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Das Denken an die lebendigen Gestalten ist in einem Stillstand, der zum
Fortschreiten der biologischen Einzel forschung einen seltsamen Gegensatz
bildet. W ohl hat sich die Idee von der Selbständigkeit der Lebenssphäre
weithin durchgesetzt, doch äußert sich die Gewißheit von der Autonomie
des Lebendigen nur selten in entsprechenden Auffassungen vom Ganzen
der lebendigen Gestalt. Das Denken an die Organismen nährt sich meist
von den Resten einer überlebten Zellenstaatsidee, die zwar von der Ent
wicklungsphysiologie seit langem widerlegt, aber im vagen Meinen der
Zeitgenossen noch immer wirksam ist. Als wesentliches Glied der allge
meinen Evolutionstheorie, in der sie den sonst rätselvollen Übergang von
einzelligen Urwesen zu vielzelligen verständlich zu machen hatte, ist diese
Lehre vor Jahrzehnten dem allgemeinen Denken aufgedrängt und vom
politischen Darwinismus ausgebeutet worden. So hilft sie heute noch sozio
logische Theorien stützen-sie, die doch ihre erklärende Wirkung aus dem
Vergleich mit unserem Zusammenleben bezogen hat!
Weithin lebt man heute in der Überzeugung, durch diese Idee von der
Zelle als Elementarorganismus und der höheren Organisation als einem
Zellenstaat im Besitze einer biologischen Grundauffassung zu sein, die
wesentliche Züge des Lebendigen in faßbarer Form einprägsam formu
liere. Daß die experimentelle entwicklungsphysiologische Arbeit wie auch
die genetische Forschung gegen diese Grundidee zeugen, das hat noch
lange nicht zu der heilsamen Unruhe geführt, die der Verlust einer tragen
den Idee eigentlich auslösen müßte.
Es ist darum notwendig, das Denken um den Organismus wieder zu be
ginnen und es aus der Wirklichkeit der heute bekannten Tatsachen neu zu
leisten. In diesem Sinne wird im folgenden auf Aspekte der Lebenslor-
schung hingewiesen, die beim Suchen nach neuen Bildern bedeutsam und
hilfreich erscheinen. Ich spreche von den Gestalten, deren Leben ich selber
zu erforschen suche, und gehe darum von den höheren Tieren aus. Es wird
nicht schwer sein, das allgemein Gültige in seiner besonderen Abwandlung
bei Pflanzen ebenfalls zu sehen.
W ir wollen im Denken vom Tier bei einem Umstand ansetzen, der meist
gerade darum kaum beachtet wird, weil er so zentral und wesentlich ist: es
ist die Tatsache, daß alle Tiere Zentren von vielseitigem Tun sind, das
von einer besonderen Seinsweise zeugt. Diese ist das Sein mit Innerlichkeit,
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das Sein in einer „Dimension ohne Ausdehnung“, wie etwa in der Ver
legenheit der Sprache gesagt wird. Wenn die Entwicklungsphysiologie
heute von Selbstgliederung des Keims spricht, so ist dieses Selbst, von dem
weiter keine Aussage gemacht wird, als daß „cs“ sich „selber“ gliedert,
eben dieses besondere Zentrum vielseitiger Aktivität, diese Gestalt, die in
Innerlichkeit ist, der also die Voraussetzungen für alle jene Eigenschaften
innewohnen, die als Merkmale des Lebendigen gelten: Selbstgliederung in
der Entwicklung, Selbstregulation in der Selbstbewahrung, Selbstvermeh- I
rung in der Fortpflanzung. Die erstaunliche Eigenheit der Reizbeantwor- J
tung durch artgemäßes Handeln gehört mit zu diesen Zeugen der Inner
lichkeit. Die entwerfenden Vorstellungen,mit denen wir das Entwicklungs
geschehen im stummen tierischen Keim zu verstehen versuchen, sind da
rum der zu erhellenden Verborgenheit gemäßer, wenn sie aus einer Stim
mung heraus geformt werden, die eine besondere Seinsweise am Werke
ahnt, deren erste Äußerung die Selbstgestaltung in der Entwicklung ist.
W ir wissen maximal um Innerlichkeit von unserem eigenen Erleben und
Dasein. Wir erfahren von ihr, wenn auch in viel geringerem Maße bei allen J
gestaltverwandten Tieren, denen ja nicht umsonst das naive Denken und j
Zögern so viel von unserem menschlichen Erleben zuschreibt. Der notwen
dige Widerstand gegen vermenschlichende Deutung des höheren Tier
lebens in der Forschung muß uns doch auch an eine gewaltige Naturmacht
mahnen, die aus dem Reich der Innerlichkeit stammt: an den Drang zur
Verähnlichung fremder Gestalten, den die Verhaltensforscher heute auch
beim höheren Tier in deutlichen Zeugnissen am Werke finden. Objektive
Verhaltensforschung stellt heute unserem anthropomorphen Deuten eine
entsprechende Tendenz zum Zoomorphen im Erleben beim Tier entgegen1.
Was wir bei uns als Widerstand gegen eine objektive Erkenntnis erfahren,
ist zugleich selber eine der wichtigsten natürliches Weisen alles Erfahrens
überhaupt.
Die Zeugnisse von Innerlichkeit werden um so dürftiger sein, je wei
ter wir uns vom eigenen Typus der Wirbeltierstruktur entfernen. Trotz
dem wird der Bereitschaftszustand, in dem ein Denken um solche fernere
Tiergestalten anheben und sich entfalten soll, dem zu Erfahrenden noch
immer gemäßer sein, wenn eine allgemeine Vorstellung von Innerlichkeit
im Sinne eigenen Inneseins am Werke ist und an der Ergründung tieri
scher Lebensart mitgestaltet.
Es ist eine der bedeutsamsten Wandlungen der neuen Verhaltensfor
schung, daß sie trotz des steten und klaren Kampfes gegen anthropomorphe
Mißdeutung heute doch das höhere Tierleben aus einer Einstellung heraus
erforscht, die im Faktum der „Begegnung“ und alles „Verhaltens“ etwas
ganz Besonderes, dem höheren Leben Eigenes erkennt und in der darum
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dem Nachweis einer Rolle, die wir solchen Organen im Sozialleben einer
Art zuordnen können, immer nur ein Teil der Eigenart des Erscheinungs
bildes durch eine funktionelle Bestimmung erklärt ist. Jede vertiefte
Untersuchung von Merkmalen der Erscheinung, der sinnlich erfahrenen
lebendigen Gestalt, führt dazu, neben den Rollen der elementaren Er
haltung oder der Stiftung von sozialen Beziehungen in der Ausgestaltung
der ersdieinenden Glieder auch einen besonderen Formwert zu erkennen,
für dessen Verständnis das Erfassen noch wenig beachteter Zuordnungen
notwendig ist. Um diese Beziehungen klarer zu sehen, muß man sich der
Frage nach der Bestimmung der allgemeinen Organisationshöhe eines tie
rischen Typus zuwenden.
Jeder Versuch, die Tiergestalten in natürliche Zusammenhänge zu
ordnen, führt zur Beachtung ihrer verschiedenen Organisationshöhe, die
im Tiersystem bereits in gewissen Grenzen zum Ausdrude kommt. Doch
ist der Begriff der Ranghöhe heute verpönt; er ist unzeitgemäß geworden,,
sei es, weil er zu sehr an die hierarchischen Gesellschaftsordnungen er
innert, von denen man heute nicht gern spricht - sei es, weil er an unzu
längliche Anordnungen der Tiere nach dem Grad von „Intelligenz“ mahnt,,
die man mit Recht aufgegeben hat. Diese Flucht vor dem Begriff der D if-
ferenzierungs- oder Ranghöhe ist aber auch eines der vielen Zeichen des
Zerfalls allen Wertens, zeugt sie doch vor allem davon, daß man objektive
Unterschiede der Gestaltung von Wertungen aus der Freiheit der mensch
lichen Entscheidung nicht zu sondern vermag. Die Verfemung soldier Be
griffe aus Verlegenheit führt sdiließlidi zum Vergessen der Sache selber.
Die Untersdiiede in der Organisation der lebenden Gestalten sind aber
eine bedeutsame Realität: der Rabe ist wirklich komplexer organisiert und
hat ein reidieres Feld des Erlebens als ein Molch; dasselbe gilt beim Ver-
gleidi des Makaken mit einer Spitzmaus, dem einer Biene mit dem Glct-
scherfloh. Der Physiologe spricht mit Recht vom niederen und höheren
Organismus, und wenn es sich um Versuche am Lebenden handelt, so
dient gerade dieser Unterschied als gewichtiges Argument in der Dis
kussion um die Rechtfertigung soldier Eingriffe. Alle Neurologen sind
sich darin einig, daß die zentrale Nervenorganisation bei den verschie
denen Gruppen von Tieren ein verschiedenes Niveau der Integration von
Verhaltensweisen leistet und im Zusammenhang mit der Sinnesorgani
sation viele Stufen der Innerlichkeit ermöglicht. W o aber Stufen der D if
ferenzierung von Gestalten bestehen, da muß der Ordnungsversuch, der
die Beziehungen zwischen Formverwandten darstellen will, auch eine
Rangordnung durchführen. Ranghöhe der Organismen ist eine Grund
tatsache. Aus dieser Einsicht erwächst die Notwendigkeit des objektiven
wissenschaftlichen Erfassens dieses Stücks der lebendigen Wirklichkeit..
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So muß denn der Biologe neben den von der Forschung langst beach
teten Merkmalen des Lebendigen, neben Selbsterhaltung, Selbstvermeh
rung, Selbstregulation ein weniger beachtetes zu vermehrter Geltung brin-
gen: die Selbstdarstelhmg des Organismus. < fiil
Die ganze Ontogenese ist unter anderem auch solche Selbstdarstellung
des bereits im Bereich des Unsichtbaren charakteristischen Artplasmas. Nicht
umsonst hat sich bei der Erforschung der Entwicklungsvorgänge die Not
wendigkeit ergeben, mit Begriffen zu interpretieren, die sonst auf den
reifen Organismus angewendet worden sind: von Entwicklungsinstinkten
mußte doch gesprochen werden und auch davon, daß nur der Vergleich
mit psychisdien Phänomenen das adäquate Bild für das ontogenetische
Geschehen biete. c
Von Selbstdarstellung sprechen, heißt nicht, eine neue Wirkweise ein
führen, einen „Faktor“ , der als Glied in der physiologischen Erläuterung
des lebendigen Geschehens eingesetzt werden könnte. Selbstdarstellung
des Organismus ist ein besdireibender Ausdrude, der beobaditbare Eigen
heiten eines lebendigen Ganzen erfaßt, die im Versuch des Verstehens
einer organischen Erscheinung eine zentrale Stelle einnehmen müssen.
Das Wort mahnt zur Beachtung von Eigenheiten, die von einer physio-
logisdien Zuordnung ungenügend bewertet sind, die durch die Betrachtung
von abstrakten, alles Eigenartigen entblößten Typen in Vergessenheit
geraten sind, und die durch die Bagatellisierung vieler Merkmale als
bloß „taxonomisdien Wertes“ oder durch deren Klassierung als „Luxus
gebilde“ eine abwegige Beurteilung gefunden haben, ja, die oft als ober
flächlicher Schein einem verborgeneren Kern der Sache gegenübergestellt
worden sind und so mißachtet werden mußten.
Der Nachweis von Auslöserfunktionen, die vielen Merkmalen der Er
scheinung im sozialen Leben einer Tierart zukommen, bringt mit neuen
Einsichten auch eine neue Gefahr. Das Erscheinungsmerkmal gilt nun
durch den Nachweis einer physiologischen Rolle in lebenswichtigen Funk
tionen als erklärt, indem seine Signalwirkung erkannt ist. Natürlich sind
die Merkmale auch das - aber sie sind stets auch viel mehr, sind stets in
erster Linie Glied des alles überragenden Geschehens der Selbstdarstellung
einer ranghohen und darum echt sozialen Lebensform, in deren Leben
Begegnungen möglich sind. Gerade jene Eigenheiten, welche die Ver-
haltensforsdiung an solchen auslösenden Signalen betont - unverwechsel
bare Prägnanz und Unwahrscheinlichkeit der Form-gerade dies sind ja die
Eigenschaften, weldie auch der Selbstdarstellung dienen. Solche Erschei
nung in ihrer höchsten Ausprägung kann geradezu als Voraussetzung
aufgelaßt werden für das Indienstnehmen unverwechselbarer prägnanter
Artmerkmale durch die Vorgänge der Arterhaltung.
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Anmerkungen
1 H e d ig e r, H .: W ild t ic r e in G e fa n g e n sch a ft. B asel 1912.
M ü ller, A .; In d iv id u a litä t un d F ortp flan zu n g als P olaritätsersch ein u n g. J en a 1938.
a P ortm an n , A .: D ie T ie rg e sta lt. B asel 1948.
4 P ortm an n , A .: E tudes sur la C ir e b r a lis a tio n d iez les O isea u x , » A la u d a « , B d . 14
(1946), B d . 15 (1947). - W ir z , K .: Z u r q u a n tita tiv en B estim m u n g d e r R a n g o r d n u n g bei
S äu getieren. A c ta A n a to m ica , B d . 9, 1950.
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