Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
DEUTSCHLAND, EINE
JAHRHUNDERTFRAGE
Einig und frei, so hatten sich die Bürgerrevolutionäre von 1848 die deutsche
Nation erträumt. Doch im Kaiserreich galt Demokratie als undeutsch, und die
Hetze gegen innere „Reichsfeinde“ bereitete der NS-Ideologie den Boden.
Von Heinrich August Winkler
REICHSGRÜNDUNG
König Wilhelm I. von
Preußen wird von Bismarck
im Spiegelsaal zu Versailles
zum Deutschen Kaiser
ausgerufen. Das neue
Reich ist „kleindeutsch“,
ohne Österreich.
E
in kräftiges Stück Demokratie gewährte Bis- lichen Machtanspruch der katholischen Kirche zu
marck den Deutschen, soweit sie männli- führen, von dem der linksliberale Parlamentarier
chen Geschlechts waren und das 25. Le- und berühmte Mediziner Rudolf Virchow am 17. Ja-
bensjahr vollendet hatten, dennoch: Für nuar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus sprach.
die Wahlen zum Reichstag galt das allgemeine, Konservative Protestanten äußerten sich mitun-
gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wie es 1849 ter ähnlich militant. Der spätere Hof- und Dompre-
die Deutsche Nationalversammlung in der Frank- diger Adolf Stoecker, der sich seit Ende der 1870er
furter Paulskirche beschlossen hatte. Es war ein Jahre als antisemitischer Agitator hervortat, schrieb Kulturkampf
sehr viel fortschrittlicheres Wahlrecht, als es libe- wenige Tage nach der Kaiserproklamation von Ver- Durch strikte Trennung
rale Mustermonarchien wie Großbritannien oder sailles an einen befreundeten Professor: „Das heili- von Kirche und Staat
Belgien damals kannten. Der Reichstag hatte in der ge evangelische Reich deutscher Nation vollendet versuchten Bismarck
Gesetzgebung ein gewichtiges Wort mitzureden. sich … In dem Sinn erkennen wir die Spur Gottes und liberale Politiker,
Eine parlamentarisch verantwortliche Regierung von 1517 bis 1871.“ den Katholizismus zu
gab es in Bismarcks Deutschland jedoch nicht. Das Von der Reformation zur Reichsgründung: Für die schwächen. Fortschritte
Deutsche Reich war nach seiner Verfassung keine deutschen Katholiken gab es im Kaiserreich nur dann wie die Zivilehe (1875)
parlamentarische, sondern nur eine konstitutionel- einen gesellschaftlich anerkannten Platz, wenn sie standen neben Repres-
le Monarchie. die kulturelle Hegemonie des Protestantismus und sionen: Kleriker wurden
Die Liberalen, die zur Zusammenarbeit mit Bis- die politische Hegemonie Preußens anerkannten. Das mit Haft bedroht
marck bereit waren – die „Nationalliberalen“, wie Wort vom „evangelischen Kaisertum“ machten sich („Kanzelparagraf“), die
sie sich seit 1867 nannten – betrachteten die Grün- auch Reichskanzler Otto von Bismarck und der na- Jesuiten verboten, die
dung des Deutschen Reichs als großen historischen tionalliberale Parteiführer Rudolf von Bennigsen zu polnische Minderheit
Fortschritt und hielten es für ausgemacht, dass sich eigen. Der „Kulturkampf“ im ersten Jahrzehnt des bedrängt. Weil die harte
das gebildete und besitzende Bürgertum im deut- Kaiserreichs war zwar alles in allem ein Fehlschlag: Linie der katholischen
schen Nationalstaat viel besser würde entfalten kön- Die Katholiken scharten sich um ihre verfolgten Zentrumspartei starken
nen als in den deutschen Fürstenstaaten der älteren Geistlichen und strömten bei den Wahlen vermehrt Zulauf bescherte, lenkte
und jüngeren Vergangenheit. „Ist denn die Einheit der katholischen Partei, dem Zentrum, zu. Aber das Bismarck schließlich
CORBIS
nicht selbst ein Stück Freiheit?“, fragte Ludwig Bam- Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein, überdauer- ein.
spiegel special geschichte 1 | 2007 155
DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND
D
sehr viel älteren und größeren deutschen Kultur- er Aufstieg des „modernen“, nicht mehr
nation, der auch Österreich zugehörte, eine engere, in erster Linie religiös, sondern wirt-
kleindeutsche Staatsnation herauszuentwickeln. Im schaftlich, kulturell und rassisch argu-
Zeichen des gemeinsamen evangelischen Glaubens mentierenden Antisemitismus im ersten
und des Gegensatzes zu „Rom“ und den „Römlin- Jahrzehnt des Kaiserreichs hing mit der sogenann-
gen“ konnten sich Preußen und Nichtpreußen, Li- ten Gründerkrise zusammen. Am 9. Mai 1873 war in
berale und Konservative treffen. Der Preis dieser Wien die Börse zusammengebrochen. Der anschlie-
Art von konfessionell geprägter Nationsbildung war ßende „große Krach“ kam einem Erdbeben gleich,
die Ausgrenzung eines Drittels der Deutschen: der das ganz Europa erschütterte. Die Schuldigen am
romtreuen Katholiken. Doch sie galten nicht als die Bankrott zahlreicher Banken und Firmen waren
einzigen „Reichsfeinde“. Mit dem gleichen herab- rasch gefunden: Es waren nach Meinung der Anti-
setzenden Namen wurden die nationalen Minder- semiten internationale „Börsenjuden“, die sich in al-
heiten bedacht: die Polen in den preußischen Ost- len europäischen Ländern, so auch in Deutschland,
provinzen, vor allem im „Großherzogtum Posen“, des Liberalismus als politischen Instruments be-
die annektierten Elsässer und Lothringer und die dienten. Von internationalen Juden gelenkt war an-
Dänen in Nordschleswig. geblich auch die Sozialdemokratie, die aus ihrem
Als noch gefährlichere „Reichsfeinde“ galten die Bekenntnis zur internationalen Solidarität des Pro-
Sozialdemokraten, die sich 1875 in Gotha zu einer letariats ja auch gar keinen Hehl machte.
BPK
antworten half, was deutsch und was undeutsch sei. wertvolle, selbstlose Männer sich um ihn scharen.“
Das „internationale Judentum“ eignete sich für Zählte man die Reichstagssitze der Sozialdemo-
diese Rolle besonders gut, weil es mit fast allem in kraten, der linksliberalen Fortschrittlichen Volks- HEINRICH CLASS
Verbindung gebracht werden konnte, was eher kon- partei und des katholischen Zentrums zusammen, Als Vorsitzender des einfluss-
servativ gestimmte Deutsche fürchteten. Da Pro- so ergab sich 1912 zwar noch keine Links-, aber reichen „Alldeutschen
testanten und Katholiken, gläubige und nicht gläu- doch eine Anti-rechts-Mehrheit. In einem solchen Verbandes“, war Claß Wort-
bige Christen in diesem Punkt übereinstimmen Parlament Rüstungsvorlagen durchzusetzen war führer einer expansiven
konnten, schien das Judentum als innerer Feind für äußerst schwierig. Für die nächsten Reichstags- „Weltpolitik“. Die deutschen
den nationalen Zusammenhalt sogar noch mehr zu wahlen, die 1917 fällig waren, war ein weiterer Stim- Juden wollte er vom öffent-
leisten als das ultramontane Rom. menzuwachs für die Sozialdemokraten und die lichen Leben ausschließen.
spiegel special geschichte 1 | 2007 157
DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND
Linksliberalen, wenn nicht gar eine „linke“ Mehr- Krieg nicht mehr gewinnen konnte. Die Verantwor-
heit zu erwarten. tung für die Niederlage aber wollte sie auf die Mehr-
Auf der politischen Rechten und den Spitzen des heitsparteien des Reichstags – die SPD, das Zen-
Militärs war dieser Gedanke ständig präsent. Er trug trum und die Fortschrittliche Volkspartei – abschie-
das Seine dazu bei, dass sich nach der Ermordung ben, die sich im Jahr 1917 in einer Resolution für ei-
des österreichischen Thronfolgerpaars in Sarajevo nen Verständigungsfrieden ohne erzwungene Ge-
am 28. Juni 1914 bei den Eliten des Reichs die Stim- bietsabtretungen und politische, wirtschaftliche und
mung des „Jetzt oder nie“ verbreitete. Der Erste finanzielle Vergewaltigungen ausgesprochen hatten.
Weltkrieg war, was die deutsche Seite anging, eine Die Mehrheitsparteien waren ihrerseits bereit, in
„Flucht nach vorn“. Das lag nicht nur am interna- die Bresche zu springen und die Regierung zu über-
tionalen Rüstungswettlauf, sondern auch an der in- nehmen. Ihr Kalkül war einfach: Verwandelte sich
nenpolitischen Sackgasse, in die die Reichsleitung Deutschland von einer konstitutionellen Monarchie
unter Reichskanzler Theobald von Bethmann Holl- in eine parlamentarische Monarchie, mochte es
DOLCHSTOSSLEGENDE weg 1912 geraten war. leichter sein, die siegreichen westlichen Demokrati-
Deutschnationale schoben Die vielzitierte „Kriegsbegeisterung“ von 1914 en für einen milden Frieden zu gewinnen. Am 4. Ok-
die Schuld am Zusammen- war von kurzer Dauer, und sie hatte nie das ganze tober 1918 erhielt das Reich die erste Regierung, die
bruch der Front 1918 „dem Land erfasst: Sie war in den Städten größer als auf sich auf das Vertrauen einer Mehrheit des Reichstags
Judentum“ in der Heimat zu. dem Land, bei den Arbeitern sehr viel schwächer als stützen konnte. Am 28. Oktober traten die entspre-
Illustration aus einem NS- bei Bürgern, „Kleinbürgern“ und Angestellten, und chenden Änderungen der Reichsverfassung in Kraft.
Schulungsheft von 1942. nirgendwo so stark wie in der akademischen Ju-
D
gend. Dass im August 1914 auch die Sozialdemo- ie Hoffnung, durch diese „Revolution von
kraten für die Bewilligung von Kriegskrediten oben“ eine „Revolution von unten“ zu
stimmten, entzog der Kampfparole von den „vater- vermeiden, erfüllte sich jedoch nicht. Als
landslosen Gesellen“ zwar vorübergehend den Bo- die Seekriegsleitung an der neuen zivilen
den. Doch je länger der Krieg dauerte, desto brüchi- Reichsleitung vorbei der Flotte den (militärisch sinn-
ger wurde der „Burgfriede“. losen) Befehl gab, gegen England auszulaufen, setz-
Nach dem Schwinden der Siegeshoffnungen te sie die „Oktoberreformen“ faktisch außer Kraft.
wuchs das Bedürfnis, Schuldige namhaft zu machen. Die Folge war ein Matrosenaufstand, der binnen
Anfang Oktober 1916 ordnete das preußische Kriegs- weniger Tage in eine landesweite Revolution um-
ministerium unter dem Eindruck antisemitischer Be- schlug. Am 9. November 1918 rief der Sozialdemo-
schwerden wegen angeblicher „jüdischer Drücke- krat Philipp Scheidemann in Berlin die Republik
bergerei“ eine „Judenstatistik“ im preußischen Heer aus. Der letzte Herrscher aus dem Haus der Ho-
an. Die Unterstellungen der Judenfeinde erwiesen henzollern, der Deutsche Kaiser und König von
sich als völlig grundlos. Die Erhebung aber war Preußen, Wilhelm II., erlebte seine Absetzung und
GRABENKRIEG nichts Geringeres als die erste staatliche Anerken- das Ende der Monarchie bereits außerhalb Deutsch-
Der Erste Weltkrieg nung und Legitimierung des Antisemitismus seit der lands: im Großen Hauptquartier im belgischen Spa,
erstarrte schnell in ebenso Judenemanzipation im 19. Jahrhundert: Darin lag wohin er sich am 29. Oktober begeben hatte.
sinnlosen wie verlustreichen die historisch einschneidende Bedeutung dieses Für die extreme Rechte stand zu diesem Zeit-
Stellungskämpfen, hier an nicht nur von deutschen Juden als schockierend punkt längst fest, wer die Schuld an der deutschen
der Westfront. Am Ende empfundenen Vorgangs. Niederlage trug. Namens des Alldeutschen Verban-
kam es in Deutschland zur Ende September 1918 kam auch die Oberste Hee- des forderte Heinrich Claß schon am 3. Oktober
Revolution. resleitung zu dem Ergebnis, dass Deutschland den 1918 die Gründung einer „großen, tapferen und
FOTOS: AKG
D
gleichen Wahlrechts (das seit 1919 auch den Frauen ie Angliederung des Sudetenlands im
zustand) und der späten Parlamentarisierung des Herbst 1938 war hingegen für die meisten
Regierungssystems im Zeichen der Niederlage von Deutschen bislang kein Herzensanliegen
1918. gewesen, die Zerschlagung der restlichen
In das Amt des Reichskanzlers, das ihm Reichs- Tschechoslowakei und die Errichtung des „Protekto-
präsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 rats Böhmen und Mähren“ im März 1939 erst recht
übertrug, gelangte Hitler zwar nicht aufgrund eines nicht. Dennoch waren die meisten Deutschen beein-
Wahlsiegs: Bei den Reichstagswahlen vom 6. No- druckt, dass auch diese Aktionen zur Steigerung deut-
vember 1932 hatten die Nationalsozialisten sogar ge- scher Macht von den Siegermächten ohne massive
„Republik genüber der vorausgegangenen Wahl vom 31. Juli Reaktionen hingenommen wurden. Und wie stets
1932 über zwei Millionen Stimmen verloren. Aber fanden sich auch jetzt Wissenschaftler, die Hitlers Ta-
Deutschösterreich“ Hitler blieb Führer der mit Abstand stärksten Partei, ten rechtfertigten. Der österreichische, seit 1935 in
Nach dem Zerfall und als solcher war er ein Machtfaktor, mit dem kon- Münster lehrende Rechtshistoriker Karl Gottfried Hu-
Österreich-Ungarns servative Politiker aus dem Umfeld des Altpreußen gelmann, ein entschiedener Großdeutscher, schrieb
wurde im November Hindenburg rechneten und den sie für ihre Zwecke 1940, die „Eingliederung“ des tschechischen Volks in
1918 in Wien der Staat einzuspannen gedachten. Nachdem er an die Spitze das Großdeutsche Reich sei vom Reichsbegriff her be-
HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES
„Deutschösterreich“ einer „nationalen Regierung“ berufen worden war, rechtigt und sinnvoll. Es müsse sogar einleuchten,
proklamiert als in der die Anhänger der monarchistischen Deutsch- „dass mit der Eingliederung des Protektorates Böh-
Bestandteil einer nationalen die Nationalsozialisten weit überwogen, men und Mähren in das großdeutsche Reich dessen
„Deutschen Republik“. hätte es nur eine Möglichkeit gegeben, Hitler abzu- Charakter als Reich … nur noch stärker hervortritt“.
Das Veto der Sieger- wählen: bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933. Von allen Brücken zwischen Hitler und dem ge-
mächte erzwang im Tatsächlich erreichte die NSDAP damals „nur“ 43,9 bildeten Deutschland war der Reichsmythos wohl
Vertrag von Saint- Prozent der Stimmen. Aber da die Koalitionspartner die wichtigste. Das „Reich“ brachte Empfindungen
Germain 1919 die der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ auf 8 Prozent zum Schwingen, die sich einer Kontrolle durch die
Namensänderung in kamen, ergab sich daraus eine eindeutige Mehrheit Vernunft zu entziehen schienen. Hitler war sich die-
„Österreich“. von 51,9 Prozent für die Regierung Hitler. ser Wirkung voll bewusst. Nach dem „Anschluss“
160 spiegel special geschichte 1 | 2007
DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND
E
manisch-deutsches Reich bestanden hat … Das deut- s war in der Regel nicht opportunistische
sche Volk ist nun erwacht und hat seiner tausend- Anbiederung, was deutsche Akademiker
jährigen Krone sich selbst als Träger gegeben.“ veranlasste, dem Regime ihre Feder und
Der Glanz des Reichs ließ viele über vieles hin- ihre Stimme zu leihen. Sie schrieben und
wegsehen. Als im September 1935 die „Nürnberger sprachen nicht wider besseres Wissen; sie stellten
Gesetze“ verabschiedet wurden, die die staatsbür- der Führung des Großdeutschen Reichs zur Verfü-
gerliche Gleichberechtigung der Juden aufhoben und gung, was sie für ihr Wissen hielten und was ihr
die „Nichtarier“ einer entwürdigenden Diskriminie- Glaube war. Sie stimmten mit Hitler wenn nicht in
rung unterwarfen, gab es, wenn man den amtlichen allem, so doch in vielem überein. In dem verball-
Berichten über die Stimmung in der Bevölkerung hornten deutschen Bildungsgut, aus dem er lebte
glauben darf, nicht nur keine Proteste, sondern Er- und das er in Politik umsetzte, konnten sich große
leichterung darüber, dass die „Judenfrage“ nunmehr Teile des gebildeten Deutschland immer noch wie-
auf gesetzlichem Weg gelöst schien. Den Krieg, der dererkennen – seine jüngeren Vertreter vorbehalt-
am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen be- loser als die älteren, die in der Zeit vor 1914 aufge-
gann, hatten die Deutschen nicht ersehnt, sondern wachsen waren und ihre Vorbehalte gegenüber der
gefürchtet. Als aber Rundfunk und Zeitungen Vulgarität des „Emporkömmlings“ nie ganz über-
zunächst nur Siegesmeldungen brachten, wuchs der wanden.
Stolz auf den „Führer“ und die Wehrmacht. Ihren In den Jahren von 1933 bis 1945 erreichte der
absoluten Höhepunkt erreichte Hitlers Popularität, deutsche Nationalismus das Stadium seiner äußers-
als im Juni 1940 Frankreich kapitulierte. Die Schmach ten Perversion. Im Bismarckreich waren die radika-
von 1918 schien ausgelöscht, der Erste Weltkrieg im len Judenfeinde eine Minderheit gewesen; im Reich
Nachhinein doch noch gewonnen. Adolf Hitlers waren die extremen Antisemiten an
Anders als die Feldzüge gegen Polen und Frank- der Macht. Die Deutschen hatten in ihrer Mehrheit
reich war der Krieg gegen die Sowjetunion kein weder rohe Gewalt gegenüber den Juden befür-
„Blitzkrieg“. Er war infolgedessen bei den Deut- wortet noch gar deren Ausrottung gefordert. Doch
schen auch nicht beliebt. Dennoch taten sie, was sie nachdem sie die staatsbürgerliche Entrechtung der
für ihre Pflicht hielten, und manche sehr viel mehr „nichtarischen“ Deutschen entweder begrüßt oder HOLOCAUST
als das. Von evangelischen und katholischen Bischö- widerspruchslos hingenommen hatten, waren sie Im Mai 1944 erreicht ein
fen erfuhr Hitler Lob und Anerkennung für seinen moralisch gelähmt. Über die Vernichtung der eu- Deportationszug mit Juden
Kampf gegen den atheistischen Bolschewismus. Der ropäischen Juden wurde während des Zweiten Welt- aus Ungarn das Vernich-
Bischof von Münster, Clemens August Graf von Ga- kriegs in Deutschland sehr viel mehr bekannt, als tungslager Auschwitz-
len, der mutige Kritiker der Tötung von Geistes- später zugegeben wurde. Doch zum Wissen gehört Birkenau. Durch Hitlers
kranken, zitierte in seinem Hirtenbrief vom 14. Sep- das Wissenwollen, und daran fehlte es bei den meis- Rassenwahn verloren sechs
tember 1941 sogar zustimmend Hitlers Wort von der ten Deutschen. Millionen Juden ihr Leben.
WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.); AP (R.)
Kiel Danzig
O STP RE U S SE N
Lübeck Rostock
P O MMERN W E ST-
Hamburg Stettin P RE USSE N Quelle: Putzger
Ha
Bremen
vel
Aller
Spree Frankfurt
Berlin (Oder) P O SE N
Wes Hannover
Ems
er
Elbe Oder
Rhe
in
Ne
Kassel
iße
Breslau
Köln Erfurt
Fu
Aachen Dresden
lda
SC HL ESI E N
We
EU P EN- a
rr
M A LMEDY
l Frankfurt am Main
se
Mo Ma
Mainz in
Inn
Innerdeutsche Grenze 1945 bis 1990
Freiburg München
Deutschland seit Oktober 1990
Bodensee
1920 bis 1935 unter Völkerbund-Verwaltung,
1947 bis 1956 autonom
Die Ideen der Menschen- und Bürgerrechte hatten Ersten Weltkrieg, nach 1945 nur selten zu hören. All-
seit dem späten 18. Jahrhundert auch in Deutschland mählich fanden auch einige der Deutschen Aner-
beredte Fürsprecher gefunden. Aber politisch er- kennung, die unter Einsatz ihres Lebens Widerstand
kämpft wurden diese Rechte von den Deutschen nicht. geleistet hatten, wobei die späten Gegner Hitlers aus
Am Ende war dies wohl der tiefere Grund, warum Adel, Militär, Beamtentum und Kirchen gegenüber
eine Bewegung wie der Nationalsozialismus 1933 die den frühen Opponenten aus der Arbeiterschaft
Herrschaft über Deutschland erringen und zwölf deutlich bevorzugt wurden: Aus dem Attentat vom
Großdeutschland Jahre lang behaupten konnte. Als 1945 alles vorüber 20. Juli 1944 wurde in den fünfziger Jahren eine Art
Schon in der Frankfur- war, zerfiel fast schlagartig, was vom „Führermythos“ Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland.
ter Paulskirche hatten noch übrig war. Den Deutschen und der Welt blieb er- Die SS galt schon in den ersten Nachkriegsjahren
1848/49 Abgeordnete spart, was Hitler sich für die Zeit nach dem „Endsieg“ als verbrecherisch; von der Wehrmacht hieß es da-
einen Bundesstaat aller vorgenommen hatte: die endgültige Überwindung des gegen, sie sei im Großen und Ganzen „anständig“
Deutschen in Ost- und Christentums, in dem nach seiner Überzeugung der geblieben. Der Mord an den europäischen Juden
Mitteleuropa ange- Geist des Judentums immer noch fortlebte. wurde nicht geleugnet, aber lange nur als ein Ver-
strebt. Die NSDAP Nach 1945 war fast alles anders als nach 1918. Die brechen unter anderen betrachtet, für das Hitler,
schrieb die Forderung Sieger besetzten das besiegte Land, und als sie sich Heinrich Himmler und ihre unmittelbaren Helfer die
1920 in ihr Programm. über seine Zukunft nicht verständigen konnten, teil- Verantwortung trugen. Die moralische Verurteilung
Nach dem Anschluss ten sie es. Soweit das Führungspersonal des „Drit- des Regimes und seiner obersten Führer ging Hand
Österreichs 1938 wurde ten Reichs“ den Krieg überlebt hatte und in die in Hand mit Verständnis für die vielen, die nur „ver-
der Reichstag „groß- Hände der Alliierten fiel, wurde es zur Rechenschaft führt“ worden waren, unter massivem Druck ge-
deutsch“, es folgten der gezogen. Frühzeitig gab es auch deutsche Stimmen, handelt oder ganz einfach ihre Pflicht getan hatten.
Rundfunk und die die von deutscher Schuld sprachen und eine gründ- Es bedurfte eines Generationenwechsels, damit
Fußballnationalmann- liche Umkehr forderten: Das „Stuttgarter Schuld- sich im Westen Deutschlands eine kritischere Sicht
schaft. Ab 1943 nannte bekenntnis“ des Rates der Evangelischen Kirche in der Jahre 1933 bis 1945, ja der neueren deutschen Ge-
sich der NS-Staat offi- Deutschland vom Oktober 1945 war ein solches Bei- schichte überhaupt durchsetzen konnte. Seit Anfang
ziell „Großdeutsches spiel. Beifall für Kriegsunschuld- und Dolchstoß- der sechziger Jahre wurde die bis dahin vorherr-
Reich“. legenden war, im Unterschied zur Zeit nach dem schende apologetische Deutung des Kriegsausbruchs
162 spiegel special geschichte 1 | 2007
DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND
von 1914 und der deutschen Kriegsziele im Ersten 3. Oktober 1990 ist das Doppelziel von 1848 verwirk-
Weltkrieg in Frage gestellt und schließlich überwun- licht. Drittens ist die deutsche Einheit zu westlichen
den. Seit Ende der siebziger Jahre rückte der Holo- Bedingungen, unter Beibehaltung der Mitgliedschaft
caust immer mehr ins Zentrum der Beschäftigung mit der Bundesrepublik im Atlantischen Bündnis, erreicht
der Zeitgeschichte. Von einem überwiegend selbst- worden. Damit hat Deutschland aufgehört, ein Pro-
kritischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit blem der europäischen Sicherheit zu sein.
kann man, was die Gesellschaft der Bundesrepublik
D
angeht, aber erst seit den achtziger Jahren sprechen. ie „alte“ Bundesrepublik hatte sich in ihrer
Eine zweite Chance in Sachen Demokratie er- Spätphase nach der inzwischen klassischen
hielten nach 1945 nur die Deutschen, die in den Formel des Historikers und Politikwissen-
westlichen Besatzungszonen, der späteren Bundes- schaftlers Karl Dietrich Bracher zunehmend
republik Deutschland, lebten. Nur hier war es mög- als eine „postnationale Demokratie unter National-
lich, aus den Erfahrungen der Weimarer Republik zu staaten“ verstanden. Das wiedervereinigte Deutsch-
lernen und eine funktionstüchtige parlamentarische land ist ein Nationalstaat, aber keiner des klassischen
Demokratie aufzubauen, die ihren Gegnern vor- Typs. Es ist ein postklassischer demokratischer Na-
sorglich den Kampf ansagte und allen Versuchen, die tionalstaat wie die anderen Mitglieder der Europäi-
Verfassung mit scheinbar legalen Mitteln zu beseiti- schen Union auch. Die „neue“ Bundesrepublik übt
gen, einen wirksamen Riegel vorschob. Das „Wirt- Teile ihrer Souveränität gemeinsam mit anderen Mit-
schaftswunder“ der fünfziger Jahre und die rasche gliedern dieses supranationalen Staatenverbunds aus
Rehabilitierung durch die Westalliierten taten das und hat andere Teile, wie die Währungshoheit, auf
ihre, um aus der Bundesrepublik eine westliche De- Einrichtungen der Union übertragen.
mokratie zu machen, wie es sie zuvor in Deutsch- Vom ersten deutschen Nationalstaat, dem von
land nicht gegeben hatte. Bismarck gegründeten Deutschen Reich, trennt das
Die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des wiedervereinigte Deutschland vieles – nämlich alles,
Westens konnte sich auch deshalb einigermaßen „or- was für den preußisch-deutschen Militär- und Ob-
ganisch“ vollziehen, weil die innenpolitischen Fron- rigkeitsstaat typisch war. Als Rechts-, Bundes- und
ten in der frühen Bundesrepublik völlig andere wa- Sozialstaat steht die „neue“ Bundesrepublik aber
ren als in der ersten deutschen Republik. Damals auch in Traditionen, die weit hinter die Weimarer
war die Rechte nationalistisch und die Linke inter- Republik zurückreichen. Dasselbe gilt für die parla-
nationalistisch gewesen. In der Ära Adenauer be- mentarische Debattenkultur und die Parteienge-
trieb die rechte Mitte unter Führung der Unionspar- schichte. Auch in räumlicher Hinsicht gibt es eine
teien eine Politik der supranationalen Integration, Kontinuität zwischen dem ersten und dem zweiten
während die gemäßigte Linke, die Sozialdemokratie deutschen Nationalstaat. Der Zwei-plus-Vier-Ver-
unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer, für trag, die völkerrechtliche Gründungsurkunde des
den Vorrang der Wiedervereinigung eintrat und so wiedervereinigten Deutschland, hat, wenngleich auf
ein nationales Profil gewann. Der Ruf, die Partei der einem sehr viel kleineren Territorium, Bismarcks
deutschen Einheit zu sein, half der SPD später, nach kleindeutsche Lösung insofern bestätigt, als diese
dem Machtwechsel von 1969, unter der Kanzlerschaft ein Deutschland ohne Österreich geschaffen hat.
Willy Brandts die Westbindung durch die Politik der Das Ergebnis einer so widerspruchsvollen Ge-
Ostverträge zu ergänzen und so die Folgen der deut- schichte wie der deutschen des 19. und 20. Jahrhun-
schen Teilung und namentlich die der Berliner Mau- derts in einem einzigen Satz zusammenzufassen er- MAUERFALL
er für die Deutschen erträglicher zu gestalten. scheint unmöglich. Doch es gibt einen solchen Satz. Am 9. November 1989
Den Deutschen, die in der Sowjetischen Besat- Er stammt aus der Rede, die Bundespräsident Ri- erzwangen DDR-Bürger die
zungszone, der späteren Deutschen Demokratischen chard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 in der Öffnung der Berliner Mauer.
Republik, lebten, wurde nach 1945 ein kommunisti- Berliner Philharmonie hielt, und lautet: „Der Tag ist Aus dem Aufstand gegen
sches Regime aufgezwungen, das zu keiner Zeit über gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte die SED wurde schnell eine
eine demokratische Legitimation verfügte. Sie konn- das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Volksbewegung für eine
ten sich von der Diktatur erst im Herbst 1989 durch Kreis der westlichen Demokratien findet.“ ✦ geeinte Nation.
jene „friedliche Revolution“ befreien, deren An-
fänge bis in das Jahr 1980 zurückreichen, als in
Polen die unabhängige Gewerkschaft „Solidarno£ƒ“
gegründet wurde. Die neugewonnene Freiheit nutz-
ten die Ostdeutschen, um im Jahr darauf die DDR
durch Beitritt zur Bundesrepublik aufzulösen.
Seit dem 3. Oktober 1990 ist die deutsche Frage in
jeder Hinsicht gelöst. Erstens ist durch die Wieder-
vereinigung endgültig geklärt, wo Deutschland liegt,
wo seine Grenzen verlaufen, was dazu gehört und
was nicht. Die deutsche Frage konnte also nur im
Zusammenhang und zeitgleich mit einem anderen
Jahrhundertproblem, der polnischen Frage, gelöst
werden: Die völkerrechtlich verbindliche Anerken-
nung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und
Görlitzer Neiße war eine der Voraussetzungen dafür,
NORBERT MICHALKE