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DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND

DEUTSCHLAND, EINE
JAHRHUNDERTFRAGE
Einig und frei, so hatten sich die Bürgerrevolutionäre von 1848 die deutsche
Nation erträumt. Doch im Kaiserreich galt Demokratie als undeutsch, und die
Hetze gegen innere „Reichsfeinde“ bereitete der NS-Ideologie den Boden.
Von Heinrich August Winkler

REICHSGRÜNDUNG
König Wilhelm I. von
Preußen wird von Bismarck
im Spiegelsaal zu Versailles
zum Deutschen Kaiser
ausgerufen. Das neue
Reich ist „kleindeutsch“,
ohne Österreich.

Gemälde von Anton von Werner.


AKG

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S
onderausgaben der Zeitungen brachten die Revolution von 1848/49 gewesen. Erreicht hatten sie HEINRICH AUGUST
Nachricht des Tages in alle Teile des eben ge- damals keines der beiden Ziele. Immerhin war seit WINKLER
gründeten deutschen Kaiserreichs: Die Kapi- jener Zeit vielen bewusst, dass es zwischen dem ist seit 1991 Professor
tulation von Paris stand unmittelbar bevor. Wünschenswerten und dem Möglichen zu unter- für neuere Geschichte
Man schrieb den 27. Januar 1871. In Bonn griff ein 53- scheiden galt. Ein „Großdeutschland“ unter Ein- an der Humboldt-
jähriger Historiker zur Feder, der zu den liberalen schluss Österreichs mochte man wünschen, aber ge- Universität in Berlin.
Vorkämpfern der deutschen Einheit gehörte: Heinrich gen den Willen der Herrschenden im habsburgi-
von Sybel. In einem Brief an seinen Kollegen Her- schen Vielvölkerreich war es nicht durchsetzbar.
mann Baumgarten, der in Karlsruhe Geschichte lehr- Folglich musste man auf eine bescheidenere Art von
te, bekannte er sich zu seinen Freudentränen: „Wo- deutscher Einheit hinarbeiten: ein „Kleindeutsch-
durch hat man die Gnade Gottes verdient, so große land“ ohne Österreich und mit einem preußischen
und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird Erbkaiser an der Spitze.
man nachher leben? Was 20 Jahre der Inhalt alles 1849 war diese Lösung daran gescheitert, dass der
Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., gar nicht
unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in daran dachte, ein deutscher Kaiser von Volkes Gna-
meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das den zu werden. 17 Jahre später, 1866, schuf der
weitere Leben nehmen?“ preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck
Die deutschen Liberalen hatten Grund zur Freu- durch einen siegreichen Krieg gegen das Habsbur-
de. „Einheit und Freiheit“ war ihre Forderung in der gerreich und dessen Verbündete in Süd- und Mittel-

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CHRONIK

DER DEUTSCHE WEG


1871 Nach der Reichsgründung nimmt der Druck 1. September 1939
auf Minderheiten zu. Kanzler Otto von Bismarck Das „Dritte Reich“
lässt Katholiken und ab 1878 Sozialdemokraten greift Polen an. Nach
verfolgen; die polnische, die französische und die dem Sieg annektiert
dänische Minderheit werden diskriminiert. Anti- Hitler Danzig, West-
semitische Verbände verzeichnen wachsenden preußen, das Warthe-
Zulauf. Schon Zeitgenossen bezeichnen die land und Ostober-
Politik der Ausgrenzung sogenannter Reichsfeinde schlesien. Zentralpo-
als „innere Reichsgründung“. len wird als „General-
gouvernement“ dem
22. Juli 1913 Das „Reichs- und Staatsangehörig- Reich angegliedert.
keitsrecht“ schreibt das Abstammungsprinzip fest:
Nur in Ausnahmefällen kann man ohne deutsche 27. Juli 1941 Hitler
Vorfahren Deutscher werden. Die Regelung soll erklärt im Hauptquar-
Auswanderern die Möglichkeit zur Rückkehr ge- tier, große Gebiete
ben. Es herrscht Arbeitskräftemangel, und Berlin Propaganda-Postkarte zum der europäischen
will auf Gastarbeiter möglichst verzichten. Erst „Anschluss“ Österreichs Sowjetunion ein-
1999 wird das Abstammungsprinzip ergänzt. schließlich der Krim
sollen nach einem „Endsieg“ Teil des deutschen
1914 bis 1918 Im Ersten Weltkrieg strebt das Herrschaftsgebiets werden. Die NS-Führung plant
Reich nach der Herrschaft über Europa. Die deut- die Ermordung von Millionen Slawen.
sche Regierung will Teile Frankreichs annektieren,
den Kolonialbesitz erweitern, Belgien als Vasallen- 25. November 1941 Eine Verordnung legt fest,
staat ausbeuten; die Ziele im Osten bleiben unklar. dass deportierte jüdische Deutsche die Staatsan-
Aufgrund der Niederlage ruft der Sozialdemokrat gehörigkeit verlieren. Im Holocaust sterben unge-
Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die fähr 6 Millionen Menschen aus ganz Europa.
Republik aus. Kaiser Wilhelm II. dankt ab.
1. November 1943 Die Sowjetunion, Großbri-
tannien, die USA und China vereinbaren, dass
nach einem Sieg die Republik Österreich wieder
errichtet werden soll.

7./8. Mai 1945 Das Oberkommando der Wehr-


macht kapituliert. Deutschland verliert infolge des
Krieges ein Viertel seines Territoriums von 1937.
14 Millionen Deutsche flüchten oder werden ver-
trieben, mehrere hunderttausend Deutsche sterben.

1949 Die Bundesrepublik Deutschland und die


Wrack eines deutschen Panzers im Ersten Weltkrieg von der SED beherrschte DDR werden gegründet.
Beide Teilstaaten bekennen sich zur deutschen
1919 Mit dem Friedensvertrag von Versailles ver- Einheit und erheben den Anspruch, für alle Deut-
liert das Reich 13 Prozent seines Territoriums; schen zu sprechen.
3,5 Millionen ehemals Reichsdeutsche leben fortan
im Ausland. Die Alliierten verbieten den Anschluss 13. August 1961 Die SED-Führung beginnt mit
CHARLES ADRIEN / SOCIÉTÉ FRANCAISE / PHOTOS 12. COM (L. U.); AKG (O.)

Deutsch-Österreichs. dem Mauerbau. Sie führt später eine DDR-Staats-


bürgerschaft ein und gibt den gesamtdeutschen
30. Januar 1933 Adolf Hitler wird Reichskanz- Geltungsanspruch auf.
ler. Er fordert, dass alle Deutschen in einem Staat
leben sollen und betreibt den Anschluss Öster- 9. November 1989 Die Mauer fällt. Bei den ers-
reichs, der 1938 erfolgt. Insgeheim strebt der Dik- ten freien Wahlen zur Volkskammer im März 1990
tator nach der Weltherrschaft. erhalten die Parteien, die sich für eine baldige
Einheit aussprechen, ungefähr drei Viertel der
15. September 1935 Auf einem Parteitag der Stimmen.
NSDAP werden die „Nürnberger Gesetze“ ver-
kündet. Jüdische Deutsche sind danach nur Staats- 3. Oktober 1990 Die DDR tritt der Bundesrepu-
angehörige, nicht Reichsbürger. Ihre Rechte wer- blik bei. Diese bleibt in der Nato. Das geeinte
den drastisch eingeschränkt. Deutschland verzichtet auf die Ostgebiete.

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deutschland die Voraussetzungen für eine Lösung


der deutschen Frage im kleindeutschen Sinn. Zeit-
genossen aus allen politischen Lagern empfanden
Bismarcks Politik als „revolutionär“ oder sprachen
von einer „Revolution von oben“. Um einen deut-
schen Nationalstaat zu gründen, musste jedoch noch
ein weiteres Hindernis, das Veto des Kaisers der
Franzosen, Napoleon III., beseitigt werden. Das ge-
schah im Verlauf eines weiteren Waffengangs: jenes
deutsch-französischen Krieges von 1870/71, über des-
sen Ausgang die meisten Deutschen ähnlich begeis-
tert waren wie Heinrich von Sybel.
Auch die deutschen Katholiken, die 1866, nach
dem entscheidenden preußischen Sieg bei König-
grätz, die Trennung vom katholischen Österreich
lebhaft beklagt hatten, und die preußenfeindlichen
Demokraten in Württemberg und anderen Staaten
des „dritten Deutschland“ begrüßten Anfang 1871 in
ihrer großen Mehrheit die Gründung des kleindeut-
schen Kaiserreichs. Abseits standen nur die Sozial-
demokraten, soweit sie auf August Bebel und seine
Ratgeber im englischen Exil, Karl Marx und Fried-
rich Engels, hörten. Sie waren die einzigen erklärten
Gegner der Annexion von Elsass-Lothringen, und
am 28. November 1870 stimmten ihre vier Abge- berger, ein ehemaliger 48er Demokrat und jetzt ein DEUTSCH-FRANZÖSISCHER
ordneten (zusammen mit vier Anhängern des ver- führender Kopf der Nationalliberalen, im Dezember KRIEG
storbenen Arbeiterführers Ferdinand Lassalle) im 1866 in einem Aufruf an die Wähler in Rheinhessen Preußische Soldaten posie-
Norddeutschen Reichstag, dem Parlament des kurz- anlässlich der Landtagswahlen im Großherzogtum ren nach der Besetzung von
lebigen Norddeutschen Bundes, gegen die Bewilli- Hessen-Darmstadt. Paris im Fort d’Aubervilliers.
gung weiterer Kriegskredite. Als Gegner von Einheit und Freiheit nahmen die Der Sieg über den
Als sich Wilhelm I., der König von Preußen, am Nationalliberalen die „Ultramontanen“ wahr: Die „Erbfeind“ ermöglichte die
18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Loyalität der deutschen Katholiken, so lautete der Reichsgründung.
Versailles zum Deutschen Kaiser proklamieren ließ, Vorwurf, gelte eher dem Papst „jenseits der Berge“
war eines der beiden großen Ziele von 1848, das (ultra montes) als dem Deutschen Kaiser, mehr der
der Einheit, erreicht. Die andere Forderung, die angeblich universalen Kirche als dem deutschen Na-
nach Freiheit, erfüllte Bismarck aber nicht. Er konn- tionalstaat. Der Katholizismus erschien aus liberaler
te es auch gar nicht, weil weder Preußen noch die Sicht als feudal und rückschrittlich, der Protestantis-
anderen Bundesstaaten bereit waren, ihren Einfluss mus als zumindest vergleichsweise fortschrittlich und
zugunsten des Reichstags aufzugeben. liberal. Folglich kam das neue Reich nicht darum
herum, jenen „großen Kulturkampf“ gegen den welt-

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in kräftiges Stück Demokratie gewährte Bis- lichen Machtanspruch der katholischen Kirche zu
marck den Deutschen, soweit sie männli- führen, von dem der linksliberale Parlamentarier
chen Geschlechts waren und das 25. Le- und berühmte Mediziner Rudolf Virchow am 17. Ja-
bensjahr vollendet hatten, dennoch: Für nuar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus sprach.
die Wahlen zum Reichstag galt das allgemeine, Konservative Protestanten äußerten sich mitun-
gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wie es 1849 ter ähnlich militant. Der spätere Hof- und Dompre-
die Deutsche Nationalversammlung in der Frank- diger Adolf Stoecker, der sich seit Ende der 1870er
furter Paulskirche beschlossen hatte. Es war ein Jahre als antisemitischer Agitator hervortat, schrieb Kulturkampf
sehr viel fortschrittlicheres Wahlrecht, als es libe- wenige Tage nach der Kaiserproklamation von Ver- Durch strikte Trennung
rale Mustermonarchien wie Großbritannien oder sailles an einen befreundeten Professor: „Das heili- von Kirche und Staat
Belgien damals kannten. Der Reichstag hatte in der ge evangelische Reich deutscher Nation vollendet versuchten Bismarck
Gesetzgebung ein gewichtiges Wort mitzureden. sich … In dem Sinn erkennen wir die Spur Gottes und liberale Politiker,
Eine parlamentarisch verantwortliche Regierung von 1517 bis 1871.“ den Katholizismus zu
gab es in Bismarcks Deutschland jedoch nicht. Das Von der Reformation zur Reichsgründung: Für die schwächen. Fortschritte
Deutsche Reich war nach seiner Verfassung keine deutschen Katholiken gab es im Kaiserreich nur dann wie die Zivilehe (1875)
parlamentarische, sondern nur eine konstitutionel- einen gesellschaftlich anerkannten Platz, wenn sie standen neben Repres-
le Monarchie. die kulturelle Hegemonie des Protestantismus und sionen: Kleriker wurden
Die Liberalen, die zur Zusammenarbeit mit Bis- die politische Hegemonie Preußens anerkannten. Das mit Haft bedroht
marck bereit waren – die „Nationalliberalen“, wie Wort vom „evangelischen Kaisertum“ machten sich („Kanzelparagraf“), die
sie sich seit 1867 nannten – betrachteten die Grün- auch Reichskanzler Otto von Bismarck und der na- Jesuiten verboten, die
dung des Deutschen Reichs als großen historischen tionalliberale Parteiführer Rudolf von Bennigsen zu polnische Minderheit
Fortschritt und hielten es für ausgemacht, dass sich eigen. Der „Kulturkampf“ im ersten Jahrzehnt des bedrängt. Weil die harte
das gebildete und besitzende Bürgertum im deut- Kaiserreichs war zwar alles in allem ein Fehlschlag: Linie der katholischen
schen Nationalstaat viel besser würde entfalten kön- Die Katholiken scharten sich um ihre verfolgten Zentrumspartei starken
nen als in den deutschen Fürstenstaaten der älteren Geistlichen und strömten bei den Wahlen vermehrt Zulauf bescherte, lenkte
und jüngeren Vergangenheit. „Ist denn die Einheit der katholischen Partei, dem Zentrum, zu. Aber das Bismarck schließlich
CORBIS

nicht selbst ein Stück Freiheit?“, fragte Ludwig Bam- Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein, überdauer- ein.
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einzigen Partei zusammenschlossen und von Wahl zu


Wahl mehr Stimmen auf sich vereinigen konnten.
Als im späten Frühjahr 1878 kurz hintereinander
zwei anarchistische Einzeltäter Attentate auf Kaiser
Wilhelm I. verübten (wobei der greise Monarch beim
zweiten schwer verletzt wurde), machte der „Eiser-
ne Kanzler“ wahrheitswidrig die Sozialdemokratie
für die Anschläge verantwortlich. Dem von ihm un-
terbreiteten „Gesetz gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie“ stimmten im
Oktober 1878 unter massivem politischem und pu-
blizistischem Druck auch die Nationalliberalen zu.
Das Sozialistengesetz ordnete das Verbot sozialis-
tischer Vereine, Versammlungen und Druckschriften
an und erlaubte die Ausweisung sozialdemokrati-
scher Agitatoren sowie die Verhängung des „kleinen
Belagerungszustandes“ in besonders „gefährdeten“
Bezirken. Zunächst auf zweieinhalb Jahre befristet,
bis 1890 aber viermal verlängert, war das Sozialis-
tengesetz der klassische Fall eines Ausnahmegeset-
zes. Es widersprach damit krass liberalen Vorstel-
lungen vom Rechtsstaat. Die Zustimmung der Na-
tionalliberalen bedeutete also nicht mehr und nicht
weniger als eine Kapitulation des rechten Flügels
des Liberalismus vor Bismarcks innerstaatlicher
Machtpolitik.
Die Entliberalisierung des Nationalliberalismus war
mit dem Sozialistengesetz noch nicht abgeschlossen.
Im Jahr 1879 stimmte eine starke Minderheit der
nationalliberalen Reichstagsfraktion Schutzzöllen für
Eisen und Getreide zu und verabschiedete sich damit
vom Freihandel. Die Parole, mit der die Schwer-
industrie die Wende in der Handelspolitik betrieb,
lautete „Schutz der nationalen Arbeit“.
Die Wortwahl war bezeichnend. Vor 1871 hatte
„national“ etwas völlig anderes bedeutet als Ende
der 1870er Jahre. Als „national“ galten bis zur
Reichsgründung die Kräfte, die für Einheit und Frei-
heit eintraten. „National“ und „liberal“ oder „fort-
schrittlich“ waren fast auswechselbare Begriffe. „Na-
tional“ zu sein hieß soviel wie „antifeudal“ und
„antipartikularistisch“ zu sein. Nach der Reichs-
JUDENHASS te die Zeit der Kampfgesetze, die in den 1880er Jah- gründung wanderte der Begriff „national“ allmäh-
Karikatur aus dem ren durch mehrere Milderungs- und Friedensgesetze lich von links nach rechts. 1878/79 hieß „national“
„Süddeutschen Postillon“, abgelöst wurden. Nicht wenige Katholiken meinten in vor allem „anti-international“, nämlich gegen die
1902. Antisemitische der Folgezeit, ihr Deutschtum durch einen besonders internationale Sozialdemokratie, gegen das interna-
Ausfälle wie dieser sind im ausgeprägten Nationalismus beweisen zu müssen. tionale Freihändlertum und sehr häufig auch schon
Wilhelminischen Kaiserreich Der Kulturkampf war, soweit es nach Bismarck gegen das „internationale Judentum“ zu sein.
salonfähig. und den Nationalliberalen ging, ein Versuch, aus der

D
sehr viel älteren und größeren deutschen Kultur- er Aufstieg des „modernen“, nicht mehr
nation, der auch Österreich zugehörte, eine engere, in erster Linie religiös, sondern wirt-
kleindeutsche Staatsnation herauszuentwickeln. Im schaftlich, kulturell und rassisch argu-
Zeichen des gemeinsamen evangelischen Glaubens mentierenden Antisemitismus im ersten
und des Gegensatzes zu „Rom“ und den „Römlin- Jahrzehnt des Kaiserreichs hing mit der sogenann-
gen“ konnten sich Preußen und Nichtpreußen, Li- ten Gründerkrise zusammen. Am 9. Mai 1873 war in
berale und Konservative treffen. Der Preis dieser Wien die Börse zusammengebrochen. Der anschlie-
Art von konfessionell geprägter Nationsbildung war ßende „große Krach“ kam einem Erdbeben gleich,
die Ausgrenzung eines Drittels der Deutschen: der das ganz Europa erschütterte. Die Schuldigen am
romtreuen Katholiken. Doch sie galten nicht als die Bankrott zahlreicher Banken und Firmen waren
einzigen „Reichsfeinde“. Mit dem gleichen herab- rasch gefunden: Es waren nach Meinung der Anti-
setzenden Namen wurden die nationalen Minder- semiten internationale „Börsenjuden“, die sich in al-
heiten bedacht: die Polen in den preußischen Ost- len europäischen Ländern, so auch in Deutschland,
provinzen, vor allem im „Großherzogtum Posen“, des Liberalismus als politischen Instruments be-
die annektierten Elsässer und Lothringer und die dienten. Von internationalen Juden gelenkt war an-
Dänen in Nordschleswig. geblich auch die Sozialdemokratie, die aus ihrem
Als noch gefährlichere „Reichsfeinde“ galten die Bekenntnis zur internationalen Solidarität des Pro-
Sozialdemokraten, die sich 1875 in Gotha zu einer letariats ja auch gar keinen Hehl machte.
BPK

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Im Herbst 1879 tauchte im Umkreis des Publizis- Nur eine Minderheit der Deutschen folgte
ten Wilhelm Marr erstmals der Begriff „Antisemi- während der Kanzlerschaft Bismarcks, die am 20.
tismus“ auf. Um dieselbe Zeit wurde in Berlin von März 1890 mit der Entlassung des Reichsgründers
Anhängern desselben Autors die „Antisemitenliga“ durch Kaiser Wilhelm II. endete, den Parolen der
gegründet. Träger der Judenfeindschaft waren nicht radikalen Antisemiten. Aber diejenigen, die zum
nur verängstigte kleine Kaufleute, Handwerker und Kampf gegen die Antisemiten aufriefen, waren auch
Bauern, sondern auch Studenten und Akademiker, nur eine Minderheit. Die Mehrheit war von den Ak-
die sich vor jüdischen Konkurrenten, besonders in tivitäten der Judenfeinde nicht sonderlich beunruhigt
den freien Berufen, fürchteten. Ihnen allen gab ein und von Vorurteilen gegenüber den Juden nicht frei.
angesehener Historiker, der bis Juli 1879 auch Mit- Als in den 1890er Jahren eine neue Hochkonjunktur
glied der nationalliberalen Reichstagsfraktion gewe- einsetzte, ließ der Zulauf zu den in den späten sieb-
sen war, das zündende, noch lange nachhallende ziger und den achtziger Jahren gegründeten Antise-
Stichwort: Heinrich von Treitschke. In den von ihm mitenparteien rasch nach. Aber inzwischen war die
herausgegebenen „Preußischen Jahrbüchern“ be- Judenfeindschaft längst „gesellschaftsfähig“ und Teil ADOLF STOECKER
schwor er die Gefahr, die von den unaufhaltsam über der Programmatik der Deutschkonservativen Partei Der zeitweilige Hofprediger
die Ostgrenze nach Deutschland einströmenden, be- und des ihr nahestehenden, einflussreichen Bundes und Gründer der Christlich-
harrlich nach oben strebenden Juden ausgehe: „Bis in der Landwirte geworden. Wer sich in der Wilhelmi- sozialen Partei bekämpfte
die Kreise der höchsten Bildung nischen Ära zur politischen Juden, weil sie Liberale und
hinauf … ertönt es heute wie aus Rechten zählte, stand dem Anti- Kapitalisten seien.
einem Munde: Die Juden sind semitismus in der Regel nicht
unser Unglück.“ fern.
Acht Jahre nach Treitschke Nichts war der antisemiti-
bezeichnete der bekannte Ori- schen Agitation der Rechten so
entalist Paul de Lagarde, der ur- förderlich wie der Aufstieg der
sprünglich Paul Anton Bötticher Linken. Bei den Reichstagswah-
hieß, die Juden als „wucherndes len von 1912 errangen die Sozi-
Ungeziefer“, das es zu zertreten aldemokraten einen überragen-
gelte. „Mit Trichinen und Bacil- den Sieg: Schon seit 1890, dem
len wird nicht verhandelt. Tri- Jahr, in dem das Sozialistenge-
chinen und Bacillen werden setz auslief, die Partei mit den
auch nicht erzogen, sie werden meisten Stimmen, stieg die SPD
so rasch und so gründlich wie nun zur stärksten Fraktion auf.
möglich vernichtet.“ Ihr Stimmenanteil belief sich auf
Eine radikalere Lösung der 34,8 Prozent.
„Judenfrage“ als die physische Kurz nach der Wahl erschien
Vernichtung der Juden war nicht ein Buch unter dem Titel „Wenn
denkbar. Dass für die Juden auf ich der Kaiser wär“. Hinter dem
der Welt kein Platz mehr sein soll- ARBEITERPARTEI Pseudonym „Daniel Frymann“
te, ergab sich für extreme deut- Der Wahlerfolg der Sozialdemokratie verbarg sich der Vorsitzende des
sche Antisemiten scheinbar von 1912, hier karikiert auf einer Farbpostkar- Alldeutschen Verbandes, der
selbst aus ihrer Überzeugung, te aus demselben Jahr, veränderte die Mainzer Rechtsanwalt Heinrich
dass die Juden überall auf der politischen Koordinaten im Reich. Claß. Die Juden bezeichnete er
Welt und damit nirgends zu Hau- als „Träger und Lehrer des heu-
se waren. Die Juden waren aus dieser Sicht entweder te herrschenden Materialismus“. Zur Abwehr der jü-
keine Nation oder eine Nation in der Nation, in jedem dischen Gefahr forderte er, die Einwanderung von
Fall aber ein Fremdkörper. Ihr eigenes „Weltbürger- Juden zu verbieten, die „landansässigen“ Juden
tum“ hatten die Deutschen spätestens mit der Errich- vom öffentlichen Leben auszuschließen, ihnen das
tung eines Nationalstaats hinter sich gelassen. Von Wahlrecht zu entziehen und den prozentualen An-
den Juden hingegen nahmen viele Deutsche an, sie teil jüdischer Studenten auf den jüdischen Bevölke-
seien hierzu nicht willens oder in der Lage. rungsanteil herabzudrücken. Der Kampfruf, den
Vermutlich war es so, dass die Deutschen, die Claß den Juden entgegenschleuderte, lautete:
der Philosoph Helmuth Plessner eine „verspätete „Deutschland den Deutschen“. In die Tat umsetzen
Nation“ genannt hat, sich nach 1871 ihrer nationa- sollte diese Forderung der „Führer“. Der Kaiser war
len Identität zutiefst unsicher waren. Nachdem sie wohl die wünschenswerte, aber nicht unbedingt die
Frankreich, den äußeren „Erbfeind“, überwunden einzig vorstellbare Verwirklichung des Führerge-
hatten, war für viele die Versuchung groß, sich einen dankens: „Wenn heute der Führer ersteht, wird er
inneren Erbfeind zu erschaffen, der die Frage be- sich wundern, wie viele Getreue er hat – und wie
AKG (M.); SÜDDEUTSCHER VERLAG (R. O.); AKG (R. U.)

antworten half, was deutsch und was undeutsch sei. wertvolle, selbstlose Männer sich um ihn scharen.“
Das „internationale Judentum“ eignete sich für Zählte man die Reichstagssitze der Sozialdemo-
diese Rolle besonders gut, weil es mit fast allem in kraten, der linksliberalen Fortschrittlichen Volks- HEINRICH CLASS
Verbindung gebracht werden konnte, was eher kon- partei und des katholischen Zentrums zusammen, Als Vorsitzender des einfluss-
servativ gestimmte Deutsche fürchteten. Da Pro- so ergab sich 1912 zwar noch keine Links-, aber reichen „Alldeutschen
testanten und Katholiken, gläubige und nicht gläu- doch eine Anti-rechts-Mehrheit. In einem solchen Verbandes“, war Claß Wort-
bige Christen in diesem Punkt übereinstimmen Parlament Rüstungsvorlagen durchzusetzen war führer einer expansiven
konnten, schien das Judentum als innerer Feind für äußerst schwierig. Für die nächsten Reichstags- „Weltpolitik“. Die deutschen
den nationalen Zusammenhalt sogar noch mehr zu wahlen, die 1917 fällig waren, war ein weiterer Stim- Juden wollte er vom öffent-
leisten als das ultramontane Rom. menzuwachs für die Sozialdemokraten und die lichen Leben ausschließen.
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Linksliberalen, wenn nicht gar eine „linke“ Mehr- Krieg nicht mehr gewinnen konnte. Die Verantwor-
heit zu erwarten. tung für die Niederlage aber wollte sie auf die Mehr-
Auf der politischen Rechten und den Spitzen des heitsparteien des Reichstags – die SPD, das Zen-
Militärs war dieser Gedanke ständig präsent. Er trug trum und die Fortschrittliche Volkspartei – abschie-
das Seine dazu bei, dass sich nach der Ermordung ben, die sich im Jahr 1917 in einer Resolution für ei-
des österreichischen Thronfolgerpaars in Sarajevo nen Verständigungsfrieden ohne erzwungene Ge-
am 28. Juni 1914 bei den Eliten des Reichs die Stim- bietsabtretungen und politische, wirtschaftliche und
mung des „Jetzt oder nie“ verbreitete. Der Erste finanzielle Vergewaltigungen ausgesprochen hatten.
Weltkrieg war, was die deutsche Seite anging, eine Die Mehrheitsparteien waren ihrerseits bereit, in
„Flucht nach vorn“. Das lag nicht nur am interna- die Bresche zu springen und die Regierung zu über-
tionalen Rüstungswettlauf, sondern auch an der in- nehmen. Ihr Kalkül war einfach: Verwandelte sich
nenpolitischen Sackgasse, in die die Reichsleitung Deutschland von einer konstitutionellen Monarchie
unter Reichskanzler Theobald von Bethmann Holl- in eine parlamentarische Monarchie, mochte es
DOLCHSTOSSLEGENDE weg 1912 geraten war. leichter sein, die siegreichen westlichen Demokrati-
Deutschnationale schoben Die vielzitierte „Kriegsbegeisterung“ von 1914 en für einen milden Frieden zu gewinnen. Am 4. Ok-
die Schuld am Zusammen- war von kurzer Dauer, und sie hatte nie das ganze tober 1918 erhielt das Reich die erste Regierung, die
bruch der Front 1918 „dem Land erfasst: Sie war in den Städten größer als auf sich auf das Vertrauen einer Mehrheit des Reichstags
Judentum“ in der Heimat zu. dem Land, bei den Arbeitern sehr viel schwächer als stützen konnte. Am 28. Oktober traten die entspre-
Illustration aus einem NS- bei Bürgern, „Kleinbürgern“ und Angestellten, und chenden Änderungen der Reichsverfassung in Kraft.
Schulungsheft von 1942. nirgendwo so stark wie in der akademischen Ju-

D
gend. Dass im August 1914 auch die Sozialdemo- ie Hoffnung, durch diese „Revolution von
kraten für die Bewilligung von Kriegskrediten oben“ eine „Revolution von unten“ zu
stimmten, entzog der Kampfparole von den „vater- vermeiden, erfüllte sich jedoch nicht. Als
landslosen Gesellen“ zwar vorübergehend den Bo- die Seekriegsleitung an der neuen zivilen
den. Doch je länger der Krieg dauerte, desto brüchi- Reichsleitung vorbei der Flotte den (militärisch sinn-
ger wurde der „Burgfriede“. losen) Befehl gab, gegen England auszulaufen, setz-
Nach dem Schwinden der Siegeshoffnungen te sie die „Oktoberreformen“ faktisch außer Kraft.
wuchs das Bedürfnis, Schuldige namhaft zu machen. Die Folge war ein Matrosenaufstand, der binnen
Anfang Oktober 1916 ordnete das preußische Kriegs- weniger Tage in eine landesweite Revolution um-
ministerium unter dem Eindruck antisemitischer Be- schlug. Am 9. November 1918 rief der Sozialdemo-
schwerden wegen angeblicher „jüdischer Drücke- krat Philipp Scheidemann in Berlin die Republik
bergerei“ eine „Judenstatistik“ im preußischen Heer aus. Der letzte Herrscher aus dem Haus der Ho-
an. Die Unterstellungen der Judenfeinde erwiesen henzollern, der Deutsche Kaiser und König von
sich als völlig grundlos. Die Erhebung aber war Preußen, Wilhelm II., erlebte seine Absetzung und
GRABENKRIEG nichts Geringeres als die erste staatliche Anerken- das Ende der Monarchie bereits außerhalb Deutsch-
Der Erste Weltkrieg nung und Legitimierung des Antisemitismus seit der lands: im Großen Hauptquartier im belgischen Spa,
erstarrte schnell in ebenso Judenemanzipation im 19. Jahrhundert: Darin lag wohin er sich am 29. Oktober begeben hatte.
sinnlosen wie verlustreichen die historisch einschneidende Bedeutung dieses Für die extreme Rechte stand zu diesem Zeit-
Stellungskämpfen, hier an nicht nur von deutschen Juden als schockierend punkt längst fest, wer die Schuld an der deutschen
der Westfront. Am Ende empfundenen Vorgangs. Niederlage trug. Namens des Alldeutschen Verban-
kam es in Deutschland zur Ende September 1918 kam auch die Oberste Hee- des forderte Heinrich Claß schon am 3. Oktober
Revolution. resleitung zu dem Ergebnis, dass Deutschland den 1918 die Gründung einer „großen, tapferen und

FOTOS: AKG

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schneidigen Nationalpartei und rücksichtslosesten
Kampf gegen das Judentum, auf das all der nur zu
berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten
Volkes abgelenkt werden muss“. Zweieinhalb Wo-
chen später, am 19. und 20. Oktober, rief er die
Spitzengremien seines Verbands auf, „die Lage zu
Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als
Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen“. In An-
lehnung an Worte, die Heinrich von Kleist einst auf
Napoleon I. gemünzt hatte, gab er gegen Ende
seiner Rede die Parole aus: „Schlagt sie tot, das
Weltgericht / fragt Euch nach den Gründen nicht.“
Das Ziel, mit dem die deutschen Eliten in den
Ersten Weltkrieg gezogen waren, hieß Hegemonie in
Europa und Aufstieg zur Weltmacht. Am Ende stand
ein Friedensvertrag, den die Deutschen als schrei-
endes Unrecht empfanden, obwohl er das Reich be-
stehen ließ und ihm die Möglichkeit einräumte, wie-
der zur Großmacht zu werden. Eine selbstkritische
Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegsschuld in den Friedensverträgen von Versailles und St. VERSAILLES
fand nicht statt, obschon bereits im April 1919 eine Germain. In Deutschland und Österreich aber blieb Der deutsche Außenminister
interne Aktensammlung vorlag, die keinen Zweifel die großdeutsche Idee lebendig. Im Verlauf der Hermann Müller und
daran ließ, dass die Reichsleitung im Juli 1914 alles zwanziger und dreißiger Jahre verband sie sich im- Verkehrsminister Johannes
getan hatte, die internationale Krise zu verschär- mer mehr mit der Erinnerung an das Heilige Römi- Bell unterzeichnen am
fen. In Abwehr der alliierten These, Deutschland sche Reich Deutscher Nation, das sich 1806 unter 28. Juni 1919 den Friedens-
und seine Verbündeten trügen die alleinige Verant- dem ultimativen Druck Napoleons I. aufgelöst hat- vertrag von Versailles. Die
wortung für den Kriegsausbruch, entstand eine te. Das Alte Reich hatte immer etwas anderes und für Deutschland überaus
Kriegsunschuldlegende, die ebenso viel Unheil stif- mehr sein wollen als ein Nationalstaat. Es hatte sich harten Bedingungen stießen
tete wie ihre Zwillingsschwester, die Dolchstoß- im Mittelalter als Schutzmacht der abendländischen auf breite Kritik.
legende – die Behauptung, „marxistischer“ (oder Christenheit verstanden und eine universale, ja Gemälde von William Orpen,
„jüdischer“) Verrat an der Heimatfront habe das heilsgeschichtliche Sendung für sich in Anspruch um 1925.
„im Felde unbesiegte“ deutsche Heer um die Früch- genommen. An dieses Erbe knüpften nach 1918 und
te seines heldenhaften Kampfes gebracht. verstärkt seit 1930 Intellektuelle der sogenannten
Der Vertrag war hart und stand in manchen sei- Konservativen Revolution an. Sie erhoben „das
ner Bestimmungen im Widerspruch zum Selbstbe- Reich“ in den Rang der europäischen Ordnungs-
stimmungsrecht der Völker, zu dem sich vor allem macht und schrieben ihm die geschichtliche Aufga-
der amerikanische Präsident Woodrow Wilson in be zu, den Kontinent in eine Zukunft jenseits von
den Jahren 1917/18 immer wieder bekannt hatte. östlichem Bolschewismus und westlicher Demokra-
Auf dieses Recht beriefen sich Ende 1918, nach dem tie zu führen.
Untergang des habsburgischen Vielvölkerreichs, Ähnliches hatte man auch schon während des Ers-
auch die Deutsch-Österreicher und die Deutschen, ten Weltkriegs von deutschen Intellektuellen gehört
wobei in beiden jungen Republiken die Sozial- oder gelesen. Den „Ideen von 1789“ wurden die
demokraten die lautesten Rufer im Streit waren. Sie „Ideen von 1914“ gegenübergestellt: Das deutsche
fühlten sich als die berufenen Erben von 1848 und Wesen verlangte demnach nicht nach Freiheit,
hielten jetzt die Stunde für gekommen, die klein- Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern nach Ord-
deutsche Lösung durch die Verwirklichung des nung, Zucht und Innerlichkeit. Deutsche Kultur statt
großdeutschen Gedankens zu überwinden. westlicher Zivilisation: Selbst Thomas Mann war sich
Bei Deutschlands bürgerlichen Demokraten und nicht zu schade, noch im letzten Kriegsjahr ein
im katholischen Zentrum gab es ebenfalls noch leb- ganzes Buch, seine „Betrachtungen eines Unpoliti-
hafte Erinnerungen an die ältere, großdeutsche Kul- schen“, diesem vermeintlichen Gegensatz zu wid-
turnation, die jetzt erstmals eine Chance zu erhalten men. Als Deutschland sich 1918/19 in eine parla- Frauenwahlrecht
schien, sich zu einer deutschen Staatsnation zusam- mentarische Demokratie verwandelte, galt diese Re- Nach dem Sturz des
menzuschließen. Die Nationalliberalen und die Kon- gierungsform auf der deutschen Rechten als System Kaisers konnten bei den
servativen, die eigentlichen Kleindeutschen, lern- der Sieger und damit als undeutsch. Thomas Mann Wahlen zur National-
ten rasch um. Bismarcks Reichsgründung wurde gehörte zu jener Minderheit von Intellektuellen, die versammlung im Janu-
„historisiert“: Sie war damals, 1866 und 1871, die rasch erkannten, dass die erste deutsche Demokratie, ar 1919 erstmals Frauen
einzig mögliche Lösung der deutschen Frage gewe- die Weimarer Republik, sehr wohl an deutsche Tra- ab 20 Jahren reichsweit
sen. Jetzt aber, nachdem es die Doppelmonarchie ditionen anknüpfen konnte: an das schwarzrotgol- ihre Stimme abgeben.
Österreich-Ungarn nicht mehr gab, musste die an- dene Erbe von 1848, das in der Arbeiterschaft freilich Auch das passive Wahl-
dere, größere Lösung wieder auf die Tagesordnung sehr viel stärker nachwirkte als im Bürgertum. recht besaßen sie nun –
gesetzt werden: der Anschluss Österreichs an das Als parlamentarische Demokratie ist die Republik von 423 gewählten
Deutsche Reich. von Weimar, wie sie aus Niederlage und Revolution Abgeordneten waren 36
Hätten die Alliierten diese Forderung erfüllt, hervorging, nur elf Jahre alt geworden. Im Frühjahr weiblich. Deutschland
wären die Besiegten als die wahren Sieger aus dem 1930 zerbrach die letzte Koalitionsregierung, die sich war in Europa die achte
Krieg hervorgegangen: für Washington, London und auf eine Mehrheit im Reichstag stützen konnte, an Nation, die das allge-
Paris eine abwegige Vorstellung. Die Antwort der einem Streit um die Reform der Arbeitslosenversi- meine Frauenwahlrecht
westlichen Verbündeten war das „Anschlussverbot“ cherung. Es folgten drei Jahre, in denen Präsidial- einführte.
spiegel special geschichte 1 | 2007 159
BLITZKRIEG kabinette mit Hilfe von Notverordnungen des Mit Terror und Unterdrückung allein hätte Hitler
Wehrmachtlandser vor Reichspräsidenten regierten. Der Reichstag hatte in sich nicht zwölf Jahre an der Macht behaupten kön-
dem Schloss von Versailles, dieser Zeit als Gesetzgebungsorgan sehr viel weni- nen. Doch er wusste sich durch Erfolge zu legiti-
1940. Durch Hitlers militäri- ger zu sagen als im Kaiserreich. Die Entparlamen- mieren: erst in der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit,
sche Anfangserfolge ließen tarisierung gab mit innerer Logik antiparlamentari- wobei die Rüstungsindustrie eine zunehmend wich-
sich auch eher skeptische schen Kräften von rechts und links Auftrieb, den tige Rolle spielte, dann auch in der Außenpolitik.
Deutsche für ihn einneh- Nationalsozialisten noch sehr viel mehr als den Nichts war in Deutschland populärer als Gesten und
men. Kommunisten. Adolf Hitler verstand es meisterhaft, Entscheidungen, die geeignet waren, das Trauma
einerseits an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften der Niederlage von 1918 zu lindern. Spätestens seit
Teilhabeanspruch des Volkes zu appellieren, der seit dem März 1936, als Hitler die entmilitarisierte Zone
1930 gewissermaßen ins Leere lief, und andererseits des Rheinlands besetzen ließ, ohne dass die West-
das verbreitete Ressentiment gegenüber der parla- mächte tätig wurden, funktionierte in Deutschland
mentarischen Demokratie zu schüren, die ja mitt- der „Führermythos“. Als zwei Jahre später durch
lerweile tatsächlich gescheitert war. Der Führer der den „Anschluss“ Österreichs der großdeutsche
Nationalsozialisten wurde somit zum Nutznießer Traum in Erfüllung ging, erreichte das Ansehen Hit-
der ungleichzeitigen Demokratisierung Deutsch- lers schwindelerregende Höhen.
lands: der frühen Einführung des allgemeinen und

D
gleichen Wahlrechts (das seit 1919 auch den Frauen ie Angliederung des Sudetenlands im
zustand) und der späten Parlamentarisierung des Herbst 1938 war hingegen für die meisten
Regierungssystems im Zeichen der Niederlage von Deutschen bislang kein Herzensanliegen
1918. gewesen, die Zerschlagung der restlichen
In das Amt des Reichskanzlers, das ihm Reichs- Tschechoslowakei und die Errichtung des „Protekto-
präsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 rats Böhmen und Mähren“ im März 1939 erst recht
übertrug, gelangte Hitler zwar nicht aufgrund eines nicht. Dennoch waren die meisten Deutschen beein-
Wahlsiegs: Bei den Reichstagswahlen vom 6. No- druckt, dass auch diese Aktionen zur Steigerung deut-
vember 1932 hatten die Nationalsozialisten sogar ge- scher Macht von den Siegermächten ohne massive
„Republik genüber der vorausgegangenen Wahl vom 31. Juli Reaktionen hingenommen wurden. Und wie stets
1932 über zwei Millionen Stimmen verloren. Aber fanden sich auch jetzt Wissenschaftler, die Hitlers Ta-
Deutschösterreich“ Hitler blieb Führer der mit Abstand stärksten Partei, ten rechtfertigten. Der österreichische, seit 1935 in
Nach dem Zerfall und als solcher war er ein Machtfaktor, mit dem kon- Münster lehrende Rechtshistoriker Karl Gottfried Hu-
Österreich-Ungarns servative Politiker aus dem Umfeld des Altpreußen gelmann, ein entschiedener Großdeutscher, schrieb
wurde im November Hindenburg rechneten und den sie für ihre Zwecke 1940, die „Eingliederung“ des tschechischen Volks in
1918 in Wien der Staat einzuspannen gedachten. Nachdem er an die Spitze das Großdeutsche Reich sei vom Reichsbegriff her be-
HUGO JAEGER / TIME LIFE PICTURES / GETTY IMAGES

„Deutschösterreich“ einer „nationalen Regierung“ berufen worden war, rechtigt und sinnvoll. Es müsse sogar einleuchten,
proklamiert als in der die Anhänger der monarchistischen Deutsch- „dass mit der Eingliederung des Protektorates Böh-
Bestandteil einer nationalen die Nationalsozialisten weit überwogen, men und Mähren in das großdeutsche Reich dessen
„Deutschen Republik“. hätte es nur eine Möglichkeit gegeben, Hitler abzu- Charakter als Reich … nur noch stärker hervortritt“.
Das Veto der Sieger- wählen: bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933. Von allen Brücken zwischen Hitler und dem ge-
mächte erzwang im Tatsächlich erreichte die NSDAP damals „nur“ 43,9 bildeten Deutschland war der Reichsmythos wohl
Vertrag von Saint- Prozent der Stimmen. Aber da die Koalitionspartner die wichtigste. Das „Reich“ brachte Empfindungen
Germain 1919 die der „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ auf 8 Prozent zum Schwingen, die sich einer Kontrolle durch die
Namensänderung in kamen, ergab sich daraus eine eindeutige Mehrheit Vernunft zu entziehen schienen. Hitler war sich die-
„Österreich“. von 51,9 Prozent für die Regierung Hitler. ser Wirkung voll bewusst. Nach dem „Anschluss“
160 spiegel special geschichte 1 | 2007
DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND

Österreichs ließ er die alten Reichsinsignien, dar- „jüdisch-bolschewistischen Machthaberschaft“ in


unter Krone, Reichsapfel, Szepter und Schwert, aus Moskau. Für den Historiker Reinhard Wittram, der
Wien, der Stadt der Habsburgerkaiser, nach Nürn- an der „Reichsuniversität“ Posen lehrte, war der
berg, in die Stadt der Reichsparteitage, bringen. Auf Deutsche der „Soldat Europas“, der eine „neue
dem Reichsparteitag „Großdeutschland“ erklärte er Ordnung“ verwirkliche und damit Europa wieder
am 12. September 1938, er habe dies getan, „um „ein Ganzes“ werden lasse. Er tue dies im Kampf ge-
nicht nur dem eigenen deutschen Volk, sondern gen den „Ungeist“ im Osten, gegen die „Widerkraft,
auch einer ganzen Welt es zu bedenken zu geben, die alles in Frage stellte, was diesem Erdteil seinen
dass über ein halbes Jahrtausend vor der Ent- geschichtlichen Rang verliehen hat“.
deckung der Neuen Welt schon ein gewaltiges ger-

E
manisch-deutsches Reich bestanden hat … Das deut- s war in der Regel nicht opportunistische
sche Volk ist nun erwacht und hat seiner tausend- Anbiederung, was deutsche Akademiker
jährigen Krone sich selbst als Träger gegeben.“ veranlasste, dem Regime ihre Feder und
Der Glanz des Reichs ließ viele über vieles hin- ihre Stimme zu leihen. Sie schrieben und
wegsehen. Als im September 1935 die „Nürnberger sprachen nicht wider besseres Wissen; sie stellten
Gesetze“ verabschiedet wurden, die die staatsbür- der Führung des Großdeutschen Reichs zur Verfü-
gerliche Gleichberechtigung der Juden aufhoben und gung, was sie für ihr Wissen hielten und was ihr
die „Nichtarier“ einer entwürdigenden Diskriminie- Glaube war. Sie stimmten mit Hitler wenn nicht in
rung unterwarfen, gab es, wenn man den amtlichen allem, so doch in vielem überein. In dem verball-
Berichten über die Stimmung in der Bevölkerung hornten deutschen Bildungsgut, aus dem er lebte
glauben darf, nicht nur keine Proteste, sondern Er- und das er in Politik umsetzte, konnten sich große
leichterung darüber, dass die „Judenfrage“ nunmehr Teile des gebildeten Deutschland immer noch wie-
auf gesetzlichem Weg gelöst schien. Den Krieg, der dererkennen – seine jüngeren Vertreter vorbehalt-
am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen be- loser als die älteren, die in der Zeit vor 1914 aufge-
gann, hatten die Deutschen nicht ersehnt, sondern wachsen waren und ihre Vorbehalte gegenüber der
gefürchtet. Als aber Rundfunk und Zeitungen Vulgarität des „Emporkömmlings“ nie ganz über-
zunächst nur Siegesmeldungen brachten, wuchs der wanden.
Stolz auf den „Führer“ und die Wehrmacht. Ihren In den Jahren von 1933 bis 1945 erreichte der
absoluten Höhepunkt erreichte Hitlers Popularität, deutsche Nationalismus das Stadium seiner äußers-
als im Juni 1940 Frankreich kapitulierte. Die Schmach ten Perversion. Im Bismarckreich waren die radika-
von 1918 schien ausgelöscht, der Erste Weltkrieg im len Judenfeinde eine Minderheit gewesen; im Reich
Nachhinein doch noch gewonnen. Adolf Hitlers waren die extremen Antisemiten an
Anders als die Feldzüge gegen Polen und Frank- der Macht. Die Deutschen hatten in ihrer Mehrheit
reich war der Krieg gegen die Sowjetunion kein weder rohe Gewalt gegenüber den Juden befür-
„Blitzkrieg“. Er war infolgedessen bei den Deut- wortet noch gar deren Ausrottung gefordert. Doch
schen auch nicht beliebt. Dennoch taten sie, was sie nachdem sie die staatsbürgerliche Entrechtung der
für ihre Pflicht hielten, und manche sehr viel mehr „nichtarischen“ Deutschen entweder begrüßt oder HOLOCAUST
als das. Von evangelischen und katholischen Bischö- widerspruchslos hingenommen hatten, waren sie Im Mai 1944 erreicht ein
fen erfuhr Hitler Lob und Anerkennung für seinen moralisch gelähmt. Über die Vernichtung der eu- Deportationszug mit Juden
Kampf gegen den atheistischen Bolschewismus. Der ropäischen Juden wurde während des Zweiten Welt- aus Ungarn das Vernich-
Bischof von Münster, Clemens August Graf von Ga- kriegs in Deutschland sehr viel mehr bekannt, als tungslager Auschwitz-
len, der mutige Kritiker der Tötung von Geistes- später zugegeben wurde. Doch zum Wissen gehört Birkenau. Durch Hitlers
kranken, zitierte in seinem Hirtenbrief vom 14. Sep- das Wissenwollen, und daran fehlte es bei den meis- Rassenwahn verloren sechs
tember 1941 sogar zustimmend Hitlers Wort von der ten Deutschen. Millionen Juden ihr Leben.
WALTER FRENTZ / ULLSTEIN BILDERDIENST (L.); AP (R.)

spiegel special geschichte 1 | 2007 161


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Deutsche Gebietsverluste im 20. Jahrhundert


Karlsruhe
Regensburg Gebiete verloren nach dem Ersten Weltkrieg
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Innerdeutsche Grenze 1945 bis 1990
Freiburg München
Deutschland seit Oktober 1990
Bodensee
1920 bis 1935 unter Völkerbund-Verwaltung,
1947 bis 1956 autonom

Die Ideen der Menschen- und Bürgerrechte hatten Ersten Weltkrieg, nach 1945 nur selten zu hören. All-
seit dem späten 18. Jahrhundert auch in Deutschland mählich fanden auch einige der Deutschen Aner-
beredte Fürsprecher gefunden. Aber politisch er- kennung, die unter Einsatz ihres Lebens Widerstand
kämpft wurden diese Rechte von den Deutschen nicht. geleistet hatten, wobei die späten Gegner Hitlers aus
Am Ende war dies wohl der tiefere Grund, warum Adel, Militär, Beamtentum und Kirchen gegenüber
eine Bewegung wie der Nationalsozialismus 1933 die den frühen Opponenten aus der Arbeiterschaft
Herrschaft über Deutschland erringen und zwölf deutlich bevorzugt wurden: Aus dem Attentat vom
Großdeutschland Jahre lang behaupten konnte. Als 1945 alles vorüber 20. Juli 1944 wurde in den fünfziger Jahren eine Art
Schon in der Frankfur- war, zerfiel fast schlagartig, was vom „Führermythos“ Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland.
ter Paulskirche hatten noch übrig war. Den Deutschen und der Welt blieb er- Die SS galt schon in den ersten Nachkriegsjahren
1848/49 Abgeordnete spart, was Hitler sich für die Zeit nach dem „Endsieg“ als verbrecherisch; von der Wehrmacht hieß es da-
einen Bundesstaat aller vorgenommen hatte: die endgültige Überwindung des gegen, sie sei im Großen und Ganzen „anständig“
Deutschen in Ost- und Christentums, in dem nach seiner Überzeugung der geblieben. Der Mord an den europäischen Juden
Mitteleuropa ange- Geist des Judentums immer noch fortlebte. wurde nicht geleugnet, aber lange nur als ein Ver-
strebt. Die NSDAP Nach 1945 war fast alles anders als nach 1918. Die brechen unter anderen betrachtet, für das Hitler,
schrieb die Forderung Sieger besetzten das besiegte Land, und als sie sich Heinrich Himmler und ihre unmittelbaren Helfer die
1920 in ihr Programm. über seine Zukunft nicht verständigen konnten, teil- Verantwortung trugen. Die moralische Verurteilung
Nach dem Anschluss ten sie es. Soweit das Führungspersonal des „Drit- des Regimes und seiner obersten Führer ging Hand
Österreichs 1938 wurde ten Reichs“ den Krieg überlebt hatte und in die in Hand mit Verständnis für die vielen, die nur „ver-
der Reichstag „groß- Hände der Alliierten fiel, wurde es zur Rechenschaft führt“ worden waren, unter massivem Druck ge-
deutsch“, es folgten der gezogen. Frühzeitig gab es auch deutsche Stimmen, handelt oder ganz einfach ihre Pflicht getan hatten.
Rundfunk und die die von deutscher Schuld sprachen und eine gründ- Es bedurfte eines Generationenwechsels, damit
Fußballnationalmann- liche Umkehr forderten: Das „Stuttgarter Schuld- sich im Westen Deutschlands eine kritischere Sicht
schaft. Ab 1943 nannte bekenntnis“ des Rates der Evangelischen Kirche in der Jahre 1933 bis 1945, ja der neueren deutschen Ge-
sich der NS-Staat offi- Deutschland vom Oktober 1945 war ein solches Bei- schichte überhaupt durchsetzen konnte. Seit Anfang
ziell „Großdeutsches spiel. Beifall für Kriegsunschuld- und Dolchstoß- der sechziger Jahre wurde die bis dahin vorherr-
Reich“. legenden war, im Unterschied zur Zeit nach dem schende apologetische Deutung des Kriegsausbruchs
162 spiegel special geschichte 1 | 2007
DER LANGE MARSCH IN DEN ABGRUND

von 1914 und der deutschen Kriegsziele im Ersten 3. Oktober 1990 ist das Doppelziel von 1848 verwirk-
Weltkrieg in Frage gestellt und schließlich überwun- licht. Drittens ist die deutsche Einheit zu westlichen
den. Seit Ende der siebziger Jahre rückte der Holo- Bedingungen, unter Beibehaltung der Mitgliedschaft
caust immer mehr ins Zentrum der Beschäftigung mit der Bundesrepublik im Atlantischen Bündnis, erreicht
der Zeitgeschichte. Von einem überwiegend selbst- worden. Damit hat Deutschland aufgehört, ein Pro-
kritischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit blem der europäischen Sicherheit zu sein.
kann man, was die Gesellschaft der Bundesrepublik

D
angeht, aber erst seit den achtziger Jahren sprechen. ie „alte“ Bundesrepublik hatte sich in ihrer
Eine zweite Chance in Sachen Demokratie er- Spätphase nach der inzwischen klassischen
hielten nach 1945 nur die Deutschen, die in den Formel des Historikers und Politikwissen-
westlichen Besatzungszonen, der späteren Bundes- schaftlers Karl Dietrich Bracher zunehmend
republik Deutschland, lebten. Nur hier war es mög- als eine „postnationale Demokratie unter National-
lich, aus den Erfahrungen der Weimarer Republik zu staaten“ verstanden. Das wiedervereinigte Deutsch-
lernen und eine funktionstüchtige parlamentarische land ist ein Nationalstaat, aber keiner des klassischen
Demokratie aufzubauen, die ihren Gegnern vor- Typs. Es ist ein postklassischer demokratischer Na-
sorglich den Kampf ansagte und allen Versuchen, die tionalstaat wie die anderen Mitglieder der Europäi-
Verfassung mit scheinbar legalen Mitteln zu beseiti- schen Union auch. Die „neue“ Bundesrepublik übt
gen, einen wirksamen Riegel vorschob. Das „Wirt- Teile ihrer Souveränität gemeinsam mit anderen Mit-
schaftswunder“ der fünfziger Jahre und die rasche gliedern dieses supranationalen Staatenverbunds aus
Rehabilitierung durch die Westalliierten taten das und hat andere Teile, wie die Währungshoheit, auf
ihre, um aus der Bundesrepublik eine westliche De- Einrichtungen der Union übertragen.
mokratie zu machen, wie es sie zuvor in Deutsch- Vom ersten deutschen Nationalstaat, dem von
land nicht gegeben hatte. Bismarck gegründeten Deutschen Reich, trennt das
Die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des wiedervereinigte Deutschland vieles – nämlich alles,
Westens konnte sich auch deshalb einigermaßen „or- was für den preußisch-deutschen Militär- und Ob-
ganisch“ vollziehen, weil die innenpolitischen Fron- rigkeitsstaat typisch war. Als Rechts-, Bundes- und
ten in der frühen Bundesrepublik völlig andere wa- Sozialstaat steht die „neue“ Bundesrepublik aber
ren als in der ersten deutschen Republik. Damals auch in Traditionen, die weit hinter die Weimarer
war die Rechte nationalistisch und die Linke inter- Republik zurückreichen. Dasselbe gilt für die parla-
nationalistisch gewesen. In der Ära Adenauer be- mentarische Debattenkultur und die Parteienge-
trieb die rechte Mitte unter Führung der Unionspar- schichte. Auch in räumlicher Hinsicht gibt es eine
teien eine Politik der supranationalen Integration, Kontinuität zwischen dem ersten und dem zweiten
während die gemäßigte Linke, die Sozialdemokratie deutschen Nationalstaat. Der Zwei-plus-Vier-Ver-
unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer, für trag, die völkerrechtliche Gründungsurkunde des
den Vorrang der Wiedervereinigung eintrat und so wiedervereinigten Deutschland, hat, wenngleich auf
ein nationales Profil gewann. Der Ruf, die Partei der einem sehr viel kleineren Territorium, Bismarcks
deutschen Einheit zu sein, half der SPD später, nach kleindeutsche Lösung insofern bestätigt, als diese
dem Machtwechsel von 1969, unter der Kanzlerschaft ein Deutschland ohne Österreich geschaffen hat.
Willy Brandts die Westbindung durch die Politik der Das Ergebnis einer so widerspruchsvollen Ge-
Ostverträge zu ergänzen und so die Folgen der deut- schichte wie der deutschen des 19. und 20. Jahrhun-
schen Teilung und namentlich die der Berliner Mau- derts in einem einzigen Satz zusammenzufassen er- MAUERFALL
er für die Deutschen erträglicher zu gestalten. scheint unmöglich. Doch es gibt einen solchen Satz. Am 9. November 1989
Den Deutschen, die in der Sowjetischen Besat- Er stammt aus der Rede, die Bundespräsident Ri- erzwangen DDR-Bürger die
zungszone, der späteren Deutschen Demokratischen chard von Weizsäcker am 3. Oktober 1990 in der Öffnung der Berliner Mauer.
Republik, lebten, wurde nach 1945 ein kommunisti- Berliner Philharmonie hielt, und lautet: „Der Tag ist Aus dem Aufstand gegen
sches Regime aufgezwungen, das zu keiner Zeit über gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte die SED wurde schnell eine
eine demokratische Legitimation verfügte. Sie konn- das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Volksbewegung für eine
ten sich von der Diktatur erst im Herbst 1989 durch Kreis der westlichen Demokratien findet.“ ✦ geeinte Nation.
jene „friedliche Revolution“ befreien, deren An-
fänge bis in das Jahr 1980 zurückreichen, als in
Polen die unabhängige Gewerkschaft „Solidarno£ƒ“
gegründet wurde. Die neugewonnene Freiheit nutz-
ten die Ostdeutschen, um im Jahr darauf die DDR
durch Beitritt zur Bundesrepublik aufzulösen.
Seit dem 3. Oktober 1990 ist die deutsche Frage in
jeder Hinsicht gelöst. Erstens ist durch die Wieder-
vereinigung endgültig geklärt, wo Deutschland liegt,
wo seine Grenzen verlaufen, was dazu gehört und
was nicht. Die deutsche Frage konnte also nur im
Zusammenhang und zeitgleich mit einem anderen
Jahrhundertproblem, der polnischen Frage, gelöst
werden: Die völkerrechtlich verbindliche Anerken-
nung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und
Görlitzer Neiße war eine der Voraussetzungen dafür,
NORBERT MICHALKE

dass Deutschland in den Grenzen von 1945 wieder-


vereinigt werden konnte. Zweitens gibt es keinen Ge-
gensatz mehr zwischen Einheit und Freiheit: Seit dem
spiegel special geschichte 1 | 2007 163

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