Sie sind auf Seite 1von 14

A d o l f Po r t m a n n

UM E IN NEUES BILD VOM O R G A N IS M U S

Das Denken an die lebendigen Gestalten ist in einem Stillstand, der zum
Fortschreiten der biologischen Einzel forschung einen seltsamen Gegensatz
bildet. W ohl hat sich die Idee von der Selbständigkeit der Lebenssphäre
weithin durchgesetzt, doch äußert sich die Gewißheit von der Autonomie
des Lebendigen nur selten in entsprechenden Auffassungen vom Ganzen
der lebendigen Gestalt. Das Denken an die Organismen nährt sich meist
von den Resten einer überlebten Zellenstaatsidee, die zwar von der Ent­
wicklungsphysiologie seit langem widerlegt, aber im vagen Meinen der
Zeitgenossen noch immer wirksam ist. Als wesentliches Glied der allge­
meinen Evolutionstheorie, in der sie den sonst rätselvollen Übergang von
einzelligen Urwesen zu vielzelligen verständlich zu machen hatte, ist diese
Lehre vor Jahrzehnten dem allgemeinen Denken aufgedrängt und vom
politischen Darwinismus ausgebeutet worden. So hilft sie heute noch sozio­
logische Theorien stützen-sie, die doch ihre erklärende Wirkung aus dem
Vergleich mit unserem Zusammenleben bezogen hat!
Weithin lebt man heute in der Überzeugung, durch diese Idee von der
Zelle als Elementarorganismus und der höheren Organisation als einem
Zellenstaat im Besitze einer biologischen Grundauffassung zu sein, die
wesentliche Züge des Lebendigen in faßbarer Form einprägsam formu­
liere. Daß die experimentelle entwicklungsphysiologische Arbeit wie auch
die genetische Forschung gegen diese Grundidee zeugen, das hat noch
lange nicht zu der heilsamen Unruhe geführt, die der Verlust einer tragen­
den Idee eigentlich auslösen müßte.
Es ist darum notwendig, das Denken um den Organismus wieder zu be­
ginnen und es aus der Wirklichkeit der heute bekannten Tatsachen neu zu
leisten. In diesem Sinne wird im folgenden auf Aspekte der Lebenslor-
schung hingewiesen, die beim Suchen nach neuen Bildern bedeutsam und
hilfreich erscheinen. Ich spreche von den Gestalten, deren Leben ich selber
zu erforschen suche, und gehe darum von den höheren Tieren aus. Es wird
nicht schwer sein, das allgemein Gültige in seiner besonderen Abwandlung
bei Pflanzen ebenfalls zu sehen.

W ir wollen im Denken vom Tier bei einem Umstand ansetzen, der meist
gerade darum kaum beachtet wird, weil er so zentral und wesentlich ist: es
ist die Tatsache, daß alle Tiere Zentren von vielseitigem Tun sind, das
von einer besonderen Seinsweise zeugt. Diese ist das Sein mit Innerlichkeit,

213

/
ADOLF P O R TM A NN

das Sein in einer „Dimension ohne Ausdehnung“, wie etwa in der Ver­
legenheit der Sprache gesagt wird. Wenn die Entwicklungsphysiologie
heute von Selbstgliederung des Keims spricht, so ist dieses Selbst, von dem
weiter keine Aussage gemacht wird, als daß „cs“ sich „selber“ gliedert,
eben dieses besondere Zentrum vielseitiger Aktivität, diese Gestalt, die in
Innerlichkeit ist, der also die Voraussetzungen für alle jene Eigenschaften
innewohnen, die als Merkmale des Lebendigen gelten: Selbstgliederung in
der Entwicklung, Selbstregulation in der Selbstbewahrung, Selbstvermeh- I
rung in der Fortpflanzung. Die erstaunliche Eigenheit der Reizbeantwor- J
tung durch artgemäßes Handeln gehört mit zu diesen Zeugen der Inner­
lichkeit. Die entwerfenden Vorstellungen,mit denen wir das Entwicklungs­
geschehen im stummen tierischen Keim zu verstehen versuchen, sind da­
rum der zu erhellenden Verborgenheit gemäßer, wenn sie aus einer Stim­
mung heraus geformt werden, die eine besondere Seinsweise am Werke
ahnt, deren erste Äußerung die Selbstgestaltung in der Entwicklung ist.
W ir wissen maximal um Innerlichkeit von unserem eigenen Erleben und
Dasein. Wir erfahren von ihr, wenn auch in viel geringerem Maße bei allen J
gestaltverwandten Tieren, denen ja nicht umsonst das naive Denken und j
Zögern so viel von unserem menschlichen Erleben zuschreibt. Der notwen­
dige Widerstand gegen vermenschlichende Deutung des höheren Tier­
lebens in der Forschung muß uns doch auch an eine gewaltige Naturmacht
mahnen, die aus dem Reich der Innerlichkeit stammt: an den Drang zur
Verähnlichung fremder Gestalten, den die Verhaltensforscher heute auch
beim höheren Tier in deutlichen Zeugnissen am Werke finden. Objektive
Verhaltensforschung stellt heute unserem anthropomorphen Deuten eine
entsprechende Tendenz zum Zoomorphen im Erleben beim Tier entgegen1.
Was wir bei uns als Widerstand gegen eine objektive Erkenntnis erfahren,
ist zugleich selber eine der wichtigsten natürliches Weisen alles Erfahrens
überhaupt.
Die Zeugnisse von Innerlichkeit werden um so dürftiger sein, je wei­
ter wir uns vom eigenen Typus der Wirbeltierstruktur entfernen. Trotz­
dem wird der Bereitschaftszustand, in dem ein Denken um solche fernere
Tiergestalten anheben und sich entfalten soll, dem zu Erfahrenden noch
immer gemäßer sein, wenn eine allgemeine Vorstellung von Innerlichkeit
im Sinne eigenen Inneseins am Werke ist und an der Ergründung tieri­
scher Lebensart mitgestaltet.
Es ist eine der bedeutsamsten Wandlungen der neuen Verhaltensfor­
schung, daß sie trotz des steten und klaren Kampfes gegen anthropomorphe
Mißdeutung heute doch das höhere Tierleben aus einer Einstellung heraus
erforscht, die im Faktum der „Begegnung“ und alles „Verhaltens“ etwas
ganz Besonderes, dem höheren Leben Eigenes erkennt und in der darum

214
UM E I N N E U E S BI L D V O M O R G A N I S M U S

Vorstellungen, wie Dominanz, Unterwerfung, Auftritt, Szene, Ritual, Im­


poniergehaben oder Drohgebärden usw., an der objektiven Beschreibung
von Innerlichkeit mitschaffen.
Diese Forschung, die dem Worte „Tierpsychologie“ eher aus dem Wege
geht, sagt nicht viel aus über mögliche Erlebnisinhalte der Tiere. Sie be­
schränkt sich auf die genaue Erfassung von Ausdruckserscheinungen und
Gebaren. Aber dieser Verzicht auf Vermutungen über Erlebnisinhalte ist
nur eine Beschränkung der Aussage ciuf das faktisch Feststellbare; er ge­
schieht heute immer mehr im Wissen um tierische Innerlichkeit und in der
Annahme, daß die dargestellten Erscheinungen echter Ausdruck seien, also
Kundgabe von Zuständen und Stimmungswandlungen einer selbständigen
Lebensform.
So wie Gestimmtheit als ein Faktum der menschlichen Innerlichkeit
unser eigenes Erleben und Handeln von Grund auf beeinflußt, so ist auch
tierische Gestimmtheit eine Tatsache, die wir durch die sorgfältige Beob­
achtung der Ausdruckszeichen behutsam erschließen. In der Beurteilung
dieser grundlegenden Bedeutung der „Stimmung“ für das Erleben und
Verhalten berühren sich neueste Verhaltensforschung und Psychologie mit
dem philosophischen Denken der Gegenwart viel entscheidender, als es
wohl meist gesehen wird.
Es ließe sich leicht zeigen, daß die Entwicklung dieses heute so blühen­
den Zweiges der biologischen Arbeit von dem Momente an einsetzt, da im
tiefen, wenig bewußten Schaffen die Anerkennung von Innerlichkeit als
elementarer Eigenschaft des Tierlebens sich durchgesetzt hat. Dies gilt
unbekümmert darum, ob die Forscher selber, die heute so arbeiten, sich der
Wandlung voll bewußt sind oder ob sie lediglich einem Zeitgeist folgen.
Das Wissen um Innerlichkeit gehört zu den unwägbaren Momenten unse­
res geistigen Lebens, welche in unserer Zeit in steigendem Maße die Er­
forschung des Tierlebens nähren.

Das Denken um den Organismus geschieht in der Tat nidit mehr im


Maschinenvergleich. W ie wertvoll für Teilprobleme des physiologischen
Forsdiens die Reduktion auf ein solches Bild noch immer sein mag, so be­
deutet dieses doch nie mehr ein Gleichnis für die Wirklichkeit, sondern
hödistens ein Baugerüst provisorischer Art für eine erst noch zu leistende
eigentliche biologische Deutung.
Das Bild, mit dem unser Bedürfnis des Verstehens arbeitet, wenn es ein
Lebewesen umfassend bedenkt, ist eher das einer dramatischen Auffüh­
rung in einer uns zunächst unverständlichen Sprache, in Gestalten und
Kostümen einer uns verschlossenen Kultur. Ob wir zum Glauben neigen,
die Erforschung dieses Geschehens lasse sich hinter den Kulissen der Bühne
ADOLF PO R T M A N N

und durch die sorgfältige Analyse edles dort zugänglichen Betriebes am


sichersten fördern - oder ob wir, einer anderen Anlage unseres Geistes
nachgebend, zunächst vor der Bühne den Sinn des unbekannten Spiels zu
erfahren trachten den beiden Arbeitsweisen ist dcjich gemeinsam, daß wir
vor aller Einzelarbeit bereits darum wissen, es handelt sich um ein aufge­
führtes Stüde, um ein Bühnengeschehen, das grundsätzlich verschiedene
Möglichkeiten des Zugangs bietet. W er das lebendige Wesen in Gestalt und
Gebaren im Bilde des aufgeführten Dramas zu sehen versudit, der weiß
daher stets um die notwendige Pluralität der Standorte und um die Unter­
schiede ihrer Horizonte. Ihn wird es nicht wundern, daß der Bühnentech­
niker und der Regisseur nicht dasselbe sehen und daß den Zuschauer vor
der Bühne wieder anderes angeht, als jene beiden. Er wird deshalb audi
einsehen, daß der Physiologe, der das innere Getriebe der Organe ver­
stehen will und darum hinter der Bühne forscht, etwas anderes sehen muß
als der Verhaltensforscher, der das Schauspiel des Tierlebens vor der
Bühne zu erfassen, den Sinn des geschauten Gebarens zu vernehmen trach­
tet. Was im einen Fall zentral wichtig sein kann, mag im anderen Fall
völlig belanglos erscheinen.
Der Biologe, der die ganze Kette von Vorgängen erforscht hätte, welche
etwa die Harnabsonderung eines Hundes zustande bringen und regeln, der
älso um die Biochemie aller Fermentwirkungen, Sekretionen und Resorp­
tionen wüßte, die letztlich zur Synthese von Harnstoff und zur Ausschei­
dung des Harns führen, was braucht er von der Rolle zu wissen, welche
dieser Harn im Sozialleben des Hundes und in der Gestaltung seines Le­
bensraumes spielt. Der Verhaltensforscher aber, der gerade diese soziale
„Funktion studiert, darf die biochemische Seite des Vorganges und die che­
mische Zusammensetzung des Harns für belanglos ansehen. Beide sehen
Riditiges, aber die Horizonte, in denen ihre Wahrheiten „richtig“ ersdiei-
nen, sind nicht dieselben. Einer Maschinentheorie mußte das Stoffwechsel­
geschehen der Harnbildung das Widitige sein, der Harngebrauch eine
mehr anekdotisdie Seltsamkeit, die dem damals reidi ausstaffierten Kurio­
sitätenkabinett der Biologie zugewiesen wurde. Gerade diese Sammlung
von Kuriositäten ist aber seither zu höheren Ehren gekommen; wurden
dodi in steigendem Maße die sozialen Funktionen von Gestaltmerkmalen,
die früher als bloße Seltsamkeiten taxiert wurden, klar aufgezeigt.
Wer nach einer Auffassung vom Organismus sucht, die der gegenwärti­
gen Lebensforschung entspricht, muß die Pluralität der Standpunkte in die
Darstellung einbeziehen. Er muß daher den weitesten Horizont zu be­
stimmen sudien, in dem die vielerlei Aussagen über tierisdies Leben ihren
Sinn finden. Darum wird er gut tun, gerade auch solche Tatsachen zu sehen
und zu prüfen, die den augenblicklich bevorzugten Arbeitsweisen der Bio­

216
UM E I N N E U E S BI L D V O M O R G A N I S M U S

logie verborgen bleiben müssen. W ie fern die Sprache des Lebensdramas


uns liegt, wie unbekannt das Sein ist, von dem dieses Drama kündet, das
mag durch eine Gruppe von Erscheinungen illustriert werden, deren Zu­
sammenhang die vergleichende Morphologie aufzuzeigen und zu verstehen
trachtet und deren Meditation uns geeignet erscheint, von der neuen Phase
im Denken um den Organismus zu zeugen.
W ir untersuchen das komplexe Phänomen, das in der Biologie unter
dem Stichwort „Abstieg der Keimdrüsen“ bekannt ist: jene rätselhafte Er­
scheinung bei vielen männlichen Säugetieren, daß die Hoden noch in der
Embryonalzeit oder erst später die Geborgenheit der Leibeshöhle ver­
lassen und zu äußeren sichtbaren Organen werden. Die verschiedensten
entwicklungsgeschichtlichen und physiologischen Erwägungen suchen nach
einem Verständnis für diesen Vorgang. So machen Physiologen darauf
aufmerksam, daß die Temperatur im äußeren Hodensack etwas tiefer liege
als die des Körperinnern. Manche schlossen daraus auf ein tieferes Tem­
peraturoptimum der Spermienbildung und sahen im Abstieg der Hoden
daher die Verwirklichung optimaler Lebensbedingungen für die männ­
lichen Zeugungsstoffe. Verfolgt man indessen die vergleichend-biologi­
schen Aspekte, so stellt man fest, daß bei vielen Säugern, deren Hoden in
der Leibeshöhle bleibt, die Spermabildung trotzdem völlig normal ver­
läuft, und daß bei Vögeln das eben diskutierte Temperaturoptimum der
Spermien gar bei 42-43° liegen muß. Das Optimum der Temperatur für
Spermienbildung ist der jeweiligen Lage des Hodens angepaßt, und diese
Lage ist nicht eine Folge solcher Temperaturbedürfnisse. Die Physiologie
hat denn auch nie die Faktorenkette zeigen können, die einen ursprünglich
im Körperinnern liegenden Hoden aus dieser Lage herausführt. Audi die
Entwicklungsphysiologie kann den Vorgang wohl darstellen, ihn aber
nicht erklären. Daß eine direkte Selektionswirkung den Hoden im Laufe
vieler Generationen allmählich aus der Verborgenheit in ein neu gebilde­
tes Skrotum hinausgelockt habe, nehmen auch vehemente Verteidiger von
Selektionswirkungen im Ernst nicht an. Sie denken eher, daß der Hoden­
abstieg vielleicht eine im einzelnen völlig unbekannte Korrelation dar­
stelle zu der Ausbildung anderer äußerer Merkmale, die ihrerseits sicher
durch Selektionswirkung gesteigert werden können. Nehmen wir aber
dieses Verstehensprinzip an, so sind wir im Reich der Korrelationen, die
einer bereits vorgegebenen Ordnung angehören, und werden damit auf
das umfassendere unbekannte, zu erforschende Ganze verwiesen, das sich
in jeder Ontogenese ausformt2.
Die meisten Erklärungen des Hodenabstiegs gleichen dem Untei fangen,
hinter der Bühne durch eine sorgfältige Analyse des Kostüms und der'
Maske von Hamlets Vater etwas über den Sinn dieser Erscheinung zu
ADOLF F O R T M A N N

erfahren. W ir müssen zu diesem Zweck doch wirklich versuchen, das Stück


zu erfassen, das da gespielt wird, und den besonderen Standpunkt zu fin­
den, der diese Sicht ermöglicht. Der Abstieg der Keimdrüsen muß in einem
anderen Felde des Verstehens untersucht werden als dem rein physiolo­
gischen: in dem des Formenvergleichs. Da begegnen wir dann der für
eine physiologische Untersuchung belanglosen Tatsache, daß in der Reihe
steigender Differenzierungshöhe der Wirbeltiere vom Fisch zum Säuger,
die Keimdrüsen allmählich im Innern des Körpers aus der Rumpfmitte
nach der Beckenzone verlagert werden. Das Geschehen bei den Säugern,
wo der Hoden durch einen Lcistenkanal in eine an die Peripherie ver­
lagerte Tasche der Leibeshöhle und schließlich in einen auffällig sicht­
baren Hautsack einzieht - dieser auffällige Vorgang erscheint in diesem
Lichte als die Fortsetzung einer Wandlung, die sich im Laufe der Um­
gestaltung archaischer Wirbeltiere seit undenklichen Zeiten in vielen
Schritten vollzogen hat, deren Ursachen wir nicht kennen. Die Unter­
suchung in diesem Felde zwingt aber auch zur Beachtung von weiteren
Tatsachen. In derselben Reihe von Rangstufen vollzieht sich eine Fron­
talwanderung der höchsten nervösen Integrationsorte des Gehirns, ein
Prozeß, der schon seit Jahrzehnten bekannt ist und der schließlich zu
einer auffälligen Steigerung der Hemisphärenanteile im Gehirn der
Vögel und der Säuger führt. Der kaudalen Verlagerung der Hoden ent­
spricht eine frontale wichtiger Gehirnzentren. Diesen beiden Vorgängen
geht aber ferner auch eine formale Gestaltung der beiden Körperpole, des
Kopfes und der Analregion parallel, eine gestaltliche Erhöhung, die sich
in der Differenzierung farbiger Muster, verschiedener Haarlänge und be­
sonderer Disposition der Haarwirbel, in der Ausgestaltung von Stirn­
organen oder Schwanzbildungen äußert. Die menschliche Sitte, welche durch
konventionelle Regeln die Akzente der Beachtung zu lenken versucht,
führt zu einer geringeren wissenschaftlichen Beachtung der Analregion
(selbst im Zeitalter der Psychoanalyse). Daher finden wir viele Darstel­
lungen der Kopforgane, aber wenig Entsprechendes über die ornamentale
Umformung des anderen Körperpols, wo zuweilen geradezu ein Anal­
gesicht dem Kopfe polar entgegengestellt ist.
Dem Hodenabstieg formal Vergleichbares geschieht auch am Kopfpol
in der Evolution des Säugergebisses, wie die paläontologische Forschung
sie uns darstellt. Die vordersten Zahnbildungen, Eck- oder Schneidezähne,
deren primäre Rolle im Dienst der Ernährung steht, können durch Lage­
änderung und Vergrößerung aus der Mundhöhle austreten und folgen
dann als sichtbare Bildungen neuen Formgesetzen. Ob wir die zu ge­
waltigen Stoßzähnen verwandelten Schneidezähne der Elefanten, die
Hauer der Schweine oder den einzelnen Riesenzahn des Narwals prüfen,

218
UM E I N N E U E S BI L D VO M O R G A N I S M U S

stets geht die Formbildung in den späteren Phasen der paläontologisch


ermittelten Reihen über jeden elementaren Funktionswert hinaus und
kann nicht mehr allein durch direkte Zuordnung zu einer erhaltenden
Leistung verstanden werden. Nicht umsonst sind gerade diese Bildungen
oft unter den Stichworten des „Luxurierens“ oder der „Hypertclie“ als
besonders eindrückliche Fälle eingeordnet worden. Solche Gebilde dürfen
so wenig wie die Geweihe und Gehörne bloß als Waffen angesehen wer­
den, sondern auch als ein im Zeremoniell der Art wirksames Merkmal.
Dadurch aber führt die Erforschung dieser somatischen Organe dazu, die
Innerlichkeit des Tiers als wesentlichen Faktor für die Bewertung mit zu
berücksichtigen. Bildungen, wie Zähne oder Keimdrüsen, die primär der
Innenseite der Organisation eines Tieres angehören, werden bei rang­
hohen Formen zu Merkmalen der Gestalt.

Die Untersuchung des Hodenabstiegs und der polaren Differenzierung


von Kopf- und Analpol höherer Säuger führt uns zu einer sehr allge­
meinen Regel tierischer Gestaltung: alles Erscheinende trägt bei höherer
Organisation die besonderen Gestaltmerkmale der Sichtbarkeit, einer
eigentlich visuellen Struktur, während alles im Leib Verborgene, ja selbst
Bildungen der Oberfläche, die nicht sichtbar sind, ganz anderen Regeln der
Gestaltung untersteht3.
Jede Vogelfeder demonstriert den auffälligen Kontrast in der Durch­
formung und Färbung des sichtbaren Spitzenteils gegenüber dem ganz
anders gefärbten und geformten Dunenteil, der von anderen Federn über­
deckt ist. Jeder Blick auf innere Organe mit ihren so schwer faßbaren,
oft kaum nachweisbaren Artunterschieden sollte zum nachdenklichen Ver­
gleich nötigen mit allen den einprägsamen, auffälligen Strukturen - wirk­
lichen „Merkmalen“ - der Oberfläche. Hat man etwa das Erstaunliche
genügend bedadit, daß Löwe und Tiger, zwei so klar gesonderte Arten
in ihrer gesamten verborgenen Organisation, auch im Skelett, sich kaum
unterscheiden, so daß niemand vom Höhlenlöwen der Vorzeit sagen kann,
ob er nicht ein Höhlentiger gewesen ist.
Eine von intensivem Studium der Formen genährte Betrachtung der
Maturgestalten müßte die notwendige Ergänzung sein zu der auf allge­
meine physiologische und genetische Regeln ausgehenden Biologie. Die
neuere Verhaltensforschung bahnt dazu manche Wege, indem sie in stei­
gendem Maße neben den Organen zum Atmen und Verdauen, zur Be­
wegung und Fortpflanzung auch solche findet, die zum „Anschauen“ oder
„Anhören“ bestimmt sind, und deren Bau den eigenartigen Forderungen
entspricht, die im Bereich des menschlichen Sehens und Hörens gelten.
Nur wird die Verhaltensforschung daran denken müssen, daß selbst mit

219
ADOLF P O R TM A NN

dem Nachweis einer Rolle, die wir solchen Organen im Sozialleben einer
Art zuordnen können, immer nur ein Teil der Eigenart des Erscheinungs­
bildes durch eine funktionelle Bestimmung erklärt ist. Jede vertiefte
Untersuchung von Merkmalen der Erscheinung, der sinnlich erfahrenen
lebendigen Gestalt, führt dazu, neben den Rollen der elementaren Er­
haltung oder der Stiftung von sozialen Beziehungen in der Ausgestaltung
der ersdieinenden Glieder auch einen besonderen Formwert zu erkennen,
für dessen Verständnis das Erfassen noch wenig beachteter Zuordnungen
notwendig ist. Um diese Beziehungen klarer zu sehen, muß man sich der
Frage nach der Bestimmung der allgemeinen Organisationshöhe eines tie­
rischen Typus zuwenden.
Jeder Versuch, die Tiergestalten in natürliche Zusammenhänge zu
ordnen, führt zur Beachtung ihrer verschiedenen Organisationshöhe, die
im Tiersystem bereits in gewissen Grenzen zum Ausdrude kommt. Doch
ist der Begriff der Ranghöhe heute verpönt; er ist unzeitgemäß geworden,,
sei es, weil er zu sehr an die hierarchischen Gesellschaftsordnungen er­
innert, von denen man heute nicht gern spricht - sei es, weil er an unzu­
längliche Anordnungen der Tiere nach dem Grad von „Intelligenz“ mahnt,,
die man mit Recht aufgegeben hat. Diese Flucht vor dem Begriff der D if-
ferenzierungs- oder Ranghöhe ist aber auch eines der vielen Zeichen des
Zerfalls allen Wertens, zeugt sie doch vor allem davon, daß man objektive
Unterschiede der Gestaltung von Wertungen aus der Freiheit der mensch­
lichen Entscheidung nicht zu sondern vermag. Die Verfemung soldier Be­
griffe aus Verlegenheit führt sdiließlidi zum Vergessen der Sache selber.
Die Untersdiiede in der Organisation der lebenden Gestalten sind aber
eine bedeutsame Realität: der Rabe ist wirklich komplexer organisiert und
hat ein reidieres Feld des Erlebens als ein Molch; dasselbe gilt beim Ver-
gleidi des Makaken mit einer Spitzmaus, dem einer Biene mit dem Glct-
scherfloh. Der Physiologe spricht mit Recht vom niederen und höheren
Organismus, und wenn es sich um Versuche am Lebenden handelt, so
dient gerade dieser Unterschied als gewichtiges Argument in der Dis­
kussion um die Rechtfertigung soldier Eingriffe. Alle Neurologen sind
sich darin einig, daß die zentrale Nervenorganisation bei den verschie­
denen Gruppen von Tieren ein verschiedenes Niveau der Integration von
Verhaltensweisen leistet und im Zusammenhang mit der Sinnesorgani­
sation viele Stufen der Innerlichkeit ermöglicht. W o aber Stufen der D if­
ferenzierung von Gestalten bestehen, da muß der Ordnungsversuch, der
die Beziehungen zwischen Formverwandten darstellen will, auch eine
Rangordnung durchführen. Ranghöhe der Organismen ist eine Grund­
tatsache. Aus dieser Einsicht erwächst die Notwendigkeit des objektiven
wissenschaftlichen Erfassens dieses Stücks der lebendigen Wirklichkeit..

220
UM E I N N E U E S BI L D VOM O R G A N I S M U S

Darum habe ich versucht, eine sorgfältige Bestimmung des Ausbildungs­


grades der höheren Integrationszentren der nervösen Zentralorgane bei
Wirbeltieren zu erreichen. Die Indexzahlen, die mit solchen Methoden er­
mittelt werden, bringen weder ein Schulnotensystein für die höheren
Tiere noch sind sie ein Maß für Intelligenz, als das sie allzuoft genommen
werden. Sie sind exakte Quotienten, in denen die Massenanteile von
höheren und niederen nervösen Zentren zur Darstellung kommen. Sie
erlauben eine generelle Taxierung der Intensität von Beziehungen mit
der Umwelt, mit Artgenossen, der Anpassungsmöglichkeiten, auch der
Mannigfaltigkeit des Erlebens; sie geben Indizien über das Ausmaß der
nervösen Steuerungen, welche Wärmehaushalt und Konstanz des Milieus
regeln und damit die Eigenständigkeit eines Organismus im Wechsel der
Umweltsbedingungen sichern. Solche Indizes geben ein wichtiges objek­
tives Maß für eine strukturelle Grundlage der zu erforschenden kom­
plexen Innerlichkeit'.
Erst mit Hilfe dieser Ordnungsreihen der Gehirnausbildung können
wir genauer bestimmen, welche anderen Merkmale in Korrelation zur
Ausbildung des zentralen Nervensystems stehen. Erst die Reihen der
Indizes bringen Unterschiede zur Geltung, die sich auf die verschiedene
Bedeutung der höchsten Fernsinnesorgane gründen und die für das Er­
leben und Verhalten höherer Tiere kennzeichnend sind. Die Gruppierung
der Sinnesleistungen durch die Physiologen in protopathische und epi­
kritische (heute auch in koenästhetische und diakritische) enthält stets ein
Moment der Differenzierungshöhe, indem die formalen Möglichkeiten der
epikritischen Sinnesleistungen höherwertig erscheinen und daher zu ihrer
vollen Auswertung ein hohes Zentralorgan voraussetzen. Die Ordnungs­
möglichkeiten, welche die Indizes erschließen, erlauben zum Beispiel eine
viel klarere Sonderung der Säuger in Gruppen von niedriger Organi­
sation mit Geruchsorientierung und dürftiger optischer und akustischer
Funktion gegenüber ranghohen Gruppen, bei denen der Geruchssinn an
Bedeutung verliert und die ganze Lebensform von Gesicht und Gehör
bestimmt wird. Die klare, objektive Rangbestimmung ermöglicht uns auch j
den besonderen Formwert von Merkmalen der Erscheinung zu sehen: bei}
den ranghohen Tieren werden Auszeichnungen des Kopfes oder des Fort-
pflanzungspoles von Bedeutung, farbige Muster werden wichtige Aus­
löser für soziale Funktionen, und Organe der Kundgabe innerer Stim­
mungen treten auf. Laute, Melodien, Lieder werden akustische Kenn­
zeichen der ranghöheren Stufe, ganz besonders ausgeprägt bei den Vögeln.
Hirschgeweih und Amselsang sind wirkende Formen in einer höheren
tierischen Umwelt, die von vornherein aui einer reichen Verwendung kom­
plizierter optischer und akustischer Signale aulgebaut ist. Die so in einer
ADOL I ' P O R T M A N N

besonderen Zuordnung erkannten Merkmale der Gestaltung erhalten da­


mit den vorhin erwähnten Formwert, der für den menschlichen Betrachter
ein Wertzeichen ganz besonderer Art darstellt und für uns an Bedeutung
weit über den Funktionswert im Rahmen der Lebensweise des Tieres
hinausgeht.
Dieser Einblick in den Formwert von Gestaltmerkmalen bestätigt die
Weiterung in unserer Auffassung von lebenden Gestalten: der Horizont
der rein funktioneilen Deutung, in dem auch die Aussagen der Verhal­
tensforschung eingeschlossen bleiben müssen, dieser Horizont, der lange
Zeit die Deutung der Organismen ausschließlich bestimmt hat und für viele
Forscher noch heute bestimmt, ist gesprengt durch die Erkenntnis eines
Formwertes, der in Korrelation mit der Ranghöhe steht. W ie bedeutend
auch der Erhaltungswert eines Gestaltmerkmals als Einpassung in eine
ganz bestimmte Lebensform und ihre Umwelt sein mag, so ist doch dieses
selbe Merkmal stets noch mehr als das: es ist Ausdruck der Differenzie- „,4
rungshöhe der gesamten Lebensform, die da vor uns ist. So ist etwa die
Erhebung vieler höherer Säuger über den Boden durch auffällige Ver­
längerung ihrer Gliedmaßen und des Halses weit mehr als bloße Ein­
ordnung in den Lebensraum der Steppe mit seinen weiten Horizonten.
Diese Erhöhung, die wir etwa bei Pferden und Antilopen finden, hat eine
Bedeutung, die immer über den möglichen Anpassungswert hinausgeht.
So seltsame Erscheinungen wie die hodigewachsenen Riesengestalten der
Giraffen wirken ja gerade auch darum so irritierend auf den Biologen,
weil auch der extremste Funktionalist angesidits solcher Lebensformen
zum Schlüsse kommt, daß in ihnen die mögliche Anpassung an elementare
Lebensbedingungen ihr mögliches Optimum überschritten hat, und daß
die Betrachtung in einem weiteren Horizont des biologischen Denkens ge­
fordert wird, zu der uns die Untersuchung des Abstiegs der Keimdrüsen
bereits geführt hat.
Auch eine Erscheinung wie der Vogelzug öffnet dem Blick sehr bald
diesen weiteren Horizont, den wir für die Vorstellung vom Ganzen
der Tiergestalt fordern. Unsere Gedanken folgen der Polarseeschwalbe,
die zweimal im Jahre hin und zurück einen großen Teil des Erdmeridians
im Fluge durchmißt - fast von Polarkreis zu Polarkreis, von den langen
Sonnentagen des Nordsommers in die ebenso langen Sonnentage des Süd­
sommers der Erde. Die physiologische Forschung wird wohl einmal die
Wirkweisen aufzeigen, welche diese kaum faßbaren Reisen ermöglichen.
Die ökologische Untersuchung wird sicher auch Zusammenhänge zwischen
1 agesdauer und Ernährungsmöglichkeit und Stoffwediselintensität auf­
decken; die paläogeographische Forschung dürfte Eigenheiten dieses Zug-
verhaltens ermitteln, die mit der einstigen Einwirkung von großen Eis-

999
UM E I N N E U E S BI L D V O M O R G A N I S M U S

Zeiten Zusammenhängen; die Mutationslehre wird versuchen, die Erhal­


tung und Steigerung solcher Anpassungen durch die Bildung kleiner Mu­
tationen und durch Selektionswirkungen verständlich zu machen. Vieles
wird so allmählich beitragen zum vollen Lebensbild der Seeschwalben.
Und doch erklärt all das niemals die faktische Eigenart und das erstaun­
liche Ausmaß der ganzen Erscheinung dieser Weltreise eines Vogels. D a­
gegen dürfte allmählich hervortreten die Notwendigkeit, diesen Wander­
zug zusammenzusehen mit der extremen Ausprägung der Fluggestalt, mit
der gesteigerten Komplikation des Verhältnisses von Alt- und Jungvogel
(wenn wir etwa Seeschwalben mit den verwandten Möven vergleichen),
mit dem komplizierten Ritual der Balz- und Verlobungsflüge - kurz: man
wird den Wanderzug sehen müssen als Glied in einer nach allen Rich­
tungen erhöhten Ausprägung der Eigenart dieses besonderen Vogeltypus,
als Glied einer allseitig gesteigerten Sichtbarkeit dieser Sonderheit, die das
plasmatische Wesen Seeschwalbe von allem Anfang ihres Lebens an be­
reits ist. Der Vogelzug ist ein Artmerkmal, das in einer vielleicht zunächst
ungewohnten Weise gcstaltlich“ genannt werden muß und das in seiner
besonderen Weise von der Innerlichkeit Kunde gibt. Spricht doch aus
diesem Phänomen ein innerer Zustand zu uns, ein auf spezifische Aussage
gerichteter Drang - so unbekannt in seinem Wesen wie unser W ille ein
Anlaß im plasmatischen Geschehen, der kennzeichnende Aktivitäten be­
wirkt. Diese Erscheinung des Vogelzugs muß im gleichen Felde des Ver­
stehens untersucht werden wie der Abstieg der Keimdrüsen bei den Säu­
gern und wie das unabsehbare Reich von Äußerungen der plasmatischen
Sonderheit der Arten, das sich in Gestalt und Gebaren kundtut. In diesem f;
Felde der Beobachtung, in der Ordnung, welche durch die Bestimmung il
von Ranghöhe und Differenzierungsweise gegeben ist, erkennen wir, wie r
sehr die organischen Erscheinungen alle elementaren Notwendigkeiten der j
puren Arterhaltung überschreiten.
Das Studium der Form wie das des Verhaltens wird so in einem wei­
teren Horizont zur Ergründung der Innerlichkeit, zur Erforschung der
Manifestation der ganzen Eigenart eines Wesens. Dieses Wesen formt
sich im Laufe einer Ontogenese aus dem Größenbereidi molekularer D i­
mension in eine Größenordnung hinein, in der sie dem Sinnesleben von
Individuen der eigenen und fremden Arten erscheint und dadurch Be­
ziehungen ganz neuer Art mÖglidi madit: edites Sozialleben, echte Be­
gegnungen von Seiendem. A uf dieser Größenstufe werden durch solche
Begegnung in der Welt der Tiere bereits die sdilichtesten Weisen des
„Erkennens“ verwirklicht.

223
A D O L F P O R T i MA N N

So muß denn der Biologe neben den von der Forschung langst beach­
teten Merkmalen des Lebendigen, neben Selbsterhaltung, Selbstvermeh­
rung, Selbstregulation ein weniger beachtetes zu vermehrter Geltung brin-
gen: die Selbstdarstelhmg des Organismus. < fiil
Die ganze Ontogenese ist unter anderem auch solche Selbstdarstellung
des bereits im Bereich des Unsichtbaren charakteristischen Artplasmas. Nicht
umsonst hat sich bei der Erforschung der Entwicklungsvorgänge die Not­
wendigkeit ergeben, mit Begriffen zu interpretieren, die sonst auf den
reifen Organismus angewendet worden sind: von Entwicklungsinstinkten
mußte doch gesprochen werden und auch davon, daß nur der Vergleich
mit psychisdien Phänomenen das adäquate Bild für das ontogenetische
Geschehen biete. c
Von Selbstdarstellung sprechen, heißt nicht, eine neue Wirkweise ein­
führen, einen „Faktor“ , der als Glied in der physiologischen Erläuterung
des lebendigen Geschehens eingesetzt werden könnte. Selbstdarstellung
des Organismus ist ein besdireibender Ausdrude, der beobaditbare Eigen­
heiten eines lebendigen Ganzen erfaßt, die im Versuch des Verstehens
einer organischen Erscheinung eine zentrale Stelle einnehmen müssen.
Das Wort mahnt zur Beachtung von Eigenheiten, die von einer physio-
logisdien Zuordnung ungenügend bewertet sind, die durch die Betrachtung
von abstrakten, alles Eigenartigen entblößten Typen in Vergessenheit
geraten sind, und die durch die Bagatellisierung vieler Merkmale als
bloß „taxonomisdien Wertes“ oder durch deren Klassierung als „Luxus­
gebilde“ eine abwegige Beurteilung gefunden haben, ja, die oft als ober­
flächlicher Schein einem verborgeneren Kern der Sache gegenübergestellt
worden sind und so mißachtet werden mußten.
Der Nachweis von Auslöserfunktionen, die vielen Merkmalen der Er­
scheinung im sozialen Leben einer Tierart zukommen, bringt mit neuen
Einsichten auch eine neue Gefahr. Das Erscheinungsmerkmal gilt nun
durch den Nachweis einer physiologischen Rolle in lebenswichtigen Funk­
tionen als erklärt, indem seine Signalwirkung erkannt ist. Natürlich sind
die Merkmale auch das - aber sie sind stets auch viel mehr, sind stets in
erster Linie Glied des alles überragenden Geschehens der Selbstdarstellung
einer ranghohen und darum echt sozialen Lebensform, in deren Leben
Begegnungen möglich sind. Gerade jene Eigenheiten, welche die Ver-
haltensforsdiung an solchen auslösenden Signalen betont - unverwechsel­
bare Prägnanz und Unwahrscheinlichkeit der Form-gerade dies sind ja die
Eigenschaften, weldie auch der Selbstdarstellung dienen. Solche Erschei­
nung in ihrer höchsten Ausprägung kann geradezu als Voraussetzung
aufgelaßt werden für das Indienstnehmen unverwechselbarer prägnanter
Artmerkmale durch die Vorgänge der Arterhaltung.

224
UM E I N N E U E S BI L D VO M O R G A N I S M U S

Vielleicht bezeichnet das Beziehungssystem der Rangordnung, in dem


das Erforschen der Selbstdarstellung- möglich ist, einen äußersten Hori­
zont der wissenschaftlichen Feststellung. Es fuhrt jedenfalls bis an die
Grenzen des heute objektiv Sagbaren vom Organismus; In diesen Grenzen
aber darf die vergleichende Morphologie schon jetzt auf manche Ergeb­
nisse hinweisen, welche bezeugen, daß sich durch die Bestimmung dessen,
was ich den „Darstellungswert“ der Organe genannt habe, Regelmäßig­
keiten aufzeigen lassen, deren Kenntnis am Aufbau einer neuen Ansicht
vom Organismus mitschaffen wird. Dann werden jene Gebilde beachtet
werden, die heute entweder bloße Kuriositäten oder taxonomisch brauch­
bare Seltsamkeiten sind. Es wird sich dann zeigen, welcher Verirrung das
Wort entsprungen ist, das vor wenigen Jahrzehnten noch ein bedeutender
Botaniker ausgesprochen hat: Morphologie sei das, was physiologisch nodi
nicht aufgeklärt worden .sei! Die Erforschung des Darstellungswertes der
Organe, also der Selbstdarstellung einer Lebensform, umfaßt doch gerade
das, was sich der physiologischen Betrachtung, die stets nur eine Seite
des Sinns einer Gestalt erschließt., ihrem inneren Wesen nach entzie­
hen muß.
Die Erforschung der Gestalt muß daher auch die Erforschung der
Selbstdarstellung des Organismus sein, ja, sic muß dies sogar in erster
Linie sein. Die praktische Bedeutung unseres Wissens um tierisches
Leben wird stets Probleme bedeutungsvoll machen, die auch außerhalb
dieser obersten Aufgabe liegen; der Wille zur technischen Beherr­
schung von Naturvorgängen wird immer die physiologische Arbeits­
art ganz besonders fördern - doch dürfen diese wichtigen und notwendigen
Zielsetzungen dem Blick des Biologen die Tatsache nicht verhüllen, daß
die oberste Aufgabe des wirklich dem Objekt hingegebenen Erkenntnis-
strebens in seinem Arbeitsfelde diese sein muß: in allen Manifestationen
von Gestalt und Lebensart das Erscheinen einer unsichtbaren Innerlich­
keit zu erfassen, die sich in diesem Sinnfälligen darstellt. Das Erscheinen
von Innerlichkeit ist die einzige Weise, in der uns anderes Leben als das
eigene zugänglich wird.
Ist der Horizont solchen Forschens einmal erkannt und wird er vom Bio­
logen in seiner inneren Vorbereitung aui wissenschaftliche Arbeit immer
wieder bedacht, so wird auch jede methodische Einschränkung der Ziel­
setzung, wie sie viele biologische Fragestellungen erfordern, im Wissen
um die umfassendste Aufgabe geleistet, statt in der Überheblichkeit des
Bornierten, welcher in einem für bestimmte Zwecke verengten Arbeits­
gebiet die Weite der umfassenderen Aufgabe völlig vergißt. Der Blick auf
diesen weiteren Horizont wird auch eine Morphologie ermöglichen, die
nicht bloß für kurze Augenblicke, etwa anläßlich eines Goethe-Gedenk-

225
ADOLF P O R TM A NN

jahres als Gegenstand festlicher Rede, in das Licht öffentlicher Beachtung


tritt, um nachher ein wenig verlegen wieder im Schatten zu bleiben.
Es geht um eine weite, große Auffassung der lebendigen Gestalten, um
eine Auffassung, in der auch die neuen Bedeutungen ihren Platz finden,
mit denen gegenwärtig die Verhaltensforschung soziale Rollen der Er­
scheinungsmerkmale aufdeckt,. Es gilt die besondere Gestimmtheit vor­
zubereiten, in der das Entstehen eines neuen Bildes vom Lebewesen mög­
lich wird und in der auch die Vielen, die nicht selber Lebensforschung trei­
ben, am werdenden Naturbilde teilhaben können. Eine Lebensforschung,
die um diese Weite ihrer Aufgabe weiß, wird auch dem Denken in noch
umfassenderen Zusammenhängen die rechte Hilfe sein, wie sie der Philo­
soph bei seiner Arbeit von den Wissenschaften erwarten darf.
Die lebendigen Gestalten sind Urtexte, die in einer fremden, fernen
Sprache zu uns reden. So ist denn die Übersetzung in die Ausdrucksweise Hi
einer Zeit von jeder Generation wieder neu zu versuchen; sie ist ein Unter- j j
fangen, das nie endet und dem jeder neue Fund zur Verbesserung dienen
muß. So wird die immer wieder begonnene Übertragung in unsere mensch­
liche Sprache mehr und mehr vom Wirklichen der Lebensformen mitteilen,
die in so geheimnisvoller Größe vor uns und mit uns sind. Im stets er­
neuerten Entwurf dieser Übersetzung wird das biologische Denken seine
Aufgabe erfüllen: Zeuge zu sein vom Lebendigen, das selber ein schwei-
verständlicher Zeuge ist der Größe des Seins.

Anmerkungen
1 H e d ig e r, H .: W ild t ic r e in G e fa n g e n sch a ft. B asel 1912.
M ü ller, A .; In d iv id u a litä t un d F ortp flan zu n g als P olaritätsersch ein u n g. J en a 1938.
a P ortm an n , A .: D ie T ie rg e sta lt. B asel 1948.
4 P ortm an n , A .: E tudes sur la C ir e b r a lis a tio n d iez les O isea u x , » A la u d a « , B d . 14
(1946), B d . 15 (1947). - W ir z , K .: Z u r q u a n tita tiv en B estim m u n g d e r R a n g o r d n u n g bei
S äu getieren. A c ta A n a to m ica , B d . 9, 1950.

226

Das könnte Ihnen auch gefallen