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WDG

OBERRAT BRACK

Armes Deutschland

Realsatirischer Heimatkrimi
Ein unziemlich deutscher Roman
Erster Band der Trilogie in vier Bänden

1
WDG
OBERRAT BRACK
Krankes Deutschland

ISBN:
Verleger:
Copyright: © 2005 WDG Copyright, sämtliche denkbaren
und noch undenkbaren Rechte beim Autor
Sprache: deutsch
Land: Deutschland
Ausgabe

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Danksagung

Der Autor möchte nicht verabsäumen, derer dankbar zu


gedenken, die dieses Buch mit sanfter Überredung im
Sommer 2005 zur Realisation brachten. Wer damit gemeint
ist, weiß es.
Auch möchte er die böswilligen oder ahnungsfreien Trottel
nicht vergessen zu erwähnen, ohne die dieser Roman viel
eher publiziert worden wäre.
Wer damit gemeint ist, weiß es auch!
In rechtsempfindsamen Zeiten wie den unseren fühlt man
sich gezwungen, darauf hinzuweisen, daß die durchaus
kontroversen Meinungen der fiktiven Personen deren eige-
ne fiktive Meinungen sind, und nicht unbedingt die des
Autors. Aber es sind Ansichten, die die heutigen Zeitenläu-
fe zwangsweise hervorrufen. Der Staatsgewalt zum Trotz.
Diese Geschichte ist ja auch nur ein Roman und ausschließ-
lich der etwas wirren Phantasie des Autors entsprungen. So
ein Irrsinn, wie geschrieben, kann in diesem unserem wohl-
geordneten Lande ja auch garnicht geschehen! Wie denn
auch! Deswegen wären ebenfalls Ähnlichkeiten mit leben-
den oder verstorbenen Personen rein zufällig.
Unabsichtliche Fehler sind immer seine Fehler, absichtliche
auch. Die eine oder andere Unglaubwürdigkeit kann wahr
sein, muß aber nicht.
Es wäre nie die Absicht des Autors gewesen, sich über die
geistig Unterversorgten dieser Welt lustig zu machen, wür-
den eben diese nicht immer wieder direkten oder indirekten
Einfluß auf sein Leben nehmen und ihn in schöner Regel-
mäßigkeit zu seinen täglichen Wutanfällen verhelfen. So
betrachtet er seine Sottisen als einzig möglich legale Not-
und Gegenwehr. Dieser Roman ist dadurch so was von
politisch inkorrekt, daß man das Geblöke der professionel-
len Gutmenschen bis in den Andromedanebel hören wird!

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Gutmenschen. Nicht gute Menschen! Es ist schon ein leich-
ter Unterschied!
Ungefähr so, wie zwischen Pikas und Aspik.
Der "Gutmensch" fordert in der und von der Öffentlichkeit.
Der gute Mensch tut es einfach! Und redet nicht darüber.
Wir haben ein gewaltiges Deppenproblem in allen gesell-
schaftlichen Bereichen. Und weil uns das in Bälde das
Genick brechen wird, sollte man den Irrsinn in unserem
Absurdistan für die Nachwelt festhalten. Außerhalb der
offiziellen Propagandamaschinerie. Damit ist auch der
dümmlichen selbst ernannten Nomenklatura der Krieg
erklärt. Für die anständigen Deutschen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß ein Anständiger weiß,
was unanständig ist. Während ein Unanständiger noch nicht
einmal wissen will, was anständig ist!
Sie glauben das nicht? Ein neuer Gipfelpunkt der Perversi-
on erreicht, daß einer hungernden Welt Lebensmittel entzo-
gen werden, um weiter Auto fahren zu können. Stichwort:
Biosprit! Die Lebensmittelpreise werden explodieren, und
Pkw nebst Fahrer werden demoliert werden. Und alle ma-
chen mit. Weiter so, Deutschland! Prima, USA!
Noch schlimmer wäre es, wir hätten kein Deppenproblem.
Denn das würde bedeuten, daß Bösartige und Übelwollende
das Sagen hätten!
Auch könnte der geneigte Leser den Eindruck bekommen,
daß den Autor an dem heutigen Deutschland so ziemlich
alles stört. Richtig, genau so! In den letzten 35 Jahren wur-
de alles, was falsch zu machen war, mit einer geradezu
pathologischen Beharrlichkeit auch falsch gemacht! Un-
möglich?
Erinnern Sie sich einfach an Ihre Kindheit. Ohne Verklä-
rung. War es damals besser oder schlechter?
Unsere ist leider nicht die Bestmögliche aller Welten, denn
die Irren haben den Schlüssel zur Anstalt geklaut. Wir sind
drinnen, die sind draußen.
Wir erleben gerade den Beginn eines Raubzuges gehirn-
sprengender Dimension, und wir alle sind die Opfer.

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Merkwürdigerweise leiden wir unter einer genetischen
Duldungsstarre während der Ausplünderung. Wie eine Sau,
die von einem Eber besprungen wird!
Dieses Buch wurde geschrieben, um des Autors Frage an
seinen Opa zur Nazizeit in der Wiederholung zum heutigen
radikalen asozialen Gesellschaftsumbau zu vermeiden:
»Und was hast Du dagegen getan, Opa?« »Nichts, mein
Junge, ich war auch zu feige!«
Nicht weiter schlimm, denn: Wie viele Helden werden pro
Generation geboren? Wer aber die Feigheit anderer aus der
sicheren Distanz der Geschichte anprangert, ist ein groß-
mäuliges Arschloch! Und wer etwas Nichtvorhandenes
eigenbrustschlagend bekämpft, auch. Und davon haben wir
mehr als reichlich. Sie kennen das: Was machst Du denn
da? Ich verjage Löwen. Aber hier gibt es keine Löwen. Da
kannst Du mal sehen, wie erfolgreich ich bin!

Also gehen Sie doch freundlicherweise einfach davon aus:


Dieser Roman ist so frei erfunden, wie es irgend geht, und
nichts davon ist wahr. Oder nahezu fast nichts … Oder so.

Der Autor benutzt auch weiterhin die gute alte deutsche


Rechtschreibung der Dudengesellschaft, da er sich nicht
ausgerechnet von Beamten, die ja für ihre lebendige, wache
und kraftvolle Sprache berühmt sind, vorschreiben lassen
will, Sprachwurzeln auf ein unterirdisches Tellerrandniveau
einzuebnen.
Oder deftige Konsonanten- und Vokalorgien zu feiern.
Flussschifffahrt mit Seeelefanten!

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Über den Autor

ist nicht viel zu sagen. Es würde nun wirklich keinen Unter-


schied machen, ob er Hilfsarbeiter im Schlachthof wäre
oder in Philosophie habilitierte oder ein Unternehmen leiten
würde. Es ist auch herzlich gleichgültig, ob er denn nun 20
Jahre oder 80 Jahre alt ist. Er hat dieses Buch geschrieben,
unabhängig davon, was auch immer sein Alter, seine Pro-
fession oder sein Werdegang ist. Oder würden Sie dieses
Buch lieber lesen, wenn Sie wüßten, es wäre von einer 16-
jährigen Jungfrau geschrieben? Nein? Ja?

Seine Oma sagte stets bei von ihm gemachten Dummhei-


ten: Junge, erst denken, dann reden und dann handeln.

Leider darf man feststellen, daß in diesem Lande nur ex-


trem Wenige denken, ganz Viele reden, und die, die dann
handeln sollen, weder darüber nachdenken noch streitreden.
So wird unser Volk in einer »Demokratie« vor vollendete
Tatsachen gestellt. Ohne gefragt worden zu sein! Bundes-
wehr, Notstandsgesetze, Verschenken von 1/3 Deutsch-
lands, Raketenbeschluß, Teilvereinigung, Lisboa II, An-
griffskriege, Deutschmarkvernichtung, Europaverfassung
und endlos so weiter! Der mündige Bürger – der Souverän!
- steht unter Kuratel von Geistesschwachen. Was der mün-
dige Bürger sagen darf, will er nicht denken. Und ein paar-
mal umgekehrt.

Da halten die Linken den Autor für einen Rechten, und die
Rechten ihn für einen Linken. Als ob ein Gehirn nur rechts
oder links funktioniert. Es ist ja immerhin ein seltenes Er-
eignis, wenn ein Gehirn überhaupt funktioniert! Er, der
Autor, hat nämlich seine Lektion in Demokratie viel zu gut
gelernt! Glaubt er! Er erlaubt sich den Luxus des unabhän-
gigen Denkens. Auch wenn die Meinungsbildung von ei-

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nem einzigen Käseblatt in Anspruch genommen wird. Mit
Schlagzeilen wie „Tante grillt taube Nichte“.
Unsere Pseudodemokraten mit dem fatalen Hang zur Dikta-
tur werden lauthals toben über soviel Frechheit. »Denn wir
haben wahrlich keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und
soziale Marktwirtschaft auf alle Ewigkeit.« Ein Zitat einer
mehrfach gewendeten »Demokratin«!
Der Autor hat es einfach satt, von Menschenähnlichen sein
Leben bestimmen zu lassen, deren einzige Qualifikation
darin besteht, sich bei der Bevölkerung solange einzu-
schleimen, bis die Bevölkerung sie aus einem Ruhebedürf-
nis heraus endlich wählt!
In diesem Roman wird nachgeholt, was seit vielen Jahren
nicht mehr opportun ist: Deutschland wird gegen den Strich
gebürstet, und alle so schön verdeckten Unzulänglichkeiten
und absichtsvollen Fehler stehen nackt und erbärmlich da!
Andere Länder können damit leben, Deutschland nicht.
Gegen diese unverschämte Camouflage des Nachkriegs-
primus hilft nur eine rigorose Entblätterung der professio-
nellen Lügner und Scheinheiligen aus allen Schichten und
Ständen.

Auch wünscht der Autor nicht, in die moderne Marketing-


maschinerie hineingezogen zu werden. Er verkauft eine
Idee, nicht sich! Er lehnt es ab, sich zu prostituieren, indem
er drei Finger vor dem Mund hält und nuschelt: »Mit den
Dritten beißt‘s sich schlechter!«
Dichtervorlesungen vom Trapez hängend unter der Zirkus-
kuppel haben für ihn durchaus nichts Verlockendes oder
Reizvolles. Das überläßt er lieber den überaus gelenkigen
Kollegen. Auch betrachtet er Talkshows mit ungebildeten
und unerzogenen Moderatoren und -Innen mit äußerstem
Mißtrauen.
Er mag auch keine Verträge, die nicht mehr vom Käufer
und Verkäufer abgeschlossen werden, sondern von Juristen,
die bemüht sind, die jeweils andere Seite zu besch … um-
meln.

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Jeder Vertrag, der über eine einseitig geschriebene DIN-
A4-Seite hinaus geht, dient nur dem Betrug! Sehen Sie sich
mal Ihren Handy- oder Autokaufvertrag an. Wenn Sie mit
allem einverstanden sind… Schön für die Gegenseite.

Nein, der Autor nimmt ebenfalls nicht für sich in Anspruch,


immer Recht zu haben. Er darf und wird sich irren, wie
andere auch.
Aber diese Irrtümer betreffen immer nur sein Leben. Und
nicht das Leben eines 80-Millionenvolkes.
Der Autor hat immer solange recht, bis man ihm das Ge-
genteil nachweist. Das akzeptiert er dann aber auch.
Doch es wird nicht nur das ihm zugeneigte Publikum sein,
welches ihn kennenlernen möchte.

Denn wenn Operninszenierungen, Karikaturen und Papst-


worte Terrorfurcht und Mordversuche hervorrufen, und das
für die Ewigkeit Gedruckte explizit zeigt, in welchem Zu-
stand sich diese Bundesrepublik namens Absurdistan im
Jahre des Herrn 2005 befindet, verweigert der Autor lieber
den Kontakt mit dem ihm abgeneigten Publikum.

So bleibt es bei dem Kürzel: WDG.

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Prolog

52° 31' 22" nördlicher Breite, 13° 22' 13" östlicher Länge,
ungefähr da, wo heute der Kanzlerbunkerlow steht, legten
vor zirka 8.184 Jahren südwärts ziehende Emigranten eine
Rast ein. Sie sahen sich in dem sumpfigen und verholzten
Gelände um, guckten sich an und nölten: »Hier siedeln
doch nur welche, die nicht ganz dicht sind!« Diese Aussage
beinhaltet zwei brillante Erkenntnisse. Erstens, daß intelli-
gente Emigranten nicht nach Berlin gekommen und geblie-
ben sind, und zweitens, wer hat je behauptet, daß die Berli-
ner ganz dicht wären?
Alleine das Bohey um den Berliner Bären. Bären überall,
weil es ja schließlich auch »Berlin« heißt. Das ist niedlich,
das ist historisch!
Aber eben nur für die Herrschaften, deren IQ nicht höher
als die durchschnittliche Jahrestemperatur Berlins ist. Und
die beträgt ungefähr neun Grad Celsius.
Nach ernst zu nehmenden Wissenschaftlern geht der Name
»Berlin« auf die slawische Silbe »berl« zurück.
Und die bedeutet »sumpfig« oder »Sumpf«!
Womit die oben angeführte, flapsige Aussage angesichts
des vorgefundenen Sumpfes: »Hier siedeln doch nur wel-
che, die nicht ganz dicht sind!« der unbekannten intelligen-
ten durchziehenden Emigranten posthum bestätigt wird.
Schon vor vielen Jahrzehnten setzte sich diese Erkenntnis
in dem Gassenhauer durch:
»Du bist verrückt, mein Kind, Du mußt nach Berlin!
Wo die Verrückten sind, da gehörst Du hin!«

Der »gesunde Menschenverstand«, langweilig aber wohltu-


end, ist etwas, das man in der deutschen Politik, der deut-
schen Wirtschaft und in dem deutschen Erbbeamtentum seit
Berliner Zeiten nicht mehr antrifft, weil dauerhaft abwe-
send.

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Vor Entsetzen geflohen?
Immer wieder war Berlin Treffpunkt und Rückzugsraum
derjenigen, die für ihre jeweiligen Vater- und Mutterländer
einfach zu verrückt waren und vor die Wahl gestellt wur-
den: Entweder geschlossene Anstalt bei ihnen oder offener
Vollzug in Berlin. Und alle wählten Letzteres. Denn sie
waren zwar verrückt, aber eben nicht blöd.

Auch unsere allseits verehrten Staaten- und Schlachtenlen-


ker, die im »Sumpf« seit 1900 überschnappten, legen den
Wunsch nahe, die Geschichte hätte sich eine andere deut-
sche Hauptstadt ausgesucht.
Badenweiler zum Beispiel. 47° 48' 6.12« nördlicher Breite,
7° 40' 19.92" östlicher Länge.

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Die Anschläge

»Noch jemand eine Frage?«

Diese Frage war rhetorisch gemeint, aber nicht zu dem


Zweck, eine Verneinung zu hören. Nein, niemand hätte auf
all diese drängenden, auf der Zunge liegenden Fragen eine
Antwort geben können. Je nach Phantasie und Tempera-
ment gaben die Gesichter der im Sitzungszimmer versam-
melten sechs Bundestagabgeordneten Furcht, Unglauben,
Panik, Ekel und Gehirnleere wieder.
Der Sitzungsraum war klein und zweckmäßig mit allem
Komfort eingerichtet. Er war fast gemütlich und heimelig
zu nennen. Bis vor einer Stunde hatten sie sich hier auch
alle sehr wohl gefühlt. Doch das war mit dem einsamen
Besucher schlagartig vorbei gewesen. Ein Räuspern durch-
brach die Stille.
»Hunderte, Frau Schütte!«
Sie schob mit versteinerter Miene ihre Unterlagen zusam-
men und wandte sich an ihren nicht unsympathischen
Nachbarn zur Linken.
»Herr Doktor Rotter?«
Der sonst untadelige Herr Doktor hatte seine Krawatte
gelockert und schob den Knoten hin und her. Auf so was
hatte ihn niemand vorbereitet. Er hatte in Haftungsrecht
promoviert, von Märchen und Sagen und Spinnereien wuß-
te er nicht das Geringste. Und wollte davon auch nichts
wissen.
»Ich muß erstmal eine Nacht darüber schlafen. Es ist …, es
wäre … ungeheuerlich!«
Auch die anderen Personen im Raum hatten sich in der
letzten Stunde je nach Naturell verändert und sahen auch in
dem sanften Licht älter als vorher aus.
»Wir sollen seit 60 Jahren nichts davon wissen? Absoluter
Quatsch! Wenn es wahr wäre, eine Katastrophe. Wenn es

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denn wahr wäre! Ich muß sagen, ehrlich, ich glaube kein
Wort davon! Hört sich an wie ein Märchen aus »Tausend-
undeine Nacht« ohne Sex!«
Die resolute jüngere Frau war durch die Informationen, die
sie nicht verarbeiten konnte, noch aggressiver geworden.
Sie griff sonst immer an! Aber wen sollte sie jetzt angrei-
fen? Ihre Mitstreiter waren genauso geschockt und un-
schuldig wie sie! Ihre Aggression wandelte sich in Frustra-
tion um. Und machte sie noch aggressiver.
»Falls, Frau Klein-Westen, falls! Frau Klein-Westen ist
skeptisch wie immer. Allerdings muß ich zugeben, auch
mir fällt es schwer, das alles zu glauben. Eine unbekannte
Gruppe? Wächter? Es würde diese Republik verändern. Es
würde Europa verändern! Aber stimmt es denn auch? Wir
können doch nicht einfach Alles und Jedem glauben. Mär-
chenstunde im Bundestag. Das geht nicht.«
Der etwas dickliche junge Mann hatte bereits für sich die
Auswirkungen analysiert, aber noch nicht die Information
an sich. Klar würde er der Superstar seiner Partei werden,
aber nur, wenn er den Wahrheitsgehalt der Aussage ihres
Besuchers mit handfesten Beweisen belegen konnte.
»Herr Nolden, wir alle werden morgen unsere Kontakte
über unseren geheimnisvollen Besucher vorsichtig befra-
gen. Einfach nur allgemein gesprochen befragen. Keine
Andeutungen, was wir wirklich hören wollen. Wir brauchen
zwar Beweise, aber … erstmal sondieren. Ob wir den Aus-
künften glauben, bereden wir am Wochenende. Bis dahin
sollten wir das Thema ruhen lassen.«
Sven Buchner faßte sich an die Brust und atmete schwer.
Man sah ihm an, daß die Situation ihm schwer zusetzte.
Sein Gesicht war fahl, fast leichenblaß und mit einem dün-
nen Schweißfilm überzogen. Er zündete sich die wohl zehn-
te Zigarette in einer Stunde an. Auch drei andere hatten bei
ihm Zigaretten geschnorrt. Niemand kümmerte sich um das
Rauchverbot!
»Herr Graf, wir müssen uns mit einer Entscheidung Zeit
lassen. Glauben wir es, und es stimmt nicht, machen wir

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uns alle für alle Zeiten zum Narren. Allerdings war er sehr
überzeugend, nicht wahr? An unseren Reaktionen sieht man
doch, daß wir ihm glauben! Hat einer der Anwesenden eine
Erklärung dafür, warum ausgerechnet wir die Ansprech-
partner sind?«
Auch der am nachlässigsten Bekleidete der Runde hatte
einiges seiner sonst naßforschen Art verloren. Ja, er wirkte
etwas verloren, weil er zum ersten Mal in seinem Leben
keine schnelle Einschätzung treffen konnte. Das hier war
doch was anderes als Startbahn West. Er hätte sonst was
dafür gegeben, wenn er jetzt mit einem Stein hätte werfen
dürfen. Aber auf wen bloß?
»Weil er uns vertraut? Aber stimmt es, was er sagt, und wir
unternehmen nicht sofort etwas, sind wir noch größere
Narren. Nein, wir machen es so, wie es Herr Graf vorge-
schlagen hat. Morgen vorsichtig sondieren, übermorgen
treffen wir uns hier wieder und tauschen uns aus, und am
Wochenende entscheiden wir uns, wenn uns der Besucher
mit seinen schriftlichen Unterlagen wieder beehrt. Und kein
Wort zu irgendjemandem! Auch nicht zu unseren Partei-
und Fraktionskollegen. Gerade zu denen nicht! Einen Feh-
ler und wir können unsere politischen Karrieren dauerhaft
begraben. Einverstanden?«

Das allerdings war ein schlagendes Argument! Ihre ge-


meinsamen Karrieren. Mühsam aufgebaut, durch Dutzende
unangenehmer Mühlen gelaufen, sein Gewissen getötet,
Moral und Ethik von sich geworfen, sich selbst in Hunder-
ten von Situationen verleugnet, das setzt man so nicht
leichtfertig aufs Spiel. Es spielte keine Rolle, daß sie sehr
unterschiedlichen politischen Richtungen angehörten. Denn
das war nur oberflächlich. Sie mußten noch viele Jahre
miteinander auskommen, so wie es aussah, und das
schweißte sie zusammen. Auch waren Parteiwechsel mit
hohen Monatswechseln durchaus an der Tagesordnung.
Man denke an einen Rechtsanwalt, der der DKP nahe stand,

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den GRÜNEN beitrat, zur SPD wechselte und eine Politik
der NSDAP durchpeitschte. Völlig normal!

»Für das Protokoll: Damit ist unsere heutige Sitzung ge-


schlossen. Ich wünsche noch einen guten Abend. Außerhalb
des Protokolls: Haben wir Übereinstimmung erzielt, wie
wir in dieser Angelegenheit weiter verfahren?«

Jeder murmelte seine Zustimmung, noch ganz erschlagen


von dem Gehörten. Sie verließen den Raum gemeinsam.
Und jeder hing seinen mehr oder weniger unerfreulichen
und hilflosen Gedanken nach. Je nach Naturell.

Er, der Primus Custos, wäre ein hervorragender Richter


geworden. Ein Richter, der Recht gesprochen und jede
Form von Ungerechtigkeit abgelehnt hätte. Der ohne Be-
weise der Schuld niemanden verurteilt hätte.
Der Indizien als Konstrukte verworfen hätte. Er zitierte
privatim gerne Georg Büchner: »Die Justiz ist in Deutsch-
land seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten.«
Na, da dürfen wir aber wirklich froh sein, daß es heutzutage
nur noch so wenige Fürsten gibt! Oder wie ist das gemeint?
Er war allerdings auch vom biblischen Gedanken der Rache
beseelt. Wie altertümlich und überholt! In der heutigen Zeit
spielt Rache nur bei politischen Prozessen eine Rolle. Wenn
ein schlichter Betrüger tausende Familien ins Elend stürzt,
Selbstmorde verursacht, die Zukunft von Kindern zerstört,
wen interessiert es? Nach sechs Jahren ist der Betrüger
wieder draußen und lebt lustig und in Freuden von dem
ergaunerten Geld aus seinem Schweizer Konto. Denn er
hält im Gefängnis auf gute Führung. Weil, er ist ja schließ-
lich kein Verbrecher!

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Nein, er wäre ein Richter in der Tradition von Salomon.
Der also leider nicht nach Recht und Gesetz, sondern nur
nach Recht ohne jedes Hintertürchen geurteilt hätte. Er
hätte keine 100.000 Paragraphen benötigt, ohne die unser
Rechtswesen nicht auskommen zu können meint. Die Zehn
Gebote wären ausreichend gewesen. Auch für das Volk!
Wenn Gott 100.000 Gebote erlassen hätte, würde Moses
heute noch die Tafeln den Berg runterschleppen!

Für ein Staatswesen wie unser Aktuelles wäre er also kein


guter Richter geworden.

Eine unserer Rechtsmaximen lautet: »Unwissenheit schützt


vor Strafe nicht!«
Lächerlich! Nicht ein Jurist in Deutschland kennt alle
100.000 Paragraphen auswendig. Nicht ein Amtsrichter,
nicht ein Oberstaatsanwalt, nicht mal ein Bundesverfas-
sungsrichter! Also, wie soll ein Bäcker oder Rentner diese
auswendig kennen und sich danach richten können? Jeder
deutsche Bürger verstößt ununterbrochen gegen irgendwel-
che geheimnisvollen Gesetze und Verordnungen, die er
garnicht kennt. Ist das etwa gewünscht? Ist das Absicht?
Noch nie in der deutschen Geschichte war es so lohnend
und ungefährlich, ein Verbrecher zu sein. Noch nie in der
deutschen Geschichte wurden die Opfer so vielfältig be-
straft. Noch nie in der deutschen Geschichte war es so
leicht, bei Bedarf für etwas verurteilt zu werden, was man
einfach nicht wußte. Die Profiverbrecher in allen Etagen
freuen sich.
Sicher muß der Bürger vor seiner Verurteilung als unschul-
dig gelten. Aber nach seiner Verurteilung geht er sämtliche
Bürgerrechte verlustig. Hafturlaub, Bewährung und »gute«
Prognosen sind einfach lächerlich! Lächerlich bis zur

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Rechtsbeugung sind auch Geldstrafen. Die sind eine einsei-
tige Bevorzugung der Reichen und eine zusätzliche Bestra-
fung der Armen. Vor dem Gesetz sind alle gleich! Da haben
wir aber eine schöne Gleichung: Freiheit gleich Geld! Die-
ses Gesetz wurde schlicht und einfach von den Reichen
bestellt! Wie aus einem Katalog. Kriminelle Manager wer-
den nie ins Gefängnis geschickt. Sie kaufen sich mit Euro
500.000 einfach frei. Großartig, Deutschland! Das stärkt
doch den Kinderglauben an das Recht.
Es erschlägt einen immer wieder, wie gummiartig Recht auf
diesem Planeten praktiziert wird. Ist denn Recht oder Un-
recht nicht universell? Warum kann chinesisches oder japa-
nisches Recht nicht in Frankreich angewendet werden?
Oder Schweizer Recht in Deutschland? Weil diejenigen, die
die Gesetze für sich bestellen, dann kein Hintertürchen zum
Rauswinden mehr hätten?

Ja ja, der Homo ist noch weit von sapiens entfernt!

Wut war immer ein schlechter Ratgeber. Aber der Custos


konnte einfach nicht an sich halten. Es war eine besin-
nungslose Wut. Eine blind machende Wut. Er hyperventi-
lierte vor Wut. Plötzlich ging sein Blick zu einer ältlichen
Putze in der geöffneten Tür. Ohne daß es ihm bewußt wur-
de, kamen aus seinem Mund die knurrenden Töne eines
Raubtieres, das unmittelbar vor dem Angriff stand. Zum
allerersten Mal war jemand zum Verräter an ihrer Sache
geworden. Die Gründe waren höchst gleichgültig. Es gab
hierfür keine! Sie waren in jedem Fall verwerflich. Und
dieser miese kleine Verräter brachte die Sache und die
Gruppe und auch ihr Land in höchste, in allerhöchste Ge-
fahr. Nur wenn er schnell handeln würde, konnte er die
Gefahr noch kontrollieren. Für Rücksprache und Beratung

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war es für ihn zu spät. Was wäre auch die Alternative? Man
konnte es nur so machen, wie er es vorhatte. Aber auch so
hatte er als Primus alle Befugnisse.
Und um die ältliche Putze, die ihn mit weit aufgerissenen
Augen beobachtet hatte, würde er sich später kümmern.
Er verließ ungesehen das Gebäude, besorgte sich an einem
Kiosk Kleingeld und Telephonkarten, setzte sich eine
Schlägermütze auf und fuhr mit dem Bus der Berliner Ver-
kehrsbetriebe zum Bahnhof Zoo.
In dem Gewimmel der Reisenden und Gestrandeten fiel er
absolut nicht auf. Er suchte sich einen Münzfernsprecher
und rief die erste Nummer im Ausland an. Seine umfassen-
den Sprachkenntnisse und seine sagenhaften Verbindungen
kamen ihm nun mal zugute. Er erteilte dem Gesprächspart-
ner genaue Instruktionen mit Namen und Orten und der
Bezahlung. Er heuerte einige Auftragskiller an. Geld stand
ihm ohne Ende zur Verfügung. Er ging zu einem Karten-
fernsprecher und engagierte die nächsten Killer.
Insgesamt sieben feste Aufträge vergab er nach diesem
Modus an zwei unterschiedliche »Killer-GmbHs« weit im
Osten. Und die wären morgen bereits in der Stadt. Oder
sogar schon heute. Vielleicht waren sie schon in Berlin und
wohnten dort?
Natürlich ging er ein enormes Risiko ein, aber mit etwas
Glück würde alles in Ordnung kommen. Denn er wußte, die
Aufklärung dieser Morde würde für die Polizeiorgane sehr
problematisch werden. Bei dem letzten Fernsprecher ließ er
die Telephonkarte einfach stecken. Wenn sich die Karte
irgendjemand unter den Nagel reißen würde, war seine Spur
verwischt.
Und hier trieben sich genügend Drogenabhängige herum,
die jeden Cent gebrauchen konnten.
Tief in Gedanken stieß er mit einer unförmigen Gestalt
zusammen, die unter ihrem Mantel eine Soutane trug. Auch
wenn er eben den fast unchristlichen Auftrag vergeben
hatte, unschuldige Gotteskinder vom Antlitz dieser Erde zu

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tilgen, murmelte er automatisch als guter Christ und Gläu-
biger: »Gelobt sei Jesus Christus!«
Pastor Ambrosius antwortete ebenso automatisch: »In
Ewigkeit, Amen.«
Beide gingen ihrer Wege in entgegengesetzten Richtungen.

Der Custos kehrte ungesehen und unbemerkt zurück. Seine


Arbeit wartete, und er hatte noch viel zu tun.
Und am Abend mußte er noch die vereinbarten toten Brief-
kästen bestücken.

Jetzt war Schnelligkeit gefragt. Je eher seine Aufträge aus-


geführt wurden, desto größer war die Chance, daß sein
Geheimnis auch ein Geheimnis blieb.

Pastor Ambrosius hatte die kleine Rempelei sofort wieder


vergessen. Er kaute voller Wut auf einem nichtlösbaren
Problem herum. Pastor Ambrosius war eine barocke große
Erscheinung von 140 Kilogramm auf 190 Zentimeter, und
man sah ihm seine Lebensfreude an. Gutes Essen und edles
Trinkbares in seiner Nähe überlebten nicht sehr lange. Und
seine Haushälterin siezte er außerhalb des Schlafzimmers.
Doch jetzt hatte ihm eine Erbschaft sein schönes Leben
vergällt. Zwölf Millionen Euro! ZWÖLF MILLIONEN!
Damit hätte er zurück in sein geliebtes Tölz gedurft. Denn
so richtig freiwillig war er in diesem gräuslichen Berlin
nicht. Unter den Heiden zu weilen, war eine Strafe, die ihm
sein Bischof auferlegt hatte. Mit zwölf Millionen wäre er
der neue King beim Bischof gewesen. Nun aber nervte ihn
der Sekretär seines Bischofs täglich per Telephon. Er solle
es endlich tun. Aber er wollte nicht! Oder er wußte nicht,
ob er wollte. Nein, er wollte nicht!

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»Freunde! Pah, Herr im Himmel, schick’ mir Feinde, keine
Freunde!« grantelte er. Aus heiterem Himmel wurde er von
der Seite angenegert.
»Hasse ma ne Maak für mich?«
Aber Pastor Ambrosius wollte partout nicht in seinen Ge-
danken unterbrochen werden und schob »Birne«, den klap-
perdürren Junkie, mit einer kräftigen Rückhand zur Seite.
»Birne«, mal wieder voll auf dem Trip, flog auf die sich
bewegende Rolltreppe. Für einen kurzen Augenblick glaub-
te er Raum und Zeit überwunden zu haben, weil er nicht
mitbekommen hatte, wie er eigentlich auf die Rolltreppe
gekommen war. »Birne« wunderte sich. Er war ein ehema-
liger Alkoholiker, den aber durch das ewige Flaschen- und
Dosenschleppen ein schwerer Bandscheibenvorfall vom
Alkohol abgebracht hatte. Nun hatte er ganz andere Visio-
nen.
Pastor Ambrosius war aber mit ausgreifenden Schritten
schon längst weiter. »Beelzebub, schmor in der Hölle!« rief
er mit seiner Stentorstimme so laut, daß einige Passanten
sich erschrocken bekreuzigten.
Hermann Holzer war tot. Und hatte ihn in Vertretung der
katholischen Kirche zum Universalerben eingesetzt.
»So eine Drecksau!« schimpfte er vor sich her. Er hatte mit
Holzer so manches opulente Mahl geteilt und nicht uninter-
essante Streitgespräche geführt. Mit einem hartleibigen
Atheisten. Mit einem Heiden! Holzer hatte ihm maliziös
prophezeit, daß sein katholischer Gott sich einen Scheiß-
dreck drum kümmern würde, wenn er, Pastor Ambrosius,
sich gegen sein Gewissen und seine Überzeugung entschei-
den müßte. Er sah noch Holzers fettes Grinsen vor sich.
Nun hatte er geerbt. Doch da war noch eine kleine Klausel!
Pest! Er würde sich ewig zum Deppen machen, wenn er
diese Klausel erfüllte.
»Mephisto Holzer, hoffentlich bist Du zuhause im ewigen
Fegefeuer!«

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Pastor Ambrosius war ratlos. Erstmal mußte er was essen.
Dann brauchte er Rat. Aber guter Rat war hier wirklich
teuer.

Bernd Fischer saß in der Dunkelheit auf einer Holzkiste in


seiner nunmehr leeren Wohnung und trank aus seinem
ehedem reichlichen Weinvorrat einen sündhaft teuren alten
Bordeaux, langsam zwar, doch war er ohne rechten Genuß
bei der Sache. Die der Gardinen beraubten Fenster ließen
von unten das bunte Flackerlicht der Straße hinein, das
reizvolle Kringel auf dem gepflegten Parkett hin und her
zauberte.
Er hob sein Glas.
»Hersslichen Dank, Du Scheiß-Berlin, hersslichen Dank,
Du Scheiß-Deutschland! Isch trink drauf, daß ihr das glei-
che Scheiß-Schicksal bekommt wie isch«, murmelte er.
Sicherlich waren solche Trinksprüche äußerst albern, aber
er war ja auch nicht mehr ganz nüchtern.
»Morgn mach isch Euch breit, Ihr Ärsche. Morgen seitter
fällich!«
Es war der letzte Abend in seiner wunderhübschen 210-qm-
Eigentumswohnung, und von dem teuren Wein hatte der
Gerichtsvollzieher keine Ahnung gehabt. Fischer war wirk-
lich eine bemitleidenswerte arme Sau, allerdings eine
brandgefährliche. Er stand kurz vor einer dauerhaften Gei-
steskrankheit und hätte dringend professionelle Hilfe benö-
tigt. Zwar fühlt sich der Staat mit dem Brustton der Über-
zeugung als Vormund und eigentlicher Eigentümer von
Fischers Geld, aber doch nicht für seine seelische Gesund-
heit zuständig. Da muß jeder selber mit klarkommen! Die
Entmündigung eines Volkes geht nie so weit, daß der Staat
dafür Geld aufbringen muß! Das darf der Bürger selber tun.
Geld, das ja von Rechts wegen sowieso dem Staat gehört,

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notwendigerweise leider dem Erarbeiter wegzunehmen,
sicher! Immer! Niemand auf diesem Planeten hat je gehört,
daß Politiker das Volk aufforderten, den Gürtel mal zu
lockern. Aber ununterbrochen enger schnallen, das kommt
jedem bekannt vor!
Nur, irgendwann stirbt der Steuerzahler an dem engen Gür-
tel und an Unterernährung. Während der Staat dick und fett
und bräsig den Beamteninfarkt erleidet.

Alles hat immer seine Ursache. Jedes Verbrechen, jede Tat,


jede Bewegung, jede Emotion, jede Materie, einfach alles.
Als nach dem angeblich stattgefundenen Urknall die ersten
zwei Atome gemeinsam beschlossen, ein Molekül zu bil-
den, war Fischers Schicksal besiegelt. Aber schätzungswei-
se war das schon vor dem Urknall besiegelt.
Der Begriff Urknall allerdings erklärt nichts! Aber er hört
sich so schön griffig an. In Wirklichkeit sagt er nur: Kuh
kriegt Kalb, Kalb wird Kuh, Kuh kriegt Kalb. Immer wie-
der von Vorne. Und was lernen wir daraus? Richtig, nichts!
Oder die unkontrollierbaren Preßlufthammerburschen von
CERN bei Genf. Irgendwann sprengen die mal die Welt in
die Luft!
Sie zerlegen Atome und finden die Protonen, und innerhalb
der Protonen finden sie Quarks. Und Sub-Quarks, und Sub-
Sub-Quarks. Angebliche Elementarteilchen! Sie suchen das
Gottesteilchen, und mit etwas Pech werden 6,5 Milliarden
Menschen zu Gottesteilchen. Puff!
Das ist so fortschrittlich, als ob man einem Kleinkind einen
Hammer und eine Uhr gibt und sagt: Erforsche mal, wie die
Uhr funktioniert. Man erhält immer kleinere Einzelteile,
aber man entfernt sich auch immer mehr von der Funkti-
onsweise der Uhr. Toll!

23
Oder die Popstars der Physik. Albert Einstein, der am Mei-
sten angehimmelte Physiker der Weltgeschichte. Der hat ja
nun Alles und Jedes entdeckt. Inklusive Backpulver und
Duftbaum. Hat er?
Noch heute werden »seine Erkenntnisse« passend gemacht,
damit kein Stäubchen auf seiner makellosen Weste er-
scheint.
Allerdings….. seine erste Frau Mileva Einstein-Maric, eine
serbische Bauerntochter, die intensiv mit ihm zusammenar-
beitete und wahrscheinlich alle Theorieentwürfe selbst
erarbeitete, hat ihm seine Nobelpreise geschenkt, um es mal
nett auszudrücken. Da kommt bei einigen aber das Weltbild
durcheinander. Eine Frau soll diese angeblich genialen
Ideen gehabt haben? Eine Bauerntochter? Gar eine Serbin?
Jetzt kommt aber die Keule, von Denkmäler anpissen und
so, und zwar sofort!
Und echte Titanen der fortschrittlichen Physik, Fast-
Zeitgenosse und ebenfalls Nobelpreisträger, Heisenberg,
der die Grundlagen des gesamten heutigen Fortschritts mit
der Quantenmechanik und der Heisenbergsche Unschärfe-
relation legte, sind mangels Starkult fast vergessen.
Und dann noch die Ikone Stephen Hawking. Frauen sollen
ihm tatsächlich Babys bringen, damit er sie berührt! Seg-
net? Ein neuer Jesus?
Nur weil jemand im Rollstuhl sitzt, muß er nicht intelligent
sein! Kennen wir doch von unseren Politikern.
Wer seine Bücher mit den abstrusen widersprüchlichen
Theorien überfliegt, bewundert die Frechheit seiner Be-
hauptungen, aber sonst nichts. Und ehe ein Neidvorwurf
aufkommt: Neidisch sein auf jemand im Rollstuhl? Ich bitte
Sie!
»Eine kurze Geschichte der Zeit« kann ganz kurz gehalten
werden: Es gibt keine Zeit!
Zeit ist eine von Menschen erfundene Hilfskonstruktion,
um unser fehlerbehaftetes Nervensystem zu kompensieren.
So wie wir 24 Standbilder in einer Sekunde als »Bewe-
gung« wahrnehmen. Bis heute gibt es kein elektronisches

24
analoges Aufzeichnungsgerät für Bilder, wie es z. B. unser
Gehirn aufzeichnet! Egal, Zeit.
Haben Sie denn schon einmal einen Zeitreisenden getrof-
fen? Was denn, nein? Da gibt es doch nur zwei Möglichkei-
ten: Entweder wird aus oben genannten Gründen – es gibt
keine Zeit - die Zeitreise auch in einer Million Jahre nicht
erfunden, oder die Menschheit stirbt vorher aus. Punkt.
Nicht die Zeit vergeht, sondern wir und unsere Umgebung
vergehen. Ja, wir haben Digitaluhren. Aber nur, damit wir
pünktlich zur Arbeit kommen. Nicht zum Nachweis der
Zeit.

Bernd Fischer besaß einmal einen kleinen Metallbaubetrieb


mit 12 Mitarbeitern. Seine Arbeit war gut, seine Preise
normal, alles lief, wie es sollte. Reichtümer konnte man
nicht erwerben, aber man konnte ein anständiges Dasein
ableben. In einer kurzen Auftragsflaute nahm er eine Arbeit
für die Stadt Berlin an. Immerhin eine Arbeit im Wert von
über einer Million Euro.
Die ersten vereinbarten Abschlagszahlungen kamen pünkt-
lich, doch dann stotterte der Geldfluß. 500.000 Euro Au-
ßenstände von der Stadt Berlin kamen nicht und kamen
nicht.
»Wir kümmern uns darum«, behauptete der zuständige
Sachbearbeiter. »Wir machen richtig Dampf, daß die Zah-
lungen rausgehen!«
Nun gab es aber eine mündliche Dienstanweisung unter
vier Augen, daß die bankrotte Stadt Berlin Zahlungen so
lange wie nur irgend möglich hinauszögerte.
Fischer war so naiv und ehrlich, daß er die kommunalen
Ausflüchte mit Haut und Haaren schluckte.
Da kam eines Tages nur kurze Zeit später das Finanzamt zu
ihm und verlangte vierteljährliche Steuervorauszahlungen

25
in Höhe von 100.000 Euro. Seine Hausbank hob entsetzt
die Hände, als er eine Erhöhung seines Revolving Kredits
beantragte. Sie hätten nun sowieso schon schwerste Beden-
ken, weil seit Wochen keine nennenswerten Eingänge zu
verzeichnen gewesen wären.
Fischer sagte dem Finanzamt, er könne noch nicht zahlen
aber er hätte große Forderungen an die Stadt Berlin.
»Die Stadt Berlin und die Berliner Finanzbehörden sind
doch im Grunde genommen ein Verein, man kann doch
problemlos das eine mit dem anderen verrechnen!« Und
guckte auf deutsche Art.
Da lachte der Amtsschimmel ganz herzlich, er wieherte
geradezu und ließ nach Ablauf der Frist pfänden.
Bernd Fischer mußte mit einem kerngesunden Betrieb In-
solvenz beantragen.
Zwölf Mitarbeiter, alle Spezialisten und seit vielen Jahren
bei ihm beschäftigt, machten die Flure der Arbeitsagentur
unsicher und nervten dessen weit überforderte und überbe-
zahlte Agenten. Leider waren die zwölf Mitarbeiter zu alt
und zu einseitig spezialisiert, als daß sie neue Arbeitsplätze
hätten finden können. Ja ja, der Älteste war echt schon 48
Jahre alt! Na, was kann so einer denn wohl noch leisten?
Nichts mehr, oder?
Die Kredite bei der Bank konnten nicht mehr bedient wer-
den und wurden fristlos gekündigt.
Seine große, aber erst zu 60 % bezahlte Eigentumswohnung
wurde unter Zwangsversteigerung gestellt. Ein Käufer war
in Aussicht. Später sollte es sich herausstellen, daß der
Käufer die Frau des Bankfilialleiters war, dem diese große
Wohnung sehr gut gefiel. Und zu dem veranschlagten Preis
gefiel sie ihm und seiner Frau immer mehr. Man konnte
schon so seine Schnäppchen machen, wenn man an der
Quelle saß, und alles unter Kontrolle hatte.
Jedenfalls blieb Bernd Fischer auf ungefähr 150.000 Euro
Verbindlichkeiten sitzen. Seine Ehefrau wollte nicht unbe-
dingt die vom Pastor beschworenen schlechten Zeiten mit-
machen und verließ ihn mit den 15- und 17jährigen Kin-

26
dern. Wärme und Sonnenschein und Champagner sind
einfach angenehmer als naßkalter Schnee und Kräutertee.
Natürlich sollte Bernd Fischer auch Unterhalt in normaler
Höhe bezahlen, was er jedoch auch nicht konnte.
Die ausstehenden 500.000 Euro waren zwischenzeitlich
Thema vor Gericht, doch da die Stadt Berlin eine einmalige
Gelegenheit sah, das Geld behalten zu können, wurde über
Reklamationen seine geleistete Arbeit madig gemacht.
Bernd Fischer hatte also summa summarum die Faxen
derartig dicke, daß er beschloß, denen, die durch Gesetze so
etwas zuließen, mal zu zeigen, was eine Harke ist.
Fischer wollte töten. Töten!

27
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
18 Uhr 12

Klara Schütte hatte es, wie immer, eilig. Die »eilige Klara«,
wie sie die Kollegen nannten. In Wirklichkeit meinten sie
jedoch die »heilige Klara«, wegen ihres Gerechtigkeits-
fimmels.
Doch in der U-Bahnstation Tiergarten herrschten Zustände
wie nach einem Rockkonzert. So drängelte und schob auch
sie sich durch die Menge und stellte sich so hin, daß sie in
den letzten Wagen einsteigen konnte.
Der alte Mann zwei Reihen hinter ihr hob langsam seinen
Spazierstock waagerecht in Hüfthöhe. Die U-Bahn war
schon von weitem zu sehen. 50 Meter…30 Meter. Mit ei-
nem extrem kräftigen Stoß des Spazierstockes auf Klara
Schüttes Wirbelsäule katapultierte der alte Mann sie 10
Meter vor dem heranrasenden Triebwagen auf die Gleise.
Als die Bremsen kreischten, war Klara Schütte schon mehr-
fach tot.
Der alte Mann ließ einfach den Spazierstock fallen, drehte
sich um und ging seitwärts zur Rolltreppe, als der kollekti-
ve Schrei des Entsetzens durch die Station hallte.
Während sich die ersten Unglückszeugen übergaben, ver-
wandelte sich der alte Mann in einen ganz normalen jünge-
ren Passanten.

Im Zuge der Ermittlungen war von ihm niemals die Rede.

28
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
18 Uhr 14

»Bommi« Graf war, wie mittwochs üblich, mit dem Fahr-


rad auf dem Weg zur »Molle«, seinem Kreuzberger Lieb-
lingslokal. Obwohl das Wetter durchaus passabel war, ver-
fluchte er sein mühsam aufgebautes Image als notorischer
Radfahrer. Seine Partei bestärkte ihn in seinem Spleen,
denn die Journalisten berichteten regelmäßig wieder über
ihn und sein Fahrrad, und damit auch über die Partei, doch
mit dem fortschreitenden Alter verlangte die Bequemlich-
keit immer nachdrücklicher ihr Recht.
Seine Knie wollten nicht mehr so recht, und bei so einem
Wetter fror er. Während er nach einer Möglichkeit des sich
Drückens und nach einem Imagewechsel suchte, röhrte
hinter ihm ein Lkw-Motor in voller Beschleunigung.
»Bommi« Grafs letzter Gedanke galt dem Scheißfahrrad,
das er nie wieder fahren würde.

LKW und Fahrer wurden zwar gesucht, aber nicht gefun-


den.

29
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
18 Uhr 18

Dr. Friedhelm Rotter machte das, was er gewohnheitsmäßig


als Erstes tat, wenn er nach Hause kam. Er ging mit seinem
Rauhaardackel Berthold spazieren. Genau auf der Hälfte
ihres Weges machten sie auf der Eisenbahnbrücke jedes
Mal eine wohlverdiente Pause, in der Dr. Rotter seinem
verbotenen Laster frönte und sich eine gute Zigarre anzün-
dete. Der Arzt konnte ihn mal. Berthold knurrte leise, als
zwei Männer sich laut unterhaltend näher kamen. »Du Feu-
er?« fragte der eine. Noch während Dr. Rotter in seiner
Tasche nach den Streichhölzern suchte, zerrten ihn die
Männer drei Meter weiter. Dort war ein Seil an der Stahl-
konstruktion befestigt. Der eine Mann zog ihm flink eine
Schlinge über den Kopf und zog sie fest. Blitzschnell bück-
ten sich die Männer und hoben Dr. Rotter an den Schuhen
über die Brüstung. Als das Knackgeräusch eines brechen-
den Astes ertönte, gingen sie weiter.
Berthold blieb winselnd zurück.

Man vermutete Selbsttötung wegen Überarbeitung.

30
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
18 Uhr 23

Die Evolution hat kein Herz für Diabetiker, dachte Heinz


Nolden, als er sich seine Spritze unter die Bauchhaut setzte.
Das Haus war leer, seine Frau besuchte mit den Kindern
ihre Eltern, und er hatte diesen Abend noch Einiges zu tun.
Der dunkle Schatten im Hintergrund blieb unbemerkt, bis er
lautlos vor ihm auftauchte und seinerseits eine Spritze in
Noldens Bauch setzte. Heinz Nolden war dermaßen über-
rascht und erstarrt, daß er an Abwehr garnicht dachte.
Der Schatten trat zurück und wartete, bis die Atmung seines
Opfers aussetzte. Nachdem er seine Spritze entfernt hatte,
verließ der Schatten das Haus unbemerkt durch die Ein-
gangstür und verschwand in der Dunkelheit.

Es war allen unverständlich, wie sich Heinz Nolden verse-


hentlich eine Überdosis spritzen konnte.

31
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
18 Uhr 26

Beate Klein-Westens einzige Freizeitfreude war ihr BMW


M5. Sobald sie auf der Stadtautobahn war, trat sie etwas
mehr auf das Gaspedal. Als der Bolide 120Km/h erreichte,
flog von einer winzig kleinen Plastikkonstruktion an der
Einspritzpumpe ein Stopfen weg, und Benzin verteilte sich
als Sprühnebel im Motor- und Fußraum. Das heiße Aus-
puffrohr am Motor genügte, um aus dem BMW einen
Flammenvogel zu machen. Beate Klein-Westen sah nur
noch Flammen vor ihren Augen, spürte kurz die sengende
Hitze und verriß in Todesangst mit einer unwillkürlichen
Bewegung das Lenkrad, und für die entsetzen Zuschauer
auf der Stadtautobahn schoß eine feurige Lohe die Bö-
schung herauf und hob wie im Sensations-TV ab.
Den Aufprall der Landung spürte sie schon nicht mehr.
Beate Klein-Westen war zwischenzeitlich an ihren verseng-
ten Lungen erstickt. Sie verbrannte in dem Wrack so gründ-
lich, daß der Pathologe Schwierigkeiten hatte, verbranntes
Plastik vom verbrannten Fleisch zu trennen.

Der TÜV untersuchte im Auftrag der Familie noch einmal


das Wrack und attestierte, daß unglückliche Umstände zu
diesem Unfall führten.

32
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
18 Uhr 30

Sven Buchner war gestern mit einem schweren Herzinfarkt


mit Blaulicht und Musik ins Krankenhaus gebracht worden.
Nun lag er auf der Intensivstation der Charité und hatte eine
ziemlich gute Prognose, durchzukommen.
Die Besuchszeit war vorbei, und auf der Intensiv hatte
sowieso nur das Personal etwas zu suchen. Einer der Män-
ner in Grün las die Monitore ab, eine Schwester wechselte
die Infusion. Der Alarm im Nachbarbett schreckte beide
hoch. Die Schwester lief aus dem Zimmer, und der Mann in
Grün schob aus einer Spritze drei Kubikzentimeter Luft in
den Infusionsschlauch über der Hand. Als die Schwester
mit zwei Ärzten wieder zurückkam, hatte der Mann das
Zimmer bereits verlassen. Sven Buchner aber war tot.

Bei einem schweren Herzinfarkt weiß auch der beste Arzt


nicht, wie es ausgeht.

33
Absurdistan, Altötting, Mittwoch, der
16. November, 20 Uhr 38

Josef Eilers hatte gesündigt. Als tiefgläubiger Mensch, dem


Gott ein tägliches Bedürfnis war. Er hatte grenzenloses
Vertrauen von integren Menschen mißbraucht. Er war ein
Verräter aus späten Gewissensgründen und fühlte sich
dementsprechend als Judas.
In der zweitürmigen gotischen Stiftspfarrkirche St. Phillipp
und Jakob saß er an der gewaltigen Orgel und grübelte über
die ausweglose Zwickmühle seines Daseins. Der Pfarrer
hatte vorhin seine Seelenqual erkannt und ihm vor der Be-
ichte noch Zeit zum Nachdenken gelassen. Josef Eilers
schreckte aus seinen dunklen Gedanken hoch, als ein ande-
rer Priester auf ihn zukam und ihn bat, nun herunterzu-
kommen.
Als sie zur Balustrade kamen, hob ihn der Priester wortlos
und ohne sichtbare Mühe an, und Josef Eilers fiel mit aus-
gebreiteten Armen ohne einen Laut acht Meter tief auf den
Mosaikboden des Kirchenschiffes.
In einem Wallfahrtsort konnte ein weiterer Priester einfach
nicht auffallen. Auch wenn sein Aussehen und sein Äußeres
etwas von der bayerischen Norm abwichen. Aber es gibt ja
auch katholische Priester in Fernost.
Als der örtliche Polizist die Unglücksstelle in Augenschein
nahm, wußte er sofort: Unfall oder Suizid. Aber nichts für
seine Kollegen.
Es reichte schließlich, daß er alleine von der netten Unter-
haltungssendung im Geronten-TV nichts mehr sehen konn-
te. Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst hätten sich bei
ihm aber auch herzlich für die zusätzliche Arbeit bedankt.

34
Absurdistan, Berlin, Mittwoch, der 16. November,
22 Uhr 54

In der Garderobe des Foyers der Oper herrschte ein sagen-


hafter Andrang. Wie jeder weiß, ist eine Oper erst zu Ende,
wenn die dicke Frau gesungen hat. Gott sei Dank hatte sie.
Gerade war das neue Zwölftonmusical »Uckermark zur
Himmelfahrt« zu Ende gegangen, eine Hommage an eine
Ex-FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda und an
die kommenden dumpfen Jubelperserzeiten, und die Cleve-
ren machten, daß sie schnellstens rauskamen, aus der Oper,
noch nicht aus Deutschland, um einen Tisch in einem der
Restaurants in der Umgebung zu ergattern. Ehrlich, das
Schönste an Theater oder Oper ist doch das Essen und
Trinken danach! Außerdem mußten sie unbedingt mit dem
Straßenlärm ihr durch die Atonalität ruiniertes Gehör neu
justieren. Allerlei Prominenz war auf der Jagd nach ihrem
Mantel versammelt, und vor allen Dingen solche, die sich
für prominent hielten. Die wichtigen kommunalpolitischen
Größen waren hier, großzügig mit Freikarten bedacht, für
Übervorsichtige gab es die Karten auch zum Sonderpreis,
so um einen Euro, denn der kaufmännische Direktor der
Oper wollte schließlich weiter die 20 Millionen Euros an
Subventionen einsacken, damit die Reichen und Mächtigen
nicht etwa einen durchkalkulierten Eintrittspreis von etwa
Euro 800 pro Person bezahlen mußten. Nein, nein, schließ-
lich war die Oper vertraglich für »Jedermann« zu besuchen.
Für das Volk! Nur, mit diesem Volk wollte die Prominenz
tunlichst nichts zu tun haben. Es sei denn, das Volk bezahl-
te aus seinen Steuergroschen die Opernsubventionen, damit
sie, die Prominenz, nicht Euro 800 pro Nase zahlen mußten.
Man stelle sich nur mal vor, ein Ministerialdirigent ohne
Orchester neben einem Arbeitslosen! Da hätte man ja für
ganz umsonst belogen und betrogen und geschoben. Und
vielleicht hätte dieser lebensuntüchtige Arbeitslose auch
noch mehr von der Opernkunst verstanden. Wäre gar Aka-
demiker gewesen und hätte mit ihm sprechen wollen!

35
Grauenvoll! Oder der Herr Landrat mit seiner Frau, der
Landratte. Oder der Herr Staatssekretär mit Sekretärin,
nicht seiner Frau. Undenkbar so was! Also war und blieb
man unter sich.
So fiel auch ein festlich herausgeputzter Bernd Fischer in
Promistandarduniform nicht sonderlich auf, als er sein
Stilett Doktor Jens Hartmann von der Seite in die Leber
drückte und Richtung Ausgang verschwand.

Pastor Lüder starrte Bernd Fischer ungläubig nach. Was


hatte er da gesehen? Aber da lenkten ihn seine drei Beglei-
terinnen mit der atemlosen Begeisterung von Idioten für
unverstandenen Dilettantismus von dem Manne ab. Das
wäre doch mal ein Thema für einen interessanten Diskussi-
onsabend der protestantischen Gemeinde, nicht wahr, mein-
ten sie. Der Kontratenor hätte wie Waldi gesungen. Ur-
sprünglich wollte er ja am Brunnen vor dem Tore singen.
Dann ist er aber doch in der Oper geblieben. Pastor Lüder
stöhnte auf. Wo war Gott in solchen Notfällen?

Zufälligerweise, und wirklich nur aus Zufall, war jener Jens


Hartmann der mit der unter vier Augen gegebenen Dienst-
anweisung: »Zahlung hinauszögern bis zum Sankt-
Nimmerleinstag!«
Fast war man versucht, an eine Art himmlische Gerechtig-
keit zu glauben. Als der promovierte Hartmann zu Boden
sank, hatte die Hälfte der Opernbesucher die Oper bereits
verlassen. Unter Ihnen Bernd Fischer.

36
Der Auftrag

Unsere junge Republik verlor spätestens mit der Einführung


der Bundeswehr und der damit verbundenen Änderung des
Grundgesetzes ihre Unschuld. Selbstverfreilich war man
gegen den Krieg! Vehement sogar! Aber das betraf ja wohl
mehr den Letzten, nachdem man ihn verloren hatte, als den
Nächsten. Und eine Wiedervereinigung in den Fünfzigern
unter Wahrung einer Neutralität wäre durchaus im Interesse
Deutschlands gewesen, aber nicht im Interesse deutsch-
amerikanischer Politiker! Und bei der Einführung der Not-
standsgesetze hätte spätestens da der Notstand eintreten
müssen. Es geschah nichts. Nichts? Nichts! Das nahmen die
neuen Verantwortungslosen als freundliche Einladung,
einen farbenfrohen Selbstbedienungsladen namens BRD
aus der Konkursmasse des Deutschen Reiches zu eröffnen.
Ein buntes, lockendes Schaufenster für all die da draußen,
die schillernde Illusion, wie smart die Wähler-West ja nun
in ihren Entscheidungen bei der Wahl der Abgeordneten
wären, das Prassen und Verjubeln für all die da drinnen,
ihre selbst gebastelte und lebensfremde Realität als Volks-
vertreter.
Wie spaßig behauptet wird, faltet ein Zitronenfalter erst
dann Zitronen, wenn ein Volksvertreter das Volk vertritt.
Gerne auch anders herum! Eine Art »contradictio in adjec-
to«. »Sichvertreter« wäre der passende Ausdruck gewesen.
Paul Valéry bemerkte treffend, daß Politik die Kunst ist, die
Leute daran zu hindern, sich um das zu kümmern, was sie
angeht. Und das war ja soo einfach.
Man veränderte und vergewaltigte das Grundgesetz nach
Belieben, nur leider, leider, ein Volksbegehren gab das
Grundgesetz nicht her.
Das war von den Vätern des Grundgesetzes üüüü-ber-haupt
nicht vorgesehen. Bundeswehr war wohl vorgesehen, Not-
standsgesetze, Bespitzelung, Folter vielleicht auch, aber ein

37
Volksbegehren? Es wäre ja noch schöner, wenn das Volk
seinen Willen ausdrücken dürfte! So was stört doch enorm.
Alle existenzbedrohenden Entscheidungen wurden par
ordre de Mufti gefällt. Wobei niemand wußte, wer eigent-
lich der Mufti war!
Es wurde auch klar, daß das Volk keine Rechenschaft ein-
fordern würde, denn die zwei großen Parteien wurden im-
mer wieder gewählt, auch weil sie sich immer ähnlicher
wurden beim Drängen an den Trog.
Es gab nie eine echte Alternative. Die kleinen Alternativen
bestanden entweder aus Pünktchen oder aus alten Naiven,
die man nur als Steuerberater oder Latzhosenfan ernsthaft
wählen konnte.
Dem Volk war es egal, ob Bonsai- oder Brezeldiktatoren
ein Bundesland wie ein Familienunternehmen führten, es
wollte auch nichts von den zahllosen Geheimnissen wissen.
Dreck am Stecken gehörte nun mal zu Politikern wie Flie-
gen auf dem Misthaufen, dachte der Wähler. Er irrte wie
immer und glaubte auf die nette treudoofe deutsche Art
alles.
So also nahmen die Deutschen ihre Politiker ernst. In
Deutschland muß immer alles, aber auch alles ernst ge-
nommen werden. Gerade und besonders der Humor. Hilfe-
stellung bieten TV-Sendungen mit dem programmatischen
Titel »Lachen macht Spaß!«. 1, 2, 3, lustig sein!
Geht man durch eine Fußgängerzone einer Großstadt in
Deutschland und setzt auf griesgrämige Gesichter einen
Euro, kann man in Windeseile reich werden. Wer da lacht,
ist Ausländer, zählt an und für sich nicht und verschwindet
auch bald wieder. Witzig oder unwitzig ist, daß die Deut-
schen gerne jemanden wählen, der so ist, wie sie selbst, und
problemlos die Vorsitzende des Vereines für unterdrückte
Lebensfreude sein könnte. Wenn über 80 % ihren Job und
ihren Chef und ihre Familie hassen, wie soll da Freude
aufkommen? Deutschland unter sich!
Man munkelt, daß über einem Eingang zum Plenarsaal des
Bundestages steht: Wissen ist Macht! Irgendwann soll das

38
ein Durchblicker ergänzt haben mit: Aber nix wissen macht
auch nix! Das wurde von Legislaturperiode zur Legislatur-
periode leider immer wahrer.
Denn allerspätestens mit der zufälligen Teilvereinigung
wurde dieses Land zum Abschuß freigegeben.
Unsere Gesellschaftsform wurde nun perfekt auf die nieder-
sten Instinkte der Menschen ausgerichtet. Betrügen und
belügen war nun Pflicht, Schwäche zeigen durch Mangel an
krimineller Energie war verpönt. Armut ein Zeichen von
Lebensuntüchtigkeit, Reichtum von Gewitztheit. Edle Vor-
standsvorsitzende deutscher Traditionsunternehmen ver-
brachten mehr Zeit vor Gericht wegen Falschaussagen,
Steuerhinterziehung und Insidergeschäften als in ihrer Fir-
ma. Arbeiter und Angestellte der Privatwirtschaft als Abge-
ordnete mit einer Lebenserfahrung der durchschnittlichen
Wähler wurden ersetzt durch raffgierige Juristen mit der
Lebenserfahrung von Piranhas. Die Ideen des März! Oder
waren’s die Iden des Merz?
Daß hinter jedem großen Vermögen ein großes Verbrechen
steht, war natürlich auch nicht mehr wahr, und man gab
sich alle Mühe, sein Curriculum Vitae geschönt den erfreu-
lichen Umständen anzupassen. Die Korruption grassierte in
Politik und Industrie und Verwaltung, und alle planten die
Bestechungssummen fest in ihr Familienjahresbudget ein,
weil sie ohne schon garnicht mehr in Saus und Braus leben
konnten. Na, so was? Die eine Hälfte der Politik und Indu-
strie und Verwaltung ist korrupt. Und die andere? Die ist
sehr korrupt!
Jeder inflationär bis Drei zählen Könnende galt als Genie,
sodaß manches echte siebenjährige Genie beschloß: „Wenn
Dieter Bauhlen oder Bill Gehts eins ist, will ich lieber keins
sein.“ Und wer neuerdings so alles epidemisch Charisma
hatte, hätte sich vorsichtshalber schnellstens impfen lassen
sollen.
So gab sich die neue Elite die Ganovenehre und fühlte sich
auch durchaus völlig unangreifbar. Durch wen denn auch,
bitte? Bundesgerichtshof? Bundesverfassungsgericht? Bis

39
die alten Herren sich von ihrem Kathederwechsel erholt
hatten und das kriminelle Gesetz erklärt bekamen, war es
bereits Rechtssprechung und hatte Millionen Bundesbürger
beschissen!
Und doch schafften es ab und an einige gewitzte Außenste-
hende, aus Staatsgeheimnissen insofern Kapital zu schla-
gen, indem sie den Spieß einfach umdrehten. Denn Mord
verjährt nie.
Zu Ihnen gehörte ein junger Kriminalbeamter namens Ju-
stus Brack, der im November 1977 nach gewissen unge-
klärten Vorkommnissen im Oktober 1977 bei vollen Bezü-
gen und turnusmäßigen Beförderungen suspendiert wurde,
besser gesagt, emeritiert. Er wurde von seinen Pflichten
entbunden. Diese Suspendierung dauert bis heute an. Ein
damals junger Politiker, der die kriminalistische Extraklasse
des Justus Brack erkannte, hielt seine Hand über ihn.
Alle ein, zwei Jahre durfte Justus Brack für den rasant auf-
steigenden Politiker bei staatsgefährdenden Verbrechen auf
eigene Faust als Polizist mit unglaublichen Vollmachten
ermitteln. Seine Beliebtheit bei seinen noch nicht suspen-
dierten Kollegen wurde dadurch stark eingeschränkt. Und
doch hatte er einige Freunde. Brüder im Geiste.
Justus Brack hatte dadurch naturgemäß sehr viel Freizeit,
die er nutzte, um seinem Hobby zu frönen, und häufte da-
mit nebenbei ein beträchtliches Vermögen an. War das
nicht schön für ihn?

40
Absurdistan, Hannover, Donnerstag, der 17. No-
vember, 04 Uhr 10

Schlaftrunken tastete Justus Brack nach dem Schalter seines


Nachttischlämpchens. Die neueste Erfindung des Teufels,
ein ziemlich unförmiges Handy, rasselte. In der absoluten
Dunkelheit leuchtete rhythmisch zum Schnarren das Han-
dydisplay.
»Jaaahhh?«
»Ich hoffe, ich habe Dich nicht geweckt!«
»Aber nein doch, ich mußte sowieso wach werden, weil das
Telephon gerade klingelte!«
»Keinen Blödsinn, Justus. Zeit, daß Du Dir Deine Besol-
dung auch mal verdienst. Komm vorbei.«
»Wo?«
»Ich laß’ Dich abholen. Der Wagen ist in 10 Minuten bei
Dir. Nichts weiter am Telephon!«
»Und wozu habe ich dieses wunderschöne Teil mit einge-
bauter Verschlüsselung? Traust Du dem Scrambler nicht?
Made by Siemens? Mit einer kleinen Backdoor für die
diversen Geheimdienste?«
Brack griente sardonisch.
»Später, Justus. Bei mir. Ende.«
Mürrisch schwang Justus Brack die Beine aus dem Bett.
Hah, dachte er, mit zunehmendem Alter soll man ja angeb-
lich immer weniger Schlaf brauchen. Dumm Tüch! Eben
jetzt hätte er gerne noch mal wenigstens drei Stunden in die
Matratze gehorcht. Mais c’est la vie! C’est la guerre! Und
wenn Hade anrief, war meistens eine Art Krieg.
Es klopfte an der Schlafzimmertür. Herman, sein amerika-
nischer Butler, kam ins Schlafzimmer, auf dem Tablett ein
Glas mit einem Gebräu aus kalter Milch verrührt mit In-
stantkaffee. Es sah widerlich aus. Aber seit 30 Jahren war
es Bracks Morgentrunk.
»Herman, schlafen Sie denn nie?«
»Ich bin stets bestrebt, ein untadeliger Diener zu sein. Einen
dunklen Anzug mit Weste, Herr Rat?«

41
»Ja, danke, raus!«
»Sehr wohl, Herr Rat.«
Nun ist es ja nicht so, daß Geld glücklich, gesund und frei
macht. Aber es weint sich leichter. Justus Brack war Mitte
50, mittelgroß, mittelschwer, stinkreich, unscheinbar, wenn
er still in der Ecke saß, raumfüllend mit seiner Persönlich-
keit, wenn er denn wollte. Aber er wollte selten. Und auch
immer weniger oft. Seinen Charme konnte er an- und aus-
knipsen wie ein Radio, und seine Wut über menschliche
Dummheit und Bosheit war legendär. Er hatte einen skurri-
len Humor und einen verletzenden Zynismus. Brack setzte
sein Geld bedenkenlos ein, um sich ein angenehmes Leben
zu gestalten. Und doch wußte er um seinen Daseinszweck.
Er mußte Verbrechen aufklären!
Brack ging zum angrenzenden Badezimmer, um seines
Harndranges Herr zu werden. Seine alten sanitären Anlagen
funktionierten auch nicht mehr wie früher. Etwas, was man
damals »Katzenwäsche« genannt hatte, mußte heute mal
genügen. Das verspielte und leicht feminine original Ju-
gendstilinterieur war durch moderne Naßzellentechnik
geschmackvoll ergänzt worden. So konnte Brack die Pak-
kung Feminismus durchaus ertragen. Als er zurückkam,
war seine Kleidung anziehbereit auf dem frisch gemachten
Bett ausgebreitet. Er zündete sich seine Morgenzigarette an
und sinnierte beim Anziehen über Hades Anruf nach. So
war das nun wirklich nicht Hades Art! Um diese Uhrzeit.
Was um Himmels willen war bloß passiert?
Herman stand vor der Tür. »Herr Rat, der Fahrer ist da.«
»Soll warten. Legen Sie mir bitte meinen Laptop raus, die
Handys, die Videokamera und ein paar Speicherkarten, eine
Stange Zigaretten, eine Tüte der leckeren Zitronenbonbons,
meine Ausweise und legen Sie alles in die Aktentasche.«
»Ich habe mir erlaubt, dieses bereits zu tun, Herr Rat!«
»Gut, Herman, danke. Ich komme gleich.«
Brack wog nachdenklich seine Lieblingswaffe, die Baby
Glock in der Hand. Er steckte sie in das Klemmholster mit
dem Stahlfederclip und klemmte das Holster links über den

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Gürtel hinter der Hüfte. Ob er sich nun wohler fühlte, wuß-
te er selbst nicht so genau. Aber er war, nun ja, vollständi-
ger gewappnet für mehr Situationen.
Brack ging die breite Treppe hinunter zur Diele, wo Her-
man bereits mit der Aktentasche, dem Laptop und dem
Staubmantel über dem Arm wartete. Früher hingen hier die
Kopfgebeine von erlegten Tieren und Treibern. Teilweise
noch mit einem Zweiglein oder einer Zigarre als letzte
Äsung im Maul. Da Justus Brack aber das Wohnen in ei-
nem Ossarium nicht als besonders angenehm empfand,
schenkte er diesen Mist dem Niedersächsischen Landesjä-
germeisterverband, der sich auch hocherfreut über die Rari-
täten zeigte. Justus wurde prompt Ehrenmitglied.
Brack hatte die alte Jugendstilvilla von 1903 zusammen mit
dem Butler Herman, der allerdings Jahrgang 1958 und nicht
1903 war, vor 15 Jahren übernommen. So wohnte er in der
Stadt, unverbaubar am Stadtwald, der Eilenriede, hatte
frischen Sauerstoff, seine Ruhe und Muße. An Herman,
dem Amerikaner, mußte er sich allerdings erst gewöhnen.
Nachrichten aus der neuen Welt hatten ihn immer in der
Meinung bestärkt, daß die Amis am Besten unter sich auf-
gehoben waren. Da konnten sie sich chikagomäßig pracht-
voll selbst umbringen. Sie waren in ihrem Denken derartig
fremdartig, daß es für den Rest der kaukasischen Welt bes-
ser gewesen wäre, US-Amerikaner hätten eine blaue Haut-
farbe gehabt. Dann hätte man auch nicht immer wieder so
eine Art halbvernünftiges europäisches Denken erwartet.
So tat man es leider doch immer wieder und wurde auch
regelmäßig wieder von, nun ja, eigenwilligen präsidialen
Weltzertrümmerungsideen überrascht, die bei uns, abge-
sondert in mitreißenden Ansprachen von einem Napoleon
CXII oder einem Adolf DXI mit Lithium in den geschlos-
senen Abteilungen behandelt wurden. So hat eben jeder
Staat seine ureigensten Sitten und Gebräuche.
Ja doch, um der Wahrheit die Ehre zu geben, er hatte auch
schon von intelligenten Amerikanern gehört. Herman war
einer davon. Dieses Bild wurde aber regelmäßig von den

43
Präsidentschaftswahlen in den USA getrübt. Amerikanische
Fachleute merken dauernd an, daß der zukünftige Präsident
seine Intelligenz vor dem Wähler verstecken muß! In letzter
Zeit gab es da wohl Naturtalente, denen das spielend ohne
Schauspielerei und Verstellung gelang. Und wenn dann
noch die präsidiale Verwandtschaft am passenden Ort und
zur passenden Zeit mitspielt, kann man gewinnen, ohne
gewonnen zu haben. Da freut sich doch die amerikanisch
ausgerichtete demokratische Welt. Und die nichtdemokrati-
sche Welt fragt: »Warum bloß so umständlich? Wir schaf-
fen das auch ganz ohne Betrug.«
Jedenfalls war Herman heute aus seinem Leben nicht mehr
wegzudenken, denn Justus Leben war durch das Delegieren
der täglichen kleinen Dinge um das Haus herum an Herman
streßfreier geworden.
»Ich weiß nicht, wie lange ich weg bin, Herman. Sagen Sie
bitte alle Termine auf unbestimmte Zeit hinaus ab. Und
passen Sie auf das Haus auf, ich melde mich schnellstens.«
»Sehr wohl. Gute Fahrt, Herr Rat.«
Zehn Meter vor der Haustür sah Brack den Fahrer um den
Wagen flitzen und die rechte Fondtür aufhalten.
»Guten Morgen, Herr Rat. Wir müssen uns beeilen.«
»Morgen. Sie sind …?«
»Verzeihung. Kriminalhauptmeister Kleinert, Herr Rat.«
»Gut, Herr Kleinert. Bitte so fahren, daß wir auch ankom-
men! Ohne mich hebt der Flieger nicht ab!«
»Sicher, Herr Rat.« Die Worte gingen bei KHM Kleinert
rechts zum Ohr rein und links zum Ohr raus. Tjaa, wenn
auch nichts dazwischen sitzt?
Der Wagen schoß die dunkle Kaulbachstraße hinab, als
wäre die Tempo-30-Zone nur kommunistische Propaganda.
Kleinert senkte sein Fenster, klebte das Blaulicht auf das
Dach und schaltete beim Linksabbiegen die Lightshow mit
Musik ein. Als sie nach rechts auf den menschenleeren
Schnellweg einbogen, durfte sich Brack davon überzeugen,
was ein A8 zu leisten imstande war. Innerhalb von zehn

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Minuten waren sie am Flughafen Langenhagen und fuhren
durch das bewachte Tor aufs Rollfeld.
Vor einem Lear-Jet der Bundeswehr stoppte Kleinert sanft.
»Guten Flug, Herr Rat«, sagte er zu dem leicht grünlichen
Brack. Der murmelte etwas Unverständliches, das genauso
ein Fluch wie ein Dank sein konnte.
Mißtrauisch betrachtete Brack den Lear-Jet beim Ausstei-
gen. Erst der Genuß eines verhinderten Schumis, jetzt etwas
Astronautenähnliches.
Die Schattenseiten seines Berufes. Alle wollten ihm zeigen,
wie toll auch sie waren. Und er wollte das ums Verrecken
garnicht wissen!
»Dann müssen wir wohl«, murmelte er und bestieg seinen
Jet. Er würde versuchen, noch etwas Schlaf zu finden. Viel-
leicht konnte er so seiner Luftkrankheit etwas entfliehen.

45
Absurdistan, Köln/Bonn, Donnerstag, der
17. November, 05 Uhr 20

Mit gelindem Entsetzen sah Brack, wie der Bundeswehr-Jet


nach der Landung zwischen den natriumdampferleuchteten
Hangars vor einem Polizeihubschrauber ausrollte.
Er haßte diese unsichere Art der Fortbewegung. Brack
kannte die Statistik nicht so sonderlich genau, aber bei
Abstürzen führten die Hubschrauber mit 3:1 oder 4:1. Ihm
war schlecht.
Der Feldwebel, der den Flugbegleiter markierte, öffnete die
Tür und ließ die kurze Treppe herab. Einen Gruß mit Hand-
anlegen an die Mütze, ein joviales Nicken von Brack, und
der BK 117 B2 ließ den Motor an.
Brack ging hinüber, schnallte sich an und griff automatisch
zur Kotztüte. In diesem Augenblick wurde der Hubschrau-
ber schon nach oben gerissen und machte sich auf seinen
Weg. Exakt so wie sein Mageninhalt.

46
Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der
17. November, 05 Uhr 28

»Aaaaahhhh! AAAAAAHHHHHH! AUUUUUUiiiiihhh!«


Das Gekreische, das aus der geöffneten Tür der Urologi-
schen Ambulanz des Hospitals »Helf Gott« auf den Gang
wehte, sorgte bei all den wartenden Herren im besten Alter
für eine Gesichtsfarbe, die hervorragend mit den grünen
Kitteln der Ärzte und Krankenschwestern harmonierte. Zur
Ablenkung der Geschehnisse lief auf einem großen TV-
Gerät tonlos im Hintergrund »Stirb langsam - Jetzt erst
recht«.

»Aaaaaaaaa. Ooooooooo. Jaaaaaa!« Da war wohl ein Ka-


theter durch Bauch- und Muskelschichten direkt in die
Blase gerammt worden. Das wird immer gerne gemacht,
wenn durch die Harnröhre kein Katheter geführt werden
kann. Und die Blase fast am Platzen ist. Die ältere Pflegerin
meinte begütigend zu dem Schreihals: »Is dochn netta jun-
ga Mann, unsa Häa Student! Hätta doch ga nich machn
müssn! Wa doch aba fastn Notfall, gell?« Und rollte dabei
wie verrückt mit den Augen.

Ein wartender Alt-68er sang leise und sehr frei nach Rein-
hard May:
»Ich entkam den Beiden einige Minuten später.
Als sie fragten, hamwa nich noch ’nen Gebrauchtkatheter.
Dieser Typ war lange Mitglied bei der AOK,
der soll mal seh’n, was er von hat, daß er so geizig war.
Und das nächste Mal, wenn er wieder zu uns rennt,
kannste sicher sein, ist er Privatpatient!«

Und ein gepflegter 70er beugte sich zu dem türkischen


Nachbarn im Fahrbett hinüber und fragte scheinheilig:
»Sind Sie auch krank? Oder was machen Sie sonst hier in
der Urologischen Versuchsanstalt?«

47
Der gepflegter 70er freute sich sichtlich, auch mal Horror
und Terror verbreiten zu können und sah seinen Gesprächs-
partner scharf an.
Cem, dem jungen Türken im Gangsta-Rap-Look, traten die
Augen wie bei einem Frosch aus dem Kopf.
»Voll krass, isch schwör!« murmelte er.
Ein steinalter Komposti auf der anderen Seite von Cems
Bett saß so krumm auf einem Stuhl, daß jeder vermutete, er
hätte sich die Hose am Kragen festgemacht. Der kloppte
mit seinem Krückmann auf das Bettende und bemerkte
ziemlich laut: »Früher, als ich noch ein junger Kerl war, da
war alles weich und geschmeidig … bis auf eins. Heute,
heute ist alles hart und knorrig … bis auf eins!«
Cem trug auch zu dem Männergespräch bei:
»Ey Scheissn, odern was? Frag dem Doktern: Alder, was
gurgel’m scheissndreck Blas? Alder, isch kotz’ gleisch!
Sagt dem Doktern: Weisstu, dem konkret Krebs ripp isch,
isch schwör!«
Cems gegelte Haare stellten sich leicht auf. Nicht nur we-
gen seines geringfügig defekten EKGs!
Der gepflegte 70er war fasziniert von dem Gebrabbel,
konnte sich aber nicht zurückhalten zu fragen: »Was ma-
chen Sie denn so beruflich? Auf der Fensterbank stehen,
und ab und an sagt jemand "mein liebes Alpenveilchen" zu
Ihnen?«
Cem war sowieso schon leicht angepißt im Wortsinne und
lag auf einem fahrbaren Krankenhausbett, ausstaffiert mit
einem kniefreien Nachthemd, das seinen blanken Arsch
zeigte. Seine paar Familienjuwelen baumelten im Freien,
und er mußte sich von deutschen Hilden befummeln lassen.
Wenn das seine Gang erfuhr, nahm niemand mehr von ihm
auch nur ein einziges Gramm Äitsch.
Obwohl, auf die eine Hilde fuhr er voll ab. Ein knochenbre-
chendes Geschöpf mit starkem, blondem Bartansatz. Sie
sah echt aus wie seine Mutter!
Cem beugte sich zu dem gepflegten 70er.

48
»Alder, was fur oberngeile Tuss. Kuck ma, wie geil dem
aussieht!«
Der gepflegte 70er versuchte verzweifelt und ergebnislos,
den Sinn des Satzes herauszufinden.

Auf seinem Zimmer hatte Cem schon mal kurz das gesamte
Leid von unten halb- und total ausgeräumten Männern
gesehen. Nix mehr mit Tacktack! Dafür kleine Täschchen
über Schläuche aus dem Bauch nach außen für den Urin. Er
sah sich schon als Cem, der Urinator. Ihm war kotzübel!

Aber hier waren ja nur fast Gesunde. Zugegeben, mit Pro-


blemen beim Wasserlassen. Cem lauschte dem Gespräch
zweier Schwestern.
»Du muß das ma sehn! Der Typ da drin hatn Penis wien
Säugling!«
»Echt?«
»56 Zentimeta groß und acht Pfund schwäa!«
Cems »private parts« schrumpelten noch mehr. Er murmel-
te:
»Was konkret geht, was du Scheissndreck erzählst, Alde?«

Diese Probleme tangierten die Herren im besten Alter


schon lange nicht mehr. Sie saßen die ganze Zeit mit zu-
sammengepreßten Lippen und starrem Blick. Unter ihnen
auch ein alter Pastor mit hellgrauem Hemd und weißen
Kragen, der besonders gut die Lippen zusammenpressen
konnte. Jahrzehntelange Übung! Er war von den protestan-
tischen Divisionen des Herrn. Jaja, auch Gottesdiener konn-
ten Probleme mit der Prostata haben. Pastor Lüder schaute
leicht angewidert auf die Szene im Warteraum und dachte
immer noch leicht erheitert über den Brief des katholischen
Konkurrenzunternehmens nach. Er könnte viel Geld erben!
Die Kopie des Testamentes war das Fröhlichste seit seiner
Schulzeit gewesen. Na, noch hatte er das Erbe nicht, und
erst einmal war der Katheter fällig.

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Nur mal wieder eine Stange Wasser in die Ecke stellen. Das
war von allen ihr größter und einziger Wunsch!
Die Urinale der Ambulanz verhinderten jedoch erfolgreich
jedes Selbstvertrauen. Kleine lustige Schilder von einem
herzlosen Witzbold taten dem Benutzer kund: Tritt näher
heran! Er ist kürzer, als Du denkst!

Ein 18jähriger Russe, der ebenfalls mit seinem Bett herein-


geschoben wurde, starrte teilnahmslos auf den Monitor über
Cems Bett. Plötzlich tauchte in der zweiten Reihe des Mo-
nitors ein Cursor auf, der jedesmal, wenn ein Zacken durch-
lief, ein leises krachendes Geräusch verursachte. Der Russe
nahm gedankenlos sein Handy und drückte die »7«. Der
Cursor sprang hoch. Das war ja interessant! Der junge Rus-
se versuchte wie bei einem beliebten Jumpgame den Cursor
vor einem Zacken hochspringen zu lassen. Nach einer Wei-
le hatte er den Bogen raus.
Der Alt-68er machte eine anerkennende Geste und durfte
das neuartige Zufallsspiel auch mal ausprobieren. Das Piep-
sen des Monitors, unterbrochen von dem krachenden wei-
ßen Rauschen, wenn ein Zacken nicht übersprungen wurde,
zupfte mit kribbelnden winzigen Stromschlägen an Cems
Nerven.
Der junge Russe gab erstickte Geräusche von sich und hielt
sich trotz Schmerzen lachend den Unterbauch, als auf dem
Monitor das Wort »Bonus« erschien. Das mit Cem mußte
er unbedingt seiner Gang erzählen.
Der Alt-68er schob verlegen umherguckend dem Russen
wieder dessen Handy zu, und nun fehlten Cem die anspor-
nenden Stromstöße etwas.

Die eine Ambulanzschwester sagte zu Ilsemäuschen, der


anderen Ambulanzschwester: »Was hätten wir nicht für
einen schönen Job, gäbe es diese blöden Patienten nicht!«
Das war sorgfältig beobachtet und völlig richtig.
Alle, aber auch ausnahmslos alle, schreckten auf, als ein
halbangezogenes Männlein mit Mundschutz brüllend auf

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den OP-Bereich zulief. »Noch nicht zunähen! Meine Rolex
ist weg!«
»Aber Herr Professor, die liegt noch im Aufenthaltsraum
von unserer kleinen Feier vorhin. Direkt neben der leeren
Cognacflasche. Erinnern Sie sich?«
Der Herr Professor schaute irritiert auf den muskulösen
Pfleger, der ihn am Arm nahm und zurück in den Umklei-
debereich führte.
Cem war in voll krasser Panik. »Was geht? Bist du scheisse
im Kopf, oder was?«

Das mickerige Männchen riß sich los, lief zu Cems Bett


und grunzte im pervers krassen Gangsta-Turk-Stil:
»Normal Alder, hab isch geile Tuss, Alder, un du? Wixtu
oder was, Arschnloch? Kam dem Mahmut Krankenhaus.
Sagt ihm, sein obernschwuler 3ern fahrt dreiunnertswan-
sisch. Ok, sind wirn krassn Ampeln gefahrt, dem im Vor-
wärts, isch mit obernhart pervers krasse S-Benz in Ruck-
wärtsgang! Dann, Ampeln wurdem grun und isch hab voll
versägt dem Spast! Bin isch mit S-Benz krass korrekte
sweiunnertaksisch in Ruckwärtsgang gefahrt, isch schwör!
Dem is ein obernhart pervers krasse Karre, Alder! Scheiss
mir egal dem wo du sagst, weisstu!«

Der Saal war still. Der Herr Professor sprach kanakisch!


Der muskulöse Pfleger nahm ihn wieder am Arm. Der Pro-
fessor sah den Pfleger an und meinte sich langsam ins
Deutsche zurückfindend:
»Was geht, Alder, die scheissndreck Enkelm! Kannste nix
machn, wenn Sie mit der Jugend kommunizieren wollen.«
Cem hatte das irre Bild vor sich, eines Tages nach der Ope-
ration mit einer tickenden Standuhr da unten aufzuwachen.
Mit Pendel und Schlagwerk. Cem wollte von einem Deut-
schen operiert werden und nicht von einem Kanak! »Eyh,
voll krass, isch schwör!«

51
Ein Produktionsleiter bei INTEL bezeichnet aus voller
Überzeugung und mit Recht einen deutschen, naja, alle
Operationssäle als eine Art Müllkippe und würde sich wei-
gern, bei der Verschmutzung auch nur einen einzigen Chip
dort herzustellen!
Leider kostet so ein Reinst-Raum eine Kleinigkeit. So zirka
eine Milliarde Euro für einen industriellen Reinraum mit
12″-Wafer-Fertigung. Das ist natürlich viel zu viel für eine
alberne Menschenreparatur! Die bringen ja auch nichts ein.
Kein Shareholder Value.
Menschen dürfen weiterhin in einer Art Mülldeponie aufge-
schnitten und allen möglichen Infektionen und Verunreini-
gungen ausgesetzt werden.
Die geschätzten 100.000 Infektionstoten aus den Kranken-
häusern waren als Beitrag zur Bekämpfung der Weltbevöl-
kerungsexplosion zu sehen.

Nur für Chips ist es dort zu dreckig! Schöne Welt. Was für
so’n Chip doch nicht alles getan wird? Da wünscht man
sich richtig, auch mal Chip zu sein!

Cem war mittlerweile in eine gnädige Ohnmacht gefallen,


der Simulant von Zimmer 12 war tot, und für Ilsemäuschen
hieß es längst Schichtende, und sie machte, daß sie nach
vier Überstunden nach Hause kam.
Es war allen zu gönnen.

Nun hatte weder die Urologische Ambulanz noch das Ilse-


mäuschen mit den Todesfällen der Abgeordneten zu tun,
aber ohne exakt diese Umstände wären die Ermittlungen in
ganz andere Richtungen verlaufen. Verblüffend, wie Klei-
nigkeiten die Weltgeschichte verändern können!

52
Absurdistan, Bonn, Donnerstag, der 17. November,
05 Uhr 29

Das schon fast hochherrschaftliche Anwesen, direkt am


Rhein mit seinem parkähnlichen Grundstück, bewohnte
Hade schon seit Jahrzehnten. Hade war die graue Eminenz
in Bonn und Berlin mit Einfluß quer durch alle Parteien.
Hade war älter als Brack, eine gepflegte, hochgewachsene
Erscheinung und sah etwas wie ein alter Filmstar aus. Wie
ein Stummfilmstar trug auch er ein Monokel. Er sah damit
aber nicht blöd aus. Den Umzug nach Berlin lehnte er mit
der bemerkenswerten Erkenntnis ab: »Berlin hat Deutsch-
land noch nie Glück gebracht!«
Die beginnende Großmannssucht der jüngeren Politikerka-
ste kommentierte er mit immer höhnischeren und zynische-
ren Bemerkungen über die »Neue Mitte …lmäßigkeit«.
Nicht, daß bei Erhardt alles gut war, nur heute ist alles
schlechter anstatt besser! Er war einer der Motoren gewe-
sen, die nach Erhardt den Wohlstand der Bundesrepublik
festigten. Dadurch, daß bedenkenlos politische Grundsätze
von heute auf morgen über Bord geworfen wurden, sah er
nicht nur den Wohlstand gefährdet, er prophezeite den
gesellschaftlichen und politischen Niedergang Deutsch-
lands. Aus der aktiven Politik zurückgezogen, versuchte er
im Hintergrund im Netzwerk der alten Politiker das
Schlimmste abzuwenden. Mit Justus Brack verband ihn
eine tiefe und in den Ursprüngen weit zurückliegende
Freundschaft.

Eben auf dieser Wiese des Villengrundstückes direkt am


Rhein wurde Brack wieder auf festem Boden abgesetzt.
Sein Bedarf an Excitement und Entertainment war für die-
ses Jahr gedeckt. Zu seinem Glück sah er nicht mehr, wie
der Pilot vom Co-Piloten 50 Euro anforderte. Zwischen den
beiden lief eine Dauerwette, wen sie alles zum Speien brin-
gen konnten.

53
An der Terrassentür der Villa wartete schon Hade. Unge-
duldig, wie es schien.
»Endlich, komm rein, Justus.«
»Hade, hab’ Mitleid mit einem alten Zausel, der sich gerade
die Seele aus dem Leib gekotzt hat. Laß mich doch einfach
nur hinsetzen und still sterben.«
»Stell Dich nicht so an. Wir gehen in mein Arbeitszimmer.
Das ist abhörsicher. Frühstück, Kaffee und frische kalte
Milch für Dein Gesöff ist alles schon da. Los, komm!«
Dieses Arbeitszimmer sah so aus, wie sich Millionen Men-
schen auch ihr Arbeitszimmer wünschten.
Holzgetäfelt mit Kamin, Büchern, alten, saubequemen
Ledersesseln, einem großen Tisch, auf dem das Frühstück
stand, schweren Vorhängen, diskreten Lichtinseln, einem
Schreibtisch in der Größe eines Fußballfeldes für Liliputa-
ner; kurz, Justus Brack fühlte sich fast zu Hause und erholte
sich in erstaunlicher Geschwindigkeit.
»Erzähl, Hade! Nur die Fakten, bitte!«
»Gestern sind in Berlin innerhalb von 15 Minuten sechs
Personen gestorben. Und etwas später noch ein Kommu-
nalpolitiker!«
Hade ließ sich hinter seinem Schreibtisch in seinen ortho-
pädischen Bürosessel fallen.
»Heiland! Und wegen so einer Petitesse holst Du mich aus
dem Bett? Geht’s noch?«
Mit einem grimmigen Lächeln fügte Hade dazu: »Alle
sechs waren Bundestagsabgeordnete!«
»Um so schlimmer für mich. Damit habe ich aber nun rein
garnichts zu tun.« Zynisch setzte er hinzu: »Dann hat doch
der Bundesstaatsanwalt und das Bundeskriminalamt und
der Bundesnachrichtendienst und der Staatsschutz und die
Kleinkindergruppe Porz/Süd das Heft fest in der Hand. In
»Chaos« sind die echt gut! Die können endlich mal wieder
’ne Glatze verhaften, dann komm’se auch ins Buntfernse-
hen und werden als Retter des Abendlandes gepriesen!«

54
»Keine Witze über unwichtige Sachen, Justus, eigentlich
hättest Du ja recht. Aber …. Eine Stunde, ehe ich Dich
anrief, rief mich jemand an.«
»Is’n Ding! Hade, mach’ Sachen. Du wirst den ganzen Tag
lang angerufen. Und deswegen bin ich hier? Mann, bin ich
sauer! Der Hubschrauber war das Letzte!«
»Warte doch mal die Pausen ab, Justus. Ich habe noch ei-
nen Bonbon für Dich. All die toten Abgeordneten gehörten
einem speziellen Unterausschuß des Wehrausschusses an!«
Brack zog hörbar die Luft ein. Und zündete sich schwei-
gend eine Zigarette an.
»Ob das BKA das auch schon weiß, weiß ich nicht. Aber
ich brauche jemanden für die richtige Polizeiarbeit. Mit
richtigem Ermitteln, Spuren aufnehmen, kombinieren und
Glück haben, außerhalb der Pfade laufen. Und das bist Du,
Justus. Kein Anderer. Das BKA arbeitet parallel mit Com-
puterabgleichen, Rasterfahndung, Laboratorien und Infor-
manten. Mit Abhöraktionen und Beschattung. Aber das hier
ist etwas völlig Anderes. Völlig anders!«
Brack blätterte in seinem Notizbüchlein.
»Justav! Gustav Schunck, Berlin. Tötungsdelikte. Der
könnte unser Mann sein. Warte mal.« Er wählte auf seinem
Handy eine ellenlange Nummer. Und wartete. »Justav? ...
Hier Justus! Dienstlich! ...Du wolltest gerade schlafen?
...Arbeitest Du an sechs bis sieben toten Personen? ...Ja?
Dachte ich mir. ...Hat Dir das BKA abgenommen. Sei froh.
...Woher ich das weiß? Später. Laß alle Unterlagen zusam-
menstellen, ich bin heute Mittag in Berlin. ...Es ist wirklich
wichtig. ...Dann schlaf noch etwas. Ciao!«
Brack legte auf, sah Hade an und sagte: »Weiter!«
»Du hast wie immer alle Vollmachten vom Kanzleramt,
vom Justiz- und Innenminister. BKA, LKA und die Polizei
und Staatsanwaltschaft Berlin sind informiert, daß Du
kommst. Und sie müssen Dir helfen.«
Brack grinste sich eins.
»Und? Was wollen die, das ich tue? Sechs Leute in 15
Minuten! Weißt Du, was das heißt, Hade? Menschliche

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Ressourcen, Geld ohne Ende, Macht bis zum Abwinken!
Ein fremder Staat oder eine Wirtschaftsorganisation. Einer
unserer Geheimdienste. Unsere eigene Polizei. Da gibt es
nichts zum Rauskriegen! Was war das eigentlich für ein
Unterausschuß? Worüber haben die getagt?«
»Jetzt lach’ nicht, Justus, die waren für die Beschaffung
neuartiger Kochgeschirre der Truppe zuständig!«
»Ich fasse es nicht! Ist das offiziell?«
»Ich habe heute früh die Protokolle erhalten. Nur Kochge-
schirre, nichts weiter. Seit drei Wochen.«
»Mmh, die Autopsien. Was haben die ergeben?«
»Alles vorläufig, zwei der Todesfälle könnten zweifelhaft
sein. Bei Vieren ist kein Mord zu beweisen. Der Siebte fällt
völlig aus dem Rahmen. Einwandfreier Mord. Messerstich.
Wie gesagt, alles vorläufig.«
»Komm, laß uns mal weiterspinnen, Hade! Sechs Leute in
15 Minuten! Profikiller. Ostblockprofis. Westblockprofis.
Mossad.«
Brack schüttelte den Kopf. Dieses verdammte Fernsehen
mit den Krimis, die immer Lösungen präsentieren und Täter
auch wirklich verhaften müssen! Da gibt es dutzendfach
politische Morde, die aber auch nie aufgeklärt wurden.
Oder dass ein Staatsanwalt schon vor laufenden Kameras
von Beweisen von Selbstmord redet, während der Selbst-
mörder noch ohne Fallschirm der Erde zurast! Fall gelöst,
ehe es ein Fall wurde!
Und da ist Druck ohne Ende auf die Beamten ausgeübt
worden. Redet nur keine Sau drüber.
»Du verfolgst sicher auch diese Mordserie, wo ein Unbe-
kannter nichtdeutsche Gemüsehöker in ganz Deutschland
erschießt. Da sitzen über 500 Kollegen dran! Die sind nicht
weiter als am allerersten Tag. Es gibt nämlich keine er-
kennbaren Verbindungen zum Täter. Genau wie hier!«
Brack nickte.
»Sind also längst über alle Berge. Die kriegen wir nie.
Auch ich kann nicht zaubern. Also, noch mal. Was zur
Hölle soll ich dabei tun? Du holst mich alle ein bis zwei

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Jahre für Sonderaktionen. Und nun soll ich das Kaninchen
aus dem Hut holen?«
»Justus, wir wollen wissen, warum, und wer den Auftrag
dazu gegeben hat. Daß die Verantwortlichen gefaßt werden.
Das ist Dein Job! Und in der Nomenklatura herrscht leichte
Panik. Wenn die nicht wissen, warum das passierte, könnte
deren unersetzbares Leben ja nun auch in Gefahr sein.«
Brack zündete sich eine neue Zigarette an, obwohl er wuß-
te, daß Hade das Dauerqualmen nicht mochte. Aber Hade
war beunruhigend tolerant heute. Brack gefiel das alles
immer weniger.
»Du bist Dir darüber im Klaren, daß die Sache mächtig
gewaltig stinkt. Ihr holt mich, Euren Rekorddauersuspen-
dierten, weil Ihr dem BKA nichts zutraut. Meinetwegen!
Sechs sind tot. Na und? Passiert überall, jeden Tag. Euer
Aufhänger ist, daß es Bundestagsabgeordnete sind. Auch na
und! Bin ich nicht für zuständig! Das einzig Merkwürdige
ist in der Tat, daß alle einem Ausschuß angehörten. Und
was habt Ihr sonst? Nix!«
Brack rührte sein Milchgesöff um.
»Und wenn das alles wirklich nur Zufall ist?«
»Sag mal, Justus. Du leistest Dir immer noch Deinen ame-
rikanischen Butler?«
»Was hat das damit zu tun? Willst Du mich zum Sparen
anhalten? Und wenn ich 300 Jahre alt werde, ich kann mein
Scheißgeld garnicht verbraten. Jedes Jahr wird’s mehr.«
Hade grinste sich auch eins auf Bracks »Scheißgeld«! Auch
Justus würde ohne seinen Luxus, der eben reichlich von
dem verachteten »Scheißgeld« kostete, ziemlich laut krei-
schen.
»Das ist es ja genau, was ich meine. Du bist geringfügig
exzentrisch, und das brauchen wir hier, ich meine Deine
äußerst krummen Gedankengänge, und Du kannst definitiv
nicht mit Geld bestochen werden. Von niemandem! Vergiß
nicht, auf der internationalen Bestechungsskala nehmen wir
so um Platz 20 ein. Noch hinter Chile.« Er fügte hinzu:

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»Und über Deine dauernden Insubordinationen sehen wir
wie üblich einfach hinweg.«
Zufrieden grinsend lehnte sich Hade zurück.
»Du meinst wohl, niemand von Deinen braven subalternen
Beamten würde sich mit einer »Macht« anlegen. Mit je-
mandem, der ihre schöne Pension und ihr angenehmes
Leben versauen kann. Aber ich würde es tun? Du bist ein
linker Fuchs, Hade … Aber ich mach das nur zu meinen
Bedingungen.«
»Du bekommst mehr Befugnisse als unser oberster Grüß-
august und Fähnleinführer!«
»Der hat ja auch keine.«
»Gut, mehr als der Bundeskanzler!«
»Beschaff mir wie üblich alles, was ich brauche, räum’ mir
die Hindernisse aus dem Weg, das reicht.« Brack tunkte ein
weiteres Croissant in den Kaffee.
»Was liegen aktuell für Leichen bei Euch im Keller, die mit
dieser Sache zu tun haben könnten?«
»Justus, Justus! Ganz normal einige. Aber die haben nichts
mit den toten Abgeordneten zu tun. Glaub mir, das hier ist
eine ganz andere Dimension.«
»Laß uns weiterspinnen. Irgend jemand will nicht, daß sein
kleines schmutziges Geheimnis bekannt wird. Aber nun
kommt es. Erstens: Wie hat ausgerechnet dieser Ausschuß
davon erfahren? Zweitens: Wie hat dieser Jemand erfahren,
daß der Ausschuß davon erfahren hat? Bist Du sicher, daß
nicht ein paar unserer 9 Millionen Verhartzten oder gar von
den 20 Millionen Armen hier im diesem unserem Lande
eine Möglichkeit gesehen haben, sich für ihre Dreckssitua-
tion zu rächen? Aus Eurem Haufen ein paar Abgeordnete
zu töten?«
»Einen Politiker umbringen, ja, möglich. Aber sechs? Eine
koordinierte Aktion? Mit großem Geld- und Logistikein-
satz? …..
Nein! Wie denn? Wovon denn? Die Verhartzten kennen
sich ja nicht mal untereinander. Außerdem sind die, mei-
stens, gesetzestreue Bürger, die nur einen Haufen Pech

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gehabt haben. Zum Glück von einigen ehemaligen und
gegenwärtigen Verantwortlichen. Aufruhr immer, profes-
sionelle Mordserie nie!«
»Ja, die haben halt Pech gehabt mit ihren gewählten Blen-
dern. Dein Herz schlägt also immer noch links mittig. Wie
originell. Meinetwegen, Hade. Verrat also. Aber wovon?
Protokolle? Protokolle! Was für Protokolle? Was soll da
drin stehen? Wer hat Zugang zu den Protokollen? Welche
davon sind vertraulich, welche davon streng geheim? Wer
würde sie warum kaufen? Wer könnte sie verkaufen? Ein
paar aus der Bundestagsverwaltung. Schreibkräfte, Saaldie-
ner, Sesselfurzer. Was verdienen die? 30.000? 40.000?
Bestechung? 100.000 für ein paar Kopien? Wirklich, Hade,
das glaube ich alles nicht. Da läuft was anderes. Ich muß
schnellstens nach Berlin. Dieser Jemand muß zum Beispiel
erstklassige Informationen über die Lebensgewohnheiten
unserer Toten bekommen haben. Und die Frage lautet: Von
wem? Hängen da unter Umständen ganz offizielle Stellen
drin?«

Hade beobachtete Justus fasziniert. Der ratterte eine ganze


Reihe Möglichkeiten runter und verwarf sie wieder. Und
dann kamen neue. So hatte er sich das vorgestellt.

»Justus, ich kann Dir Deine Fragen nicht beantworten! Ich


weiß es nicht. Dafür bist Du da.«
»Hade, ich brauche Informationen. Ich muß mit jemandem
reden können. Irgendwo muß ich den Hebel ansetzen. Und
es gibt nur eine fugenlose, glatte Wand! Noch nicht einmal
Mord ist sicher! Tote haben wir, aber keine Killer, kein
Tatmotiv, nichts. Die Polizei Berlin und auch das BKA
fragen sicher tausend Zeugen aus. Wetten, daß keiner was
gesehen hat?«
Hade veralberte Justus.
»Ist schon schwer, Dein Job, was?«
Brack achtete nicht drauf.

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»Hat jemand aus Berlin Zugang zu den geheimsten BND-
Unterlagen? Junge, Junge. Hade, falls ich auch nur ein
Fitzelchen heraus bekomme, ist’s ein Wunder. Glaub mir!
Verdammt, wo soll ich nur ansetzen?«

Brack war still und überlegte kurz, dann beschloß er, sich
festzulegen.
»Dein siebter Toter hat mit den anderen nichts zu tun. Da
setze ich jede Wette drauf. Ach, da soll sich das BKA drum
kümmern. Damit will ich nichts zu tun haben.«

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Die Killer

Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-


ber, 06 Uhr 58

Mehmet Süliman wischte sich die schweißnassen Pfoten an


seiner Hose ab, ehe er den Schuldschein über 20.000 Euro
unterschrieb. Mehmet war ein waschechter Berliner. Kann-
te die Türkei nur aus Dierckes Weltatlas und aus Kreuz-
berg. Alle nannten ihn »Icke«. Und Icke hatte gerade
schwer beim Pokern verloren. Und nur Zeit zum Bezahlen
bis heute Abend. Ausgerechnet bei diesem fiesen Schwein
Tulpe. Der würde bei Nichtbezahlen mit Ickes Eiern Golf
spielen, aber während Icke noch dran war! Scheißescheiße-
scheiße. Sein Gehirn listete automatisch alle auf, die er
anpumpen konnte. Niemand! Scheißescheiße-scheiße. Icke
sang frei nach Hildegard Knef und voller Inbrunst bei dem
Gedanken an Tulpe: »Für Dich kann es ruhig Scheiße reg-
nen, Du solltest mir mal im Dunkeln begegnen, tamtam..
tarataratamtamtamm…«
Vielleicht konnte er Ilse noch mal schöne Augen machen?
Icke verließ die verqualmte Bude durch die Hoftür. Die
frische Luft draußen brachte ihn fast um. Als sein Husten-
anfall vorüber war, dachte er wieder an Ilse. Klar, mußte er
eben wieder seinen fiebrigen Charme spielen lassen. Aber
sicher, konnte er doch noch. Ilse wohnte quasi um die Ecke.
Pradistraße. So pleite, wie er war, konnte er noch nicht
einmal Blumen mitbringen. Scheißescheißescheiße. Würde
auch so gehen, da war er sich sicher. Einfach ein verliebtes
Gesicht machen.
Vor Ilses Haus überlegte er, gleich klingeln oder erst anru-
fen? Klingeln! Nichts. Noch mal klingeln. Nichts. Icke ging
auf die andere Straßenseite und beobachtete Ilses Woh-
nungsfenster, während er mit seinem Handy anrief. Die

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Gardinen bewegten sich und das Fenster wurde geöffnet.
Ilse hatte ein Brötchen in der Hand.
»Du Blödbatz hast vielleicht Nerven, hier noch vorbei zu
kommen!«
»Aba Ilsemäuschen, nu mach ma nich so’n Wind vor de
Hoftür. Könn wa doch allet in Ruhe bekakeln. Icke war da
nich so jut druff jewesen, damals. Weeßte doch!«
»Was willste also?«
»Kannste mir nich reinlassen?«
»Erst sagste, was Du willst!«
»Icke bin pekuniär etwas in der Bredouille, weeßte. Viel-
leicht kannst ma helfen, wa?«
»Seit vier Wochen warte ich auf Icke und auf meine Mäuse.
Du willst nüscht von mir, Du willst mein Sparbuch! Du
Scheißkameltreiber!«
»Ilselein, icke bin Deutscher!« rief Icke im heiligen Zorn.
»Du bist ein grottenblöder gehirnamputierter Mongo!!«
»Du blöde Schlampe, Du dämliche!! Scheißpißnelke!!«
»Debiler Hustenpudding! Verwichs Dich, Du impotenter
Arsch!«
Icke nahm sein Handy voll besinnungsloser Wut ob des
Mißerfolges der Geldbeschaffung und warf es auf Ilses
Fenster zu. Leider erreichte das Handy nicht das offene
Fenster im ersten Stock, sondern verschwand darunter in
einem ebenfalls offenen Fenster im Parterre. Fassungslos
und leise blökend starrte Icke seinem fahnenflüchtigen
Handy hinterher.
Boris Orbatov war eben dabei, seine Koffer zu packen und
aus dieser gräßlichen Stadt zu verschwinden. Er zählte in
der Hand einen Stapel Euros, als er aus den Augenwinkeln
einen Schatten auf sich zusausen sah. Boris reagierte blitz-
artig, sprang zur Seite, zog dabei seine Pistole, als unter
ihm der persische Läufer wegrutschte, und er ins Straucheln
kam. Zwei Meter und fünf Zentimeter brauchen lange, bis
sie in Gänze den Boden berühren. Und in der vollgestellten
Wohnung seines Freundes war so manches dabei im Weg.
In diesem Fall war es der Eßtisch, der das physikalische

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Gesetz demonstrierte, daß sich zwei Körper, hier der Eß-
tisch und da der Kopf von Boris, nicht gleichzeitig am sel-
ben Ort befinden können. Als Boris komplett in voller Grö-
ße auf dem schönen indischen Seidenteppich lag, war er tot.
Icke glaubte es nicht! Sein Handy, weg! Sein Leben, sein
Gedächtnis, seine Kontakte, alles war in diesem verdamm-
ten Handy drin. Er guckte sich um, ob keiner guckte.
Wieselflink rannte er wieder über die Straße, schlich unter
das offene Fenster und lauschte. Kein Ton kam aus der
Wohnung. Icke wußte, er hatte keine Wahl, er mußte unbe-
dingt sein Handy wiederhaben. Eine Hand an dem Regen-
rohr, ein Fuß auf den schmalen Absatz in Hüfthöhe, hoch,
ein Griff an den Fensterrahmen, drin. »Allahu akbar«, sagte
Icke spontan, »und King Kong schläft.« Der riesenhafte
Mann auf der Erde rührte sich nicht, auch nicht, als Icke mit
seinem Fuß ein einsames Alpenveilchen von der Fenster-
bank wischte und auf den Fußboden beförderte. Kein Zwei-
fel, Godzilla war mausetot. Hatte aber, wie der Geist aus
der Flasche, Icke Geld hinterlassen. Icke heulte fast vor
Freude, als er das Geld aufsammelte. Und auf dem Sessel
lag unbeschädigt sein Handy. Heute war sein Glückstag,
echt! Er guckte in die geöffnete Reisetasche, ob da viel-
leicht noch mehr Kohle war. Und zuckte entsetzt zurück,
als er die Waffen und die Munition darin entdeckte. Die
Androhung der Todesstrafe auf Waffenbesitz von den Alli-
ierten vor der Maueröffnung wirkte bis heute in Berlin
nach. Icke fand, daß er seine Portion Glück für einen Tag
aufgebraucht hatte und machte, daß er ganz konventionell
aus der Wohnung kam.
Ob er das fiese Schwein Tulpe linken sollte? Einfach ab-
hauen? Ins Ruhrgebiet vielleicht? Oder den dicken Maxe
markieren, und gaaanz cool 20.000 von den 50.000 Euro-
nen auf den Tisch des Hauses zählen? Das isses! Genauso
wollte er es machen. Er hatte einen Schlüssel für die Hin-
terhoftür zum Club nachmachen lassen. Icke wunderte sich
zwar, daß das Poker-Zimmer hell erleuchtet war, jemand

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murmelte was, aber erst, als sich eine schwere Hand auf
seine Schulter legte, begriff er das gehörte Wort: Razzia!
»Oh Elend «, jaulte Icke, »jetzt bin icke aba wirklich am
Arsch!«

Ivan Saweljov hatte die Hände tief in den Taschen seiner


wattierten Jacke gesteckt und trat vor Kälte auf der Stelle.
Er wartete darauf, daß er endlich von seinen Kumpels ab-
geholt würde, und er so schnell wie möglich auf die Krim
zurückkam. Für ihn war es zu kalt in Berlin, und auf der
Krim war es immer noch etwas mild. Mit dem verdienten
Geld konnte seine gesamte Familie zwei Jahre lang in
Freuden leben. Was sollte er sonst tun, nachdem er nach
seinem Militärdienst keine Arbeit mehr fand? Auch nicht
mit seiner umfassenden Spezialausbildung bei der Nachfol-
georganisation der SpezNas. Er wäre gerne Tischler gewor-
den, denn die Arbeit mit Holz machte ihm Freude. Auch
seine nicht unbeträchtliche künstlerische Ader wäre befrie-
digt worden. Aber das waren unerfüllbare Träume. Nur in
seinem jetzigen Job wurde er anerkannt und gut bezahlt.

Aslan Bogamedow war Tschetschene und illegal in Berlin.


Für ihn war das Leben in Berlin ein Traum, den er voll
auslebte. Geld beschaffte er sich mit Überfällen auf Tank-
stellen, was so unkompliziert war wie urinieren. Die Polizei
stellte ihm nicht mit voller Kraft nach, dazu war zu viel zu
tun.
Auch jetzt mußte er mal wieder etwas Bargeld abholen.
Dieser Tankstellenbesitzer hielt sich für besonders schlau,
indem er erst um 10 Uhr seine Einnahmen der Nacht abho-
len ließ.
Aber das hatten Einige längst spitzgekriegt. Aslan zog sich
die Pudelmütze ganz über das Gesicht, bis er durch die zwei

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ausgeschnittenen Löcher blicken konnte. Mit ein paar
Schritten war er im Kassenraum, hob seine Pistole und
sagte als Freund weniger Worte schlicht: »Geld!«
Nun war dieser Tankstellenpächter schon dreimal überfal-
len worden und hatte ehrlich, ums Verrecken, keine Lust
mehr auf irgendwelche Strolche, die seine Arbeit abkassier-
ten. Video war keine Lösung, es sei denn, er hatte mal Lan-
geweile und wollte echte Krimifilmchen gucken. Die Ver-
sicherung ließ ihn mit ihren Prämien kräftig bluten, und all
das verbesserte seine Laune keineswegs. So guckte Aslan
sehr blöd unter seiner Mütze aus der Wäsche, als der Mann
hinter der Kasse vor ihm wortlos eine Automatik hob und
sofort feuerte. Aslan schoß vor Überraschung zurück, und
so entwickelte sich ein kleines Feuergefecht, das erst ende-
te, als der draußen wartende Ivan eine verirrte Kugel mit
seinem Kopf aufhielt und tot umfiel. Aslan sah zu, daß er
verschwand und trabte davon.
Die Polizei stellte fest, daß der Tote keine Papiere bei sich
hatte, nur einen Zettel mit »Ivan« und »18« in der Tasche,
und sie bemerkte auch nicht, daß aus einem haltenden Wa-
gen jemand ausstieg und sich den regungslosen Ivan ansah.
Er ging zurück zu den Wagen und sagte auf russisch:
»Ivans Prämie können wir uns jetzt teilen.«

Das war das letzte Mal, daß in Deutschland von Ivan so


warmherzig die Rede war.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten unseres Systems, daß


niemand solange wirklich tot ist, bis nicht ein Arzt von
Amtes wegen den Tod auch festgestellt hat. Nein, nicht ob
natürlicher Tod oder Mord, das wäre ja noch nachzuvoll-
ziehen und wünschenswert! Aber dafür ist der nette Haus-

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arzt-Onkel-Doktor-Pillenverschreiber schlicht zu blöd.
Nein, es geht hier nur um: »Isser tot oder nicht?«
Was um Himmels willen würde eigentlich passieren, wenn
der Amts-Doktor in einer albernen postpubertären Phase
oder auch nur einfach sturzbetrunken von dem Toten be-
haupten würde, er lebe? Einfach nur mal in seiner Eigen-
schaft als Amtsperson sagen: »Er lebt noch!« So wie der
alte Holzmichl!
Ob der Tote sich aufrichten würde und mit dem Ausdruck
des größten Bedauerns sich bei der Bürokratie entschuldi-
gen würde? Bekämen wir dann eine Wiederauferstehungs-
bürokratie? Oder bliebe der Tote einfach tot? Dann wäre es
doch aber bewiesen, daß die Feststellung des Todes von
Amtes wegen nicht zwingend notwendig wäre! Es muß
eben alles seine Ordnung haben im Bundesdeutschland. Wo
kämen wir denn auch sonst hin? Das wäre wirklich mal
interessant zu wissen.

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Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 23. Februar,
11 Uhr 28, das Jahr darauf

Zwölf Wochen später wurden die nach dem Anatomieunter-


richt in der Charité noch vorhandenen Proteinreste vom
ehemaligen Ivan auf dem Friedhof Onkel-Tom-Straße an-
onym beerdigt.
Im Rahmen der Ökumene hielten verschiedene Konfessio-
nen bei unbekannten Toten einen kurzen Gottesdienst. Auf
der Urne war nur der Name »Ivan« eingraviert.
Zuerst sprach Pastor Ambrosius, dann Pastor Lüder. Leider
war kein Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche dabei,
so daß die Fremdgottgebete wohl nicht galten. Vom Kasset-
tenrekorder lief »Norddeich«, eine Musik für ertrunkene
Seeleute. Beide guckten sich augenzwinkernd an. Die Erb-
schaftssache war zur Zufriedenheit aller gelaufen. Sie ver-
ließen das anonyme Gräberfeld.

Bei der schlichten Zeremonie waren zwei weitere Gäste.


Der Bestatter, der bei der Beisetzung zwingend dabei sein
mußte, und sein leicht debiler Assistent, der immer spontan
sagte, was so durch sein Gehirn schwebte. Allerdings in
einer tadellosen deutschen Aussprache.
Der leicht debile Assi hob den Kopf und lauschte. »Die
Vögel brüllen! Es wird Frühling.«

Der Bestatter dachte immer noch an die alte Kruke, die


heute bei ihm Probeliegen wollte. Nicht direkt bei ihm,
brrrr, sondern in seinem Institut. Eine alte Dame, ohne
Angehörige, wollte eine pompöse Feier für sich buchen.
Der leicht debile Assi unterbrach seine Gedankengänge.
»Meine Mutter kam gestern zu mir nach Hause und hat die
Wohnung nicht wiedererkannt. Ich war nämlich umgezo-
gen.«

Der Bestatter kümmerte sich nicht darum. Er dachte weiter.


Und zu diesem Zwecke wollte sie schon mal zu Lebzeiten

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in einem, in ihrem Sarg liegen. Mahagoni mit vergoldeten
Beschlägen. Ob’s bequem war, und es ihr gefiel!
Der Assi wußte was. »Ich soll hier morgen den Rasen mä-
hen. Dann habe ich 500 Leute unter mir!«

Mindestens dreißig Statisten, die um sie weinen konnten.


Dazu Blumen ohne Ende und reichlich Musik! Mit exoti-
schen Titeln wie »Junge, komm bald wieder« und »Es steht
ein Pferd auf dem Flur« und »Es zuckt ein Pferd nach nir-
gendwo« oder so. Aber auch Billy Idol mit »Sweet six-
teen«. Für fuffzigtausend Ecken! Wow! Boah!

Der Assistent nahm ohne ersichtlichen Grund seinen rech-


ten und linken Zeigefinger und drehte mit dem einen Zeige-
finger einen Kreis nach vorne, mit dem anderen einen Kreis
nach hinten. Zur gleichen Zeit! Und sprach: »Meinem Opa
hat der Arzt Moorpackungen verschrieben. Die helfen zwar
auch nicht, aber er gewöhnt sich schon mal an die feuchte
Erde!«

Der nun schwer irritierte Bestatter kam kaum wieder in


seinen Gedankengang. Vor allen Dingen, weil sein Assi
fingerdrehend ergänzte: »Letzte Woche hat es nur zweimal
geregnet. Einmal drei Tage und einmal vier Tage.«

Was wollte die alte Kruke noch? Ach ja!


Dazu noch ein Erbbegräbnis, ein sonniges Plätzchen mit
Ausblick. Unverbaubarer Ausblick, bitte!
Und als vorgeblichen Beweis, daß sie auch noch wirklich
alle Tasten im Klavier hatte, blätterte sie ihm 30.000 als
Anzahlung auf den Tisch des Hauses! Der Bestatter war so
perplex, daß er vergaß zu fragen, ob das Leichenhemd auch
bügelfrei sein sollte!

Der leicht debile Assistent übertraf sich selbst. »Meine


Schwester hat gestern ein Kind bekommen. Keine Ahnung,

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ob Junge oder Mädchen. Jetzt möchte ich aber wissen, ob
ich Onkel oder Tante geworden bin.«
Beide verbeugten sich kurz und verließen die Grabstätte.
Der Assi mit der Schubkarre vorne weg. Der Bestatter ver-
suchte hinter dem Rücken seines Assistenten das Finger-
spiel von ihm, drehte aber die Finger immer nur in eine
Richtung. Entweder beide einen Kreis nach vorn oder beide
einen Kreis zurück. Er fluchte leise und ausdauernd auf
seinen Assistenten und probierte es immer wieder. Der
Bestatter wurde laut.
»Du kannst mich am Arsch lecken. Wie tausende Andere
auch. Aber hinten anstellen!«
Und sein debiler Assi entgegnete gewählt: »Mit jedem
neuen Tag, den der Herrgott werden läßt, wächst die An-
zahl derer, die mich mal kreuzweise können.«
Es war fast wie eine Szene von »Dick und Doof«, nur daß
hier der Dickere der Doofe war!

Mit den Todesfällen an den Abgeordneten wurde Ivan nie,


aber auch nie in Verbindung gebracht. Genauso wenig, wie
die Reste der beiden Killerbanden, die sich auf den Weg
zurück in ihre Heimat gemacht hatten. Und doch … Tante
Erna sagte immer »Unrecht Gut gedeihet nicht«. Während
aus dem Dichterolymp das Gleiche in intellektuell schallt:
»Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund
zu flechten, und das Unglück schreitet schnell.«

Der Junkie »Birne«, der den Ku-Damm runterschlich, war


voll auf dem Affen. Voll auf Cold Turkey. Sein klapperdür-
res Gestell schleppte sich weiter rum auf der Suche nach
Geld. Seine Schweißausbrüche hatten nichts mit dem Feuer
zu tun, das unter seiner Haut brannte. Auch der Schüttel-

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frost und die Messer in seinem Gedärm trugen nicht dazu
bei, ein ausgeglichenes Gemüt und ein freundliches Wesen
zur Schau zu stellen. Er brauchte einen Druck. Nix sonst.
Aber sein Dealer wollte Bares sehen. Bares! Für den
Druck!
Birne sah schwebende dicke Geldbündel und riesige haari-
ge Spinnen um sich. Seine Beine versanken abwechselnd
im imaginären Treibsand oder setzen hart auf einer festen
Oberfläche auf. Die widersprüchlichen Befehle, die seine
Synapsen erhielten, machten ihn völlig verrückt und ließen
ihn seine Umgebung nicht unbedingt realistisch beurteilen.
Er wäre sonst nie auf die Idee gekommen, der Alten, die
neben ihm schlurfte, das Täschchen zu entreißen.
Mit verzweifelter Kraft riß Birne an Gerda Golkes Tasche,
die jedoch nicht im Traum daran dachte, irgendwas von
ihrem Eigentum mit einem Stück Scheiße zu teilen! »Laß
doch los, Du blöde Schnalle!« keuchte Birne. »Loslassn!«
Doch Gerda hatte so unfreundliche Befehle noch nie in
ihrem Leben befolgt. Ganz im Gegenteil! Und sie versuch-
te, Birne, dem Drücker, mal zu zeigen, wo der Hammer
hängt. Es ging los!
Beide wirbelten um den Griff der Tasche herum, wie bei
den Hammerwerfern. Nur war hier noch nicht raus, wer
Hammer und wer Werfer war. Den Yuppies im Szenecafé
»Radium« wurde ein prächtiges Schauspiel geboten. Man
lancierte Wetten über Ein-Gramm-Tütchen. Das Handicap
für Birne erhöhte sich, als die Alte den Griff ihrer Tasche
auch mit der zweiten Hand erreichte. Dafür war ja Birne
jünger als die Alte. Aber nun! Birne hob ab! Ihm war in-
zwischen so schwindelig und speiübel von der Herumwir-
belei, daß er automatisch losließ.
Ein weiterer Yuppie war in seinem entzündungsgelben
Porsche 911 mit fetten Puschen vorgefahren und holte auf
der Beifahrerseite sein Krokoköfferchen heraus, als Birne
aus seiner erdnahen Umlaufbahn zur Landung ansetzte.
Dabei zertrümmerte er dem Yuppie mit vorgestreckten

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Beinen die Hüfte und das Schienbein. Bevor dieser die
gnädige Ohnmacht empfing, dachte er noch:
»Grundgütiger, mit solchen Schuhen, wie dieser Junkie sie
trägt, möchte sicher noch nicht einmal ein Unberührbarer in
Bombay tot übern Zaun hängen. So etwas Geschmackloses
aber auch!« Dann wurde es schwarz um ihn.

Birne hatte leider nicht die Ruhe und Muße in seinem Le-
ben und auch nicht das überflüssige ergaunerte Geld, um
sich großartigen oder auch nur kleinartigen Gedanken be-
züglich seiner Fußbekleidung hinzugeben.
Er hatte seinen Abflug prima überstanden und hockte nun
im Rinnstein und würgte und würgte. Da er aber seit zwei
Tagen nichts gegessen hatte, kam nix hoch.
Das wiederum erfreute die herbeigerufene Polizei, die irri-
gerweise glaubte, ihren Wagen sauberhalten zu können.
Leider konnte sie Birnes Durchfall nicht sehen. Dafür aber
auf der Fahrt zur Wache riechen. Gerda, das unschuldige
Opfer des Raubüberfalles aber, war verschwunden und
nicht aufzutreiben. Alle hatten sich auf Birne und den Por-
sche konzentriert, aber doch nicht auf eine alte Siegerin.
Die Allradversion des neuen Porsche 911, Baureihe 997,
war auch alle Konzentration wert. Als Variante 4S mit 355
PS für 100.000 Euro. Geilo! Wo soll da eine Konzentration
auf eine alte Frau herkommen?

»Es gibt einfach zu viele alte Leute, Herr Wachtmeister.«


bemerkte einer der Junk-Bond-Vertreter aus dem »Radium«
sehr richtig, als er nach einer Personenbeschreibung des
Opfers befragt wurde. »Ich finde, die sehen alle aus wie
meine Oma und mein Opa.« Aus dem Radio ertönte »Wall-
street-Shuffle« und der Yuppie wippte mit.

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Das war natürlich nicht sehr hilfreich und erinnerte fatal an
den latenten Rassismus von: »Für mich sehen alle Neger
gleich aus!« Auch wenn er es tatsächlich so empfand.
Birne kam auf die Wache, wo zwei Polizisten mit Gummi-
handschuhen und Kneifzange seine Habseligkeiten in eine
Plastikschale sammelten. Dabei war auch die Telephonkarte
des Auftraggebers der Ausschuß-Morde.
Doch was nützt die tollste Entdeckung, wenn man nicht
weiß, daß man etwas entdeckt hat, und was man eigentlich
entdeckt hat?

Da Birne nun bald auf die Krankenstation einer JVA über-


stellt werden würde, muß man sich mal vor Augen halten,
was dem Staat Gesetzesbrecher wert sind.
Wer das nicht wissen will, hier die kurze Antwort: Eine
Menge!
Jedenfalls fünfmal soviel, wie ihm der gesetzestreue Bürger
auf ALG II wert ist. Der immerhin schon reichlich Steuern
und Abgaben im Laufe seines Lebens dem Staat in den
Rachen geworfen hat. Der also finanziell schlechter und
auch rechtloser behandelt wird als ein Krimineller. Der sich
ernsthaft mal überlegen sollte, wo sich denn bloß der Vor-
teil des Ehrlichseins versteckte!
Da kommt einem schon Mal der Gedanke, was eigentlich
passieren würde, wenn die 20 Millionen Armen in Deutsch-
land einfach mal die Supermärkte plündern und sich dann
verhaften lassen würden. Denn:
»Ein Gefängnisinsasse in Deutschland kostet 130 Euro.
Jeden Tag.«
Das wären dann zwei Komma sechs Milliarden Euro! Jeden
Tag!
Macht 840 Milliarden Euro im Jahr. Jedes Jahr!

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Schade, daß der Staat ums Verrecken nicht begreift, daß
Verbrechensprävention mit Bekämpfung der Armut be-
ginnt! Und das könnte locker finanziert werden, wenn man
ganz einfach die Steuererleichterungen für die Reichen ab
dem Jahre 2000 zurücknehmen würde. Oder auch ab 1985!
Das würde auch den Reichen direkt zugute kommen, deren
Porsches und Daimlers und BMWs und Audis und Villen
und Werke eben nicht eines Tages wie in Frankreich abfak-
keln würden.
Der durchschnittliche Rentenbezieher liegt so bei 750 Euro!
Naja, Männer bei 1000 Euro, Frauen bei 500 Euro. Jeden
Monat! Beamte erhalten aus sinistren Gründen mehr als das
Doppelte! Also, wer sind denn nun die Kriminellen, wenn
ein staatstragender Politiker mal wieder von kriminellen
Schmarotzern redet, die glatt 11,24 Euro monatlich zu Un-
recht beziehen! Rentner, EEJer, Beamte, Politiker?
Was sind gegen diese Riesensumme von 11,24 Euro schon
die läppischen 350 Milliarden Euros, die Wirtschaftskrimi-
nelle, wie manche Wirtschafts-Institute schätzen, an Schä-
den der Bundesrepublik Deutschland zufügen? Jedes Jahr!
Irre, nicht, was einer Regierung ihre Bürger wert sind?

Die zwei Drogenfahnder, Mike und Charly, die aus ihrem


zerbeulten Toyota auf dem Kurfürstendamm das Szenecafé
»Radium« beobachteten, fanden den Sieg der Alten spit-
zenmäßig.
»Die hat’s dem dreckigen Punk aber gegeben, was?«
Herzhaft biß Charly in eins der zwölf Fischbrötchen, die er
sich jeden Morgen frisch auf dem Großmarkt besorgte. Das
war so seine Tagesration.
Mike meinte, bald würden Charly Kiemen wachsen, und er
müßte ab morgen im Berliner Aquarium leben. Schuppen
hätte er jedenfalls schon und biegsame Gräten auch.

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»Am schönsten war für mich, als unser Yuppie mit seinem
Brioni-Zwirn den Asphalt putzte. Das wird dem ewig mehr
wehtun als seine Knochen!«
Der Tag war noch jung, und Mike riß seine zweite Schach-
tel Kippen auf. Charly protestierte nicht, da Mike auch
klaglos den penetranten Fischgestank aushielt.
Ja, der Toyota konnte schon von einem Blinden mit einem
Trawler oder etwas Anderem verwechselt werden. »Hallo,
Mädels!«
Festgenommene Giftler beschwerten sich hin und wieder
wegen »folterähnlicher Methoden« bei ihrer Verhaftung.
Sie kannten nicht die altertümliche Werbung »Eßt mehr
Fisch!« und »Fisch ist gesund!«. So was ging ihnen absolut
am Arsch vorbei.
Die beiden Drogenfahnder waren bekennende Hörer des
illegalen Berliner Blödel-Senders »Ga-Ga-Hau«. Charly
horchte auf und drehte auf volle Pulle. Steinzeittümlicher
Rock’n’roll erklang.

»So von acht bis um acht,


lauf ich rum jede Nacht,
denn ich bin der…. Schutzmann vom Dienst.«

Die Luftgitarren paßten so gerade in den kleinen Toyota


rein. Die beiden bekamen vor Begeisterung nichts mehr von
draußen mit.

»Immer nachts, nie am Tag,


doch ich bin schwer auf Draht,
denn ich bin der…. Schutzmann vom Dienst.«

Niemand, aber auch wirklich niemand hätte in diesem Au-


genblick geglaubt, zwei Polizeibeamte vor sich zu haben.

»Ich hab die Sonne nie gesehn,


doch der Mond ist auch ganz schön,
denn ich bin der…. Schutzmann vom Dienst.«

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Mike und Charly grölten mit.

»Ich paß auf, bin gut drauf.


Alle Gauners reißen aus,
denn ich bin der…. Schutzmann vom Dienst.«

Dunkelheit, es wird Zeit.


Tschüß bis bald, Adelheid,
denn ich bin der…. Schutzmann vom Dienst.«

Mike und Charly kriegten sich wieder ein und wischten sich
die Lachtränen aus den Augenwinkeln.

»Guck mal, ist das nicht der verkokste TV-Moderator?«


Mike machte sich eine kurze Notiz.
»Der miese Giftler, der immer telephonisch »Frischfleisch«
aus dem Ostblock zum Vögeln anforderte?«
Solche Ärsche müßten sofort in den Knast. Wegen Förde-
rung der Prostitution, fand Charly. Dort könnten sie einen
schnellen und kostenfreien Entzug durchführen und auch
mal am eigenen Arsch erfahren, was es heißt, Nutte zu sein!
Aber solange sogar ein deutscher Turnschuhminister die
Visumvergabe an angehende Ostnutten duldete, war das
wohl fast legal.
»Der läuft rum wie’n Lude.«
»Wie’n Strizzi!«
»Der benimmt sich auch so!«
»Den habe ich noch nie anders erlebt!«

Nun ist es ein merkwürdiges Phänomen, daß in der heuti-


gen Zeit die gesamte mediale Welt hemmungslos aus dem
Rotlichtmilieu abkupfert.
Wenn ein Vorstandssprecher einer großen Bank sonnen-
bankgebräunt, dunkler Zwirn, feistes Gesicht, Designerbril-
le, schwere goldene Armbanduhr, sich vor den Kameras
spreizt, und seine Krawatte und Einstecktuch eine neonarti-
ge Primärfarbe besitzen, dann posiert da kein Herr, sondern

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eine Art abgehalfterter Seniorenzuhälter mit Bausparvertrag
und Sparbuch der Raiffeisenkasse.
Ein echter Herr bevorzugt gedeckte Farben, mein Herr. Und
trägt zu dunklen Anzügen keine braunen Schuhe. Gott der
Gerechte!

Oder der Bereich Sangeskünste. Um es ganz klar vorweg-


zusagen, ein kleiner dicker häßlicher Caruso hätte in dem
heutigen Trällerrummel nicht den Hauch einer Chance!
Und wenn er wie eine Nachtigall jodeln würde. Er müßte
nämlich mit freiem Oberkörper kraalkafferartig über die
Bühne hopsen und zusätzlich wichtige Handbewegungen
produzieren. Da wäre für Gesang keine Luft mehr da. Und
außerdem war dieser Typ Enrico damals schon alt, steinalt!
Und sah aus wie Mensch-ärgere-Dich-nicht!
Es ist echt Scheiße für die Plattenindustrie, daß man im
Radio sowenig von der tollen Bühnenshow sieht! Sonst
würde man ja viel mehr Scheiben verkaufen. Denn das Lied
an sich ist doch nun wirklich völlig uninteressant.

Mike und Charly hatten vor dem »Radium« einen Logen-


platz. Sie wußten, daß irgendjemand von den Gästen aus
seinem Köfferchen Koks vertickerte. Aber wer?
»Guck mal, ist das nicht ein gewesener Fußballtrainer?«
Das Lachsbrötchen mit Zwiebeln und Meerrettich schmeck-
te echt lecker.
»Nä, isser eben nicht. Für Leute, die zu blöd für einen Trai-
nerschein sind, hat man doch den Begriff »Teamchef« er-
funden!«
»Sieht so ähnlich aus, wie die Gichtgestalt Deutschlands.«
Irgendein seltsames Geheimnis schien ihn mit einer gerade-
zu greifbaren Aura zu umgeben. Viele glaubten, er schwebe
in unbekannten Sphären. Andere meinten, er gucke von
Natur aus so dämlich, und es hätte aber auch rein garnichts
zu bedeuten. Das Wichtig-Gucken hätte ihm vor 40 Jahren
sein Manager beigebracht, als er Tütensuppen bewerben
mußte. Mein lieber Schwan! Das waren noch Zeiten! Seit er

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ein bestimmtes Alter erreicht hatte, schlug der Johannistrieb
voll durch, und er sorgte für eine beneidenswerte Zunahme
seiner Nachkommenschaft. Ist schon was dran an »Doof
bumst gut!«.
»Ja, ist denn heut’ schon Weihnachten?«
»Der Schnee jedenfalls ist schon da!«
Beide wollten sich scheckig lachen. Fußball nötigte ihnen
ebenso viel Respekt ab, wie Gala-Diners als Freßorgien
zum Wohle der Hungernden in Afrika. Oder Bier saufen,
um den Regenwald zu retten! »Mal fini! Endkrank!«
Elf wehleidige Männerchen in Spielhöschen im besten
Malocheralter, mit Millioneneinkommen, das ihnen der
Fernsehgebührenzahler gegen seinen Willen bescherte,
waren einfach zum Schießen!
Und selbst wenn man unvoreingenommen an die Sache
heranging, spätestens, wenn die Hirnis vor der Fernsehka-
mera über Gott und die Welt dampfplaudern durften, waren
sie dann einfach zum Schießen!
Top waren auch die Fußballrentner, die die TV-Anstalten in
Legionen zum Kommentieren und zur Analyse einkauften.
Sie waren der lebende Beweis dafür, daß früher eben nicht
alles besser war!
»Der Kalle ist der, der wo immer Tore schießen tut!« Ge-
nau.
Nun ist es aber so, daß Fußball, Rockkonzert oder Papst-
messe etwas Wesentliches gemein haben. Sie vermitteln ein
intensives Gemeinschafts-Erlebnis! Es ist völlig gleichgül-
tig, wer da vorne womit agiert, Hauptsache, man hat mit
und in einer Masse Mensch irgendwas erlebt. Dann können
die schlichten Gemüter voller Stolz immer wieder erzählen:
»Ich war dabei!«
So wie Uropa als Dauerwiederholung von seinen tollen
Erlebnissen aus Stalingrad erzählt:
»Ich war dabei!«
Kluge Menschen würden lieber sagen:
»Ich war nicht dabei! Gottseidank.«

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Und extrem Kluge würden einfach die Schnauze halten.
Man will doch nicht für einen Spielverderber gehalten wer-
den. Inmitten von 60.000 hysterisch und lautstark Zustim-
mung einfordernden Fußball-Fanatikern im Stadion! Die
sich nicht in Teheran befinden, sondern hier in Berlin!
Dschieses Kreist!

Mike und Charly wußten, daß sie nun einen anderen »drin-
genden« Einsatz bekommen würden. Und sie wußten auch,
daß genau dann der Schneemann das »Radium« aufsuchen
würde. Sie waren noch dabei, einen narrensicheren Plan
auszuhecken, der ihnen die Giftler, den Schneemann und
den verschissenen Maulwurf aus ihren Reihen ans Messer
liefern würde. Da kam der Auftrag auch schon.
Als sie abfuhren, stieg aus dem Streifenwagen, der noch
immer vor dem »Radium« stand, ein Polizist mit einer
Plastiktüte aus. Er verschwand im Lokal.

78
Absurdistan, Altötting, Gestern, den 16. Novem-
ber, 20 Uhr 53

Der falsche Priester aus Kasachstan zog im Rausgehen


seine Soutane aus und verwandelte sich so in einen wallfah-
renden Besucher. Sicherheitshalber hatte er seinen gestoh-
lenen Wagen auf einer Parallelstraße geparkt, die keine
Zufahrt zum Dorf hatte. Er mußte nur eine 300 Meter breite
Weidefläche im Dunkeln durchqueren, dann hätte er im
Notfall mehrere Kilometer Vorsprung. Zu seinem Pech
fand er mittels einer winzigen LED-Taschenlampe eine
bequeme Überstiegsmöglichkeit des Zaunes. Manchmal
bringt Bequemlichkeit einen einfach um. Er überquerte den
Zaun also über eine beidseitige kurze Holzleiter. Pech des-
wegen, weil er ansonsten gemerkt hätte, daß der Zaun unter
Strom stand.
So allerdings kam er nichts ahnend jemandem in die Quere,
der eine absolute Saulaune hatte. Der aus verschiedenen
Gründen stinkig war! Der so richtig mies drauf war. Und
linkere Gedanken vor sich her wälzte, als ein Anlageberater
in Betrügerlaune.
Egon, ein fünfjähriger preisgekrönter Stier, hatte immer
gute Dienste geleistet und seine Paarungen hatten zu zahl-
losen Trächtigkeiten bei all den Bertas und Gertruden ge-
führt. Jedoch litt er in den letzten Wochen unter abnormen
sexuellen Erregungszuständen namens Satyriasis und einer
sich anbahnenden Impotenz.
Wenn er zum Beispiel zum Saufen zur Tränke geführt wur-
de, galoppierte er zum Eingang, aus dem die Bertas und
Gertruden gewöhnlich zur Paarung kamen, und dann, wenn
er bemerkte, daß heute nix dergleichen angesagt war, flitzte
er zurück und masturbierte aus Frustration. Zu allem Über-
fluß war es ihm unmöglich, wann immer mal wieder doch
eine Kuh geholt wurde, seinen Penis einzuführen. Es pas-
sierte nichts, trotz seiner ausgeprägten Erregung.

79
Diese Sachlage bedeutete einen beträchtlichen finanziellen
Verlust für seinen Besitzer, der zwar aus eigener leidvoller
Erfahrung anteilnehmendes Mitgefühl zeigte, aber auch für
sich zu keiner Lösung gekommen war.

Nun, und Egon als Zuchtbulle war nun mal sehr teuer und
sollte nur zur Vermehrung eingesetzt werden. Und wenn er
nicht mehr kann, geht’s ab zum Metzger oder zur Kastrati-
on.
Das wäre aber nicht mehr Sinn und Zweck der Angelegen-
heit.
Wenn Egon nun auch nicht die Worte »Satyriasis« und
»Impotenz« verstand, der Begriff Kastration war ihm
durchaus geläufig. Und es wäre eine schamlose Übertrei-
bung, wenn man sagen würde, daß so etwas in Überein-
stimmung mit seinen Wünschen war. Er wollte auch wei-
terhin Vater werden können mit vielen kleinen Bullenkälb-
chen und nicht bloß Onkel! Und irgendwie waren die Ber-
tas und Gertruden ja auch ganz niedlich. Die wollten ja
auch einen ganzen Kerl spüren und nicht so einen fieseligen
Gummischlauch bei der künstlichen Besamung!
Er war auf der Weide, weil er eine letzte Chance bekom-
men sollte. Zwei Tage und Nächte alleine an der frischen
kalten Luft und dann zwei Tage zusätzlich mit Kühen! Das
war doch ein Angebot! Aber eben ein Letztes!
So fetzte Egon vor Wut schnaubend auf der Weide hin und
her, dauernd nach einer Möglichkeit suchend seine Frustra-
tionen abzureagieren.
Der Blödmann, der zufrieden grinsend und leise pfeifend
über die Wiese schlenderte, kam ihm gerade recht. So ein
Arsch! Egon machte sich ernste, durchaus berechtigte Sor-
gen um seine privaten Teilchen, und diesem Mongo fiel zur
Problemlösung nichts Besseres ein, als zu pfeifen und über
seine Wiese zu tänzeln!
Der gewesene falsche Priester hörte aus heiterem Himmel
in der Dunkelheit ein Geräusch wie von einer Dampflok
hinter sich, als er mit gebrochenen Rückrat gut vier Meter

80
in die Luft geschleudert wurde. Das auf ihm Herumtram-
peln und wiederholte Hochwerfen merkte er nicht mehr. Er
würde nie wieder etwas merken.
Egon jedoch fühlte sich »Like A Million Dollar« und hätte
auf der Stelle ein Dutzend der Bertas und Gertruden verna-
schen können!
Man konnte fast sagen, das Opfer war der einzige Gangster
aus dem weiten Osten, der wortgetreu von einem deutschen
Bullen erwischt wurde!

Die Dorfbewohner kannten derlei Unfälle schon und gran-


telten nur:
»Ja mei, Saupreißn, mongolische!«

81
82
Die Gelegenheit

Absurdistan, Bonn, Donnerstag, der 17. November,


07 Uhr 53

»So, Hade. Ruf mir bitte ein Taxi zum Bahnhof, ich will
nach Berlin.«
Brack mußte sich mit Gewalt aus diesem unglaublich be-
quemen alten Ledersessel reißen.
»Immer zu einem kleinen Scherz aufgelegt, der Justus.
Guck mal aus dem Fenster. Dein Hubschrauber ist noch
da.«
Mit einem maliziösen Lächeln stand auch Hade auf. »Und
von Köln geht’s mit dem Lear-Jet nach Berlin. In andert-
halb Stunden bist Du da. Jetzt vergeude keine Zeit.«
Brack sammelte seine Siebensachen ein, die verstreut über-
all rumlagen. Er fühlte sich hier wirklich wie zu Hause.
»Schade um das gute Frühstück! Wie soll ich berichten?«
»Ruf mich unter dieser Nummer mit dem häßlichen Handy
an. Extra und immer für Dich am Rohr. Und nun ab und
Horrido. Gute Jagd, Justus.«
Hade begleitete Brack zur Terrassentür, klopfte ihm auf die
Schulter, machte mit der Hand ein kreisendes Zeichen,
worauf der Hubschrauberpilot die Rotoren anließ. Brack
fühlte sich jetzt schon elend.

83
Absurdistan, 8.000 Meter über Brandenburg,
Donnerstag, der 17. November, 09 Uhr 04

Brack träumte unruhig von seinem »Scheißgeld«. Das ihm


verblichene Abgeordnete streitig machten.

Als Brack anfing, richtig Geld zu verdienen, erinnerte er


sich an seine Urgroßeltern, die im WKI im Baltikum ihr
Vermögen verloren. Er erinnerte sich an seine Großeltern,
die in der Weltwirtschaftskrise fast alles, und mit der Wäh-
rungsreform den Rest verloren. Er war fest entschlossen, in
seiner Familie der erste Geld-Nicht-Depp zu werden. Also
interviewte er jährlich für viel Honorar Ralf D. Ralf hatte
Wirtschaftswissenschaften studiert, zu dem einzigen
Zweck, das System zu bekämpfen. Kurz gefaßt verliefen
die Gespräche über die Jahre hinweg so:
»So Justus, ich erzähle Dir nun einige wichtige Hintergrün-
de. Was ist schon das Verbrechen eines Bankraubes gegen
das Verbrechen der Gründung einer Bank. Brecht hat das so
ähnlich gesagt. Der Kommunismus hatte mit dem Abschaf-
fen und Zerschlagen des Bankwesens völlig recht. Wenn
die Bürger mittags erfahren würden, was mit ihrem Geld
wirklich los ist, hätten wir am Abend eine weltweite Revo-
lution.«
»Gut, Ralf, begriffen. Aber nun sage mal, warum sind die
Banken für Viele »böse«?«
»Weil man Arbeit und Kapital als zwei unterschiedliche
Faktoren betrachtet! In Wirklichkeit ist Kapital nur das
Destillat aus Arbeit. Also ist Kapital und Arbeit Ein und das
Gleiche. Und die Banken saugen gegen die Verleihung von
Kapital einen netten Prozentsatz Deiner Arbeit ab! Die
Banken schaffen aber nichts eigenständig Produktives. Du

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arbeitest für die Banken, und das ist der Grund, warum den
Banken immer mehr und bald alles gehört!«
»Mmhh, na, mach erstmal weiter.«
»Man behauptet, Geld sei ein scheues Reh. Nää, Geld ist
mehr eine zerstörende Wildsau! Jeder Geldschein müßte ein
Verfallsdatum haben! Aber das führt für Dich heute zu
weit. Alles, aber auch alles, was aus Papier ist, darfst Du
niemals kaufen. Börsen, egal welcher Art, sind nichts als
Zockerbuden. Wenn Du zocken willst, geh ins Casino oder
mach eine Pokerrunde auf. Für Dich heißt jede Investition,
ich kaufe nur Werte, die ich auch anfassen kann! Sonst
spielst Du Spiele, deren Regeln Du nicht kennst, und die
jede Minute neu gestaltet werden. Du darfst nie, aber auch
nie vergessen, daß Gangster und Politiker in Personalunion
immer hinter Deinem Geld her sind. Die geben das aus,
was Du verdienst! Diese Gangster kommen in den harmlo-
sesten Verkleidungen daher. Nichts glauben, was die sa-
gen.«
»Also Du rätst mir, in Sachwerte zu investieren.«
»Grundsätzlich ja, aber nicht in alle! Aber laß mich noch’n
bißchen erzählen. Also, nur mit dem Finanzamt würde ich
mich nicht anlegen! Die haben Rechte, die weit über die
Normalgesetze der Cosa Nostra hinausgehen. Da mußt Du
Deine Unschuld beweisen! Aber beweise mal, daß Du un-
schuldig am Untergang der Titanic bist! Oder daß Du 100
Millionen Dollar nicht verdient hast! Schaffst Du nicht, bist
also immer der Verlierer, und wenn Du nicht zahlen kannst
oder willst, wanderst Du in den Knast.«
»Quatsch! Das würde ja unsere gesamte Rechtsordnung
aushebeln!«
»Genau das! Für den Staat ist das schlimmste Verbrechen
die Steuerhinterziehung. Noch weit vor Mord! Also würde
ich nur ein Konto für die laufenden Einnahmen und Ausga-
ben betreiben. Also, eins für alles! Denn überzähliges Bar-
und Papiergeld wird von Dir unverzüglich in handfeste
Sachwerte verwandelt. Vergiß die Schweiz oder die Kai-

85
man-Inseln, die können nämlich das Gleiche wie Deutsch-
land oder Argentinien machen, Deine Konten sperren!
Hab immer 100.000 Euros in Cash und verschiedenen Wäh-
rungen zu Hause. Aber keine Dollars. Das tut Dir nicht
weh, wenn die mal weg sind.« Ralf D. verdrehte die Augen.
»Beneidenswert! Verzichte auf Zinsen, denn damit machst
Du die Banken und den Staat reich, aber nicht Dich.«
»Zement mal! Warum denn das? Ralf, erzähl hier keinen
Mist!«
»Na, willste mal mitrechnen? Du bekommst für Dein Geld
drei bis vier Prozent Zinsen. Wenn die Bank Dein Geld
verleiht, nimmt sie 12 bis 14 Prozent Zinsen. Na, wer ver-
dient mehr?«
»Äähh?«
»Von Deinen drei bis vier Prozent Zinsen erhält der Staat
mindestens 25 % Zinsertragsteuer, dann rechne noch die
wirkliche Inflation und Preissteigerung für knappe Güter
dazu, die ungedeckte Gelddruckerei, und zack, verlierst Du
jedes Jahr einen kleinen Teil Deines Vermögens. In zirka
50 Jahren ist so von Deinem Geld nichts mehr übrig, das
haben nun die Banken geschluckt! Zu der ungedeckten
Gelddruckerei noch ein Rätsel: Wenn sich eine Bank oder
Sparkasse 1 Million Euro in Scheinen von der Zentralbank
leiht und nach einem Jahr 1 Million Euro zurückzahlt, wo-
her kommen dann eigentlich bei 3% Zinssatz die 30.000
Euro Zinsen, die fällig geworden sind? Na? Ganz einfach:
Die 30.000 Euronen bleiben für alle Zeiten als Schulden
erhalten. Mit einer Verzinsung für die Ewigkeit, denn eine
vollständige Rückzahlung ist garnicht möglich. Auch dann
nicht, wenn es von einer anderen Bank stammt, dann fehlt
es eben hier. «
»Ich fasse es nicht! Und nun?«
»Kümmere Dich nur darum, daß Dein Vermögen kauf-
kraftmäßig nicht an Wert verliert. Vergiß Immobilien!
Vergiß Aktien! Vergiß Staatsanleihen! »Gold gab ich für
Eisen!« Kennste doch noch von Oma und Opa, heh? Aber
Du sagst in Zukunft: Papier gab ich für Gold!«

86
»Also Papiergeld und Kontoguthaben in Gold umtauschen?
Und Diamanten?«
»So ungefähr. Muß nicht nur Gold sein. Aber keine Dia-
manten. Deren Wert ist künstlich! Wenn alle von Angebot
und Nachfrage faseln, werden aber Diamanten künstlich
verknappt! Unser heutiges Geldsystem ist keine hundert
Jahre alt. Oder noch genauer keine 40 Jahre. Zahlungen in
Gold und Silber liefen aber über tausende von Jahren
höchst erfolgreich. Da haben aber Staat und Banken keine
Kontrolle mehr drüber, und das mögen sie nicht! Papiergeld
kann endlos neu gedruckt werden, Gold und Silber sind
endlich! Zusätzlich solltest Du Dir über den Industriever-
brauch von seltenen Metallen Gedanken machen. Platin
zum Beispiel. Oder Iridium.
Der Euro spielt wegen Frankreich, Italien, Spanien und so
weiter keine Rolle, die Welt wird vom Dollar dominiert.
Der Euro müßte heute bereits 1:9 umgetauscht werden,
wenn eine Warendeckung vorhanden sein soll. 111 NEUE
Euro gegen 1.000 alte Euro. So schnell kann’s gehen. Und
da wird es in den nächsten 20 Jahren zu einem Crash kom-
men, der sich gewaschen hat! Alfred Nobel war ein sehr
kluger Mann! Er wußte schon, warum er keinen Nobelpreis
für Volkswirtschaft und Psychowischiwaschiwissen-
schaften vergeben wollte. Es sind nämlich keine. Also im-
mer schön auf die Leitwährung achten. Es stellt sich aber
nicht nur die Frage nach der Leitwährung, sondern nach der
Zukunft des gesamten Weltfinanzsystems. Und die sieht
rabenschwarz aus.
Hedgefonds häufen immer größere virtuelle Vermögens-
werte an, die mit der Realwirtschaft nichts mehr zu tun
haben. Die Immobilienblasen in den USA und einigen an-
deren Ländern nehmen immer bedrohlichere Ausmaße an.«
»Ich versteh nicht ein Wort!«
»Mußt Du auch nicht, dafür hast Du mich engagiert! Wei-
ter. Die private Verschuldung in den USA ist astronomisch.
Das riesige Außenhandelsdefizit der USA hat es in ähnli-
cher Größenordnung noch nie vorher in der Wirtschaftsge-

87
schichte gegeben und steigt ständig weiter. In weiten Berei-
chen der zivilen Industrie sind die USA seit langem nicht
mehr wettbewerbsfähig.«
»Und mein PC? Und die Software? Kommt doch alles aus
den USA!«
»Hehehehe, nicht wirklich. Dein Prozessor kommt zum
Beispiel aus Dresden. Deine Software wird in Bangalore
hergestellt. Liegt beides nicht so richtig in den USA!«
Justus Brack guckte etwas kariert.
»Ich meinte auch mehr Industrieprodukte und normale
Verbrauchsgüter, die heute in Massen von den USA impor-
tiert werden müssen. Wenn die internationale Leitwährung
auf so einem maroden wirtschaftlichen Fundament steht,
dann ist sie bald keine Leitwährung mehr oder reißt alle
anderen wichtigen Währungen mit in den Abgrund. Mer-
ken, die nächste Weltwirtschaftskrise steht vor der Tür.
Verzichte auf »Geld aus Geld«, sichere einfach Dein Ver-
mögen. Sollen die Gierigen, die Mitspieler ihr Geld verlie-
ren, Du aber nicht!«
»Wäre ja richtig schön für mich.«
»Weiter. Es sieht nicht nur aus wie ein riesiges Schneeball-
system, es ist eins. Die Erkenntnis aus unserer Blödheit
wird diesmal ungeheuer teuer. Teuer wird vor allen Dingen
der Aufstieg einiger Entwicklungsländer, die zwar kein
Geld, aber plötzlich Sachwerte haben. Die ganzen nationa-
len Wirtschaften sind über Defizitkreisläufe aneinander
gekoppelt. Geht die amerikanische Wirtschaft den Bach
runter, folgen alle anderen Staatswirtschaften ebenfalls.
Wer soll denn im Falle eines Dollarzusammenbruchs den
überflüssigen Schnickschnack kaufen, den die Asiaten und
Europäer herstellen und vertickern müssen? Und theore-
tisch müßten wir raus aus der EU! Aber schnellstens! 4000
Jahre Feindschaft in Europa wollen grenzdebile Politiker
mit einem Federstrich ungeschehen machen. Fassen sich an
die Hand und behaupten, nun haben wir uns aber ganz doll
lieb! Krank! Mal fini! Man hat das Pferd aber so was von

88
falsch aufgezäumt… nicht zu sagen. Deswegen müssen wir
raus aus EU und Euro.«
Brack schüttelte den Kopf. Er begriff nur wenig.
»Die Unternehmen sitzen auf fiktivem Geld und die Staaten
auf astronomischen Schulden. Die ganze Weltwirtschaft ist
nur noch eine große Voodooveranstaltung mit Zaubersprü-
chen zur Gesundung. Die aber nie kommen wird. Und
wenn, mit einem Riesenkrach!
Der Dollar hat seit der Beendigung des Goldstandards in
den USA ca. 96 % seines Wertes verloren. Der heutige
Goldpreis entspricht wieder, in Kaufkraft ausgedrückt, dem
Goldpreis von damals. Das gleiche gilt für Erdöl. Für eine
Unze Gold konntest Du Dich 1971 einkleiden. Exakt wie
heute!
Die Ölpreisvervierfachung zur Zeit der Ölkrise in den 70ern
wurde nicht durch eine embargoabhängige Ölknappheit
gestartet, sondern die Scheichs entschieden das innerhalb
weniger Stunden nach Aufkündigung des Bretton-Wood-
Abkommens durch die Vereinigten Staaten, weil sie wuß-
ten, daß ohne Goldbindung des Dollars die Druckerpressen
heißlaufen und seine Kaufkraft sinken würde.«
»Moment, Moment. Heißt das, das ich damals am Sonntag
zuhause bleiben mußte wegen Bretton-Wood?«
»Wenn Du so willst, ja! Öl gab es genug. Nur der Preis war
wegen der amerikanischen Goldentkopplung leicht explo-
diert. Und Deutschland wollte einfach Devisen sparen.«
»Man hat aber damals was ganz anderes in den Zeitungen
geschrieben!«
»Na, und was schreiben sie heute? Die Wahrheit? Die USA
überziehen jedes Land mit Krieg, das den Ölpreis auf eine
andere Währung wie zum Beispiel den Euro umstellen will!
Denn sonst wäre der Dollar innerhalb eines Tages tot!
Wie die EZB zugab, sind die Zentralbanken nicht in der
Lage, im Fall des Zusammenbruchs eines großen interna-
tionalen Finanzhauses die Reaktion des mit geschätzten 350
Billionen Dollar unvorstellbar großen Derivatenmarktes
vorherzusagen oder gar zu kontrollieren.

89
Wenn man sich dann noch anhört, wie die verschiedenen
Ämter für Statistik uns verkaufen wollen, daß die Inflation
durch die Preissteigerung bei den Gütern A, B und C be-
dingt ist, während alle größeren Währungen der Welt im
Jahr 2005 die Geldmenge in Zirkulation um durchschnitt-
lich 10 % erhöht und damit die Kaufkraft der Bürger um
effektive 10 % verringert haben, fragt man sich, was damit
wohl bezweckt werden soll……. Nie zuvor in der Mensch-
heitsgeschichte wurden in so kurzer Zeit zwei Milliarden
Menschen plötzlich zusätzlich zu Wettbewerbern im Kampf
um so wenig verbleibende Ressourcen, egal, ob es sich
Industriemetalle, fossile Energie, Holz oder Fische oder
Nahrung handelt. Nie zuvor in den letzten 100 Jahren wa-
ren die USA so deindustrialisiert und deinfrastrukturiert wie
heute. Mit dem ganzen angehäuften Papiergeld, das in Kür-
ze wertlos sein dürfte, werden gerade jetzt überall Firmen,
Konzerne, Immobilien, Stadtwerke, Wohnungsbaugesell-
schaften und so weiter aufgekauft. Wenn die Blase dann
platzt, sitzen andere auf den wertlosen Dollars und die
amerikanischen Fonds besitzen massenweise Realwerte.«
»Also kaufe ich auch so was?«
»Nein. Du kaufst Sachen, die selten sind und bleiben und
immer weltweit gebraucht werden! Die Du schnell verkau-
fen kannst. Und die läßt Du Dir nach Hause zum Anfassen
liefern. Wenn Du was zu Deiner Versorgung beitragen
willst, kauf Dir einen großen Bauernhof in Deiner Nähe! Ist
auch steuermindernd. Keine Papieranteile!«
Langsam begriff Justus Brack die Zwickmühle. Im Falle
eines Falles konnte er auch mit Vermögen bitterarm wer-
den, wenn er auf Geld setzte. Mit seltenen Metallen war er
auf einer sichereren Seite.
»Mit dem Federal Reserve Act vom 23.12.1913 fing das
Trauerspiel an. Mit diesem Gesetz wurde dem Kongreß und
damit dem amerikanischen Volk die Kontrolle über das
Geld entzogen und in private Hände übergeben. Das
»Köppchen« dieser Gesetzgebung war der aus Deutschland
stammende Paul Warburg, der Bruder von Max Warburg

90
und Miterbe des einflußreichen Hamburger Bankhauses
gleichen Namens, einer Agenturbank des englischen Roth-
schild Bankenimperiums.
Die wirklich wichtigen finanziellen Strategieentscheidun-
gen für die ganze Welt des FED werden also von einem
internationalen Bankenkonsortium getroffen. Von Privat-
leuten! Nicht von einem Staat!
Kennedy wollte und hat mit der am 4. Juni 1963 unter-
zeichneten Executive Order 11110 staatliche Banknoten
herausgegeben und so das Geldmonopol des Federal Reser-
ve System, die zwölf amerikanischen Zentralbanken, be-
droht. Man mußte verhindern, daß Kennedy wirklich die
Macht der FED beschneidet. Und die Verordnung wurde
nach dem erfolgreichen Attentat auf Kennedy von seinem
Nachfolger in ganz kleine Fetzen zerrissen, und bereits
gedruckte staatliche Banknoten wieder eingestampft und
stillschweigend aus dem Verkehr gezogen.
Es ging um die Kleinigkeit von 30-100 Milliarden Dollar
jährlich. Bis heute! Abraham Lincoln und J. F. Kennedy
waren die einzigen amerikanischen Präsidenten, die staatli-
ches Geld einführen wollten. Beide starben bei nie geklär-
ten Attentaten. Beide Attentäter, Booth und Oswald wurden
kurze Zeit nach dem Attentat erschossen. Lasset uns raten!
Es war immer schon im Interesse der Geldschöpfer, durch
fortwährende Geldschöpfung Inflation zu erzeugen. Da-
durch konnten Schulden von Banken und Staaten leichter,
eher und billiger zurückbezahlt werden, und man konnte
schneller neue Schulden machen. Bezahlt werden sollte das
Ganze von den kleinen fleißigen Ameisen. Auch Bürger
oder Wähler genannt. Eine Art Perpetuum mobile. Doch
das existiert nicht. Ein Schneeballsystem! Ein legales! Und
den letzten beißen die Hunde!
Daß das nicht gut gehen konnte und nicht gut gehen kann,
dazu muß man nicht Kommunist sein, um das zu verstehen.
Das Trauerspiel ging weiter bis zur Ära Nixon, der 1971 die
Goldbindung auch für nationale Zentralbanken aufhob.
Damit waren sämtliche Dämme für das hemmungslose

91
Gelddrucken gebrochen. Heute haben wir nur noch fiktives
Luftgeld in den Händen. Wie lange soll das gut gehen?
Selbst die stärkste Währung der Welt, der Schweizer Fran-
ken büßte seitdem zwei Drittel seines Wertes ein. In dieser
Welt des sogenannten fiat money werden die Reichen im-
mer reicher und die Armen immer ärmer. Das liegt schlicht
und einfach am System und ist von vornherein zum Schei-
tern verurteilt. Daran kann auch keine Regierung etwas
ändern. Und doch werden die Armen über die Reichen
siegen, weil sie viel mehr sind. Allerdings wird das Ströme
von Blut kosten Die ganze widerwärtige selbsternannte
Elite wird zerfetzt werden. Und wozu? Zu Recht! Deren
Verbrechen kosten Millionen Opfer. Jedes Jahr!.«
»Ach, deswegen soll die Bundeswehr unbedingt im Inland
für Ruhe und Ordnung sorgen dürfen?«
»Das weiß ich natürlich nicht. Aber vermuten wir das mal.«
Ralf D. guckte Brack nachdenklich an.
»Hast Du irgendwas mal von »Bilderberg« gehört?«
»Mann, Ralf, hör’ auf!”
Ralf D. lachte.
»Gut, machen wir weiter! Die deutsche nationale Goldre-
serve ist in den USA, New York gelagert! Warum? Nie-
mand glaubt doch ernsthaft daran, daß die USA unser
schönes Gold jemals wieder rausrücken!
Es wurde angeblich dort eingelagert, weil es im Konfliktfall
in Frankfurt vor den Sowjets nicht sicher gewesen wäre.
Nur: Die Sowjetunion gibt es seit 15 Jahren nicht mehr!
Also wie jetzt?
Und warum liegen mit der gleichen Begründung nicht die
Schweizer Goldvorräte in den USA? Na, weil die Schwei-
zer nicht so blöd sind wie wir!«
»Moment! Unser Gold ist garnicht hier? Sind denn die
Politiker blöd?«
»Keine Fangfragen, Justus!« Ralf grinste.
»Lediglich 5 % des US Dollar dürften durch echte Produk-
tivität und Werte gedeckt sein. Alles andere ist Luftgeld.
Man müßte auch mal überprüfen, wohin eigentlich die

92
Gelder der 300 Millionen Steuerzahler der EU immer ge-
flossen sind, und warum so wenig Gegenwert gefunden
wird. Und noch Eins.
Wenn der Westen Kriege zur Rohstoffversorgung plant,
braucht er Soldaten! Die erhält er, wenn er bei einer Mas-
senarbeitslosigkeit die allgemeine Wehrpflicht wieder ein-
führt und auch durchzieht! Und irgendwie sind wir dafür
auf einem guten Weg!«

Ralf D. pustete wie immer seinen Kaffee kalt und Justus


Brack lauschte interessiert. Legalisiertes Verbrechertum!
Äußerst spannend.

»Da ich nun der Meinung bin, die Amerikaner mögen sich
endlich mal selbst ernähren und nicht dauernd auf unsere
Kosten, empfehle ich folgende Anlagen immer und nur mit
Blick auf den Dollar.«

Und Ralf entwarf seine Strategie. Bis heute war Justus


Brack hervorragend damit gefahren, denn sein verdientes
Geld nahm kaufkrafttechnisch gesehen jedes Jahr gewaltig
zu. Kein Staat konnte ihm was wegnehmen, nur eine Ver-
mögenssteuer konnte ihm, wenn er steuerehrlich war, scha-
den. Aber die wurde ja aus »unbekannten Gründen« abge-
schafft!

»Herr Rat, entschuldigen Sie bitte, Herr Rat?«


Die penetrante Stimme bohrte sich in Bracks Unterbewußt-
sein und unterbrach seine Gruselträume.
»Herr Rat, bitte, Herr Rat?«
Brack schreckte endgültig aus seinem unruhigen Schlum-
mer mit Vorstellungen von auf Geld und Gold aufgebahrten
Körpern in der Pathologie hoch.

93
»Jaaahaa?«
»Ein Kriminalhauptkommissar Schunck will Sie sprechen.
Kommen Sie bitte mit ins Cockpit, Herr Rat. Hier entlang.«
Gebückt folgte er dem Ersatzpiloten durch die gepolsterte
enge Röhre. Er setzte sich das Headset auf, und auf das
Nicken des Co-Piloten hin fragte er: »Justav?«
»Wenn mir Deine amerikanische Perle Herman nicht gehol-
fen hätte, hätte ich Dich nie erreicht. Wo bist Du jetzt?«
»So 20 Minuten vor und über Berlin. Was gibt’s denn so
Eiliges? Solltest Du nicht schlafen?«
»Hätte ich gerne getan. Aber wir haben ein neues Tötungs-
delikt. Oder Unfall oder so was. Und etwas Hochinteressan-
tes gefunden. Ihr landet in Tegel, richtig? Ich lasse Dich
von dort abholen.«
»Bitte, keinen Hubschrauber mehr.«
»Grundgütiger, wie denn und wovon denn? Nein, mein
Assistent Ruud holt Dich mit dem Wagen ab, und dann
geht’s direkt zum Tatort. Bis gleich.«

Aufseufzend ging Brack zu seinem Sitz und bereitete sich


auf die Landung vor. Er sehnte sich nach Hause, nach sei-
nen Büchern und seinem Tonstudio im Keller. Nach einem
frischen grünen Riesling und Hermans außergewöhnlichen
Kochkünsten. Ohne Jets und Hubschrauber. Ohne Leichen
und bohrende Rätsel. Und dachte die uralte Frage der
Menschheit: Warum eigentlich immer ich?

94
Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-
ber, 09 Uhr 35

»Herr Brack? Mein Name ist Ruud. Kommissar Schunck


schickt mich. Guten Tag.«
Brack war durchaus angenehm überrascht von Ruud. Der
sah zwar etwas wild aus, Pferdeschwanz, Brilli im Ohr, ein
Outfit, gegen das es sicher auch einen Paragraphen im Ge-
setzbuch gab, und er machte ein treudoof schafsmäßiges
Gesicht, aber die hellwache Intelligenz in den Augen konn-
te er nicht verbergen.
Sie gingen auf einen zirka 25 Jahre alten Opel zu, der schon
etwas lädiert war.
»Für den gibt’s wohl keine Ersatzteile mehr, was?« lästerte
Brack.
»Ersatzteile gibt es schon, aber kein Geld für Ersatzteile.
Das ist immerhin ein feiner Unterschied! Wir sind hier nur
die Dorfsheriffs, das Geld geht an die wirklich wichtigen
Abteilungen. An die Motorradstaffel zum Beispiel, damit
sich die Damen und Herren Staatsbesucher auch wohl bei
uns fühlen. In ihrer Wichtigkeit gebauchpinselt werden.
Auch der Personenschutz für die allerbeliebtesten Politiker
der Republik wird gerne nachgefragt und ausgeweitet! Daß
mit der Wiedervereinigung sich die Kriminaldelikte durch
die private Ostinvasion mehr als verdoppelt haben, küm-
mert keine Sau. Wir Leichenheinis kommen prima mit
Autos für die Dritte Welt aus. Wenn Sie die Berliner Stra-
ßen im Wortsinn »erfahren«, können Sie nur sagen: Paßt!
Wäre ja auch zu schade, wenn ein nagelneuer Daimler
durch das erste Schlagloch demoliert würde. Der Daimler
wird eben nicht für unsere Schlaglöcher hergestellt. Alte
deutsche Autos schon. Russische Ladas ebenfalls.«

Brack schaute an der Ampel interessiert zu, wie sich eine


Gruppe Serben und eine Gruppe Albaner gegenseitig kran-
kenhausreif prügelten. Eine übriggebliebene Schar Orange-
gekleideter verschreckte mit »Om mani padme hum« die

95
Passanten. Eine Gruppe ehemaliger Nigerianer, die, nach-
dem sie ihre Pässe weggeworfen hatten, sich nicht mehr an
ihre Herkunft erinnern konnten, verkauften unbehelligt von
der Polizei kleine Bröckchen Shit. Ein weißgewandeter
Mann mit einer fatalen Jesusähnlichkeit rezitierte im Wie-
ner Dialekt:

»Wir sind am Arsch, was für ein Drama


ganz pünktlich meldet sich Osama!
Die Wunder häufen sich vermehrt,
Bin Laden sagt, was Bush gern hört.«

Ein rumänischer Straßenmusikant mit einer starken Affini-


tät zu Köln und dem Eigentum der Kölner, der vier Meter
entfernt saß, spielte spontan auf seinem Akkordeon dazu
den Karnevalstusch: tätäää...tätäää...tätäääääääääääääääää.

»Und wohnt Osama im Iran,


dann sind die Ayatollahs dran.
Denn auch die bösen Taliban
verstecken sich in Teheran.«

Ein Straßenmusikant spielte dazu den Tusch: tä-


täää...tätäää...tätäääääääääääääääää.

Der Jesusdoppelgänger fing an zu psalmodieren:


»Der Bush sagt, Gott spricht oft zu mir
und hätte gern das Öl von Dir.
Denn Euer Gott, der ist nicht meiner.
Raketen! Dann seid Ihr im Eimer!«

Ein Straßenmusikant spielte wieder den Tusch: tä-


täää...tätäää...tätäääääääääääääääää.

»Doch Bush ist leider grenzdebil,


die Flasche voll, im Kopf nicht viel.
Es gab mal die Sowjetunion,

96
die hatte auch schon das Atom.
Wenn Generäle Wodka saufen,
kann man sich ein paar Bomben kaufen.
Vom Basar in Tadschikistan
mit UPS nach Teheran.
So kommt die Welt dem Abgrund näher,
nicht später, sondern eher eher!«

Der Straßenmusikant griff dazu den Endtusch: tä-


ää...tätäääääääääääääääää...tätäää...tätäääääääääääääääää...tä
täää...tätäääääääääääääääää.

Während ein paar Polen aus dem Kofferraum heraus lecke-


re Dauerwürste verkauften, die im Gesundheitsamt Herzan-
fälle hervorgerufen hätten, zeigten Vietnamesen unter ih-
rem Mantel unversteuerte Zigaretten. Es ist eben wirklich
polyglott, unser Berlin.

Sie erreichten die Pradistraße und Schunck kam auf den


Wagen zu. Schunck war ein älterer, kleiner, dürrer, zerknit-
terter Typ, von oben bis unten grau.
»Na, Justus? Haste Berlin gefunden?«
»Das war einfach. Der Pilot hat Ausschau gehalten nach
Vögeln, die auf dem Rücken flogen.«
»Warum sollen die denn auf dem Rücken fliegen?«, fragte
Ruud.
»Weil sie das Elend hier unten nicht mehr sehen wollen!«
Schunck verdrehte die Augen.
»Ihr habt ja hier Verhältnisse wie im Kongo. Nur die Bun-
deswehr ist noch nicht hier. Soll ich Euch einen neuen Wa-
gen besorgen? Habt Ihr in zwei Stunden.«

97
»Laß gut sein, Justus. Könnten wir garnicht richtig mit
umgehen. Neue Autos sollen ja Elektronik haben. Kennen
wir nur vom Hörensagen.«
»Sage mal«, zeigte Brack vor den Tatort, wo der Leichen-
wagen hielt, »was soll denn das werden?«
Ein unförmiger großer Pastor stand neben einem Sarg,
schlug ein Kreuzzeichen über den Sarg und sprach ein kur-
zes Gebet. Dann verschwand er im Haus.
Die zwei Bestattungsleute hatten den Kunststoffsarg zwi-
schen sich, der Deckel stand halb hoch, und nach vorne
baumelten zwei Beine heraus. Das hatte Brack in seiner
bisherigen Laufbahn auch noch nicht gesehen.
»Der Kerl ist elendig lang. Wir hatten es zuerst mit ange-
winkelten Beinen versucht, das sah aber noch blöder aus.
Hätte auch in der Höhe nicht in den Leichenwagen gepaßt.
Beantrage doch schlicht, daß nur noch Zwerge abgeholt
werden! Oder: Einfach ignorieren. Machen wir schon lange
so.« Schunck schwankte vor Müdigkeit.
Kopfschüttelnd ob dieser Pietätlosigkeit riß Brack seinen
Blick von dieser Slapsticknummer los.
»So, nun rück mal raus mit Deiner Überraschung!«
Schunck zog aus der Jackentasche eine Klarsichthülle mit
einer angekokelten kleinen Ecke Papier. Man konnte noch
lesen: Beate Kle… Sven Buch… und Heinz N……..
»Für’n Zufall ist es zu viel. Wer ist der Tote?«
»Osteuropäer mit falschen Papieren. Waffen, Munition,
Sprengstoff, auch Drogen hatte er dabei. Ist schon merk-
würdig, unser Doktor für Kalte sagt, zu 99 % ein Unfall!
Vielleicht ist er von der Teppichkante gefallen.«
»Und, Justav? Hilft uns das weiter?«
»Nee, nicht so richtig.«
»Dann gib sofort den Schnipsel an das BKA! Die kommen
dann hier angeflogen wie die Spatzen auf’m Pferdeappel.
Und Du hast den Fall vom Schreibtisch und Deine Ruhe.
Ruud, fragen Sie doch bitte mal im Haus gegenüber, ob
jemand gestern, vorgestern was Ungewöhnliches gesehen
hat. Wir fragen dann weiter.«

98
Als Ruud ausgestiegen war, sagte Brack: »Justav, Du siehst
ja richtig verboten aus. Was ist los? Willste kleine Kinder
erschrecken? Nimm Dir mal ein Beispiel an den Damen
und Herren Juristen vom BKA, die hier gleich auftauchen!
Wie adrett die aussehen.«
»Ich habe jetzt 26 Stunden nicht mehr geschlafen. Ich habe
Kopfschmerzen vom Feinsten. Ich habe das Gefühl, jeden
Moment fliegt mir die Schädeldecke weg. Als ob man mir
unter die Hirnhaut Agent Orange geblasen hätte. Aber sonst
geht’s mir primstens!«
»Da kümmern wir uns gleich drum. Ruud kommt schon
wieder.«
Tatsächlich kam Ruud mit einem breiten Grinsen auf den
Museums-Opel zu.
»Herr Nepomuk hat was beobachtet. Dritter Stock links.«
»Wir gehen mal rüber. Sie, Ruud, informieren das BKA.«

Herr Nepomuk war ein netter alter Herr mit einem Graupa-
pagei namens Don Carlos in einem großen Käfig im Wohn-
zimmer. Beide hatten völlig irritierende Angewohnheiten.
»Ich bin Kommissar Schunck, und das hier ist mein Kolle-
ge Brack. Nun erzählen Sie mal, was Sie beobachtet ha-
ben.«
Brack und Schunck nahmen in den Polstersesseln Platz und
warteten gespannt.
»Beobachtet? Vorgestern?«
Schunck fuhr herum, als hinter ihm eine Stimme fragte:
»Beobachtet? Vorgestern?«
Um nicht laut loszulachen, fragte Brack einfältig, wie For-
rest Gump: »Der spricht, der Papagei, nicht wahr?«
Brack stand auf und ging zum Fenster, damit niemand sein
Lachen sah.

99
Gegenüber schien eine Ballettschule zu sein. Brack sah
hinter einem Pfeiler einen unförmigen Körper im rosa Tutu,
der verzweifelt versuchte, das rechte Bein über die Stange
zu wuchten. Brack beobachtete die Situation fasziniert.
Endlich gelang es dem unförmigen Körper im rosa Tutu
sein Bein auf die Stange zu bringen. In Zeitlupe fiel er mit
ausgestrecktem Bein hintenüber. Brack bedeckte seine
Augen und ging in die Knie, um seinen Lachanfall zu ka-
schieren. Er ging keuchend zum Sessel zurück und wischte
sich die Tränen ab.

»Ja, er ist sehr gelehrig?«, meinte Herr Nepomuk in einem


Tonfall, als würde er immer eine Frage stellen. Prompt kam
das kongruente Echo: »Ja, er ist sehr gelehrig?«
Brack übernahm die Befragung. »Was war denn nun vorge-
stern?«
»Gegenüber gingen Leute ein und aus, die hier nicht hinge-
hören?«
Der Papagei sekundierte: »Gegenüber gingen Leute ein und
aus, die hier nicht hingehören?«
Schunck drehte den Kopf wieder zu Herrn Nepomuk.
»Und«, fügte Herr Nepomuk hinzu, »die benahmen sich
wie Filmgangster?«
Don Carlos mischte sich wieder ins Gespräch ein: »Und die
benahmen sich wie Filmgangster?«
Wieder fuhr Schunck zu Don Carlos herum und stöhnte
erbarmungswürdig. »Ich halte das nicht aus. Ich habe ein’
Kopp wie ’ne Gasuhr und werde von einem eingespielten
Rentner-Duo gefoltert. Ich muß hier raus.«
Schunck hielt sich den Kopf, als hätte er Angst, er könnte
abfallen. Brack verbiß sich das Lachen. »Herr Nepomuk,
Sie haben uns sehr geholfen. Nachher kommen noch Kolle-
gen vom BKA, die wollen das alles noch viel ausführlicher
hören. Wir finden schon raus. Danke.«

100
An der Wohnungstür rief ihnen Herr Nepomuk nach: »Auf
Wiedersehen?« Getreulich assistierte sein Partner: »Auf
Wiedersehen?«

Auf der Treppe lachten sich die beiden erstmal aus. »Mit
der Nummer könnten die auch im Werbefernsehen auftre-
ten. Was es nicht so alles gibt?«
Schunck drehte sich um, als erwarte er die Replik des Pa-
pageis. Brack betrachtete Schunck nachdenklich.
»Weißt Du, Justav, Du siehst aus wie das Vogeltier! Von
oben bis unten grau!
»Stimmt nicht. Der Papagei hatte wenigstens einen knallro-
ten Schwanz!«
In stiller Verzweiflung verdrehte Justus die Augen.

Als sie im Erdgeschoß das Haus verlassen wollten, hörten


sie hinter der Wohnungstür rechts jämmerliches Hilfege-
schrei, vermischt mit dem häßlichen Klatschen eines Le-
dergürtels, der auf nackte Haut trifft. Brack sah Schunck an,
Schunck sah Brack an, und Schunck klingelte und klopfte
energisch gegen die Wohnungstür.
»Was wolln Se?« Ein dicker, unsympathischer Typ, der alle
gängigen Vorurteile bestätigte, die man gegen einen Unra-
sierten im Unterhemd hegen konnte, zog sich seinen Gürtel
in die Hose.
»Polizei! Wir haben aus Ihrer Wohnung Hilferufe gehört.
Lassen Sie uns rein!« Schunck versuchte den Brocken in
der Tür beiseite zu schieben, der aber erstaunlich dickfellig
war.
»Habnsn Durchsuchungsbefehl? Nein? Verpfeift Euch!«
»Gefahr im Verzug! Weg da!« Mit einem lockeren Polizei-
griff schob Schunck der Kerl in die Wohnung. Brack folgte
mit gemischten Gefühlen.

101
»Wer hat hier um Hilfe gerufen?«
»Niemand natürlich!«
»Wer ist noch in der Wohnung?«
Die Antwort auf diese Frage erübrigte sich, als ein kleines
verheultes Mädchen von etwa acht Jahren aus einem Zim-
mer auf den Flur trat. Die Striemen, die sich von den Ober-
armen hin zum Rücken zogen, waren über älteren Striemen
deutlich zu sehen.
»Mach die Wohnungstür zu!« rief Brack Schunck zu. Über
Justus Augen zog sich ein blutroter Schleier der Wut.
»Mach keinen Scheiß, Justus!« warnte ihn Schunck, der
allerdings auch wenig Neigung verspürte, Brack zurückzu-
halten. Endlich hatte man mal jemand auf frischer Tat er-
tappt, der sich an den Schwächsten, nämlich Kindern, aus-
toben mußte. Und endlich gab es mal die Möglichkeit,
diesen Leuten das Gefühl der Kinder zu vermitteln, die aus
nichtigem Anlaß verdroschen wurden.
Natürlich ist es extrem schwierig, einen Weg zu finden
zwischen Prügel und Strafe, aber immer nur Verdreschen
bringt es genau so wenig, wie nie zu strafen.
Schunck kannte Bracks Vergangenheit und wußte, daß
Justus nicht der joviale nette Onkel war, wenn er durch
irgendetwas bis zur Weißglut gereizt wurde. Brack hatte in
einem früheren Leben, als er noch sehr jung und sehr dumm
war, Leute äußerst kaltblütig umgelegt. Das würde er aller-
dings heute aus Überzeugung durch Einsicht nicht mehr
machen.

In völliger Verkennung seiner Lage meinte der Unterbe-


hemdete Brack ans Revers fassend: »Raus hier aus meina
Wohnung, ehe ich ungemütlich werde!« Ein Tritt von
Brack gegen seine Kniescheibe ließ ihn nach vorne fallen,
während Brack gleichzeitig mit der geballten Faust ihm von
unten seitwärts an den Kiefer schlug. Er fiel gurgelnd mit
mehrfach gebrochenem Unterkiefer zu Boden.
Brack beugte sich zu ihm herunter und flüsterte: »Hör ge-
nau zu, Du Arsch. Die nächsten drei Monate kannst Du

102
Deine Brötchen aus der Schnabeltasse lutschen. Wenn Du
noch einmal, hörst Du, nur noch einmal, ein Kind schlägst,
komme ich wieder und breche Dir ein paar Knochen mehr.
Dann bekommste einen auf Deine runde Römernuß, da
guckste durch Deine Rippen wie ‘n Affe durch die Gitter.
Dann schreibste das Sachbuch »Schönsein im Streckver-
band« oder »Mein Leben im Gips«. Hast du verstanden? …
HAST DU VERSTANDEN?«
Der Unrasierte nickte hektisch. Das kleine Mädchen sah mit
großen Augen auf die Szene. Es hatte jedes Wort verstan-
den und auch begriffen. Es rannte auf Brack zu und umarm-
te ihn dankbar. Brack wandte sich mit feuchten Augen ab.
»Jetzt ist alles gut. Du mußt nie wieder vor ihm Angst ha-
ben. Nun hat er Angst vor uns.«
Schunck hatte inzwischen seine Uniformierten und einen
Krankenwagen gerufen. »Anzeige wegen Kindesmißhand-
lung, Körperverletzung, Widerstand … Ach, die ganze
Latte eben.« sagte Brack zu den Uniformierten.
»Justus, Justus! Du weißt garnicht, wie gut Du es hast. Ich
hätte so gerne mitgemacht.«
»Ach Justav, oller Schaute, manchmal bin auch ich richtig
froh, daß die Gerechtigkeit nur allein für mich verbundene
Augen hat!«

In Dänemark lebt es sich nach einer Studie der englischen


Universität Leicester am glücklichsten, die Schweiz nimmt
Platz 2 ein. Wie ist das möglich? Wo bleibt unser super-
duper-tolles Vaterland? Sind wir denn nicht glücklich mit
dem, was wir erreicht haben, und wie wir leben? Der BDI
jedenfalls ist sehr glücklich! Mist nur, daß eine nichtdeut-
sche Universität die Studie erstellte. Da konnte der BDI
nicht so richtig Einfluß nehmen, so wie auf viele deutsche
Pseudo-Studien!

103
Österreich folgt auf Platz 3. Luxemburg, die Niederlande
und Belgien liegen noch weit vor Deutschland. Wo bleibt
denn nun unser super-duper-tolles Vaterland? Das kleine
verprügelte Mädchen kann doch nicht repräsentativ für das
ganz unglückliche Deutschland sein? Man sollte die Rent-
ner mal verstärkt fragen.
Deutschland belegte im Vergleich von 178 Nationen bloß
Platz 35. Allerdings noch vor afrikanischen Ländern wie
Simbabwe und Burundi. Ein schöner Erfolg!
Es dürfte auch kein besonderer Trost sein, daß Deutschland
noch vor Indien, Platz 125, und Rußland, Platz 167, liegt.
Grundlage für die Studie waren die Daten von insgesamt
mehr als hundert anderen Untersuchungen. Sie stammen
unter Anderem vom UNICEF, dem US-Geheimdienst CIA
und der WHO. Der Psychologe Adrian White stützt sich
auch auf Umfragen, in denen weltweit mehr als 80.000
Menschen auf Fragen nach Glück und Zufriedenheit Aus-
kunft gaben. Die Antworten wurden dann mit Daten zu
Wohlstand, Bildungs- und Gesundheitssystem verglichen.
In Ländern mit guter Gesundheitsversorgung, hohen Wach-
stumsraten und gutem Zugang zum Bildungssystem seien
die Leute glücklicher als anderswo.
So, so! Auf, auf, ihr tollen deutschen Politiker! Eure zahllo-
sen Reformen der reformierten Reformen bringen uns in
Richtung auf Platz 180. Schlechte Gesundheitsversorgung,
keine Wachstumsraten, schlechter Zugang zum Bildungssy-
stem ist nach dieser Studie die Garantie zum Unglücklich-
sein!
Frau Weißnix als Bundesgesundheitsminister, föderales
PISA-System, zwanzig Millionen Arme, sinkende Realein-
kommen, hört sich an wie eine Loosergeschichte.
Was können wir tun?
Hallo Dänemark, hallo Schweiz? Dürfen wir uns mal für
eine Legislaturperiode Eure Politiker ausleihen?

104
Vor der Haustür winkte Brack einen der Uniformierten zu
sich. Neugierig beäugte der Brack. So was hatte der Uni-
formierte auch noch nicht erlebt. Ein Fremder betreute
einen leitenden Kriminalhauptkommissar. Der gab ihm nun
auch noch einen Befehl!

»Sie fahren jetzt bitte Kommissar Schunck nach Hause und


bringen ihn ins Bett. Das meine ich wörtlich. Warten Sie,
bis er eingeschlafen ist. Und Du schläfst erstmal bis heute
Nachmittag. Oder heute abend. Deinen Ruud reiße ich mir
jetzt unter den Nagel und erledige alles Weitere. Ich kom-
me dann vorbei. Vergiß nicht, ich brauche Dich hier hell-
wach! Schlaf gut.«

Schunck schlich wie ein rüstiger Hundertjähriger zum Pe-


terwagen. Gegen Schunck wirkte Joopi wie ein Breakdan-
cer.

Auch das Bundeskriminalamt war nicht untätig. »Bommi«


Graf war zum Mittagessen am Mittwoch im »Kanton«
gewesen, das sich wirklich und wahrhaftig als ein chinesi-
sches Restaurant herausstellte. Besucher, Stammgäste und
auch »Bommi« Graf nannten es nur »Zwei schmutzige
Stäbchen«. Das Essen schmeckte, mit Fleisch, Gemüse und
Soße war eine geregelte Verdauung am nächsten Tag si-
chergestellt, aber niemand wollte ernsthaft so genau wissen,
was er denn da so aß.
Konnte chinesisch sein! Das Glutamat im Essen sorgte bei
einem besonders sensiblen Mitteleuropäer für einen erhöh-
ten Absatz wirkungsloser Kopfschmerztabletten, der ewige
Kreislauf der Wirtschaft. Wertlos gegen wertlos.

105
Chinesen pflegen alles zu essen, was den Rücken zur Sonne
streckt. Na, gut, sonnende Badegäste mal ausgenommen.
Aber man war schließlich nicht bei Kannibalen, deren
freundliche Aufforderung: »Bleiben Sie doch zum Essen!«
mißverständlich und doppeldeutig war.

Mit den Chinesen ist das so eine Sache. Der hinterletzte


chinesische Hilfsspüler fühlt sich dem nichtchinesischen
Rest der Welt maßlos überlegen. Er blickt auf eine, nämlich
seine, 6.000-jährige Kultur zurück, während die anderen
kaum etwas von ihren Großeltern wußten. Fremde Teufel
zu bescheißen und zu verscheißern, war kein Verbrechen,
sondern in den Augen der Bewohner des Reiches der Mitte
ein Spiel, das ihre grenzenlose Überlegenheit demonstrier-
te. Siemens, VW und bald auch Airbus und zahllose andere
düpierte Unternehmen konnten davon ein chinesisches Lied
singen. Das ewige Lamentieren westlicher Unternehmen
bei der chinesischen Regierung über das hemmungslose
Kopieren von Musik, Software und Markenartikeln rief ein
totales Unverständnis hervor. Warum schützten es die Fan
Qui nicht besser, wenn es so wichtig war? Das Einzige, was
die Asiaten blitzartig verstanden, war ein krachendes »Wie-
Du-mir-so-ich-Dir«.

So waren subtile Witze über die dummen, aber bösartigen


Langnasen wie »Wel kliegt denn Haa fünf Enn eins, Hong-
kongente?« an der Tagesordnung und lockerten ihren un-
freiwilligen Job in der Fremde etwas auf. So also verspür-
ten Besitzer, Kellner und Köche nicht die geringste Nei-
gung, dem lästigen BKA-Fan Qui mehr zu sagen als: »Hell
Glaf wal hiel. Hell Glaf hat mit Kleditkalte Lechnung be-
zahlt. Wal allein.«
»Hatte Herr Graf Feinde?«
»Ihl gehilntot! El nicht elmoldet wolden von seinen Fleun-
den! Ayyiii.«
Also zogen die BKA-Langnasen, »Scheißreisneger« mur-
melnd, unverrichteter Dinge wieder ab.

106
Der erste Koch Ching-Lin rief den fremden Teufeln ein
perfektes gerolltes: »Rrrrrrrrrrrrrrreis!« hinterher, und der
Rest der Küchenmannschaft sang: Oooooi, ooi, yingyangy-
ingyangyingyangyingyangyecketiyey, yingyangyingyangy-
ingyangyingyangyecketiyey, yecketiy-eeeeey…………

Und Herr Fu konnte störungsfrei an der für heute Abend


angesetzten Berlin-Triaden-Sitzung teilnehmen, deren
zweiter Drache er war.

*
Wie von Brack prophezeit, fiel das BKA mit Wucht über
die Pradistraße her. Man hatte einen mutmaßlichen Täter.
Tot zwar, aber immerhin einen schönen schnellen Erfolg,
den man später auf einer Pressekonferenz als Beweis für die
ungeheure Effizienz des BKA präsentieren konnte. Intern
hatte man längst beschlossen, die Berliner Polizei im All-
gemeinen und diesen obskuren Oberrat Brack im Beson-
dern zu ignorieren. Ja, seine Existenz einfach nicht zur
Kenntnis zu nehmen. Und sollten sie doch darauf angespro-
chen werden, nun, Justus Brack war strenggenommen und
bei Lichte betrachtet ja immer noch einer von ihnen. Und es
war ja wohl selbstverständlich, daß ein Mitarbeiter des
BKA auch für das BKA arbeitet. So was muß man doch
nicht noch extra erwähnen!
Brack hatte noch viele Feinde in Wiesbaden. Und die hiel-
ten es für eine Ehrensache, ihm eins auszuwischen.

Die Vernehmung von Herrn Nepomuk wurde allerdings zu


einem totalen Desaster. Nach einer kurzen Höflichkeitspha-
se, in der ein Kollege irritiert alles doppelt mitstenogra-
phiert hatte, ordnete der nun brüllende Leiter der Ermittlun-
gen Einzelzellen für Herrn Nepomuk und Don Carlos an.
Von seinem neuen Publikum überwältigt, hatte Don Carlos
in den letzten fünf Minuten auch die Fragen und Antworten
des BKA tonfallgenau wiederholt. Was zu den unglaublich-

107
sten Verwicklungen und Mißverständnissen führte, da sich
einige selbst sprechen hörten, obwohl sie nichts mehr sag-
ten. Aber eine Einzelzelle für Don Carlos, der sowieso
schon hinter Gittern saß? Das war doch nun etwas übertrie-
ben.
Also sprach Herr Nepomuk ein Machtwort:
»Ohne meinen Papagei sage ich garnichts mehr!« Don
Carlos war so clever, unverzüglich den Schnabel zu halten.
Der leitende BKA-Beamte verstand allerdings mangels der
Wiederholung: »Ohne meinen Anwalt sage ich garnichts
mehr!« und fing vor Wut an zu toben und zu kreischen.
»Anwalt?« drohte er, »Plustern Sie sich nicht so auf! Erst
ein dickes Ei legen mit, von wegen Sie hätten was gesehen,
und dann… Sie stecken mit Ihrem Papagei bis zum Hals in
der Sache drin. Ihr werdet Federn lassen, das verspreche ich
Euch! Hier kommt Ihr nicht ungerupft wieder raus!«
Der älteste BKA-Mann in der Runde, noch bei der Polizei
ausgebildet, beruhigte die erhitzten Gemüter wieder. Man
könne doch nicht einen 69jährigen Zivi verhaften, der einen
120jährigen betreut. Die Medien würden das BKA in der
Luft zerreißen!
Ein BKAler ging zum Fenster und blickte gegenüber in die
Ballettschule. Er winkte grinsend seine Kollegen zu sich,
und sie beobachteten gespannt, wie hinter einem Pfeiler ein
unförmiger Körper im rosa Tutu verzweifelt versuchte, nun
das linke Bein über die Stange zu wuchten. Einige BKAler
fingen an zu gackern. Endlich gelang es dem unförmigen
Körper im rosa Tutu, sein Bein auf die Stange zu bringen.
In Zeitlupe fiel er mit ausgestrecktem Bein hintenüber.
Zwei BKAler lagen vor Lachen am Boden, ein anderer
hämmerte hysterisch kreischend an das Fenster, während
ein weiterer wie ein Huhn beim Wasserlassen kicherte. Erst
das atavistische Brüllen ihres humorlosen Häuptlings been-
dete den Spaß. Sie gingen, nach Luft schnappend, in den
Raum zurück und wischten sich die Tränen ab.

108
Aber auch die Aufnahme der Personalien gestaltete sich
schwierig.
»Name?«
»Florian Nepomuk.«
»Ihr Alter?«
»Hieß auch Nepomuk!«
»Nein, geboren?«
»Ja!«
»WANN?«
»Mein Vater?«
Mit einem leisen Wimmern schloß der BKA-Beamte sein
Notizbuch.
Also zog das BKA nach diesem Reinfall von hinnen nach
dannen.
An der Wohnungstür rief ihnen Herr Nepomuk nach: »Auf
Wiedersehen?« Und Don Carlos, dem das Durcheinander
sehr gefallen hatte, ergänzte selbstverständlich: »Auf Wie-
dersehen?«

Sonst hätte ja auch irgendwas gefehlt!

Schnaufend verließ eine unförmige Gestalt das Haus des


Tatortes in der Pradistraße. Die Gestalt humpelte leicht und
hielt sich das Kreuz. Pastor Ambrosius hatte es dicke! Hätte
man das stoßweise Gemurmel übersetzt, wäre er für den
Rest seines Lebens mit der Buße seiner Beichte beschäftigt
gewesen. Pastor Ambrosius war nun auf dem Weg zu sei-
nem Kollegen der anderen Fakultät, Pastor Lüder. Er mußte
das Testament besprechen.
Endlich war er da und betrat die Kirche der Konkurrenz.
Calvins Leiden. Ein Chor im Hintergrund probte vergebens
mit Inbrunst »Friede auf Erden«.

109
Es war eine moderne Kirche, die aussah, als ob ein zerbor-
stener Bunker notdürftig geflickt worden wäre. Kahle Be-
tonwände überall. Der Altar und die Kerzenständer ließen
die beliebten Gemälde »Zigeunerin« oder den »Röhrenden
Hirsch« als hochpreisige Kunstwerke erscheinen. Der Jesus
am Kreuz trug einen Gesichtsausdruck zur Schau, als ob er
tief bedauere, sich für die Menschheit geopfert zu haben.

Pastor Ambrosius schüttelte sich. Hier sollte man Gott


finden? Ihm nahe sein? Nur WKII-Kriegsteilnehmer konn-
ten sich hier wohl fühlen! Am bunten modernen Kirchen-
fenster fehlten nur noch Pappstücke und ein Ofenrohr, und
die Trümmeridylle wäre perfekt.
Im Nachbarraum war das Jugendzentrum untergebracht. Es
diente für die meisten Besucher als Versteck ihrer kleinen
illegalen Sachen. Ein Drogenhund wäre jedenfalls wochen-
lang high gewesen, wenn er jemals diesen Raum betreten
hätte.
Aber Pastor Ambrosius suchte vergeblich nach seinem
Kollegen. Er würde es eben heute abend noch einmal ver-
suchen.

110
Die Zeugin

Gerda Golke war 64 Jahre alt und gehörte der Putzkolonne


an, die den Dreck im Bundestag beseitigte. Naja, es war
wohl eher der Schmutz, der beseitigt wurde, für den Dreck
war der Wähler da. Jedenfalls verdiente sie sich als gering-
fügig Beschäftigte durch die Drecksarbeit ein paar Euros
dazu.

»Gerda«, rief Erkan, der Vorarbeiter, »Du alle Turklinken


heute innen und außen putzen, vestehstu?« Gerda nickte
ergeben.

Es war ihr nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie


seit sechs Jahren mit den Papieren einer Freundin illegal in
Berlin wohnte und arbeitete. Nicht doch, Gerda war ganz
legal Deutsche von Geburt an und von Beruf Diplomland-
wirtin, eine der Ersten in Deutschland, aber seit fast 14
Jahren lebte sie im Untergrund. Noch mal nicht doch! Sie
gehörte nicht der RAF an, sie gehörte überhaupt keiner
politischen Richtung an. Sie war ihre eigene Richtung. Und
das hatte eine lange Vorgeschichte.

Sie wohnte vor vielen Jahren an einem großen deutschen


Strom in Kraddorf und betrieb zusammen mit ihrem Mann,
ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und ihrem kleinen
Enkel eine größere Landwirtschaft, die auch tatsächlich gut
auskömmliches Geld abwarf. Die Nähe zu einem AKW
beunruhigte sie nur wenig, da sie ihre Feldfrüchte ja nicht
selbst essen mußten.
Der NDR 1 spielte sonntags ihr Lieblingslied »Bei uns am
Deich« zu dem selbstgebackenen Kuchen und dem duften-
den Kaffee. Alles hatte so seine Ordnung.
So war ihr Leben ein normales und beschauliches, bis ihr
Enkel und ihre Tochter 1991 an Leukämie erkrankten und

111
innerhalb eines halben Jahres starben. Die Golkes waren am
Boden zerstört. Sie erfuhren nach und nach, daß noch eini-
ge weitere Leukämiekranke in ihrer Nachbarschaft vege-
tierten. Man vermutete als naheliegend eine kleine Havarie
im AKW. »Garnicht möglich«, sagte der Pressesprecher des
AKW, »wir werden strenger überwacht als ein Gefängnis.«
Nun war dieses eine lupenreine Quatschaussage, weil es
erstens nicht stimmte, und zweitens es immer wieder Wel-
chen gelingt, aus dem Gefängnis auszubrechen. »Wenn
Radioaktivität die Verursacherin der Leukämie war, dann
kam sie definitiv nicht von uns!«
Als ob die Landbevölkerung in ihrer kargen Freizeit mit
Plutoniumbällen auf dem Hof Fangen spielen würde.
Als vorbildliche, aber eben deswegen dämliche Bundesbür-
ger, setzte man sich aus eigenem Antrieb der sorgsam aus-
getüftelten Bundes-Rechtsmaschinerie aus, die allen Besit-
zern unter einer Million Euronen Vermögen garantierte,
gegen finanziell stärkere Gegner zu verlieren und alle Ko-
sten zu tragen. Immer und todsicher!
Die Bundesländer halfen nicht, denn leider, leider waren
ihnen ohne aussagekräftige Beweise die Hände gebunden,
der Staatsanwalt konnte auch nicht, weder zu Hause, noch
im Büro, eine Gutachterkommission gab nach 12 Jahren
auf, - da sieht man mal wieder, wie gut eine Kommission
oder ein Ausschuß zum Verdecken geeignet ist -, kurz:
Niemand hatte auch nur das allergeringste Interesse,
Krankheits- und Todesfälle an Kindern aufzuklären. Kinder
kann man immer wieder neue machen, aber Geld, GELD,
haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie schwer es ist, an
anderer Leute GELD zu kommen?
Da meldeten sich plötzlich unter konspirativen Umständen
Zeugen bei Gerda Golke, die 1986 im September am AKW
nachts ein Feuer gesehen haben wollten. Die Beschreibung
des nie zuvor gesehenen Feuers dieser Art war so unge-
wöhnlich, daß die Wahrheitswahrscheinlichkeit extrem
hoch war.

112
Die Leser mit einem längeren Gedächtnis fragen sich nun:
»1986? War da denn nicht noch was?«
Die Katastrophe von Tschernobyl ereignete sich am 26.
April 1986 im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der Stadt
Prypjat, Ukraine, Sowjetunion, als Folge einer Kernschmel-
ze und Explosion im Kernreaktor Tschernobyl Block 4. Es
war eine der größten Umweltkatastrophen überhaupt.
Nun stelle man sich kurz aber intensiv vor: 1986, Tscher-
nobyl, ganz frisch in Erinnerung, mit Spielverbot draußen
für Kinder, mit Warnungen vor dem Verzehr von Pilzen,
Wildbret, ungewaschenem Gemüse und Obst und überhaupt
und so weiter. Die Bevölkerung war auf das Höchste sensi-
bilisiert und verängstigt. Wegen eines Unfalls, ein paar
tausend Kilometer entfernt. Was würden wohl die schlaf-
mützigen Deutschen machen, bei einem Unfall nur ein paar
Meter entfernt? Richtig! Das gesamte deutsche Atompro-
gramm wäre mausetot gewesen. Abgeschaltet von heute auf
morgen. Innerhalb von Minuten. Na, das ging doch wohl
nicht! Diese paar Kinder. Denkt doch mal lieber an unser
Geld, GELD! Unsere Investitionen, INVESTITIONEN!
Aktienbesitz! So beschloß eine immer unheilige Allianz,
vielleicht bestehend aus Wirtschaft, Banken, Bundesstaats-
anwaltschaft, Polizei und Politikern, in totaler Panik die
kleine Havarie zu vertuschen, zu verleugnen, zu verdrän-
gen. Eben etwas neben dem Gesetz zu arbeiten!
Gerda allerdings schloß messerscharf, wenn es denn wirk-
lich beim AKW gebrannt hätte, müßte doch die dörfliche
Feuerwehr einen Einsatz gehabt haben. Sie verlangte also
die Einsatzprotokolle der Feuerwehr zu sehen.
Peinlich!
Denn bei der Feuerwehr hatte es auch gebrannt! Und es
hatte, jetzt darf geraten werden, richtig, ausgerechnet die
Protokolle der Einsätze von 1986 erwischt! So ein Zufall
aber auch!
Gerda allerdings beschloß einseitig für sich, daß das Sich-
Verarschen-Lassen nun per sofort zu Ende war.

113
Der Staat war nun ausgewiesener Maßen ihr Feind, und
jetzt nahm sie die Sache eben selbst in die Hand. Sie wollte
ab jetzt auch etwas neben dem Gesetz arbeiten! Sie richtete
auf verschiedenen Namen neue Konten ein, arbeitete noch
mal intensiv auf den Äckern, Feldern und Wiesen ihrer
Vorfahren, die seit 1645 in Familienbesitz waren und ver-
abschiedete sich von ihrem Mann.
Ihr Mann lehnte ihr Vorhaben vehement ab, er wollte wei-
ter »rechtstaatlich« kämpfen, was nur ein netter Euphemis-
mus für »Ich bin zu feige« war. Und ihr Schwiegersohn war
bestenfalls ein Bettnässer und Fliegenfuß!
Mit einer Leidensgenossin zusammen entführte sie den
stellvertretenden leitenden Ingenieur des AKW und befrag-
te ihn als Mordgehilfen an einem verschwiegenen Örtchen
hochnotpeinlich. Das Ergebnis war erschreckend und einer
afrikanischen Diktatur würdig.
Nur hatten beide nichts von ihren gewonnenen Erkenntnis-
sen aus Namen, Zeiten, Daten und Fakten. Nachdem der
Ingenieur von der Polizei gefunden und im Krankenhaus
mit liebevoller Pflege behandelt wurde, um im Rollstuhl
wie ein rohes Ei ohne Schale das Leben weiter genießen zu
können, wurden Gerda und ihre Leidensgenossin weltweit
per Haftbefehl gesucht. Doch die hatten für ihren Kampf
um die toten Kinder und Enkel mit ihrem bürgerlichen
Leben längst abgeschlossen und befanden sich auf der
Flucht.
Gerdas Leidensgenossin kam bei einem obskuren Unfall
ums Leben, und als auch Gerda drei Beinahunfälle über-
stand, war klar, daß lautlose Killer hinter ihr her waren. Die
Auftraggeber konnte man fast erraten. Gerda verschwand in
den Untergrund.
Und da sie keiner Gruppe angehörte, war sie auch durch
Verrat unmöglich zu finden. Und auf eine einsame alte
Schachtel achtet sowieso niemand. Da hätten ja alle viel zu
tun.

114
Sie putzte also weisungsgemäß die Türklinken von innen
und außen, als sie in einem kleineren Sitzungssaal jeman-
den mit Kopfhörern sitzen sah. Der Mann sprang auf und
blickte sie mit tödlicher Wut an!
Gerda erschrak, weil sie wußte, es war ein Killerblick, der
den Wunsch zu töten ausdrückte und machte, daß sie davon
kam. Weit, weit weg.
Es war ihr höchst gleichgültig, warum der Mann sie so
voller Haß angeschaut hatte, sie wollte es auch wirklich
nicht wissen. Es war nur schade um ihren Job und ihre
schöne Tarnung.
Aber einfach abzuwarten, ob der Mann sie auch wirklich
töten würde, war nicht so ihr Ding! Sie verließ den Bundes-
tag, nahm sich ein Taxi, packte ihre Siebensachen ein und
zog in die Berliner Wohnung einer anderen Freundin, die
für ein Jahr in Afrika den Bonobos bei der Vermehrungssa-
che zuguckte. Gerda war schon so oft auf der Flucht gewe-
sen, daß es ihr leicht fiel, ein sogenanntes Zuhause auf-
zugeben. Genauso, wie sie sich blitzschnell in eine neue
Umgebung einleben konnte.

Gerda ahnte, zwei Killertrupps und die Staatsgewalt auf


dem Hals war sicher ein Rekord für das beschauliche Länd-
lein zwischen Rhein und Oder.

Der Mann im Sitzungssaal konnte allerdings nicht ahnen,


daß Gerda Golke auf keinen Fall zur Polizei gehen konnte.
Es sei denn, sie wollte verhaftet und umgebracht werden.
Oder umgekehrt. Und beides wollte sie eben nicht. Sie
wußte ja noch nicht einmal, worum es ging, weil sie mit
sich selber genügend zu tun hatte.

Während Brack und Ruud auf dem Weg ins Präsidium


waren, um tote Bäume in Massen zu lesen, bewarb Gerda
sich unter dem Namen ihrer Bonobo-Freundin als Klopse-
braterin in einem großen amerikanischen Spezialitätenre-
staurant.

115
Den 23-jährigen pickeligen Chef des Ganzen erinnerte
Gerda an seine früh verstorbene Oma, und so bekam sie,
unter der eindringlichen Ermahnung, das juvenile und ge-
schmacksresistente Publikum nicht durch ihr greises Aus-
sehen zu verschrecken und in der Küche zu bleiben, den
heiß ersehnten Job und durfte sofort anfangen.

Natürlich konnten Brack und Ruud nicht ahnen, daß die


Aufklärung ihres Falles nur eine Aussage und 600 Meter
Luftlinie weit entfernt war. Leider waren da eine tote Toch-
ter und ein toter Enkel von Staats wegen zwischen.

116
Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-
ber 11 Uhr 00

Bernd Fischer war nervös. Bei jeder Sirene im Hintergrund


hechtete er reflexartig in den nächsten Hauseingang. So als
Mörder war er außerhalb seiner Wut wohl doch nicht son-
derlich geeignet. Es quälte ihn doch tatsächlich sein Gewis-
sen! Ob er zufriedener gewesen wäre, wenn er gewußt
hätte, daß sein Opfer zufälligerweise jener Jens Hartmann
mit der unter vier Augen gegebenen Dienstanweisung
»Zahlung hinauszögern bis zum Sankt-Nimmerleinstag!«
gewesen war? Für Menschen, die sich den Luxus eines
Gewissens erlauben, darf auch das angezweifelt werden.
Jedenfalls mußte Fischer endlich mal was essen. Für die
paar Kröten in seiner Tasche bekam er allerdings nichts
Vernünftiges. Es traf sich gut, daß er sich verstohlen umse-
hend vor einem großen amerikanischen Spezialitätenrestau-
rant stand.

»Einmal mit Käse, Fritten und Kaffee.«


»Groß oder klein?«
»Groß!«
»Zum Hieressen oder zum Mitnehmen?«
»Hieressen.«
»Mit Majo oder Ketchup?«
»Beides.«
»Milch oder Zucker?«
»Beides.«
Fischer wußte, daß dieses Spielchen fortdauern würde, bis
er verhungert war.
Aber das schlechtbezahlte Frollein hinter der Theke hatte
Zeit, endlos Zeit, bis zum Feierabend. Es war sowie schon
mächtig angesäuert, weil man ihr von der hier angeblich
verkehrenden Prominenz erzählt hatte. Und sie hatte nun
wirklich noch niemanden gesehen, den sie aus dem TiiWii
kannte. Sie wollte auch zum TiiWii! Sie fühlte sich zur
Schauspielerin in den Vorabendserien berufen. Sie wußte

117
auch schon, wie sie ihren Lieblingsjungstar überzeugen
würde. Sie würde ihm ihr ganzes Repertoire auf dem Tre-
sen vorsingen und vorspielen. Das hatte echt noch niemand
gebracht! So mußte sie einfach zum Fernsehen kommen!
Bernd Fischer schnauzte in ihre Tagträumerei: »Nun geben
Sie’s endlich her. Ich will essen und nicht quizzen!«
Beleidigt knallte das Gör sein Käsegetoastetes auf den
Tresen und schob einen großen Becher Kaffee mit Deckel
rüber.
Fischer suchte sich einen stillen Platz, von dem er alles
überblicken konnte und begann zu essen und zu trinken.
Pastor Lüder saß drei Tische weiter. Er hatte eine große
Schwäche, für die er Gott den Herrn täglich um Verzeihung
bat. Er aß für sein Leben gerne amerikanisches Junkfood!
Pastor Ambrosius behauptete, Lüders verkniffener Ge-
sichtsausdruck stamme vom Verzehr dieses Abfalls, und
daß er besser mal mit ihm ein richtiges Essen zu sich neh-
men sollte.
Eine Terrine von der roh marinierten Gänsestopfleber mit
Quitte und grünem Pfeffer zum Beispiel!
Aber Pastor Lüder liebte seinen Junk.

Frida und Jakob, zwei junge Polizisten, betrachteten es als


Glücksfall, bei der Polizei zu sein. Die Uniform und die
Lederjacke am Partner törnte sie einfach tierisch an. Und
nicht nur sie. Als die Beiden einmal in einer dunklen Ecke
knutschten, kam ein fernsehbekannter Schneider vorbei, der
vor Geilheit sofort ein Rohr bekam, als er die zwei Typen
in Leder fummeln sah. Der Schneider beschloß unverzüg-
lich eine Filiale in diesem heißen, geilen Viertel zu eröffnen
und auch von den lockeren Sitten zu profitieren. Er war so
erregt über die Ledermänner, daß er Luigi, seinen Verflos-
senen, anrief und einlud, obwohl sie sich eigentlich böse
waren. So wurde das Viertel zu einem der hippsten in ganz
Berlin.

118
Egal, bei der Polizei konnte man Leute scheuchen und ab
und zu mal ausgiebig den Widerstand gegen die Staatsge-
walt brechen. Mit etwas Glück durfte man auch im Notfall
zweimal schießen. Einmal gezielt und dann ein Warnschuß.
Oder so. Aber nun war ihre Frühstückszeit!
Und der pickelige Jüngling, der in dem bekannten großen
amerikanischen Spezialitätenrestaurant den Boss mimte,
hatte den Wert der Präsenz der Polizei zur Abschreckung
locker erkannt und spendierte ihnen mit den Worten: »Zur
Unterstützung der schweren Polizeiarbeit mit einer Emp-
fehlung des Hauses«, was immer sie bestellten. Denn so
hielt er sich die vielen Penner und Junkies vom Leibe.
Bernd Fischer allerdings traf fast der Schlag, als er die
Polizisten in krankoliv und förstergrün und Macholeder
hereinspazieren und sich umsehen sah.
Er sprang auf, warf dabei Tisch und Stuhl um, und hatte
damit sichergestellt, daß Frida und Jakob nun richtig auf-
merksam wurden. Fischer hechtete über den Tresen und
rannte in die Küche. Er schnappte sich ein stumpfes Messer
und hielt es der Alten von der Bratplatte vor die Kehle. In
diesem Augenblick ging die Tür auf, und Frida mit der
Waffe im Anschlag kam herein.
»Waffe fallen lassen«, brüllte Fischer, »oder ich steche die
Alte ab!«
Brack und Ruud waren justamente vor der bekannten gro-
ßen amerikanischen Bulettenbude, als sie die Durchsage
hörten: »Achtung, an alle. Geiselnahme mit einer unbe-
kannten Anzahl von Personen. Alle Wagen in der Nähe zu
dem bekannten großen amerikanischen Spezialitätenrestau-
rant!«
Ruud trat ausbildungsautomatisch auf die Bremse, und
beide rannten in die Klopsebraterei rein.
Frida und Jakob waren schon ganz fickerig, weil sie sich
nicht entscheiden konnten, ob sie schießen sollten oder
nicht.
Brack nahm ihnen die Entscheidung ab, als er kurz sagte:
»Waffe runter, aber dalli!« Dann ging er mit gezogener

119
Waffe in die Küche. Ruud zwei Meter hinter ihm. Fischer
machte sich nicht viel Mühe mit dem Ausfeilen seiner Dia-
loge. Was einmal gut war, war es auch zum zweiten Mal.
»Waffe fallen lassen«, brüllte Fischer, »oder ich steche die
Alte ab!«
»Du hast zu viel Mist im Fernsehen gesehen, Du Blöd-
mann! Niemand läßt hier die Waffe fallen. Weil er dann
nämlich selber wehrlos wäre, Du dämliche Pfeife!«
Daran hatte Fischer erstmal eine Weile zu knabbern.

»Wie habt Ihr mich gefunden?« brüllte Fischer weiter,


obwohl Brack höchstens drei Meter entfernt war.
»Erstklassige Polizeiarbeit, mein Lieber.«
»Hat mich jemand im Foyer erkannt, was?«
Daran hatte Brack erst einmal zu kauen. Dann machte es
»klick« und Brack staunte. Ruud guckte ungläubig. Der
Killer!

Gerda fand diese Art der Unterhaltung überhaupt nicht


witzig. Nicht, daß sie sich langweilte. Oh nein! Zwei Killer-
trupps und die Staatsgewalt und nun auch einen irren
Schlitzer wortwörtlich auf dem Hals war wieder ein neuer
Rekord für das beschauliche Ländlein zwischen Rhein und
Oder. Ihr einziger Gedanke war: »Wie kann ich mich hier
still und leise verpinkulieren?«

»Warum haben Sie den Doktor abgestochen?«


»Habe garnicht gewußt, daß das ein Doktor war. Hätte auch
jeden Anderen genommen!«
»Und warum haben Sie die anderen Sechs umgebracht?«
Nun hatte aber Bernd Fischer was zum Kauen. Sechs ande-
re? Was zum Teufel für sechs andere?
»Was meinen Sie damit?«
Leider konnte diese Frage nie ganz ausdiskutiert werden,
denn Gerda und dann auch Frida beschlossen, Action zu
machen.

120
Zuerst schubste Gerda den in Geiselnahme sehr und bald
wörtlich blutigen Anfänger Fischer von sich nach hinten.
Fischer geriet ins Torkeln und stützte sich auf der total
überhitzten Klopsebratplatte mit den Händen auf. Schreiend
vor Schmerzen bewegte er sich abwehrtechnisch immer
noch das Messer haltend auf Gerda zu, als Frida in Aktion
trat. Sie schoß aus vier Metern Entfernung drei Mal, traf
drei Mal, und Fischer war seine Schmerzen los. Brack war
von den Schüssen halbtaub, ihm klingelten die Ohren. Er
blickte zu Frida und zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Das war’s wohl mit der Karriere als Polizistin!«

Frida war in diesem Augenblick weniger Polizistin als ganz


kleines Mädchen.
»Ich mußte doch schießen. Er ging mit dem Messer auf die
Alte los! Ich mußte ihr doch ihr verschissenes Leben ret-
ten!«

Die »Alte« entschied sich für einen kombinierten Schrei-


und Herzanfall und kreischte alles zusammen.
Frida bemühte sich, irgend etwas wieder gutzumachen und
bemerkte eifrig:
»Schnell! Einen Krankenwagen! Die Alte kollabiert!«

Brack und Ruud verließen schweigend den Tatort.

»So zu sterben? Mit so einem Drecksfraß als Henkersmahl-


zeit in die ewigen Kochgründe? Pfui Deibel! War er’s nun
oder nicht?«

»Sicher, Ruud, klar, den Opernmord hat er auf dem Gewis-


sen. Aber die anderen Morde? Nää, das war nicht seine
Kragenweite. Sagen Sie wieder mal dem BKA Bescheid.

121
Die sollen kommen und sich der Sache annehmen. Wird
das bei denen eine große Freude auslösen! Die haben jetzt
den Mörder! Dann dürfen sie nächstes Jahr mit noch mehr
Personal und Gerätschaften rechnen! Jaja, der Mörder.
Naja, wenigstens der von der Oper. Muß man denen aber
nicht auf die Nase binden. Und schreiben Sie bitte irgend-
wann unsere Protokolle. Ab ins Präsidium.«

Mit den Protokollen nahm Brack es sehr genau. Es war


seine Lebensversicherung, daß in seinem Beisein alles so
halbwegs mit rechten Dingen zugegangen war. In der Ver-
gangenheit hatte man versucht, ihm einen Strick aus feh-
lenden Protokollen zu drehen, und er hatte fürchterbar
tricksen müssen, um sich da wieder herauszuwinden. Und
da hier die etwas eindimensional denkende Uniformierte in
seinem Beisein aus sehr fadenscheinigen Gründen jeman-
dem einen finalen Rettungsschuß verpaßt hatte, mußte er
doppelt vorsichtig sein. Daß Ruud die Protokolle schrieb,
spielte keine Rolle, sondern war nur von seiner eigenen
Faulheit diktiert.

Gerda bekam im Krankenhaus ein schönes ruhiges sauberes


Einzelzimmer. Die Ärzte hatten ihr eine Beruhigungsspritze
verpaßt, ein Elektrokardiogramm durchgeführt und waren
sich einig: »Die Alte braucht nur Ruhe, dann wird sie schon
wieder!«
Man schonte sie also und verschob alle Fragen auf den
nächsten Morgen. Aber am nächsten Morgen war Gerda
weg.

122
Dabei hätte sie Brack einiges erzählen können. Wenn sie
denn gewußt hätte, wer oder was gesucht wurde. Leider
hatte man sich ja noch nicht persönlich vorgestellt.

*
Es ist schon erstaunlich, was bei Unglücken, gleich welcher
Art, immer wieder für ein Schwachsinn anstelle der Wahr-
heit geschrieben wird. »Da hätte niemand was gegen tun
können« heißt das Credo! Ja, aber natürlich hätte der Her-
steller zum Beispiel eines Autos etwas dagegen tun können!
Er wollte aber nicht! Ja, natürlich kann man Automobile
bauen, in denen die Insassen nahezu unverletzt jeden Unfall
überstehen! Aber wozu bloß?

Menschen kann man immer wieder neue machen, aber


Geld, GELD, haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie
schwer es ist, an anderer Leute GELD zu kommen?
AKWs, Autos, Flugzeuge, Schiffe, Häuser, egal wie, wo
und wodurch Menschen bei Unglücken ums Leben kom-
men, es könnte vermieden werden! Ja, wirklich.
Nun soll aber auch nicht verschwiegen werden, daß dann so
ein Teil mehr als das Zehn- oder Hundertfache in der Her-
stellung kosten würde. Aber bei all der grottenblöden Heu-
chelei über die Opfer wäre es ja wohl das Geld wert, oder
nicht? Nein? Dann sollte man sich die Heuchelei ersparen,
und als einzigen Kommentar sagen: Pech gehabt!

Oder Alkohol am Steuer, diese böse Droge aber auch. Ja


doch, der Gesetzgeber erlaubt durchaus, mit einer bestimm-
ten Dröhnung durch die Botanik zu düsen. Wenn nichts
passiert! Wenn doch was passiert, ja dann war’s eben ille-
gal und verboten. Zahlt die Versicherung nicht, trägt man
Mitschuld, na ja, dieses ganze Juristengebrabbel eben.
Warum heißt es nicht, wer Alkohol trinkt und fährt, ist
lebenslang den Lappen los und erforscht drei Jahre den
Knast von innen?

123
Ach, die Brauereien und Schnapsbrenner und rotnasigen
Winzer zahlen jedes Jahr so enorme Summen direkt oder
über Umwege an die Parteikassen oder an ihre lieben Kum-
pels, daß die paar Tausend Toten und Verkrüppelten jähr-
lich nun bestimmt keine Rolle spielen.
Menschen kann man immer wieder neue machen, aber
Geld, GELD, haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie
schwer es ist, an anderer Leute GELD zu kommen?
Und mit einem kleinen Augenzwinkern denken wir an die
flinken, wohlorganisierten, riesigen, planetenweittätigen
Transplantationsindustrien, die jedes Wochenende startbe-
reit aus ihren Löchern kommen können, um junge besoffe-
ne Discobesucher der Organqualitätsstufe »erstklassig«
nach deren Unfällen ausweiden zu können. Bestimmte
Kleinwagentypen für Arme werden humorvoll auch intern
als Organspenderversion bezeichnet.
Denn die Brauereibesitzer und Schnapsbrenner und rotnasi-
gen Winzer und Politiker brauchen wegen ihres aufreiben-
den Jobs der Volksvergiftung Austauschorgane, die ihnen
freiwillig niemand geben würde!

Gut, man kann nachvollziehen, daß der geneigte Leser so


einen Zynismus weder glauben kann noch will. Aber sollte
eben dieser Leser außerhalb seines gesundheitsraubenden
Arbeitslebens irgendwas Lebensnotwendiges brauchen,
entscheidet eine Ärztekommission in prachtvoller Traditi-
on, ob er transplantationswürdig sei!
Entgegen der weitverbreiteten Meinung ist es eben nicht so,
daß Ärzte den Eid des Hippokrates leisten müssen. Ärzte
müssen überhaupt keinen Eid leisten, sie sind nur an eine
Fülle von kassenrechtlichen Regelungen gebunden. Also,
wenn Ärzte je einen Eid leisten, dann nur den der AOK!
Den Quatsch aus dem Buntfernsehen sollten alle schnell-
stens vergessen. Die liebe alte Oma aus der Vorabendserie
bekommt weder neues Herz noch neue Niere!
Sie bekommt höchstens Zustände, wenn sie die Antwort
hört!

124
Denn besitzt sie keine gesellschaftliche Relevanz oder hat
sich zwangsweise bewußt in ihrem Job krankgeschuftet:
Adieu Niere, Tschüß Herz! Allerdings würde man gerne
von ihren Enkeln die Organe nehmen. Aber dann auf dem
Euromarkt vertickern. Bringt bis Euro 500.000.
Nur noch einmal, falls es vergessen wurde:
»Menschen kann man immer wieder neue machen, aber
Geld, GELD, haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie
schwer es ist, an anderer Leute GELD zu kommen?«

Während Brack und Ruud auf dem Weg ins Präsidium


waren, war es für einige Geschäfte sehr leicht, an Geld zu
kommen. Brack mußte nämlich ein paar Sachen einkaufen.
»Ruud, wenn Sie an einer guten Parfümerie und an einen
Herrenausstatter vorbeikommen, bitte anhalten. Ich muß so
einiges einkaufen.«
Sie kamen, Ruud hielt an, und Brack kaufte ein. Brack
zahlte bar, da er der Meinung war, daß es niemand etwas
anging, ob er sich einen gefüllten Kulturbeutel und einen
Pyjama gekauft hatte oder nicht.
Bei Bezahlung mit einer Kreditkarte oder Euroscheckkarte
konnte jede interessierte Stelle nachprüfen, ob und wann
und was und für wieviel er eingekauft hatte. Er hinterließ
eine Papierspur. Und wenn er das nicht wollte, mußte er
eben bar bezahlen. Und auf diese Idiotenpunkte-Karten
beim Einkauf verzichten. Die zeichnen auch alles auf!
Kreditkarte! Frechheit. Er brauchte keinen Kredit. Außer-
dem empfand er es als leichte Unverschämtheit, daß seine
Bank an seinen Einkäufen kräftig mitverdiente.
Kredit! Kredit ist nichts als vorweggenommener Konsum.
Aus der Zukunft in die Gegenwart. Kredite nehmen Pro-
duktivität der Zukunft zum Nutzen der Kreditgeber vorweg.
Warum üben 18jährige nicht Konsumverzicht und kaufen

125
sich ein Auto erst mit 30 Jahren und sparen das Geld vorher
an? Weil niemand den Konsumverzicht will!
Es gibt nur künstliche und falsche Argumente für einen
Kredit! Von stark interessierten Kreisen, die eine Gesell-
schaft in ihrem Würgegriff halten möchten.
Vorweggenommener Konsum steigert die Arbeitslosigkeit
der Zukunft! Wir zahlen heute die Zeche der sechziger und
siebziger Jahre. Und Kreditorgien wie in den USA und dem
Vereinigten Königreich werden eines Tages ein Chaos
verursachen, falls es diesen Ländern nicht gelingt, die Fol-
gen des Kredites andere Länder bezahlen zu lassen und auf
sie abzuwälzen. Den USA gelingt das seit über 200 Jahren!
Toll. Es sollen eben wieder Geheimgespräche über eine
Freihandelszone USA/Deutschland geführt werden. Und
Frau Kanzler kann darüber vor Freude kaum das Wasser
halten. Daß Deutschland die Verschuldung der USA mitbe-
zahlen darf! Mal fini!
Eng mit dem Kredit ist der Handel verbunden. Alle Händ-
ler, Dealer, vulgo Koofmichs sind Diebe und Blutsauger.
Eine Weisheit, die sogar Thomas Mann in den »Budden-
brooks« anklingen läßt. Nicht umsonst ist Merkur, der Göt-
terbote, der Beschützer von Kaufleuten und Dieben.
Das beliebte Argument der Lagerhaltung gilt nicht, da z.B.
ein erzeugender Bauer seine Lebensmittel entweder frisch
verkaufen könnte oder problemlos selbst lagert. Jahrtausen-
delange Erfahrung. Handel ist im besten Falle geldverbren-
nend. Es entsteht keine zusätzliche Produktivität und Wert-
schöpfung.
Eng mit Kredit und Handel sind die Versicherungen ver-
bandelt.
Prinzipiell sind Versicherungen etwas zutiefst Unmorali-
sches. Ohne Versicherung für zum Beispiel das Autofahren
würde jeder bedeutend vorsichtiger agieren, denn er müßte
einen verursachten Schaden alleine aus seinem Vermögen
begleichen. So bezahlt die Gemeinschaft, und ihm kann
wenig passieren. Pekuniär gesehen.

126
Die Versicherungen haben einen weiteren unerwünschten
Effekt. Sie ziehen wie ein Staubsauger enorme Geldmengen
aus dem Kreislauf des Marktes, die dann auf der Nachfra-
geseite fehlen. Dieses Geld wird dann wieder an die USA
verliehen, denen es richtig gut auf Kredit geht, weil jeder
sein Öl in Dollar bezahlen muß.

Ja, bei genauerer Betrachtungsweise stellt sich nahezu jeder


»Fortschritt« als Rückschritt heraus.
Jaja. Unser Staat und seine Datensammelwut.
Jaja. Unsere Banken, die stiekum alles übernehmen, inklu-
sive Staat.

127
128
Das Präsidium

Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-


ber, 11 Uhr 52

Brack und Ruud gingen über den Flur im zweiten Stock des
Dienstgebäudes Keithstraße, Abteilung für Delikte am
Menschen, und unterhielten sich. Brack rauchte dabei seine
unvermeidliche Zigarette und betrachtete interessiert den
ekelerregenden Erguß der Farbgebung von Fluren und
Zimmern. Er vermutete stark, daß der Innenarchitekt ein
abgebrochener Mediziner war oder die Behörden von Natur
aus haßte. Wie sonst waren die rotzgrün gestrichenen Flur-
wände zu erklären? Was heiterte eigentlich die Gemüter in
einem eitergelb gepinselten Zimmer auf? Warum mußten
mit haferschleimgrauen Tischen, Stühlen, Teppichen und
Aktenschränken den Mitarbeitern zusätzliche Depressionen
aufgedrängt werden? Brack schüttelte sich angewidert.

Die Sichtung der Unterlagen und die Fragen im Milieu


hatten, wie erwartet, nichts gebracht. Sie lachten leise, als
Brack von Herrn Nepomuk erzählte. Plötzlich erschallte
eine unangenehm schnarrende Stimme über den Flur:
»Ahh, unser Gast, der uns bei der Aufklärung helfen will!«

Es war ein faszinierendes Schauspiel zu beobachten, wie


sich Bracks Gesichtszüge von entspannt zu bösartig änder-
ten.
»Weitergehen«, zischte er Ruud zu. »Nicht stehen bleiben!«
»He, Sie, hallo!« Sie hörten eiliges Laufen hinter sich und
sahen, wie die Mitarbeiter auf dem Flur in Erwartung eines
Schauspiels stehen blieben.
Vor ihnen baute sich keuchend ein hagerer Mensch auf. In
seiner Begleitung eine junge Dame.

129
»Können Sie nicht hören, wenn ich mit Ihnen spreche? Was
sind denn das für Manieren? Ich bin der stellvertretende
Kriminaldirektor Dr. Vollmer. Machen Sie sofort die Ziga-
rette aus. Hier herrscht Rauchverbot!«

Nun sind die Nichtraucher absolut voll im Recht, wenn sie


das Rauchen verbieten lassen, nicht wahr? Der Rauch, den
die Raucher produzieren, legt sich auf die zarten Lungen
und empfindsamen Bronchien der Nichtraucher und verur-
sacht Krebs! »Rauchen kann Krebs verursachen.« Man
kennt diese Kleberchen.
Die aktivsten Passivraucherinnen haben jedoch keine
Schwierigkeiten, ihren Nachwuchs Krebswuchs in der Kin-
derkarre in Höhe der Auspuffrohre in den Innenstädten
zuzuteilen. Die lieben Kleinen tragen nicht nur Jeans von
Diesel, sie inhalieren auch die Verbrennungsrückstände von
Diesel. Aber wehe es raucht einer in der Nähe! Dann geht
aber der Elch ab!
Dagegen vertragen die Nichtraucher Auspuffgase pracht-
voll. Und Industriefeinstaub wird von Nichtrauchern gera-
dezu goutiert wie eine belebende Sauerstoffdusche. Zigaret-
ten hingegen »können tödlich sein.« Das Leben manchmal
allerdings auch! Und wenn man sich so die Antiraucher-
kampagne im Einzelnen anschaut, beschleicht einen das
Gefühl, daß Nichtrauchen ein ganz kleines bißchen blöd
macht.
Was ist denn gegen den schädlichen und krankmachenden
Zigarettenrauch das tiefe, gesunde Einatmen von Auspuff-
gasen, Heizungsabgasen und Flugzeugabgasen? Das tut
doch gut! Und asbestverseuchte und holzschutzmittelver-
seuchte Innenräume sind speziell für Nichtraucher eine
wahre Delikatesse! Man ist Mitglied der AOK! Was kann

130
einem da schon verfrieren? Aber diese grottenfiesen Rau-
cher. Sind fast schon wie Nazis!
Wie viele Kinder und Frauen werden verdroschen, weil der
Mann raucht?
Und wie viele Kinder und Frauen werden verdroschen, weil
der Mann säuft?
Dies bißchen Fressepolieren! Was kümmert es mich, denkt
der Gutmensch! Hauptsache, das Rauchen hört auf!

Es geht in der Nichtraucherkampagne natürlehmann nicht


um die Volksgesundheit, sondern ums Rechthaben. Um
Spaß zu vermiesen, ja, ein klein wenig um das Ausgrenzen
von Bevölkerungsteilen! Sonst wären Tabak, Pillen und
Alkohol Drogen wie Heroin und Kokain! Daß das Saufen
drei- bis fünfmal soviel Kosten verursacht… anderes The-
ma. Den Industrieschloten kann man das Rauchen nicht
verbieten, die bestellen ja die Gesetze. Und Waldbrände
kommen hinter Schloß und Riegel! Wegen Feinstaub.
Und alle Gaststätten und Eckkneipen haben Nichtraucher-
kneipen zu sein. Und die Raucher müssen sie nichtrauchend
zwangsbesuchen! Sonst ist es nicht mehr so gemütlich.
Und der Staat verbietet das Rauchen. Aber nicht die Ziga-
retten. Jawoll ja. Alles wegen der Gesundheit. Blöd, blöder,
deutsche Politik.
Jedenfalls haben Kleingeister bald einen gesetzlichen
Grund, Dummsinn nachzuplappern!

Bracks Gesicht bekam einen grausamen Zug. Ein politisch


orientierter Beamter ohne Fachkenntnisse und Arbeitser-
gebnisse eines echten Polizisten mußte seine Machtspiel-
chen spielen.
Ohne Not, wo pure Höflichkeit gereicht hätte. Diese Spiel-
chen konnte er auch. Besser!

131
»Es….«
»Frau Alma-Erdmute Langenfeld-Holstein verstärkt ab
sofort das Team«, fiel Dr. Vollmer Brack ins Wort. »Ruud
hat andere Aufgaben. Und Sie als Gast berichten mir um 20
Uhr jeden Abend. Und zwar pünktlich, bitte ich mir aus!«
Nach dieser Demonstration seiner Großartigkeit wollte der
stellvertretende Kriminaldirektor abtreten.
»Sie waren gerne stellvertretender Kriminaldirektor, nicht
wahr?« zischte Brack. »Da kann man so schön Untergebene
drangsalieren und schurigeln, nicht? Sie brauchen eine
Lektion, mein Herr, die Ihre Eltern vergessen haben Ihnen
zu erteilen!« Er fuhr immer lauter fort:
»Ihre neue Gehirnprothese funktioniert wohl immer noch
nicht richtig, was? Braucht ein Update, wie? Sie sind ent-
weder unfähig oder zu böswillig, Ihre Dienstanweisungen
zu verstehen, oder? Sie sabotieren staatswichtige Ermitt-
lungen!« Die letzten Worte brüllte Brack.
Voll ungeheucheltem Interesse genoß Ruud das Schauspiel.
Auch die anderen Mitarbeiter auf dem Flur rückten näher
heran.
»Ich bin hier nicht Gast, sondern Boss. Sie haben mir mit
Ihrer gesamten Mannschaft und all Ihren Ressourcen un-
eingeschränkt zur Verfügung zu stehen! Wenn ich sage,
hopp, dann hopsen Sie. Sie haben keine Lust, Ihre Arbeit zu
machen und Ihrer Dienstanweisung zu folgen? Gut! Kön-
nen Sie gerne ausbaden! Zu Ihrer überflüssigen Informati-
on, Herr zukünftiger ex-stellvertretender Kriminaldirektor
Dr. Vollmer, mein Team stelle ich mir selber zusammen.
Da ist Ihr aufgedrängter Arschwärmer so sinnlos wie bei
Ihnen das Gehirn!«
Tückisch sah Brack der jungen Dame ins Gesicht.
»Ne Quote, was? Frau Alma-Erdmute Langenfeld-Holstein.
Das ist doch kein Name, sondern eine Kurzgeschichte!«
Brack zündete sich voller Wut eine neue Zigarette an. Jetzt
mußte er die Sache gnadenlos zu Ende bringen.
»Ruud, bringen Sie bitte mal zwei Stühle. Und Sie, Herr
Dr. Vollmer, sind suspendiert. Geben Sie Ihrem Stellvertre-

132
ter Waffe und Dienstausweis und verlassen Sie das Gebäu-
de. Bis auf weiteres haben Sie Hausverbot bei der Polizei
Berlins.«
Entzückt aber ungläubig verfolgten die Mitarbeiter auf dem
Flur den Einlauf für den bestgehaßten Kriminaldirektor
Berlins. Das Thema gab Gesprächsstoff auf Jahre hinaus.
Aber noch wollte Dr. Vollmer nicht aufgeben. Er fragte
höhnisch:
»Und wie wollen Sie Großmächtiger das anstellen?«
Brack zog Ruud auf die zwischenzeitlich gebrachten Stühle
runter, machte es sich auch bequem und fragte sanft:
»Reicht ein Anruf von Ihrem Innensenator?« Er wählte
Hades Nummer.
»Hade, hier Justus. Ein Komiker schießt wieder quer. Ja,
suspendieren, der stört. Der Komiker ist der stellvertretende
Kriminaldirektor Dr. Vollmer. Sehr hartleibig. Hielt mich
für seinen Schuhputzer und Laufburschen. Behindert die
Ermittlungen. Folgt nicht seiner Dienstanweisung. Ich
möchte, daß der Innensenator in spätestens 15 Minuten die
Vollmer-Pfeife anruft. Und wenn der Herr Innensenator auf
dem Thron sitzt und ein Ei legt. In 15 Minuten! Danke.«
Brack schaute auf die Uhr, und unwillkürlich machten es
alle nach.

Zwölf Minuten später flötete eine weibliche Stimme vom


Ende des Flures:
»Herr Kriminaldirektor, Herr Kriminaldirektor! Der Innen-
senator möchte Sie sprechen. Dringend!«
Fassungslos und in seinem Beamtenglauben bis in die
Grundfesten erschüttert, eilte Dr. Vollmer den Gang hinun-
ter. Frau Alma-Erdmute Langenfeld-Holstein ließ ihn auch
in seiner schwersten Stunde nicht alleine gehen. Die Mitar-
beiter auf dem Flur fingen spontan an zu klatschen. Spöt-
tisch verbeugte sich Brack.
»Sehen Sie Ruud, ab jetzt bin ich nicht mehr der unbekann-
te kleine dicke alte Zausel hier in Berlin, sondern der »Di-
rektor-Killer«.«

133
Ruud meinte nur: »War das denn wirklich nötig?«

Der erste Teil seines Planes hatte perfekt geklappt. Der


Primus Custos ging aus Gewohnheit im Raum auf und ab.
Der neue unbekannte Mitspieler bei der Polizei machte ihm
zwar noch keine Sorgen, aber warum Boris Orbatov nun tot
war, wußte er nicht.
Vom Bundeskriminalamt ging keine Gefahr aus. Die lieb-
ten den Dienstweg und hielten sich fast sklavisch an ihre
Vorschriften. Aber daß jemand aus dem Nichts heraus auf-
tauchte, der das Sagen hatte, das war ungewöhnlich.
Er hatte nicht vor, hektisch auf neue Probleme zu reagieren.
Er mußte agieren. Und er beschloß, sicherheitshalber die
ermittelnden Kommissare abhören und notfalls beseitigen
zu lassen, falls sie ihm zu nahe kamen. Ja, so könnte es
gehen. Und die Putze durfte er auch nicht vergessen. Er
verließ den Raum, um ein weiteres Telephonat zu führen.

Obwohl das Essen in der Kantine der Keithstraße ziemlich


lecker aussah, (und) besonders das Rumpsteak mit Zwie-
beln und Kartoffelbrei, fragte sich Brack, was denn nun mit
der Bovine Spongiforme Enzephalopathie sei. War sie
besiegt? Trieb sie weiter ihr Unwesen in Kantinen, Restau-
rants und in Küchen daheim? Nachdem vor einigen Jahren
die Medien sich monatelang mit täglich neuen Sensations-
meldungen überschlagen hatten und ganze Branchen an den
Rand des Ruins brachten, war es nun still! Wahnsinn. Rin-
derwahnsinn! Sicher hatte man bei der einen oder anderen
Person der Zeitgeschichte immer schon einen leisen Ver-

134
dacht, hat Der oder Die ein Steak zu viel gegessen, oder ist
Die oder Der immer so?
Doch der Bevölkerung wurde nun durch die Nichtberichter-
stattung unserer aufklärungsverweigernden Medien sugge-
riert, es wäre alles in Ordnung. Nix war in Ordnung! BSE
tobte weiter. Jetzt aber auf verdunkelter Bühne. Und was
man nicht sieht, existiert auch nicht. Man kennt das von
unseren lieben Kleinen, die sich die Hände vor die Augen
halten und sagen, jetzt wären sie unsichtbar. Ja, man konnte
auch heute noch vom Rindfleischverzehr blöd werden.

Das Gedächtnis der Menschen ist Gott sei Dank verdammt


kurz. Wer erinnert sich noch an verkrebste und verwurmte
Meeresfische? Die gibt es heute auch noch in Massen, nur
kann man das in einem Fischstäbchen nicht sehen. Und
Frischfisch wandert bei der Verarbeitung über Leuchttische,
damit solche Mutationen aussortiert werden können. Und
viola, ähh, voilà, schon ist das Thema erledigt.
»Le Waldsterben«, wie die Franzosen das aus dem Deut-
schen übernommen haben, war das nicht mal toll? Sie erin-
nern sich noch? Geschwindigkeitsbegrenzungen für Tan-
nen. Emissionskontrollen für Buchen. Katalysatoren für
Eichen! Bleifrei für Linden! Tja, da haben wir doch alle
gerne Opfer gebracht! Latzhosenträger stiegen aufs Fahrrad
um, wenn sie mal Lust dazu hatten und Reporter in der
Nähe waren. Ansonsten tat’s die alte Stinke-Ente, die ver-
brauchte ja sowenig. Und nun, 30 Jahre später, ist das
Waldsterben erledigt. Na gut, nicht ganz. Aber in 20 Jahren
ist es wirklich erledigt, das letzte Bäumchen. Denn trotz
unserer heroischen Anstrengungen ist das Waldsterben
unbemerkt weitergegangen und hat sogar noch an Ge-
schwindigkeit zugenommen. Woher das wohl kommt?
Könnte es daher kommen, daß sich die Anzahl der Autos
zwischenzeitlich verdoppelt hat? Jetzt aber mal ehrlich, was
kann man eigentlich mit einem Baum schon anfangen?
Nicht die Industrie, sondern so persönlich? Abhacken, weil
er im Garten den Rasen stört.

135
Gut, und sonst? Na sehen Sie! Und mit dem Auto? Da gibt
es doch ganz andere Möglichkeiten. Zum Beispiel über die
Grenze fahren, um billig zu tanken! Und all so was.
Das Waldsterben ist doch nicht real für die meisten Men-
schen. Man sieht es im Buntfernsehen, genau wie Mister
Spock. Ist der etwa real? Oder Wale! Haben Sie schon mal
in Echt einen Wal gesehen? So richtig lebendig? Außer im
Fernsehen? Würden Sie Mister Spock oder einen Wal in
Echt vermissen? Na also! Was man nicht kennt, vermißt
man nicht! So ist das auch mit dem Waldsterben. Und des-
wegen macht niemand mehr so ein Zirkus darum.
Brack war auf der einen Seite froh, daß er keine Kinder
hatte, soweit ihm bekannt war. Was für eine kaputte Welt
würde er, ja er, ihnen hinterlassen. Die Klimakatastrophe
dreht langsam ihr riesiges Rad, und die Führer der freien
und unfreien Welt zeigten in ihren Reden eindrucksvoll,
warum die Evolution mit dem Menschen eine Sackgasse
beschritt.
Ein Jahrtausendsommer löste den Jahrhundertsommer ab,
der dann von dem Jahrhunderttausendsommer abgelöst
werden würde. Fünf Monate Sommer in Deutschland mit
45° Celsius plus? Toll für die schlichten Gemüter, die dann
nicht mehr auf Malle fahren müßten. Und dürften! Toll für
die Dermatologen, die einen krisensicheren Zukunftsberuf
hätten und wegen merkwürdiger Hautveränderungen mit
Patienten überlaufen würden. Toll für die Bauern, deren
Ernten nur noch 20 % ausmachen würden. Toll für die
Alpen, die dann endlich keine Gletscher mehr hätten.
Na, und wenn es bei uns kein Wasser mehr gibt, dann trin-
ken wir eben Bier!
Und reizvolle Wüstenlandschaften in Spanien, Frankreich
und Italien haben wir beginnend schon heute.
Ob wir dann mit den vielen bunten Geldscheinen in den
Klimaanlagen unsere Körpertemperatur auf 37° runter be-
kommen?
Ach was! Es wird schon wieder kühler werden!

136
Klar, wenn der Golfstrom dann irgendwann abreißt, werden
wir es schön kühl hier haben. In fünf Monaten Winter in
Deutschland mit 45° Celsius minus wird unser Gehirn der-
artig abkühlen, daß die dann aktuelle Generation unsere
Generation von Herzen verfluchen wird! Ob wir dann mit
den vielen bunten Geldscheinen im Ofen unsere Körper-
temperatur auf 37° rauf bekommen?
Auch um die Gentechnik ist es verdächtig still geworden.
Schaf Dolly? Noch bekannt? War schon toll, was? Gut, die
2.000 anderen mißlungenen Versuche vorher mit den Mon-
sterergebnissen hat man der Öffentlichkeit vorenthalten,
auch daß Dolly nicht an Altersschwäche, sondern an einen
ganzen Strauß unwahrscheinlicher Krankheiten eingegan-
gen ist, mußte nicht jeder wissen. Aber allein diese Ideen!
Da hat man ein Lachsgen in eine Kartoffel übertragen,
damit diese kälteunempfindlicher wurde. Von wegen endlo-
se Kartoffelfelder in der Antarktis oder so. Ein Engländer
delektierte sich an Pommes frites aus eben diesen Kartof-
feln und hastenichgesehn war er hin. Er starb an einem
allergischen Schock. Er war gegen Fisch allergisch!
Dieser dumme Inselaffe hätte doch wissen müssen, daß er
keine Kartoffeln essen darf, wenn er gegen Fisch allergisch
ist! Da warten auf die Welt noch viele lustige Geschichten.

Obwohl, manchmal hat man bei Personen der Zeitgeschich-


te schon jetzt das Gefühl, die Gendottores hätten bereits
kräftig gepfuscht!
Der letzte Medienhammer war die Vogelgrippe. Noch erin-
nerlich?
Die Pharmaindustrie hat es zwar bis heute nicht geschafft,
einen Impfstoff gegen die Viruserkrankung »Schnupfen«
herzustellen, aber für Birdflu war alles innerhalb von Wo-
chen bereit! Das war vielleicht ein Geschäft! Alle Regie-
rungen wollten Millionen Dosen für die staatswichtigen
Mitbürger kaufen. Also erst mal für sich selbst. Wenn man
die Impfmortalität berücksichtigt, gar keine schlechte Idee.
Diese vielen toten Vögel überall. Und so plötzlich! Wer

137
hatte vorher schon mal im Buntfernsehen im Juli von toten
Vögeln gehört? Entweder starben die Viecher nicht im
Sommer, oder sie wurden schlicht und einfach ignoriert.
Aber dann! Jede gemeine entseelte Kohlmeise wurde zu
einem brandgefährlichen Killer-Vogel. H5N1, H5N1. Der
verunsicherte Zuschauer erwartete ob der vielen Sonder-
sendungen ganze entvölkerte Landstriche vorzufinden.
Mmh!
Im Oldenburgischen warteten ebenfalls Dutzende von Ge-
flügelzüchtern, daß in ihrem Bestand endlich der Virus
nachgewiesen wird! Bei einem kleinen Betrieb mit 100.000
gekeulten Tieren gibt es pro Tier 40-50 Euro Entschädi-
gung über die EU vom Steuerzahler. Dann hätte man auf
Malle seinen Lebensabend ohne diese blöden Viecher ge-
nießen können. Doch leider, leider ist auf nichts mehr rich-
tig Verlaß. Sie warten noch heute auf H5N1.

Brack entschied sich, zu hasardieren!


»Ein halbes Hähnchen mit Salat und einmal das leckere
Rumpsteak!«

138
Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-
ber, 14 Uhr 22

Nach einem weitgehend schweigend eingenommenen Mit-


tagessen in der Polizeikantine, das garnicht mal schlecht,
aber zu teuer war, und nach einem halben Päckchen Ziga-
retten, saßen Brack und Ruud in der Antiquität von Opel.
»So kommen wir nicht weiter, den Opern-Mörder mal ab-
gehakt«, sagte Brack nachdenklich. »Es gibt keine Spuren,
keine Motive, keine verfolgbaren Täter, von Auftraggebern
ganz zu schweigen. Ich habe da eine Idee ... müssen wir
mal sehen. Mobilisieren Sie Ihren gesamten Laden, wir
brauchen schnellstens eine Liste. Und diese Liste verglei-
chen wir mit einer anderen Liste. Mit nur ein bißchen
Glück… Also, ich möchte von gestern alle Morde, Selbst-
morde, tödlichen Unfälle, natürlichen Todesfälle bundes-
weit! Den Beruf des Opfers, letzter Arbeitgeber und so
weiter. Weiter eine Liste von allen Flugpassagieren aus
dem Osten ab….Montag. Leihwagen. Alle Bundestagbesu-
cher!
Und machen Sie Druck! Auch wenn morgen Bundesfreitag
ist, und niemand mehr arbeiten will! Überstunden sind kein
Thema. Wenn sich Bundesländer sperren, sagen Sie mir
Bescheid. Sie wissen ja nun, daß ich sogar Idioten überre-
den kann.« Brack grinste schief. »Suchen Sie bitte sechs
pfiffige Kollegen zur Auswertung zusammen. Sie kennen
Ihre Leute. Keine Schnarchnasen, bitte! Los, ab. Ich warte
hier. Wir haben noch zu tun.«
Ruud meinte beim Weggehen: «Wollen Sie nicht heute
abend etwas Kultur aus Berlin kennenlernen?«

Brack überlegte, ob er das schier endlose kulturelle Ange-


bot der Bundeshauptstadt mal annehmen sollte. Wenn er
denn Zeit und Lust darauf hatte. Und falls er jemals in sei-
nem Leben so richtig begreifen würde, was unter Kultur
eigentlich so zu verstehen wäre. Ja, er hatte einen Kultur-

139
beutel! Da war seine Zahnbürste und Seife und so was drin.
War’s das?
Der Kulturbetrieb in Deutschland ist schon eine Marke für
sich. Da gibt es die literarische Pokerrunde, die ein Buch
hochleben heißt, in dem sich der Autor auf 600 Seiten über
seinen ausgebliebenen Orgasmus ausläßt.
Nicht, daß einen einsamen Einzigen das freudlose Sexual-
leben eines impotenten Halbidioten auch nur die Bohne
interessiert, aber der Machwerker hat doch sicher seine
echtesten und edelsten Gefühle dem Leser offenbart. Denk-
ste! Echte Gefühle bekommt man von dem nur zu hören,
wenn der sich mit dem Hammer auf den Daumen haut!
Oder die zahllosen Goetheverbesserer. Faust spielt in Sta-
lingrad unter Erfrierenden. Und alle sind nackt. Wegen der
Gleichberechtigung hat der Regisseur noch schnell Frau
Daumen und ein Frollein Beelzebub reingeschrieben. Wer-
fen sich geschmackvolle Obszönitäten und ekelerregende
Körperausscheidungen an den Kopf! Toll! Hat sich der zu
seinem Glück tote Geheimrat auch wirklich so vorgestellt.
Geil! Jedenfalls der Theaterbesucher. Nur weil der Regis-
seur zu dämlich ist, was Eigenes zu schreiben, muß er sich
an wehrlosen Klassikern vergreifen. Und das Bildungsbür-
gertum mit seinen Bildungsbürgern ist hin und weg. Nicht,
weil sie es selbst wirklich begreifen und mögen, sondern
weil es eben alle sagen. Und da muß man doch einfach
mitmachen! Denn einen eigenen Standpunkt zu beziehen,
haben diese angepaßten Schleimer nie gelernt und sind
dank geistigen Unvermögens auch nicht dazu in der Lage.
Es sind halt professionelle Gutmenschen, die ihre eigenen
krausen Gedanken allen oktruieren wollen. Ist Ihnen schon
einmal aufgefallen, daß die, die am lautesten nach Gutmen-
schentum quengeln, genau wie die von ihnen verachteten
Sozialhilfeempfänger ausschließlich von Staatsknete und
Zwangsabgaben leben? Die noch nie in ihrem Leben arbei-
ten mußten? Die das Maul am weitesten aufreißen, wenn
sie Pulswärmer für linkshändige Negerkinder fordern? Die
gerne Millionen Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen lassen,

140
weil, das hört sich doch so irgendwie edel an und schaut
her, sind wir nicht gute Menschen? Aber doch bitte nicht in
ihrer eigenen Wohnung aufnehmen! Eine Zumutung! Und
selbst die eigenen absurden Vorschläge aus eigener Tasche
zu bezahlen, was denn, wie denn, wo denn? Wozu gibt es
denn den Steuerzahler? Die Gutmenschbande kann aber
problemlos Dschingis Khan politisch rechts überholen,
wenn es darum gehen sollte, der Mehrheit der Bürger das
Deutsch vorzugeben, das die ums Verrecken wirklich nicht
sprechen wollen!
Hey Müsli: Ein Zwerg ist ein Zwerg, auch wenn er Goliath
heißt! Muß man nur nachmessen, wenn man’s nicht glaubt.
Und ein Neger ist ein Neger, selbst wenn man ihn weiß
anstreicht, es bleibt ein Neger! Von negro gleich schwarz!
Aber da solche Begriffe »negativ besetzt« sind, - warum
eigentlich? -, von wem eigentlich? -, muß jeder, also auch
die, die das garnicht wollen, die endlich angeblich nichtbe-
leidigenden neuen Begriffe verwenden.

Ist es nicht ein viel schlimmerer Rassismus, aus den offen-


sichtlichen äußeren Unterschieden eine Nivellierung solan-
ge vorzunehmen, bis aus einem stolzen Kongoneger eine
Art grotesker Westfale oder Hesse geworden ist? Oder
Pfälzer?
Zwerg wird ersetzt durch »extrem vertikal Herausgeforder-
ter«. Ah ja! Kindermärchen: »Schneewittchen und die sie-
ben extrem vertikal Herausgeforderten«. Toll! Leicht unter
der Gürtellinie! Ist das nun ein Titel eines Pornofilmchens?
Heiliges Grimms Märchen! Durch das böse Wort »Zwerg«
kann eine clevere Siebenjährige glatt einen Schock be-
kommen. Und ein unbedarfter Zehnjähriger wird durch das
Wort »Zigeuner« lebenslang traumatisiert. Yo man! Und
ein Neger heißt »Farbiger«, glauben die Kids! Als wenn er
lila-gelb kariert wäre. Bei der Gelegenheit, wann haben Sie
das letzte Mal in der Konditorei um die Ecke einen Moh-
renkopf gegessen?

141
Da rotieren die Brüder Grimm, die sicher bessere Sprach-
wissenschaftler und Germanisten waren, als es die gesamte
Gutmenschbande jemals sein wird.
Und: Nur die Neonazis sagen noch Zigeuner. Soso!
»Herr Ober, ein Sinti-und-Manusch-und-Roma-Schnitzel,
bitte!« Besser hört sich das auch nicht an. Und mit etwas
Pech erhält man drei Stück. Aus zartem Pferdefleisch!
Die fröhliche Operette »Der Sinti-und-Manusch-und-
Roma-Baron« kennt auch keine Sau.
Und wenn Kinder eine »Orale Zärtlichkeit eines stärker
pigmentierter Mitbürgers« haben wollen, schrillen bei nor-
malen Eltern eher die Alarmglocken als bei »Negerkuß«.
Und was »Der stärker pigmentierter Mitbürger von Vene-
dig« sein soll, wird kaum jemand erraten können. So soll
aus der verquasten Gedankenwelt Einzelner Vorschrift für
alle werden. Neusprech aus 1984!
So guckte sich die Polizei nach einem Vergewaltiger auf-
grund der Täterbeschreibung tagelang die Guckerchen aus.
Bis sich rumsprach, daß der Gesuchte ein Neger war! Fas-
sungslos fragten sie, warum man ihnen das nicht auch ge-
sagt hatte! Rassische Merkmale in der Fahndung wären
Rassismus. Edle Einfalt, stiller Schwachsinn! Na, wenn’s
denn den vergewaltigten Frauen und ihren Partnern hilft?

Die Einen sind nun mal schwarz, die Anderen weiß, dann
gibt’s Braune und noch Gelbliche. Na und? Das ist eine
Tatsache! Und es gibt Alte und Junge. Für die Alten sagen
die Nichtlateiner schön falsch »Senior«! Den Komparativ!
Hehehe, auch in einer zweiten Klasse Volksschule gibt es
immer einen »Senior«. Und wenn er erst acht Jahre alt ist!
Und im Wartesaal des Todes, also in einem Altenheim, gibt
es auch immer einen »Junior«. Witzig was? Alt, jung,
schwarz, weiß. Was ist daran schlimm? Schlimm sind im-
mer nur die tollen Gutmenschen, die einen einfach nicht in
Ruhe lassen können!

142
Oder die neuen Theaterautoren. Immer das Gleiche in Va-
riationen. Vater Alkoholiker, Mutter Prostituierte, Sohn
kriminell, Tochter drogensüchtig. Oder andersherum. An-
dersherum? Ach ja, schwul nicht zu vergessen. Also schwu-
ler Vater, Mutter lesbische Kleptomanin, Sohn drogensüch-
tiger Sodomit, Tochter Flatrate-Alkoholikerin aus Beru-
fung. Egal, ist alles so ähnlich dämlich. Und das Stück ist
zur Entspannung stets voller lichtem Frohsinn und heller
Heiterkeit eines Ingmar Bergman. Man ist jedenfalls zum
Schluß immer derartig deprimiert, daß man am liebsten im
Foyer freudig lachend in eine Kreissäge rennen möchte.
Und wenn man dann noch die Kommentare von lebensecht
und wirklichkeitsgetreu hört, fragt man sich ratlos: Nanu?
Warum kenne ich nicht auch so eine Familie? Weiß der
Geier, wo sich diese modernen Autoren immer rumtreiben!

Es ist doch völlig gleichgültig, welche sexuellen Präferen-


zen Menschen so haben, solange sie Andere, die diese nicht
teilen, damit in Ruhe lassen.
Aber das Buntfernsehen bietet einigen ausgemachten Wi-
derlingen mit gegipstem Dauergegrinse und tuntigem Ge-
habe ein Forum, sich vor der vor Brechreiz schüttelnden
Fernsehgemeinde zu produzieren. Das einzig Positive an
denen ist deren HIV-Test.
»Mann, ist das ein gräßliches Arschloch!«
»Das sagt sein Freund auch immer.«

Warum wurden in den 70ern eigentlich nicht die Seuchen-


gesetze auf HIV-Positive angewendet? Dann wäre Millio-
nen Kindern, Frauen und Heteros Einiges erspart geblieben.
Aber AIDS scheint keine Seuche zu sein. Nehmen wir zwei
Aspirin, und alles ist in Ordnung, oder?
Toleranz ist der erste Schritt zum Selbstmord. Wenn die
Anderen vorsätzlich gegen die Toleranz verstoßen. Egal ob
Verbrechen, Gefährdung oder einfach nur Ärgern, Toleranz
wird damit in die Sagenwelt des ewigen Weltfriedens ver-
bannt. Nicht daß wir uns mißverstehen, eine wirklich schö-

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ne Idee, aber eben nur eine Idee! Der Mensch ist einfach
nicht so.
»Gottchen, ja, ich bin schwul! Ist das nicht etwas gaaanz
Tolles? Wir sind alle so sensibel und künstlerisch begabt.
Und lieben einander. Ist das nicht interessant und bemer-
kenswert? Ist das nicht etwas äußerst Exquisites und Ge-
heimnisvolles?«
Was an Blut, Ejakulat und Kot exquisit sein soll, erschließt
sich wohl nur den wenigsten Menschen.

Und sollten sich zwei Laschmänner oder Sitzpinkler oder


Bausparer oder Beckenrandschwimmer in einer der span-
nenden Kultursendungen auf einem dritten Fernsehpro-
gramm nach Mitternacht über eine Neuerscheinung oder
tolle Problemfilme, die niemand sehen will, fachgerecht
und butterweich mit zarten Stimmchen unterhalten, kann
man genausogut im Badezimmer vor dem Spiegel zuguk-
ken, wie einem die Haare wachsen. Ist nervenaufpeitschen-
der und informativer.

Überhaupt das Buntfernsehen! Wer und Was so alles auf


Zwangsgebührenzahlers Kosten aus dem Riesengeldtopf,
der nie leer wird, sein talentloses Dasein fristet, das hat
schon was von betreutem Wohnen an sich.
Die Existenzberechtigung der Privaten, kurz Proll-TV ge-
nannt, wird von uns allen durch erhöhte Endverbraucher-
Preise der beworbenen Produkte bezahlt. Also einfach nicht
die beworbenen Produkte kaufen, dann hört der Mist viel-
leicht auch mal auf!
Als Gegenleistung erhält man so was Übelkeiterregendes
wie »Vera ißt Mittag«, eine äußerst unappetitliche Sendung.
Oder Proll-Talk. Mit Typen, die einen lächelnd begreifen
lassen, daß das eigene Leben garnicht sooo Scheiße ist.
Oder Gerichtsshows direkt aus dem Bordell mit sprechen-
den Tieren.
Sehr gut kommt auch beim Zuschauer an, daß alle fünf
Minuten in einem der seltenen guten Filme mit Kling,

144
Zzzzzz und Boing ein Highlight per Laufschrift wie zum
Beispiel Messmers »Ich war fast der Yeti« im Sommer für
das nächste Weihnachtsfest angekündigt wird, daß man
dann allein nur aus Verärgerung sich todsicher nicht rein-
zieht. Geschweige denn, daß man es wegen des gehirnam-
putierten Titels sowieso zum Kotzen findet. Gespannt ist
man nur auf die Fortsetzung der Geschichte eines Yetis:
»Ich war fast der Messmer.«
Man lernt, diese TV-Sender zu meiden. Denn der Zuschau-
er ist lästig, überflüssig, nervt! Wichtig allein sind die Ein-
nahmen aus der verkauften Werbung.
Fast kaum glaubhaft und echt ohne Scheiß existieren Pläne,
das Proll-TV zu verschlüsseln und gegen eine geringe mo-
natliche Gebühr zum Bezahlfernsehen mit Werbung zu
machen. Wir dürfen uns auf das Ende vom Proll-TV freu-
en! Und da die Satellitenbetreiber das Gleiche vorhaben, ist
bei den ärmeren Bevölkerungsschichten zu hoffen, daß den
Kids das Hirn nicht mehr mit unerträglichem Mist via Bunt-
fernsehen zugemüllt wird.
Wenn ein Kind in die Schule kommt, hat es im Buntfernse-
hen schon sein ganzes Leben vorab gesehen. Inklusive 1000
Morden und 1000 Zeugungen. Warum sollte dieses Kind
noch neugierig auf das Leben sein? Und ganz ehrlich, das
Leben aus der amerikanischen Konserve ist irgendwie ab-
stoßend, brechreizerregend. Es ist doch nur folgerichtig,
daß sich dann ein Kind andere Werte sucht. Die haben dann
nichts mehr mit unserer Wertegesellschaft zu tun und ver-
ursachen subtile Probleme.
Die letzte Generation, die ohne Dauerfernsehen aufwuchs,
war die bis Anfang der 70er Jahre.
Merkwürdig, das sind die, die heute als klug gelten. Woran
mag das liegen?
Zum Beispiel, daß sie Informationen analog per Lesen und
Lehrer und Musik und nur im Kino zerschnippselten 24
Standbildern pro Sekunde erhielten? Während die Genera-
tionen danach fast nur noch mit zerschnippselte 24 Stand-

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bilder pro Sekunde via TV und zerschnippselter 16Bit-CD-
Musik gefüttert wurden und werden?
Bei MP3s, die die entfernten Musikinformationen durch das
Gehirn neu zusammensetzen lassen, gibt es glasklare Un-
tersuchungsergebnisse. MP3s machen doof! Beim TV wer-
den vorsichtshalber erst gar keine Untersuchungen ange-
stellt. Ist das ein Grund für grenzenlose Blödheit?
Egal, drei Jahre nach dem TV-Entzug werden die PISA-
Ergebnisse stark verbessert sein. Danke, Proll-TV! Mit
Euch möchte wohl keiner segeln gehen. Vermutlich zieht
Ihr den Stöpsel, wenn der Kahn sinkt, damit auch das Was-
ser abläuft.
Aber mal im Ernst, Ihr werdet genauso heftig vermißt wer-
den wie Duftbäume, Diskettenlaufwerke oder große, dunkle
Eichenmöbel.
Richtig gute Nachrichten kommen oft unverhofft.

Die schlimmsten Moderatoren und Moderatorinnen der


farbigen Vanitas hat man ja nach zehn Jahren wegen erwie-
sener Unfähigkeit wieder dahin geschickt, wo sie herka-
men. Ins Nichts zurück.
Aber es gibt noch reichlich Abstiegsgefährdete. Ein Heiner
Brem ist in der Lage, mit dem lustlosen Schrei »Alarm«
sein Publikum in kollektive Narkolepsie fallen zu lassen.
Talkrunden sind immer und garantiert mit solchen besetzt,
die von dem Thema am Wenigsten Ahnung haben. Also,
Kastraten diskutieren übers Pimpern!
Unter der volkshochschulgeprüften Leitung einer alten,
arbeitslosen Luftkellnerin. Daß da nur Dummsinn und
Schwachfug bei rauskommt, ist klar!
Und diese zahllosen Betroffenheitskünstler! Die immer so
eingefroren und falsch grinsen wie nicht ganz rehabilitierte
Schlaganfallpatienten. Die namenlosen lästigen Musikan-
ten. Florian Zinkalu, der Nachwuchsterminator unter den
Publikumsvergraulern! Live zum rasanten Wegzappen aus
der HartzIV-Halle in Karl-Marx-Stadt.

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Meinetwegen sollen auch die Kirmismutanten ab und an
Nachwuchs zeugen, aber doch bitte nicht in vitro! Sämtli-
che Anlagen zum sympathischen Talent werden ausgemen-
delt. Viele glauben ja bis heute, daß der MDR nur ein be-
wegtes Testbild sei, weil sich niemand vorstellen kann, daß
so was echtes Programm ist.

Oder die ganzen militanten Emanzen, die auf so was Alber-


nes wie Gleichstellung nicht den geringsten Wert legen,
sondern um die Vormachtstellung des weiblichen Teils der
Bevölkerung kämpfen, und die ihre Reden beginnen mit:
»Liebe Männer und Männerinnen, liebe Frauen und Fraue-
ninnen. Liebe Väter und Väterinnen, liebe Mütter und Müt-
terinnen«
Ist ja tierisch politisch korrekt, aber vollkommen bekloppt
und plemplem. Wie Einstein gesagt haben soll: »Da fasse
ich mich doch an den Arsch! Mein Kopf ist mir zu schade
dafür!"

Die deutschen weiblichen Minister sind tatsächlich noch


unfähiger als die dümmsten männlichen Minister in glei-
chen Positionen. Frau Tutnix, Frau Weißnix und Frau Kan-
nix!

Dann noch die bildenden Künstler! Erbarmung! Die einen


alten Abwaschlappen in einen Rahmen spannen und von
dem dadurch verursachten spaßfreien Leben ihres Fräulein
Großmutters faseln lassen. Ja, faseln lassen!
Das Kunstwerk war in zehn Minuten fertig, aber die ge-
schwollene Erklärung eines eigens dafür engagierten Ger-
manisten dauerte sechs Monate.
Dann kann der hippe Künstler auswendig dem mit offenen
Mund Lauschenden flüssig mitteilen:
»Die Schatten des vergeblichen Seins in einer Welt der
brutalen Prostitution der seelenlosen Körper werden in der
Eitelkeit des nachbarlichen Gaffens….« Und endlos so
weiter!

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»Seine eigenständige, subjektive Bildsprache basiert auf
einem strengen kompositorischen Strich, einer ungeahnten
Tiefe….«
Man sieht also, daß das Kunstwerk keine eigene Aussage
mehr hat.
Aber spitzenmäßig, was der Künstler alles darin sieht. Man
sollte ihn fragen, was er sich so einwirft. Und davon eine
Probe fordern!
Einen bleibenden Eindruck hinterläßt der Künstler nur,
wenn er aus dem achten Stockwerk in feuchten Beton fällt!
Ein Schlachtabfallhändler bekam jedenfalls Wutanfälle, als
seine Putzmadam zu seiner drei Mal fünf Meter großen
Neuerwerbung nur bemerkte: »Sind die Maler und Tapezie-
rer denn gestern nicht fertig geworden?«
Wo sind die wirklichen Künstler, deren Kunst Menschen im
Innersten berührt? Die Bilder und Skulpturen schaffen, bei
denen Jeder diese begnadete Kunstfertigkeit bewundert?
Und nicht zu Recht sagt: »Kann ein Schimpanse auch!«
Avanti Dilettanti! Ein Pfund Margarine auf eine Kuckucks-
uhr zu nageln ist keine Kunst. Sondern Publikumsverar-
schung. Und wenn Putzfrauen Kinderbadewannen von
Leukoplastpflastern befreien und damit ein Kunstwerk
zerstören…. Man sollte diese Putzfrauen in aller Öffent-
lichkeit belobigen.

Aber solange es Käufer gibt, die noch blöder sind als der
Künstler…

Bracks Gedanken drifteten ab, und er nahm Abstand von


einer Schnupperreise durch das kulturelle Angebot der
Bundeshauptstadt.

Zur nervlichen Errettung Bracks saß Ruud 20 Minuten


später wieder im Wagen.

»Und jetzt?«, fragte er.

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»Jetzt informieren wir uns an der Quelle und dem Hort der
wahren Demokratie und der hehren Weisheit, Ruud. Wir
besuchen den Bundestag!«, deklamierte Brack mit einer
großartigen Handbewegung.
»Naja, für uns Muschkoten reicht wohl die Verwaltung des
Bundestages«, setzte Brack resigniert hinzu.

149
150
Der Bundestag

Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-


ber, 15 Uhr 07

Am Bundestag waren wie immer lange Schlangen von noch


stehfähigen Rentnern und Rentnerinnen in ihren Thrombo-
sestrümpfen, die alle aussahen, als hätten sie eine fast leere
Duracell im Rücken und würden nur noch von ihr in Bewe-
gung gehalten. Jeder schaute zwar ausgesprochen freudlos
in die Botanik, aber man merkte den eisernen Willen, sich
mit ihrer Rente einen aufregenden und nervenzerfetzenden
Lebensabend zu gestalten. Hätte man sie gefragt, was sie
denn im Bundestag wollten, hätten ausnahmslos alle ge-
antwortet: »Abgeordnete arbeiten sehen.« Was wiederum
zu Lachanfällen der Eingeweihten geführt hätte, die schon
immer der Meinung waren, daß der von ihnen liebevoll und
doppeldeutig »Urnenpöbel« genannte Wähler nun in Echt
von keinerlei Ahnung getrübt war. Im Plenarsaal unter dem
ziemlich vollgefressenen Adler sah sie niemand je arbeiten,
wenn man mal von der Anstrengung des Handaufhebens
absah oder des am Rednerpult medienwirksame Sprechbla-
sen Absonderns, und wenn sie doch mal arbeiteten, achte-
ten sie dabei sorgfältig darauf, keine Zeugen zu haben. Und
der Adler hob sich ob seines Übergewichtes so schnell nicht
wieder in die Lüfte.
Auch hatte der greise Teil unserer Bevölkerung vor dem
Bundestag immer eine Pillensortierschachtel und Mineral-
wasser in den Untiefen ihrer Rentnerjoppen. Die Neben-
wirkungen dieser Pillen überstieg deren Nutzen für die
Rentner um ein Vielfaches. Für die Pharmaindustrie war es
zu deren endloser Freude genau anders herum. Man sollte
bei aller Pillenfreude nicht vergessen, daß »Pharmaka«
auch Gift bedeutet! In jeder Dosierung! Und das nimmt

151
man auf Empfehlung des lieben, doofen Onkel-Doktor-
Hausarztes ein.
Das erfreute auch einen Teil der Lobbyisten in der Wandel-
halle ungemein, die seit Jahrzehnten mit den diversen über-
flüssigen aber maßgeschneiderten Gesundheitsreformen
Milliarden scheffelten, die ihnen exakt die draußen in der
Kälte stehenden Alt-Deppen bescherten. Diese Lobbyisten
hatten sogar schon Heilmittel, für die es noch gar keine
Krankheiten gab!
Genau genommen und bei Lichte besehen waren die Legio-
nen von Lobbyisten nichts weiter als eine Bande Bahnhofs-
penner, die jeden Abgeordneten trebemäßig anhauten:
»Hasse ma’n Euro für mich?«. Im Gegensatz zu Bahnhofs-
pennern wurden sie aber leider nicht ins Freie geprügelt,
denn für je einen spendierten und in Lettern gegossenen
»Gesetzes-Euro« erhielten die Abgeordneten das große
Füllhorn des nahezu unbestechlichen Demokraten »Mam-
mon« über sich ausgeschüttet.
So waren fast alle zufrieden, sogar der frierende Urnenpö-
bel da draußen.

Der Platzmeister der Abteilung Z in der Bundestagsverwal-


tung, Herr Eugen Sänger, empfing Brack und Ruud bereit-
willigst. Er hatte schon die Befragung des BKA mitgemacht
und antwortete routiniert. In seiner Begleitung befand sich
ein Saaldiener im typischen dunkelblauen Frack mit Gold-
knöpfen und Bundesadler. Er hatte wohl keinen Namen,
jedenfalls wurde er nicht vorgestellt. Auffällig an ihm wa-
ren seine XXL-Ohren, mit denen er sich problemlos die
Nase putzen konnte. Er sah von vorne aus, wie ein VW-
Käfer mit geöffneten Türen!
»Das ist also der Saal, in dem der Ausschuß Montag und
Dienstag getagt hat. Ist der abhörsicher?« fragte Brack.

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»Selbstverständlich! Alle Säle werden wöchentlich über-
prüft oder auch zwischendurch auf Verdacht. Halten Sie
mich für blöd?«
Herr Eugen Sänger war empört. Ein Zweifel an seiner Effi-
zienz!
»Bitte, keine Fangfragen! Gut«, sagte Brack, »jetzt haben
wir einen Verdacht! Lassen Sie bitte überprüfen und zwar
sofort!«
»Etwa jetzt?«
»Nein, jetzt!«
Eugen Sänger sprach zu dem Saaldiener, der dann seiner-
seits zu seinem Handy sprach. Den letzten Satz bellte er.
»Sie kommen sofort!«
Brack wandte sich an Ruud. »Den besten Wanzenputzer,
den Sie kennen. Wer ist das?«
»Henner! Der arbeitet aber nicht bei der Polizei.«
»Soll herkommen. Er darf Rechnungen in jeder Höhe
schreiben, er darf verbotenes Spielzeug mitbringen, alles so
was. Aber auch so-fort! Ich muß wissen, ob hier abgehört
wird oder wurde.«
Herr Sänger wurde bleich. »Es dürfen keine Betriebsfrem-
den hier herein!«
»An Ihrer Stelle würde ich darauf keine Wetten abgeben,
haben wir uns verstanden? In der Zwischenzeit machen Sie
uns eine Liste aller, verstehen Sie, aller Mitarbeiter. Und
eine Liste aller, begriffen?, aller Besucher von … Montag,
Dienstag und Mittwoch. Jetzt, sofort.«
»Da sind aber delikate Besucher dazwischen, deren Anwe-
senheit hier äußerst diskret behandelt werden muß.«
»Wir kümmern uns nicht um Besucher mit Geldköfferchen
und fremd vorgefertigten Gesetzesvorlagen. Das muß der
Wähler tun. Wir wollen nur einen Serienkiller! Sollten wir
feststellen, daß Sie einen Besucher »vergessen« haben, sind
Sie Ihren Job und Ihre Pension los. Nur zur Klarstellung!«
Herr Sänger sprach wieder mit seinem Adlatus, der wieder-
um wieder mit seinem Handy sprach.

153
»Was ist hier eigentlich Ihre Aufgabe?« sprach Brack den
Blaubefrackten an.
»Meine Kollegen und ich sorgen dafür, daß alles reibungs-
los funktioniert und abläuft. Reparaturen durchgeführt wer-
den, Getränke und Häppchen zur Verfügung stehen, daß
Papier und Schreibutensilien auf den Tischen liegen, Kopi-
en gemacht werden und so weiter und so fort. Wenn Sie
einen Butler hätten, Herr Oberrat, wüßten Sie um unsere
Aufgaben.«
Brack amüsierte sich wie Bolle!
»Gut, der Mann, danke.«
»Ruud, Sie bleiben bitte hier und überwachen die Wanzen-
aktion. Und vergessen Sie die Listen nicht! Ich fahre los
und wecke einen alten Mann.«
»Soll ich Sie nicht fahren?«
»Lassen Sie man. Ich will mal ein neues Auto genießen und
rufe mir eine alte Taxe.«
Brack wandte sich noch mal um.
»Wir sehen uns im Präsidium, gegen sechs.«

Das Taxi wartete bereits, als Brack rauskam. Er zeigte dem


Fahrer die Adresse auf der Visitenkarte.
»Ecco, Kolumbuswege. Si, si, ische kenne. Kolumbus isse
vone bella Italia wie ische. Du kenne bella Italia? Napoli?
No? Musse Du gehe hinne. Isse ssene.” Der feurige Italie-
ner sprach mit Händen und Füssen.
Brack freute sich wie ein Schneekönig über den Schmelz-
tiegel Berlin. Nur sonderbare Menschen hier!
»Komme ische nakke Deutzlande. Sprekke no tedesco.
Parlo italiano. Verstehen?”
«Aber durchaus”, stimmte Brack freundlich zu.
«Wolle ische makke mit meine Sswager Gelateria - Eisse-
diele. Gehe wire zu Amte, sagt Sakkbearbeiterin, musse

154
haben Szteuerkarte. Porca misera! Sage ische, Du müsse
gehe Dottore für Kopfe. Noche nixe Szteuer. Tanto lavoro –
viele arbeite, dann Szteuer. Du jetze bearbeite meine Sakke.
Du Sakkbearbeiterin! Policia komme, unde wir superveloce
- saussnell auf Wakke. Dokke wire nix wisse warum Poli-
cia. So wire nix Gelateria, wire Taxi … Ecco! Hier isse
Wege von Kolumbus.«
Brack war vor Lachen längst nicht mehr in der Lage, dem
Gespräch zu folgen. Er drückte dem Neapolitaner einen
Zwanziger in die Hand, wischte sich die Tränen ab und
sagte:
»Du kaufe il mazzo di fiori – großen Blumenstrauß füre
Deine Sakkbearbeiterin. Dann sie vielleicht bearbeitet Dei-
ne Sakke.«

Vor Lachen gekrümmt wankte er auf Schuncks Laube zu.

Schunck erwartete Brack an der Haustür. »Bin eben aufge-


standen«, murmelte er. »Jetzt geht’s mir besser.«
»Na, dann mach’ Dich mal fertig. Ich muß sowieso noch
telephonieren.« Während Schunck im Badezimmer ver-
schwand, rief Brack bei sich zu Hause an.
»Bei Oberrat Brack. Sie wünschen?«
»Herman, Sie müssen mir helfen. Ich bleibe noch etwas in
Berlin und brauche eine Bleibe. Hier soll es ein Hotel geben
mit Butlerservice.«
»Sind der Herr Rat mit meinen Diensten nicht mehr zufrie-
den?« fragte Herman pikiert.
Brack zog eine Augenbraue hoch. Siehe an, der Herman!
Eifersüchtig!
»Aber Herman, Sie sind bei mir doch viel mehr als ein
Butler. Sie sind der Majordomus, der Verwalter des Hauses.

155
Ohne Sie läuft doch bei uns nichts.« Streicheleinheiten!
Brack seufzte.
»Wenn Herr Rat meinen?« Man hörte an der Stimme, daß
Herman hoch erfreut war. »Im Hotel »Avon« gibt es einen
Butlerservice. Zufälligerweise kenne ich den Kollegen. Ich
glaube, Herr Rat müssen sich keine Sorgen machen.«
»Sie denken an Wäsche zum Wechseln und so etwas?«
»Herr Rat werden im »Avon« nichts vermissen.«
»Danke, Herman, ich melde mich wieder.«
Schunck betrat das Wohnzimmer mit einem Kaffeetablett.
Er schenkte beiden ein und setzte sich.
»Hier haust Du nun! Warum?«
»Ach Justus, nach meiner Scheidung hatte ich keinen Bock
mehr auf Mietwohnung! Hier bin ich groß geworden in den
50ern, 60ern, bei meiner Oma. Habe hier als Kind gespielt,
kenne jeden Baum, alle Menschen. Hier habe ich die glück-
lichste Zeit meines Lebens verbracht. Und ich sage Dir, es
ist auch heute nicht das Schlechteste! Und daß ich blöd
angeguckt werde, von Kollegen und so, ist mir scheißegal.
Jetzt gehört es mir, es reicht aus, und ich fühle mich sau-
wohl hier.«
»Suum cuique und mir das Meiste. Wenn Du Dich wohl
fühlst, geht der Rest niemand was an!«

Brack rutschte unruhig im Sessel hin und her.

»Sonst gibt’s nichts Neues, Genaueres erzähle ich Dir auf


der Fahrt.« Zögernd fuhr Brack fort: »Der italienische Taxi-
fahrer hat mich durch seine Geschichte irgendwie auf einen
bösen Gedanken gebracht. Da legt jemand kaltlächelnd
sechs Leute um, um sein schmutziges kleines Geheimnis zu
schützen! Und nun, wo wir wie die Wildschweine den Ak-
ker umpflügen, alle verrückt machen, soll dieser Jemand
stillhalten?«

Schuncks Kaffee schwappte beim abrupten Hinstellen über.

156
»Was meinste damit? Du meinst, wir sind ebenfalls Ziel-
scheibe? Das gefällt mir aber garnicht!«
»Ja, ja, da kann man auf Dauer tot sein!«
»Was sollen, müssen, können wir tun?«
»Du, Ruud und ich müssen aufpassen, aufpassen, aufpas-
sen!«
»Als ich heute Morgen mit Dir sprach, hatte ich schon so
eine Ahnung, daß das ein Scheißtag werden würde! Wohin
fahren wir?«
»Ins Präsidium!«
»Na, dann komm.«

In einer eilig einberufenen Sondersitzung gedachte das


Kabinett kurz der toten Kollegen. Staatsbegräbnis war an-
geordnet, Staatstrauer auch, Reden waren geschrieben, ab
zur Tagesordnung. Man hatte den Personenschutz verdop-
pelt, fühlte sich aber trotzdem nicht so richtig sicher. Daß
die so mißbräuchlich eingesetzten Polizeikollegen bei ihrer
eigentlichen Aufgabe, der Verbrechensbekämpfung, nun
fehlten, interessierte die beliebtesten Politiker aller Zeiten
nicht im Geringsten.

Wenn man alte Wochenschauen mit neuen Kommentaren


aus der heutigen Sichtweise und nicht im Kontext der Ent-
stehungszeit versehen sah, kam man aus dem Staunen gar-
nicht wieder raus. Die bösesten und verabscheuungswür-
digsten Diktatoren aller Zeiten gingen durch Hunderttau-
sende zählende Menschenmassen, ohne sichtbaren Perso-
nenschutz. Ja, die brüllenden Menschenmassen der Ost-
mark behaupten noch heute steif und fest, hinter jedem zur
Teilnahme gezwungenen Wiener standen drei Piefkes der
Geheimpolizei, während man die unglaublich beliebten
Politiker der heutigen Zeit wegen des Personenschutzes

157
noch nicht einmal mehr sehen kann. Nachdenklich schüttelt
der unbedarfte Bürger den Kopf. Empfand der damalige
Bürger die Bösen nicht als böse? Oder sind die heutigen
beliebtesten Politiker aller Zeiten garnicht so beliebt? Da
muß man doch erstmal drüber nachdenken.

Das Kabinett war sich in dieser Sache allerdings einig und


beschloß einstimmig, die Sicherheitseinrichtungen und den
Personenschutz um jährlich 200 Millionen Euronen aufzu-
stocken. Damit sie beim Bürger auch weiterhin beliebt
blieben!

158
Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-
ber, 18 Uhr 23

Im Präsidium kam ihnen Ruud grinsend entgegen.


»Der Platzmeister von der Verwaltung hat mir persönlich
zweimal neue Listen gebracht! Die Letzte wird wohl die
Echte sein. Da sind Namen drauf, unglaublich. Wir sollten
die DAX-Firmen und den BDI direkt in den Bundestag
wählen. Dann ersparen wir uns den Umweg über blöde
Abgeordnete!«
»Ruud ist ein hoffnungsloser Sozialromantiker. Er hält
Zynismus für Erwachsensein. Na, der wird noch Augen
machen«, murmelte Schunck und schlurfte zu seinem Platz.

»Die Ungezieferaktion hat nichts gebracht. Alles sauber.


Aber Henner hat einen grundsätzlichen Fehler in deren
System entdeckt. Jeder Saal hat eine Mikrophonanlage, die
auch zum Aufnehmen geeignet ist. Also, wenn zum Bei-
spiel der Stenotypist fehlt! In einem zentralen Tonraum
wird dann aufgenommen. Von dort kann aber mit einem
unauffälligen Patchkabel die Sitzung in jeden anderen Saal
übertragen werden. Wenn unser Mann tatsächlich im Bun-
destag sitzt, kann er alles Gewünschte unter Kopfhörer
mithören oder aufnehmen. Aber auch von Außen kann man
mit einem kleinen Sender alles mithören.«
Brack wollte wissen: »Und wie viele Besucher gab es in
den drei Tagen?«
»Knapp 2000 mit Ansprechpartner! Naja, und die Touri-
sten eben. Sonst kommt auch keiner da rein. Da ist alles
videoüberwacht! Aber ohne zusätzliche Informationen
brauchen wir garnicht anzufangen. Oder Sie, Herr Brack,
können den ganzen Tag wütende Beschwerden abwim-
meln.«
»Was macht unsere Bundesaktion?«
»Oh die läuft! Alle sind wahnsinnig hilfsbereit. Ein Kollege
vom LKA München wollte sogar wissen, ob das mit dem
Ex-Kollegen Vollmer stimmt.«

159
Schunck hob irritiert den Kopf.
»Erzählt Dir Ruud nachher«, sagte Brack.
Ruud fuhr fort: »Es gibt nur ein Problem, das wir nicht
lösen können. Die Berichte über die Todesfälle trudeln von
überall erst nach und nach bei den zentralen Stellen ein.
Und die geben es dann sofort an uns weiter. Kann also bis
Übermorgen dauern.«
»Ja, da können wir nichts machen. Aber, Ruud, Ihre Kolle-
gen sollen anfangen. Alle Listen vergleichen. Auf bekannte
Namen achten, Duplikate, Berlin und tot und ungewöhnlich
und so weiter.«
»Sind an der Arbeit.«

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Unifor-


mierter kündigte mit angehaltenem Atem einen Besucher
an, der eine Zeugenaussage machen wollte. Er trat zwei
Schritte zurück und machte eine gereizte Handbewegung.
Der Eintritt des Besuchers veranlaßte den Polizisten, blitz-
artig die Tür zu schließen, was wiederum Schunck dazu
veranlaßte, raketenartig zum Fenster zu springen und es
trotz der Kühle aufzureißen. »Erbarmung, der Homer!«
entrang sich Schunck. Homer roch wie ein Magendurch-
bruch. Er hatte mindestens zwei Unterhemden, ein Hemd,
zwei Pullover und drei Mäntel übereinander angezogen.
Eine nicht näher erkennbare Kopfbedeckung, von der man
nicht wußte, ist es ein toter Skunk, ist der noch lebendig
oder sieht das nur so aus. Mundgeruch beim Einatmen,
Dampf aus den Stiefeln von den Schweißfüßen.
Sogar die Källi-Familie hätte es keine fünf Minuten lang
mit Homer in einem Raum ausgehalten. Obwohl Gerüchte
verbreitet werden, daß sich die Källi-Familie vor kurzem
ein Stinktier zugelegt hätten. »Oh mein Gott! Und dieser
schreckliche Gestank?« Daran wird sich das Stinktier eben
gewöhnen müssen!
»Meine Herrschaften, ich entbiete Ihnen meinen Gruß«,
begann Homer. »Mein Name ist Carolinus Eichner. Doktor

160
der Philosophiae. Ich eilte stehenden Fußes zu Ihnen, um
Sie mit einer meiner Beobachtungen vertraut zu machen!«
Brack und Ruud waren baff.
Schunck seufzte. »Ja, stimmt alles. Doktor Eichner legt bei
Nichtsatisfaktionsfähigen allerdings keinen Wert auf diesen
Titel. Und das sind unter andern für ihn wir Nichtpromo-
vierten. Sagt einfach Homer zu ihm. Ihr werdet schon noch
erfahren warum.«
»Also, Homer«, hob Brack an und atmete krampfhaft durch
den Mund, »erzählen Sie bitte von Ihrer Beobachtung.
Nehmen Sie Platz.«
»Ich bedanke mich für die freundliche Aufmerksamkeit,
mein Herr. Es ist eine sehr trockene Luft hernieden. Hätten
Sie wohl die Güte zum leichteren Plaudern etwas Trinkba-
res herbei zu beordern?«
»Im Polizeipräsidium herrscht strikte Prohibition!«
Bracks Nase und Mund wirkten schon etwas gefühllos.
Ungefähr so, als hätte er beim Zahnarzt eine Vereisungs-
spritze erhalten.
»Ich entsage allen Drogen im Allgemeinen und Alkohol im
Besonderen. Ich dachte mehr an eine Tasse Früchte-Tee.«
Der und die Queen bei Five o’clock Tea, dachte Ruud. Das
gäbe sicher einen interessanten Gedankenaustausch!
»Tass’ Kaff’ können Sie kriegen.«
»Vergelt’s Gott viel tausend Mal. Ich hebe an. Vorgestern
zu später Stunde suchte ich mein temporäres Domizil in der
Kolonie Bienenstock auf.«
»Noch ein Laubenpieper«, murmelte Brack, der sich wegen
seiner paralysierten Geruchs- und Geschmacknerven mit-
samt seinem Stuhl immer näher an das offene Fenster robb-
te.
»Ich möchte Sie höflich bitten, mich in meinem Gedanken-
fluß nicht zu inkommodieren, mein Herr. Jedenfalls be-
merkte ich, wie ein korrekt gekleideter Herr des Weges
entlang schlenderte, einen großen Findling zur Seite be-
mühte, und ein kleines Päckchen darunter schob. Er rückte
den Findling wieder auf seinen angestammten Platz und

161
ging von dannen. Als ich, von sicher verständlicher Wißbe-
gier getrieben, nachschauen wollte, ob auch alles in Ord-
nung wäre, kam ein zweiter, ziemlich nachlässig gekleide-
ter Mann des Weges, tat desgleichen wie der vor ihm und
nahm das Päckchen an sich. Nein, mein Herr, ich kann sie
nicht beschreiben, ja, mein Herr, ich kann Ihnen die Stelle
zeigen.«
»Sag’ mal, Homer, brauchste mal wieder ‚ne Taxe? Sollen
wir Dich zur Kolonie fahren? Nun sag’ mal. Was sollen wir
denn mit Deiner Aussage anfangen?«
Homer erhob sich. »Diese Verdächtigung betrübt mich
zutiefst.« Er ging Richtung Tür. »Ich wollte uneigennützig
behilflich sein.« Doktor Eichner war schwer beleidigt.
»Auch ich bin ein Staatsbürger!«, sagte er, als er grußlos
den Raum verließ.
»Da hat er Recht«, meinte Brack, der nun weder etwas roch
noch schmeckte.
»Nun weißt Du auch, warum der Homer heißt. Der erzählt
uns öfter solche Stories.«
Brack guckte nachdenklich.
»Ruud, nehmen Sie zwei von den staubigen Brüdern und
untersuchen Sie den blöden Stein. Man weiß ja nie. Wir
gehen jedem Hinweis nach, und sei er noch so abwegig.
Wir wollen uns ja keine Versäumnisse vorwerfen lassen.«
»Ach und Ruud, Schunck wird Ihnen gleich mal einen
unangenehmen Gedanken erklären! Und«, fuhr er grinsend
fort, »ich bin erstmal im meinem Hotel, entspanne und
mache mich frisch. Vielleicht funktionieren auch bald mei-
ne Geschmacks- und Geruchsnerven wieder. Wenn was ist,
anrufen.«

An der Tür stecke Brack noch mal den Kopf rein: »Ich
fahre mal wieder Taxi!«

162
Das Avon
Absurdistan, Berlin, Donnerstag, der 17. Novem-
ber, 20 Uhr 05

Der Potsdamer Platz wurde 1961 durch die Berliner Mauer


geteilt und nahezu alle noch stehengebliebenen Gebäude
abgerissen. Die Bombardements der Alliierten im Zweiten
Weltkrieg hatten vorgearbeitet und bereits die Hälfte des
Potsdamer Platz planiert.

Dann der Mauerfall. Roger Waters feierte mit »The Wall«


auf dem nun riesigen, flachen Platz als größtes Konzert in
der Geschichte der Rockmusik Triumphe. Einer der zahl-
reichen Pfälzer Dorfkrepel ließ sich als genialer Staatsmann
feiern, ungefähr so, wie sich ein tumber Lottogewinner als
merkantile Jahrhundertausnahme feiern läßt. In Wirklich-
keit kam der Krepel zur Wiedervereinigung wie’n Blinder
zu ’ner Geige.

Dann kam der Run auf das Sahnestück im Herzen Berlins.


Global Player, besser benannt als Global Gambler, überbo-
ten sich an architektonischem Blödsinn und Blendwerk. Ein
deutsches Unternehmen, das geschätzte 40 Milliarden Eu-
ronen für die Psychotherapie ihres gefürchteten Chefs ver-
pulverte, zeigte so Leadership in Shareholder-Value. Die
Shareholder allerdings beweinten bitter ihr Aktienengage-
ment und verlangten weniger Leadership, dafür aber mehr
Value. Der Hausbankoberbonze des Unternehmens aller-
dings verhinderte dieses immer wieder, weil sie erstens:
Gute Kumpels waren, und weil zweitens: Er durch die und
an den Macken, Neurosen und Minderwertigkeitskomple-
xen seines Kumpels spitzenmäßig und klotzig verdiente.

163
Heute sieht der Potsdamer Platz derartig gehirnalbern aus,
daß manche Passanten versonnen den Kopf heben, als wür-
den sie wieder verstohlen nach alliierten Bombern Aus-
schau halten.

Psychotherapie und Psychologie und Psychowasauchimmer


sind aus dem weiten Feld der Wischiwaschiwissenschaften
wie Astrologie, Goldmachen, Pendeln, VWL, Eingeweide-
show, Kaffeesatzlesen und Kartenschlagen einfach nicht
mehr wegzudenken.
Es sind dankbare Betätigungsbereiche für Möchtegernkory-
phäen, die mangels anderen Könnens ihre Pseudowichtig-
keit auch mal beweisen möchten. Es ist die Kunst Jener, die
Nichts auf 1000 Seiten mit vielen Worten beredt sagen
können. Der Labertaschen, die scharf auf Tratsch und
Klatsch sind und intime Geheimnisse anderer Menschen
sammeln. Ja, sie können zwar niemanden heilen, aber sie
hören zu! Das allerdings kann Opa Auas Dackel auch.
Alfred Nobel war ein sehr kluger Mann! Er wußte schon,
warum er keinen Nobelpreis für Psychowischiwaschi-
wissenschaften oder Volkswirtschaftswissenschaften ver-
geben wollte. Es sind nämlich keine.
Oh ja, sie versuchen mit aller Macht, ihre Spielwiesen wis-
senschaftlich zu verbrämen. Klar doch! Rabulistik haben
sie gelernt! Die Grenzen zur Täuschung, Irreführung und
Lüge sind fließend oder nicht vorhanden. Wenn man einen
Rabulisten zur Rede stellt, wird er eine mehr oder weniger
idiotische oder intelligente Ausrede wissen. Allerdings
besteht klassische Wissenschaft darin, »auf methodisch
kontrollierte Weise neue Kenntnisse und Erkenntnisse zu
gewinnen, die von jedem hinreichend Sachkundigen in
prinzipiell allen Einzelheiten nachvollziehbar und über-
prüfbar sind. Für das so erlangte Wissen wird allgemeine

164
Gültigkeit beansprucht und, bis zu einer gegebenenfalls
möglichen Widerlegung, auch weithin akzeptiert. Dies ist
insbesondere dann der Fall, wenn aus seiner Formulierung
in traditionell Theorien genannten Gesamtdarstellungen
logisch und nicht redundant Handlungsanweisungen ableit-
bar sind, deren praktische Anwendung oder Umsetzung
regelmäßig zu Ergebnissen führt, die ebenfalls aus diesem
Wissen logisch ableitbar sind und deswegen prognostiziert
werden können.«
Alles verstanden?
Wissenschaftlich seriöse Erkenntnisse können überall und
unter allen bekannten Umständen reproduziert werden.
1+1=2. Das gilt auf der Erde wie auf dem Mond!
Und genau das Seriöse ist den Wischiwaschiwichtigtuern
mit ihren Wischiwaschiwissenschaften nicht gegeben. Oma
und ihr Enkel reagieren in den gleichen Situationen völlig
unterschiedlich! Oder Frau Müller und Herr Meyer. Oder
einfach erzählt: 6.500.000.000 Menschen verhalten sich im
Extremfall 6.500.000.000 mal anders!
Und deswegen fallen die Psychowasauchimmer-Berufe
unter den Begriff Rummelplatzattraktionen. Und sind über-
flüssig wie ein Kropf! Und es hört sich skandalös an, daß
hilflose Gerichte aufgrund von »Gutachten« derer aus der
Zunft der Kartenschläger Bürger zu Freiheitsentzug verur-
teilen. Da sind wir nicht fortschrittlicher als unsere Altvor-
deren vor 500 Jahren.

Während Brack auf sein Taxi wartete, hörte er vor sich


zwei semmelblonde Bengel auf Kanak Sprak unterhalten.
Kanak Sprak nennen es die Sprechenden selber. Man kann
also damit keine Beleidigung konstruieren, auch wenn man
es zu und zu gerne möchte. Es klang fremdartig. Auslän-
disch. Wie von grünen Aliens. Oder von sprechenden Hun-

165
den. Fast wie das Trash-Komiker-Duo Erdal & Stoffel.
Oder so ähnlich. Brack stellte seine Ohren auf.
»Frag dem Tuss, Scheissndreck Mathe! Normal, isch hab
kein Plan, zeigen mal, wie geht! Sag dem Tuss, was geht?
Bist du scheisse im Kopf, oder was?"
»Wem ist konkret krassn Arschnloch?«
»Dem selbern, isch schwör!
»Voll krass, dem Tuss, isch schwör!«
»Korreckt! Arschnloch!«
»Versägt dem Tuss meim Mathe! Heftig!«
»Korreckt! Dem Tuss hat dem gemacht.«
»Dem Alde is scheissndreck, isch schwör!«
»Isne Spasttuss!«
»Korreckt! Isch geh ma Bäcker.«

Brack freute sich schon diebisch auf die nächste Generation


Apotheker, Anwälte und Atomphysiker mit einem Wort-
schatz von maximal 300 Wörtern. Der voll und ganz durch-
schnittliche Vierbuchstabenzeitungsleser mit 600 aktiven
Wörtern besaß dagegen einen gewaltigen intellektuellen
Touch!
Brack hatte den Eindruck, einer ethnischen Minderheit
anzugehören. In seinem Land. Was daraus alles entstehen
konnte und kann?

Irgendwann merkten es auch die desinteressiertesten Eltern,


daß ihre Sprößlinge anfingen, dummes Zeug zu reden.
Teilweise schon im Kindergarten. Rassismus ist nur eine
Sache der schlechten Erfahrung, und die wohlhabenden
Eltern waren Willens, sich nicht vom Rassismus unterkrie-
gen zu lassen. »Das Kind kommt auf die Waldorfschule!
Punkt und keine Diskussionen mehr.« Oder »Die Jesuiten
werden dem Bengel schon Flötentöne beibringen!«
Niemand interessierte sich nun wirklich für das Christen-
tum oder die Anthroposophie, aber diese Schulen hatten
den Vorteil, daß sie weiß waren, und man so natürlich echt
was lernen konnte. Der Zulauf war enorm, und die Eltern

166
ließen sich die Sache richtig was kosten. Auf der anderen
Seite wurden in Berlin immer mehr staatliche Schulen ge-
schlossen. Und die lustigen kleinen Braunfelle und all die
kleinen Mongolen, Orientalen und Kalmücken, hehehe,
blieben unter sich.
Arme, aber intelligente Eltern meldeten den Wohnsitz ihrer
Kinder weit weg zu Oma und Opa um, wo die Schulen fast
weiß waren. Auch die wirklich guten Lehrer und Pädago-
gen sammelten sich von Jahr zu Jahr mehr in Konfessions-
oder Waldorfschulen.
Also hatte die Multikultibande in ihren Rentierpullis immer
mehr Grund zu klagen: »Eyh, Du, ich finde es total uncool,
daß Yildrim nicht optimal mit Einzelunterricht gefördert
wird. Echt, eyh, Du!« Yildrim wurde ja mit Einzelunterricht
gefördert, aber der hatte nun rein garnichts mit der deut-
schen Schule zu tun. Und an förderungswürdige deutsche
Kinder verschwendeten die schrecklich engagierten Multi-
kultis ohnehin keinen Gedanken. Deutsche waren in ihrer
abstrusen Gedankenwelt nur zum Bezahlen für ihre hoch-
wichtigen Verschlimmbesserungs-Projekte da.

So lernten auch die weißen reichen Kinder von klein auf die
wichtigste Lektion in ihrem jungen Leben, daß in Deutsch-
land Probleme nicht gelöst, sondern am Besten verlagert
werden.
Und auch der engagierteste Ausländerbeauftragte in Dah-
lem achtete darauf, daß sich seine angesagte Eigentums-
wohnung in einem ausländerfreien Haus befand. Naja,
irgendwann will man ja schließlich auch mal entspannen!
Ja ja…, Bildung ist schon ein hohes Gut. Aber manchmal…

Was haben wohl ein ehemaliges hohes deutsches Regie-


rungsmitglied, ein ehemaliger Personalvorstand eines
Großunternehmens und ein ehemaliger Vorstandsvorsitzen-
der eines anderen Großunternehmens gemein? Richtig, sie
sind »ehemalig«. Gott sei Dank! Aber das allein ist es nicht.

167
»Hömma, ich sach ma so«: Der Eine hat den Niedergang
Deutschlands zementiert, indem er bar jeden Intellektes,
aber voll primitiven Machtwillens Abgeordnete einer
Volkspartei durch dauernde Rücktrittsdrohungen und der
damit verbundenen Macht- und Einkommensaufgabe
zwang, undeutschen, weil britischen, Gesetzen zuzustim-
men. Man hört es nun schallen, die Abgeordneten wären
nur ihrem Gewissen gegenüber verantwortlich. Aber dazu
muß man doch erst einmal eins haben! So wurde aus einer
weltweit einmaligen sozialen Marktwirtschaft der Bundes-
republik Deutschland in Windeseile ein beliebiges Wirt-
schaftssystem, wie zum Beispiel Bangladesch oder USA.
Außerdem tönte er rum oder auch nicht, wer weiß das
schon so genau, daß es kein Recht auf Faulheit gebe. Aber
Hallo! Man müßte arbeiten! Na gucke! Der Sinn fürs Ge-
meinsein, äh der Gemeinsinn, wird doch schön demon-
striert, wenn ein gutbezahlter Politiker Familienmitglieder
in der Sozialhilfe verrecken läßt. Oder daß seine Frau, an-
statt in einer öffentlichen Suppenküche etwas Nützliches zu
arbeiten, eine gräßliche Töle als Pinup für Hundefraß ver-
marktet. Anschließend kauft man sich an deutschen Geset-
zen vorbei ein kleines Russenbankert, damit die Medien
nicht aufhören, über den Brionimenschen jubelnd positiv
nach nordkoreanischer Art zu berichten!
Er zeigte sich zum Schluß als eine Art trunkene Gottheit
und war ganz scharf auf Opfergeschenke, die er auch gerne
aus dem In- und Ausland annahm. Heute macht er auch
noch den Schabbesgoi bei einer Bank. Sein Name wurde
sofort zu Unrecht vergessen.
Der andere war ein rechter Hallodri, der sich gerne mal auf
Firmenkosten ein paar Nutten aus Brasilien einfliegen ließ,
um zu sagen: »Heute ist ein guter Tag für… mich!«
Daß die Staatsanwaltschaft sich seiner annahm, ist wohl nur
ein Zufall. Und daß seitdem seine ehemalige Firma als
Viagra und Weiber verspottet wird, Pech!
Sein Name wird die nächsten 100 Jahre in Deutschland
öfter als der von Hitler genannt werden und immer von

168
einem Ausspucken begleitet sein. Denn von seinem giganti-
schen Verarmungs- und Enteignungsprogramm werden sich
auch die Urenkel nicht erholt haben. Und natürlich gehörte
auch er den Spezialdemokraten an.
Der Letzte, der die BRD dauerhaft veränderte, war jemand,
der für seine Psychotherapie, siehe oben, verpulverte, um
endlich mal, siehe oben, zu zeigen. Zur Kasse gebeten wur-
den allerdings nicht er, sondern die Mitarbeiter und Aktio-
näre seines Unternehmens.
Er machte es möglich, daß seine private Putzfrau mehr
Steuern zahlte, als das gerupfte Großunternehmen. Der
Steuerzahler und sein Staat durften zu der Zeche des ver-
geblich Therapierten auch ihr Scherflein dank idiotischer
Steuergesetze beitragen.
Was haben die Drei also gemeinsam?
Richtig! Sie haben ihren zuletzt ausgeübten Beruf über den
zweiten Bildungsweg erreicht. Ihr erlernter Beruf reichte
ihnen nicht, denn sie fühlten sich zu Höherem berufen!
Oh Elend! Uromas Weisheit von »Schuster bleib bei Dei-
nem Leisten« ist also aktuell wie eh und je. Wären die Drei
bloß bei ihren Leisten geblieben!
Der zweite Bildungsweg ist ein Beispiel, daß zwischen gut
gemeint und gut gemacht Welten liegen, und man bestimm-
te Dinge einfach lassen sollte. Lieber sollte man von An-
fang an jedem noch als Kind eine Chance einräumen. Und
wenn das Kind als Kind schon zu blöd ist, wird es als Er-
wachsener in keiner anderen Verfassung sein. Oder »Never
Give a Sucker an Even Break«, wie W. C. Fields völlig
richtig bemerkte.
Hey! Alle Welt glaubt doch an den Psychoscheiß der
Schrumpfköpfe, oder? Wenn man eine Medizinisch-
Psychologische-Untersuchung benötigt, um die läppische
Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nachzuweisen,
um wie viel notwendiger wäre diese MPU zur Führung von
Unternehmen oder gar Staaten? Oder gar Kindererziehung?
Na, wir wollen mal lieber nicht bundesalbern werden! Da
kommt man ja auf Ideen!

169
Fakt ist, daß ohne den zweiten Bildungsweg der Bundesre-
publik Deutschland viel, sehr viel erspart geblieben wäre,
und es heute der BRD bedeutend besser gehen würde.
Quod erat demonstrandum!
Das ist Latein.

Le boeuf - der Ochs,


la vache - die Kuh,
fermez la porte - macht’s Türle zu.
Das ist Französisch!

Die damalige Nachkriegsgeneration hat im Gegensatz zur


heutigen Vorkriegsgeneration alle Vorteile eines langen
Friedens genossen. Aber irgendwann sticht den Menschen
der Hafer. Juckt ihm das Fell! Frieden! Wie unendlich
langweilig! Frieden ist was für jammernde alte Weiber!
Aber doch nicht für uns alte Macker, die die jungen Männer
für sich sterben lassen können. Wir brauchen Action! Ge-
mach… Die Vorbereitungen zum Dritten Weltkrieg laufen
auf Hochtouren! Sehr inkonsequent zwar, aber sie laufen.
Denn in den vergangenen Jahrhunderten gab es immer das
Problem: Wohin mit den jungen Männern, die Unruhe in
die Gesellschaft bringen konnten? Auf den Schlachtfeldern
verbraten! Nicht die Überalterung war und ist das Problem,
sondern die überflüssigen Jungen! Und neue Schlachtfelder,
man lasse sich einmal dieses Wort auf der Zunge zergehen,
Schlachtfelder, gibt es in endloser Zahl. Und die zweijähri-
ge Wehrpflicht kommt! Für Männlein und Weiblein! Da
kann im Grundgesetz stehen, was will.
Dann dürfen wir endlich weltweit mitspielen und für ir-
gendeine pseudogute Sache sterben. Für die Großaktionäre
zum Beispiel. Die haben nämlich zum Kämpfen keine Zeit!
Und deswegen bestellt und bezahlt ein Milliardär über

170
Umwege bei einer Regierung das Gesetz »Wehrpflicht«.
Und dann kämpfen Max Meyer und Paul Müller für das
Eigentum von Herrn Aldy, obwohl sie das nun wahrlich
nichts angeht, und sie haben ja auch nichts davon, und der
Herr Aldy soll sein Eigentum gefälligst selbst verteidigen!
Was wiederum der Herr Aldy wegen Sterben und Krüppel
und so nun wirklich nicht so richtig gerne möchte!
Außerdem hat er auf Kosten von Max Meyer und Paul
Müller soviel zusammengerafft, daß er sein Eigentum we-
gen der schieren Größe auch garnicht verteidigen könnte.
Wirklich? Na, dann hat er eben Pech gehabt!
Die Ökopaxe haben schließlich auch in schlechter alter
Tradition eines Ribbentropps den ersten deutschen An-
griffskrieg nach 1945 mit vom Zaun gebrochen. Zusammen
mit den Spezialdemokraten! Es waren eben Anfänger, al-
lerdings blutige Anfänger. Tempora mutantur, et nos mu-
tamur in illis!
Afghanistan, Irak, Iran und viele weitere Länder locken
zum Freizeitballern.
All inclusive! Leichensäcke und so!
So wie die Xenophobie im tagtäglichen Kleinen gegeißelt
wird, bereitet sie im Großen auch dem militantesten Gut-
menschen keine Probleme. Wenn Norwegen Gas- und Öl-
vorkommen besitzt, ist das normal und völlig in Ordnung.
Die Gas- und Ölvorkommen in der arabischen Welt, der
afrikanischen Welt und der südamerikanischen Welt aber
müssen unter die Kontrolle der G7-Staaten! Und der ameri-
kanische Präsident fragt routinemäßig: »Wie kommt eigent-
lich mein Öl unter Deinen Boden?«
Tja, wenn die NATO mit Deutschland mal nach Palästina
oder Libanon geht, ist es von da nicht mehr weit nach Bag-
dad, Damaskus und Teheran. Und wenn wir schon mal da
sind, können wir Uropas Kampf um den Kaukasus fortset-
zen. Dann ist der Weg nach Aserbaidschan frei.
Um Mexiko, Venezuela, Kolumbien, Bolivien und so
kümmern sich bald ausgiebig die USA.

171
Industriediamanten aus Australien machen doch keine
Kopfschmerzen. Aber die Industriediamanten aus dem
Kongo? Oder Coltan! Auch aus dem Kongo, für unsere
Handys. Daß dabei die Lebensräume der nahen, allerdings
klugen Verwandten der Politiker, die Lebensräume der
Menschenaffen nämlich, zerstört werden, ist das unser
Problem? Die stärker pigmentierten Weltbürger können
noch nicht mal unter sich für Ordnung sorgen. Eine Ord-
nung, wie sie sich die weiße Welt so vorstellt und ihnen
selbstlos und hautnah bringen will. Das erste Kontingent
der EU-Truppe wird monatelang im Kongo bleiben, um
Wahlen zu bewachen!
MUHAAAAAHAAAAAAaaahahahhahaaaaaahh-
haaaaaaaa......ha…brsch....MUHAAAAAHAAAAAAaaaha
hahhaha....hkkkkrrrrh.. hmhmmm.
Tschuldigung!
Erinnert sich noch jemand an Lumumba? Nicht an den
Longdrink, der aus heißem oder kaltem Kakao mit einem
Schuß Rum, manchmal zusätzlich mit Schlagsahne gemacht
wird. In Nordfriesland wird die Version mit heißem Kakao
Tote Tante genannt. Toter Onkel wäre da wohl treffender!
Egal, die UNO war schon mal da. Vor vielen Jahren. Da ist
der UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld bei draufge-
gangen. Jetzt sind wir da! »EUFOR RD Congo«. Patati
patata.
Allons, mes enfants! Es gibt viel zu stehlen in der Demo-
kratischen Republik Kongo. Und belgische Soldaten sind
dabei, weil der Kongo mal Privatbesitz von Leopold II.
war. Sein Ausplündern des Kongos für seine Privatschatul-
le kostete 10 Millionen Kongoneger das Leben. Lohnt sich
nicht, darüber zu sprechen. Waren wohl zuwenig. Also!
Bald geht’s lohos!

Dabei wird über den größten Kriegsgrund weltweit noch


garnicht so laut geredet: Trinkwasser!

172
Das sind die am Meisten unterschätzten Kriegsgründe der
nahen Zukunft! Benzin verfahren ist nicht so lebensnot-
wendig. Trinken schon!

Diesmal war der Taxifahrer ein Maulfauler der Sonderklas-


se, so daß Brack sekündlich erwartete, er zöge eine Karte
hervor, auf der stehen würde: »Ich kann nicht hören und
sprechen. Also keine Fragen!«
Das Radio dudelte »Taximann«, und der Fahrer zuckte
leicht im Rhythmus.
Aber er brachte Brack immerhin zu der Luxusherberge
»Avon«.
Beim Aussteigen vor dem Hotel fauchte ein ungeduldiger,
fernsehbekannter Politiker von draußen:
»Nun geben Sie doch endlich den Wagen frei! Sie wissen
wohl nicht, wen Sie vor sich haben?«
Brack antwortete täuschend sanft beim Aussteigen:
»Wen habe ich vor mir? Ein ausgemachtes Arschloch?
Doch, ja! Ein ausgemachtes Arschloch!«
Laut schimpfend nach seinen Bodyguards rufend zog sich
der Politiker ängstlich zurück. Der maulfaule Taxifahrer
macht zu Brack grinsend das Victory-Zeichen.
An der goldblitzenden Eingangstür stand eine kostümierte,
große Gestalt, als würde sie die preußischen Kronjuwelen
bewachen und nicht eine bessere Pension garni.
Der Portier riß vor Brack die Tür auf und begrüßte ihn
durchaus freundlich. Das Innere des Hotels war einer Ka-
thedrale nachempfunden, und man ahnte schon, welcher
Gott hier angebetet wurde. Je näher man der Rezeption
kam, desto tiefer wurde der Teppichboden.
Desinteressiert und abweisend, als hätten sie das Hotel mit
ihren eigenen Händen oder zumindest mit eigenem Geld

173
erbaut, schauten die Hotelmitarbeiter an den Gästen und
Besuchern vorbei.
Auch wenn Brack der ganze Protz und die Pseudopracht
zuwider waren, erwiderte er höflich die Arroganz an der
Rezeption: »Es wurde ein Zimmer reserviert auf den Na-
men Brack!«
»Ah, Herr Oberrat«, schleimte der Portier – nicht so aus-
sprechen wie »Gürteltier« – devot und trinkgeldheischend,
»Willkommen im »Avon«. Es wurde bereits alles arran-
giert. Einen Augenblick, bitte, Ihr Butler begleitet Sie auf
Ihre Suite.«
In diesem Moment sah Brack jemand gemessenen Schrittes
auf sich zukommen, der wie die mumifizierte Ausgabe von
seinem Herman aussah.
»Ich erlaube mir, Sie zu begrüßen, Herr Oberrat. Man nennt
mich James. Ich hatte einen fruchtbaren Austausch mit
Ihrem Mister Herman. Das stellte sicher, daß alles zu Ihrer
Zufriedenheit eingerichtet werden konnte. Ich darf Sie
bitten, mir zu folgen?«
»Sicher, James. Gehen Sie voran.«
»Sehr wohl, Herr Oberrat!«
Irgendwo im Vereinigten Königreich mußte es eine Fabrik
geben, wo diese Exemplare mit der geschraubten Aus-
druckweise vom Band laufen, dachte Brack. Mal sehen, wie
seine Arbeit ist. Die Ausdrucksweise ist jedenfalls prima.
Mit dem geräuschlosen Aufzug fuhren sie in die vierte
Etage. Der Lift war wirklich sehr geräuschlos auf den er-
sten Metern. Der war so geräuschlos, daß man dachte, er
steht. Er stand tatsächlich.
»James, ich fürchte, der Aufzug verweigert seine Dienste.
Sorgen Sie doch bitte für eine minimierte Verzögerung.«
Brack fühlte sich in solchen Kabinen immer unwohl.
»Sehr wohl, Herr Oberrat!«
Während James den Portier, Direktor und die Haustechnik
gemächlich aber zielstrebig per Gegensprechanlage und
Handy zur Sau machte, wandte Brack einen Trick an, um
für sich die unangenehme Zeit in einer geschlossenen

174
Schachtel zu überbrücken. Er dachte gegen den Strich. Er
forderte seine Phantasie zu Höchstleistungen heraus. Seine
Frage war dieses Mal nicht, gibt es da draußen in den un-
endlichen Weiten des Alls intelligentes Leben? Sondern:
Gibt es auf der Erde intelligentes Leben?
Wie würden Außerirdische in ungefährer Form einer grü-
nen Robbe mit Schneckenbauchmuskeln einen Menschen
sehen, und was würden sie dabei denken?
Und über seine merkwürdigen Sitten und Gebräuche?
Würden sie bei einem Menschen an das Äquivalent eines
Stockes denken, der sich schwankend auf zwei Stelzen
vorwärtsbewegt, mit astähnlichen seitlichen Auswüchsen
balancierte, immer in Gefahr war, hinzufallen und in der
Mitte durchzubrechen? Über seine lässige Art staunen, bei
Bedarf Artgenossen mit hohen Phantasieeinsatz zu töten?
Wenn Menschen als homo sapiens über lustige Tiere lachen
konnten, warum nicht auch Außerirdische über lustige
Menschen?
Für Brack stand fest, daß das Universum nun bestimmt
nicht nur für Menschen errichtet wurde. Sondern daß es vor
Lebewesen geradezu wimmeln mußte! Was wäre das sonst
für eine riesige Verschwendung! Und wie gräßlich alleine
wären wir! Ob Außerirdische auch einen Jesus und eine
Mutter Gottes haben? Ob ihnen Gott auch vergeben hatte?
Und wenn nicht, warum bloß nicht?

Ja, und warum besuchen sie uns nicht mal? Das ist die
typisch anmaßende menschliche Art! Wir sind vielleicht in
den Augen anderer derartig dämlich und uninteressant, daß
sich ein Besuch bei uns einfach nicht lohnt! Oder würden
Sie die Strapazen auf sich nehmen, auf Rollerblades und im
Kanu nach Kenia zu düsen, um irgendwo im Busch mit
einem Termitenvolk zu kommunizieren, daß noch nicht
einmal begreift, daß Sie ein fürsorglicher Mitteleuropäer
aus Wanne-Eickel sind, Sozialpädagoge und Mitglied einer
ökologischen Partei? Geschweige denn, die Diskussions-

175
grundlage zur Erhöhung der Steuern auf Erdölderivate
verstehen würde? Nä, ne?
Wie beurteilen die Menschen, so es sie dann noch gibt, in
500 Jahren die Blödbatze aus dem Jahre 2005? Wir versu-
chen mal zukünftige Geschichtsschreibung! Da gehen wir
einfach 500 Jahre zurück und suchen die dümmsten und
abergläubischsten Taten unserer Vorväter raus. Die trans-
ponieren wir in die heutige Zeit, und ecco, was sagen unse-
re Nachkommen in 500 Jahren?
»Mann, waren die blöd damals!«

Der größte Fehler und das größte Hindernis am Menschen


ist das krankhaft übersteigerte Bewußtsein seiner Wichtig-
keit.
Niemand, aber auch wirklich niemand wird die Menschen
auf diesem Planeten vermissen, wenn sie sich einmal ausge-
rottet haben oder ausgerottet worden sind. Ganz im Gegen-
teil, die Tiere werden Parties feiern, daß die Idioten endlich
verschwunden sind, die aus purer Mordlust und Geldgier
töteten!
Klar, wir müssen uns vom Lebendigen ernähren.
Keine Frage, daß wir von Feldspat, Quarz und Glimmer
nicht satt werden. Aber wie wir die Tiere behandeln, die
unser zukünftiges Essen darstellen? Wie wir diese Tiere
quälen, als Sache behandeln, erwarten, daß sie unter unse-
ren Bedingungen wie Maschinen funktionieren, anstatt zu
leben und artgemäß leben zu dürfen? Brechreizerregend!
Unwürdig, haiähnlich, eben menschlich! Oder unmensch-
lich. Ganz nach Belieben und Selbsteinschätzung! Und an
die Adresse der Vegetarier: Auch das freundliche kleine
Salatblatt ist lebendig und hätte gerne noch etwas länger
gelebt wie auch die süße kleine Erbse, und auch Mama
Henne sieht ihren zukünftigen Nachwuchs nicht so fürch-
terlich gerne morgens auf dem Frühstückstisch gekocht und
mit Salz bestreut!

176
Warum nur sind wir aus dem Paradies geworfen worden?
Wegen eines Appels? War Gott wirklich so kleinlich und
rachsüchtig, seine Schöpfung zum Teufel zu jagen, weil sie
mal nicht zugehört hatte?
Brack mochte die Bibel. Jedenfalls das Alte Testament. Das
Neue Testament war total uninteressant. Geistige Flatulen-
zen fanatischer Brüder in Christo. Selbstbeweih-
räucherungen dummer Mönche im Auftrag der Päpste min-
desten 400 Jahre nach Christi Geburt!
Aber das Alte Testament war ein Geschichtsbuch der
Menschheit. Abgekupfert aus der Thora, die wiederum…
irgendwo aus grauer Urzeit.
Warum hatte Gott bloß eine Art Prätorianergarde, denn
Adam und Eva wurden ja vom Erzengel Gabriel aus dem
Paradies gewiesen, der an der Pforte mit flammenden
Schwert Wache halten mußte? Wache halten? Wo? War-
um? Gegen wen? Adam und Eva? Wohl weniger. Flam-
mendes Schwert? Für zwei verschreckte nackte Mensch-
lein?
Und auch für die lieben Rassisten hält die Bibel eine üble
Überraschung bereit! Gott entschied, schwarz null, weiß
null, erst mit goldbraun war er zufrieden.
Wo kamen bloß all die Menschen her, denen Adam und
Eva als erste Menschen nach ihrer Vertreibung außerhalb
des Paradieses begegneten? Und die Kain heiratete? Abel
auch? Weiß nicht mehr. Was war das für ein auf der Erde
sichtbarer Kampf zwischen Gottes Legionen und den abge-
fallenen Engeln »jenseits der Mondbahn«? Und wie…
»Hecchhmm, Herr Oberrat, wir können aussteigen.«
»Wie? Oh ja, sicher!«
Er hatte doch tatsächlich die gesamte Rettungs- und Repa-
raturaktion irgendwie verdöst. James hatte unbemerkt die
Leute weggescheucht, um den tief in seinen Gedanken
versunkenen Brack nicht zu stören.

Sie gingen den Flur entlang. Links, am Knick des Flures,


hielt James vor einer großen Doppeltür. »Bitte folgen Sie

177
mir, Herr Oberrat.« Mit einer hochherrschaftlichen Geste
öffnete James beide Flügel und blickte indigniert auf die
beiden herunterfallenden schwarzen, tennisballgroßen,
zischenden Metallkugeln.
Brack erbleichte! »Gott, der Gerechte!« rief er, packte den
alten Butler am Kragen und warf sich an die schräg gegen-
über nur angelehnte Tür. Die zwei nun erfolgenden Explo-
sionen ließen Brack fast ertauben, so daß er den bösartig
jaulenden Splitterregen nicht hörte.
Staub, Tapetenteile, Möbelstückchen und Teppichbrocken
regneten herab und machten das Atmen nahezu zur Unmög-
lichkeit. Als ob der Allmächtige seinen Daumen dazwi-
schengehalten hatte, waren beide unverletzt. Sie erhoben
sich, und der alte Butler, dessen Anzug an mehreren Stellen
qualmte, sagte ungerührt und hochtrabend: »Herr Oberrat
dürfen nicht vermuten, daß alle unsere Gäste diesen Emp-
fang haben!«
Brack stand kurz vor einem hysterischen Anfall, er zitterte
unkontrolliert, mußte dringend »faire pipi« und wenn es in
die Hose ging, aber der Blick des alten James ließ es nicht
zu. Auch Herman hätte ihm fehlende Contenance nie, aber
auch wirklich nie, verziehen.
Also erwiderte er nonchalant: »Vielleicht hat das »Avon«
noch eine andere nette Suite?«

Brack, Schunck und Ruud saßen zwei Stockwerke tiefer in


einer Suite und starrten sich entsetzt an. Justus zitterte jetzt
nur noch etwas weniger als ein Compacteur, ein Bodenver-
dichter. Allerdings hätte er immer noch bei laufendem Be-
trieb den Zwirn in eine Nähmaschine einfädeln können.
Die zur Beruhigung getrunkenen Cognacs wirkten nicht,
und der Schock saß tief. Das war knapp gewesen!

178
James ließ den neuen Anzug schnellreinigen, Brack hatte
sich einen hoteleigenen Bademantel übergeworfen und der
Hoteldirektor tänzelte händeringend und brabbelnd wie eine
übergewichtige Ballerina im Hintergrund herum.
»Uuuuntröstlich« wäre er! »Der gute Ruf des Hauses«
flötete er!
Brack reichte es. »Ob er nicht noch einmal drei von den
vorzüglichen Cognacs organisieren könne?« Der Herr Ho-
teldirektor versprach sofortigen Vollzug.
Oben war die Spurensicherung am Werke, der Staatsschutz
störte, und das BKA witterte eine Gelegenheit, Brack end-
lich kaltzustellen.
»Ich nehme das sehr persönlich«, sagte Brack mit rauher
Stimme. »Ich mag so was nicht!«
»Ich könnte in Pension gehen«, soufflierte Schunck.
»Ich nicht«, stellte Ruud fest.
»Was tun, spricht Zeus? Sichere Unterkünfte aufsuchen?
Wo sind die? Im Präsidium leben? Na, vielen, herzlichen,
schönen Dank aber auch! Als Zielscheibe weiter rumlau-
fen? Ist nicht mein Hobby.« Brack war etwas ratlos und
fuhr fort:.
»An und für sich fürchte ich nur zwei Dinge:
Saudumme Menschen mit Macht und Leute mit IKEÄ-
Möbeln!«
»Häh?«
»Nehmen Sie den Schrank "Öle Bömmel" designed by
Tove Strullson. Die neue Spießigkeit. Nicht, daß mir Gel-
senkirchener Barock mehr zusagt, aber wer Pappmöbel als
progressiv empfindet, wird auch im Denken nicht über
Pappe hinauskommen.«
Die Tür ging auf, und der BKA-Häuptling kam mit seinem
Troß herein.
»Da kommt schon die Pappe!« murmelte Brack.
»Da haben Sie ja noch mal Glück gehabt, Brack«, trompe-
tete er. »Hoffentlich sehen Sie nun ein, daß dieses eine
Nummer zu groß für Sie ist!«

179
»Wäre das hier mein Zimmer, würde ich Sie persönlich
rauswerfen!«
»Das ist der Schock, mein Lieber. Sie brauchen viel Ruhe.
Am besten wäre es, Sie kommen mit uns. Da wären Sie auf
Nummer Sicher. Ganz sicher.«
»Wissen Sie, wie man einen Wichser neugierig macht?«
Der BKA- Häuptling war verblüfft.
»Nä, wie denn?«
»Erzähle ich Ihnen morgen… Am besten ist es, Sie und Ihre
Advokatenbagage subtrahieren sich. Aber presto!«
»Wie Sie meinen, Brack. Wir haben es, wie unter Kollegen
üblich, nur gut gemeint. Also nicht beschweren, wenn’s mal
schief geht!«
Die BKA-Korona zog beleidigt ab.
Verächtlich meinte Brack: »Diese Personen haben zuviel
von Scheißhausfliegen! Sind immer da, wo’s stinkt, sind
lästig und treiben einen zum Wahnsinn, und ich bin auch
noch Einer von Denen!«
»Was haben Sie gegen das BKA?« fragte Ruud.
»Reichlich«, erwiderte Brack. »Das BKA ermittelt nicht,
sondern verläßt sich auf Spitzel, Informanten, V-Männer.
Ein Kriminalbeamter scheut aber keine Drecksarbeit, weil
er Polizist mit Leib und Seele ist. Der BKA-Mann möchte
das nicht sein. Er hält sich für einen Juristen oder Controller
mit einem gemütlichen Büro und Anzug mit Krawatte.
Ärsche! Verwaltungsheinis! Gesinnungsschnüffler!«

Unruhig hingen die Drei ihren Gedanken nach, bis Ruud sie
in die Realität zurückführte.
»Der Findling von Homer war wirklich ein toter Briefka-
sten. Aber keinerlei verwertbare Spuren. Sackgasse.«
Nachdenklich sagte Ruud weiter: »Mhhh. Sagen Sie, Herr
Brack. Legen Sie immer wert auf so ein feudales Ambiente
mit Brimborium?«
»Wenn ich’s bekommen kann, durchaus. Wenn nicht, fehlt
mir auch nichts. Und auf die eben erlebte Exklusivität mit

180
dem recht bemerkenswerten Brimborium kann ich ohne
größere Anstrengungen verzichten. Warum?«
»Ich wüßte einen Ort, wo wir sicher wären. Wahrlich nichts
Exklusives, mitten auf dem Kiez, dementsprechend anrü-
chig, aber mit 500 Leuten als Sicherheitspersonal!«
»Na, Ruud? Aus Deiner Undercoverzeit?«, blinzelte
Schunck.
»Genau! Das war nicht nur Einschleichen und hochgehen
lassen. Das war auch Unterhaltung, Reden mit Kumpel-
Typen, mit den Mädchen. Klar, auch total abgesackte und
kranke Menschen dazwischen. Aber auch Hochintelligente,
die spürten, daß ich nicht ganz koscher war. Aber nichts
sagten. Die ganze Bande mal wiedersehen. Da gibt es
furchtbar nette Menschen zwischen. Und da wollen wir hin!
Wenn Sie wieder angezogen sind, Herr Brack, geht’s ab zur
»Lampe«.

181
182
Die Lampe

Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,


00 Uhr 03

»Lampe« war ein Lokal auf dem Kiez, benannt nach sei-
nem Besitzer Paul Lampe, auch »das warme Paulchen«
genannt. Paulchen war eine Seele von Pferd, der in seiner
Jugend drei Jahre fast unschuldig im Bau gesessen hatte. Er
war Freund und Vertrauter von Männlein und Weiblein
beiderseitigen Geschlechts.
Hilfsbereit und immer einen guten Rat zur Hand. So war es
kein Wunder, daß seine Kneipe seit Jahren brummte und er
nicht mehr. In dieser Zeit war er zu einem wohlhabenden
Mann geworden, ganz legal. Aber vom Kiez weg? Unmög-
lich. Das war doch sein Leben. Seine Gäste waren Hehler
und Stehler, Kleindealer, Luden mit ihren vielen Verlobten,
Geld- und Paßfälscher und die ganze Kleinkrimi-
nellenschar. Auch männliche und weibliche Groupies vom
Lokalkolorit, tagsüber brave Angestellte, tranken gerne bei
Paulchen ihr Bier oder aßen seine berühmten Buletten.
Mörder und Kinderschänder mieden die »Lampe«. Sehr
zum Ärger der ortsansässigen Dentisten. Ruud hatte Paul-
chen vor Jahren einmal vor einer Rückendauertätowierung
Marke »Viele-Grüße-aus-Solingen« bewahrt. Ruud hatte
also was gut bei ihm!
Der Lärm aus der Kneipe von Musik und Gesprächsfetzen
verstummte wie auf ein geheimes Zeichen hin, als Brack,
Schunck und Ruud die »Lampe« betraten. Durch den Ziga-
rettendunst war Paulchen, groß und schwer, kaum zu sehen,
wie er einen Stiel einer Axt in seinen bratpfannengroßen
Händen wog.
»Das ist ja der Ruud!«
»Kinderchen, weitermachen!« rief Paulchen den Gästen zu.

183
Während Brack und Schunck einen der Tische ansteuerten
und prompt mit einem Frischgezapften bedacht wurden,
flüsterte Ruud mit Paulchen. Der flüsterte dann wiederum
mit vier zweifelhaften Gestalten, die den Billardraum von
einem einsamen Spieler befreiten und den Tisch halb
schräg vor die Tür wuchteten. Dann verschwanden sie und
kehrten mit verschiedenen Einrichtungsgegenständen zu-
rück. Der Billardraum wurde wohnlich.

Brack schob sein Bier Justav rüber. Mit Bier konnte man
ihn jagen. Er haßte den Geschmack. Bei seinen Freunden
im Ausland war er als der nichtbiertrinkende Germane eine
bestaunenswerte Sensation! Ungefähr so, wie ein vegetari-
scher Tiger. Oder ein altruistischer Anwalt. Brack sog statt-
dessen lieber die Atmosphäre der »Lampe« in sich auf und
richtete seine Aufmerksamkeit auf den Wirt.
»Kinderchen, mal herhören!« rief Paulchen.
»Diese drei Herren sind hohe und aktive Tiere bei unserer
lieben Polizei.«
Die Bemerkung hatte eine kollektive Absetzbewegung
Richtung Tür zur Folge.
»Halt!« rief Paul. »Nicht doch, Kinderchen! Hiergeblieben!
Die netten Herren werden sich nicht um Euch kümmern. Es
sind doch bloß Leichenheinis.«
»Und was wollen die dann hier?« grollte eine tiefe Stimme
im Hintergrund. »Wir sind sauber.«
»Nun wartet es doch mal ab. Gaaanz tolle Sache! Aber
müßt Ihr für Euch behalten. Die netten Herren sind einem
Mehrfachmord auf der Spur. Und nun versucht der Killer
sie umzubringen. Sie brauchen also Schutz, und den be-
kommen sie von mir! Und es wäre lieb von Euch, wenn
auch Ihr sie beschützen würdet.«
Ein verblüfftes Gemurmel erhob sich.
»Und die Bullen scheißen uns auch nicht an?« fragte je-
mand, dem der Taschendieb ins Gesicht geschrieben war.
»Warum soll’n wa eijentlich der Bullizei helfen? Soll’n’se
doch sehn, wie’se alleene klarkomm’n!« Der Trickbetrüger

184
war echt noch sauer wegen der drei Jahre, die er gerade
abgesessen hatte. Polizei, nein danke!

Brack stand auf und forderte mit erhobenen Armen Ruhe.


»Wer hier drin ist, und Euch bekannt ist, ist auch unser
Freund. Aber keine falschen Hoffnungen! Draußen sieht’s
anders aus! Erwischen wir Euch bei einem Bruch oder so,
werdet ihr verhaftet. Da kennen wir keine Verwandten.
Aber die »Lampe« ist neutrales Gebiet. Fremde Gesichter
haben ab sofort hier drin nichts mehr zu suchen. Es sei
denn, einer von uns hält sie für koscher. Meine Damen und
Herren, wir bedanken uns! Eine Runde für alle, Herr Wirt.«
Brack, Schunck und Ruud zogen sich in den Billardraum
zurück, ihrem neuen Büro. Paulchen folgte, während Ruud
sie miteinander bekannt machte. Brack zog aus seiner
Brieftasche einen Stapel Geldscheine und schob sie dem
Wirt hin.
»3.000 Euro à conto. Sie sollen wenigstens nicht wirtschaft-
lich unter uns Bullen leiden müssen. Versorgen Sie meine
Jungs gut, und wir haben keinerlei Probleme.«
Paulchen zierte sich nicht besonders überzeugend und
steckt das Geld verschämt grinsend ein.
»Wir brauchen einen Computermenschen und einen Body-
guard.« meinte Brack. »Ich kenne da zwei, die mal wieder
Urlaub vom Nichtstun brauchen. Ich rufe nachher da mal
an. Ruud, holen Sie bitte die Beiden morgen früh von Tegel
ab? Mit unserem neuen Begleitschutz?« Ruud nickte erge-
ben. Für solche Hiwidienste war er an und für sich schon zu
alt und zu gut. Aber was sollte er machen? Dieser Brack
brachte wenigstens Leben in die Bude.
»Über eine Sache denke ich die ganze Zeit nach«, meinte
Schunck. »Wie konnten die vom »Avon« wissen?«
Brack überlegte. »Ich habe aus Deiner Laube von meinem
Handy aus zu mir nach Hause telephoniert. Sonst habe ich
nirgends das »Avon« erwähnt!«
»Wanzen!« riefen alle drei wie aus einem Munde.

185
»Ruud, los. Ihr Henner hat heute seinen Glückstag.
Schuncks Laube, mein Handy und mein Haus in Hannover
müssen sofort gecheckt werden. Beeilung!«

Zwischenzeitlich hatten die vier finsteren aber fleißigen


Herren die zwei Zimmer hinter dem Billardraum vom Ge-
rümpel befreit und notdürftige Schlaf- und Waschgelegen-
heiten eingerichtet. Brack und Schunck verzogen sich bald
Richtung Morpheus Arme, während Ruud als Jüngster noch
schwer zu tun hatte.

Als Ruud müde wurde, dachte auch er die uralte Frage der
Menschheit: Warum eigentlich immer ich und nicht mein
Nachbar?

Der Custos war mal wieder wütend. Wütend über sich


selbst. Der Anschlag war fehlgeschlagen. Nun würden Sie
nachdenklich werden. Es mußte ja auch alles zu schnell
gehen. Auch wenn er den Besten der osteuropäischen Spe-
zialisten beauftragt hatte, es war einfach zu wenig Vorbe-
reitungszeit gewesen. Ein Fehler! Aber Sergei würde am
Ball bleiben. Noch einen Fehler konnte der sich nicht er-
lauben. Der wollte sich seine Prämie verdienen.

Die Informationen, die er über den Neuen, Justus Brack,


erhalten hatte, waren höchst interessant.
Definitiv kein konventioneller Beamtenarsch, sondern ver-
boten individuell. Er ging davon aus, daß so ein Typ nur
mit Geistesverwandten arbeitete. Das aber bedeutete, daß er
Schunck und Ruud ebenfalls nicht unterschätzen durfte. Er
mußte die Sache und die Gruppe schützen. Koste es, was es
wolle! Und die gräßliche Putze war verschwunden! Hölle!
Aber bei der Polizei geplaudert hatte sie anscheinend nicht,

186
sonst hätten die schon bei ihm geklopft. Also warum nicht?
Er haßte ungelöste Rätsel!

Sergei Bulgakov hatte den Mißerfolg seines Handgranaten-


anschlages im »Avon« als Zimmerkellner verkleidet beo-
bachtet und war der von allen Seiten einströmenden deut-
schen Polizei knapp durch den Mitarbeiterausgang ent-
kommen. Er war sauer! Extrem! Denn er brauchte die ver-
sprochene Prämie von 100.000 Euro. Eine Landsmännin,
man kann ja nicht Landfrau sagen, die durch die großzügige
Anweisung eines deutschen Außenministers in Deutschland
pseudolegal arbeiten durfte und damit einer arbeitslosen
Deutschen den Arbeitsplatz wegnahm, erzählte ihm per
Handy das Mitgelauschte aus dem Aufenthaltsraum von
Brack.
Sergei machte sich also auf den Weg zur »Lampe«. Schon
vom Weiten sah er haufenweise ungemütliche Gestalten auf
der Straße vor der »Lampe« rumlungern, sodaß er beschloß,
irgendwo in der Nähe in ein Haus zu gehen und dann über
die Dächer bis zur »Lampe« zu kommen. Dort wollte er
weitersehen. Er rechnete sich aus, daß in dem Haus in ir-
gendeiner Wohnung seine Zielobjekte übernachten würden.
Vielleicht bei dem Wirt in der Wohnung.
Als er vom Dachboden runterkam, war es ein Kinderspiel,
zu kombinieren, daß Lampe und »Lampe« zusammenge-
hörten.
Lautlos öffnete er die Wohnungstür. Alles dunkel! Sergei
schob sich seinen Restlichtverstärker über die Augen und
erblickte die Wohnung in einem fahlen Grün. Es war eine
große Wohnung, vollgestellt mit großen alten Möbeln und
haufenweise Krimskrams. Auf deutsch, ein ziemlicher
Verhau. Sergei inspizierte gerade ein Zimmer, das wohl so

187
was wie ein Wäsche- und Bügelzimmer war, als er jeman-
den draußen an der Tür hörte.
Er öffnete das Fenster, konnte aber keinen Abstieg aus dem
ersten Stock auf die Schnelle entdecken.
»Gawno!« brummte er lautlos und erkletterte einen riesi-
gen Wäscheschrank. Er holte seinen bleigefüllten Totschlä-
ger heraus und legte sich oben auf dem Schrank auf die
Lauer.
Friedhelm, der Taschendieb, hatte von Paulchen den Auf-
trag bekommen, Bettwäsche für die exotischen Gäste zu
holen. Friedhelm öffnete also die Tür zum Bügelzimmer,
Sergei richtete sich halb auf und holte mit seinem Totschlä-
ger aus. Er konnte durch seinen Restlichverstärker jede
Bewegung von Friedhelm perfekt verfolgen. Friedhelm
schloß mit der Rechten den Wäscheschrank auf, als ihm
einfiel, daß er im Dunkeln ja nichts sehen konnte. Er ging
gleichzeitig einen Schritt zum Lichtschalter zurück, schalte-
te ihn ein und Sergei war durch die enorme Lichtflut in
seinem Restlichtverstärker blind! Blitze zischen vor seiner
Netzhaut hin und her, ihm wurde schwindelig. Sergei hatte
aber gerade den Schlag schon ausgeführt, als Friedhelm
sich umdrehte, das Zimmer verließ, um sich in der Küche
doch lieber erstmal einen kleinen Korn als Stärkung zu
genehmigen. Durch die Wucht des Schlages pfiff der Tot-
schläger wirkungslos durch die Luft und Sergei verlor das
Gleichgewicht. Er fiel vom Schrank und haute voll auf das
Bügelbrett, das hinten hochschnellte und ein mit Büchern
vollgestelltes Regal zum Kippen brachte.
Während Sergei keuchend mit schmerzenden Rippen quer
auf dem gekippten Bügelbrett lag, krachte das Regal auf
den hochstehenden Teil des Bügelbrettes und Sergei wurde
durch das geöffnete Fenster geschleudert! Kurzfristig konn-
te er sich noch an einer Hand mit den Fingerspitzen an die
Fensterbank klammern, aber dann versagten die Kräfte und
er fiel!
Allerdings nur etwa 50 Zentimeter, dann verfing sich seine
Jacke in einen verrosteten Fahnenhalter.

188
Was hatte dieser Fahnenhalter nicht schon alles gesehen!
Kaiserzeit und Kaiser, Weimarer Republik und die ganzen
Demokratielehrlinge mit dem sozialdemokratischen Arbei-
termörder Noske, die stark verkürzten tausend Jahre mit uns
Adolf, Zerbombung, Befreiung, Besatzung, Frontstadt,
Wiedervereinigung. Das reichte dem Fahnenhalter! Die
neuen Machtbesoffenen mußte er nicht mehr sehen.

Friedhelm, der Taschendieb, war wieder von dem Lärm


angelockt aus der Küche zurück gelaufen, konnte aber nur
das Durcheinander im Bügelzimmer entdecken. Er schaute
aus dem Fenster, zuckte mit den Achseln und schloß das
Fenster. Schnell holte er den Stapel Bettwäsche aus dem
Schrank, knipste das Licht aus und verließ die Wohnung.
Irgendwas bemerkt hatte er nicht. Was auch!
Sergei Bulgakov hatte ein Problem! Genau genommen
Dutzende! Seine Rippen schmerzten höllisch, Blut lief von
seiner Kopfhaut ins Gesicht und sein linkes Auge schwoll
langsam zu. Und dann war da noch seine inkommode Lage.
Ach ja, es ging auch noch um seinen Abstieg aus der ersten
Etage in den Hinterhof.
Man muß sich das so vorstellen, daß die kurze Fahnenstan-
ge ihn unten an der Jacke erwischt hatte, die Jacke nach
oben geschoben wurde, und er nun in fünf Meter Höhe mit
dem Rücken zum Boden hing.
Sergei überlegte, ob er den Reißverschluß langsam aufzie-
hen sollte, als die rostige Fahnenstange ihm die Entschei-
dung aus den Händen nahm. Sie brach einfach ab! Und
Tschüß!
Mit den Armen rudernd fiel er rückwärts halb in ein Flie-
dergesträuch, renkte sich dabei die Schulter aus und ver-
drehte sich das Knie. Zwei seiner malträtierten Rippen
brachen endgültig. Die nachgebenden Zweige des im Früh-
ling weißen Flieders ließen ihn noch mal anderthalb Meter
tiefer auf die Mülltonnen krachen.
»Gawno, gawno, gawno!« knirschte er fast lautlos, obwohl
er lieber laut wie ein Wolf geheult hätte.

189
Sergei Bulgakov schwor baldige Rache und humpelte wie
ein angeschossener Bär davon. Er sah aus, als ob er von
mehreren Autos überrollt worden wäre. Von wegen »Gol-
dener Westen«! Gawno was drauf!

Falk Heimann hatte auf dem riesigen Hof der alten Kleinin-
dustrieanlage sein Uraltauto repariert. Fachgerechte Entsor-
gung von 25 Liter Benzinschlamm und 8 Liter der Terpen-
tin- und Alkoholreinigungssoße als Sondermüll kam schon
aus finanziellen Gründen für ihn nicht in Frage. Er hatte
schließlich nicht die geldlichen Möglichkeiten eines Politi-
kers, der diese unpraktikablen Gesetze mit verabschiedet
hatte. Also kippte Falk den ganzen Mist in einen ziemlich
großen Metallcontainer und zur Tarnung noch Zeitungen
und drei Kilo Roststaub obendrauf. »Brennt auf der Müll-
kippe sowieso weg!« dachte Falk und fuhr nach Hause.

Wladimir war einer der Übriggebliebenen aus der zweiten


Killergruppe. Mit den zwei anderen besprach er gerade
einen Vorschlag, den ihm sein Berliner Cousin unterbreitet
hatte.
Und der fragte:
»Na? Was ist nun? Ihr müßt nur laut schreien: »Halt! Poli-
zei!« Po-li-zei!«
Wladimir nickte »Da!«
Des Cousins wichtigstes Hilfsmittel zu diesem Coup war
ein originales Blaulicht für zivile Polizeifahrzeuge, das ihm
irgend so’n Junkie, der es einer Zivilstreife aus dem Auto
heraus geklaut hatte, mal vertickert hatte. Der Plan war

190
einfach. Er wußte, daß heute eine Übergabe Geld gegen
Heroin stattfand. Er wußte wann, er wußte wo. Er brauchte
nur noch die drei anderen, die Lärm machen sollten und
eben auch notfalls schießen konnten.
»Begriffen? » Halt! Polizei!« Los geht’s!«

Mit Karacho und Blaulicht fuhren sie auf den weiten Hof,
wo eben 100.000 Euro in bar gegen 1000 Gramm feinsten
und reinsten Stoff getauscht wurden.
»Halt! Polizei!« und »Halt! Polizei! Stehenbleiben!«
manchmal auch nur »Polizei!« tönte es, als die vier Männer,
mit gezogenen Waffen einen Wahnsinnsradau machend, auf
die Tauschpartner zurannten. Die stoben auseinander wie
Kakerlaken im Scheinwerferlicht und waren bald in dem
dunklen Gelände nicht mehr zu sehen.
»Wo ist das verschissene Geld? Und wo der ist der Stoff?«
Aber das Gewünschte war weg!
»Wladimir, ihr sucht in die Richtung, ich suche hier. Klar?«
Wladimir nickte »Da!«
Nach etwa dreißig Metern kamen sie zu einer Reihe Müll-
containern. Das wäre doch ein schnelles Versteck! Sie ho-
ben den Deckel an und leuchteten mir ihren Feuerzeugen
hinein. Nichts. Sie hoben den zweiten Deckel an und leuch-
teten wieder mir ihren Feuerzeugen hinein.

Zwei Frischverliebte, die sich auf einer Parkbank zu dieser


späten Stunde intensiv erforschten, erlebten in ihren Sinnen
ein Feuerwerk der Extraklasse. Das dauerte allerdings auch
noch an, als die Beiden die Augen wieder öffneten.

Der Müllcontainer von Falk Heimann flog mit einer kra-


chenden Explosion auseinander und schickte eine zwanzig
Meter hohe Feuersäule in die Berliner Nachtluft. Die drei
Ostblocktouris lagen mit zerrissenen Lungen wie umgewor-
fene Kegel um den Explosionsherd herum.
Der weit weg stehende Cousin schlug ein Kreuz nach der
Art der Russisch-Orthodoxen Kirchen und machte, daß er

191
davon kam. Er überlegte, ob er nicht noch einen Cousin
hatte, der vielleicht sogar etwas schlauer war als der eben
Verblichene.
Feuerzeuge! Wie doof waren die eigentlich? Sein schöner
Plan! Die schönen, vielen Mäuse. Mannomann, die im
Osten schliefen wirklich noch auf’m Baum!
Die mußten doch echt aufpassen, daß sie sich beim Gehen
nicht die Fingerknöchel aufschlugen! Zu doof, um sich
beim Essen nicht in die Finger zu beißen!
»Gawno, gawno, gawno!«
Saublöde Verwandtschaft.

Und wo war das verschissene Geld? Und wo der der Stoff?


Na, das hatten die gestörten Tauschpartner natürlich noch in
den Köfferchen, und die hatten sie in der Hand! Damit sie
nicht gestohlen wurden. Denn wie man erlebt hatte, war
Berlin ein sehr unsicheres Pflaster mit vielen bösartigen
Kriminellen.

192
Die Mannschaft

Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,


09 Uhr 05

Eine geschlossene Kneipe am frühen Morgen mit hochge-


stellten Stühlen und gewischten Boden hat immer etwas
Trostloses an sich. Aber auch das Versprechen auf Unter-
haltung und Zeittotschlagen in angenehmer Gesellschaft am
Abend. Paulchen war schon wieder auf den Beinen und
beaufsichtigte die Getränkeanlieferung. Vor dem Billard-
zimmer hielten fünf schräge Vögel Wache, indem sie auf
ihren Stühlen schliefen. Aus den hinteren Zimmern kamen
Brack und Schunck und sahen aus, als hätten sie prachtvoll
geschlafen.
»Frühstück kommt gleich, die Herren. Ruud ist schon früh
weg, wird aber bald wieder hier sein.«
»Morgen, Herr Lampe.« rief Brack.
»Gottchen nein. So nennt mich nur mein Steuerberater.
Sagen Sie bloß wie alle anderen »Paulchen« zu mir. Sonst
werde ich mir noch ganz fremd!«
Schunck blinzelte leicht desorientiert. »Von gestern, war
das echt? Oder habe ich das geträumt?«
»Na, Justav? Wo biste denn? In der Laube oder in der
»Lampe«?«
»Justus, Justus! Deine Freundschaft ist lebensgefährlich!«
Sie wurden unterbrochen, als die Tür aufging, und Ruud
mit einem Haufen Männer, alle in bester Stimmung, Lärm
mit hereinbrachte.
»Hier sind Kalle und Horstchen. Wohlbehalten angekom-
men.«
»Und«, er nahm ein heißes Brötchen vom eben gebrachten
Korb, »es gibt Neuigkeiten von der Wanzenfront!«

193
Brack sprang erfreut auf und umarmte die Beiden. »Kalle«,
sagte er zu dem spirreligen? Männchen mit dem Tourette-
Syndrom, »willst Du wirklich wieder mit mir arbeiten?«
Kalle standen Tränen in den Augen. »Hrrrrrch, mit Dir
immer, Justus! Hrrrrch.«
Die Umarmung bei Horstchen war nicht ganz so einfach. Er
war zwar nicht größer als Brack, dafür hatte er einen mäch-
tigen Brustkasten Marke Silberrücken. Aber Horstchen hob
Brack wortlos hoch und küßte ihn rechts und links. »Danke,
Justus!«
»Alle mal herhören! Das also sind Kalle und Horstchen.
Der Kleine ist Kalle, der Große Horstchen. Die bleiben
hier. So, macht Euch miteinander bekannt.«

Ein lautes Fluchen ertönte von der Tür. »Diese verdammten


Bierkutscher! Hier steht ein volles 100-Liter-Faß. Das krie-
ge ich doch alleine nicht weg.« Paulchen war in Rage.
»Darf ich’s mal versuchen?« Horstchen hob schüchtern das
Faß wie ein Handtäschchen hoch und fragte: »Und wo soll
das hin?«
Paulchen starrte Horstchen mit unverhohlener Bewunde-
rung an. »Du bist ja ein ganz Starker!«
Brack sah, wie sich eine zarte Röte der Verlegenheit über
Horstchens Gesicht ausbreitete. »Aber nicht doch«, sagte
Horstchen. »Sag mir nur, wo es hin soll.« Mit einer anmuti-
gen Bewegung verschwand Paulchen hinter dem Tresen.
»Stell es erstmal hier hin. Da ist es nicht im Weg. Hoffent-
lich war es nicht zu schwer für Dich, mein Großer!«
Hier bahnte sich eine Romanze an! Horstchen und Paul-
chen. Zart und rein wie Romeo und Julia in der XXL-
Ausführung. Die Nachtigall ersetzt durch die Musikbox.
Die verfeindeten Familien Montague und Capulet hier ver-
eint als die Meuchelmörder, und niemand wollte den
Schluß von Shakespeare. Brack staunte Bauklötze.
Alle hatten sich an den Frühstückstischen niedergelassen
und vertilgten Mengen an Brötchen, Eiern und Kaffee.

194
»Also«, begann Ruud, »Schuncks Laube war äußerst pro-
fessionell verwanzt. Das absolut Modernste auf dem Markt.
Erstklassige Arbeit, sagte Henner. „Ihr Handy, Herr Brack,
war sauber. Aber Ihr Haus in Hannover hatte drei alte Wan-
zen! So alt, daß Henner sie für seine Sammlung behalten
möchte.«
»Moment«, erwiderte Brack. »Sind die Wanzen noch in der
Laube?«
»Henner hat nichts angerührt. Er ist Profi!«
»Gut, da lassen. Und … zwei kleine Kameras installieren.
Vielleicht kommt noch mal jemand.«
»Hrrrrrch, Justus? Ich habe mir so was gedacht und,
hrrrrrch, was mitgebracht.«
Kalle legte zehn Handys auf den Tisch. »Hrrrrrch, sind ein
wenig von mir modifiziert. Wenn wir mit, hrrrrrch, denen
unter uns sprechen, kann verbindlich niemand mithören!
Hrrrrrch.«
»Siehste, Kalle, wegen so was brauche ich Dich.«
Kalle lächelte geschmeichelt und Brack zählte ab.
»Eins bleibt bei Kalle, eins Ruud, eins Schunck, eins ich.
Eins… mal sehen. Justav, einen zuverlässigen Mann im
Präsidium? Eins für den, sofort. Schick einen von unseren
»Bodyguards« hin. Paulchen fragen. Eins Herman, eins
Hade. Wen vergessen?«
Kalle stand auf. »Ich, hrrrrrch, richte nebenan schon mal
alles ein. Meinen Rechner und so, hrrrrrch.«
Schunck kam von Paulchen wieder. »Genau genommen
haben wir doch immer noch nix. Keine Spuren, keine Ver-
dächtigen, kein Motiv, wir sind immer noch am Anfang.«

»Herr Brack, da ist ein Zeuge, der Sie sprechen will.«


»Herein mit ihm.« Brack war ausgesprochen überrascht.
Ein Zeuge? Woher? Und auch noch nach hier?

195
»Daach ooch! Schulldchnsä! Binsch hier richtsch beidä
Griminaalbollzei?« Peter Gagesch war der absolut festen
Meinung, ein astreines Hochdeutsch zu sprechen. Niemand
würde hören und merken, wo er herkam. Es erinnerte ein
wenig an früher an der innerdeutschen Grenze, wo die VO-
POS fragten: »Gänsefleisch mahn Gofferoom oofmachn?«
Und da lag man bei Peter Gagesch garnicht mal so falsch.
Um Monolinguisten zu entlasten, einige Informationen
vorab.
Peter Gagesch war Techniker bei einem vorgeblich ehema-
ligen telekommunikativen Staatsmonopolisten. Er vermaß
den elektrischen Widerstand der Leitungen, und es ließ sich
bei seiner Arbeit nicht vermeiden, ab und an Gespräche
kurzfristig mitzuhören. Jede Weitergabe der mitgehörten
Gespräche war mit harten Strafen bedroht, und so wartete
Peter Gagesch volle zwei Tage auf die Rückkehr seines
Chefs, der zur Hochzeit seiner Tochter mit einem käsigen
Holländer gefahren war, um zu erfahren, ob er das Mitge-
hörte an die Polizei weitergeben durfte. »Duh nich so
rummgähsn!« sagte der weitgereiste Chef. »Klar doch!
Aber das hätteste doch auch Frau Borchers fragen können.«
»De v’gaggde Ämandse? Ischb’n doch geen Äggsdsendrig-
ger! De is ne alde Bäddse. De met ihrm Baggfeifngesischd
isn Baragrahfnreidr. Da gäh isch lieb’r als Maggr zu meene
Brivahd’dodsendin grein’n. Ich gloob, de had eenen midn
Dobblabbn midgegrischd. Nä, geene Fissemadends’chn.«

So fragte sich Peter Gagesch von seinem Polizeirevier über


die Kripo in der Keithstraße zu Brack und der »Lampe«
durch. Daß bei seiner Fragerei ob seines »Hochdeutsches«
einige Leute so die Augen verdrehten, daß ihnen die Tränen
den Rücken runterliefen, bekam er nicht mit. Er sprach ja
hochdeutsch! Das mitgehörte Gespräch wurde auf Russisch
gehalten, und wie es der Zufall wollte, sprach Peter Ga-
gesch aufgrund seiner Schulbildung und der NVA und
einiger sehr geheimen Ausbildungen sehr gut russisch. Es
ging um einen Tötungsauftrag von ein paar Leuten. Den

196
einzigen Namen, den er behalten hatte, war Heinz Nolden,
weil sein Schwager Hans Nolde hieß. Und nun als vorbild-
licher brandneuer Bundesdemokrat brannte er darauf, seiner
neuen Gesellschaft einen pflichtbewußten Dienst zu erwei-
sen.
»Und wo war das?« fragte Brack.
»Na unda’m Baanh’f Zoo. Abberaad zwee, eens, fuffzn!«
»Da gehen Sie bitte mit unserem Herrn Ruud hin und zei-
gen ihm die Telephonzelle. Ich danke Ihnen und auf Wie-
dersehen.«
»Bis bälde!«

Schunck blätterte lustlos in den Nachrichtenmagazinen


»Der Spargel« und dem Zwilling »Locus«, die beide jubel-
perserartig von der aktuellen und zukünftigen Ex-
Übergangsregierung berichteten.
Das »Spargel-Online-Forum« war berühmt dafür, daß jeder,
aber auch wirklich jeder, jede Meinung schreiben durfte.
Sie mußte nur der nahezu unbezahlbaren Meinung des
Sysops Billich entsprechen. Wenn nicht, war sie falsch und
wurde folgerichtig ganz demokratisch gesperrt. Und mit ihr
der naive Forumsteilnehmer. Denn Eines sollte auf jeden
Fall vermieden werden, eine fremdartige Sicht der ganz
klaren Dinge! Auch »Journalisten« schrieben gerne und viel
im Forum für ihre Auftraggeber. So wurde sichergestellt,
daß bestimmte interessierte Greise unter sich blieben.
Es kamen sogar Beiträge in endloser Zahl aus Tel Aviv,
London, New York und Paris, die an den Problemen der
deutschen Gesellschaft regen Anteil nahmen. Ja, es be-
schlich einen der Eindruck, daß sie mehr Anteil nahmen, als
es den Deutschen lieb war, und als die Deutschen selbst
nahmen. Oder wollten die Deutschen keinen Anteil mehr
nehmen, weil eben Beiträge in endloser Zahl aus Tel Aviv,

197
London und Paris kamen, die an den Problemen der deut-
schen Gesellschaft regen Anteil nahmen?
Das Sturmgeschütz der Demokratie hatte mit dem Tod des
Herausgebers als Fünfte Kolonne die Seite gewechselt und
kartätschte seine ehemalige Klientel zusammen!
Dafür wurde das umgedrehte Sturmgeschütz mit Endlos-
werbeanzeigen und TV-Lizenzen gut und reichlich bezahlt.
Und ganz ehrlich, die ehemalige Klientel war arm und
kaufte den »Spargel« schon lange nicht mehr!
Beim Lesen jedenfalls bekam der unaufmerksame Betrach-
ter den Eindruck, daß die Regierungsmitglieder geradezu
vor Genialität sprühten. Sie hatten alle einen IQ von etwas
über 130. Aber… Oje! Bedauerlicherweise alle zusammen
genommen. Man konnte auch sagen, sie hatten zwar alle,
aber nicht der Reihe nach.
Menschen, die über sein ganz privates Schicksal bestimmen
wollten und bretto mit nutto verwechselten oder zum fünf-
ten Male heirateten, waren für Schunck nicht so unbedingt
richtig vertrauens- und regierungswürdig. Wahrscheinlicher
war allerdings, daß die Übergangsregierung nur »Laurel
and Hardy - Zum Nachtisch weiche Birnen« in der Hartz-
version nachspielte. Nachdem Schunck sich so richtig satt-
geekelt hatte, legte er die Zeitschriften beiseite. Und gähnte
still.

Durch Hade hatten sie Einladungen für einen nahezu form-


losen Empfang zum Tag des auswärtigen Kindes oder Mit-
einander-Durcheinander-Tag oder so ähnlich des Hausherrn
im Schloß Charlottenburg erhalten. Schunck war nicht ganz
so vergnügungssüchtig und hielt die Stellung in der »Lam-
pe«, während Brack und Ruud eine geradezu unbändige
Lust verspürten, den Führer des Fähnleins »Wiesel und
Frettchen« von Nahem zu belachen, der in seiner Jugend

198
wirklich und wahrhaftig bei den Pfadfindern gewesen war.
Informationen irgendwelcher Art würden sie hier genauso-
wenig wie die anwesenden scharf lauschenden Diplomaten
erhalten, aber das war ja auch nicht beabsichtigt.
Es war schon beeindruckend, die Vorfahrt der diplomati-
schen Familien mit den Kindern zu beobachten. Die Diener,
die Roben, die Fräcke und Uniformen und dazwischen
Brack und Ruud. Alles nach dem Motto: Wir haben’s ja
und wenn nicht, erhöhen wir einfach die Steuern.
Oder, wie der unsterbliche Spruch eines Weltklasse-
Zynikers lautete: »Die noch fehlenden Milliarden holen wir
uns einfach von den Obdachlosen!«
Im Wintergarten wurden für die Diplomaten-Kinder gebra-
tene Klopse zwischen zwei Schrippenhälften von einem
höchst unwitzigen Clown angeboten. Amerikanische Spe-
zialitäten! Schon wieder! Hier wäre mal eine Gelegenheit
gewesen, das asiatische Corps mit urdeutschem Kartoffelsa-
lat und Bockwürsten bekannt zu machen und zu quälen.
Statt dessen bevorzugte man eine internationale kulinari-
sche Scheußlichkeit.
Eine auf alt getrimmte Berliner Kapelle spielte alte Berliner
Marschmusik. Plötzlich fing Brack an zu grinsen. Sie spiel-
ten die neue deutsche Hymne! Und Brack kannte den aktu-
ellen Text und sang leise mit!

»Wir sind vom Idiotenklub und laden herzlich ein,


Bei uns ist jeder gern gesehen, nur dämlich muß er sein.
Bei uns heißt die Parole: DOOF WIE TROCKEN BROT!
Und wer am allerblödsten ist, wird Oberidiot.
Wir sind vom Idiotenklub, regieren, bis es kracht,
fällt alles hier in Scherben, dann hat’s sehr viel
Spaß gemacht.
Der Eine, der ist ga-ga, die And’re hat’n Tick,
und unsre neue Heilanstalt heißt Bundesrepublik.
Wir sind von Ess Pee Tee, Zee Tee Uuh und Eff Tee Pee,
Zee Ess Ooh und 90 Grüne sind dabei.
Wir sind von Ess Pee Tee, Zee Tee Uuh und Eff Tee Pee,

199
Zee Ess Ooh und 90 Grüne sind dabei. «

Ausgerechnet zu dieser Musik kam er, unverwechselbar,


angstflackernder Blick, regenwurmverkrümmte Haltung, im
Gesicht die Frage, was tue ich hier eigentlich, kurz, der
Fähnleinführer. In seinem Gefolge eine Rotte »Wiesel und
Frettchen«, nein, nicht doch, gefolgt von der Stimmungska-
none aus der Uckermark mit ihrem Gefolge. Leicht bucke-
lig, watschelnder Gang, am Affenjäckchen große Knöpfe
wie an einem Clownskostüm, der Gesichtsausdruck in per-
fekter Übereinstimmung mit der Misere Deutschlands,
Mundwinkel Richtung Hölle und eine Frisur ohne jedes
Vorbild. Eine rundherum mehrfach gewendete Ex-FDJ-
»Sekretärin für Agitation und Propaganda«. Wenn Bundes-
deutschland denn so was braucht? Ist doch schließlich egal,
wer unter dem Buchklub Kanzler wird! Sicher war nur, daß
sie sich nicht hochgeschlafen hatte!
Ein Preisausschreiben einer großen Zeitung wurde nicht
durchgeführt, weil der dritte Preis eine Woche mit der neu-
en Frau Kanzler, der zweite Preis drei Tage mit der neuen
Frau Kanzler, und der erste Preis keinen Tag mit der neuen
Frau Kanzler sein sollte.
Ihre neuen Mitarbeiter kamen alle aus der »Aktion betreu-
tes Denken«.
Man nannte es: Puttchen Brammels GmbH (Gesellschaft
mit beschränktem Hirn).
Ein Minister, der schon auf so vielen Posten so lange dabei
war, daß er nun der Verbrauchteminister war, dann eine Art
Zigeunerbaron, der sich wie immer erfolglos Gedanken um
neue Umweltverschmutzungen machte, ein nicht so ganz
aufrechter Demokrat auf Rädern, der das Grundgesetz nur
aus einem Grunde nicht mit Füßen treten konnte, nämlich
wegen seiner Querschnittslähmung.
Dieser nicht so ganz aufrechte Demokrat auf Rädern, der
lachte immer so verschmitzt!
Wie einer, der im letzten Urlaub an der Autobahnraststätte
seine Oma ausgesetzt hatte.

200
Und die Stimmungskanone aus der Uckermark guckte so,
als wäre sie die Oma gewesen.
Dann eine Familienministerin, die vehement ihr eigenes
Mutterkreuz wollte und in einer Allianz mit der katholi-
schen und evangelischen Kirche auf einen christlichen
Gottesstaat hinarbeitete.
Nicht zu vergessen die intellektuelle Granate einer ehemals
großen, nun völlig zu Recht vergessenen, uninteressanten
kleinen Volkspartei, die immer zu sagen schien: »Keine
Angst, kriegen wir alles noch viel schlechter hin. Glück-
auf!«
Mit anderen Worten, es gab Häppchen, Bölkstoff und Edel-
dröhnung ohne Ende, und wo es was umsonst gab, waren
immer alle dabei. Und wenn’s nur der Segen des Papstes
war.
Und ein Bürgermeister fand für die männlichen Anwesen-
den wie immer warme Worte der Werbung. Ja, das war
auch gut so! Berlin bringt in der Politik die seltsamsten
heißblütigen Treibhauspflanzen hervor.

Beim Herumschlendern lauschte Brack interessiert und


auch verschreckt den Selbstbeweihräucherungsphrasen der
völlig abgehobenen, in den Wolken schwebenden Volks-
vertreter. Da fragte der Arbeitsminister den Verbraucher-
minister, warum die Verhartzten nicht mit Euro 360 die
Woche auskommen….
Vielleicht, weil sie nur Euro 345 im Monat erhalten?
Ahh, die Zonenwachtel fand mal wieder etwas nicht in
Ordnung…. Galt das dem Siemens-Capo? Nein doch. Nie-
mals.
Brack verspürte plötzlich den fast unbezähmbaren Drang,
seinen Fall hinzuschmeißen, und den Killer seine Arbeit
weiterhin in Ruhe tun zu lassen. Doch das durfte er garnicht
mal denken! Das war ein fristloser Kündigungsgrund! Stets
mußte er Worthülsen wie »feiger und hinterhältiger Mord«
und »voller Verachtung über diese verabscheuungswürdige

201
Tat« und so was ähnliches Dämliches wie eine Monstranz
vor sich hertragen.
Irgendwann würde er sich mal erkundigen, was denn nun
ein »mutiger und offener Mord« wäre. Oder eine zustim-
mungswürdige Tat! Tyrannenmord vielleicht? Müßte nur
noch geklärt werden, wer Tyrann wann ist. Aber im Vor-
aus, und nicht erst, wenn alles schiefgelaufen ist! Doch das
ging alles nicht. Mord war ein Verbrechen, und er mußte
Verbrechen aufklären.

Heucheln als Lebenszweck und Überlebenszweck. Wir


Deutschen sind Weltmeister im Heucheln! Man hat affenar-
tig schnell gelernt, daß die ehrliche Meinung und Überzeu-
gung durch Gummiparagraphen der inquisitorischen Art
mit Gefängnis belohnt werden kann, also ist man nach
außen immer und grundsätzlich und voller Inbrunst der
Meinung des Staatsanwaltes und/oder der jeweiligen Regie-
rung. Was vor 500 Jahren Hexen und der Antichrist waren,
ist heute eben etwas Anders. Geändert hat sich aber im
Grunde genommen nichts! Zum Beispiel auf die Frage
»Finden Sie die dauernde Anwesenheit von mordenden und
raubenden moslemischen Albanern in Deutschland gut?«
gibt es für den fanatischen Anhänger der Bundesdemokratie
nur eine Antwort nach draußen: »Ich liebe sie!« Das Glei-
che gilt für animistische Eskimos. Tschuld’gung, Inuit! Und
so weiter und so fort und auf Ewig. Genaugenommen ist es
die richtige Antwort auf alle Fragen dieser Art! Schmei-
cheln Sie dem Staatsanwalt, indem Sie sagen: »Ich liebe
Sie!« Kann nicht falsch sein!
Es stört die Politiker natürlich enorm, daß sie die ehrliche
Antwort und Überzeugung und die Gespräche im Familien-
und Freundeskreis noch nicht (ab)hören können. Aber
manchmal klingeln ihnen die Ohren! Der Bürger hatte ja

202
nun auch herausragende Vorbilder an Scheinheiligen. Ein
Hypokrit sagt, wenn es politisch opportun erscheint, »Frei-
heitskämpfer«! Ändert sich aber schlagartig die politische
Wetterlage, wird blitzartig aus »Freiheitskämpfer« »Terro-
rist«.
Achten Sie mal bei der alten Tunte, ähh, Tante Tagesschau
darauf, ein Böser wird von den Guten »getötet«, ein Guter
aber immer von den Bösen »ermordet«. Geil, nicht? So
wird für klare Verhältnisse gesorgt. Überfällt also ein als
»Böser« Erkannter ein Land, ist es ein Kriegsverbrecher.
Überfällt aber ein als »Lieber« Erkannter ein Land, ist es
ein prophylaktischer Friedensfreund in vorweggenommener
Notwehr mit unvermeidlichen Kollateralschäden oder so.
Und natürlich vice versa! Immer nach Bedarf. Man ist doch
flexibel! Obwohl nur Menschen ohne Rückrat flexibel sein
können. Na, da haben wir doch keine Probleme mit!
»Wenn also Ehrlichkeit derartig beliebig behandelt wird,
dann mache ich das auch!« meint der Bundesbürger, der
einfach nur seine Ruhe haben will, und dem die Worthülsen
der Sonntagsreden seiner nie gewählten Politiker kilome-
terweit zum Halse raushängen.

»Ruud, wir müssen hier raus. Ich werde im Kreis kotzen,


wenn ich noch fünf Minuten diese Gesichter und deren
Gelaber ertragen muß.«
Ruud verstand das nicht. Er hatte schon geschlossene An-
stalten besucht, wo mehr und auch weniger Blödsinn gere-
det wurde. Allerdings auch welche, wo richtig gesunder
Menschenverstand durchkam. Aber die deutsche Politiker-
Creme-de-la-Creme war durch einen gnadenlosen Auslese-
prozeß gegangen. Was nicht paßte, wurde passend gemacht
oder flog raus mit einem Parteiausschlußverfahren. Christ-
liches oder soziales Verhalten? Glatt parteischädigend! Und

203
was übrig geblieben war, war…. Was war das eigentlich?
Egal, was einem jetzt auf der Zunge liegt, ….. nicht sagen!

Sie verließen also Schloß Charlottenburg und fuhren zurück


ins reale Leben zur »Lampe«, wo sie ganz wohltuend nor-
male Kriminelle mit ihren kleinen Sorgen und Nöten erwar-
teten. An die absurde Traumblase im Schloß Charlotten-
burg verschwendeten sie keinen Gedanken mehr.

Brack und Ruud fuhren Richtung »Lampe«, als Ruud plötz-


lich sagte: »Ich halte hier mal an. Ich glaube, den Toyota
kenne ich. Sind zwei Drogenkollegen drin. Die interviewe
ich mal.«
»Na dann mal los!«
Ruud konnte schon aus acht Metern Entfernung riechen,
daß er Recht gehabt hatte. Charlys L’eau de meuf! Nord-
seebrise, Fischgestank. Und wieder der illegale Berliner
Blödel-Sender »Ga-Ga-Hau“ auf volle Pulle.

»Es steht ein Haus am Ende von Gasse,


und darin wohnt er, Friedhelm, der Blasse.
Vor ihm zittern die Ganoven, denn er ist der Star,
Der Wuppertaler Mafia.
Doch da ist jemand, der fürchtet ihn nicht,
seine Frau Erna, genannt »Das Gesicht«,
Höhe, Tiefe und Breite Zweimeterzehn,
nur im Gegensatz zum Würfel mit zwei Augen versehn.«

Ruud klopfte energisch oben auf das Dach des Toyotas.


»Der Checker!«
»Mööönsch, der Ruud!«

204
Checker war damals der Spitzname von Ruud gewesen,
weil er alles sofort checkte. Sie hatten so manchen illegalen
Spaß miteinander in der Unterwelt Berlins gehabt.
»Was machste denn jetzt? Biste bei Schunck in der Lehre?
Azubi Checker.«
»Leg Du Dir mal lieber einen anderen Duft als Tarnung zu.
Ich hab Dich schon auf der Avus gerochen. Wenn Du so
weiter stinkst, prügeln sich die Luden um Dich!«
Das gegenseitige Frotzeln wollte kein Ende nehmen.
»Wer ist denn das da bei Dir im Wagen? Das ist doch nicht
der Schunck?«
»Möchte ich nicht sagen. Hört mal. Habt Ihr in der Szene
irgendwelche Hinweise über die Abgeordnetenmorde ge-
hört? Irgendwelche Tips? Wir hängen voll auf der Rolle.«
Synchron schüttelten Mike und Charly den Kopf.
»Nä, Checker! Nix! Aber wir halten die Ohren für Dich
offen.«
Charly grinste breit.
»Dann grüß mal Deinen Oberrat, hehehehe! Das mit der
Vollmer-Pflaume war super! Ihr habt was gut bei mir.«
»Gut, Ihr beiden. Schlaft nicht ein.«

Ruud ging zurück zu seinem Wagen.


»Leider nichts. Aber die beiden Kollegen halten für uns
Augen und Ohren offen.«
»Na, dann weiter!«

Es war wie verhext. Nirgendwo eine Spur.

205
Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,
10 Uhr 14

Nora Heffners Mann war Anlageberater, der gierigen Debi-


len das Geld mit dem Bagger aus der Tasche zog. Er hatte
längst aufgegeben, sich zu wundern, wie bereitwillig ihm
ein privater Wucher-Dentist sein Schwarzgeld aufdrängte
oder ihm ein selbsternannter TV-Star 20 Plattenbauwoh-
nungen zum achtfachen Preis als Steuersparmodell aus der
Aktentasche riß.
Im Intelligenz-Limbo wurden täglich neue Rekorde aufge-
stellt. Auch von seiner Frau Nora.
Nora war 38 Jahre alt, sah aber keinen Tag älter aus als 50.
Seit vier Jahren hatte sie ein neues Hobby: Verschönerun-
gen an sich selbst. Sie trug das leicht ergaunerte Geld ihres
Mannes zu einem Doktor Franckensteen, dessen Triefnase
sein Hobby verriet. Der allerdings teilte sein erschnippeltes
Einkommen zwischen seinem Anlageberater, Nora Heff-
ners Mann, und seinem Koksdealer auf, der wiederum auch
Kunde von Nora Heffners Mann war. So war ein perfekter,
aber physikalisch nicht dauerhaft möglicher Kreislauf ent-
standen.
Wer Nora Heffner das erste Mal sah, dachte spontan: Die
hat man ja ziemlich prima nach ihrem schweren Unfall
halbwegs wieder hingekriegt!
Dann fiel der Blick auf die geschwollenen Lippen, Marke
Ruck-zuck-Fresse-dick. Obwohl Lippen, die zehn Minuten
vor ihrer Eigentümerin an der Haustür sind, nicht jeder-
manns Geschmack widerspiegeln.
Wenn Lippen mit dem abgesaugten Eigenfett aus der Ge-
säßgegend aufgespritzt wurden, redeten Spötter zu Recht
auch von einem »Arschgesicht!« Die Stirn glatt und makel-
los dank Botulinumtoxin, das leider durch seine hochgiftige
und schwer zu dosierende Wirkung auch die linke Ge-
sichtshälfte etwas steif absinken ließ. Brüste wie 40 cm
Geschütze, die durchaus den Vorteil boten, daß man bei den
zahllosen Cocktailparties darauf sein Sektglas abstellen

206
konnte, und die faltenlose, von aller schlaffen überflüssigen
Haut befreite Augenpartie, mit dem klitzekleinen Nachteil,
daß Nora die Augenlider nicht mehr ganz schließen konnte.
Das verlieh ihr das geheimnisvolle, leicht glasige Aussehen
einer Somnambulen. Nora fand sich sehr schön!

Schön fand sich auch ihre Busenfreundin, die gleichaltrige


blonde greise Indianersquaw, Magdalena, deren tiefbraune
Oberfläche die Beschaffenheit einer Kartoffelreibe hatte,
verursacht durch jahrzehntelanges Sonnenbaden in Echt
oder in Künstlich. Sie hatte so was häßlich Tönendes wie
»aktinische Keratose«, das sich aber in den nächsten Jahren
durch Zauberei in das hübsche Wort »malignes Melanom«
verwandeln würde. Magdalena war stolz darauf, daß sie seit
ihrem 15ten Geburtstag immer die Kleidergröße 36 trug.
Um nicht zu schwindeln, muß einfach gesagt werden, daß
sie aussah, als hätte sie drei Jahre in Dafur oder Abéché
geurlaubt. All exclusive! Man konnte problemlos Anato-
mielesungen an ihrem Skelett halten. Durch ihren Winter-
mantel hindurch! Wenn man Magdalena die Hand gab,
hatte man das Gefühl, in eine Tüte mit Salzstangen zu grei-
fen. Naja, wie erwähnt, auch Magdalena fand sich sehr
schön!

Wenn beide ein Glas Rotwein tranken, sahen sie aus wie
zwei Fieberthermometer. Und daß beide zusammen den IQ
eines Alpenveilchens hatten, sei hier nur der Vollständig-
keit halber erwähnt und erfolgt nicht in der Absicht, ein
Alpenveilchen zu beleidigen.

Sie waren schrecklich aufgeregt, denn es kündigte sich ein


Höhepunkt ihres recht ereignisarmen Lebens an. Sie sollten
vor Beamten des Bundeskriminalamtes als Zeugen aussa-
gen, weil sie vorgestern Dr. Friedhelm Rotter morgens
beim Bäkker gesehen hatten.
Noras Aussage beschränkte sich allein schon wegen der
aufgeschwollenen Lippen allerdings auf: »Ha doch, er har

207
heihn Häcker!« während Magdalena wortgetreu übersetzte:
»Ja doch, er war beim Bäcker!« und trieb den ob ihrer ab-
schreckenden Optik schon schwer angeschlagenen BKA-
Heini zu dem wenig originellen Gedanken:
Warum eigentlich immer ich und nicht mein Chef?

Nora humpelte davon und murmelte wie immer undeutlich:


»Von neuen Schuhen hekonne ich inner Hla… Bhlasen!«
Magdalena sah sie erstaunt an und meinte:
»Komisch, bei mir ist es genau umgekehrt!«

208
Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,
11 Uhr 01

»HRRRRRCH, BINGO! HRRRRRCH!«


Kalle sprang auf, schrie, und seine Augen zuckten vor see-
lischer Anspannung wie ein Stroboskop.
»Hrrrrrch, wir haben eine Übereinstimmung! Hrrrrrch.«
»Wer?« fragte Brack.
»Josef Eilers, hrrrrrch, 61 Jahre, hrrrrrch, Lindau, Selbst-
mord oder Unfall in Altötting!«
Kalle war so aufgeregt, daß er daß letzte »Hrrrrrch« vergaß.
»Hat das Präsidium Deine Mail-Addy?«
»Hrrrrrch. Wir haben eine direkte sichere Verbindung zum
Präsidium. Die verwenden meine Soft, Justus. Hrrrrrch.«
»Her mit dem ganzen Zeug, alles, was sie haben. Ausdruk-
ken. Ruud, ab in den Bundestag, die Videoaufzeichnung
von dem Eilers raussuchen. Hier, sein Photo.«
»Justav, willst Du selber hin? Oder schick’ einen guten
Befragungsmann nach Altötting. Ich will alles über die
Umstände. Alles. Der Dorfsheriff hat sich bestimmt nicht
viel Arbeit gemacht. Und einen anderen nach Lindau.
Wenn Du da unten jemand kennst, der gut ist, dann sofort
vor Ort. Kalle, alles anzapfen, wo wir Informationen über
diesen Eilers herkriegen können.«
»Horstchen, Paulchen, wenn ich Euch mal unterbrechen
darf, Häppchen und was zu trinken für uns.«
Die Jagd begann!

209
Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,
11 Uhr 34

Mehmet Süliman, immer noch »Icke« genannt, war aus


dem Polizeigewahrsam entlassen worden. Einbruch war
nicht, denn das Fenster stand ja auf. Der Einstieg erfolgte
nicht aus der Absicht heraus etwas zu stehlen, sondern nur
um sich sein Eigentum wiederzuholen. Allerdings durfte
Icke mit einer Anzeige wegen Leichenfledderei rechnen. Er
kannte seinen zukünftigen Spitznamen jetzt schon: »Lei-
chen-Icke«!
Seine gefundenen 50.000 Euronen waren natürlich weg.
Aber auch wenn man das fiese Schwein Tulpe noch einge-
buchtet hielt, zahlen mußte Icke sowieso irgendwann. So
zog er um die Häuser, immer darauf achtend, ob sich nicht
was ausbaldowern ließ.
Meisen-Freddy war unterwegs, um für seine Mädels Ku-
chen zu holen. Sein mesomorpher stattlicher bodygebuilde-
ter Körper war mit Unmengen von Anabolika und anderen
Steroiden gezüchtet worden. Ab und an zischte ein Kurz-
schluß durch sein Gehirn, und Freddy rastete aus. In seinen
Ruhephasen war er sonst ein ganz Netter. Meisen-Freddy
parkte gegenüber seines Lieblingsbäckers, »Steinofen«,
sprach scheinbar unmotiviert zu seiner Zivilversion des
Golfkriegs-HUMVEE: »Bin gleisch wieder z’rück. Aufpas-
sen, Adolf!« und überquerte die Straße. Den Motor ließ er
laufen, weil er Grünes auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Icke beobachtete die Szene aus fünf Meter Entfernung.
Mannomann, in Dresden bekam er für das Teil 20- bis
30.000 Oirohs! Und der Scheiß-Lude würde bei den Bullen
bestimmt keinen Terz machen. In drei Sätzen war Icke an
der Fahrertür und drin. Automatik auf »D«, Gas und ab.
Leider hatte sich Icke nicht davon überzeugt, ob er auch
alleine im Wagen war.
Sein Mitfahrer legte von hinten seinen Kopf plump-
vertraulich auf Ickes rechte Schulter und ein tiefes Grollen
entstieg seiner Kehle. Meisen-Freddys Adolf war ein riesi-

210
ger pechschwarzer Dobermann! Icke konnte schon so klei-
ne Kampfhamster wie Yorkshireterrier nicht verknusen.
Und Adolf versetzte ihn in blanke Todesfurcht. Laut schrei-
end sprang Icke aus dem fahrenden HUMMER, der mit
beachtlicher Geschwindigkeit weiterrollte.

Ruud verließ mit seinen »Leibwächtern« die »Lampe«…

Sergei Bulgakov lag vor dem vierten Stock einer pleite


gegangenen Luxussanierung auf dem Gerüst. Von seinem
gestrigen kleinen Fitneß-Abenteuer her trug er einen Kopf-
verband, kaschiert mit einer Pudelmütze, ein blaues, fast
malvenfarbiges Matschauge, geschützt von einer Augen-
klappe, sowie je einen festen Stretchverband um Schulter,
Rippen und Knie. Er war halb blind vor Wut und Schmer-
zen. Naja, und auch wegen der besemmelten Augenklappe.
Er sah echt aus wie Käpt’n Silver aus einem Piratenfilm
und hatte auch dessen Obsession zum Töten. Gegen Sicht
war er geschützt von den Staubplanen am Gebäude. Mit
seiner Снайперская винтовка Драгунова oder lesbarer:
Snaiperskaja wintowka Dragunowa oder nun ganz schlicht
auf deutsch: seinem Dragunow-Scharfschützengewehr hatte
er Ruud im Visier. Sergei schoß todsicher bis zu 600 Me-
tern, und hier waren es nur 300 Meter. Kinderspiel! Er fand
gerade den Druckpunkt des Abzuges, als sich das Gerüst
bewegte und rutschte.

…da erblickte Ruud mit kindlichem Erstaunen, wie sich


wie durch Zauberei die Rück- und Frontscheibe seines alten
Opels in winzige Krümel auflösten.

Der HUMVEE von Meisen-Freddy mit Adolf am Steuer


fuhr drei Abstützpfeiler des Gerüstes um, bis er zum Still-
stand kam. Krachend stürzte das Gerüst in voller Frontbrei-
te in sich zusammen.
Sergei befand sich nach dem Schuß im freien Fall auf dem
endgültigen Abstieg. Drei Etagen lang gab’s keine nen-

211
nenswerten Probleme. Aber dann war der Asphalt im We-
ge.
Icke war zu diesem Zeitpunkt schon drei Blocks weiter, als
seine malträtierten Lungen einfach nicht mehr wollten.
Auch er stelle sich die uralte Frage der Menschheit: Warum
eigentlich immer ich und nicht das fiese Schwein Tulpe?
Zum Glück antwortete niemand, denn die Antwort darauf
hätte Icke nicht gefallen!

Nur Adolf, der Dobermann, war mit sich und seiner Lei-
stung rundherum zufrieden. Es war echt das erste Mal, daß
er alleine Auto fahren durfte. Und er fand, soo schlecht
hatte er seine Sache garnicht gemacht.

212
Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,
12 Uhr 04

Brack hatte Schunck in den Bundestag gejagt, um die Vi-


deoaufzeichnung von dem Eilers raussuchen. Jetzt hielt er
Ruud fest, der am ganzen Leibe zitterte.
»Noch’n Cognac, Paulchen!«
»Mann, Ruud, das war knapp. Aber es ist vorbei, Junge.
Komm, geh ein paar Schritte. Oder willst du einen Arzt?«
Ruud schüttelte den Kopf.
»Na siehste.«
Als Brack mit Ruud durch den Raum ging, sah es aus, als
übten zwei Senioren Tango.
»Hrrrrrch, wir kriegen Informationen über den Eilers rein,
hrrrrrch!« rief Kalle.
»Los, Ruud, mitschreiben«, forderte Brack, um den armen
Kerl etwas abzulenken.
»Josef Maria Eilers, geboren 23. Februar 1945, verwitwet,
wohnhaft in Lindau/Bodensee, Pensionär, zuletzt Haupt-
feldwebel bei der Bundeswehr, nicht vorbestraft, keine
Kinder, Reihenhaus, schuldenfrei, aktives Mitglied des
katholischen Fördervereins in Lindau. Viele Bekannte,
keine Freunde. Aus.«
Brack schüttelte irritiert den Kopf.
»Das kann es doch nicht sein. Der ist ja so normal, daß es
wehtut. Da muß einer hin, schnüffeln!«
Kalles Handy meldete sich mit einer Melodie von Jacques
Offenbach.
»Schunck hier, ich habe die Videoaufzeichnung gefunden!
Er hat sich mit Klara Schütte getroffen! Ich bin in fünf
Minuten mit dem Band zurück.«
Brack freute sich. Es ging vorwärts.
»Kalle, kommst Du irgendwie an Eilers Bundeswehrakte?«
»Hrrrrrch, wird dauern, Justus!«
Nach ein paar Minuten traf Schunck mit dem Band ein.
Neugierig versammelten sich alle vor den Monitor.
»Noch mal abspielen«, forderte Brack.

213
»Noch mal!«
»Guckt, hier, beide zögern. Die kannten sich nicht! Und
jetzt gehen Sie in Richtung Ausschußsaal!«
Brack überlegte.
»Eilers hat ein Treffen mit der Schütte vereinbart. Und
Andeutungen gemacht. Deswegen wollte die Schütte Zeu-
gen dabei haben, Zeugen, die sie gut kannte. Ihren Aus-
schuß.
Oder Eilers hat auf den Ausschuß bestanden. Eilers hat
dann seine Geschichte dem Ausschuß erzählt. Davon hat
jemand Wind bekommen und alle umgebracht. Soweit
richtig?«
Zögernd nickten alle.
»Und?«, fragte Schunck, »was hilft uns das? Wir wissen
nicht, was besprochen wurde. Also fehlt das Motiv! Wir
können niemand mehr fragen, da alle tot sind. Uns fehlen
die Täter. Und wenn wir die hätten, fehlt der Auftraggeber.
Und wer hat davon wie Wind bekommen? 2000 Besucher
plus über 600 wichtigfühlende Abgeordnete plus über 1000
Mitarbeiter? Alle überprüfen? Die werden uns mit’nem
nassen Handtuch erschlagen. Die werden auch Dich, Justus,
brutalst abwimmeln! Weiß der Geier, was wir da so alles
herausbekommen würden. Nää, Sackgasse, Herrschaften!«
»Kommt, laßt uns wenigsten noch ansehen, mit wem Eilers
den Saal wieder verläßt.«
Aber Eilers verließ den Bundestag alleine.

214
Die Freiin

Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,


13 Uhr 08

Brack mochte solche Berg- und Talfahrten nicht. Himmel-


hochjauchzend, zu Tode betrübt. Zum Teufel, worum ging
es hier? Was war das Motiv? Es war echt zum Haareausrau-
fen! Aber er sah ein, konventionell kamen sie nicht weiter.
Wer konnte ihnen weiterhelfen? Wie man sich feixend
erzählte, war das BKA noch nicht mal annähernd so weit
wie er. Und was hatte er davon? Nichts! Jetzt mußten seine
Verzweifelungsaktionen anlaufen. Informationen! Er
brauchte händeringend Informationen. Jeder Fall wird im-
mer und nur durch Gespräche und Informationen gelöst.
Erkenntnisse der Kriminaltechnik runden die Lösung nur
ab, sind aber nicht die Lösung. Also, woher bekam er In-
formationen? Mit wem sollte er reden? Er kannte eine Da-
tenkrake, die schlimmer war als die GEZ. Aber das war ein
gefährliches Spielchen! Ein mögliches quid pro quo. Was
auf deutsch hieß: Verrat von Polizeigeheimnissen!
»Pest!«
Seufzend griff Brack zum Handy und wählte.
»Gut Brachhatten!«
»Justus Brack. Die Baroneß, bitte. Ich stehe auf der Liste.«
Nach einer kurzen Pause sagte die Stimme: »Bitte warten
Sie.«
Es vergingen gut fünf Minuten, als er eine junge, sehr weib-
liche Stimme hörte: »Justus, wie schön, mal wieder von
Ihnen zu hören.«
»Küß die Hand, Baroneß!« Es war ein Ritual zwischen den
Beiden.
»Baroneß, ich benötige einige Antworten auf einige Fragen.
Und wenn Sie mir nicht behilflich sein können, wer dann?«
»Aber doch nicht am Telephon!«

215
»Natürlich nicht.«
»Dann erwarte ich Sie heute zum Tee, Justus. Ich freue
mich.«

Ehe er sich verabschieden konnte, hatte sie bereits aufge-


legt.
Brack wollte Ruud mitnehmen. Der Junge hatte vielleicht
das Zeug, um gefördert zu werden. Der war hellwach. Et-
was zu staatsgläubig, aber das konnte Brack ihm abgewöh-
nen. Sie mußten sich nur beeilen. Brack erbleichte. Um
pünktlich zum Tee zu erscheinen, mußte er wieder mit
seinem Lieblingstransportmittel, dem Hubschrauber, flie-
gen.
»Ruud, komm. Nimm eins von Kalles Handys mit. Ja, zum
Verteilen. Wir müssen los!«

Als sie rauswollten, ertönte von draußen ein Schreien und


Getöse.
Ein wutschnaubender BKA-Häuptling mit seinem Advoka-
tenpack war von dem 300 Meter entfernten Gerüst herüber
gekommen und wurde nun von 50 leicht zweifelhaften
Gestalten auf der Straße vor der »Lampe« abgedrängt.
Brack ging das Herz auf.
»Keine Zeit für Sie, leider. Ich muß los«, flötete Brack und
winkte freundlich. Dann verschwand er zusammen mit
Ruud und den Leibwächtern in drei Autos.

216
Absurdistan, Gut Brachhatten, Freitag, der 18.
November, 15 Uhr 36

Gut Brachhatten umfaßte zirka 2.500 Hektar Fläche. Ur-


kundlich erwähnt wurde es zum ersten Mal im Jahre des
Herrn 904. Es liegt südöstlich von Oldenburg in Nieder-
sachsen. Im Laufe der Zeiten wechselte es oft seine Besit-
zer. Heute gehört es der BPVAG, Bäuerliche Produkte
Vertriebs Aktiengesellschaft, mit Sitz in Liechtenstein.

Im Jahr 2001 feierte der deutsche Zoll schöne Erfolge mit


der Sicherstellung von 2,5 Tonnen Haschisch, 3,5 Tonnen
Marihuana, 1,0 Tonnen Kokain, 450 Kilogramm Heroin
und 1.300.000 Tabletten synthetischer Drogen - wie zum
Beispiel Ecstasy und LSD.
Der unbedarfte brave Bundesbürger feierte diese vorgeblich
vernichtenden Schläge gegen die ausländische Drogenma-
fia mit der fünften Flasche Bier und grölte bei Fußball,
Leichtathletik und Tour de France: »Keine Macht den Dro-
gen!« Und zündete sich noch ’ne Zigarette an.
Nun schätzen aber namhafte und namenlose Experten, daß
nur maximal 1 bis 5 % der Gesamtmenge aller dieser Dro-
gen beschlagnahmt wird. Und zwar nur von den Amateuren
im Spiel! Die Profis verlieren nicht ein Gramm! Wir rech-
nen mit 5 % nach, 50 Tonnen Haschisch, 70 Tonnen Mari-
huana, 20 Tonnen Kokain, 9 Tonnen Heroin und
26.000.000 Tabletten synthetischer Drogen - wie zum Bei-
spiel Ecstasy und LSD.
Sollten es 1 % Beschlagnahme sein, muß man vom Fünffa-
chen der Menge ausgehen. 250 Tonnen Haschisch, 350
Tonnen Marihuana, 100 Tonnen Kokain, 45 Tonnen Heroin
und 130.000.000 Tabletten synthetischer Drogen - wie zum
Beispiel Ecstasy und LSD.
Es drängt sich doch förmlich die Frage auf: »Wie kommen
denn diese riesigen Mengen unbemerkt in unser Land?«

217
Und die ganz Schlauen unter uns fragen weiter: »Wie
kommen denn diese riesigen Mengen an Bargeld wieder
unbemerkt aus unserem Land heraus?«
Ehrlicherweise muß man erschrocken annehmen, daß ohne
die Hilfe von Wirtschaft, Banken, Zoll, Polizei und Politi-
kern beides nicht möglich wäre. Ein Schelm, wer bei
»Schengen« Böses denkt.
Schengen, keine Grenzkontrollen für die Bürger! Ein Witz!
20 Kilometer hinter der Grenze werden Privatleute kontrol-
liert. Das ist, als wenn im Supermarkt geworben wird mit
»Heute müssen Sie nicht an der Kasse zahlen«,
…………aber am Ausgang! Die EU ist zu einem Sammel-
becken blöder, machtgeiler und krimineller Typen ver-
kommen. Es heißt nicht umsonst: Hast’n doofen Opa,
schick ihn nach Europa!
Und Staaten sind in der EU, fast kaum zu glauben!
Um auf die Olivensubventionen zu kommen, die die Grie-
chen abfegen, müßte ganz Griechenland bis in das vierte
Stockwerk mit Bäumchen bepflanzt werden. Inklusive
Meer!
All die mit Steuerzahlermilliarden angehäuften riesigen
Notvorräte sind weg! Vertickert! Nun dürfen die EU-
Bürger Superpreissteigerungen der Nahrungsmittel erwar-
ten. Die haben sie zwar noch alle, aber nicht der Reihe
nach!
Manche wetten auf Frankreich und Italien, daß die die Uni-
on durch Verlassen sprengen. Daumen drücken!
Auch sagen die Gewichte und Mengen der Drogen nun aber
auch garnichts aus. Wir nehmen den Umsatz der Straße. Ein
Kilo Kokain: Zirka Euro 100.000. Das macht bei 20 Ton-
nen zwei Milliarden Euro. Ist doch nicht wirklich schlecht.
Die 70 Tonnen Heroin ergeben sieben Milliarden Euro.
Haschisch und Marihuana nochmals 1,5 Milliarden Euro.
Die Pillen fallen mit nur 250 Millionen Euro ab.
Also ein Markt von 10 bis 50 Milliarden Euro. Nur für
Deutschland! Je nachdem! Und dieses Geschäft soll man

218
irgendwelchen barfüßigen ungebildeten Bauern aus der
Dritten Welt überlassen?

Der Hubschrauber war auf der dem Tor gegenüber liegen-


den Wiese gelandet. Vom Tor aus war das Gut nicht zu
sehen.
»Hören Sie zu, Ruud!«
»Sie hatten vorhin schon »Du« gesagt, Herr Brack.«
»Na gut, mein Junge. Hör genau zu. Du sagst nichts. Stille,
verstanden? Zur Begrüßung nickst Du nur mit dem Kopf.
Du setzt Dich nirgends hin! Auch nicht auf Aufforderung.
Du bleibst immer anderthalb Meter schräg hinter mir ste-
hen. Aber Du darfst die Ohren spitzen. Mach mir keine
Schande!«
Sie gingen rüber zu dem bewachten Tor, ein uralter, riesiger
Rolls-Royce fuhr vor, um sie zum Haupthaus zu bringen.
Mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit von fast über 20
Km/h sauste der Wagen über den asphaltierten Weg. Ein
Gärtner auf dem Fahrrad überholte sie und grüßte höflich.
Das Haupthaus kam wie eine Filmkulisse in Sicht. An der
Treppe wurden sie von einem livrierten Diener in Empfang
genommen.
»Die Baroneß erwartet die Herrschaften im grünen Salon.
Bitte folgen Sie mir.«
Brack verspürte keinen Neid. Das hätte sein Herman auch
gekonnt! Justus überlegte kurz, ob er Herman auch eine
Livree verpassen sollte. Er grinste. Nein, das waren weder
Hermans noch sein Stil. Er war bürgerlich!
Der grüne Salon entpuppte sich als eine Art Äquator-
dschungel, was nicht nur an der Hitze lag, sondern auch an
den reichlich verteilten, bis vier Meter hohen exotischen
Pflanzen. Durch die hohen Fenster strömte das fahle Son-
nenlicht, das die kostbaren Skulpturen aus griechischer und

219
römischer Zeit eindrucksvoll herausstellte. Wo diese Expo-
nate wohl herkamen? Jeder Staat auf der Welt wachte ge-
genwärtig eifersüchtig über seine Kunstschätze. Nichts kam
mehr raus aus dem Land!
An einem kleinen Tischchen saß eine etwa 50jährige Dame
in einem Rollstuhl. In ihrem Gesicht befanden sich immer
noch die Reste ihrer jugendlichen Schönheit als Mädchen.
Nun war es das Gesicht einer schönen Frau. Die aufwendi-
ge Pflege, und das sehr schlichte Kleid, der geschmackvoll
sparsame Schmuck, die bemessenen Bewegungen und der
offene Blick waren der Grund, warum allen das Wort »Da-
me« und nicht »Frau« in den Sinn kam.
Brack ging förmlichen Schrittes auf sie zu, und beugte sich
zu ihrer leicht angehobenen Hand herunter. Kurz vor der
Handoberfläche stoppte er, deutete einen Handkuß an,
schaute der Baroneß in die Augen und sagte: »Es ist mir,
wie immer, eine große Freude, Baroneß wohlauf zu sehen.«
»Mein lieber Justus, Sie verändern sich wohl nie?«
Irgendwas in ihrer Stimme elektrisierte Ruud. Er war
schwer beeindruckt.
Brack hielt ihre Hand ein wenig länger, als es sich gehörte.
Eine distanzierte, aber innige Vertrautheit schien sich aus-
zubreiten. Und doch konnte ein unvoreingenommener Be-
trachter nicht sagen, wie gut oder ob sie sich überhaupt
kannten.
»Setzen Sie sich, lieber Brack, und nehmen Sie etwas Tee.
Möchte Ihr netter Begleiter auch Tee?«
»Danke Baroneß, mein Begleiter nimmt keinen Tee. Ich
möchte auch Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in An-
spruch nehmen. Ich weiß Ihr Entgegenkommen bei dieser
hastigen Terminvereinbarung überaus zu schätzen und
möchte gleich zur Sache kommen.«
»Immer noch ein ungezügeltes Temperament, lieber Justus?
Sie sind noch nicht ruhiger geworden? Geht es um diese
Berliner Affaire?«
Als Affäre hatte Brack das noch nicht betrachtet.
»Ja, Baroneß.«

220
»Und was glauben Sie, was ich hilflose Frau dazu beitragen
kann?« Die Freiin hatte ein mildes Lächeln in ihrem Ge-
sicht.
Das Wort »hilflos« wäre auch das Letzte gewesen, was
Brack in Verbindung mit der Baroneß eingefallen wäre.
Brack gab Ruud ein Zeichen, und Ruud reichte Brack Kal-
les Handy.
»Baroneß erinnern sich noch an Karl Dietz?«
»Aber ja, geht es ihm wieder besser?«
»Leider nicht, aber er ist für mich wieder tätig. Er hat dieses
Handy mit neun anderen abhörsicher modifiziert. Darüber
könnten wir in einem eiligen Fall kommunizieren.«
»Ach ja?« Mit Interesse betrachtete sie das Handy. Sie
schien viel von Kalle zu halten.
»Wir benötigen Informationen und Zusammenhänge über
diese Personen.« Brack stand auf und überreichte der Baro-
neß das Handy und eine Namensliste. Versonnen betrachte-
te sie die Liste.
»Justus, nehmen Sie sich nicht zu viel vor. Ich habe gehört,
daß Sie und Ihr reizender Begleiter sehr viel Glück hatten.
Das muß nicht immer so sein. Es sieht aus, als ob Ihre Geg-
ner weitreichende Mittel besitzen. Mehr als ich habe!«
Brack wurde blaß und unsicher.
»Gnädigste haben heute wieder einen wundervoll rustikalen
Humor! Aber Baroneß werden es doch versuchen?«
»Assez! Sicher, lieber Justus. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.
Wenn die Herren mich nun bitte entschuldigen?«
Ein kleiner Schalk blitzte in ihren Augen.
Brack stand auf.
»Wenn ich meinerseits etwas für die Baroneß unternehmen
kann? Jederzeit.«
»Ich werde bestimmt darauf zurückkommen. Jean begleitet
Sie hinaus. Ich rufe Sie an, Justus!«
Die Baroneß surrte mit ihrem Rollstuhl aus einer kleinen
Tür des grünen Salons. Brack und Ruud folgten Jean.
Ruud sah Brack an, und Brack schüttelte unmerklich mit
dem Kopf. Der Rolls-Royce fuhr vor, und als sie am Tor

221
ausstiegen und zum Hubschrauber rübergingen, sah Brack
Ruud an und grinste.
»Jetzt darfst Du!« Brack zündete sich eine Zigarette an.
»Dir platzt doch gleich der Kopf!«
»Eine überaus bemerkenswerte Dame«, meinte Ruud. »Der
wäre ich gerne mal vor 30 Jahren begegnet!«
Brack machte sofort ein finsteres Gesicht. »Bin ich!«
»Und?«
»Erzähle ich ein anders Mal. Aber damit Du von der Wolke
wieder herunterkommst, die Baroneß ist die cleverste und
skrupelloseste Gangsterchefin Deutschlands!«
»Mach’ Sachen!« rief Ruud verblüfft aus. »Sie verarschen
mich doch?«

Brack sog tief an seiner Zigarette.


»In diesen Größenordnungen weiß man zwischen Ge-
schäftsfrau und Gangsterchefin nicht mehr so recht zu un-
terscheiden. Ihre Firmen setzen so um die drei Milliarden
Euros jährlich um. Offiziell! Hast Du Ihre Mitarbeiter gese-
hen, außer dem alten Jean? Anwälte und Gangster. Naja,
auch diesen Unterschied merkt man selten. Wenn es ihn
denn gibt. Die Kollegen habe es mehr als zehnmal versucht,
das Gut zu durchsuchen. Die sind nie auch nur durch das
Tor gekommen!«
»Und warum nicht? Eine offizielle Hausdurchsuchung und
fertig ist die Laube!«
»Die Baroneß ist unter anderem Honorarkonsul von Bolivi-
en. Und reklamierte erfolgreich ihren Besitz als exterritoria-
les Gebiet. Also bolivianisches Hoheitsgebiet. Bis auf das
Haupthaus. Das soll kolumbianisches Hoheitsgebiet sein!
Um ins Haupthaus zu kommen, muß man erstmal boliviani-
sches Hoheitsgebiet betreten dürfen! Daß ihre Firma Sitz in
Liechtenstein hat, trägt zur allgemeinen Rechtsverwirrung
nicht unbeträchtlich bei. Und ihr Hubschrauber darf natür-
lich auf ihrem Gelände landen.«
»Clever! Und die kennen Sie?«

222
Brack verzog das Gesicht. »Ja, aber damals dachte sie noch
nicht an ihre Karriere.«
»Ich muß so blöd fragen, wieso glauben Sie, daß sie uns
helfen kann und helfen wird?«
»Sie weiß alles Krumme, alles Verbotene, das in Deutsch-
land abgeht. Sie kennt fast jedes Geheimnis. Sie hat tausen-
de Informanten. Und sie ist mir Einiges schuldig.«

Ruud schwieg sich aus.


»Komm«, sagte Brack, »wir fliegen heim!«

Der Primus Custos tobte innerlich. Sie hatten das mit Eilers
herausgefunden! Das gab es doch garnicht! Was sollte er
nun machen? Er mußte einen genialen Dreh finden. Er
mußte!
Positiv war nur, daß sie zu der Baroneß geflogen
waren. Woher kannte der Brack die Baroneß? Dieses halb-
seidene Geschäftsmilieu war doch nun bestimmt nicht sein
normales Spielfeld!
Plötzlich strahlte er. Er hatte es! Das war die Lösung. So,
und nur so, würde es gehen!
Er mußte mal wieder dringend und ungestört telephonieren.

223
Absurdistan, Berlin, Freitag, der 18. November,
20 Uhr 54

In der »Lampe« ging es hoch her. Alle waren bester Stim-


mung und Paulchen warf eine Münze in den altertümlich
bunt leuchtenden Musikautomaten mit den schwarzen
Scheiben.
Er winkte Horstchen zu sich. Und Rick Skaan fing sanft an
zu singen.

»Du rufst an, Du bist alleine.


Du, hör ich Dich etwa weinen,
Ich bleib nicht hier,
Ich fahr zu Dir. «

Paulchen sang mit. Die Drums gaben das Stampfen eines


schnellen Dampfzuges vor. Horstchen fiel mit einer perfek-
ten Küchenterz ein:

»Du, ich nehm den Nachtzug, Kleines.


Du, ich fahr die Nacht durch, Kleines,
Und morgen früh
Bin ich bei Dir. «

Wer war schon Rick Skaan? Paulchen und Horstchen waren


die Stars! Die tiefe E-Gitarre und das klagende Saxophon
machten die Stimmung perfekt.

»Tausend Kilometer sind nicht viel,


Unsre Liebe setz ich nicht aufs Spiel.
Wenn die Sehnsucht ruft, dann komme ich,
Die paar Stunden warte noch auf mich. «

Die »Lampe« tobte. Der leichte Aha-Chor im Hintergrund


hob alles etwas.

»Wenn Du nach mir rufst, dann komme ich.

224
Ich sitze nicht nur da und denk an Dich.
Ich will Dich bei mir in meinem Arm,
Ich will Dich spüren. «

Paulchen guckte Horstchen tief in die Augen, und Horst-


chen dem Paulchen. Am Ende des Liedes sang der ganze
verräucherte Saal mit. Während beide, Hand in Hand, zum
Tresen gingen. Sie hatten wirklich schön gesungen.
Nur dem Kampfhund eines Gastes war bei dem Gesang
schlecht geworden.

Schunck saß ganz entspannt in einer Ecke zusammen mit


Friedhelm, dem Taschendieb. Sie erzählten sich Witze und
lockten mit ihrem wiehernden Lachen Zuhörer an.
»Paß auf«, sagte Friedhelm, »Geht einer über seinen Be-
hördenflur und trifft einen Kollegen. Fragt er: »Na, Hein-
rich? Kannste auch nicht schlafen?«
Nach einer kurzen Pause erhob sich dröhnendes Gelächter
aus der Runde.
»Was habt Ihr nur immer gegen die Beamten? Die tun doch
nichts!« Friedhelm schüttelte den Kopf.
Schunck lachte mit. Er fing an: »Kommt’n Gärtner inne
Kneipe und sagt zu seinen Kumpel: »Hey, schau’ mal, was
ich hier habe...« Er greift in seine Tasche, und holt ein 30
cm großes Männchen raus, stellt es auf den Tisch, der geht
ein Stück, zieht den Hut, und sagt: »Ich bin Johannes Mario
Simmel".
Der Kumpel staunt: "Wo haste denn den her?"
Gärtner: »Geh’ zu der dicken Eiche im Park, dort ist eine
steinalte Fee, die Dir einen Wunsch erfüllt."
Der Kumpel geht zur Eiche, trifft die Fee und sagt: "Ich
hätte gerne Hundert Millionen in kleinen Scheinen", und
schwupps sieht er vor sich hundert Melonen in kleinen
Schweinen.
Er geht zurück in die Bar, sagt zu dem Gärtner: »Die Alte
ist doch stocktaub! Ich wollte hundert Millionen in kleinen

225
Scheinen, und was hab ich bekommen? Hundert Melonen
in kleinen Schweinen!"
Darauf der Gärtner: "Na, glaubst Du, ich hab mir ’nen 30
cm langen Simmel gewünscht?"
Friedhelm drosch vor Grölen mit seiner »goldenen« Hand
auf den Tisch ein.
»Als ich noch jung und ledig war, sind meine Verwandten
auf Hochzeiten immer zu mir gekommen, haben mir in die
Wange gekniffen und grinsend »Du bist der Nächste« ge-
sagt. Sie haben mit dem Scheiß aufgehört, als ich das Glei-
che mit ihnen auf Beerdigungen gemacht habe...«
An eine Unterhaltung war in der »Lampe« nicht mehr zu
denken.
Nachdem Schunck sich die Tränen abgewischt hatte, sagte
er: »Noch Einen! Ist aber der Letzte! Also, seit vielen Wo-
chen ist der Handelsvertreter schon unterwegs. Eines
Abends geht er in ein Bordell, wirft der Bordellchefin eine
Handvoll zerknüllter Scheine hin und verlangt: »Die Häß-
lichste, die Sie haben! Und Bratkartoffeln und Flaschen-
bier!" Die Chefin zählt schnell nach und sagt ihm, für so-
viel Geld könne er auch die Hübscheste bekommen. »Kein
Interesse«, brummt der Mann, »ich bin nicht geil - ich habe
Heimweh!«

Ein Berlinbesucher aus Erftstadt, der vor der »Lampe«


spazierte, fing an zu rennen, als er das Röhren und Krei-
schen von drinnen hörte. Er würde kopfschüttelnd bei sich
zu Hause erzählen, daß die Berliner in ihren Kneipen
Kämpfe mit Löwen und echte Autorennen abhielten.

Hinter sich am Tisch hörte Brack zwei Opfer von Hartz IV,
kurz HIV, sich unterhalten.
»Ich bin entweda zu alt oder zu jung. Nie passe ich irgend-
welchn Bettnässan ins Schema!«
»Woll!«
»Für eine anständige normale Arbeit bin ich viel zu alt, und
eine Fortbildung zum Meista lohnt angeblich nicht mäa.«

226
»Woll!«
»Für die Rente bin ich viel zu jung, aba für umsonst in den
Zoo bin ich wieda zu alt.«
»Woll!«
»’ne Seniorenkarte für die BVG bekomme ich nich, bin ich
wieda zu jung. Aba eine Schülerkarte kriege ich auch nich,
da bin ich plötzlich zu alt.«
»Woll!«
»Ich kriege noch nich ma Ermäßigung für Fraun, wenn ich
in die Disco will. Da habe ich das falsche Geschlecht! Und
ziehe ich’n Fummel von meina Alten an, habe ich die fal-
schen Lover am Hals!«
»Woll!«
»Wir sind doch echt rundherum angeschissn! Wir zahln 40
Jahre in eine Versicherung ein, und brauchn wir sie, heißt
es: Oohhh, sorry, habn ebn die Bedingungen zu unseren
Gunstn geändert. Jetzt kriegste nur noch 12 Monate ALGI-
Asche!«
»Woll! Gestern sollte ich so’ne Zwangsvereinbarung un-
terschreibn! In dem Beamtenkauderwelsch heißt das wohl
»Eingliederungsvereinbarung«. Ich bin gelernta Klempna!
Die solln mir ein’n Job gebn, damit ich meine Familie er-
nährn kann. Aba nix Ein-Euro-Job, Dummsau!«

Es muß die Frage erlaubt sein: Was hat Waldfegen für


einen arbeitslosen Angestellten mit Weiterbildung zu tun?
Oder Altenpflege mit Wiedereingliederung für einen Inge-
nieur?
Jaaaa, wenn sie die regulären Löhne für die Arbeit bekom-
men würden, dann könnte man noch darüber reden! Be-
kommen sie aber nicht. Die Arbeitgeber erhalten den Profit
plus Euro 500 monatlich. Den Zwang zur Arbeit - sonst
keinen einzigen Euro - nennt man wohl Zwangsarbeit. Oder
lieber euphemistisch: temporäre Abenteuerfreizeit? Daß die
Binnennachfrage mangels Kaufkraft mit jedem Arbeitslo-
sen weiter sinkt, und damit neue Arbeitslose produziert, hat
sich zu den »Fachleuten« noch nicht rumgesprochen.

227
Die Spirale nach unten ist mittlerweile nicht mehr zu stop-
pen. Und der Zorn nach oben auch nicht.
Spannend!

Der Klempner fuhr fort.


»Gefiel mir alles inhaltlich nich, wollte ich nich. Hätte ich
unterschriebn, sagt mir dann ein halbverblödeta Richta, wir
habn Vertragsfreiheit, ich hätte ja nicht zu unterschreibn
brauchn, wenn ich mit dem Inhalt nich einverstandn wäre.
Sagt aba die Trude vom Jobcenta, wenn Sie nicht un-
terschreibn, dann kriegen Sie drei Monate kein Geld von
uns. Nette Vertragsfreiheit! Arbeite für Nichts oder verhun-
gre!«
»Und was willste machn?«
»Am Liebsten das, was gestern eina gemacht hat! Der hat
dem Anstaltsheini einen auf die Fresse gehaun. Alle habn
gegrinst und sich umgedreht. Da gibt es verbindlich keine
Zeugn für.«
Versonnen und verständnisvoll nickten die Beiden.
»Na, mal gucken, vielleicht hat hier jemand einen Job,
damit ich meine Familie satt kriege! Ich kann immerhin mit
einem Schweißgerät umgehn.« Und er zwinkerte dem Ge-
genüber zu.

Justus Brack taten die Beiden leid. Auf ihren Rücken wurde
Skat gedroschen. Sie waren nur Kollateralschäden eines
Auftragdiebstahls der deutschen und internationalen Indu-
strie über die Politik an dem Volk. Es sind die ausgemuster-
ten 50jährigen, mit guter Ausbildung, viel Lebenserfahrung
und grenzenlosem Haß auf die Politik von Regierung, Op-
position, Industrie und erblichen Beamtentum. Und die nun
für den Rest ihres Lebens pleite sind. Gefährlich daran ist:
»Intelligente Menschen können sich dumm stellen.« Umge-
kehrt klappt das nicht. Zum endlosen Bedauern der Regie-
rungsmitglieder.

228
Die Beiden hörten nur: »Nicht wettbewerbsfähig« und
wunderten sich über jährliche Exportrekorde, die von den
Nichtwettbewerbsfähigen eingefahren wurden.
Wir reden von einem Auftragdiebstahl der deutschen und
internationalen Industrie aus der Tasche des deutschen
Volkes. Die Unterschicht ist schon restlos ausgeplündert.
Die untere Mittelschicht ist gerade jetzt dran, und der Mit-
telstand kommt in drei Jahren dran. Und dann?
Aber nach ausländischen Computerfachleuten schreien!
Wir haben zwar 100.000 eigene Arbeitslose in der Branche,
aber Inder sind ja viel besser.
Die haben schon auf der Stirn den roten Resetknopf einge-
baut! Und können alle fließend deutsch!
Und sind die nicht die Erfinder des Indernets?
Also besuchen uns Machmahinda und sein Kumpel Hatte-
maanfatalerror und retten die dumme BRD vor BSE (Be-
sonders saudumme Entwickler)! Diese heilige Kuh sollte
man endgültig schlachten.
Irgendwann wird mal ein schwarzes Schaf, aber ein intelli-
gentes, unter den Regierungsbeamten darauf kommen, daß
wir von unseren begehrten Exporten nichts haben. Dann
endlich wird die Mehrwertsteuer als Umweltsteuer auch auf
Exporte erhoben! Dann verschenken wir nicht mehr unsere
Produkte und bezahlen die Umweltzerstörung durch die
Exportherstellung selber. Dann zahlt dafür der Käufer im
Ausland. Aber für ein derartiges revolutionäres Denken ist
die Zeit und sind die heutigen Beamten noch nicht reif!
Der Binnenmarkt war durch die politische Unfähigkeit
zusammengebrochen, und, Gnade Gott Deutschland, falls
der Dollar krachen würde! Die Kohl’schen Berater hatten
Anfang der 80er den Wirtschaftsumbaublödsinn auf An-
weisung des BDI eingefädelt.
Ja, ein Gangster, der 1990 das totale Ausplündern der Ren-
tenkassen anregte, wurde zum IWF befördert und beförder-
te gleich das ganze Argentinien in die Pleite und Armut.
Und der markiert heute den weisen Anführer der Deut-
schen. Ein Treppenwitz!

229
Ausgedacht von profilierungssüchtigen Betriebs- und
Volkswirten. Was wußten die beiden Kneipenbesucher
schon von den Mohns, von der Lisboa-Strategie oder der
Bolkestein-Richtlinie? Kommt ja in unseren Medien nicht
vor! Es waren zwei brave arbeitslose Kerle, die arbeitslos
waren, weil andere sich nicht superreich genug fühlten und
die Welt nach ihren Vorstellungen umbauen mußten. So’ne
Art: Regieren durch Zahlen! Diese Zwei wählten ihre Lieb-
lings-Politstricher immer wieder, ohne zu merken, wie sie
verarscht wurden. Aber irgendwann, irgendwann würden
sich die Beiden die Schweine greifen und umbringen. Und
Leute wie Brack mit seiner Villa und seinem Lexus als
reicher Typ würden ebenfalls dran sein. Brack spürte Wut
auf das verantwortungslose Gesocks, ihn in so eine Lage zu
bringen, zu der er ja nun wirklich nichts konnte! Am Later-
nenpfahl baumeln wegen der Feigheit und der Gier oder der
Dummheit von Abgeordneten. Wegen eines frömmelnden
Weltbildes der schlichtesten Art eines Einflußnehmers. Die
dumpf brodelnde Wut im Volk konnte er absolut verstehen.
Denn in ihm brodelte die gleiche Wut!

Ruud setzte sich zu Brack.


»Nichts los?«
»Wir müssen warten. Oder hast Du noch eine Idee, wo wir
ansetzen können? Na, siehste. Jetzt wäre etwas Zeit für
Dein Privatleben, wenn Du eins hast.«
»Privatleben? Was soll das in unserem Beruf sein? Ich bin
jetzt 29 und hatte noch nie länger als drei Monate lang eine
Beziehung, Freundin, ach egal.«
Ruud war verbittert. »Ich schiebe 2.000 Überstunden vor
mir her. Ich bin Hauptkommissar, verstehe meinen Job und
darf keine Familie gründen! Weil in kürzester Zeit mein
Dienstherr oder sogar ich selbst will, daß irgendein Fall
ununterbrochen bearbeitet werden muß. Aber auch meine
Familie würde mich zur gleichen Zeit dringend brauchen!
Dann kommt die Scheidung wie bei vielen Kollegen. Nöö,

230
dafür muß ich nicht heiraten.« Ruud machte eine Pause, ehe
er fortfuhr.
»Und dann die phantastische Auswahl an Frauengestalten.
Sex, ja, sicher. Kein Problem. Aber was ich suche, wird
heute doch garnicht mehr hergestellt. Ich möchte mit einer
Frau alt werden können, die Frau lieben, vielleicht unver-
schämterweise auch geliebt werden.«
Brack warf Ruud einen nachdenklichen Blick zu.
»Hast Du Dich mal mit Goethe beschäftigt? Macht man ja
heutzutage nicht mehr, weil so wenig bunte Bilder in seinen
Büchern drin sind! Ein kleines Gedicht vom Meister, heißt:
»Willkommen und Abschied«, letzter Vers.

»Doch ach, schon mit der Morgensonne


Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück.«

Lieben und geliebt zu werden, der alte Herr Geheimrat war


ein Durchblicker. Ist es das, Ruud, was Du suchst?«
»Genau! Aber nun wirklich genau! Kannte ich nicht. Sau-
gut, der alte Knabe!«
»Der »alte Knabe« war auch mal 29!«
Brack schmunzelte.
»Liebe ist die höchste Paradiesform auf Erden. Nicht er-
klärbar, nur erfahrbar. Ich kenne ein altes, junges Ehepaar,
das sich nach 40 Jahren Ehe immer noch liebt. Wenn ich
manchmal die Beiden beobachte, möchte ich mein ganzes
Geld dafür hergeben, nur um deren Gefühle auch mal zu
erfahren.«
Brack atmete tief ein.
»Heutzutage herrschen andere Sitten. Vor der Heirat wird
ein Ehevertrag geschlossen, als ob eine Ehe eine GmbH

231
wäre. GmbH kannste übersetzen mit »Gatte mit beschränk-
ter Hoffnung«. Wobei jeder, der einen Ehevertrag unter-
schreibt wirklich beschränkt ist. Was hat das mit Liebe und
füreinander Dasein zu tun? Nichts! Unsere mediale Promi-
nenz und die Politiker machen es uns dauernd vor. Fünf
oder sechsmal heiraten? Kein Thema! Entweder man heira-
tet wöchentlich oder garnicht. Oder »Lebensabschnittspart-
ner«. Die spinnen doch total. Das sind die gleichen Leute,
die keinen Beruf haben, aber sich großspurig Webdesigner
oder Eventmanager oder Weddingplaner schimpfen, anstatt
beschämt zuzugeben, daß sie berufslos sind.
Statt dessen wird von »Selbstverwirklichung« gelabert.
Man ist stolz darauf, ledige Mutter zu sein, und als Stra-
ßenpantomimin gejobbt zu haben. Krank!
Das sind dann die Trottel, die mit 40 die Heiratsinstitute
reich machen. Wer nimmt denn solche verkorksten Men-
schen als Partner? Nur andere verkorkste Menschen. Und
nach 20 Jahren Singledasein haben die keine Chance mehr,
ein Zusammenleben zu lernen. Und dann werden immer wir
von der Mordkommission gerufen.«
Ruud blickte amüsiert auf den sich ereifernden Brack.
Brack fuhr fort: »Weißt Du, warum die Scheidungsraten
explodieren?«
Ruud schüttelte gelangweilt den Kopf.
»Wegen der Antibabypille! Nein, nicht, was Du glaubst.
Viel filigraner! Die Antibabypille als Befreiung der Frau?
Denkste! Wie überall im Tierreich, und Menschen gehören
nun mal zum Tierreich, also wie überall im Tierreich, su-
chen die Weibchen die Männchen aus. Immer und überall.
Da kann der Mann von Eroberungen prahlen, soviel er will.
Ohne aktive Zustimmung des Weibchens läuft nichts!«
»Und was hat das mit der Antibabypille zu tun?«
»Pausen abwarten. Das Weibchen ist so programmiert, daß
es sich immer nur Männchen aus ihrer eigenen »Sippe«,
Stamm, oder sagen wir das böse Wort »Rasse«, nimmt. Das
ist im weitesten Sinne gemeint. Nun kommt die Antibaby-
pille ins Spiel. Die Frau kann wichtige unterbewußte Gerü-

232
che nicht mehr riechen. Durch die Antibabypille. Die sozia-
le Verständigung und insbesondere die Sympathie und
damit auch die Liebe hat viel mit dem "Sich riechen kön-
nen" zu tun. Die wahrgenommenen Riech- oder Duftstoffe
dienen uns auch zur Identifizierung von Artgenossen,
»Stallgeruch«, und von Feinden. Überlegungen wie materi-
elle Versorgung oder sexuelle Gier spielen bei Frauen eine
untergeordnete Rolle. Durch die Antibabypille wird das
Erkennen wichtiger Pheromone blockiert, und die Frauen
suchen sich den falschen Partner. Deswegen auch die vielen
Scheidungen. Klar, gibt es noch andere Gründe, aber das ist
der Hauptgrund!«
Ruud guckte ungläubig, ging aber darauf nicht weiter ein.

»Und Sie? Sind Sie verheiratet?«


»Nein!«
»Auch nicht die Richtige gefunden?«
»Doch. Zweimal.«
»Und?«
»Du bist zu neugierig, mein Junge. Viel zu neugierig. Aber
damit Du die Klappe hältst, die Eine ist schon lange tot, die
Andere sitzt schon lange im Rollstuhl. Aus jetzt!«
»Oh… Entschuldigen Sie bitte, Herr Brack… Ich hatte ja
keine Ahnung… Das…..« Ruud ging ein Licht auf. Brack
und die Baroneß. Eiweih, da war er wohl ins Fettnäpfchen
gehüpft.
Gottseidank kam Schunck rüber und unterbrach die Pein-
lichkeit.
»Naa, ernsthafte Gespräche in einer Kneipe? Worum
geht’s denn?«
»Frauen!«
»Grundgütiger! Die Menschen heute lieben die neuesten
Klamotten, aber nicht mehr ihren Partner. Verplempern ihre
Zeit in Fitneßklubs und wundern sich, wenn sie aus Zeit-
mangel keinen Partner finden. Aber haben einen tollen
Body! Damit’se alleine Klaviere schleppen können? Dafür

233
ham’sen Charakter wie’n eingetretener Stuhl. Und’ne Aus-
strahlung wie’n Paar alte Socken.
Da ist die schon ewig gelangweilte zukünftige Fleischerei-
fachverkäuferin Marke »Ich hätte gern Leberwurst, von der
Fetten, Groben…... Tut mir leid, die hat heute Berufsschu-
le«, und die wartet allen Ernstes auf einen Märchenprinzen
mit weißem Roß.
Warum sollte der sich ausgerechnet in diese Metzgerei
verirren? Um aus dem weißen Roß Rouladen machen las-
sen?
Oder in einem akuten Anfall von Masochismus eine unter-
durchschnittlich intelligente, aber dafür eine überdurch-
schnittlich geldgierige Frau suchen?
Den anständigen Busfahrer, der sie immer morgens anlä-
chelt, sieht sie einfach nicht. Busfahrer ist bestimmt unter
ihrem Stand! Und der kann ihr auch kein Leben im Luxus
und Überfluß bieten! Aber vielleicht ein anständiges Le-
ben.«
Brack und Ruud sahen sich grinsend an.
»Willkommen im Klub, mein lieber Justav. So ähnlich
sahen wir das auch gerade.« Brack guckte nachdenklich vor
sich her. »Was sich seit meiner Kindheit am meisten geän-
dert hat, ist die Lebenseinstellung. ….
Jeder kennt den Preis von Allem, aber niemand kennt mehr
den Wert. Dabei sind es immer die wichtigsten Sachen im
Leben, die man nicht kaufen kann. Gut, ich habe am wenig-
sten unter mangelnder Masse zu leiden, aber ich habe mir
vielleicht auch am meisten Gedanken gemacht. Geld
braucht man, um Essen, Trinken, Wohnen und Bekleidung
zu haben. Ein paar Extras dazu, die das Leben aufheitern.
Aber mehr? Wozu? Menschen, die sich über ihre Kohle
definieren, haben in ihrem Genpool ein paar Algen zu viel
drin!
Warum ist denn der Drogenkonsum zu einem Volksver-
gnügen geworden? Es ist die einzige Möglichkeit, aus ih-
rem armseligen und sterbenslangweiligen Leben zeitweilig
auszuchecken…

234
Arme Schweine haben es leicht. Sie können nur um ihrer
selbst willen geliebt und geachtet und respektiert werden.
Das ist der Vorteil des Armseins!«
»Sie sehen also im Armsein einen Vorteil?«
Brack war amüsiert.
»Ich könnte jetzt anfangen und sagen, daß Reichtum Dieb-
stahl an den Armen ist. Es geht auch nicht um bitterarm
sondern um nichtreich oder noch nicht einmal wohlhabend.
Eben gerade so viel, daß man sein Leben anständig leben
kann. Den Menschen in Deutschland geht es doch nur gut,
weil es den Menschen in der Dritten Welt schlecht geht!
Möchtet Ihr für ein Pfund Kaffee 100 Euro bezahlen? Nein,
zu teuer? Ist ein »Golf« 10.000 Kilo Kaffee wert? Oder nur
1.000 Kilo? Muß eine Friseuse nur 5 Euro die Stunde ver-
dienen, damit ein Vorstandsvorsitzender 5.000 Euro die
Stunde verdienen kann? Oder meine kleine Nebenbeschäf-
tigung. Ich…«
»Die müssen Sie uns aber erstmal verraten, Herr Brack!«
»Die letzten 15 Jahre tanzen weltweit die Kids auch nach
meiner Technomusik! Das dürfen die aber nicht wissen, daß
ihre Musik von einem steinalten Zausel gemacht wird!
Hehehe. Ich komme da auch auf einen Stundenlohn von
2.000 bis 3.000 Euro. Ich nehme das Geld natürlich gerne,
aber ungerecht ist das trotzdem schon! Ich arbeite doch
nicht länger als 3 Monate an so einer CD. Wir Künstler im
allerweitesten Sinne verdienen nach dem Prinzip der fleißi-
gen Bienen, hier etwas, da etwas und schon ist eine Million
voll. Ist das meine Arbeit wirklich wert? Ich weiß nicht.
Wenn ich Rumptata-Musik schreiben kann, ist das ein Ta-
lent, für das ich nichts kann.«
Ruud legte den Kopf schräg. »Und warum spenden Sie Ihr
Geld nicht einfach? Wenn Sie Ihren Verdienst für zu hoch
halten?«
Brack grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Wem denn?
Unseren tollen Institutionen, deren Vorsitzende irgendwel-
che abgehalfterten Politgangster mit einer Aufwandsent-
schädigung von 200.000 per anno sind? Och nää! Die müs-

235
sen sich ihr Geld schon ganz alleine ergaunern. Aber ohne
mein Zutun. Ich helfe gerne Notleidenden direkt! Anders
geht’s nicht. Ich kann die festgefügten Gaunereien nicht
ändern. …
Ein Berliner Blödelsänger mit einer verkorksten Stimme läd
Weihnachten immer Obdachlose zum Gänsebraten in ein
Hotel ein! Der hat meine schrankenlose Bewunderung. Der
tut was! Aber die Ehrungen um das Gemeinwohl erhalten
immer die Politgangster. Auf so einer Ehrenliste möchte ich
auch nicht stehen.
Ich kann die Meinungen der Politstricher nicht ändern, die
knapp ein Viertel unserer Nation hungern lassen. Aber
genau das müßte geändert werden! Wir brauchen einen
radikalen Systemwechsel! Wenn ein Armer kein Talent zu
irgend etwas hat, oder er sein Talent nie entdecken kann,
soll deswegen sein Leben verpfuscht sein? Nur weil viel-
leicht eine politische Ratte ohne Vater aufwachsen mußte
und seine soziopathischen Ideen in politischer Verantwor-
tung zum verbindlichen Gesetz machte? Es liegt in der
Natur der Sache, daß ein Anständiger weiß, was unanstän-
dig ist. Während ein Unanständiger noch nicht einmal wis-
sen will, was anständig ist! Jeder Mensch ohne soziale
Komponente hat das Anrecht auf den Titel »Mensch« ver-
spielt. Jeder Mensch ohne Gewissen und Mitleid darf pro-
blemlos »Schwein« tituliert werden, da sein Handeln am
Trog darauf ausgerichtet ist, Kümmerlinge wegzubeißen
und verhungern zu lassen. Und komme mir keiner mit
Darwins "Survival of the Fittest"! Das heißt eben nicht, das
Überleben der Stärksten, sondern das Überleben der am
besten Angepaßten. «

Ruud staunte. Ein sozialistischer Millionär! Schunck grin-


ste. Brack schloß das Thema: »Aber ehe wir hier endgültig
im Trübsal versinken…, ich gehe schlafen, meine Herren.
Nacht!«

236
Die Katakomben

Absurdistan, Berlin, Samstag, der 19. November,


05 Uhr 37

Brack fuhr aus dem Schlaf hoch! Er schaltete die Nacht-


tischlampe an und grinste milde und leicht zerstreut über
die vergebens hergestellte »Gemütlichkeit«. Aber allein der
Versuch war rührend und furchtbar nett.
Er versuchte, den Gedanken zu rekonstruieren, der durch
sein Unterbewußtsein geschlichen war. Die Alte von der
Klopsebraterei! Er kannte sie irgendwie. Auch strahlte ihr
Gesicht doppelt soviel Intelligenz aus, als der Rest der
Mannschaft des bekannten großen amerikanischen Speziali-
tätenrestaurants. Und ihre Aktion war haarfein durchdacht
gewesen. Von wegen »hysterische Alte«! Die hatte es auch
nett eingefädelt, daß sie weg von den Bullen kam. Wer war
die? Die hat uns irgendwie gelinkt! Und das Gefühl war
fatal! Brack wählte Ruuds Handy an.
»Ruud, wo bist Du? Zuhause?«
»Ich bin in der Lampe. Nebenan.«
»Ist Schunck auch da?«
»Der schnarcht neben mir im anderen Bett.«
»Los. In fünf Minuten im Billardzimmer. Angezogen. Ge-
stiefelt und gespornt! Beide.«

Verschlafen trafen sie sich im Billardzimmer. Brack hatte


einen der Kleingauner, die sie immer noch bewachten, dazu
bekommen, die Kaffeemaschine in Gang zu setzen und
erzählte Schunck und Ruud von seinem Gedanken.

237
»Ist doch kein Problem«, meinte Ruud. »Ich ruf mal bei
dem zuständigen Revier an. Das haben wir gleich.«
Nach sieben Minuten hörte er auf zu telephonieren und
schaute Brack merkwürdig an.
»Woher wußten Sie das? Sie ist weg!«
»Das heißt?«
»Weg aus dem Krankenhaus. Niemand hat gestern ihre
Personalien aufgenommen, weil sie schwer unter Schock
stand.«
»Ich habe es geahnt!«
Brack schlug mit der Faust auf den Tisch. »Scheiße!«

»Sie muß doch Fingerabdrücke hinterlassen haben.«


»In der Klopsebraterei trug sie Handschuhe und Häubchen.
Ist Pflicht. Und im Krankenhaus wird sie gewischt haben.«
»Zeichner! Sofort einen Zeichner hierher! Wir erstellen
eine Personenbeschreibung und jagen die durch den Com-
puter. Die ist clever und hat uns reingelegt!«

Nach 90 Minuten und viel Raterei hatten sie einen Namen


zu dem Gesicht: Gerda Golke, 64 Jahre alt, gesucht per
internationalen Haftbefehl wegen Mordversuchs und
schwerster Körperverletzung. Seit 14 Jahren gesucht und
auf der Flucht. Brack las die Akte und pfiff leise durch die
Zähne.
»Donnikowski! Alles klar. Die konnte nun wirklich nicht
auf uns warten. Irgendwas ist zwar an ihrer Sache oberfaul,
aber nicht unser Bier. Oder meint ihr, die hat was mit unse-
ren sechs toten Abgeordneten zu tun? In 15 Minuten sechs
Morde? Durch eine 64jährige?«

Ruud äußerte sich als Erster.


»Nöö, bestimmt nicht. Das ist wieder einer dieser vielen
merkwürdigen Zufälle hier. Seit Sie in Berlin sind, Herr
Brack, läuft nichts wie gewohnt! Ich hab’s aufgegeben,
mich darüber zu wundern. Sollen sich die Kollegen drum
kümmern.«

238
»Schade«, meinte Schunck. »Ich glaubte schon, Täter ge-
faßt, und ich dürfte mal wieder in meinem Bett schlafen.«
»Schlafen? Der Tag hat doch gerade erst angefangen.
Mooooogn Paulchen. Frühstück, bitte!«

Die Drei benahmen sich schon, als wären sie hier zu Hause.
Was ja in gewisser Weise auch stimmte.

239
Absurdistan, Berlin, Samstag, der 19. November,
07 Uhr 37

Der gerade intensiv Gedachten hätten eigentlich die Ohren


klingeln müssen. Aber Gerda hatte andere Sorgen. Sie muß-
te erstmal weg. Aber nicht aus Berlin, das sie in der Zwi-
schenzeit so gut kannte. Sie mußte in eine Schattenwelt
Berlins. In eine Parallelwelt. Zu den Pennern und Bettlern,
von denen es allein in Berlin über 50.000 geben sollte.
Sie hatte eine Zeitung verbrannt und verteilte die Asche in
ihre Haare. Sie lutschte ein paar Salmiakpastillen, damit
ihre Zähne dunkler wurden. Auch die Falten im Gesicht
und die Augenpartie zog sie mit der Asche nach und ver-
wischte sie leicht, daß nur die Falten dunkler waren. Nun
sah sie 20 Jahre älter aus.
Sie wendete Rock und Mantel und schmierte Asche dar-
über. Eine gefundene Pudelmütze und eine dicke Hornbrille
ohne Gläser, und ihre eigene Mutter hätte sie aus einem
Meter Entfernung nicht wiedererkannt. Nun brauchte sie
noch einen Schlafplatz. Aber da wußte sie was. Das unter-
irdisch ausgehöhlte Berlin aus der Vergangenheit bot
Schutz in der Gegenwart. Eine perfekte Pennerin mit ihren
Plastiktüten schlurfte langsam davon.

240
Absurdistan, Berlin, Samstag, der 19. November,
08 Uhr 03

»Hier spricht Nepomuk. Herr Brack, Sie waren so nett zu


mir, ich muß Ihnen was mitteilen.«
»Dann mal zu, Herr Nepomuk. Wo ist denn Don Carlos?«
»In seinem Alter will der immer so spät ins Bett. Der
schläft jetzt noch und ist zugedeckt.«
»Ahh, deswegen! Also, was gibt es denn?«
»Diese gräßlichen Menschen vom BKA haben bei mir im
Keller einen Zugang zu einem Tunnelsystem entdeckt! Da
hatte ich wirklich keine Ahnung von! Müssen Sie mir glau-
ben.«
»Glaube ich Ihnen doch, ganz ruhig, aber was hat das mit
mir zu tun?«
»Sie sind doch auch hinter den Abgeordnetenmördern hin-
terher, nicht? Und ich habe das BKA ein bißchen belauscht.
Und die sagten, ein Gang ginge zur U-Bahn, und da wären
Leute drin, im Tunnel, und hier kommen immer mehr Be-
waffnete in den Keller, und da dachte ich, daß lieber Sie
den Mörder festnehmen wollten, und einige vom BKA sind
in meinen Keller gegangen und gegenüber im Haus wieder
rausgekommen, und hier ist schwer was los!«
Nepomuk war ganz aufgeregt und Brack war gerührt. Es
dachte jemand an ihn.
»Danke, Herr Nepomuk. Ich komme gleich einmal mit
meinem jungen Kollegen vorbei. Bleiben Sie in Ihrer Woh-
nung, damit Ihnen nichts passiert!«
»Och, die vom BKA sind jetzt alle sehr nett zu mir und
passen auf mich auf. Zuerst wollten sie mich wegscheu-
chen, aber dann habe ich gesagt, ich hole meinen Papagei.
Da durfte ich bleiben. Bis dann, Herr Brack!«
241
»Moment noch, Herr Nepomuk. Wo ist denn das kleine
Mädchen aus Ihrem Hause?«
»Sie meinen das Evchen? Die ist hier. Ihre Großmutter
kümmert sich um sie.«
»Das wollte ich nur wissen. Bis dann, Herr Nepomuk.«
Brack überlegte kurz. »Ruud, auf, auf, es gibt Arbeit!«
»Sofort, Herr Brack«, murmelte Ruud mit vollem Munde
und stand auf.

242
Absurdistan, Berlin, Samstag, der 19. November,
08 Uhr 57

Die Pradistraße war voll gesperrt, und Ruud wurde mit


seinem Berliner Polizeiausweis einfach nicht durchgelas-
sen! Brack mußte erst sehr nachdrücklich mit seinem BKA-
Dienstausweis herumfuchteln, bis sich der Beamte bequem-
te, sie durchzulassen.
Unterwegs hatte Brack für Evchen einen kleinen Plüsch-
bernhardiner mit Fäßchen gekauft und ein silbernes Amu-
lett an einer dünnen Kette, in das er Namen und Telephon-
nummern von sich und Schunck anstatt Bilder reinge-
klemmt hatte. Er klingelte im Parterre.
»Ja?«
»Mein Name ist Brack. Ist Evchen zu Hause?«
Vor einer Antwort der Großmutter hatte Evchen Bracks
Stimme erkannt und kam den Flur runtergelaufen.
»Hallo Evchen. Guck mal, der ist mir nachgelaufen und
wollte zu Dir.«
»Ohh, ist der niedlich. Wie heißt der denn?«
»Mhh, ich glaube, der heißt Bernie und soll auf Dich auf-
passen.«
Evchen drückte den Plüschhund fest an sich und sagte
schüchtern: »Danke.«
»Du kannst doch sicher schon lesen und telephonieren,
oder?«
»Mmhhmmhh!«
»Das hier hängst Du Dir um den Hals. Da sind die Tele-
phonnummern von mir und dem anderen Polizisten drin.
Der war doch auch dabei. Wenn Du mal ganz große Sorgen
hast, rufst Du einen von uns an. Wir haben zwar immer viel
zu tun, aber wir werden Dir so schnell wie möglich helfen.
Ist das in Ordnung, Evchen?«
243
Evchen drückte Brack einen dicken nassen Schmatz auf die
Wange. »Jaaa!« Und rannte zurück in ihr Zimmer. Die
Großmutter schaute Brack lange an.

»Ich bedauere nur, daß Sie meinem Sohn nicht schon eher
die Leviten gelesen haben. Danke.«
Sie schaute zu Ruud, betrachtete seine Haarpracht, dann
sagte sie: »Frau Kapotschek von gegenüber meint immer:
Mein Mann kann ruhig eine Glatze haben, Hauptsache er
hat ein Pferdeschwanz!«
Und schloß die Tür.

Ruud stieg eine zarte Röte den Hals hoch, und Brack gab
abgewandt erstickte Geräusche von sich. Nach einer unge-
hörig langen Pause räusperte sich Ruud.
»Eyh, die Mutter des Monats! Und der Bel Ami der Wo-
che!« Ruud grinste. »Das schaffe ich ja noch nicht mal!
Zwei Eroberungen in drei Minuten.«
Brack guckte etwas tückisch. Daß er verarscht wurde, gefiel
ihm nicht, aber er nahm es einfach als Kompliment. Dafür
ließ er Ruud mal ein bißchen laufen.
»Geh Du mal hoch zu Herrn Nepomuk, sag ihm, daß wir
hier sind und komm wieder runter, ich frage mal im Keller,
was eigentlich los ist.«
Im Keller griff sich Brack den BKA-Einsatzleiter, der leise
aufstöhnte, als er Brack erkannte.
»Erklären Sie mal kurz, was hier los ist.«
»Hier gibt es wieder freigemachte Flucht- und
Tunnelwege durch die Bunkersysteme, durch die Kanalisa-
tion bis hin zu fast allen U-Bahn-Linien. Als meine Leute
kurz nachschauten, liefen mindestens 20 Personen davon.
Einige schossen auf uns. Und die räuchern wir jetzt aus!«
»Das gucke ich mir mit an. Ich brauche zwei BKA-Westen
und Gummistiefel.«
»Tun Sie, was Sie sowieso nicht lassen können. Oben im
Einsatzwagen gibt es alles. Aber nur auf Ihre eigene Ver-
antwortung!«

244
»Sowieso!«
Brack ging wortlos zum Treppenhaus zurück und winkte
Ruud, ihm zu folgen. Sie holten sich die Westen, Gummi-
stiefel und für jeden zwei Taschenlampen.
»So Ruud, jetzt geht’s in die Berliner Unterwelt. Daas ist
die Berliner Luft, Luft, Luft…«

245
Absurdistan, Berlin, Samstag, der 19. November,
09 Uhr 44

Gerda hatte vor Jahren, als man ihr sehr, sehr dicht auf den
Fersen war, in dem Berliner Untergrund einen kleinen,
abgelegenen Bunkerraum gefunden. Dieser Bunker hatte
zwei Ausgänge, und es standen noch sechs Hochbetten aus
Stahl drin. Das Besondere an diesem Bunker war die Tar-
nung seiner Eingänge und der kurze Weg auf eine belebte
Straße. Gerda hatte sich nun hier eingerichtet und holte
versäumten Schlaf nach.

Brack und Ruud stiegen gebückt durch die halbhohe Tür im


Kohlenverschlag in Nepomuks Keller acht steile Holzstu-
fen, fast eine Leiter runter, gingen durch vier Meter ver-
schalten und abgestützten Gang und befanden sich plötzlich
in einem hell erleuchteten Bunkersystem. Brack zog eine
Karte aus der BKA-Weste, auf der bekannte und vermauer-
te Bunker und Tunnel und Kanalisationen und U-Bahn-
Linien eingezeichnet waren. Das Ganze sah mehr aus wie
ein Schnittmuster eines Ballkleides.
»Wo lang sind die meisten Ihrer Kollegen gegangen?«
fragte Brack einen der rumstehenden BKA-Beamten. Der
zeigte auf eine offene Tür.
Brack hatte nur wenig Lust, in eine Schießerei verwickelt
zu werden, deshalb entschied er sich für die entgegenge-
setzte Richtung.
»Komm Ruud, hier lang. Wir können froh sein, daß das
Wort »BKA« überall auf unserer Weste leuchtet. Trotzdem,
bloß weg von den Wilden. Die sind ganz scharf auf eine
Schießerei. Ist’ne richtig hirntote Bande.«
Nach zwei weiteren Türen hörte das Licht auf, und es war
stockfinster. Nun leuchteten nur noch ihre Taschenlampen.
Es war wirklich ein Labyrinth hier unten! Nach drei Türen,
246
die sie aufs Gradewohl öffneten, und einer kleinen Kletter-
partie über Schuttberge - sie wußten schon längst nicht
mehr, wo sie eigentlich waren, standen sie in einem halb-
verfallenden Kanalisationsabschnitt, in dem es zum Über-
geben roch. Niemand möchte so ganz genau wissen, was
alles so durch die Toilette gespült wird. Lebende und tote
Tiere, lebende und tote Menschlein, Chemikalien, Drogen,
Essensreste, Verdautes, Anverdautes und Nichtverdautes,
ja, es konnte sogar passieren, daß sich von ganz alleine ein
hochexplosives Gemisch bildet, daß hoffentlich immer
schnellstens durch Wasserzufluß entschärft wurde.
Brack leuchtete etwas nervös hin und her, weil er schon von
Alligatoren oder Kaimanen in der Kanalisation gehört hatte.
Schlangen nicht zu vergessen. Was er aber gegenüber sah,
war eine weitere Bunkertür und eine Kolonie Ratten, die
sich fluchtartig verteilten.
»Gucken Sie mal, Fußspuren!« sagte Ruud, als sie die neue
Tür passiert hatten. »Da waren welche vor uns da!«
Mit bedeutend mehr Aufmerksamkeit gingen sie nun die
Gänge weiter, bis sie an eine zugemauerte Verzweigung
kamen. Die Fußspuren teilten sich, rechts liefen sie zu einer
Bunkertür, links gingen sie mitten durch die Mauer durch!
Brack öffnete vorsichtig die Bunkertür.
»Uäääääääh!« Halb zu Tode erschrocken fuhr Brack zu-
rück.
In einem kerzenbeleuchteten kleinen Raum saßen um einen
Sarg acht Figuren der Dark-Wave-Bewegung und starrten
aus bleichen Gesichtern mit schwarzen Lippen Brack und
Ruud an. Brack und Ruud starrten mit nun ebenfalls blei-
chen Gesichtern auf die Goths zurück. Nachdem alle eine
Weile gestarrt hatten, sagte Brack: »Wie gemütlich! Wei-
termachen!« und schloß wieder die Bunkertür.
»Jungejunge, diese lebenslustigen Typen können einem
aber auch einen Herzinfarkt versetzen.« Brack schüttelte
den Kopf. »Da denkt man sich nichts Böses und trifft auf
Draculas Kinder.«
»Gegen die war Ingmar Bergman ein Lachsack!«

247
»Die lieben Schlagzeilen der Blödzeitung wie: »Glück im
Unglück! Selbstmörder stirbt bei Rettung!««
»Zombietime. Kann man richtig Angst bekommen, wirklich
wahr!«
Da dachten sie nichts Böses und dann so was.
»Jetzt aber links rum«, meinte Ruud sich schüttelnd.
»Wenn die da durchgegangen sind, schaffen wir das auch!«
bemerkte Brack. »Los, das Schloß oder den Mechanismus
suchen!«
Ruud stolperte in seinen Gummistiefeln, schlug sich den
Kopf auf und wäre böse gefallen, wenn er sich nicht an
einem Stück Stahl aus der Betonarmierung festgehalten
hätte. Die Mauer öffnete sich einen halben Meter.
»Na also, die dümmsten Bauern haben…...« murmelte
Brack. » Bist Du in Ordnung? Dann mal leuchten und vor-
sichtig durch!«
Sie schlurften also durch den Staub und leuchteten in eine
richtige Betonhalle hinein, voll gestellt mit Tausenden von
Kartons und endlosem Krimskrams.
»Ist das alles noch aus dem Dritten Reich?« fragte Ruud
verblüfft.
»Weniger.« meinte Brack und leuchtete auf die Kartons.
»Es sein denn, Adolf hat mit Dell-Computern und Sony-
LCDs gearbeitet!«
Brack betrachtete aufmerksam die Hehlerware.
»Das hier ist eine Räuberhöhle. Wortwörtlich!«
Ruud hatte einen Lichtschalter gefunden. Schweigend und
staunend sahen sie sich um.
»Was wir so alles nebenbei entdecken, sagenhaft!« bemerk-
te Ruud.
»Sicher! Nur nicht das, weswegen ich in Berlin bin. Krieg-
ste Kontakt mit den Kollegen?«
Aber der Stahlbeton wirkte wie ein Faradayscher Käfig und
verhinderte jeden Handy-Verkehr.

Kopfschüttelnd hielt sich Brack vor Augen, daß dieses


Bunkersystem aus Beton ca. 70 Jahre alt war.

248
Und in Deutschland waren 17.000 Brücken, jünger als 50
Jahre, derartig marode und sanierungsbedürftig, daß kaum
noch ein Fußgänger drüber gehen durfte, geschweige denn
ein LKW mit 30 Tonnen! In unzähligen Gebäuden aus der
Nachkriegszeit rieselte der Beton davon. Aber die alten
Bunker waren nicht kaputtzukriegen. Ob es daran lag, daß
sich mancher Polier und viele Maurer im Bauboom der
Nachkriegszeit ein Häuschen mit den Fremdmaterialien
gebaut hatten? Auf Deutsch, mit dem geklauten Material
von den Kommunalaufträgen? Brack war richtig gespannt
darauf, was wohl passieren würde, wenn 10.000 Brücken in
Deutschland einfach ersatzlos gesperrt würden, weil natür-
lich kein Geld für einen Neubau da war. Oder Schulen und
Verwaltungsgebäude in unbekannter Anzahl!
Spannende Sache, das!

Sie suchten einen anderen Ausgang. Hinter einer Wand aus


leeren Kartons fanden sie ihn. Dahinter sah es so aus wie
überall vor ihnen.
»Und wo geht’s hier raus?«
Auf der Untergrundkarte sahen sie noch nicht mal, wo sie
sich eigentlich befanden.
»Wir gehen rechts lang. Wir suchen jetzt einen Weg nach
oben.«
Plötzlich sahen sie zwei Quergänge weiter eine Bewegung.
Die Taschenlampen reichten kaum so weit.
»Stehenbleiben, Polizei!« Ruud zog seine Pistole. »Ich
schieße!«
Die Gestalt blieb zögernd stehen. Und Brack und Ruud
stolperten vorwärts.
»Das ist doch…, das ist Gerda Golke!! Warten Sie, Gerda!
Laufen Sie nicht davon! Ruud, steck die Waffe weg. Sagen
Sie, Gerda, warum sind…«
Ein dumpfes, unterirdische Grollen und Pfeifen, das immer
schriller wurde, erfüllte die Luft. Ein Tornado in den Kata-
komben von Berlin? Warum wurde es denn plötzlich tag-
hell?

249
»Runter, Junge! Hinlegen, sofort!«
Ein heller Lichtschein gefolgt von einer Feuersäule brauste
wie ein D-Zug mit glühendheißem Atem durch den einen
Quergang sieben Meter vor ihnen und zog sämtlichen Sau-
erstoff ab. Hustend und nach Luft schnappend richteten sich
Brack und Ruud wieder auf. Ihnen standen durch die Hitze
die Haare zu Berge.
»Erbarmung! Was war das?«
»Da hat sich irgendwo was entzündet… Methangas, Butan-
gas, Benzin, was weiß ich. Gerda? GERDA!! Was ist mit
der? Los, weiter, dahinten hat sie gestanden!«
Aber Gerda war mal wieder verschwunden. Vielleicht ver-
brannt durch den glühenden Atem der Unterwelt.
Nach endlosen Abzweigungen sahen sie eine Treppe sich
nach oben winden. Sie stiegen hinauf und öffneten eine
Holztür, die nicht einmal abgeschlossen war.
Brack und Ruud standen in einem überdachten Hinterhof
neben ein paar flachen Werkstätten und Garagen, und 20
Meter weiter brauste der tägliche Verkehr durch Berlin. Das
Tageslicht hatte sie wieder!

250
Absurdistan, Berlin, Samstag, der 19. November,
14 Uhr 51

Brack und Ruud hatten sich gesäubert und frische Kleidung


angezogen und rätselten immer noch, was wohl mit Gerda
Golke passiert war. War sie tot? Man hatte bisher nichts
von ihr gefunden. Gedankenverloren mampfte Brack eine
Bulette nach der anderen. Wieder ein schöner Erfolg für das
BKA. Aber doch nicht für ihn!
»Ruud, Du mußt mal unsere Tagesberichte und Protokolle
schreiben. Brauchst Du aber erst zu machen, wenn Du Ruhe
und Lust hast. Das BKA und LKA und die Kollegen von
den Eigentumsdelikten haben da unten noch tagelang zu
tun.«
Ruud schaute nachdenklich auf Brack.
»Soll ich Gerda erwähnen?«

Sieh mal einer an, der Junge macht sich, dachte Brack.
Aber der Junge hatte auch ihre Akte gelesen und sich seine
Gedanken gemacht.
Und auch wenn er die durch seinen Beinahsturz verursachte
Kopfwunde mit einem Heftpflaster beklebt hatte, war das
beileibe kein Zeichen von Hohlraumversiegelung. Auf den
Jungen mußte er aufpassen und ihn ganz vorsichtig leiten.
Unbemerkt natürlich. Der wurde bestimmt mal große Klas-
se oder hörte eben gerade deswegen bei der Polizei auf!

»Ja, klar doch!« sagte Brack todernst.


Ruud blickte verstört und irritiert.
»Wir vermuten, daß sie durch die Explosion getötet wur-
de!«
Jetzt grinste Ruud zufrieden und zwinkerte.
»Genau das dachte ich auch!«

*
251
Gerda, deren Tod charmant übertrieben wurde, fühlte sich
quicklebendig und hatte beschlossen, Berlin doch zu verlas-
sen. Sie war sicher, im Bajuwarischen war es nicht so irre
wie in Berlin und viel gemütlicher. Es war halt ein lieber
Freistaat!
Sie hatte sich gesäubert und nach allen Regeln der weibli-
chen Camouflagekunst derartig aufgebrezelt, daß sie nun
als Dame im Wortsinne sich Fahrkarten, Kleidung und
Koffer besorgen konnte. Sie war sogar schon zweimal mit
»Gnädige Frau« angesprochen worden.

Die zwei Drogenfahnder, Mike und Charly, die aus ihrem


zerbeulten Toyota heraus gegenüber der »Lampe« ein türki-
sches Reisebüro observierten, hatten die Flugshow des
Heckenschützen verpaßt, weil das Radio wie üblich zu laut
war, und weil es hinter ihnen passierte.
»Möönsch, guck mal! Ist das nicht die Hammerwerferalte?
Die den kleinen Junkie geschafft hat?«
Gerda verließ gerade das türkische Reisebüro.
»Quatsch! Nee, die hier ist viel jünger und größer.«
Nachdenklich starrten beide ihr hinterher.
»Die bewegt sich aber tatsächlich so wie die Alte.«
»Los, die interviewen wir mal!«
»Nö, die sieht mehr aus, wie Frau Regierungsrat. Das gibt
Ärger!«
»Quatsch! Dann entschuldigen wir uns eben ganz höflich.«
»Ich weiß nicht?«
Eben, als die zwei Drogenfahnder, Mike und Charly, ihren
zerbeulten Toyota verlassen wollten, ging die Tür vom
Reisebüro auf, und ihre Zielperson erschien.

252
»Ach, lassen wir doch die Alte. Ist wirklich nicht unser Job.
Aber den da greifen wir uns. Wenn wir ihn bei irgendwas
erwischen.«
»Mann, haste Antibabypillen geschluckt? Du bist ja wan-
kelmütig wie ‘n Weib! Einmal hüh, einmal hott. WIE
JETZT NUN?... Ach, leck mich doch am Arsch!«

Auch wenn niemand solche Augenblicke bewußt nachvoll-


ziehen kann, da kommt man schon ins Grübeln und fragt
sich: Wer hat da denn wieder einmal den Daumen zwi-
schengehalten? Tatsache war, Gerda verschwand unbehel-
ligt.

Alle dösten im Billardraum vor sich her. Plötzlich winkte


Kalle aufgeregt zu Brack rüber und reichte ihm sein Handy.
»Herr Brack? Ich soll Ihnen von der Baroneß etwas ausrich-
ten. Treffen Sie Sonntag früh in München, um 9 Uhr 30 im
Englischen Garten am Chinesischen Turm, Herrn Oberst
von Haller. Soll ich es wiederholen?«
»Nein, danke. Meine Empfehlung an die Baroneß.«
Brack wandte sich an Schunck.
»Ich muß zum Bahnhof. Nach München. Aber ich fahre
alleine.«
»Kommt nicht in Frage, Justus. Haste Dein kleines Erlebnis
im Avon schon vergessen? Nix da! Ruud oder ich begleiten
Dich.«
»Wirklich, Herr Brack. Sie sind die Hauptzielperson. Und
alleine können Sie Ihre Augen nicht überall haben.«
»Ach Justav, Ruud, nett von Euch. Aber ich habe die In-
formation aus einer, hmm, nicht ganz so sauberen Quelle.
Willst Du kurz vor Deiner Pensionierung da mit reingezo-
gen werden? Ruud ist noch jung. Der kann auch mal die

253
andere Wirklichkeit in der Bundesrepublik kennen lernen.
Nää, ich fahre alleine.«
»Aber bis zum Zug begleiten wir Dich. Und ab da paßte
schön auf Dich auf!«
»Jaa, sonst werde ich Euch ja nicht los! Kalle? Frag mal
Deinen schlauen Computer nach Oberst von Haller, Mün-
chen!«
»Hrrrchh, mach ich, Justus. Hrrchh.«
Brack schaute herzlich zu Schunck und Ruud.
»Ihr zwei Beiden haltet hier die Stellung und sortiert neue
Erkenntnisse. Irgendwann müssen wir mal Glück haben
und ein Faden aufnehmen, der uns auf die Spur bringt. Wir
müssen einfach!«
»Hrrrchh, komm mal her, Justus. Lies mal. Hrrchh.«
Auf Kalles Bildschirm blinkte ein kleines Fenster: »Zugang
zu diesen Informationen verweigert. Identifizieren Sie sich!
Indiziert vom Militärischen Abschirmdienst.«
»Wow! Trenn die Verbindung, Kalle! Und dann neu ein-
loggen.«
Zu Schunck und Ruud gewandt, meinte er: »Kalle könnte
an die Informationen rankommen. Aber das geht auch spä-
ter. Wieso verweigert der MAD dem BKA Zugriff zu Per-
sonendaten? Hab ich ja noch nie erlebt. Jetzt bin ich doppelt
neugierig auf den adeligen Oberst!«

254
Die Bahn

Absurdistan, zwischen Berlin und München, Son-


nabend, der 19. November, 23 Uhr 48

»Die Bahn kommt… zu spät!« Der abgewandelte Slogan


zur Anlockung vieler neuer Passagiere schien angesichts
des über 300 Km/h schnellen Intercity-Zuges lächerlich.
Und doch war die pünktliche An- und Abfahrt der Reichs-
bahnen von vor 100 Jahren legendär und unerreicht. Natür-
lich begreifen die Amateure von Zugreisenden nicht die
Schwierigkeiten moderner Logistik im Personenverkehr.
Aber auch das neue Rumpelstilzchen in der Bahnführung
begreift es nicht. Ehrlicherweise muß gesagt werden, es
begreift niemand. Und je mehr man sich bemüht, desto
mehr Verspätung kommt dabei heraus. Dennoch hat eine
Intercityfahrt durchaus die abenteuerlichen Reize, wie sie
auch die Bahnpioniere erlebt hatten.
Mal eben nachts in der Walachei auf offener Strecke den
Stromabnehmer verlieren? Und dann im rumpelnden Uralt-
bus nach Hinterniederhausen gekarrt werden? Daß man
wirklich keine Lust mehr auf Vorderniederhausen hat?
Oder vier Stunden Sonderaufenthalt in einem Tunnel? Und
ein lebenswichtiges Verkaufsgespräch für einen zum Teu-
fel? Na, ist das nichts?

Die Reisenden, die für die groß geprahlte, aber nicht gelie-
ferte Pünktlichkeit und Schnelligkeit ein Schweinegeld
hinblättern durften, meuterten erst, als man ihnen die
»Speisewagen« mit ihren Plastikfraß zum Preis eines Drei-
Sterne-Menüs wegnahm. Dabei hätte doch eben Dieses sehr

255
viel zur allgemeinen Verbesserung der Volksgesundheit
beigetragen.
Die Marketinghampelmänner, die heutzutage zusammen
mit den Tintenpissern, früher Buchhalter, heute Controller,
in den Firmen das Sagen haben, wurden von der glänzen-
den Idee verfolgt, anstatt eines Speisewagens noch einen
zusätzlichen Wagen zur Personenbeförderung einzusetzen,
so könne man noch mehr Einnahmen erzielen.
Nach dieser feinen Logik sollte man aber auch die Trieb-
wagen wegfallen lassen, da sich dort nur zwei Personen
aufhalten, die noch nicht einmal Fahrkarten gelöst haben,
sondern im Gegenteil ein geradezu fürstliches Gehalt von
dem fürsorglichen Unternehmen forderten. Frechheit! Au-
ßerdem war alles zu komfortabel für die Fahrgäste. Alte
Viehtransporter würden auch reichen. Bei gleichen Preisen
natürlich. Dann wäre der Börsengang aber ein Welterfolg!
So dachten die Marketinghampelmänner und Controller. So
funktioniert heute kaufmännisches Denken. So schreibt
man Erfolgsgeschichten für den Insolvenzverwalter! 280
Milliarden Euronen Volksvermögen werden zum Sonder-
preis von 18 Milliarden ins Ausland verschleudert! Die
roten Zahlen können doch nicht nur von dem sagenhaften
Service her kommen! Jaja, in allen großen Firmen gibt es
heutzutage ganz viele Häuptlinge, aber nur noch ganz we-
nige Indianer.

Brack war es egal. Er reiste erster Klasse Schlafwagen, und


hatte ein Abteil für sich. Als er von der Toilette zurückkam,
stockte ihm das Herz, und seine Nackenhaare stellten sich
auf. Auf seinem Bett lag eine teure Karte aus Bütten, auf
der handschriftlich vermerkt war: »Vorerst haben Sie nichts
zu befürchten. Angenehme Nachtruhe.«

256
Er wühlte in dem Freßpaket, daß Schunck ihm trotz seines
Protestes zusammengekauft hatte. Zitternd entkorkte er
einen kalifornischen Roten und trank das erste Glas in ei-
nem Zug. Der Killer hätte… Er könnte jetzt… Das gab’s
doch nicht! Seine Glock! Wo war die? Er legte sie neben
sich. Sicherer fühlte er sich dadurch aber nicht.
Ob die Baroneß…? Die Baroneß. Schlagartig dachte Brack
bummelig 30 Jahre zurück. Hätte er sie nur eine Woche
eher kennen gelernt. Nur einen Tag eher! Das Leben geht
seltsame und verschlungene Wege. »Und wir?«, dachte er,
»wir können nie erkennen, was an unserem Weg gut oder
schlecht ist. Wir können aus freiem Willen gut oder böse
sein, aber wir können unser Schicksal eben nicht entschei-
den. Wir sind abhängig von anderen, die wiederum von
anderen abhängig sind. Und letztendlich wieder von uns
abhängig sind.«

Seine schleichende Wandlung vom Atheisten zum Agnosti-


ker zum fast Gläubigen hatte Gründe. Gründe, die er am
eigenen Leibe erfahren hatte. Brack glaubte schon lange
nicht mehr an Zufälle. Zufälle waren nicht erkennbare
Zwangsläufigkeiten. Die Moslems sagen dazu blumig: »Es
ist alles in Allahs großem Buch verzeichnet!« Er hatte ein-
mal zu oft erleben dürfen, wie der da oben den Daumen
dazwischen gehalten hatte. Das allerdings hielt ihn nicht
davon ab, den straff organisierten Gotteskult aller Religio-
nen zu geißeln. »Achtung, alle mal herhören, Sonntag um
10 Uhr zur Zwiesprache mit Gott in der Kirche treffen!
Aber zack-zack!« Was für ein gigantischer Blödsinn.
Wer zu Gott reden wollte, konnte das doch tun, wann im-
mer und wo immer er es wollte! Eine Vereinsmitgliedschaft
war dazu doch wohl nicht vonnöten. Nur wenn jemand
behauptete, Gott habe mit ihm gesprochen, war er immer in
Versuchung, die Herren mit dem weißen Jäckchen und den
langen Ärmeln zu rufen! Unbändige Freude machte es
Brack auch, wenn die diversen Gottesvereine mit ihrem
einzig wahren Glauben nicht daran dachten, daß allein ma-

257
thematisch sich zirka 75 % bis 100 % aller der diversen
Vereinsmitglieder als Volltrottel outen würden, wenn ein
anderer Verein recht hätte.

Unabhängig davon schaute Brack schräg rechts nach oben


und sagte laut: »Danke!«
Eine Antwort blieb natürlich aus, wurde aber von Brack
auch nicht erwartet.

Pastor Ambrosius schaffte es nicht, sein geradezu gemein-


gefährliches höchstzufriedenes Grinsen aus dem Gesicht zu
wischen. Er fuhr nach Tölz! Sein alter Bischof hatte ihn
gerufen. Und natürlich auch die zwölf Millionen! Sein
geliebtes Bad Tölz. Er spürte plötzlich die Gottesnähe la-
stend auf diesem ICE nach München. Pastor Ambrosius
sank ächzend in die Knie und betete.
»Herr, ich danke Dir für die wunderbaren Wege, die Du mir
über den Abtrünnigen Lüder aufgezeigt hast. Nimm ihn in
Deine Obhut und erspare ihm das Fegefeuer. Er ist ein guter
Mensch. Im Gegensatz zu diesem vermaledeitem Holzer!
Laß diesen über die Zeit schmoren.«
Kollege Lüder hatte ihm den Weg aus dem unverschämten
Testament gezeigt. Die kleine Klausel lautete:
»Pastor Ambrosius soll in der Weihnachtsaufführung seiner
Gemeinde in dem Ballett "Peter und der Wolf" den Wolf
tanzen. Lehnt er dieses ab, setze ich an seiner Stelle als
Universalerben den evangelischen Pastor Lüder, Berlin,
ein.«
Das war die kleine Klausel in dem niederträchtigen Testa-
ment! Und Lüder, der alte Fuchs, sagte gegen eine kleine
siebenstellige Spende aus dem Testament: »Kommen Sie
einfach auf die Bühne im Kostüm, stolpern Sie, fallen hin,
und Ihre Ersatzbesetzung tanzt weiter. Der Arzt stellt eine

258
Bänderzerrung fest. Aus! Sie haben nicht abgelehnt, haben
sich nicht zum Deppen gemacht und haben das Mitgefühl
Ihrer ganzen Gemeinde. Na, ist das was? Na, das ist doch
was!« Auch ein zu Rate gezogener Anwalt des Bischofs
fand an der Lösung nichts auszusetzen. Der Lüder war in
seiner schlitzohrigen Art fast schon ein bayerischer Katho-
lik.
»Dank Euch, himmlische Heerscharen!«
Pastor Ambrosius stand mühsam auf, als eine elegante
Dame wieder in das Abteil herein kam, die sich wohl eben
frisch gemacht hatte. Die Dame hatte eine fatale Ähnlich-
keit mit Gerda Golke! Pastor Ambrosius nickte ihr wohl-
wollend, ja äußerst freundlich zu.

Der Tod konnte Justus Brack nicht mehr schrecken. Das


Sterben schon! Der Unterschied war evident. Brack war
schon zweimal »tot« gewesen. Wobei er erst nach dem
zweiten Mal sich wieder an das erste Mal erinnerte.

Er war 39 Jahre alt gewesen, und er lebte damals mit Bett-


chen zusammen. Naja, sie hieß Elisabeth. Eine seiner kur-
zen Affären.
Er wachte völlig gegen jede Gewohnheit so um halb drei
auf und ging ins Bad. Plötzlich bemerkte er zu seiner maß-
losen Verblüffung und zu seinem endlosen Schrecken, daß
er nicht mehr atmen konnte. Weder bewußt noch unbewußt.
Er konnte sich anstrengen und konzentrieren, er atmete
nicht! Er beobachtet seine Brust und sein Zwergfell, keiner-
lei Bewegung! Er bekam keine Luft. Er erstickte! Er starb!
Seine Panik und sein Ankämpfen dauerte drei, vier, zehn,
vielleicht auch dreißig Sekunden, dann waren die Panik und
das Atmen wollen schlagartig vorbei.

259
Statt dessen überkam ihn eine tiefe Ruhe, ein grenzenloser
Frieden, eine sichere Geborgenheit vermischt mit einem
Gefühl universeller Liebe, er hatte so was vorher noch nie
auch nur annähernd verspürt. Nicht zu beschreiben, weit
außerhalb jeder Lebenserfahrung. Das war der Augenblick,
in dem er wußte, auch wenn sein Körper starb, er würde
weiterleben!
Ein süchtig machendes Gefühl, er wollte mehr. Er glaubte
sich nicht bewußtlos oder so, er sah, wie alles heller und
transparenter wurde. Aber er konnte sich, respektive Teile
von sich nicht mehr sehen! Normalerweise sieht man seine
Arme oder Bauch oder Brust immer noch aus den Augen-
winkeln, aber er sah sie nicht! Jedoch sonst war alles klar
und scharf. Die Wände seines Badezimmers wurden, nun
ja, so was wie durchsichtig. Aber hinter den Wänden war es
schwarz oder besser gesagt, gar keine Farbe! Er gab sich
voll diesem süchtig machenden Gefühl dieses einmaligen
Friedens und der echten Liebe von Vielen hin, als er von
Bettchen geschüttelt und in den Arm genommen wurde. Er
saß auf dem geschlossenen Toilettendeckel, und seine erste
Reaktion war Zorn und Frustration! Man hatte ihn bei der
schönsten Erfahrung, bei dem schönsten Gefühl seines
Lebens gestört! Er war wieder in einer Welt, die er nicht
mochte, die er eben überwunden hatte.
Warum Bettchen aufgestanden war und ihn wieder zurück-
geholt hatte, war rätselhaft und nicht erklärbar! Er hatte
jedenfalls seit dieser Nacht keine Furcht mehr vor dem Tod.
Im Gegenteil, Brack erwartete ihn ungeduldig mit offenen
Armen.
Ein paar Tage später fiel es Justus wieder ein, er war schon
mal »tot« gewesen. Er war fünf Jahre alt und hatte Schar-
lach. Mit extrem hohen Fieber. Doch plötzlich waren die
Hitze und der Schüttelfrost fort. Er sah sich aus einer Höhe
von etwa sechs Metern in seinem Bett liegen. Er fühlte sich
pudelwohl, er konnte sich auch bewegen. Das Bett und sein
Körper waren wie in einem Scheinwerferkegel, der nur
etwas ausfranste und dann abrupt endete. Den Rest des

260
Zimmers sah er nicht. Und ihm ging es sehr gut. Sehr, sehr
gut! Das war alles, woran er sich erinnern konnte. Aber da
war noch was. Als Kind war Justus oft krank. Sehr oft. Was
sich so mit 13, 14 gegeben hatte, und er als Erwachsener
danach so gut wie nie krank war. 35 Jahre keinen Arzt zu
sehen, hielt er für einen Segen.
Aber immer wenn er als Kind Fieber hatte, und es ihm
schlecht ging, versuchte er diesen tollen Zustand unbewußt
wieder herbei zu führen, den er als Fünfjähriger erlebt hatte.
Ohne, daß er wußte, warum er diesen Zustand wollte. Wie
stark mußte der Eindruck auf einen Fünfjährigen gewesen
sein!
Sein bewußtes Leben wurde mit 39 grundlegend anders. Er
verplemperte sein Leben nicht mehr mit irgendeiner sinn-
entleerten Arbeit und zeittotschlagenden Beschäftigungen,
keine Vereine mehr, kaum noch Geselligkeiten, kein Blah-
blah und wenig Eitelkeiten, dafür mehr direkte Hilfe für
die, die er kannte, die er mochte, und die ihn brauchten. Er
wurde ehrlicher, offener. Brack wußte, daß jedem Men-
schen, ob alt oder jung, Mann oder Frau, Krüppel oder
Modellathlet, schwarz oder weiß, arm oder reich nur eine
freie Willensentscheidung gegeben war: Gut oder Böse zu
sein! Er hielt sich nicht für einen besseren Menschen als
zum Beispiel sein Nachbar, aber Brack war und wurde
anders! Er wollte weniger böse sein. Und er wußte, daß
andere Dinge im Leben zählten. Nicht Macht und Geld!
Obwohl er genau davon reichlich hatte. Ohne sein willentli-
ches Zutun. Die zwei wichtigsten Ziele im Leben hatte er
nicht erreicht. Er hatte, soweit er wußte, keine Kinder, die
ihn liebten, und er hatte keine ihn liebende Ehefrau. Und er
war einsam, weil er nach dem Tod seiner damaligen zu-
künftigen Ehefrau nicht noch einmal die Verzweiflung und
die hilflose Wut durchmachen wollte. Natürlich informierte
er sich über seine »Tode«, und die ähnlichen Erlebnisse
ebenfalls Betroffener, aber er blieb erstaunlich oberfläch-
lich und desinteressiert dabei.

261
Bis er bei einem zufälligen Besuch in Venedig bei der Sta-
tion San Marco mit dem Wassertaxi anlegte und den Do-
genpalast als ganz normaler Touri besuchte. Der Dogenpa-
last befindet sich inmitten der berühmtesten Sehenswürdig-
keiten Venedigs: Markusplatz, Markuskirche, Markusturm
und Seufzerbrücke.

In einem extrem klimatisierten Raum - es war auf deutsch


arschkalt - befanden sich hinter dickem Glas einige Gemäl-
de auf Holz von Hieronymus Bosch. Er wollte wegen der
Kälte den Raum schon wieder verlassen, da sprang ihm das
Triptychon »Der Flug zum Himmel« ins Auge.

Auch wenn er das so nicht erlebt hatte, er erkannte seine


Nahtoderfahrung wieder. Und wenn man den Kontext der
damaligen Zeit abzog, mußte es wohl eine durch alle
Menschheitsalter immer wiederkehrende millionenfache
Erfahrung sein. Brack beschloß, einfach nicht mehr so ein
dummes Getue um seine zwei »Tode« zu machen.
Die Gedanken, die sich Brack wie jeder halbwegs intelli-
gente Mensch über die Zeit vor seiner Geburt und nach
seinem Tod machte, führten ihn selbstverständlich nicht
weiter. Alles waren Spekulationen. Aber… Er sah einmal
im Fernsehen eine Reportage über Nahtoderlebnisse und
wurde von dem Bericht einer seit ihrer Geburt Blinden zu
weiteren Gedanken angeregt, die ihm verblüffende Indizien
lieferten.
Die Blinde, die von Geburt an nie etwas Anderes als das
Dunkel gesehen hatte, konnte während ihres Sterbeerlebnis-
ses sehen! Sie sah farbige Flecke, die sich bewegten. Das
hatte sie so nachhaltig verstört und in Panik versetzt und
grenzenlose Angst hervorgerufen, daß sie froh war, wieder
reanimiert und ins Leben zurückgeholt zu werden. Sie war
froh, wieder blind zu sein! Froh, wieder blind zu sein! Das
muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Sie
konnte mangels Erfahrung mit den farbigen Flecken und
der gesehenen Bewegung nichts anfangen.

262
Der Gedanke dahinter, der Brack nun umtrieb, war, daß es
eine einfache Frage geben mußte, die Jeder beantworten
konnte. Dann wäre ein starkes Indiz für eine Trennung von
Körper und Seele gegeben.
Also beschäftigte Brack sich mit dem Schlaf und den
Träumen. Daß der Schlaf zu Regeneration von Geist und
Körper dienen soll, hielt er für platte Propaganda.
Wenn man weiß, wie oft man sich in der Nacht herum
wirft, wie stark man mit den Augen rollt, wie man schwitzt,
wie das Rückgrat vom falschen Liegen her schmerzt, wel-
ches Herzrasen man manchmal beim Erwachen hat, wie
man die Kiefer zusammenpreßt und mit den Zähnen
knirscht, kann wohl von Regeneration nicht ernsthaft die
Rede sein. Von irgendwelchen Albträumen ganz zu
schweigen.

Brack fand die einfache Frage mit der verblüffenden Ant-


wort! Fragt man einen Kurzsichtigen, ob er sich an einen
Traum erinnern kann, dessen Inhalt er noch nie irgendwo
vorher gesehen oder erlebt hat, zum Beispiel so was wie
achtbeinige pinkorange gestreifte Bären von sieben Meter
Größe: »Hast Du den Traum glasklar oder wie ohne Brille
verschwommen gesehen?«, dann bekommt man meistens
zur Antwort: »Glasklar!« Der Rest der Antworten heißt:
»Weiß nicht!«
Wie ist das möglich? Bitte? Das Gehirn setzt die Bilder im
Traum geschärft zusammen? Soso! Es wäre für alle Brillen-
träger vom Gehirn sehr freundlich, wenn es das auch tags-
über machen würde! Tut es aber nicht. Es sieht also so aus,
als ob unser Körper uns in unseren Wahrnehmungen behin-
dert. Und wir »ohne« Körper wieder zu uns selbst werden.
Wenn wir also ohne Körper besser funktionieren, ist ja
wohl die Frage, warum wir uns das mit dem Körper antun.
Oder warum uns das angetan wird! Oder können wir nur
mit einem festen Körper bestimmte Dinge schaffen? Na,
das werden wir Alles erfahren. Früher oder später. Leider
wird unsere Neugierde dadurch heute nicht befriedigt.

263
Und durch einen Assassinen wollte Brack nicht unbedingt
seine Neugierde schnellstens befriedigt sehen.
Brack freute sich jedesmal wie ein kleines Kind, wenn er
irgendwo was von »Künstlicher Intelligenz« las. Für ihn
wäre natürliche Intelligenz vorrangig gewesen, aber wer
war er schon, um so was zu fordern? Die Amerikaner waren
darin sehr konsequent. Sie brauchten intelligente Bomben,
dafür aber nicht so ganz intelligente Menschen. Und es
gelang spielend!
KI, Künstliche Intelligenz, oder auch AI, wie sollte das
gehen? Was sollte das sein? Wie definieren Menschen
Intelligenz? Problemlösungen! Es sind wohl alle Maßnah-
men und Handlungen, die die gezielte Unversehrtheit und
stärkste Erleichterungen des Daseins eines Menschen zur
Folge haben. Jedenfalls zu 99%.
Ein Computer aber wird niemals Hunger verspüren, und
alles tun, um diesen Zustand abzustellen. Er wird auch nicht
schwächer werden, falls es ihm nicht gelingt. Er wird auch
nicht das angenehme Gefühl der Sättigung erfahren. Und
das Müdewerden nach einer opulenten Mahlzeit. Er wird
nicht den Zwang kennen, zu defäkalieren und zu urinieren.
Die universelle Triebfeder seines Seins wird auch nicht die
Reproduktion sein, das ununterbrochene Überzeugen des
geschlechtlichen Widerparts von der Qualität seiner Gene.
Undundundund… Intelligenz ist also abhängig von Mög-
lichkeiten zur Befriedigung der Bedürfnisse des Körpers!
Also, was für Bedürfnisse hat eine Intel-CPU? Definitiv
nicht die eines Menschen. Und damit ist KI im Ansatz ge-
scheitert!

So wie Gott es nicht geschafft hat, einen Menschen zu bau-


en, der intelligenter ist als er selbst, wird es den Menschen
nicht gelingen, einen Computer zu bauen, der intelligenter
ist als er. Siehe oben. Na, und wozu dann das Ganze? Und
falls der Computer jemals eine andere Intelligenz besitzt,
ist es doch die Frage, ob wir Menschen das brauchen kön-
nen! Daß das Ding schnell rechnen kann, na und, et alors,

264
so what? Unser Leben setzt sich eben nicht nur aus mathe-
matischen Formeln zusammen. Und das wird so eine
Blechkiste niemals begreifen. Und Menschen mit einem
starken emotionalen Defizit auch nicht. Man ist immer auf
der Suche nach Formeln, die die Welt erklären! Wenn die
Welt so simpel wäre, daß wir sie erklären könnten, wären
wir so simpel, daß wir es eben nicht könnten. So oder so
ähnlich erklärt’s der Erklärbär. Eine Formel für die Liebe?
Wer will das?

Der Mensch hat definitiv eine eingebaute Erkenntnisbrem-


se. Wie oder warum ist das Erste entstanden? Woraus?
Oder, wie hieß der Gott, der den Gott erschuf, der Gott
erschuf? Man kann die Probleme des Ersten in andere Di-
mensionen verlegen, verschiebt aber damit nur das Pro-
blem. Gott kann sich nicht selbst erschaffen haben, da dann
zuerst ja wieder irgend etwas von ihm hätte vorhanden sein
müssen. Jaja, der homo sapiens in seiner ganzen Pracht und
Beschränktheit!

Justus Brack wachte aus seinem Halbschlaf auf und sah aus
dem Fenster. Bald war er in München. Er war gespannt auf
einen Oberst von Haller. Über den niemand Informationen
bekam, den die Baroneß aber so gut kannte, daß sie eine
Verabredung arrangieren konnte. Putzige Sache.

Brack stieg am Münchner Hauptbahnhof in die zweite Ta-


xe. Die erste wurde von einer fröhlichen unförmigen Ge-
stalt geentert, die Brack vage bekannt vorkam. Ein lebens-
lustiger Priester. Typisch Bayern eben.

»Zum Englischen Garten, bitte.«


An der roten Ampel vor dem Bahnhof sah er durch den
Nieselregen, wie eine elegante ältere Frau in Gegenrichtung
ebenfalls eine Taxe bestieg. Das Radio spielte »Wenn I a
Bayer wär’«. Plötzlich zuckte er zusammen.
»Gerda Golke? … Anhalten, halten Sie an!«

265
Aber das Taxi war in diesem Augenblick losgefahren und
der Fahrer meinte gemütlich: »Herrschaftszeiten nochama-
ol, hier kann i’ gleich gar net nie nicht halten!« Und fuhr
weiter. Und in der anderen Richtung verschwand Gerda
Golke aus Bracks Augen.

Wir bewegen uns auf Bahnen, die wir nicht kennen, dachte
Brack, wir umtanzen einander, wir nähern und wir entfer-
nen uns wieder von einander. Manchmal liegt auch ein
riesiges Hindernis auf unseren Bahnen, das alles durchein-
ander bringt, und uns zu Umwegen zwingt. Und dann trifft
man sich nie wieder. Seltsam.

266
Der Oberst

Absurdistan, München, Sonntag, der 20. Novem-


ber, 9 Uhr 37

Brack wartete im Englischen Garten am Chinesischen


Turm. Es goß in Strömen. Endlich kam ein ungefähr
70jähriger Mann unter einem Schirm auf ihn zu.
»Herr Brack? Haller. Verzeihen Sie meine Verspätung. Das
ist sonst nicht meine Art. Aber ich mußte etwas auf meinen
Dealer warten.«
Die Irritation von Brack war ungekünstelt.
»Oh! Ich dachte, das wüßten Sie. Ja. Ich werde vom Krebs
aufgefressen, suchen Sie sich einen Namen aus. Leber-
krebs, Nierenkrebs, Magenkrebs, Lungenkrebs, nur Herz-
krebs scheint es nicht zu geben. Merkwürdig, nicht wahr?
Ist so ziemlich alles befallen. Und der Krebs hat noch etwa
eine Woche oder zwei zu fressen, bis er sich und mich
umbringt. Aber ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen
zu Tode langweilen. Jedenfalls brauche ich morgens mei-
nen Schuß, um mal für vier Stunden schmerzfrei zu sein.
Und mein Dealer ist ein sehr netter Junge. Er setzt mir den
Schuß immer persönlich.«
»Verschreibt Ihnen denn Ihr Arzt kein Morphium?«
Oberst a.D. von Haller lachte. »Ohne Ende. Aber Morphi-
um ist grau, Heroin bunt! Ich bevorzuge bunt! Und Zeit,
über meine Abhängigkeit nachzudenken, habe ich nicht
mehr.«
»Und Operation, Bestrahlung, Chemotherapie? Keine
Chance?«

267
Brack fragte so, wie eben anteilnehmende Bekannte gedan-
kenlos fragen. Der Kranke aber hat todsicher alle Möglich-
keiten geprüft!
»Ich habe Krebs und wünsche dann auch an Krebs zu ster-
ben! Nicht an der vorgeblichen »Kunst« der Medizinkoof-
michs! Außerdem vermute ich, daß es ein Krebsheilmittel
längst gibt. Aber das Geschäft mit dem Krebs ist derartig
riesig, da wünscht sich niemand aus der Gesundheitsindu-
strie ein Heilmittel. Vielleicht die Betroffenen, aber
sonst…?«
Haller lächelte.
»Kommen Sie, wir suchen uns eine Bank. Sie wollen sicher
viel wissen.«
Beide setzen sich unter ihren Regenschirmen auf eine Bank
mit einer beeindruckenden Aussicht.
»Das ist mein Lieblingsplatz. Ist auch schön hier im Re-
gen.«
Von Haller sah Brack an.
»Schmerz ist so eine Sache. Habe immer geglaubt, ich wäre
ein harter Bursche. Aber… Ich war Soldat. Ich war gerne
Soldat. Mein Leben war die Verteidigung der Bundesrepu-
blik! Beschützen! Feinde abwehren. Ich wollte nie etwas
Anderes werden. Können Sie sich vorstellen, daß heute die
Weicheier ihre Familie beschützen würden? Weicheis Kin-
der, die ihm fremd sind, deren Gedanken er nicht kennt und
auch nicht mehr kennen will? Die es ums Verrecken nicht
kapieren, warum ihnen der Alte weder Pferd noch Porsche
hinstellt? Weicheis Frau, die ihn haßt und verachtet, weil er
zu blöd ist, den immer gezeigten mühelosen Reichtum aus
dem Werbefernsehen auch mal für sie zu ergattern? Warum
sollte er denn auch kämpfen? Er hat ja nichts, wofür es sich
lohnt.«
»Man sollte es vielleicht garnicht zum Krieg kommen las-
sen!« warf Brack ein. »Krieg vermeiden ist erfolgreicher.«
Der alte Mann sah ihn verächtlich an.
»Ich hatte gehofft, daß ich eines meiner letzten Gespräche
nicht mit einem Kretin führen müßte. Krieg vermeiden?

268
Sind Sie schon senil? Jetzt, in dieser Sekunde sterben ir-
gendwo Menschen in einem Krieg! Wie viele Kriege haben
wir aktuell auf diesem Planeten? 80? 90? 100? Deutsche
Soldaten befinden sich auf vielen fremden Territorien. Und
sterben ohne Sinn und Verstand. Ich verurteile das auf das
Schärfste! Die Bundeswehr soll Deutschland verteidigen,
aber nicht das Grundgesetz am Hindukusch! Oder die
Mohnfelder da. Damit die CIA unbehelligt das Opium ab-
transportieren kann. Wer immer das mit dem Hindukusch
gesagt hat, wäre bei einem IQ-Punkt weniger eine Pflanze!
Und? Wo ist denn da Ihr Vermeiden?«
Brack war irritiert und erstaunt. Auf was für Gebieten be-
wegten sie sich in diesem für ihn wichtigen Gespräch? Er
beschloß zu provozieren.
»Das sind auch UNO-Friedensmissionen!«
»Krieg führen für den Frieden? Warum dann nicht vögeln
für Jungfräulichkeit? Sie müssen sich mal Ihre Birne spie-
geln lassen! Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise. Aber
Dummheit regt mich auf. Sie müssen die mistige Propagan-
da aus Ihrem konditionierten Gehirn ausblenden! Wir sind
in fremden Ländern, weil wir etwas haben wollen. Es gab
keinen Tag in der Menschheitsgeschichte ohne Krieg. Es ist
immer das Gleiche. Der Eine hat was, was der Andere ha-
ben will. Und wenn er sich stärker glaubt, na, dann nimmt
er es sich! Das will der Andere nicht zulassen, wehrt sich,
und Sie haben Ihren Krieg. Nicht daß wir uns mißverstehen,
junger Mann, kein Krieg ist eine prachtvolle Idee! Aber
unsere Tünche der »Zivilisation« ist dünn. Viel zu dünn!
Hat nichts mit der Realität und unseren Instinkten zu tun.
Der Sieger hat immer recht, und der Verlierer ist Sklave.
Bis es von Neuem losgeht. Aber darüber wollte ich garnicht
reden… Also, in media res! Wußten Sie, daß die höchste
Produktion von Waffen aller Art in Deutschland erst im
Dezember 1944 erreicht wurde? Kurz vor Kriegsende?«
»Bitte verschonen Sie mich mit alten Nazigeschichten!«
»Das ist keine Nazigeschichte, es fängt da nur an. Bitte
sehr! Sie können gerne wie alle Deutschen die Zeit von

269
1933 bis 1945 einfach ausblenden. 32 geht nahtlos in 46
über. Toll! Ohne Großeltern und Urgroßeltern. Super Idee!
Nützt nur nichts. Unser Gegenwartsleben basiert auf dieser
Zeit. Sie können sich auch von profilierungssüchtigen Pro-
paganda-Professoren im Buntfernsehen vollsülzen lassen.
Ist auch keine Lösung… Werden Sie nicht schlauer von. Im
Gegentum! Sie kennen doch diese dummerhaftigen »Ge-
schichtsserien«? »Hitler und die Goldhamster« oder »Hitler
und das Blumengebinde«!
Sie suchen also Nazis? Wo versteckt man einen Baum? Im
Wald! Und einen lupenreinen Brillanten? In einer Flasche
Wasser! Und wo verstecken sich Nazis? Unter Demokraten
oder unter denen, die sich dafür halten. Und wie sorgen die
Nazis dafür, daß man sie nicht findet? Man baut einen Po-
panz auf. Neonazis! Alle schlagen auf die Schlagetots ein,
Gesetze werden extra deretwegen erlassen, man unterwan-
dert sie mit Polizei und Geheimdiensten, und was findet
man? Blöde Glatzen! Während die echten Nazis Deutsch-
land umbauen. Ein Reichsarbeitsdienst ist durch »demokra-
tische« Zwangsarbeit schon weit übertroffen worden. Aber
das interessiert doch keine Sau. Sind ja alles super Demo-
kraten. Egal.
Aber weiter. All die versprochenen Wunderwaffen existier-
ten! Auf dem Papier und in der Erprobung. Man hatte nur
keine Zeit mehr. Deutschland wollte Amerika mit Atom-
bomben durch Raketen angreifen. Die V3 und V4 wurden
bereits gebaut und erprobt. Das waren mehrstufige Exem-
plare! Tausende Menschen haben die Dinger über Norwe-
gen wegfliegen sehen.«
»Was soll das hier werden, Oberst? Eine Märchenstunde?«
Brack echauffierte sich. »Das ist doch alles tausend Mal
von Journalisten und Historikern widerlegt worden!«
»Ach wissen Sie, Napoléon Bonaparte sagte: »Geschichte
ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.« Was Caesar in
»De Bello Gallico« so für faustdicke Lügen über die Gallier
und Germanen erzählt, ist zum Haare ausraufen. Daran hat
sich bis heute nichts geändert!

270
Es gibt zwei Sorten von Schreiberlingen. Die einen decken
auf, die anderen decken zu. Letztere verdienen doppelt.
Wissen Sie, daß bei einem ehemals berühmten, jetzt nur
noch berüchtigten Nachrichtenmagazin die Journalisten
eine Klausel unterschreiben müssen, nichts Negatives über
zwei ausgesuchte befreundete Folterstaaten zu schreiben?
Und über die kriminelle deutsche Wirtschaft sowieso nicht.
Es ist doch schön zu wissen, daß es in machen Ländern gar
keine Schweinereien und Gangster gibt, nicht wahr? Ich
Dummerchen dachte, Sauereien und Verbrechen gäbe es
überall. Wie schön, daß in diesen Ländern Soldaten auch
keine Kinder im überfallenen Ausland ermorden. Man
sollte sie trotzdem nicht als Vorbild nehmen. Da ist mir die
europäische Kultur mit all ihren Fehlern lieber. Das ist
wenigstens Eine!
Zurück zum Thema. Das letzte U-Boot, U 234, aus
Deutschland auf dem Weg nach Japan, hatte eine komplett
zerlegte Me 262 an Bord. Das war der erste serienmäßig
produzierte Düsenjäger der Welt. Eine halbe Tonne Uran-
oxid, wahrscheinlicher aber richtiges waffenfähiges ange-
reichertes Uran. Konstruktionspläne von weiteren Wun-
derwaffen.
1947 präsentierte Kalaschnikow ein Sturmgewehr, das 1949
eingeführt wurde. Die berühmte Kalaschnikow begründete
den guten Ruf sowjetischer Waffen. Lächerlich! In Ka-
laschnikows Konstruktionsbüro arbeiteten bis in die 50er
Jahre zahlreiche in die UdSSR verschleppte deutsche
Zwangsarbeiter, darunter der Konstrukteur Hugo Schmeis-
ser, der das Sturmgewehr 44 erfand. Und die Kalaschnikow
ist dem Sturmgewehr 44 wie aus dem Gesicht geschnitten!
Alles erlogen? Meinetwegen. Bei der Kapitulation ergab
sich also der Kapitän des U 234 am 14. Mai 1945 östlich
des Flemish Cap dem amerikanischen Geleitzerstörer USS
Sutton.
Den Amerikanern fiel die Zukunft in die Hand. Einfach so!
Unsere Zukunft. Unsere jetzige Gegenwart. Der Preis für
das Verbrechen eines verlorenen Krieges! Deutsches Mate-

271
rial und deutsche Konstruktionspläne haben die Bombe von
Hiroshima erst möglich gemacht.«
»Quatsch!«
»Wie Sie meinen. Informieren Sie sich bitte mal unter den
Stichworten »4. März 1945« und »Jonastal« und »Kurt
Diebner« und »Karl Wilhelm Ohnesorge« und endlos viele
mehr. Auch der Dr. Ing. Hans Kammler spielt da eine wich-
tige Rolle mit. Die erste amerikanische Atombombe war für
Berlin gedacht. Da hatten wir wohl »Glück«, daß die Rus-
sen schneller waren.
Jedenfalls, die ersten amerikanischen Atom-U-Boote hatten
die gleiche Konstruktion wie das U 234! Eine wunderbare
deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Egal! Das ist doch
hier auch völlig egal! Das soll doch nur die Vorgeschichte
sein! Um Sie auf das für Sie Unglaubliche vorzubereiten.
Sie müssen mir doch aber nichts glauben!«
Brack schwirrte der Kopf. War er auf einen totalen Spinner
hereingefallen? Was redete der? Ein Heroinsüchtiger. Voll
auf dem Trip. Was hatte das mit seinem Fall zu tun? Als ob
er hellsehen konnte, ließ der Oberst die Katze aus dem
Sack.
»Für Sie, Herr Brack, kürze ich es ab. Deutschland hatte bei
Kriegsende vier einsatzfähige Atomsprengsätze, die die
Alliierten nicht fanden… Nein, damit hätte Deutschland
den Krieg auch nicht mehr gewonnen. Im Gegenteil.
Dann wäre der Morgenthau-Plan todsicher umgesetzt wor-
den. Es war alles zu spät! Die Atomwaffen waren auch
mehr nur Atomgranaten mit nur 120 g Kernsprengstoff auf
Lithiumbasis, die aber durch einen Trick die kritische Mas-
se überschreiten können. Wir Deutschen behielten sie!«
Brack wirkte wie vom Donner gerührt! Er hatte so viele
Bücher gelesen, in denen man ihm haarklein nachwies, daß
die Deutschen so was garnicht konnten! Daß nur die USA
mit den emigrierten Wissenschaftlern dazu in der Lage
waren. Daß es keine Unterlagen über die deutsche Atom-
bombe gab. Und daß genau das der Beweis für ihre Nicht-
existenz war. Alles Andere wäre Lüge.

272
»Ja, Deutschland war seit März 1945 Atommacht. Und ist
es bis heute!«
»Aber der Atomwaffensperrvertrag! Deutsche Politiker
hätten den doch niemals unterschrieben…«
»Politiker!« Von Haller spuckte das Wort förmlich aus. Er
malte mit dem Schuh Wellenlinien in den Matsch zu ihren
Füssen. Dann strich er wieder alles glatt.
Der Oberst setzte neu an.
»Sie glauben doch nicht ernsthaft, daß wir eine so wichtige
Sache grenzdebilen Kriminellen anvertrauen würden! Völ-
lig gleichgültig von welcher Partei. Politiker verkaufen ihre
Großmutter für süße Brause. Politiker kämpfen ausdauernd
für ihre eigenen Interessen, aber niemals für die Interessen
der Nation oder gar des Volkes!«
»Und was wollen Sie und Ihre Leute mit Atomwaffen? Das
Vierte Reich errichten?«
Von Haller lachte meckernd. »60 Jahre Dauerpropaganda
wirken einfach bei Jedem! Auch bei Ihnen! Wir haben mit
den Nazis nichts am Hut. Aber auch rein garnichts. Einige
von uns saßen vielleicht im KZ! Ist aber gleichgültig, spielt
für Keinen eine Rolle. Die Nazis waren doch auch nur
Dreckspolitiker. Nur von einer anderen Partei. HÖREN SIE
GEFÄLLIGST ZU! Wir sind nur ein paar Leutchen, zirka
20 Wächter von rund 15 deutschen Atomwaffen. Keine
Nazis, keine Volkskammerabgeordneten, keine Bundespoli-
tiker, nur idiotische Idealisten.«
»Vorhin waren es vier Atombomben, nun 15. Sie wider-
sprechen sich, Herr Oberst!«
»Die Geschichte geht noch etwas weiter. Für unsere Gruppe
ist die Alles-gelogen-und-kann-es-nicht-geben-Propaganda
ein Segen! Was es nicht gibt, sucht man nicht! Weiter! Man
brachte die Atomwaffen 1945 ins Allgäu, wo sie 10 Jahre
unter dem Estrich einer Scheune lagen. Mit dem Aufbau
der Bundeswehr und der Volksarmee wurde die Sache
kompliziert und unsere zurückgehaltenen Bomben zu einem
echten Glücksfall. Denn in den ersten Jahren der Bundesre-
publik Deutschland erfuhren wir, was sich die Amerikaner

273
und die Russen für ihren Kriegsfall ausgedacht hatten. Um
ihr Mutterland zu schützen, vereinbarten die USA und die
Sowjetunion Schonung ihrer eigenen Länder. Nach dem
Motto »Greifst Du mich nicht an, greif ich Dich nicht an«
sollte dafür Gesamtdeutschland zu einem Schlachtfeld
werden.
Zu einem atomaren Schlachtfeld! Wissen Sie, was das be-
deutet hätte? Wir beide würden hier nicht mehr sitzen.
Niemand würde mehr in Deutschland sitzen! Ganz
Deutschland wäre zu einem strahlenden Vorhang gewor-
den! Kraterlandschaft! Wenn man solche »Freunde« hat, ist
man über jeden Feind froh!«
»Das ist aber nicht so gekommen.«
»Nun fragen Sie sich doch mal, warum nicht! Kriegswütig
waren die USA und die Sowjetunion schon immer. Die
USA heute noch. Rußland bald wieder! Nein, beim Aufbau
der Bundeswehr und der Volksarmee mußten die Sieger-
mächte zwangsläufig auf Offiziere Hitlers zurückgreifen.
Und die kannten sich doch untereinander! Na, und in den
vergangenen 10 Jahren war man ein guter Demokrat oder
Sozialist geworden. Ganz nach Belieben! Aber man blieb
Deutscher. Man traf sich privat und in Zivil in Schweden
oder der Schweiz. Und plauderte. Und vereinbarte. Sogar
für Ulbricht und Honecker war die Vorstellung nicht zu
ertragen, Atompilze auf dem Boden der DDR sprießen zu
sehen. Für Adenauer wohl schon eher. Dessen Deutschland
bestand aus Köln und Umgebung! Die Russen haben ihren
Waffenbrüdern aus der Volksarmee nie, aber auch nie über
den Weg getraut.
Warum nicht? Weil bei den Russen sieben Atombomben
spurlos verschwanden! Spurlos! Bei den Amerikanern ver-
schwanden drei. Es wurden Attrappen gefunden, sonst
nichts! Die GIs sahen in der Bundeswehr nur Schlapp-
schwänze und Drückeberger. Kunststück, denen war
Deutschland ja auch völlig gleichgültig. Kalifornien oder
Washington als atomares Schlachtfeld, und die GIs hätten
auch anders gedacht… Im Falle eines Krieges hatten beide

274
deutschen Seiten vereinbart, inoffiziell, versteht sich, daß
die Bundeswehr Ramstein mit einer Atomwaffe auslöscht,
die Volksarmee die Russen mit einer Atomwaffe in Karls-
horst. Der Krieg wäre zu Ende gewesen oder in die USA
und die Sowjetunion getragen worden.«
Brack fragte leise: »Und das soll ich glauben?«
»Das ist mir herzlich egal, mein lieber Brack!«
Oberst von Haller sah ihn freundlich an.
»Sie veranstalten hier einen Riesenzirkus, weil der Eilers ja
unbedingt plaudern mußte mit seinen stockkatholischen
Schuldgefühlen. Und die Gruppe muß handeln. Ich liefere
Ihnen nun die Gründe. Ob Sie mir glauben? Gott, ist das
uninteressant! Glauben Sie, oder glauben Sie nicht, Sie
werden nichts jemals beweisen können.«
»Sie erzählen mir hier die wildeste Geschichte, die ich je
gehört habe. Und Sie reden jetzt von 15 anstatt 14 Atom-
waffen, falls ich noch bis 14 zählen kann… Warum gibt es
Sie als Gruppe noch? Die Russen und Amerikaner sind
weg, und Deutschland ist wieder vereinigt.«
»Wir besitzen noch einige Basiskonstruktionen, die wir als
eine Waffe zählen. Ja, die Russen sind weg. Die Amerika-
ner aber nicht! Die Amerikaner sitzen fester im Sattel denn
je.
Deutschland mußte bei der Wiedervereinigung lustige Kne-
belverträge unterschreiben! Mit unseren »Freunden«! Und
»Wiedervereinigung«? Womit? Mit allen Teilen Deutsch-
lands? Teilvereinigung! Da hat man ja wohl Einiges ver-
gessen! Rußland und Weißrußland und die Ukraine geben
polnisches Gebiet nicht wieder her, Polen deutsches
nicht…und so weiter. Jaja, Wiedergeben ist nicht so nett
wie Stehlen. Wir hätten gerüchteweise auch Ostpreußen,
Kaliningrad oder besser Königsberg wiederbekommen
können. Aber da waren unsere tollen westlichen »Freunde«
dagegen. Na vorbei. Kommt irgendwann mal wieder! Die
Geschichte wiederholt sich endlos, weil niemand lernen
will.

275
Und Thema Wiedervereinigung: Für zirka 20 Millionen
Deutsche wäre heutzutage eine umgekehrte Wiedervereini-
gung besser als ihr Leben jetzt! Auch wenn der Kommu-
nismus vordergründig verloren hat, ist es immerhin doch
sehr zweifelhaft, ob der Kapitalismus denn auch gewonnen
hat! Todsicher hat er auch verloren, denn Kommunismus
und Kapitalismus sind untrennbare Siamesische Zwillinge.
Stirbt der Eine, folgt ihm der Andere nur etwas später an
Leichenvergiftung nach. Ich halte die Wiedervereinigung
und den Rückzug und die Abkehr der Sowjetunion vom
Kommunismus für einen genialen Trick des KGB! Da sit-
zen sehr schlaue Leute! Ihre Verwandtschaft sitzt in den
USA in den großen Thinktanks und versucht die Welt zu
vergewaltigen. Ist aber ein anderes Thema.
Was hat die Sowjetunion denn schon aufgegeben außer
Ländern, die ihr sowieso nicht gehörten? Nichts. Im Gegen-
teil, heute bekommt sie auf Kredit dafür endlich die mo-
dernsten westlichen Technologien, die ihr ansonsten ver-
wehrt geblieben wären. Ihre Wirtschaft, ihre Infrastruktur
wird mit ausländischen Geldern modernisiert. Die Sowjet-
union hat nur gewonnen.
Der Westen aber reitet sich immer tiefer in ausweglose
Situationen. Er wird immer diktatorischer, faschistischer,
kriegslüsterner. Und plötzlich ist der Sozialismus für den
Großteil der Bevölkerungen wieder eine richtige Alternati-
ve. Bolivien, Venezuela, Kolumbien und so weiter. Aber
auch hier in Europa und auch in Deutschland. Überlegen sie
mal. So schlecht, wie es heute in der BRD Millionen Kin-
dern geht, ging es den Kindern in der DDR nie. So schlecht,
wie es heute in der BRD Millionen Rentnern geht, ging es
den Rentnern in der DDR nie. Arbeitslosigkeit war in der
DDR kein Thema, es bestand ein Recht auf Arbeit. Und der
beliebte flüchtige Eindruck von Freiheit?
20 Millionen Arme möchten in diesem unserem Lande auch
gerne nach Italien oder Mallorca reisen! Können sie es?
Nein? Was haben sie also von der Pseudofreiheit? Nichts!

276
Vor 30.000 Jahren haben unsere Vorfahren ca. 30 Stunden
die Woche gearbeitet. Für sich! Nicht für »Arbeitgeber«!
Sie hatten unverseuchtes Wasser, saubere Luft und gesunde
Nahrung. In ihrer Freizeit fertigten sie prachtvolle Höhlen-
malereien.
Und wir? Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit
Geld, das wir nicht haben, um Menschen zu beeindrucken,
die wir nicht leiden können! Ist das der Fortschritt? Unver-
seuchtes Wasser, saubere Luft und gesunde Nahrung einge-
tauscht gegen Buntfernsehen, Autos und Digitaluhr und
Fußball. Sind wir noch ganz dicht?
Was hatten wir damals nach dem Krieg alles vor! Ein bes-
seres Deutschland wollten wir haben. Ohne Krieg, weltof-
fen und gastlich. Und was haben wir erreicht? Angriffskrieg
auf dem Balkan, deutsche Soldaten in aller Welt, Krämer-
seelen und Pfandleihermentalität, wo man hinsieht. Unsere
Gastlichkeit wird verhöhnt, wir haben in unserem eigenen
Land nichts mehr zu sagen. Moslems hier dürfen ungestraft
und ungesühnt tagtäglich gegen deutsche Gesetze versto-
ßen.
Fast die Hälfte unserer Verbrecher sind Ausländer, und wir
sollen die Schnauze halten. Das ist zwar mein Land! Aber
nicht mehr mein Staat! WIR HABEN VERSAGT! Versagt
auch im Wehren gegen die unscheinbare Bespitzelung.
Nicht nur die Arbeitsagentur, nicht nur die GEZ, nicht nur
das Finanzamt, nicht nur die SCHUFA, Dutzende von Stel-
len sorgen in Deutschland für den Überwachungsstaat.«
Von Haller rang nach Luft. Dann ging es wieder.
»In der DDR hatten die Kranken wenigstens eine umfas-
sende medizinische Versorgung. Sie mußten nicht Eintritts-
geld bei den Medizinkoofmichs entrichten. Doch, sicher,
die DDR wäre heute eine echte Alternative zur BRD. We-
nigstens für 20 Millionen Bürger. Ist das nicht ein Trauer-
spiel? Unglaublich! Wir haben alles verzockt, was wir hat-
ten. Und noch mehr. Zusätzlich geht die Bundesrepublik
innenpolitisch mit Riesenschritten Richtung Überwa-
chungsstaat und Diktatur. Aber das werden wir nicht dul-

277
den. Wirklich nicht. Auf keinem Fall! Notfalls verdamp-
fen wir den Bundestag!«
Schwer atmend hielt Haller wieder inne.
»Unsere Verfassung wird zuverlässig eine Diktatur verhin-
dern«, warf Brack ein.
»Stille Einfalt! Erstens haben wir keine Verfassung, son-
dern ein Grundgesetz, das erst durch einen Volksentscheid
aller Deutschen zu einer Verfassung werden würde. Da
müßte ich aber Einiges versäumt haben. Zweitens unter-
schreibe ich gerne das Grundgesetz unserer Gründungsvä-
ter, aber doch nicht den pervertierten Mist von heute!
Das Grundgesetz ist derartig beliebig geworden, daß vor-
geblich aufrechte und nicht so ganz aufrechte Demokraten
das Grundgesetz, unser Grundgesetz nur wegen einer Dep-
pen-Sportveranstaltung mal wieder ändern wollen!«
»Ja, um die Bundesrepublik vor Terroristen zu schützen!«
»Ach ja? Ist das so? Wenn es die lieben Terroristen nicht
gäbe, man müßte sie glatt erfinden, so nützlich sind die!
Aufwachen! Hirn einschalten! Selbstverständlich war das
nur ein vorgeschobener Grund! Für wen sind denn »siche-
re« biometrische Pässe? Für Terroristen? Nein, für die bra-
ven Bundesbürger. Um sie zu überwachen. Ich sehe, Sie
rauchen. Bieten Sie mir mal eine an.«
Brack gab ihm Feuer.
»Danke. So«, sagte der Oberst und hustete nach einem
tiefen Zug, »jetzt kämpfen wir beide gerade gegen den
internationalen Terrorismus.«
Brack verstand nichts mehr.
»Wie bitte?«
»Hehehe, die Tabaksteuer wurde von einem Haufen klini-
scher Idioten erhöht, mit der expliziten Begründung, daß
das Geld zum Kampf gegen Terroristen ausgegeben würde.
Terroristenbekämpfung! Telephonüberwachung, Handy-
überwachung, Internetüberwachung, Vorratsdatenspeiche-
rung, Kontenüberwachung! Gedankenkontrolle! Wegen
Terroristen? Von unserer Bevölkerung von 80 Millionen
sind 68 Millionen Deutsche. Also, wen betrifft denn nun die

278
Überwachung? Man sagt ja, daß die Terroristen immer und
nur Moslems seien. Na, meinetwegen. Dann soll man den 4
bis 5 Millionen Moslems in Deutschland das Gleiche sagen,
wie es ein baden-württembergischer Politiker locker formu-
liert hat: »Hier ischt die Fahrkart!« Die können wirklich
kein Hochdeutsch. Egal, sagt man aber nicht, weil es nicht
um die Moslems, sondern um die Deutschen geht, die man
unter der Knute halten möchte. Die strunzdoofe Politiker-
kaste und selbsternannte Elite hat Angst. Ganz ordinären
Schiß! Sie fürchten irgendwann ein 1789. Oder daß für sie
wieder irgendwo ein Kofferraum bereitsteht. Sie treten den
Haß los und denken, sie kommen unbeschadet damit durch.
Und sie werden bedenkenlos die Bundeswehr, meine Bun-
deswehr, auf ihre Mütter, Väter, Brüder und Schwestern
hetzen und schießen lassen, um ihr eigenes erbärmliches
Leben vor dem Aufknüpfen zu retten.
Das ist das Land, in dem Sie leben!
In dem die Dummheit, die Feigheit und der Verrat zur
Staatskunst erhoben worden sind. In dem miesen kleinen
ungebildeten Spießbürgern Macht auf Zeit verliehen wird,
und die genau wie jeder Emporkömmling diese Macht wüst
ausleben. … In dem Berufsverräter für die Siegermächte
die Beine spreizen und die Bevölkerung verschachern!«
Der Oberst beruhigte sich. Nach einer Weile fing er wieder
an zu sprechen:

»Die größte Errungenschaft der Bundesrepublik war nicht


der Wiederaufbau und der Wohlstand, sondern der soziale
Friede. Vorbei! Denn seit dem Fall der Mauer kommen
Ratten aus den Löchern, gegen die Ebenezer Scrooge wie
ein Mitglied des örtlichen Rotary Clubs aussehen würde. Es
gibt eben keinen »Herrn Allianz« oder »Herrn Deutsche
Bank«. Moral und Ethik und soziale Verantwortung brin-
gen keinen Shareholder-Value. Irrtum. Bringt es doch! Das
merken die spätestens dann, wenn deren Paläste abfackeln,
und die Angestellten dran glauben müssen. Ein Herr Krupp,
verschrien als kriegslüsterner Kapitalist, war im Kontext

279
seiner Zeit ein hochsozialer Mensch, der sich um seine
Mitarbeiter persönlich kümmerte und ihnen Häuschen mit
Garten baute. Ein Vorstandsvorsitzender einer deutschen
Bank fällt bei so einer Idee vor Lachen kreischend in die
Ecke!«
»Der Staat kann doch nun wirklich der Wirtschaft keine
Moral oder ein spezielles soziales Verhalten vorschreiben!«
Brack schüttelte den Kopf.
»Aber warum denn nicht? Der Staat schreibt auch seinen
Arbeitslosen eine »Moral« vor! Arbeit für nichts. Sklaven-
arbeit für die Gemeinschaft! Damit die Nocharbeitsplatzbe-
sitzer sich ducken. Kopfarbeiter auf die Felder zur Ernte
abkommandiert! Können auch gerne bei der Zwangsarbeit
sterben. Gibt es alles! Gab es schon! Es läuft etwas schwer
aus dem Ruder. Die Balance ist gestört. Auf der einen Seite
die Freiheit des Individuums, auf der anderen der Staat mit
seinen Regularien zum Zusammenleben in einer Gemein-
schaft. Der Staat mißtraut seinen Bürgern und zieht die
Schraube der Kontrolle immer stärker an. Weil nicht alle
seine Jubelpropaganda mitmachen, wird er immer mißtraui-
scher. Der Witz an der Sache ist jedoch, daß zwar die mut-
maßlich staatsgefährdenden Elemente aus dem Ausland
kommen, der Staat aber nichts dagegen unternehmen kann
oder will. Also drangsaliert er seine Bürger. Das geht nicht
gut! Wir werden keine neue Diktatur in Deutschland dul-
den. Verbindlich nicht!«
»Warum verraten Sie Ihre Gruppe? Wir wissen doch jetzt,
wonach wir suchen müssen.«

Von Haller sah Brack spöttisch an.


»Sie wissen nichts, überhaupt nichts, und verraten kann ich
garnichts. Ich bin seit über 10 Jahren raus. Ich weiß nicht,
wo sich die Atombomben befinden. Ich kenne bis auf Eilers
niemanden aus der Gruppe. Und Eilers war zusammen mit
mir raus. Naja, etwas später. Sie werden das hier so wenig
aufklären wie die Fälle Herrhausen, Barschel und Rohwed-
der.«

280
»Wir könnten Sie unter Drogen setzen, und Sie würden
plaudern.«
»Mich unter Drogen setzen?«
Haller schien von der Idee angetan zu sein.
»Aber gerne. Dann brauche ich meinen sympathischen
Dealer nicht mehr! Hören Sie, Brack. Wir schützen uns
nach einem Mafiaprinzip. Mafia, nicht Mafifa! Wir haben
einen Primus inter pares plus vier Stellvertreter, die die
anderen kennen. Die anderen kennen nur den Primus und
sein Kennwort.
Mit spätestens 60 Jahren gibt jeder von uns dem Wächter
vier Vorschläge für einen Nachfolger. Einen der Vier wählt
er aus, wir wissen aber nicht welchen. Wir sind dann aus
der Gruppe raus. Die Neuen verlagern die Waffen, wohin,
erfahren wir nicht mehr. Ich könnte Ihnen vier Namen von
vor 12 Jahren erzählen, aber nicht mehr!«
»Wir brauchen uns doch nur auf die Bundeswehr zu kon-
zentrieren. Da kriegen wir schon einiges raus.«
»Hahaha, Sie denken viel zu schlicht, Brack! Ihr Niveau ist
viel zu tief, Brack! Wie ein Polizist! Sicher, es dürften zwei
bis vier Soldaten der Bundeswehr dabei sein. Aber doch
nicht alle! Der Rest, mein Lieber, besteht aus ganz norma-
len Bürgern. Männer und Frauen, denen das reine Wohler-
gehen und die pure Existenz Deutschlands am Herzen lie-
gen und nicht das Ausplündern, das Verraten und Verkau-
fen Deutschlands. Die ihr persönliches Vermögen und
Wohlergehen für die Gruppe einsetzen! Die keinen persön-
lichen Vorteil aus ihrem Engagement für Deutschland zie-
hen. Und wir verlassen uns eben nicht auf Politiker, Gerich-
te und Medien.«
Brack betrachtete nachdenklich den alten Herrn. War das
die Wahrheit? Er wußte es nicht. Nein, unmöglich.
»So etwas gibt es heute nicht mehr. Ich glaube Ihnen
nicht!«
»Sehen Sie? Sie räumen ein, daß es so was mal gab. Aber
aus unserem Leben und unserem Volke verschwunden ist.
Sind Sie sicher? Nur weil unsere Meinungsmedien darüber

281
nicht berichten, heißt das noch lange nicht, daß es das nicht
gibt!
Unsere Meinungsmedien bevorzugen die Bevölkerung mit
Nachrichten über die Farbe der Verdauung einer Prostitu-
ierten zu beglücken, die mit einem adoptierten Prinzen liiert
ist. Oder unappetitliche Details aus einer Besenkammer.
Oder über das sterbenslangweilige Leben von jemanden,
der sich hochstaplerisch als Sänger und Komponist ausgibt.
Wir werden seit Jahren mit Nullmeldungen zugemüllt, daß
wir Wichtiges nicht mehr von Unwichtigem unterscheiden
können. Dauerwerbesendungen mit Sabine Christ, Maybritt
Ill, Reinhold Beck, Sandra Maisch, Johannes Kern oder
Heiner Brem zappe ich so schnell weg, daß ich deren volle
Namen überhaupt nicht kenne! Da wird die Mantra des
Manchester-Kapitalismus gesungen! Sie kennen doch die
formelhaften Wortfolgen, die oft auch noch repetativ rezi-
tiert werden. »Die Renten sind sicher« oder »Die Lohnne-
benkosten müssen gesenkt werden«. »Die Löhne sind zu
hoch« und welcher Mist auch sonst verzapft wird.
Sollte es noch einen seriösen Journalisten in Deutschland
geben, wo protestiert der gegen die Verunglimpfung seines
Berufsstandes? Was ist aus all den Journalisten geworden,
welche die monströsen Sauereien in der Politik aufdeckten?
Vor denen die Politiker solche Angst hatten, daß sie sie
gesetzeswidrig in den Knast brachten und damit eine APO
lostraten? Wo sind die alle? Auf der Sonnenseite des Le-
bens! Gekauft, bezahlt, benutzt! Schönschreiber, die für
jeden die Beine breitmachen, der sie kauft. Medienstricher
eben!
Bei den oben Genannten treten Bauchredner der verschie-
denen Parteien auf, die aber alle einem Verein angehören.
INSM! Kennen Sie nicht? Seien Sie froh. Deren Motto
scheint zu sein:
»Wie klopfen wir Deutschland auf das Niveau des
Tschads!« Und sie sind unglaublich erfolgreich. Kein
Wunder, wenn alle Parteien Mitglieder in diesem Verein
sind. Politiker lieben erfolgreiche Arbeit. Bewundern sie,

282
weil sie es selbst nicht können. Oder: »Du bist Deutsch-
land«. Ein von den Nazis geklauter und adoptierter Werbe-
spruch. Im Original: »Sie sind Deutschland!« Daß die Nazis
wenigstens höflicher waren mit dem »Sie«, nur so am Ran-
de. Schöner wäre der Spruch:
»DU BIST DFUTSCHLAND«. Das wäre endlich die
Wahrheit.
Aber da sieht man doch, welches Geistes Kind diese Leute
sind, und was sie wollen! Und wie unsäglich primitiv an-
biedernd.«
Haller holte tief Luft. Er mußte sich auf das Wesentliche
konzentrieren. Aber es war doch so viel!

»Wenn eine TV-Sendung nicht mindesten alle fünf Sekun-


den einen Schnitt hat, können die Kids von heute nicht
mehr folgen. Sie verlieren das Interesse! Sie können sich
nicht mehr konzentrieren! Der arme Pauker in der Schule
hat aber nur alle 45 Minuten einen »Schnitt«! Und jeder
wundert sich über die PISA-Untersuchungen zu Tode. Le-
gastheniker. Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit, Brack?
Ehrlich, wie viele Legastheniker kannten Sie damals? Si-
cher so viele wie ich. Nämlich keinen! Das waren Exoten.
Heute sind Leute wie Sie und ich Exoten, die keine Legast-
heniker sind! Oder hyperaktive Kinder! Forschungsergeb-
nisse über ADHS seit 1990 ergaben, daß es heute mehr
Betroffene als früher gibt, und sich das Geschlechterver-
hältnis zwischen betroffenen Mädchen und Knaben von 1:9
auf 1:3 verringerte. Jedes zwanzigste Kind ist betroffen. Na,
da hätte ich wohl 50 Betroffene kennen müssen. Aber nein,
ich habe kein Einziges kennengelernt! Diese Kinder haben
eine Form von Geisteskrankheit! Genetisch! Urplötzlich!
Was ist da passiert? Warum wird das nicht geändert? Na
gut, wer will eigentlich warum etwas ändern. Für die inter-
essierten Kreise läuft die Verdummung und Vergiftung
doch hervorragend.

283
Wir folgen dem internationalen Trend der moralischen
Verlotterung. Der ethischen Legasthenie. Der Verherrli-
chung des Schweinseins.
Zu Ihrem Glauben oder Nichtglauben. Hätten Sie es vor 10
Jahren für möglich gehalten, daß es heute wieder Zwangs-
arbeit in Deutschland gibt? Hätten Sie es vor 10 Jahren für
möglich gehalten, daß es heute zweierlei Recht in Deutsch-
land gibt? Eins für die reiche Bevölkerung, ein eingedampf-
tes und kastriertes für die Arbeitslosen und Armen. Hätten
Sie es vor 10 Jahren für möglich gehalten, daß die Reichen
um jährlich 60 Milliarden Euros entlastet werden, das Fuß-
volk aber eben wegen der angeblich schlechten Kassenlage
ausgepreßt wird? Hätten Sie es vor 10 Jahren für möglich
gehalten, daß der produktiven Bevölkerung alles wegge-
nommen wird, den staatsdienernden Beamten aber nichts?
Daß diese im Schnitt eine doppelt so hohe Pension bekom-
men als die Rentner Rente? Und daß der Staat alleine des-
wegen in 15 Jahren pleite ist? Weil niemand weiß, wie die
Pensionen und Beamtenvergütungen zu bezahlen sind?
Hätten Sie es vor 10 Jahren für möglich gehalten, daß heute
wieder Folter als »Wahrheitsfindungsmöglichkeit« in
Deutschland ernsthaft diskutiert wird? Mit herzlichen Grü-
ßen Ihrer reformierten GESTAPO? Hätten Sie es vor 10
Jahren für möglich gehalten, daß es heute über 2,5 Millio-
nen Kinder in Deutschland gibt, die offiziell bitter arm sind?
Verdoppelt seit 2004, also in einem Jahr? Und Hunderttau-
sende Kinder in Deutschland, die tagtäglich hungern? Daß
eine Million pflegebedürftige hilflose Alte hungern und
dursten müssen? Daß Kenia Entwicklungshilfe nach Berlin
schickte? SIE MÜSSEN MAL WAS ANDERES ALS DIE
VIERBUCHSTABENZEITUNG LESEN!«
Haller atmete schwer.
»Tut mir leid, aber ich ertrage soviel Ignoranz einfach
nicht. Mein Deutschland gibt es nicht mehr, und auf das
neue Deutschland bin ich nicht neugierig.«
Brack war hin und hergerissen. Was der Oberst sagte, war
ohne Zweifel ehrlich gemeint. Aber war es auch wahr?

284
»Ich sehe, Sie möchten jetzt nachdenken. Tun Sie das!
Schalten Sie Ihr Kriminalistenhirn aus und Ihr normales
ein. Wägen Sie ab. Und kommen Sie zu einem Ergebnis.
Ich bleibe noch etwas hier. Es ist sehr schön hier, trotz des
Regens.«
Haller reicht Brack die Hand.
»Leben Sie wohl.«
Brack sah den Oberst lange nachdenklich an, nickte ihm
noch mal zu und entfernte sich dann durch den Regen. In
seinem Kopf herrschte das totale Chaos. Hinter ihm ertönte
gedämpft ein Schuß. Brack mußte sich nicht umdrehen.

Oberst von Haller war bei seinen Vorvätern. Er hatte bis


zuletzt seinen Kampf gekämpft, aber verloren.

Auf seiner Fahrt von München nach Bonn rief Brack Kalle
an.
»Hallo Kalle, wir können einpacken, es ist vorbei!«
»Hrrrrrch, hast Du den Fall gelöst, hrrrrrch, Justus?«
»Nein, nicht richtig. Aber es ist aus. Auch besteht keine
Gefahr mehr, glaube ich. Wir treffen uns in einer Woche
bei mir in Hannover. Reden von alten Zeiten. Dann rechnen
wir auch Eure Auslagen ab.«
»Hrrrrrch, quatsch nicht rum, Justus. So wie jetzt habe ich
mich schon lange nicht mehr amüsiert. Und Horstchen,
hrrrrrch, hat deinetwegen das Glück seines Lebens gefun-
den, hrrrrrch.«
»Gib mir mal Ruud oder Schunck. Bis nächste Woche.
Tschüß Kalle!«
»Hrrrrrch, mach’s gut, Justus!«
Brack informierte Ruud kurz über den Oberst.
»Wir treffen uns heute abend in Schuncks Laube. Da müs-
sen wir die Geschichte zu Ende bringen. Bis dann.«

285
Brack mußte Hade berichten. Von einem totalen Mißerfolg.
Von einem Gegner, den es unbekannter Weise wohl gab,
und der cleverer war als er.
Man muß wissen, wann man verloren hat. Brack döste
wieder ein. Er wußte es.

286
Die Niederlage

Absurdistan, Bonn, Sonntag, der 20. November 18


Uhr 44

Brack trat ein. Hade betrachtete ihn mit hochgezogenen


Brauen.
»Naa Justus? Du und Deine Gedanken sehen finster aus!«
»Mannomann, Hade. Kaffee und Cognac, bitte. Auch für
Dich!«
Sie gingen in Hades Arbeitszimmer. Brack ließ sich schwer
in einen der Ledersessel fallen und zündete sich eine Ziga-
rette an.
»Es wird Dir nicht gefallen, Hade«, fing er an.
»Hast Du die Täter? Oder die Auftraggeber? Oder den
Grund?«
»Nein. Nein. Ja, vielleicht!«
»Komm, sprich nicht in Rätseln. Dazu bin ich nicht aufge-
legt.«
Brack erzählte von dem Opern-Mörder in Berlin und von
der Unterredung mit Oberst von Haller. Er wiederholte fast
wortwörtlich das Gespräch.
»Quatsch! Sülze! Kompletter Mist!«
Hade sprang auf und wurde wütend.
»Und damit hast Du Dich abspeisen lassen? Mit so ’ner
Räuberpistole? Läßt Du nach, Justus?«
»Ich nehme mal zu Deinen Gunsten an, Hade, daß Du nicht
mehr wach bist! Auf Dich wurden ja keine Attentate verübt.
Du saßt hier im Trockenen, nicht?«
Hade guckte erstaunt und beruhigte sich schnell.
»Entschuldige, Justus. Aber diese haarsträubende Geschich-
te macht mich fertig. Erzähl noch mal von Vorne.«
287
»Wir haben sieben Morde. Auch wenn wir nicht beweisen
können, daß es Morde sind! Aber wenn ein ganzer Aus-
schuß ausgelöscht wird, inklusive des letzten Besuchers,
liegt der Verdacht nahe, gelle? Aber keine Beweise! Auf
meinen Mitarbeiter und mich wurden Anschläge verübt!
Auch hier müssen nicht wir gemeint gewesen sein. Zufall
vielleicht. Und wieder keine Beweise!
Und ein Gespräch mit einem alten heroinabhängigen krebs-
kranken Mann im Endstadium. Vielleicht hat er deliriert?
Also auch hier keine Beweise! Es ist Schluß, Hade. Es
bleibt nur der Stachel, ob nicht doch was an der Geschichte
vom Oberst dran ist. Kannst Du damit leben? Ich nicht!
Mich macht es verrückt und unsicher.«
Brack schüttelte den Kopf.
»Du willst Beweise, Hade? Aber Du glaubst doch auch die
unglaublichsten Geschichten aus dem Lande Hollywood!
Da willst Du keine Beweise, da schluckst Du die dämlich-
sten Lügen. Und diese Scheißgeschichten haben es in sich
und haben die Welt verändert!
»Kennedy-Mord«! Oswald war’s. Der arme Kerl war der
perfekte Watschenmann! Und wurde am nächsten Tag
umgebracht, als klar wurde, der kann ein echtes Alibi
nachweisen.
Ich habe keine Ahnung, was die Wahrheit ist, aber was man
mir unterjubeln will, ist verbindlich nicht die Wahrheit!
»Mondlandung«! Wir haben tolle Bilder gesehen, klar!
Aber woher die kamen, vermuten wir nur. Zu der Zeit
konnten die Amis auf der Erde kein stabiles Fernsehbild 30
Meilen weit senden. Aber, schwupps, 300.000 Kilometer
vom Mond fehlerfrei. Als analoges Signal! Also glauben
wir den Amis. Die erste europäische Mondsonde, SMART-
1, 35 Jahre später, wurde direkt nach Verlassen des Van-
Allen-Gürtels durch die Weltraumstrahlung fast komplett
außer Betrieb gesetzt! Niemand hat es in 40 Jahren ge-
schafft, von einem Satelliten oder der Erde aus den Lande-
platz mit dem zurückgelassenen Schrott zu photographie-
ren! Als ob nichts da wäre. Und, die angeblichen Original-

288
Videos sind seit vielen Jahren verschwunden! Es gibt nur
noch schlechte Kopien. Ich habe keine Ahnung, was die
Wahrheit ist, aber, was man mir unterjubeln will, ist ver-
bindlich nicht die Wahrheit! »9/11«! Ich hätte zu gerne die
Flugschreiber gehört, vom Twin-Tower-Einschlag und dem
im Pentagon. Gucke da, alles kaputt! Aber eine deutsche
Firma hat handelsübliche Festplatten von PCs aus den
Stockwerken wiederhergestellt, in die die Flugzeuge hin-
einkrachten. Warum nimmt man nicht anstatt Flugschrei-
bern Festplatten? Die scheinen doch viel robuster? Ich habe
keine Ahnung, was die Wahrheit ist, aber, was man mir
unterjubeln will, ist verbindlich nicht die Wahrheit!
Mein lieber Kokoschinski, werden wir verarscht!
Irak-Krieg! Mit Powerpoint für Doofe im Sicherheitsrat
gelogen und haarklein bewiesen, was für weltzerstörende
Waffen Saddam hatte. Du hast alles geglaubt!
Herrhausen und Rohwedder, da gab es noch keine »Terrori-
sten«, wie es sie heute in willkommenen Massen gibt! Also
hat man ganz zufällig RAF-Schreiben gefunden! Ich habe
keine Ahnung, was die Wahrheit ist, aber was man mir
unterjubeln will, ist verbindlich nicht die Wahrheit!
Nänä, so nicht, Hade! Wir sollen alles glauben, was denen,
ja Euch, in den Kram paßt, aber nicht das, was wahr sein
könnte.«
Brack atmete tief ein.
»Jetzt glaub mal weiter. Stell Dir mal vor, es wäre wahr!
Unbekannte, deren Geisteszustand wir nicht kennen und
noch nicht mal erahnen können, haben Atomwaffen zu ihrer
Verfügung! Mitten in Deutschland. Sie fordern nichts, sie
verhandeln nichts. Sie beobachten nur und meinen es bitter
ernst, was durch die Toten bewiesen wäre. So, meine Er-
mittlungen haben immerhin einen, wenn auch unbewiese-
nen Grund für die Morde erbracht. Falls nicht ein unglaub-
licher Zufall mitspielt, werden wir die »atomare Oppositi-
on« nie erkennen und erwischen. Das sind die Fakten!«
»Wir könnten den BND darauf ansetzen.«

289
»Worauf, Hade? Worauf? Was willst Du denen erzählen?
Suchen Sie irgendwo in Deutschland nach unseren Atom-
bomben, die uns eigentlich nicht gehören, aber vielleicht
doch? Wo, weiß ich nicht? Wer, weiß ich auch nicht? Nun
machen’se mal?«
»Hast recht, Justus. Hast ja recht!«
»Du kennst doch auch die Baroneß, Hade.«
»Gefährliche Person.«
»Na, dann denk mal daran, wer Schuld hat, daß sie so ge-
fährlich geworden ist! Sie hat mich mit dem Oberst zusam-
mengebracht. Wenn sie da mit drin hängt, kommen wir
absolut nicht weiter! Oder sie weiß auch nur das, was sie
mir durch den Oberst gesagt hat. Wer weiß denn dann mehr
und sagt uns auch mehr? Ich kenne niemanden sonst!«
»Also, Justus, sie ist von der Regierung aber großzügig
entschädigt worden damals.«
»Für mit 19 Jahren auf ewig spinale Lähmung? Entschä-
digt? Na, ganz große Klasse, Hade, ich bitte Dich. Hör
auf!«
Hade war nicht bei der Sache und sah nachdenklich aus.
»Was meinte der Spinner mit »Eine Diktatur werden wir
auch nicht dulden«? fragte Hade. »Wollen die dann ernst-
haft den Bundestag mit allen Abgeordneten inklusive Re-
gierung mit einer Atombombe hochjagen«?
Justus Kopf zuckte hoch. Er sah plötzlich das grenzenlos
Positive in Oberst Hallers Aussage. Bracks Gedanken ra-
sten.
Sollte er manipulieren? So wie er vielleicht auch manipu-
liert worden war und wurde? Eine Chance! Wenn er denn
den Ausführungen des Obersten folgte. In sich schlüssig
war es schon, wenn es auch den Hauch von Science Fiction
trug. Also, schnell! Glauben oder nicht glauben? Die Waa-
ge bewegte sich. Auch Brack wollte das Beste für Deutsch-
land. Der kleine Brack und die große Politik. Er grinste
innerlich. Also… Mhh… Glauben!

»Wahrscheinlich, Hade.«

290
»Das können und werden wir nicht zulassen! Aber wie
finden wir die?«
»Das mußt Du garnicht, Hade. Sorge dafür, daß Deutsch-
land eine aktuelle Musterdemokratie der Zukunft wird,
Vorbild für alle Staaten, und daß alle diktatorischen Ten-
denzen schnellstens wieder verschwinden. Ist das zuviel
verlangt?
Sorge dafür, daß die Menschen in diesem Land wieder
gerne leben und auch leben können, eine Identität haben
und sich ernsthaft um ihr Land sorgen. Ist das zuviel ver-
langt? Sorge dafür, daß hier die Menschen wieder frei sind
und nicht von ein paar Familien versklavt werden! Ist das
zuviel verlangt? Sorge dafür, daß die Deutschen über ihr
eigenes Schicksal selbst bestimmen können. Ohne einen
Vormund von innen oder außen. Ist das zuviel verlangt?
Sorge dafür, daß Deutschland wieder das Land der Deut-
schen wird, und nicht der Tummelplatz für Kriminelle aus
aller Welt. Dann sind doch Deine ganzen Befürchtungen
obsolet!«
Hade war bis ins Mark erschüttert. So hatte er die Situation
noch nie betrachtet.
»Ist …. das … Dein Eindruck von Deutschland?«
Justus rauchte wie ein Schlot. Er mußte überzeugend sein.
Er wollte ein gutes Deutschland!
Brack sah Hade fest in die Augen.
»Ja, Hade! Das vorbildliche Deutschland der 60er und 70er
ist tot! Unsere heutige Gesellschaft ist unerträglich rück-
schrittlich. Es haben Fremde die Macht übernommen. Wir
amerikanisieren immer mehr. Wir werden zu einer Bastard-
nation ohne Identität! Ich hätte nie geglaubt, daß ich das
sagen müßte, aber wir können froh sein, daß wir mit Ruß-
land einen Staat haben, der nicht den Amerikanern in den
Arsch kriecht und Widerstand gegen alle amerikanischen
Idiotien leistet! Idiotien, die von Euch gerne übernommen
und gegen die Bürger durchgepeitscht werden. Und unsere
Wirtschaftsbonzen sind die Einpeitscher.«
Hade schloß die Augen vor Scham. Brack fuhr fort:

291
»Jagt die EU-Gewinnler zum Tempel raus, wir brauchen
hier keine Arbeitsplatzexporteure, keine Verräter, keine
Plünderer! Macht aus Deutschland einen sicheren Hafen,
laßt Euch nicht mit in den Untergang ziehen, der am Hori-
zont auftaucht! Koppelt Euch vom Dollar und vom Euro
ab! Folgt nicht den beliebten Heilsversprechen durch einen
nächsten Krieg. Haltet strengen und gerechten Frieden!«
Hade schaute irritiert auf Brack.
»Macht doch schlicht und einfach das Beste aus diesem
Land. Du und Deine Mitstreiter vom alten Schlage habt
noch ein paar Jahre. Tretet den Parvenüs in die Ärsche! Jagt
sie zur Hölle. Das schafft Ihr. Und dann braucht Ihr Euch
um nichts zu sorgen. Und wenn etwas schief läuft, ist im-
mer noch diese ominöse Atom-Gruppe im Hintergrund.«
Man sah förmlich, wie sich nun die Gedanken in Hades
Hirn überschlugen. War das noch der Polizist Brack, der zu
ihm sprach? Oder war es der neue Volkstribun Brack? Was
war in ihn gefahren? Hatte Brack sich etwa entschlossen,
diesem Oberst zu glauben?
Brack fuhr erbarmungslos fort: »Du kannst Deinen Polit-
rentnern diese unglaubliche Geschichte des Obersten gar-
nicht erzählen. Damit wäre Deine Reputation futsch! Wie
bei jemandem, der von Erlebnissen mit fliegenden Unter-
tassen berichtet. Der ist für alle Zeiten als Spinner ge-
branntmarkt. Also, Du darfst von meinen »Ergebnissen«
nichts erzählen. Warte doch in aller Ruhe auf den Bericht
des BKA. Die werden schon eine schöne plausible Ge-
schichte erfinden. So was wie: »Ein Geisteskranker hat eine
persönliche Vendetta aus Haß gestartet, und ist vor den
Augen der Beamten in der Havel ertrunken. Nach seiner
Leiche wird noch gesucht! Sein Mithelfer wurde bei einer
Geiselnahme erschossen. Es herrscht wieder Sicherheit für
die Abgeordneten.« Na? Ist das was? Besser als meine
Geschichte ist’s allemal, nur nicht wahrer.«
Hade, der gewiefte Politiker und geniale Taktiker, war
verunsichert! Gab’s das auch? Die Drohung, den Bundestag
zu verdampfen, hatte ihn schwer erschüttert! Aber einer

292
Drohung nachgeben? Unmöglich! Das heißt, wer hatte
eigentlich eine Drohung ausgesprochen? Oberst von Haller,
und der war tot! Und an die Vorschläge von Justus Brack
hatte er auch schon mal ganz privatim im stillen Kämmer-
lein gedacht.
»Kann sein. Vielleicht. Ist ja auch nur eine Möglichkeit! Ich
muß die schwierigste Entscheidung meines Lebens treffen.
Für Deutschland gegen die Gesetze, oder gegen Deutsch-
land, für mein Lebenswerk.
Manchmal hast Du ganz gute Ideen, Justus. Machst hier den
Advocatus Diaboli! Garnicht mal richtig schlecht. Fahr
nach Hause, Justus. Auch wenn mir Dein Ergebnis nicht
schmeckt, es war trotz Allem eine gute Arbeit. Danke.«
Hade begleitete Brack hinaus. Sie kamen an einer offenen
Tür vorbei, hinter der ein Fernsehgerät lief. Eine Nachrich-
tensendung.
»Wie das Bundeskriminalamt eben auf einer Pressekonfe-
renz in Wiesbaden mitteilte, sind die Ermittlungen zu den
Todesfällen in Berlin erfolgreich abgeschlossen worden. Es
bestand zu keiner Zeit eine Gefahr für Politiker und Bevöl-
kerung. Und nun zum Wetter…..«
Hade und Brack lauschten mit offenem Mund. Sie sahen
sich an und schüttelten müde den Kopf.

Der Stachel der Unsicherheit saß tief und bohrte. Und das
war gut so!

293
294
Die Aufgabe

Absurdistan, Berlin, Sonntag, der 20. November,


23 Uhr 37

Brack und Ruud betraten zusammen mit Schunck seine


Laube. Sie hatten lautstark und kontrovers über Oberst
Haller gesprochen. Ruud faßte für sie alle das Ergebnis
zusammen:
»Letzte Woche hätte ich das Alles für die Ausgeburt eines
kranken Hirns gehalten. Für eine Riesenspinnerei. Heute
bin ich mir nicht mehr so sicher. Dazu habe ich in den letz-
ten Tagen zu viel Neues erlebt, das ich vorher auch nicht
geglaubt hätte. Gehen wir davon aus, daß es stimmt!«
Und Schunck ergänzte: »Laßt uns wachsam sein. Egal,
gegen was für Spinner. Laßt uns einfach in Ruhe und Frie-
den leben.«

Doch erstmal mußten sie einen realen Spinner ruhig stellen.


Auf eine total verrückte Art und Weise.
Wohl fühlten sie sich nicht in Ihrer Haut, aber was sollten
sie tun? Sie sahen sich an.
»Hören Sie, Sie Wächter«, begann Brack, »in der Zwi-
schenzeit wissen nun einige Leute mehr von Ihrer Exi-
stenz.«
Es war höchst albern, einfach so in den Raum zu sprechen
und die angebrachten Wanzen als Gesprächspartner anzu-
sehen. Brack stand als ein Akteur auf einer Bühne ohne
Publikum und sprach seinen Text.
»Es wird uns und den anderen Mitwissern Ihre abenteuerli-
che Geschichte niemand glauben.
Aber wenn Sie uns umbringen, wird man es glauben. Und
dann werden Sie gejagt! Ob man Sie findet, ist egal. Aber

295
Ihre Aktivitäten sind auf Jahre hinaus unterbunden. Sie
können die Atomwaffen nicht mehr verlagern. Sie werden
mit Millionen anderer am Telephon abgehört. Sie sind dann
handlungsunfähig. Im Notfall eines Krieges oder einer
Diktatur können Sie nichts tun. Sie dürfen aus Angst vor
Verrat keine neuen Leute auswählen. Wollen Sie das? Wol-
len Sie freiwillig Ihre selbstgestellte Aufgabe gefährden?
Sie wissen selber, daß Sie ein Mörder sind! Daß Ihre hehre
Mission von Ihnen desavouiert wurde. Daß Sie um nichts
besser sind, als die, die Sie bekämpfen wollen. Von wegen
»Der Zweck heiligt die Mittel«! Die übliche Ausrede von
Diktatoren. Egal, lassen Sie uns in Ruhe, und es passiert
nichts weiter.
Einverstanden? «
Brack machte eine Pause und zündete sich eine neue Ziga-
rette an.
»Den Bürgern ist es herzlich gleichgültig, ob sie von Mon-
archen, Faschisten, Kommunisten, Pseudodemokraten oder
einem einfach geldgierigen Gesocks regiert werden.
Solange man sie in Ruhe läßt.
Mir ist das nicht egal! Sie haben gemordet und müssen
hinter Gitter. Das ist in allen Ländern der Welt so. Sollte
ich jemals… Aber Sie haben Glück. Ich kenne Sie nicht.«
Brack schaute in die Runde.
»Justav? Ruud? Habt Ihr noch was zu ergänzen?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Wir zerstören jetzt Ihre Wanzen. Überlegen Sie es sich
gut! Unsere Unversehrtheit gegen unsere Unglaubwürdig-
keit. Und gegen Ihre Ruhe. Ende!«
Brack wandte sich an Schunck und Ruud.
»Mir reicht’s. Ich fahr’ nach Hause. Ich brauche Urlaub.
Und Ihr zwei Beiden, danke. Wenn Ihr mal Sorgen habt,
ruft mich auf Kalles Handy an. Ich kann und werde helfen!
Und in zwei Monaten kommt Ihr zu mir, und wir lachen
über unser jetziges Abenteuer.«
Mit einer Umarmung verabschiedeten sie sich.

296
*
Epilog

Absurdistan, Berlin, Montag, der 21. November 09


Uhr 07

Der Mann in dem typischen blauen Frack schloß sein Büro


von innen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm
sein Handy aus der Hosentasche. Er entfernte den Akku
und den kleiner als briefmarkengroßen Provider-Chip.

Einen der großen Goldknöpfe seines Frackes hielt er zwi-


schen zwei Fingern, mit der anderen Hand drückte er auf
den erhaben gestalteten Adler und drehte ihn zur gleichen
Zeit. Nun war der Knopf offen. Aus dieser Höhlung holte er
einen anderen Provider-Chip, den er zusammen mit einem
steinalten Nokia Pre-Paid-Handy auf dem Flohmarkt für €
20 gekauft hatte. Diesen Chip drückte er in sein Handy,
schaltete an und gab eine neue Pin ein. Es war gesprächsbe-
reit. Der Blaubefrackte wählte, und als die Gegenseite sich
mit: »Ja?« meldete, fing er sofort im Hamburger Dialekt
und höherer Tonlage an zu sprechen.
»Tante Erna braucht nichts mehr, mein Junge. Du mußt
Dich nicht mehr bemühen, hörst Du?«
»Sie haben sich verwählt!«
»Ist dort denn nicht 834?«
»Nein, hier ist 833«!

Er legte auf. Er versetzte sein Handy wieder in den Aus-


gangszustand und schnitt mit einem kleinen Bolzenschnei-
der die Pre-Paid-Karte in winzige Stücke. An der Tür kehr-
te er lächelnd um und drehte den vergessenen Adler wieder
auf den goldenen Knopf seines Frackes. Jetzt war alles
wieder tadellos. Die Splitterchen warf er auf dem Flur in

297
den großen Mülleimer. Er mußte sich jetzt nur noch die
Hände waschen, denn als Saaldiener hatte er heute noch
viel zu tun. Er war immer bereit!

***

298
Nachwort
Nun sollte man bei einem rein fiktiven Roman dem Autor
wirklich nicht alles glauben. Hat er doch nur einen winzi-
gen Bruchteil Dessen angesprochen, was ihm ansprechens-
wert erschien. Es ist die andere Sicht der Dinge, die diesen
Roman unglaubwürdig erscheinen läßt.
Es ist unser aller Leben in diesem Absurdistan. Tragikko-
mische Ereignisse, die das tagtägliche Leben berühren und
verändern.
In diesem Jahr kommen wieder zahllose Opfer dazu, die
sich ihre neue Situation noch vor wenigen Wochen einfach
nicht vorstellen konnten. Wer es bis heute nicht glaubt, soll
einfach morgen abwarten.
In der Zwischenzeit wird die Entmündigung und Fesselung
des Bürgers – des Souveräns! – mit Hochdruck und außer-
halb des Wissens Desselben europaweit betrieben.
Soviel Fiktion wie nötig wäre, um nicht laufend von der
Realität überholt zu werden, kann es wahrscheinlich in den
heutigen Zeitenläufen garnicht geben.
Da ist es auch möglich, vor lauter Sorge um Deutschland
etwas pathetisch zu werden. Etwas!
Noch ein kleines Bißchen mehr von der Entmündigung, und
man könnte sich ernsthaft überlegen, ob nicht die fiktive
atomare Opposition wünschenswert erschiene.
Aber das muß Jeder für sich entscheiden.

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Inhalt
Danksagung 3
Über den Autor 7
Prolog 11
Die Anschläge 13
Der Auftrag 37
Die Killer 61
Die Gelegenheit 83
Die Zeugin 111
Das Präsidium 129
Der Bundestag 151
Das Avon 163
Die Lampe 183
Die Mannschaft 193
Die Freiin 215
Die Katakomben 237
Die Bahn 255
Der Oberst 267
Die Niederlage 287
Die Aufgabe 295
Epilog 297
Nachwort 299

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