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Dezember 1921. Nr. 61.

Mitteilungen
der

^Deutschen Orienf-Sesellscfiaft
zu Berlin.

1. Vereinsnachrichten.
In diesem Jahre haben wir, wie gelegentlich auch früher,
aus Ersparnisrücksichten davon abgesehen, den in der
Hauptversammlung am 2. Mai erstatteten Jahresbericht
drucken zu lassen; wir hoffen auf das Einverständnis unserer
Mitglieder mit dieser Abweichung von den sonstigen Ge¬
pflogenheiten.
In den Vo r s t a n d ist Herr Staatssekretär Professor
Dr. C. H. Becker als ständiger Vertreter des Ministeriums
für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung neu eingetreten.
Sein Vorgänger, Herr Staatsminister Dr. F. Schmidt-Ott
ist als gewähltes Mitglied dem Vorstande erhalten geblieben.
Außerdem hat die Hauptversammlung den Direktor der
Orieritbank, Herrn Dr. E. Alexander in den Vorstand neu
berufen.
Seit dem Krieg und dein Umsturz richtet die Deutsche
Orient-Gesellschaft all ihre Kraft darauf, die Veröffentlichung
der Ergebnisse ihrer Ausgrabungen sicherzustellen.
Von den „hettitischen" Texten aus Boghazköi
in autographierter Keilschrift sind nach langer Pause zwei
von Herrn Professor Dr. F. Hrozn^ in Prag hergestellte Hefte
2 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

(Band 36 unserer Wissenschaftlichen Veröffentlichungen) im


Sommer dieses Jahres ausgegeben worden. Um diese Texte,
deren Veröffentlichung nicht nur von den Assyriologen, sondern
überhaupt von den Sprachforschern des In- und Auslandes
mit Spannung erwartet wird, in möglichst rascher Folge
und in einer Form vorlegen zu können, in der sie auch dem der
Keilschrift nicht völlig Kundigen zugänglich sind, sollen sie
von nun an in lateinischer Umschrift herausgegeben werden.
Mit der Bearbeitung hat die Deutsche Orient-Gesellschaft
Herrn Dr. E. Forrer betraut, auf dessen hier S. 20—39 fol¬
genden Aufsatz wir hinweisen.
Im vorigen Monat ist als 38. Band die Bearbeitung alt¬
aramäischer Urkunden aus Assur durch Herrn Geheimrat
Lidzbarski in Göttingen erschienen, der eine kurze vorläufige
Notiz darüber bereits im 58. Heft dieser Mitteilungen gegeben
hatte.
Unmittelbar vor der Fertigstellung steht ein hoch be¬
deutsamer Band archäologischen Inhalts: die archaischen
Ischtar-Tempel in Assur, von Dr. W. Andrae. Aus, den
hierunter auf S. 4 ff. folgenden Ausführungen aus der Feder
des Verfassers werden die Mitglieder unserer Gesellschaft
ersehen, welche Fülle ganz neuen und unerwarteten Stoffes
der Altertumswissenschaft durch die Ausgrabungen zugeführt
wird, die an dieser Stelle der alten Assyrerhauptstadt bis in
Schichten vorgedrungen sind, die der Wende vom vierten
zum dritten Jahrtausend angehören.
Ins vierte Jahrtausend gehen auch die in Fara gefundenen
Tontafeln zurück, mit deren Bearbeitung Herr Professor
Pater A. Deimel in Rom beschäftigt ist. Als Auftakt zur
Herausgabe der Texte wird eine Liste der darin enthaltenen
ältesten Keilschriftzeichen binnen Kurzem ausgegeben
werden können.
Der Deutschen Orient-Gesellschaft sind seit der in Nr. 60
(Juli 1920) veröffentlichten Liste beigetreten:
die Herren Privatdozent d. Theol. Prof. Dr. Otto E i ß -
f e 1 d t , Kommerzicnrat A. Jandorf, Max Krause
(Steglitz), Dr. phil. Julius Lewy, stud. archaeol.
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 3

von der Osten, Studienrat Dr. Adolf Rusch (Steglitz),


Bankdirektor Dr. von Stauss, Geh. Regierungsrat Fried¬
rich Trendelenburg (Lankwitz), sowie die Spinoza-
Loge in Berlin;
Herr Direktor Dr. C. F. L o s s e.n in Altenburg S.-A.
Herr stud. theol. et phil. Erich Kalitta in Breslau;
M u s e e s Royaux du Cinquantenaire in
Brüssel;
Herr Prof. Thomas W h i 11 i m o r e in Cambridge,
Mass., Ver. St.;
Herr Regierungs-Medizinalrat Dr. W. Haberling in
C o b 1 e n z;
Herr Kaplan Dr. Friedrich Schmidtke in Dres¬
den;
Herr Henri Asselbergs, Vertreter der Niederländi-
8chen Eisenbahn in Esschen-Grenze (Belgien);
Herr Dr. jur. Georg Hirschland in Essen;
Herr Lehrer Hans Herber in Fachbach, Post
Nievern, Kreis St. Goarshausen;
Herr Willy Friedlaender in Frankfurt a. M.;
Provinzial at der Redemptoristen in
G a r s , Oberbayern;
Herr Gymnasial-Oberlehrer Dr. Rudolf R a u in Gera,
Reuß;
Herr Prof. Dr. Ulrich Kahrstedt in Göttingen;
Universitätsbibliothek in Halle a. S.;
Herr John Gechter in Hamburg;
Herr Prof. Dr. F. Bilabel in Heidelberg;
Herr Erich von Glass in Hof a. S.;
Herr Dr. Fritz Schachermayer in Innsbruck;
Fräulein Maria Mogensen, Conservator am Museum
Ny Carlsberg Glyptothek in Kopenhagen;
Herr Pastor M. Pohl in Hallig L a ngen e ß, Kr. Husum ;
die Herren Hans H a r r a s s o w i t z , Bernhard L i e -
bisch, H. Urban in Leipzig;
Herr Prof. Dr. Lic. W.Baumgartner in M a r b u r g
a. d. Lah n;
4 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Herr Studienrat Kurt Müller in Pleß, O.-Sohl.;


Herr Dr. Franz Steinmetzer in Prag;
Libreria Liberma in Rom;
. Herr John Max Wülfing in St. Louis, Ver. St.;
Herr Robert Leon und das Orientalische
Institut der Universität in Wien;
Herr Dr. Theo. Bauer in Zittau i. S.

2. Die Ischtar-Tempel in Assur.


Von Walter Andrae.

Als sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Säle


des Louvre und des Britischen Museums mit den großen assy¬
rischen Rund- und Flachbildern füllten, drangen ihre ernsten,
steifen und oft finsteren Gestalten vielleicht ebenso rasch
in das staunende Betrachten der Mitwelt ein, wie die leich¬
teren, beweglicheren und doch nicht minder fremdartigen
aus Ägypten, die seit Napoleon I. ihren Einzug in Europa
hielten. Man hat sich seitdem mit diesem Bruchteil der
assyrischen Kunstentwicklung begnügt, wenn man von
assyrischer Kunst sprach und sie in die Kunstgeschichte
der alten Welt einreihte. Aber was die französischen und
englischen Beutezüge aus den Ruinen von Nineve und
Kalach, von Dur Scharrukin und auch aus Assur nach Europa
entführt hatten, war den obersten Schichten dieser
Ruinenstätten entnommen und ein Erzeugnis der letzten
drei Jahrhunderte assyrischer Herrschaft. Das sind Jahr¬
hunderte großer Macht und großen Glanzes gewesen, Zeiten,
in denen der Assyrer vorübergehend ein Weltreich von
der Ausdehnung des Achämenidenreiches beherrschte und
Tribut erhielt von den Staaten am Mittelmeer, von den In¬
seln und aus Ägypten. Und zweifellos ist das, was die Kunst
damals hervorbrachte, in des Wortes eigentlicher Bedeutung
,,assyrisch". Fremdrassige Künstler und Handwerker, die
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 5

sich der Sieger und Weltherrscher ins Land brachte, glichen


sich an, ordneten sich unter und waren nicht imstande,
gegen den starken Strom der einsässigen assyrischen Über¬
lieferung anzuschwimmen.
Um so mehr muß man sich fragen: Woher stammt
diese bodenständige Kraft und wie sehen ihre Erzeugnisse
in den weiter zurückliegenden Zeiten aus ? Diese Frage
hatte man bisher kaum gestellt, und ohne die neuen Ergeb¬
nisse unserer deutschen Ausgrabungen in Assur wäre ihre
Beantwortung unmöglich. Was vor dem 9. vorchristlichen
Jahrhundert lag, war dunkel, und das Überlieferte lag nur in
Splittern vor.
Etwas weiter als die künstlerische und handwerk¬
liche führte damals die aus den Keilinschriften ermittelte
Hinterlassenschaft. Aber auch da senkte sich schon vom
I-!. Jahrhundert ab wieder der undurchdringliche . Schleier
der Vergessenheit herab, und die Welt war für den Ur¬
sprung des Assyrers aufs Raten angewiesen. Es wäre zu
viel gesagt, wollten wir für unsere Ausgrabung den Ruhm
in Anspruch nehmen, diesen Schleier völlig gelüftet und alle
Rätsel gelöst zu haben. Davon sind wir auch jetzt noch
weit entfernt. Aber es ist heller geworden.
Das geschichtliche Gerüst ist gefunden in lückenlosen
Königslistcn. die bis ins Kndc des drillen .lahrlaiiscnds
reichen <— das Ergebnis der unermüdlichen Forschungen
F. Delitzschs, O. S c h r o e d e r s , F. Weid¬
ners und anderer. Sie hätten uns wenig gesagt, wenn ihre
Troc ken heil nicht befruchtet wäre durch geschichtliche Be¬
richte mächtiger Herrscher des 13., 14. und 19. Jahrhunderts
V. Chr. und durch die neugewonnene Kenntnis ihrer Bauten.
Da zeigte sich, daß in dem ewigen Hin- und Herwogen der
Geschicke Macht und Ohnmacht wechselten und auf den
Höhepunkten Weltreiche von ähnlicher Gewalt gelebt haben,
wie zu den Zeiten der großen Aschurnasirpal III., Sargon,
Sanherib und Sardanapal, die schon lange im Lichte der
Geschichte stehen. Da werden schwere Kämpfe mit wech¬
selndem Erfolge geführt gegen all die freiheitliebenden, uri-
() Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

botmäßigen Völkerschaften der benachbarten und entfern¬


teren Gebirge bis an die Gestade des Schwarzen und des
Mittelländischen Meeres oder gegen die Nomaden der Steppe
und die auf die alte Kultur pochenden Leute des ebenen
Babyloniens. Es ist kein Reich mit einer tausendjährigen
stillen Entwicklung. Innere und äußere Kämpfe toben in
und um das Land, zerreißen es und stählen es je nachdem.
Tausend Jahre vor seinem Untergang erkennt man den
„Assyrer" an Schrift, Kunst, Bauten. Trotz aller Wechsel -
fälle hat er sich behauptet. Und noch einmal tausend Jahre
zurück sieht man sein Wesen sich formen aus südlichen
und westlichen Bestandteilen im Ringen der semitisch-baby¬
lonischen mit den aramäischen und chettitischen Volks teilen
um die Herrschaft dieser Grenzgebiete. Da wechseln noch
Zeiten vollkommener und langdauernder Abhängigkeit des
Landes von mächtigen babylonischen Herrschern mit solchen
halber und ganzer Freiheit, in denen wir schon die Anläufe
zu der Großartigkeit der jüngeren Zeit wahrnehmen.
Es ist sicherlich nicht belanglos, den Quellen eines solchen
Volksstromes nachzugehen, der ehedem, als wir ihn noch
nicht so kannten, einfach nur als ein Ableger Babyloniens
angesehen wurde. (Aber damit war sein Wesen nicht uni¬
schrieben. Schon die völlige Abhängigkeit der neubaby-
'onischen und achämenidischen Kunst von der assyrischen
müßte dieser und ihren Erzeugern den richtigen Platz an¬
weisen. Die Gabelung und Abzweigung von der altbaby¬
lonischen wird ungefähr um 2000 erfolgt sein. Vorher ist
in Kunst und Schrift die Gleichförmigkeit mit Babylon ien
nicht zu verkennen, nachher ebensowenig die Eigenartigkeit
des Assyrischen. Nur im Tempelbau scheint auch schon
im dritten Jahrtausend von Urzeiten her etwas Eigen¬
artiges zu Assur zu gehören: die Form des Kultraumes. Aber
da fehlt uns noch die Möglichkeit des Vergleichens; denn in
Babylonien sind Tempelgrundrisse von so hohem Alter noch
nicht ausgegraben worden.
Das sind nun Ergebnisse, die nur zum kleinen Teil aus
den neu gefundenen Schriftquellen erschlossen werden konn-
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 7

ten und weiteres Licht erhalten werden. Die Redseligkeit


der Inschriften nimmt ab, in je tiefere Schichten wir hinab¬
steigen, hier müssen Gräber, Gefäße, Bilder aus Ton und
Stein, Bauten und Schichtungen sprechen. Das ist eine
Schrift, die weniger einfach und eindeutig, aber nicht weniger
eindringlich erzählt. Soll sie aber unserer heutigen Mit¬
welt übermittelt werden, so muß sie ebenso sorgfältig und
umständlich abgeschrieben und beschrieben werden, wie
die Keilinschriften, und darin liegt die fast unüberwindliche
Schwierigkeit dieser ungünstigsten aller Zeiten, in der wir für so
etwas leben. Es geht nicht ohne viele gute Bilder und genaue
Zeichnungen, die neben den Beschreibungen an die Stelle
der aufgefundenen Überbleibsel all dieser Herrlichkeiten
treten müssen. Soweit das Ruinen der Bauten sind, werden
sie rettungslos dem Untergang verfallen, all die vielen kleinen
Funde aber hat ein blindes Geschick im Kriege in unkun¬
dige Hände gespielt und ihre Ordnung ist nun bloß noch
nach unseren Notizen möglich — aber darum auch um so
notwendiger.
Vergegenwärtigen wir uns die Größe dieser Aufgabe!
Und es ist das nur eine der Aufgaben, die noch vor uns
liegen. Babylon, mit seinen Nebenuntersuchungen, ist eben¬
falls nur zum Teil getan!
Assur, die Stadt, war uns als geschlossenes Ganze über¬
antwortet, wir haben in elfjähriger Arbeit so viel herauszu¬
holen versucht, daß ein Stadtbild vor uns stand: nicht eine
Sammlung einzelner Funde oder gewisse Beispiele der Bau¬
ten, sondern eine annähernd vollständige Übersicht
der Stadtanlage in ihrer Flächen-, wie in ihrer Tiefenaus¬
dehnung, also nicht bloß der Stadtplan mit seinen Grenzen,
Adern, Quartieren, mit den Staats- und Privatbauten,
Sicherungen und Verkehrslinien, sondern vor allem eine
Geschichte der Stadt, wie sie ausgedrückt wird durch
ihre Schichten.
Es gilt zu beweisen, daß uns das gelungen ist. Zwar
wird es von Männern der Wissenschaft bestätigt, die kurz
vor und nach dem Kriege auf Assur waren (zuletzt war das
8 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

der Amerikaner B r e a s t e d), aber den bündigen Nach¬


weis müssen der Mit- und Nachwelt unsere Aufnahmen und
Beschreibungen liefern, die jene Reste der westlichen Welt
näher bringen; denn sie sind jetzt für die meisten Menschen
überhaupt nicht zu erreichen, ja sie sind bereits zum Teil
verschwunden durch natürliche und böswillige Eingriffe.
Nur unsere Aufzeichnungen halten noch fest, was vorgefunden
wurde. Aber was nützen diese genauen Protokolle in den
Tischkästen, wo sie vergilben und vermodern ? Wäre es
nicht besser gewesen, die Ruinen unter ihrer tausendjährigen
Schuttdecke schlummern zu lassen, wenn sie nicht wenig¬
stens in Büchern verbreitet ihre Wiedererstehung feiern
können ? D a s ist unsere große Sorge. Der Staat ist heute
außerstande, die Arbeiten der Herausgabe durch bereit¬
gestellte Mittel zu fördern. Sie bleiben der privaten Hilfs¬
tätigkeit der Deutschen Orient-Gesellschaft überlassen. Und
schon sind, weil die Mittel versiegen, die notwendigen Bear¬
beiter in alle Winde verstreut. Statt rasch hintereinander
mit den dringendsten Zeichnungen und Beschreibungen
zu Ende zu kommen, geht alles nur so nebenbei und im
schleppenden Zeitmaß.
Hoffentlich sehe ich zu schwarz. Ein neuer Teil der
Ergebnisse von Assur ist im Begriff zu erscheinen: die ar¬
chaischen Ischtar-Tempel. Man darf aber nicht vergessen,
daß auch das nur ein kleiner Teil des reichen Stoffes aus
ägyptischem, babylonischem, chettitischem und assyrischen)
Gebiet ist, den die Deutsche Orient-Gesellschaft sich vor¬
genommen hat zu veröffentlichen.
Mit den Ischtar-Tempeln setzen wir die Herausgabe
der Denkmäler und Bauten von Assur fort. Äußerlich er¬
scheinen sie in der gleichen Form wie der „Anu-Adad-Tem-
pel", die „Festungswerke" und die „Stelenreihen". Aber
der gegebene Stoff ist hier ungleich breiter und tiefer. Die
Bauten treten gegen den gefundenen Inhalt zurück, wenn
man nur nach ihrer Größe fragt: Hinsichtlich der Bedeutung
innerhalb der Kunst- und Kulturgeschichte halten sie jenen
sicherlich die Wage. Die Heiligtümer der Göttin Isehtar
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 9

waren in der archaischen Zeit, die wir bis ins Ende des dritten
Jahrtausends gehen lassen, verhältnismäßig klein. Ihr Ruinen-
zustand ist verwickelt. Aber eine ungewöhnlich große Menge
von Einzelfunden und -beobachtungen schenkte uns eine
Kette von Entwicklungen und Einblicke in bisher dunkle
Kulturabschnitte. Der Stoff ist so reich, daß ich gezwungen
war, den archaischen Teil von dem ebenso reichen jüngeren
zu trennen und diesen einer späteren Herausgabe vorzu¬
behalten, deren wichtigster Abschnitt durch den König
Tukulti-Ninurta I (1260—1238) bezeichnet wird.
Mit den archaischen Ischtar-Tempeln kommen wir in
jene Zeiten, die wir den Beginn der Geschichte zu nennen
pflegen, weil sich da zum ersten Male Menschen durch Schrif¬
ten mitteilen und durch Bilder, die mit Stil und Inhalt schon
weit über die stammelnden Versuche der vorgeschichtlichen
Zeit hinausgehen. Die Zeit, in der es in dieser Weise hell
zu werden beginnt, liegt im mesopotamischen Tiefland wie
bei uns in Assur um die Wende des 4. und 3. Jahrtausends.
Unten in Babylonien waren schon zahlreiche Inschriften und
Bildwerke bekannt, die aus so tiefen Schichten stammen
müssen, aber eigentlich nie im Zusammenhang mit ihnen beob¬
achtet waren. Selbst die französischen Grabungen in Tello,
denen man den Hauptanteil daran verdankt, geben kein
geschlossenes lüli! einer Stadt, eines Palastes oder Hauses,
in denen jene Menschen der Frühzeit gewandelt sind. Man
drang zwar allmählich ein in ihre Geistesart, in gewisse Ab¬
schnitte ihrer politischen Geschichte, in ihren Handel und
Wandel, aber mit was für Dingen sie sich umgaben, blieb
unter dem Schutte der Ruinen zum großen Teil verborgen.
Aus Assyrien kannte man vor den Ausgrabungen in Assur
kaum ein einziges Stück, das man neben diese alten Funde
aus Babylonien hätte stellen können. Das ist jetzt anders
geworden., und zwar hauptsächlich durch die Funde in den
archaischen Ischtar-Tempeln.
Hier war an einem Querschnitt die Schichtenfolge vom
gewachsenen Felsen bis hinauf zur Hügcloberfläche im Zu¬
sammenhang mit mannigfach durcheinandergeschachtelten
10 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Bauresten klar geworden. Das kommt ja auch sonst vor


und wäre nichts Besonderes, wenn nicht schon die zweite
Schicht über dem Felsen alle Anzeichen einer Katastrophe
trüge und in sich vieles von dem aufbewahrt hätte, was zur
Zeit dieser Zerstörung der Stadt im Tempel vorhanden war.
Es sind Steinbilder von Männern und Frauen in verschiedener
Haltung und Tracht, deren Entstehung sich wohl über eine
längere Zeitspanne erstrecken muß, aber doch eben in die erste
und zweite Schicht eingeklemmt bleibt. Was vor der ersten
Schicht bestand, müssen wir vorgeschichtlich nennen. Es ist
gerade an dieser Stelle fast ganz verschwunden, dafür aber
an manchen anderen Orten innerhalb des Stadtgebietes von
Assur zum Vorschein gekommen. In jener ersten Schicht deutet
aber das vorhandene Bauwerk auf genaue Verwandtschaft
mit der zweiten. Das macht es wahrscheinlich, daß ein Teil
der Funde der zweiten Schicht aus der ersten übernommen
ist, die friedlich in jene überging. Feindliche Zerstörung,
Brand und Zertrümmerung hingegen beendete die zweite
Schicht nicht bloß an den Ischtar-Tempeln, sondern über¬
haupt in der Stadt. Das zeigte sich an verschiedenen Stellen
immer an der gleichen Wiederkehr der verbrannten Mauern.
Die Standbilder sind meist geköpft, verstümmelt, verschleppt,
die Gefäße zerschlagen, die Geräte umgeworfen und das
Wertvollere wohl weggeschleppt. Auf der Trümmerstätte
siedeln sich landfremde Leute an, die anders bauen, und von
der vernichteten Kultur nichts wissen. Das nennen wir die
dritte Schicht.
Hier spiegelt sich also in den Ruinen ein sehr lebhaftes
Stück Geschichte. Ich meine nicht bloß in dem Bilde der
Zerstörung des Krieges, sondern noch mehr in der geschlosse¬
nen Erscheinung des friedlichen Tempels, von dessen gottes¬
dienstlichen Einrichtungen Bildwerke und Geräte zeugen.
Manches Licht fällt dabei auf Art, Sitte und Tracht dieser
merkwürdigen Leute, deren südbabylonische Verwandten
uns von Tello her bekannt sind. Schon in so früher Zeit
läßt ein Gegensatz zwischen Süd und Nord, lassen sich Kämpfe
erkennen, die um das assyrische Grenzgebiet zwischen Ebene
Abb. 1. Der Kultraum des archaischen Ischtar-Tempels um 3000 v. Chr
Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Abb. 2. Gipssteinfigar eines Mannes. V3 d. Bat. Gr


Abb. ü. Gipesteinfigur einer Frau. 1/i d. nat. Gr.
14 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Abb. 4. Sitzbild eines Mannes aus Gipsstein. i/3 d. nat. Gr.


Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 15

und Gebirge entbrannt sind. Ihre Spuren sind späterhin


mehr und mehr verwischt, aber manche kleine Anzeichen
verraten sie doch.
Mit einem Schlage verschwinden diese alten Leute in
Assur nach jener Zerstörung der Stadt. Sie sind unver¬
kennbar, und es gibt nichts, was von ihnen zu ihren un¬
mittelbaren Nachfolgern, und nur wenig, was zu den noch
späteren überleitet, die zweifellos näher mit ihnen verwandt
waren, als die Zerstörer.
Die Menschen dieser alten Schicht, die wir mit G be¬
zeichnet haben, sehen behäbig aus. Wie in Babylonien,
bleiben ihre Standbilder unter Lebensgröße, meist sind sie
klein und vielfach winzig, dafür aber sehr wechselvoll im
einzelnen und noch nicht ganz in starre Typen eingezwängt.
Zwar kehrt der stehende Mann mit dem zottigen Hüftrock
und dem nackten Oberkörper, mit steif vor der Brust gefal¬
teten Händen und mit nackten Füßen, mit kahl rasiertem
Kopf und glattem Gesicht in Assur wie in Babylonien mehr¬
fach wieder; aber die große Veränderlichkeit der weiblichen
Figuren springt in die Augen. Auch bei den Männern ist
die Haartracht nicht einheitlich; bald tragen sie kurzen
bald langen, bald gar keinen Bart, bald einen langen, zopf-
artigen Schopf, bald gar kein Haupthaar. Die weibliche
Haartracht richtet sich sichtlich nach der zeitweiligen Mode
oder nach dem Geschmack der Trägerin. Auch in der Ge¬
wandtracht herrscht keine starre Einheitlichkeit, sie wech¬
selte offenbar so rasch mit der Zeit wie eine jede Mode; nur
ist sie immer an das einfache, rechteckige IStück Zeug ge¬
bunden, das in verschiedener Weise um den Leib geschlungen
wird. Auch wechseln glatte und zottige Gewänder.
Von all diesen Verschiedenheiten bot unser Ischtar-
Tempel ein oder mehrere Beispiele. Vieles davon ist neu,
anderes reiht sich an das Bekannte aus Babylonien an und
ergänzt unsere Kenntnis davon.
Merkwürdig wie schon bei jenen babylonischen Bild¬
werken ist das Nebeneinander vogelgesichtiger, fratzenhafter
und anmutiger, bis zu erstaunlicher Weichheit und Lebendig
16 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

keit gesteigerter Köpfchen. Auch von dieser offenbar nur


selten erklommenen Gipfelkunst bot unser Tempel ein schönes
farbig gehöhtes Beispiel. Hierzu muß man dann noch kleine
Elfenbeinfiguren nackter Frauen zählen, zu deren fast vollen¬
deten Körpern allerdings unförmliche Köpfe gehören können.
Auch die jüngeren archaischen Schichten, bis herab
zum Ende des dritten Jahrtausends, haben uns Bildwerke
geliefert: Das Standbild eines Pürsten in halber Lebensgröße,
und je ein Kupfer- und Steinfigürchen, die ihre nahen Ver¬
wandten ebenfalls im südlichen Mesopotamien haben. Leider
sind sie so wenig wie die ältesten durch Inschrift erläutert,
ganz im Gegensatz zu den redseligen Bildwerken Babyloniens.
Man kann sie deshalb nur an ihrem Stile werten.
Wer vom vorgeschichtlichen oder frühgeschichtlichen
Ägypten kommt, ist immer wieder erstaunt über die Arm¬
seligkeit des Kunstschaffens im ältesten und alten Meso¬
potamien, von dem man doch annehmen kann, daß es sich
unter ungefähr gleichen Bedingungen hätte entwickeln
können, wie das frühägyptische. Das kann jetzt kaum mehr
an mangelhafter oder zu wenig ausgedehnter Forschung
liegen, es ist vielmehr im Wesen der vorderasiatischen Völker
begründet. Ihre Kunst ist keine Volkskunst im Sinne des
Ägypters, sie begnügen sich mit den einfachsten Formen
der Geräte und Gefäße und mit dem einfachsten Zierrat.
Die Schönheit der Naturformen geht ihnen spät oder gar
nicht auf, Erzählen durch Bilder liegt ihnen weniger als
den Ägyptern, sie bleiben steif, offiziell und formell, gleich
als ob das nur eine Hof- und Staatsangelegenheit wäre. Das
Genre, das Schildern des täglichen Lebens trifft man bei ihnen
höchst selten und fast nur in der ältesten und in der jüngstenZeit.
Wir sind daher gar nicht überrascht, im ältesten Assur
nichts anderes zu finden, als jene feierlichen Stand- und Sitz¬
bilder, die wohl angesichts der Gottheit im Tempel auf¬
gestellt waren als Abbild der lebenden oder der verstorbenen
Fürsten oder Großen der Stadt. Und so fehlt es auch im
späteren Assur an holderen Formen und Stoffen der bildenden
Kunst und des Handwerks.
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 17

Vom Gottesdienst der frühen Bewohner des Landes


konnte man sich bisher nur aus Siegeldarstellungen und einigen
Flachbildern eine Vorstellung machen. Das ist aber heikel.
Denn wir kennen die Gesetze dieser Darstellungsart noch
zu wenig. Zwar dürften
hier ähnliche gelten, wie
sie H. S c h ii f e r für
Ägypten in seinem
Buche über ägyptische
Kunst herausgeschält
hat; aber auch dort ist
ja bestimmend, daß man
keine Zeichnung richtig
versteht, wenn man
das dargestellte Objekt
nicht kennt.
Hier in Ass ur is t n u n
der Kultraum eines so
alten Tempels \\ irklich
ausgegraben und die
Tempelgeräte aus ge¬
branntem Ton liegen
wirklich vor uns: Ton¬
häuschen und Tonstän¬
der, Herde und Wasser¬
gefäße: und sie lagen un¬
gefähr noch da, wo sie
bei der Verehrung der
Göttin benutzt worden
waren. Bekanntlich ist
die Anbetung und die Abb- * T°nhäuschen. V.o d. nat. Gr.
Opferung, wie sie in der ältesten Zeit geübt wurden, für alle
späteren Zeiten typisch geworden, und wir sehen noch die
letzten Assyrerkönige mit Geräten und in Haltungen Gottes¬
dienst verrichten, die den ältesten wenn nicht gleich so doch
außerordentlich ähnlieh sind.
Die gleiche zähe Überlieferung spricht aus den Bauten:
1J5 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Anordnung, Lage und Zugänglichkeit des Kultraumes sind


in den Rösten der beiden ältesten Schichten schon ebenso
festgelegt, wie noch in denen des 13. und 12. Jahrhunderts,
und dauern, wenn man will, bis zu denen des Assyrer-Endes.
Sie sind so eigenartig und von allem benachbarten so deutlich
unterschieden, daß man sie für bodenständig-assyrisch halten
muß. Man kann sie mit dem Begriff ,,L a n g h a u s" um¬
schreiben, im Gegensatz zu dem „Breithaus" der Baby-
lonier und der Mittanni-Leute. An den archaischen Ischtar-
Tempeln ist der Langhaus-Typus mit dem Kultbild vor einer
Schmalseite schon in vier, zeitlich beträchtlich unterschiede¬
nen Schichten festgestellt, die an Anfang, Mitte und Ende
des dritten Jahrtausends gehören. In den späteren Resten
tritt er uns dann noch weitere vier Male entgegen, von 1300
bis zum Ende des Assyrerreiches. Wir finden ihn außerdem
wieder am Heiligtum des obersten Assyrergottes, des Asur,
das wie der Ischtar-Tempel in die ältesten Zeiten hinauf¬
reicht. Seiner Lage wegen kann man diesen ältesten assy¬
rischen Kultraum noch leicht mit dem breitliegenden baby¬
lonischen verwechseln. Erst zu Beginn des zweiten Jahr¬
tausends scheint mit der Verlegung des Eingangs in die dem
Allerheiligsten gegenüberliegende Schmalwand das voll¬
kommene Langhaus erfunden zu sein, das an den übrigen
Tempeln in Assur wie auch an denen von Chorsabad un¬
abänderlich bis in die letzten Tage des Assyrerreiches bei¬
behalten wird.
Die Eigenschaften der Ischtar, die man in dieser Reihe
von Tempeln durch die Jahrtausende verehrte, haben offen¬
bar je nach der Art ihrer Verehrer gewechselt. Zu Anfang
verherrlicht die Göttin anscheinend das schöne Weib als
solches. Dann ist sie die Göttin der lebenspendenden Frucht¬
barkeit. Später verkörpert sie die Geschlechtsliebe, und
auch das Kriegerische an ihr scheint verehrt worden zu sein,
aber das gehört schon tief in das zweite Jahrtausend und hat
mit der Göttin der archaischen Zeiten offenbar nichts zu
tun. Nur eins scheint immer gleich geblieben zu sein:
die Göttin ist hier selbständig und allein verehrt worden
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 19

und nicht als die Gemahlin irgend einer männlichen Gott¬


heit. Auch im 13. und 12. Jahrhundert, das beginnt, sie
ausdrücklich als die I s c h t a r von A s s u r zu verehren,
haust sie getrennt vom Hauptgott Asur.
Massenhaft werden in der ganzen Stadt Tonbilder der
nackten oder leicht bekleideten Frau gefunden, die man mit
diesen Kulten in Zusammenhang setzen möchte, wie es auch
in Nippur und Babylon von den Ausgräbern getan worden
ist. Durch die Schichten der archaischen Ischtar-Tempel

Abb. 6 u. 7. Tonbilder der stehenden und der silzenden Frau. >/2 d. nat.Gr.

werden gewisse Typen dieser Figuren zeitlich festgelegt. Sie


werden in unserer Veröffentlichung in ihrer ganzen Ab¬
folge bis in die parthische Zeit hinab vorgeführt, weil es kaum
eine geeignetere Gelegenheit dafür geben wird. An ihnen
zeigt sich aufs neue die große Zähigkeit der Überlieferung.
Die ganze archaische Gruppe dieser meist rohen, oft aber
sehr ausdrucksvollen Figuren hält sich dezent, und so tun
es auch ihre späteren Abkömmlinge. Das Orgiastische des
Kultes scheint erst in der zweiten Hälfte des zweiten Jahr¬
tausends seinen Einzug gehalten zu haben. Das drückt sich
;il>er in figürlichen Darstellungen ganz anderer Art aus, die
20 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

erst im zweiten Teile unserer Veröffentlichung zur Besprechung


gelangen können.
Wir hoffen mit dem neuen Bande also einen wesentlich
neuen Teil zur Geschichte der Kultur Assurs und Assyriens
beizutragen und rechnen sehr damit, daß seine zweite Hälfte
in nicht zu ferner Zukunft möchte nachfolgen können.

3. Ausheute aus den Boghazköi-Inschriften.


Von Emil F o r r e r.

Über Inhalt und sprachliche Form der durch die deutschen


Ausgrabungen bei Boghazköi zutage geförderten Keilschrift¬
texte ist zuerst in diesen Mitteilungen berichtet worden: von
Win ekler im 35. Heft, dann von K f o z n y und Ed.
.Meyer im 56. und von Weidner im 58. Dazu kom
men noch die Aufsätze von Hrozny „die hethitische
Sprache", Meißner. ,,Zur Geschichte des Chatti-Reiohes"
W e i d n e r , ,,Studien zur hettitischen Sprachwissenschaft".
Im Folgenden stelle ich in aller Kürze zusammen, was
sich mir im teilweisen Anschluß., aber auch zum Teil im Gegen¬
satz zu den Genannten bei meiner Durcharbeitung dieser
Texte ergeben hat, unter den fünf Gesichtspunkten der
Landeskunde, der Völker- und Sprachenkunde, der Geschichte,
der Kultur und der Religion.
1. Landeskunde.1
Im weitesten Sinne des Wortes umfaßt der Begriff
llatti ganz Kleinasien und Syrien bis nach Damaskus hin,
bis an den Euphrat und tief nach Armenien hinein, d. h.
soweit die unmittelbare staatliche Macht der Hatti Könige
reichte. Dies gewaltige Gebiet schließt in sich verschiedene
Ländergruppen, die von den Hattiern als nächst kleinere
*) Vgl. dazu das von mir zur größeren Anschaulichkeit gezeich¬
nete Kärtchen.
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 21

Einheiten aufgefaßt wurden. Diese sind: vom Libanon öst¬


lich bis an den Euphrat das Land Amurru, vom Libanon
bis zum Tauraa die Harri-Länder, vom Taurus bis zum Halys
und östlich bis Hocbarmenien das Oberland, in den nord¬
östlichen Gebirgen Kappadokiens die Gasga-Länder. am
Ufer ilcs Schwarzen Meeres Kizzuvadna; dem römischen
Kilikien in seiner ganzen Ausdehnung entsprechen die Ar-
zauva-Länder, auch Unterland oder Luvia genannt, westlich
an die Arzauva-Länder schließen sich die Lugga-Länder an;
Im engeren Sinne umfaßt das hattische Reich die Hochebene,
im inneren Kleinasien von den ebenen Teilen Kappado-
kiens bis zu den östlichen Teilen Phrygiens und Ljdtaoniens.
Merkwürdigerweise erfahren wir gerade über die Land¬
schaften der ägäischen Küste, wo wir die klassischen Nach¬
richten anknüpfen könnten, aus den Boghazköi-Inschriften
so gut wie gar nichts. Feldzüge sind dahin nie unter¬
nommen worden. In den Zeiten der Schwäche, wo sich
die Arzauva-Länder, die Gasgäer und andere empörten und
in Hatti Einfälle machten, wird nichts über etwaige dortige
Aufstände berichtet. Auch Verträge mit irgend einem Staat
im Westen sind uns nicht erhalten. Wo der engere Begriff
des Hatti-Reiches im Westen aufhört, wissen wir nicht, und
die Nachrichten von den Lugga-Ländern sind so spärlich
daß auch über deren Ausdehnung nach Westen und Nord¬
westen kein sicherer Anhalt zu gewinnen ist. Als einzige
Möglichkeit bleibt, daß die ägäischen Küstenlandschaften
seit langen Zeiten mit dem Hatti-Reiche aufs engste ver¬
bunden gewesen sind, so daß sie meist in „Hatti" mitein
begriffen werden. Haß wir das Schweigen der Texte über
den Westen nicht auswerten dürfen, zeigen gelegentliche Ki -
w ähnungen von Königreichen, die nicht im Osten liegen, also
doch wohl irgendwo im Westen Kleinasiens anzusetzen sind.
Alle diese Länder des Hatti-Reiches im weiteren Sinne
waren staatlich sehr verschieden organisiert, und es tuten
uns hier Verhältnisse entgegen, die uns sonst im alten Orient
Unbekannt sind. Die Harri-Länder und die Arzauva-Länder
verfallen in viele kleine Königreiche. In den Bergen
22 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft

Kappadokiens und des westlichen Armeniens ist die Eid¬


genossenschaft die vorherrschende Staatsform. Diese
Eidgenossenschaften bestehen aus den Gebieten zahlreicher
Städte oder richtiger Burgen, die sich untereinander eidlich
zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet sind. Die Kantone der
Eidgenossenschaften werden meist regiert von einem Rate
der Alten. Die Stellung des Primus inter pares wird vielfach
die eines Fürsten, und in vereinzelten Fällen haben solche
Fürsten auch den Königstitel angenommen. Innerhalb einer
Eidgenossenschaft üben natürlich die bedeutendsten Städte
eine Art Vorherrschaft aus, und die Eidgenossenschaft
wird dann abgekürzt nach diesem Vorort genannt.
Eine weitere Eigentümlichkeit des Hatti-Reiches sind
die „Gottesländer". Es sind dies kleinere oder größere
Gebiete, die ebenso wie die Königtümer und Eidgenossen¬
schaften unmittelbar dem Großkönig von Hatti unterstehen.
Soweit wir es nachprüfen können, sind die Gottesländer
z. T. bereits in sehr frühen Zeiten bei der Eroberung dieser [Ge-
biete durch den Großkönig von Hatti dem Gotte der betreffen¬
den Stadt gestiftet worden, und der Oberpriester des Gottes
schaltet mit diesem Land ganz so wie sonst die Kleinkönige.
Diese Gottesländer haben sich bis in römische Zeit erhalten.
Das Hatti-Reich im engeren Sinne besteht aus vielen
Lehens-Königs - bzw. Fürstentümern, deren
Inhaber meist zugleich hohe Würdenträger des Reiches sind.
So ist der König des Oberlandes meist zugleich Ober-„Mesedi"
(ein Hofbeamter), der Fürst von Tegarama zugleich Wein-
Oberst usw. Daß diese Würdenträger fast immer nur mit den
Titeln ihrer Würde bei Hofe genannt werden, erschwert es außer¬
ordentlich, über die geographische Einteilung des inneren
Hatti-Reiches Klarheit zu erlangen.
2. Völker- und Sprachenkunde.
In meiner kleinen Abhandlung über „die acht Sprachen
der Boghazköi-Inschriften"1 habe ich gezeigt, daß die Be-
') In den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der
Wissenschafton 1919, LIII, 1029-1041.
Mitteilung No. Ol, Dezember 1921. 23

völkerung Kleinasiens in der Mitte des 2. Jahrtausends


v. Chr. aus fünf verschiedenen Schichten bestand. Um ihre
Sprachgebiete festzustellen,, haben wir als Mittel einerseits
die Sprache der Heimatstadt eines Gottes, anderseits die
Heimatstadt eines Schriftstellers, der in seinem Werke die
Beschwörungen in der nichtkanisischen Landessprache spricht.
Das Gebiet eines Volkes fällt aber nicht notwendigerweise
mit seinem Sprachgebiet zusammen, denn auch in Klein¬
asien sehen wir einzelne Sprachen in stetem Vordringen,
andere im Zurückweichen. Wenn wir nun feststellen können,
welche Personennamen und welche Ortsnamen einer be¬
stimmten Sprache zugewiesen werden müssen, so können
wir einen früheren Stand der Verteilung der Sprachgebiete
und damit der Bevölkerungen erschbeßen. Da diese Zuwei¬
sungen mit äußerster Vorsicht und auf breiter Grundlage
geschehen müssen, kann ich erst wenige Punkte mit Sicher¬
heit angeben.
Das Protohattische1 wird in den gebirgigen
'Feilen ganz Kappadokiens und anscheinend nur hier ge¬
sprochen. Es kann aber kaum einem Zweifel unterliegen,
daß die Protohattier die älteste Bevölkerung ganz Klein¬
asiens und auch Syriens sind.
Das Luvische wird sowohl in Kizvadna am Nord¬
rande Kleinasiens als auch in Kappadokien, sowie in Kili-
kien gesprochen. Ihm gehören die Götter Sandas und Tar-
hundas, und die damit gebildeten Personennamen an. Dieser
Sprache sind auch die Ortsnamen auf -anda und wahrschein¬
lich auch die auf -assus zuzuweisen. Auch in West¬
armenien sind die Personennamen fast durchweg luvisch.
In Nordsyrien und Mesopotamien finden wir selbst noch in
assyrischer Zeit zahlreiche luvische Namen, und zur Zeit des
Mursiiis, des Sohnes des Subbiluliumas, scheint sogar ii>
l) Da alle diese 6 Völkeisehichten Angehörige des Hatti-Reiches,
folglich Hattier zu nennen sind, setze ich vorläufig vor die in den
Texten übliche Bezeichnung „HattiorJ dieser ersten Schicht ein
Proto-, um einer Verwechslung mit all den verschiedenen Völkern,
<lle bisher die Bezeichnung Hattier oder Hethiter usw. erdulden
mußten, vorzubeugen.
24 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Amurru östlich des Libanon die Sprache des Hofes das Lu¬
vische gewesen zu sein. Das Semitische — in Betracht
kommt nur das Amurrische — spielt für Nord syrien noch
gar keine Rolle. Demnach scheinen die Luvier bereits in
frühen Zeiten als verhältnismäßig einheitliches Volk das
ganze Gebiet vom Adriatischen Meer über Griechenland
und Kleinasien bis nach Westpersien besetzt zu haben
unter Verdrängung der Urbevölkerung in die Gebirge.
Die Landschaft Balä, nach der die B a 1 ä e r ihren Namen
haben, muß nach einer Gesetzesstelle ein größeres Land ge¬
wesen sein. Deshalb möchte ich meine frühere Annahme
verwerfen, nach der sie ihren Namen von der Land¬
schaft Balä in den Gebirgen westlich des heutigen Sivas er¬
halten haben, sondern vermuten, daß sie nach einer gleich¬
namigen Landschaft in Paphlagonien heißen, ja, daß der
Name der Paphlagonier nichts als eine griechische volks¬
etymologische Umgestaltung ihres Landesnamens ist, der
etwa Palaonia heißen müßte. Aus einem kleinen Anzeichen
ist zu erschließen, daß sie wahrscheinlich, wie die Protohattier
eine präfigierende Sprache hatten, d. h. eine Sprache, die
die grammatischen Formen eines Wortes nicht durch Endun¬
gen, sondern durch Vorsilben bildet. Ist dies richtig, dann
sind auch sie erst von den Luviern aus den westlichen Teilen
Kleinasiens in das Gebirge gedrängt worden. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß Balä Landschaften des Westrandes von
Kleinasien mit einschließt.
Zweifellos erst spätere Einwanderer sind von Westen
her die Kanisier, von Osten her die H a r r i e r 1. Der
Letzteren Einwanderung erfolgte nicht aus dem Kaukasus,
sondern aus Iran und von da aus erst auch in den Kaukasus.
Am Antitaurus und im mittleren Syrien hat ihre Einwande¬
rung ein Ende gefunden. Sie scheinen in dem ganzen Gebiet
von Armenien, Mesopotamien und Syrien die Zusammen¬
setzung der Bevölkerung nicht nachhaltig beeinflußt zu haben.
Die Kanisier schließlich sind wie später die Phryger
') Ich behalte diese Forin mit a statt wahrscheinlicher mit o beir
Iiis ich für letztere den sicheren Beweis erbringen kann.
Mitteilung No. 61, Dezember 1991 25

und Galater vom Marmara-Meer her in Kleinasien ein¬


gewandert und haben seine Hochfläche besetzt, wo Ranis
wenig westlich des Antitaurus ihr vorgeschobenster Punkt
war1. Sie haben ihrerseits wieder die Luvier aus den frucht¬
barsten Ebenen verdrängt, und ihre Sprache rückt mit
ihren politischen Erfolgen dauernd vor. Sie sind die Be¬
gründer des Hatti-Reiches und die Schöpfer seiner Kultur
und fast alle Inschriften der Bibliothek von Boghazköi sind
in ihrer Sprache abgefaßt.
Beim Versuch einer Zuweisung dieser fünf Sprachen
an bekannte Sprachgruppen ist im Auge zu behalten, daß
wir nur vom Kanisischen den Sprachbau ganz und den Wort¬
schatz zu einem beträchtlichen Teile kennen, während von den
anderen Sprachen nur einzelne Eigentümlichkeiten der Form
bildung und vereinzelte Worte feststehen, beim Baläischen über¬
haupt nur die Wahrscheinlichkeit,'daß es mit Präfixen arbeitet.
Das Protoh attische mit seiner fast unendlichen
Mannigfaltigkeit der Präfixformen bei allen Wortarten scheidet
sich durch diese Eigenart grundsätzlich vom Indogermanischen,
Semitischen, den Turksprachen und dem Finno-Ugrischen.
Einzig die nordostkaukasischen Sprachen haben eine ähnliche
Art des Präfigierens auch beim Substantiv. Wenn hier
ein gemeinsamer Ursprung anzunehmen ist, was ich glaube,
so liegt die Zeit der Sprachgemeinsamkeit jedenfalls so viele
Jahrtausende zurück, daß er nur noch in gemeinsamen
(Jrundsätzen des Sprachbaues nachzuweisen sein wird.
Wenn das B a 1 ä i s c h e wirklich ebenfalls eine präfi-
gierende Sprache ist, wird es wohl mit dem Protohattischen
gemeinsamen Ursprung haben. Dann würden wir als Ur¬
bevölkerung Kleinasiens vom Ägäischen Meer bis zum
Halys den baläischen, östlich davon bis einschließlich Medien
den (proto)hattischen Zweig dieser Urbevölkerung anzu¬
nehmen haben. Das Auftreten des protohattischen Wortes
») Meine frühere Annahme, daß Kaniä in l'hrygien liege, ist auf¬
zugeben. Da die Inschriften Ka-ni-is und Ka-ni-es, aber nie Ka-De-es
schreiben, ist Ranis oder Kanies (mit ie aus langem 1) die richtige
Form des Namens.
26 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

washaw „Gott" im Kossäischen mashum „Gott" (m ist-


Schreibersatz für w), und die Gleichheit von Lykisch ladt
„Frau" mit tladi „Frau" im Avarischen, einer nordost¬
kaukasischen Mundart, mit lutu „Frau" im Haldischen,
der Sprache der Keilinschriften Armeniens, und mit rutu
„Frau" im Elamischen zeigt eine weitreichende Gemeinsam¬
keit. Doch ist diese beim letzteren Worte vielleicht nicht
auf Rechnung des Protohattischen zu setzen, da in ihm
nimhutun „Frau" zu bedeuten scheint, sondern vielleicht
auf Rechnung des Luvischen.
Das Luvische, Harrische und Kanisische kennen keiner¬
lei Präfixe, sondern bilden bei allen Wortarten die Formen
durch Endungen. Etwa drei Viertel aller Formen- und Wort¬
bildungselemente des Kanisischen kehren in gleicher
Bedeutung in den indogermanischen Sprachen wieder und
in immer steigendem Maße wird die Verwandtschaft auch
des Wortschatzes durch das Keilschriftgewand hindurch
sichtbar. Eine Verwandtschaft des Kanisischen mit dem
Indogermanischen, wie sie Friedrich H r o z n y zuerst nach¬
zuweisen suchte1, ist also nicht abzuleugnen, doch kann
ich seiner Auffassung des Verwandtschaftsgrades nicht bei¬
stimmen. Aus verschiedenen Kultur- und geographisch¬
historischen Gründen muß ich als allerspätesten Zeitpunkt
der Einwanderung der Kanisier die zweite Hälfte des dritten
Jahrtausends v. Chr. annehmen. Wahrscheinlich fällt aber
ihre Trennung von den Indogermanen in den Anfang des
dritten oder das Ende des vierten Jahrtausends. Zu allen
diesen Zeitpunkten aber war die Scheidung der Urindoger-
manen in Ost- und Westindogermanen bereits erfolgt, so
daß die Fragestellung, ob das Kanisische dem West- oder
Ostindogermanischen zuzurechnen sei, ebenso falsch ist,
wie die, ob das Germanische dem amerikanischen oder austra¬
lischen Zweig des angelsächsischen Sprachstammes angehöre.
Man wird also nicht umhin können, das Kanisische als
Schwestersprache des aus den indogermanischen Sprachen
erschlossenen Urindogermanischen zu bezeichnen. Einer
!) Eine abweichende Ansicht hat B> Weidnci a. a. 0. vertreten.
Mitteilung Ko. 61, Dezember 1921. 21

solchen Stellung entsprächen auch durchaus die Eigentüm¬


lichkeiten des Kanisischen, sowohl wo sie mit den erschlossenen
urindogermanischen Formen übereinstimmen, als auch, wo sie
in Lautsystem, Grammatik und Wortschatz davon abweichen.
Luvisches Sprachgut hat — im Gegensatz zum
Kanisischen — in Orts- und Personennamen den Boden
Kleinasiens so stark durchtränkt, daß nicht nur die Menge
der eingewanderten Luvier, sondern auch die Dauer ihrer
Seßhaftigkeit eine viel größere gewesen sein muß, als die
der Kanisier. Da sie also bereits sehr lange vor dem Erscheinen
der Kanisier und der Harrier in Kleinasien da waren, wird
ihre Einwanderung mindestens vor das vierte Jahrtausend
v. Chr. zu setzen sein. Um so bedeutsamer ist es, daß das
Luvische — wie aus einer Quasibilingue zu schließen ist —
in Formbildung und Wortschatz Übereinstimmungen mit
dem Kanisischen aufweist, die in keiner der beiden Sprachen
Entlehnungen sein können. Anderseits geht es in seinem
Wortschatz und seinen Formbildungen so verschiedene Wege
vom Kanisischen (und Indogermanischen), daß sie keines¬
falls als Mundarten aufgefaßt werden können. Außer Ähn¬
lichkeiten mit dem Griechischen, die auf Entlehnung der
Griechen von ihrer luvischen Vorbevölkerung zurückzu¬
führen sind, ist dem Luvischen mit anderen indogermanischen
Sprachen die Verdoppelung der ersten Silbe beim Verbum
gemeinsam, was unabhängig von den vorgriechischen Orts¬
namen auf Wohnnähe mit den Indogermanen hinweist. Wenn
wir das Kanisische zur Zeit des Urindogermanischen als
dessen Schwester bezeichnen, werden wir diese beiden Sprachen
etwa als Nichten der Großmutter unseres Luvischen bezeich¬
nen und feststellen müssen, daß das Urkanisische weit mehr
seiner urluvischen Tante nachgeschlagen hat als das Urindo¬
germanische. (Vgl. die schematische Zeichnung:)
•r>. Jahrtausend

3. , [Ur-Idg^
2. , IWestldg^T
I
[Ost-Idg
I
L . West-Idg. Ost-Idg
28 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Bleibt das Harrische, das ebenso wie die Finno¬


ugrischen Sprachen mit dem Luvischen, Kanisischen und
Urindogermanischen in den Endungen für den Nominativ:
s und für den Akkusativ: n übereinstimmt. Das Harrische
hat die eigentümliche Fähigkeit, Endungen zu häufen, ist
also ein Gegenpol zum präfigierenden Protohattischen. Wir
wissen nicht genug vom Luvischen, um mit Sicherheit be¬
haupten zu können, es stimme darin mit dem Harrischen
iiherein. Jedenfalls ist diese Eigenschaft nicht nur dem Indo¬
germanischen, sondern auch dem Kanisischen fremd. Einen
letzten Schritt weiter in diesem Formbildungsgrundsatz,
Tind wir befinden uns bei den Grundsteinen des Baues der
Turksprachen, den nachgesetzten Partikeln, die sich nicht
mit dem Wortstamm verschmelzen, sondern nur an ihn an¬
lehnen. Doch müßten uns viele Bindeglieder zwischen Turk-
und Harrisprachen, zu welch letzteren auch ein wesentliches
Element im Elamischen gehört, verloren sein. Wohl etwas
früher als die Kanisier ungefähr aus der Ukraine nach Klein¬
asien wanderten, verließen die Harrier ihre Heimat im nord¬
östlichen Iran, nach Westen vorstoßend, bis sich die beiden
Wellen am Antitaurus begegneten und zum Stehen brachten.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß eine frühere Welle sich
nach Indien ergossen hat, denn die Verschiedenheit der
Drawida-Sprachen untereinander ist nicht groß genug, als
daß man nicht annehmen könnte, daß sie vor ihrer Ver¬
mischung mit einer vielfach gespaltenen Vorbevölkerung in
der gesagten Zeit eine Einheit gebildet haben könnten.
3. Geschichte.
Die Bibliothek von Boghazköi ist eine Anlage des Tud«
halijas, des drittletzten Königs des Hatti-Reiches. Mit
ganz vereinzelten Ausnahmen sind alle Texte, die von frühe¬
ren Zeiten berichten, Abschriften. Aus welcher Zeit die
Originale stammten, läßt sich erkennen aus den Eigentüm¬
lichkeiten der Sprache, und zwar kann man das Altkanisische
vom Neukanisischen scharf trennen. Auf altkanisisch sind
hauptsächlich die Inschriften des ersten Großkönigs von
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 29

Hatti, des Labarnas, abgefaßt. Das politische Testament des


Telibinuö, das sprachlich etwa als mittelkanisisch zu bezeich¬
nen wäre, gibt in der Einleitung einen Abriß von rund 150 Jahren
der Geschichte des Hatti-Reiches vor ihm und beginnt diese
mit Labarnas, der offenbar auch sonst als Begründer des
Hatti-Reiches aufgefaßt wurde. Der einzige Ersatz für das
gänzliche Fehlen von Königslisten ist eine Inschrift, die
Opfer für die früheren Könige des Hatti-Reiches beschreibt
und dabei diese samt ihren Gemahlinnen einzeln nennt.
Die Summe der Könige, in der die Söhne des Subbiluliumas
(1400—1350) mit einbegriffen sind, beträgt 44. Da anzu¬
nehmen ist, daß dabei mit Labarnas begonnen ist, gelangen
wir mit Labarnas jedenfalls vor 2000 zurück. Danach kann
kein Zweifel sein, daß die von Telibinus berichtete Erobe¬
rung von Babylon durch Mursiiis, etwa den fünften Nachfolger
des Labarnas, dieselbe ist, wie die Eroberung Babylons
durch den Hatti-König, die im Jahre 1926 v. Chr. der Hammu-
rapi-Dynastie von Babylon ein Ende bereitet hat.
In noch ältere Zeit versetzt uns eine altkanisischc Über¬
setzung der Annahm Naram-Sins von Akkad; einheimische
Quellenfür diese Zeit liegen uns dagegen nicht vor. Wir erfahren,
daß 17 Königreiche, darunter die Länder Hatti, Kanis und
Kursaura sich gegen ihn empörten, aber in einer großen
Schlacht niedergeworfen wurden. Schon vorher hatte sich
Sargon von Akkad Klein-Asien untertänig gemacht. Es
ist bemerkenswert, daß Hatti hiernach damals noch keinerlei
Vormachtstellung inne hatte.
Wohl noch vor Labarnas einzureihen ist die Inschrift
eines Großkönigs Anittas, Königs von Kussar, der darin die
Unterwerfung der Könige von Nesa, von Zalbuva und von
Hatti berichtet. Der König von Kussar hat demnach
damals die Oberherrschaft über die anderen Könige, deren
Gebiet bis zum (Schwarzen) Meere reicht, gewonnen, und
es ist nicht unwahrscheinlich, daß wir Anittas überhaupt
als den ersten „Großkönig" Kleinasiens anzusprechen haben.
Auch Labarnas, ungefähr Zeitgenosse .des Samsuiluna
(2080~~2043) von Babylon, hat in Kussar residiert. Unter
30 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

ihm tritt uns das Hatti-Reich bereits vollständig ausgebaut


entgegen. Er hat, wie die Telibinus-Inschrift berichtet, die
Meere zu Grenzen gemacht, er war auch siegreich gegen
die Arzauva-Länder und die Gasgäer, die ewigen Störer der
hattischen Ruhe. Nach Labarnas aber geriet das Hatti-
Reich in Abhängigkeit von den Königen von Halab (Aleppo). die
den Anspruch auf das Großkönigtum erhoben. Aber Hattu¬
silis, etwa der dritte Nachfolger des Labarnas, schüttelte
dieses Joch ab. Dessen Sohn (oder Enkel?) Mursilis, seines
Namens bereits der zweite, eroberte Halab und das diesem wahr¬
scheinlich untertänige Babylon. Mursilis scheint es gewesen zu
sein, der Hattusas (Boghazköi)zur Hauptstadt erhoben hat, und
so tritt uns von da ab Kussar nicht mehr als Hauptstadt
entgegen. Daher wird es wohl des Mursilis Vater Hattusilis
sein, auf den sich der Hattusilis des 13. Jahrhunderts zurück¬
führt, und den er König von Kussar nennt.
Auf diesen Höhepunkt der hattischen Macht folgt ein
Jahrhundert, erfüllt mit mancherlei Thronwirren und inneren
Kämpfen. Es wird abgeschlossen durch den König Teli-
binus, dessen einziger Sohn zu seinen Lebzeiten stirbt, wes¬
wegen er — und das ist wohl der Hauptanlaß zur Abfassung
seines politischen Testamentes — eine Erbfolgeordnung
aufgestellt hat.
Nach Telibinus hört das Hatti-Reich für 350 Jahre auf,
in Vorderasien die Vormacht zu sein. Eür seine Geschichte
der nächsten 250 Jahre tappen wir ganz im Dunkeln. Wohl
kennen wir einige Künigsnamen, aber ihre Einreihung ist
unsicher.
In diese Zeit des Niederganges (1700—1500) fällt der
Aufstieg und die Größe des Reiches Hanigalbat, das zeit¬
weise ganz Vorderasien beherrschte und gewiß auch da3
Hatti-Reich in Abhängigkeit brachte. Vermutlich von der
syrischen Hälfte dieses Reiches, dessen Hauptstadt Halab
war, ging die Eroberung Ägyptens unter den Hyksos-Königen
aus, die es besetzt hielten, bis sie etwa 1580 vertrieben wur¬
den. Wohl etwa um die gleiche Zeit erholt sich das Hatti-
Reich unter dem tatkräftigen Tudhalijas 1. Er erobert wieder
Mitteilung No. <;i, Dezember 1921.

Arzauva, macht Vorstöße gegen die Königtümer Hariigalbat


und Halab und verbrennt Halab. Dadurch hat er dem Hatti-
Reich seine Selbständigkeit wiedergegeben, weswegen er
auch im Halab-Vertrag den Titel „Großkönig" erhält. Wohl
nicht lange nach Tudhalijas I. hat Hattusilis II. wieder sieg¬
reich mit Halab gekämpft. Die genaue Zeit dieser beiden
Könige kann nicht bestimmt werden. Vielleicht sind sie
erst nach 1500 anzusetzen, so daß ihr unmittelbarer Nach¬
folger Tudhalijas II. ist. Dieser war, wie durch mehrere
Texte feststeht, der Vater des Subbiluliumas, der um 1400
den Thron bestieg.
S ubbiluliumas fand schwierige Verhältnisse vor. Auf
seinen Vater Tudhalijas II. war sein älterer Bruder Asmi-
sarruma (?) gefolgt. Als dieser kinderlos starb, benutzte das
ein Aufrühre]' unbekannter Herkunft, Arnuandas L, zu einer
Empörung, die aber von Subbiluliumas niedergeschlagen
wurde.1
Das Reich Hanigalbat war in zwei Teile zerfallen: das
Land Harri in Armenien und das Mittanni-Reich in Meso¬
potamien, zu dem auch ganz Nordsyrien gehörte. Letzteres
war die Vormacht Vorderasiens und stand noch dazu im
Bunde mit Mizri (Ägypten). Subbiluliumas hat sich mit
Artatama von Harri verbündet und ihrem gemeinsamen,
langjährigen Angriff erlag das Mittanni-Reich des Tusratta.
»Subbiluliumas erhielt Nordsyrien und setzte seinen Sohn
Telibinus in Halab, seinen Schwiegersohn (?) Bijassilis in Kar-
gamis zum König ein, und unterwarf sich die zahlreichen
Königtümer Mittelsyriens, die sogenannten Harri-Länder bis
zum Gebirge Niblani, wie der Libanon bei den Hattiern
heißt. Artatama von Harri hatte die Thronwirren beim
Tode des Tusratta zur Vertreibung von dessen Söhnen
Bijassilis und Mattiuaza und zur Einsetzung seines Sohnes
Suttarna benutzt. Mattiuaza fand schließlich Hilfe bei
Subbiluliumas, der unter Vertragsbruch Suttarna vertrieb und
Mattiuaza als König in Mittanni einsetzte. Fast wäre es
dabei zu einem Kriege mit dem damals noch kleinen Assyrien
l) Für die Geschichte der folgenden Zeit vgl. Meißner a.a.O.
32 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

gekommen, dessen König Enlilnirari sich bei dieser Gelegen¬


heit Südostmesopotamiens bemächtigte. Subbiluliumas ist
bei einem seiner Züge nach Syrien auch unter Verletzung
eines Grenz Vertrages auf ägyptisches Gebiet vorgestoßen
und hat Amga, das Hochtal von Heliopolis-Baalbek, erobert.
Die Gemahlin Dahamun-e ?- ka ? des damals gerade gestor¬
benen Bibhururias (= Tutanhamon, dem Schwiegersohn von
Amenophis IV.?)1 bat Subbiluliumas um einen seiner Söhne
zum Gemahl. Er sandte auch einen seiner Söhne, aber dieser
wurde auf dem Wege nach Ägypten von ägyptischen Vor¬
nehmen ermordet.
Des Subbiluliumas ältester Sohn Arnuandas II. starb
kurz nach Antritt seiner Regierung, Eine allgemeine Empörung,
die dann ausbrach, machte des Subbiluliumas zweitem Sohne
Mursiiis in seinen ersten Jahren viel zu schaffen. Aber es
gelang ihm, die Gasgäer, die Arzauva-Ländcr und die Fürsten¬
tümer im Gebiet des oberen Euphrat wieder zu unterwerfen.
Aber erst des Mursiiis Sohn Muvattallis vermochte das Land
Kizvadna, das schon unter Subbiluliumas zu Hatti gehört
hatte, durch einen Vertrag an sich zu fesseln.
Ferner unternahm Muvattallis einen Zug ins Unter¬
land (Kilikien) und unterwarf auch die Insel Alasija (Cypern).
Natürlich benutzten die Gasgäer seine Abwesenheit zur
Empörung und Einfällen ins Hatti-Reich, wobei sie auch
Hattusas heimsuchten.
Der Politik Ägyptens war es gelungen, das Land Amurru,
das seit Subbiluliumas mit Hatti verbündet war, zu sich
herüber zu ziehen. Muvattallis rückte mit einem großen
Heere, darunter auch Truppen von Kizvadna und Mittanni,
gegen das ägyptische Heer unter Ramses II. an. Die Schlacht
bei Kades endete trotz persönlicher Tapferkeit des Pharao
mit einem Siege der Hattier, der das Land Amurru wieder
auf ihre Seite brachte. Mittanni war während dieses Feldzuges
von Truppen entblößt, und wahrscheinlich diese Gelegenheit
nahm Adadnirari I. von Assur wahr zur Eroberung des
Mittanni-Reiches.
i) Vgl. MDOG 56 Seite 15.
Mitteilung No. Ol, Dezember-1921. 33

Über die Feldzüge, die Hattusilis III., der Bruder und


Nachfolger des Muvattallis, unternommen hat, wissen wir
nur sehr wenig. Er rühmt sich, daß ihm alle die Könige
freundlich gewesen seien, die seinen Vorgängern feindlich
waren, und daß alle seine Feldzüge siegreich waren. Seine
größte Tat war der Abschluß eines „ewigen Bündnisses"
mit Ramses II., das in der ganzen Welt größtes Aufsehen
erregte und das Tagesgespräch in allen Briefen dieser Zeit ist.
Wie ewig dieses Bündnis war, geht daraus hervor, daß
sein Sohn Tudhalijas (III.) in einem Vertrag mit Amurru
auch die Möglichkeit in Betracht zieht, daß Ägypten feind¬
lich sei, Doch ist es zum Ausbruch von Feindlichkeiten nicht
gekommen. Auch Tudhalijas hatte mit den Arzauva-Ländern
und den Gasgäern zu tun. Zu seiner Zeit eroberte Sulman-
asarid I. von Assur das Mittanni-Reich wieder, das wohl unter
Hattusilis III. seine Selbständigkeit zurück erlangt hatte. Er
versuchte in ein freundschaftliches Verhältnis zu Haiti zu
kommen, wurde aber von Tudhalijas II I. höhnisch abgewiesen.
Im Alter setzte dieser seinen Sohn Arnuandas III. zum
Mitregenten ein. Von diesem besitzen wir nur Bruchstücke
von Vertragen mit freien Städten. Auch er erhob seinen
Sohn Tudhalijas IV. zum Mitregenten. Tudhalijas IV.
kam noch zur alleinigen Regierung, dann aber brechen
die Urkunden mit dem Jahre 1200 jäh ab. Um diese
Zeit t.dlen in plötzlichem Ansturm die indogermanischen
Phryger und als ihre Vorläufer die Myser über die Pro-
pontis ins Innere Kleinasiens ein, ganz ähnlich wie 900 Jahre
später die Galater. Sie haben dem hattischen Großreich
nach tausendjährigem Bestehen ein jähes Ende bereitet.
4. Kultur.
Nationalökonomisch betrachtet stand die hattische Kul¬
tur auf dem Standpunkte der „Stadtwirtschaft". Nicht nur
war die Berufsteilung in den einzelnen Städten weit fort¬
geschritten — am meisten natürlich im königlichen Haus¬
halt, wo es Mundschenken, Truchsesse, Speiseanrichter.
Köche. Schlächter. Käser. Brauer. Gerber. Goldschmiede
34 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

Wagner, Schuhmacher, Wasserträger und viele andere Berufs¬


arten gab — sondern es hatten sich sogar die einzelnen Ge¬
genden darin differenziert und durch Ausübung eines Spezial¬
berufes auf das Hatti-Reich als große Einheit eingestellt.
So z. B. wissen wir von den Gasgäern, daß sie in der Haupt¬
sache Schweinehirten und Tuchmacher waren. Als Über¬
rest aus der Zeit der geschlossenen Hauswirtschaft wird die
Vorschrift anzusehen sein, daß die Schuhmacher nur solches
Leder verwenden dürfen, das aus der königlichen Gerberei
stammt, und daß die Verwendung fremden Leders ein schweres
Vergehen ist. wenn sie nicht • nach vorheriger Rücksprache
vom König ausdrücklich gebilligt ist. Gewiß war auch der
ursprüngliche Sinn der Belehnung des Ober-Mesedi und des
Wein-Obersten usw. mit Land der, ihm diejenigen Einkünfte
zu geben, die nötig waren, um die Ausgaben der betreffenden
Abteilung des königlichen Haushaltes zu bestreiten.
Wenn auch die meisten Gebrauchsgegenstände im Lande
selbst hergestellt winden, so stammt doch die Kunst ihrer
Herstellung aus Babylonien, woher es auch kommt, daß
die feineren Gegenstände meistens babylonische Namen
tragen. Die Kaufleute, die den Handel mit dem Ausland in
ihrer Hand haben, stehen unter dem Schutze des Gro߬
königs. Einen Ansatz zur ,Volkswirtschaft" sehen wir in
dem von Tudhalijas III. unternommenen Versuch, seinen
unbesiegbaren Gegner Assyrien durch eine Blockade lahm¬
zulegen, indem das verbündete Amurru in Mittelsyrien ver¬
traglich verpflichtet wird, sowohl den unmittelbaren alf?
auch den Transithandel der assyrischen Kaufleute zu ver¬
hindern. Doch ist dies nicht zum Schutze der hattischen
Volkswirtschaft geschehen, sondern nur ein kriegerisches
Machtmittel.
Eine vom König erlassene Gesetzessammlung gibt für
alle vorkommenden Fälle Richtlinien für den durch den
Bürgermeister gefällten Rechtsspruch und für das Maß der
zuzuerkennenden Strafe. Auch gibt sie für Tiere, Kleider,
Felder usw. Richtpreise an.
Die militärische Organisation ist aufs vollkommenste
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. 35

ausgebildet. Außer dem großen Landesaufgebot, zu dem


alle verbündeten Könige Truppen zu senden verpflichtet
sind, gibt es ein stehendes Heer. Wie bei allen anderen Or¬
ganisationen und Berufen sind auch die Pflichten und Rechte
des Heeres genau festgelegt. Die Bestimmungen über Re¬
quisition, Quartierbelegung und Unterbringung der Ge¬
fangenen sind von einem äußerst gerechten und menschen¬
freundlichen Sinne beseelt. Für die Archäologie wichtig
sind auch die genauen Vorschriften über den Bau von Feld¬
lagern mit Angaben über die Breite und Tiefe, bzw. Höhe
der Wälle und Gräben, der Länge der Pallisadenpfähle usw.
Solche Feldlager wurden angelegt, wenn das Heer in Feindes-
land überwintern mußte. Auch der Wachtdienst an den
Grenzen und in den Festungen war genau geregelt.
Wie alle Berufe im Dienste des Königs, von den Unter¬
königen bis zu den Schuhmachern, auf ihre Pflichtordnungen
vereidigt waren, so waren auch die Pflichten aller Priester¬
klassen bis in alle Einzelheiten schriftlich niedergelegt.
Hierzu sei erwähnt, daß sie keinerlei Privateigentum besitzen
dürfen, wovon allerdings- die (iesehenke des Königs eine
Ausnahme machen.
Dieser straffe Aufbau mit dem Großkönig an der Spitze
wäre geeignet, dem König ein solches Übergewicht der Stellung
zu geben, daß alle übrigen als seine Diener neben ihm ver¬
sehwinden würden, wenn nicht ein Gegengewicht vorhanden
wäre, das in Assyrien und Babylonien fehlt, nämlich eine
große Wertschätzung der Persönlichkeit. Es äußert sich
das in vielen Punkten. Nie schreibt der König sich eine Tat
zu, die einer seiner Generäle vollbracht hat, sondern im
Gegenteil, er würdigt das Verdienst jedes seiner Offiziere
nach Gebühr. Es geht daraus hervor, daß die Hattier im
Gegensatz zu Assyrern und Babyloniern Sinn für eine
sachliche Bewertung besitzen. Das zeigt sich auch in
ihrem Sinn für das Geschichtliche, gleichgültig ob es zum
Kahme des Königs oder seines Generals gereicht oder ob
es seine Schwäche enthüllt. Diese Einstellung auf Werte
der Persönlichkeit kommt auch zum Ausdruck darin, daß
36 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.

bei allen Werken des Schrifttums wenn möglich der Ver¬


fasser angegeben ist und daß sich sein Werk unter seinem
Namen durch die Jahrhunderte hindurch erhält. Die Schrift¬
steller und Schriftstellerinnen — letztere spielen eine be¬
deutende Rolle — leben in den verschiedensten Gegenden
des Hatti-Reiches; von manchen von ihnen sind uns mehrere
Werke überliefert, so daß wir uns mit fortschreitender For¬
schung auch von ihrer Persönlichkeit und ihrem Stil werden
ein Bild machen können. Die Literatur ist äußerst reich¬
haltig. Neben den Annalen und Erlassen, Thronreden,
Testamenten, Gebeten, Briefen, Schenkungsurkunden und
Adelsbriefen der Könige und der in ihrem Auftrage heraus¬
gegebenen Festbeschreibungen, Staats Verträge, Pflichtord¬
nungen, Bestandsaufnahmen, Heeresaufgebotslisten, Grund
büchern, Gesetzessammlungen, Wörterbüchern, Orakelan¬
fragen, Wahrsage texten und nach Verfassern geordneten
Katalogen stehen die Schriftwerke privater Schriftsteller,
die meist Priester und Priesterinnen sind. Diese geben
meist Anweisung für das, was zu tun sei in irgend welchen
Fällen, z.B. „wenn der Mond sich verfinstert", „wenn eine
Frau gebiert", „wenn ein Haus neu gebaut wird", „wenn
ein neuer Pfeiler eingesetzt wird", ..wenn das Jahr schlecht
ist und im Land oder im Heere ein großes Sterben Platz
greift oder sonst ein Unglück geschieht", „wenn jemand in
einer Sünde lebt", „wenn jemand einen anderen verwünscht",
usw.

Ohne Angabe des Verfassers sind die Sagen: das Gil-


games-Lied, das Kesse-Lied, das Abbus-Lied, die Narain-
Sin-Sage, das Lied des Gottes l'lliUummi und andere Götter
sagen, deren Titel nicht erhalten sind, die aber vielleicht
Rezensionen des Weltschöpfungs-Liedes darstellen. Be¬
zeichnend für diese Göttersagen ist, daß die Götter die Namen
tragen, die ihnen im harrisehen Kulturkreis eigen sind, wo¬
raus wir schließen müssen, daß die Hattier diese Sagen größten-
teils nicht unmittelbar aus Babylonien Übernommen, sondern
erst durch Vermittlung der Harrier entlehnt haben, daß sie
also von Mund zu Mund weitererzählt worden sind.
Mitteilung No. 61, Dezember 1921. .37

5. Religion.
Nach hattischer Anschauung sind alle irdischen Vor¬
gänge nur die Wirkung von göttlichen. Wenn die Gasgäer
den Hattiern Land und Festungen weggenommen haben, so
geschieht dies nur, weil die gasgäischen Götter sich gegen
die hattischen empört haben und diesen das Land entrissen
haben. So geht natürlich auch alles Unglück, Krankheit
und Krieg auf die Götter zurück. Durch Opfer und Gebete,
wenn sie von den nötigen Versprechungen begleitet sind, kann
der Wille der Götter beeinflußt werden, und die Hattier
haben es mit der Einhaltung selbst sehr großer Versprechun¬
gen sehr genau genommen. In allen möglichen Vorzeichen
kündigt sich die Zukunft an. Wenn daher etwas besonders
Merkwürdiges geschieht, werden die Schriftgelehrten nach
der Bedeutung dieses Ereignisses gefragt, ob sie günstig oder
ungünstig sei. Das setzt natürlich eine genaue Statistik
dieser kausalen Zusammenhänge in der Vergangenheit voraus-
So besitzen wir Werke, die für jede Einzelheit des Feldzuges
den Ausfall des Vogel- bzw. Eingeweide-Vorzeichens buchen.
Der Glaube an die Götter ist unbedingt. Bei Streitfällen
beschwören die Beteiligten ihre Aussage bei den Göttern und
die Beweisaufnahme ist erledigt. Alle Staatsverträge wer¬
den durch den Eid bei allen Göttern der beteiligten Länder
erhärtet. Aber die Politik hält sich nicht immer an die be¬
schworenen Verträge, und so können wir vonseiten der
Hattier sowohl als auch ihrer Vertragspartner eine ganze
Reihe von Vertragsbrüchen feststellen. Und als eine durch
ägyptische Gefangene eingeschleppte Seuche sich über ganz
Hatti verbreitete und 20 Jahre lang viele Opfer forderte,
da schlug dem König von Hatti (Mursiiis) das Gewissen: er
suchte unter allen seinen eigenen Sünden und denen seiner
Vorgänger und fand auch wirklich einen schweren Vertragsbruch,
für den er dann von den Göttern mildernde Umstände erbat.
Außer den Göttern werden Gebirge, Flüsse, Brunnen
und das Meer als göttlich verehrt. Die Inschriften sprechen
von den 1000 Göttern des Hatti-Reiches, doch bleibt diese
Zahl weit hinter der Wirklichkeit zurück. In jedem Orte
38 Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft.
ist ein Tempel, in dem sich die Götterbilder befinden oder
vermutlich ein freier Platz, auf dem die Malsteine stehen,
die den Göttern zugeordnet sind, die hier verehrt werden.
Außer den göttlich verehrten Flüssen, Brunnen und Gebirgen
der Umgegend finden wir ein merkwürdiges Gemisch aus¬
wärtiger Götter, deren Kult aus den verschiedensten
Gegenden gerade an diesen Ort verpflanzt wurde. Als Bei¬
spiel sei das wahrscheinlich im Gebiet mit hauptsächlich
harrischer Bevölkerung gelegene Dorf Sapagurvantas an
geführt. Dort gibt es 21 Malsteine folgender Götter': Xin
kigal (sumerisch), Huvadissis (luvisch?), 7-7-bi (sumerisch),
Wettergott von Harana (protohattisch), Brunnen Aldamissa-
vantas, Brunnen Sanijas, Brunnen Wassantatais, Wetter¬
gott vonNerig (protohattisch), Wettergott von Gastama (proto¬
hattisch), Bihaimis (luvisch), Iskus, Wettergott Ur-Sag
(babylonisch), Istar von Ninua (harrisch), Wettergott harsi-
harsi, Ijarris, Istar von Kar-Dunias (= Babylonien), Irus,
Wettergott von Assur, Wettergott des Landes Azzi, Wetter¬
gott Kar-anza, Wettergott Lil. Für jeden dieser Götter
werden zwei Feste gefeiert, das Winter- und das Sommer¬
fest. Der Wettergott von Assur stammt vielleicht aus der
Zeit der altassyrischen Kolonisierung, der Wettergott des
Landes Azzi wohl aus der kurz voraufgegangenen Zeit, wo Azzi
Eroberungen gemacht hatte. Die Istar von Kar-Dunias ist wohl
von einem babylonischen Kaufmann hier eingeführt worden.
Noch größer ist das Gemisch der Götterkulte in den
großen Städten und dort werden ihnen entsprechend mehr
Feste gefeiert.
Ein Versuch, die Bedeutung der wichtigsten Götter
festzustellen, stößt auf die größten Schwierigkeiten. Denn
so einheitlich die materielle und geistige Kultur des Hatti-
Reiches auf kanisischer Grundlage auch ist, und so sehr auch
die Formen des Kultus die gleichen sind, so ist doch die Aus¬
gestaltung der einzelnen Götterkreise Sache der einzelnen
Nationalitäten geblieben, so sehr sie auch stellenweise durch-
einandergehen. So hat dieselbe Göttergestalt bei den ver¬
schiedenen Völkern verschiedene .Nauien und ihre Ideo-
Mitteilung No. Ol, Dezember 1921. 39

gramme verschiedene Lesungen. Die von den Kanisiern so¬


genannte Sonnengöttin von Arinna, die Herrin der Länder,
die Himmelskönigin, die Herrin der Könige und Königinnen
von Hatti, die Leuchte des Landes Hatti, sie, die die Könige
und Königinnen von Hatti einsetzt usw., heißt z. B. bei
den Protohattiern Wör, bei den Harriern Hebat. Anscheinend
ist Telibinus der kanisische1 Name der Sonnengottheit, die
zugleich Vater und Mutter aller Länder ist. Der Gemahl
der Sonnengöttin von Arinna ist der Wettergott des Himmels
und der Erde, der bei den Protohattiern Tärö, bei den Lu-
viern vielleicht Rihamun, bei den Harriern Tessuw heißt,
und bei den Kanisiern neben Tesub auch einen auf -ta endi¬
genden Namen (Datta?) hat. Die Wettergötter von Nerig
und Zippalanda sind ihre beiden Söhne, die Göttinnen Lel-
vanis und Mezzullas ihre schönen Töchter. Der Mondgott,
dessen Kult bei den Kanisiern gänzlich im Hintergrunde
steht und wohl eine Eigentümlichkeit der Luvier ist, heißt
im Kanisischen anscheinend Armä, bei den Luviern Mi, bei
den Harriern endet sein Xanie auf -// (ÄraIi? I 'rh '.). Seine
Hauptkultstätten sind Kummanni (Comana Pontica) und
l'rikina (vielleicht: Comana ( appadociae).
Alle diese Lesungen seien nur unter Vorbehalt und als
Beispiel dafür aufgeführt, wie schwierig es hier ist, die Schei¬
dung der Götterkreise zu vollziehen, deren Verschiedenheit
und Einheit im wesentlichen eine Frage der Lagerung der
verschiedenen Völker- und Kultur-Schichtungen ist.
Dieser erste Versuch, in kurzem Abriß ein Gesamtbild
dieser gänzlich neuen Kultur zu geben, will andeuten, welche
für alle Gebiete der Wissenschaft fruchtbringenden Schätze
die Inschriften aus Koghazköi bergen. Eine eingehendere
Darstellung mit Beibringung alles Beweisstoffes wird in der
Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft er¬
scheinen.
') Oder ist Telibinus der protohattische und kanisische Name
der mannlichen Gottheit? Nach anderer Version ist er der Sohn des
hiH liHten Wettergottes, dessen Gemahlin die Sonnengottin vonArinna ist.
Druck von II S. Hermann * Co., F.erlin.

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