verständnis vom Menschen in der
Natur wir künftig einnehmen wollen. Die Planungsprozesse haben sich in einem
gesamtgesellschaftlichen Diskurs mit der Frage, welche Natur wir wollen, zu
beschäftigen (vgl. Schmidt 2000). Diese Frage ist zugleich die didaktische Leitfrage
einer naturgemäßen Berufsbildung. Im Zentrum einer solchen Berufsbildung steht das
Problem der Bewahrung der Natur durch ihre bewußte Gestaltung. Drei didaktischen
Leitkategorien - Ästhetik, Antizipation und Partizipation - umschreiben die humanen
Kompetenzen, die zur Beantwortung der Leitfrage und damit zur Förderung einer
nachhaltigen Entwicklung notwendig sind (s. Abb.1).

Ästhetische Erziehung

Welche Natur wollen wir?

Partizipatorische Antizipatorische
Erziehung Erziehung
Abb. 1: Didaktische Leitfrage und Leitkategorien einer naturgemäßen Berufsbildung
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Eine naturgemäße Berufsbildung setzt zunächst eine umfassendere
Wahrnehmungsfähigkeit voraus. Sie muß um der Überwindung von Naturferne und
Naturvergessenheit moderner zivilisatorischer Standards und um einer veränderten
ethischen Orientierung willen die Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmung von
natürlichen Gegebenheiten befördern. Klischeehafte und monokausale Wahrnehmungs-
und Deutungsmuster sind aufzubrechen und kulturell und biographisch vernachlässigte
Wahrnehmungsweisen zu (re-) aktivieren (vgl. Vogel 2000). Dadurch wäre eine größere
Offenheit für Probleme und Risiken, aber auch für Entwicklungspotentiale der
Industriegesellschaft im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung herbeizuführen.

Die Schulung sinnlicher Wahrnehmung ist im Rahmen einer naturgemäßen


Berufsbildung und in der Frage nach der zukünftigen Naturgestaltung grundlegend. Es
geht dabei um eine Form der Erziehung, wie sie schon Friedrich Schiller in seinen
Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen als Ausgangspunkt für politische
Veränderungen sah (vgl. Schiller 1793/2000, 17). Schiller hatte bereits die später von
Horkheimer und Adorno so genannte "Dialektik der Aufklärung" beschrieben und die
Entwicklung der Aufklärung als "bloß theoretische Kultur" kritisiert, die nur den
Verstand auf Kosten der Empfindungen ausbilde. Erst der durch eine ästhetische
Erziehung gebildete Mensch - so Schiller - mache sich "die Natur zu seinem Freund"
und ehrt ihre Freiheit, "indem er bloß ihre Willkühr zügelt" (ebd.). Das Ziel ästhetischer
Erziehung ist die Ausbildung einer "moralischen Phantasie"(Anders). Anders hatte damit
die Fähigkeit gemeint, "die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens
den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen,
was wir anrichten können, anzumessen; uns also als Vorstellende und Fühlende mit uns
als Machenden gleichzuschalten" (Anders 1985, 273).

Neben der Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeit ist durch eine


naturgemäße Berufsbildung die Erziehungzur Antizipation zu fördern. Antizipation ist
die Fähigkeit des Menschen, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen, künftige
Ereignisse vorauszusehen, die mittel- und langfristigen Konsequenzen gegenwärtiger
Entscheidungen auszuwerten und dabei unbeabsichtigte Nebenwirkungen oder auch
Überraschungseffekte miteinzubeziehen. Die Förderung der Antizipation wurde bereits
mehrfach als zentrales Ziel unserer Zeit gefordert und konkretisiert (vgl. Anders 1986;
vgl. Peccei 1980). Die Menschen müssen künftig zunehmend ohne konkrete Erfahrungen
lernen; denn sie müssen, wenn sie prognostizierte Katastrophen vermeiden wollen, allein
im Hinblick auf ihr mögliches Eintreten handeln bzw. Handlungen vermeiden. Zur
Antizipation muß der Mensch deshalb aus dem Jetzt heraustreten und sich in einen sehr
breiten Raum der Voraussicht und der Verantwortung hineinbegeben.

Nahezu alle Fäden der Naturumformung laufen in Produktionsprozessen zusammen.


Den arbeitenden Menschen sind diese Prozesse allerdings weitestgehend unverfügbar.
Sie werden für ihre Arbeit entlohnt, deren Zweck allein durch das ökonomische Ziel der
Gewinnmaximierung bestimmt wird. Die arbeitende Bevölkerung ist deshalb in der

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arbeitsteiligen, kapitalistisch organisierten Gesellschaft nicht nur vom Bild ihrer
Produkte ausgesperrt, sondern auch von der Freiheit, über die Verwendung ihrer
Produkte mitzuverfügen (vgl. Anders 1986, 363). Diese Kritik impliziert als dritte
Leitkategorie einer naturgemäßen Berufsbildung die Förderung der Kompetenzen zur
Partizipation. Mit Partizipation ist sowohl die Hoffnung des Menschen auf Partnerschaft
im Entscheidungsprozeß verbunden als auch sein Unwillen, sich mit festgelegten Rollen
zufriedenzugeben (vgl. Peccei 1980, 58). Partizipation bedeutet dabei die Fähigkeit, eine
aktive, gesellschaftliche Rolle zu übernehmen. Ohne Partizipation bzw. die Aussicht auf
Partizipation fehlt den Subjekten die Motivation zum verantwortungsbewußten Handeln.
Zur Förderung der Partizipation muß eine naturgemäße Berufsbildung die rationale
Einsicht in ökonomische, ökologische, soziale und technische Prozesse vermitteln und
sich mit Reformplänen zur Organisation des innerbetrieblichen und des
gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses im Hinblick auf die Gestaltung der Natur
auseinandersetzen.

5. Zum Verhältnis neuer Medien und einer


naturgemäßen Berufsbildung

5.1. Zur Ambivalent technologischer Entwicklungen


Eine naturgemäße Berufsbildung setzt zunächst eine umfassendere
Wahrnehmungsfähigkeit voraus. Sie muß um der Überwindung von Naturferne und
Naturvergessenheit moderner zivilisatorischer Standards und um einer veränderten
ethischen Orientierung willen die Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmung von
natürlichen Gegebenheiten befördern. Klischeehafte und monokausale Wahrnehmungs-
und Deutungsmuster sind aufzubrechen und kulturell und biographisch vernachlässigte
Wahrnehmungsweisen zu (re-) aktivieren (vgl. Vogel 2000). Dadurch wäre eine größere
Offenheit für Probleme und Risiken, aber auch für Entwicklungspotentiale der
Industriegesellschaft im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung herbeizuführen.

Die Schulung sinnlicher Wahrnehmung ist im Rahmen einer naturgemäßen


Berufsbildung und in der Frage nach der zukünftigen Naturgestaltung grundlegend. Es
geht dabei um eine Form der Erziehung, wie sie schon Friedrich Schiller in seinen
Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen als Ausgangspunkt für politische
Veränderungen sah (vgl. Schiller 1793/2000, 17). Schiller hatte bereits die später von
Horkheimer und Adorno so genannte "Dialektik der Aufklärung" beschrieben und die
Entwicklung der Aufklärung als "bloß theoretische Kultur" kritisiert, die nur den
Verstand auf Kosten der Empfindungen ausbilde. Erst der durch eine ästhetische
Erziehung gebildete Mensch - so Schiller - mache sich "die Natur zu seinem Freund"

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und ehrt ihre Freiheit, "indem er bloß ihre Willkühr zügelt" (ebd.). Das Ziel ästhetischer
Erziehung ist die Ausbildung einer "moralischen Phantasie"(Anders). Anders hatte damit
die Fähigkeit gemeint, "die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens
den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen,
was wir anrichten können, anzumessen; uns also als Vorstellende und Fühlende mit uns
als Machenden gleichzuschalten" (Anders 1985, 273).

Neben der Wiedergewinnung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeit ist durch eine


naturgemäße Berufsbildung die Erziehungzur Antizipation zu fördern. Antizipation ist
die Fähigkeit des Menschen, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen, künftige
Ereignisse vorauszusehen, die mittel- und langfristigen Konsequenzen gegenwärtiger
Entscheidungen auszuwerten und dabei unbeabsichtigte Nebenwirkungen oder auch
Überraschungseffekte miteinzubeziehen. Die Förderung der Antizipation wurde bereits
mehrfach als zentrales Ziel unserer Zeit gefordert und konkretisiert (vgl. Anders 1986;
vgl. Peccei 1980). Die Menschen müssen künftig zunehmend ohne konkrete Erfahrungen
lernen; denn sie müssen, wenn sie prognostizierte Katastrophen vermeiden wollen, allein
im Hinblick auf ihr mögliches Eintreten handeln bzw. Handlungen vermeiden. Zur
Antizipation muß der Mensch deshalb aus dem Jetzt heraustreten und sich in einen sehr
breiten Raum der Voraussicht und der Verantwortung hineinbegeben.

Nahezu alle Fäden der Naturumformung laufen in Produktionsprozessen zusammen.


Den arbeitenden Menschen sind diese Prozesse allerdings weitestgehend unverfügbar.
Sie werden für ihre Arbeit entlohnt, deren Zweck allein durch das ökonomische Ziel der
Gewinnmaximierung bestimmt wird. Die arbeitende Bevölkerung ist deshalb in der
arbeitsteiligen, kapitalistisch organisierten Gesellschaft nicht nur vom Bild ihrer
Produkte ausgesperrt, sondern auch von der Freiheit, über die Verwendung ihrer
Produkte mitzuverfügen (vgl. Anders 1986, 363). Diese Kritik impliziert als dritte
Leitkategorie einer naturgemäßen Berufsbildung die Förderung der Kompetenzen zur
Partizipation. Mit Partizipation ist sowohl die Hoffnung des Menschen auf Partnerschaft
im Entscheidungsprozeß verbunden als auch sein Unwillen, sich mit festgelegten Rollen
zufriedenzugeben (vgl. Peccei 1980, 58). Partizipation bedeutet dabei die Fähigkeit, eine
aktive, gesellschaftliche Rolle zu übernehmen. Ohne Partizipation bzw. die Aussicht auf
Partizipation fehlt den Subjekten die Motivation zum verantwortungsbewußten Handeln.
Zur Förderung der Partizipation muß eine naturgemäße Berufsbildung die rationale
Einsicht in ökonomische, ökologische, soziale und technische Prozesse vermitteln und
sich mit Reformplänen zur Organisation des innerbetrieblichen und des
gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses im Hinblick auf die Gestaltung der Natur
auseinandersetzen.

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Vielfalt Vereinseitigung

Aktivierung Passivierung

Orientierung Desorientierung

Unabhängigkeit Abhängigkeit

Defizitverminderung Aufbau neuer Defizite bzw.


Verstärkung vorhandener Defizite

Bereicherung Sinn - Entleerung

Mehr Partizipationmöglichkeiten Vereinsamung

Selbstbestimmung Fremdbestimmung

Fortschritt Rückschritt

Sicherung Unsicherheit, Angst

Abbildung 2:Chancen und Risiken der Neuen Medien2 (Quelle:


Stransfeld/Tonnemacher 1984, 141)

Entsprechend der tabellarischen Gegenüberstellung von Chancen und Risiken ist auch
im Hinblick auf eine naturgemäße Berufsbildung zu fragen, ob Neue Medien eher die
Selbst- oder eine Fremdbestimmung, eher Partizipationsmöglichkeiten oder
Vereinsamung usw. fördern. Die folgende Diskussion über solche Wirkungen
konzentriert sich auf die drei oben skizzierten Leitkategorien einer naturgemäßen
Berufsbildung.

2Teilaspekte der - seinerzeit sicherlich noch spekulativ formulierten - Chancen und Risiken von
Mediennutzung lassen sich mittlerweile immer häufiger empirisch nachweisen. Schönweiss/Asshoff stellten in
Tests zur Mediennutzung, Wahrnehmung und Behaltensquote von Studenten fest, dass diese zwar schneller
eine Schlüsselinformation auf einer Web-Seite finden, mehr Details in schnell geschnittenen Filmen erfassen
sowie bei laufendem Fernsehen und PC in der Lage seien, eher Denksportaufgaben zu bearbeiten als frühere
Studentenjahrgänge. Hingegen hätten sie Probleme beim Verständnis längerer oder logisch geschachtelter
Texte, könnten weniger gut zusammenfassen und restrukturieren, vermischten häufiger Argumente, ließen sich
kaum von logischen Widersprüchlichkeiten beirren und zeigten eine geringe Beharrlichtkeit in der
thematischen Auseinandersetzung. Dabei reichte ihre Aufmerksamkeitsspanne nur wenige Minuten, wonach
sie Wiederholungen, einen Themenwechsel oder Reize zur Aufrechterhaltung der Konzentration benötigten
(vgl. Schönweiss/Asshoff 2002)

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5.2. Neue Medien und ästhetische Erziehung
Medien bilden die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern erzeugen eine zweite, mediale
Realität. Die Neuen Medien konfrontieren den Lernenden mit Interpretationen und
Urteilen über Sachverhalte, Gegenstände und Vorgänge. "Auf dem Weg zum Bildschirm
ist das zur Erscheinung Gebrachte bereits einer Vielzahl von vorgängigen
Interpretationen unterworfen. Deshalb sprechen wir von mehrfach gebrochenen
Zeichenprozessen" (Sturm 1985, 21) Der Bildschirm liefert "statt der Szene deren
Präparierung", ein "in Bildform auftretendes Vorurteil" (Anders 1956/1985, 163). Durch
die Neuen Medien vermittelte Naturerscheinungen sind also neben ihrer technischen
Repräsentation einem mehrfachen Interpretationsprozess unterworfen. Es erscheint dem
Lernenden auf dem Bildschirm nicht das ursprüngliche Naturphänomen, sondern eine
"mehrfach gebrochene Natur".

Durch die Möglichkeit der Integration statischer und dynamischer Symbolsysteme für
das Hören und Sehen mögen die Neuen Medien im Vergleich zu herkömmlichen Medien
Naturerscheinungen realitätsnäher veranschaulichen. Die Perfektion multimedialer
Repräsentanz von Erscheinungen und die Versuche, diese weiter zu perfektionieren 3,
können allerdings im Menschen das Gefühl hervorrufen, durch die Neuen Medien schon
die gesamte (Natur-) Wirklichkeit und die in ihr liegenden Beziehungen sinnlich erfaßt
zu haben. Das darin eingebettete Naturverständnis birgt die Gefahr in sich, einem
Allmachtsgefühl über die Natur zu erliegen. Hingegen ist es trotz aller Wiedergabe-
Perfektionierung Neuer Medien nicht die Natur selbst, die auf dem Bildschirm erscheint.
Die "wahre" Natur reagiert nie so, wie es die Bedienung der Tastatur oder des
"Joysticks" Glauben machen. Die Neuen Medien liefern immer eine präparierte Natur
und können die unmittelbare Naturbegegnung keinesfalls ersetzen.

Die Lernenden können mit Hilfe einer medial vermittelten Realität lediglich
Sekundärerfahrungen machen. Dieses ist kein spezifisches Problem der Neuen Medien,
sondern ein Nachteil aller Medien in Lehr-/Lernprozessen. Es ist sogar das spezifische
Problem institutionellen Lehrens und Lernens, dass sie die reale Welt meist nur aus
zweiter Hand vermitteln. Wurde bereits häufig die Kritik geäußert, dass den Lernenden
durch die zunehmende Institutionalisierung viel zu selten Einblicke in das "wirkliche
Leben", also Primärerfahrungen ermöglicht werden, so scheint sich dieses Problem
durch den Einsatz Neuer Medien noch zu verstärken. Die Medien binden wertvolle Zeit,

3
Man fühlt sich bei den heutigen Bemühungen einer Perfektionierung virtueller Wahrnehmung an Aldous
Huxley's "Schöne neue Welt" erinnert (Huxley 1932/ 2000). Huxley hatte in seinem Science Fiction 1932
Phänomene beschrieben, die heute eine erstaunliche Aktualität erlangen: stupide Fühlkinos, die einem
erlauben, einen auf die Leinwand projizierten Pelz zu fühlen; 'Hypnopädie', die schlafenden Kindern die
allmächtigen Parolen des Systems einimpft; künstliche Methoden der Reproduktion, die menschliche Wesen,
noch ehe sie geboren sind, standardisieren und klassifizieren. Horkheimer hatte Huxleys negative Utopie als
einen zentralen Aspekt der Formalisierung der Vernunft klassifiziert und diesen Prozess mit der Verwandlung
der Vernunft in Dummheit gleichgesetzt (vgl. Horkheimer 1947/ 1997, 61)

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die Lehrenden und Lernenden für unmittelbare Naturbegegnungen fehlt. Der von der
Natur in vielfacher Hinsicht entfremdete Mensch der Industriegesellschaft benötigt
unmittelbare Naturerfahrungen mit greifbaren Folgen - "nicht an- und abstellbare
Bilderfluten" (v. Hentig 2002, 288). Erforderlich wären deshalb Lehr-
/Lernarrangements, die nicht-mediatisierte, selbst verantwortete, sinnstiftende Denk-,
Wahrnehmungs- und Aneignungsformen von Natur ermöglichen.

5.3. Neue Medien und antizipatorische Erziehung


Bei der Antizipation geht es um das Erkennen der Folgen und Folgen von Folgen von
Produkten und Prozessen der Arbeit und des Konsums. Dabei ist zwischen gesetzten
Zielen und Zwecken einerseits und möglichen Risiken andererseits abzuwägen.

Bei der zunehmenden Komplexität und Geschwindigkeit von Abläufen in unserer Kultur
scheinen die Neuen Medien ein geeignetes Instrument zu sein, um beispielsweise in
Simulations - Modellen die Vorstellungskraft des Menschen zu unterstützen. Hierbei
zeigt sich wiederum die Ambivalenz jeglicher Technologie: Die zunehmende
Komplexität und Geschwindigkeit - insbesondere auch in Produktionsprozessen -
resultiert aus dem Einsatz der Mikroprozessor - Technologie. Sie beschleunigen die
Abläufe in Wirtschaft und Gesellschaft und tragen zur Veränderung und Zerstörung der
Natur bei. Dieses geschieht so schnell, dass die Menschen die Abläufe nicht mehr allein
mit den ihnen von der Natur verliehenen Sinne nachvollziehen können und sich zur
Unterstützung ihrer Vorstellungskraft derselben Mikroprozessor-Technologie bedienen
müssen4.

Pädagogen stehen also vor der schwierigen Aufgabe, die durch Mikroprozessoren
erzeugte Komplexität und Geschwindigkeit von Abläufen verständlich zu machen und
den Lernenden Einsichten in mögliche Folgen der Naturbearbeitung zu vermitteln. Dabei
können die Neuen Medien durch Speicherung, Analyse und Vergleich umweltrelevanter
(Produktions-)Daten sowie durch Simulation und Modellbildung von (Produktions-)
Abläufen die Antizipation unterstützen. Eine durch Mikroprozessoren beeinflußte Kultur
wird wahrscheinlich nicht ohne das Lernmedium Computer auskommen. Aber die
zentralen Fragen, die hier nicht näher erläutert werden können, lauten: Ist eine solche
Kultur nachhaltig? Ist die Technologie hier sinnvoll im Hinblick auf eine
Risikoverminderung und eine humane Gestaltung der Natur eingesetzt? Wäre es nicht
vernünftiger, nur solche Produkte herzustellen, denen die Menschen sinnlich gewachsen

4Meyer-Abich hat die paradoxe Situation mit folgenden Worten beschrieben: "Die Krise wird dadurch
verschärft, dass wir Wissenschaft und Technik brauchen werden, um die Probleme, die wir ohne sie nicht
hätten, zu lösen, soweit es Lösungen gibt" (Meyer-Abich 1997, 157).

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wären sowie weniger und langsamer entsprechend menschlicher Vorstellungskraft und
Verantwortungsfähigkeit zu produzieren?

Die hier zunächst als Vorteil angeführte Möglichkeit Neuer Medien, das Erkennen von
Zusammenhängen zu erleichtern, ist nicht unumstritten. Eurich kritisiert, dass der
Computer zur Geschichtslosigkeit provoziere und verführe: "Daten, Erzählungen,
Zusammenhänge verschwinden auf Datenbanken und verlieren ihre etwa Buch-hafte
Zugriffsmöglichkeit und Erfaßbarkeit. Der linear - sequentielle Umgang mit
Informationen, den der Computer vorschreibt, behindert ganzheitliches Lernen und die
Bildung von Zusammenhängen" (Eurich 1985, 37) Eine ganzheitliche
Problembetrachtung, Geschichtsbewußtsein, ein Gefühl für die menschliche Geschichte
der Natur und das Eingebundensein des Menschen in den Lauf der Natur sind aber
Grundvoraussetzungen für eine bewußte Gestaltung der Zukunft und eine nachhaltige
Entwicklung.

5.4. Neue Medien und partizipatorische Erziehung


In der partizipatorischen Erziehung als Teilaspekt einer naturgemäßen Berufsbildung
geht es um das Erlernen unterschiedlicher Rollen bei der Teilnahme an
gesellschaftlichen Prozessen. Jeder Lernende sollte die Kompetenzen erlangen, im
gesellschaftlichen Diskurs über die Gestaltung der Natur sowohl übergeordnete als auch
untergeordnete Rollen zu übernehmen. Können die Neuen Medien die hierfür
erforderlichen Fähigkeiten fördern?

Neue Medien erscheinen geeignet, dem Lehren und Lernen neue soziale Kontexte zu
erschließen. Zahlreiche Anwendungen wie E-Mail, News-Groups, Teletutoring oder
Tele-Kooperation können den herkömmlichen sozialen Kontext von
Bildungsmaßnahmen bereichern. Dabei ist allerdings abzuwägen, wann, wo und wie oft
man solche Anwendungen im Rahmen von Lernarrangements einsetzt. Außerdem ist zu
bedenken, dass Neue Medien den direkten Kontakt zwischen Lernenden nicht ersetzen
können. Zimmer gibt zu bedenken, dass gerade das Gemeinsame individueller
Problemlagen, Interessen und Aufgaben, welches die Kommunikation und Kooperation
erst konstituiere, durch die Neuen Medien in einen Auflösungsprozeß geraten könne. Die
Neuen Medien unterstützten eine zunehmende Individualisierung der Bildungsprozesse
und eine zunehmend technisch vermittelte Kommunikation, wobei die - gerade für eine
naturgemäße Berufsbildung wichtigen - lokalen Lebens- und Subjektbildungsräume in
ihrer Bedeutung zurückgedrängt oder gar aufgelöst würden. Die Folge sei eine sinkende
Dialogbereitschaft und Dialogfähigkeit der Subjekte. Darüber hinaus bezeichnet Zimmer
die These, Multimedia und Telekommunikation fördere die Beteiligung jedes Einzelnen
an der demokratischen Entscheidungsfindung, als eine ideologische Verkehrung
tatsächlich zu beobachtender Entwicklungen (Zimmer 1997, 32 f.)

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Ähnlich kritisch sah bereits Anders die Wirkung der zunehmenden Bilderflut: Man
"stopfe" den Menschen "die Augen"; je mehr man ihnen zu sehen gebe, je weniger
gewähre man ihnen Einblick in die Zusammenhänge, je weniger hätten sie zu sagen (vgl.
Anders 1956/1985, 3). Anders sprach von einer "Ikonomanie", zu der man den
Menschen durch die systematische Überflutung mit Bildern erzogen habe. Wenn Bilder
die Welt überwucherten, so trügen sie stets die Gefahr in sich, zu Verdummungsgeräten
zu werden, "weil sie, qua Bilder, im Unterschied zu Texten, grundsätzlich keine
Zusammenhänge sichtbar machen, sondern immer nur herausgerissene Weltfetzen: also
die Welt zeigend, die Welt verhüllten" (ebd., 4) Anders sah die Gefahr bloßer Adaption
des Menschen an gesellschaftliche Strukturen und an erwünschte Verhaltensweisen
mittels der Medien. Adaption aber beinhaltet genau das Gegenteil von der Forderung
nach partizipatorischem Lernen; denn Partizipation bedeutet, dass die Lernenden auf die
Übernahme einer aktiven Rolle vorbereitet werden. Zu partizipatorischem Lernen bedarf
es nicht der Adaption an bestehende Verhältnisse, sondern der Fähigkeit zu Kooperation,
zum Dialog, zur Kommunikation, zur Wechselseitigkeit und zu Einfühlungsvermögen in
Problemlagen. Obwohl die Befürworter Neuer Medien gerade diese Schlagworte als
Vorteile für einen verstärkten Einsatzes in Lernprozessen vortragen, scheinen die
tatsächlichen Wirkungen der Neuen Medien immer mehr in die von Anders und Zimmer
beschriebene Richtung zu tendieren.

6. Fazit
Neue Medien können didaktische Zielsetzungen einer naturgemäßen Berufsbildung nur
in begrenztem Umfang fördern. Teilweise behindern sie wichtige Einsichten und
Fähigkeiten, die für eine nachhaltige Entwicklung erforderlich wären. Trotzdem kann
und sollte man auf die Einbeziehung Neuer Medien nicht verzichten, weil sie
mittlerweile zu einem wesentlichen Bestandteil unserer Kultur geworden sind und das
gesellschaftliche Leben und das Lernen in Bildungsinstitutionen in vielen Bereichen
bestimmen. Allerdings wäre der Naturentfremdung, die den jungen Menschen bereits in
der Berufswelt widerfährt und die durch eine naturwissenschaftlich und ökonomisch
geprägte Berufsbildung gefördert wird, sinnvoller durch unmittelbare Naturerfahrungen,
sei es in Form von Naturerkundungen oder der Arbeit in Schulgärten, zu begegnen.
Gerade Lernende einer stark an rationalem Denken und Handeln orientierten beruflichen
Bildung sollten Naturphänomene unmittelbar und auf vielfältige Art und Weise
wahrnehmen. Dadurch könnte eher die Grundlage für eine die Natur wertschätzende
Erziehung gelegt werden. Neue Medien sollte man im Rahmen einer naturgemäßen
Berufsbildung und der Förderung eines Problembewußtseins für eine nachhaltige
Entwicklung nur sehr bewußt und unter gründlicher Abwägung der Frage einsetzen,
welche konkreten Ziele Lehrende und Lernende verfolgen. Das gilt auch für ihren
Einsatz im Rahmen konstruktivistischer Lernarrangements. Grundsätzlich wäre es
hilfreich, dabei über Hartmut von Hentigs skeptische Haltung nachzudenken, dass man

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alles, was man pädagogisch erreichen will, besser ohne den Computer erreicht (Hentig
1993).

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Literatur:

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Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. 7. unveränderte Auflage.
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Anders, Günther (1986): Die Antiquiertheit des Menschen - zweiter Band: Über die
Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. 4.
unveränderte Auflage. München: Beck
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Information, hrsgg. vom Friedrich Verlag, Velber, Jahresheft III aller pädagogischen
Zeitschriften. S. 34-39
Gorz, Andre (1989): Kritik der ökonomischen Vernunft. Berlin: Rotbuch Rotationen
Hentig, Hartmut von (2002): Der technologischen Zivilisation gewachsen bleiben -
Nachdenken über die Neuen Medien und das gar nicht mehr allmähliche
Verschwinden der Wirklichkeit. Weinheim u. Basel: Beltz Verlag
Hentig, Hartmut von (1993): Die Schule neu denken. München u. Wien: Hanser Verlag
Horkheimer, Max (1947/1997): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt/M.:
Fischer
Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1944/1975): Dialektik der Aufklärung.
Frankfurt / M.: Fischer
Huxley, Aldous (1932/2000): Schöne neue Welt. 58. Auflage. Frankfurt/M.: S. Fischer
Verlag
Peccei, Aurelio (Hrsg.) (1980): Club ofRome: Bericht für die achtziger Jahre -
Zukunftschance Lernen. Gütersloh: Goldmann-Verlag
Philosophisches Wörterbuch (1991), hrsgg. von Heinrich Schmidt; 22. Aufl. Stuttgart:
Kroener
Picht, Georg (1993): Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Studienausgabe. 3.
Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta
Postman, Neil (1997): Keine Götter mehr – Das Ende der Erziehung. Ungekürzte
Ausgabe. München: Dt. Taschenbuch-Verlag
Schiller; Friedrich (1793/ 2000): Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer
Reihe von Briefen. Hrsgg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart: Philipp Reclam jun.
Schiemann, Gregor (Hrsg.) (1996): Was ist Natur? – Klassische Texte zur
Naturphilosophie. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag
Schmidt, Jan C. (2000): Welche Natur wollen wir? In: Scheidewege - Jahresschrift für
skeptisches Denken. 30 (2000/2002). Hrsgg. von Max Himmelheber. Baiersbronn:
Max-Himmelheber-Stiftung (Selbstverlag)
Schönweiss, Friedrich; Asshoff, Jörg (2002): Bildung und Computer: Wohin mag die
Reise gehen? - Zum Wandel von Bildungspraktiken und Kulturtechniken. In:
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Kommunikationstechniken schützen? In: Neue Technologien und Schule, Loccum:
Evangelische Akademie Loccum. S. 140 ff.
Sturm, Hermann (1985): Bilderfluten - Bild, Bildschirm, Bildschirmbilder. In:
Bildschirm - Faszination oder Information, hrsgg. vom Friedrich Verlag, Velber,
Jahresheft III aller pädagogischen Zeitschriften. S. 21-23
Uexküll, Thure von (1953): Der Mensch und die Natur – Grundzüge einer
Naturphilosophie. Lizenzausgabe München: Lehnen
Vogel, Thomas (1997): Folgenabschätzung menschlicher Naturbearbeitung durch
Multimedia? - Möglichkeiten des Einsatzes von Multimedia in der beruflichen
Umweltbildung. In: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, (in Kooperation mit
der FU Berlin, Arbeitsgruppe auf Zeit „Umweltbildung“) (Hrsg.): Multimedia in der
Umweltbildung. Tagungsreader. Frankfurt/Main: DIE (Eigenverlag, Best.-Nr.
81/0059). S. 68-91
Vogel, Thomas (2000): Naturerkenntnis und Naturbearbeitung in der gewerblich-
technischen Berufsbildung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag
Zimmer, Gerhard M. (1997): Revolutioniert Multimedia Bildungsprozesse? In:
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, (in Kooperation mit der FU Berlin,
Arbeitsgruppe auf Zeit „Umweltbildung“) (Hrsg.): Multimedia in der
Umweltbildung. Tagungsreader. Frankfurt/Main: DIE (Eigenverlag, Best.-Nr.
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Veröffentlicht in: Dehnbostel, Peter; Dippl, Zorana; Elster, Frank; Vogel, Thomas:
Berufliche Bildung im Umbruch: E-Learning – Didaktische Innovationen -
Modellhafte Entwicklungen. Bielefeld : Bertelsmann-Verlag.

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