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HAM Kä mpferische Schriften des Vormä rz

Epochenbild: Vormärz (1994)

Aufbruch in die Industrielle Revolution

[…] Der gesamteuropä ische U? bergang von der feudalen Ordnung zum bü rgerlichen Kapitalismus,
5 hä ufig als »industrielle Revolution« bezeichnet, bereitete sich in Deutschland gegen Ende des 18.
Jahrhunderts vor und erreichte etwa Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts die Phase der
beschleunigten Umwä lzung - in England schon ab etwa 1780. Grü nde fü r diese zeitliche Verspä tung
gegenü ber Westeuropa [sind die territoriale Zersplitterung, die beschrä nkten ö konomischen
Ressourcen und der aufgeklä rte Absolutismus, die], u.a. dazu fü hrten, dass das deutsche Bü rgertum
10 politisch unselbstä ndig und passiv blieb. Die Lockerung und Beseitigung der feudalen Fesseln vollzog
sich bis 1815 nicht durch den Druck einer sich politisch emanzipierenden bü rgerlichen Klasse - wie
in Frankreich - , sondern war von außen durch die franzö sische Fremdherrschaft in den
Rheinbundstaaten bzw. von oben durch die staatlichen Reformen in Preußen bewirkt worden.

Mit der Niederwerfung Napoleons 1813 bzw. 1815 und der politischen Reorganisation der feudal-
15 konservativen Krä fte im »Deutschen Bund«, der aus 34 Erbmonarchien und vier Stadtrepubliken
bestand, begann auf dem Wiener Kongress 1815 eine Phase der politischen Restauration. Zugleich
verschä rfte sich jedoch auch der Widerspruch zwischen einer immer stü rmischer voranschreitenden
Industriellen Revolution und der […] gewaltsam niedergedrü ckten bü rgerlich-politischen
Emanzipation. Ihren politischen Ausdruck fand die bü rgerliche Oppositionsbewegung zunä chst im
20 frü hen Liberalismus und der Forderung nach bü rgerlicher Freiheit, konkretisiert im Eintreten fü r die
konstitutionelle Monarchie, Teilung der Gewalten, Unabhä ngigkeit der Justiz, Garantie der Menschen-
und Bü rgerrechte (z.B. Freizü gigkeit, Presse- und Versammlungsfreiheit), Handelsfreiheit und
nationale Einheit. Mit dem Anwachsen der politischen Bedeutung des Kleinbü rgertums und des seit
den 40er Jahren entstehenden Land- und Stadtproletariats erweiterte sich die Oppositionsbewegung
25 um demokratisch-republikanische und sozialistisch-kommunistische Gruppierungen. […] Der
Widerstand manifestierte sich in einer Kette von Protestationen, revoltierenden Aktionen und
revolutionä ren Kä mpfen, die nach einem ersten gemein-europä ischen Ausbruch in den Revolutionen
des Jahres 1830 ihren Hö hepunkt in den Revolutionen des Jahres 1848/49 fanden, ohne dass jedoch
die zentrale Forderung nach Herstellung der nationalen Einheit auf demokratischer Grundlage fü r
30 Deutschland verwirklicht werden konnte. Die bü rgerlich-liberale, erst recht die
radikaldemokratische und sozialistische Opposition wurde von Anfang an massiv von den
Zentralmä chten unterdrü ckt und verfolgt. Diese Unterdrü ckung sowie die noch recht schwache
Position der bü rgerlichen Klasse - und erst recht des Proletariats - waren maßgeblich fü r das
Scheitern der demokratischen Revolution […].

35 Durch die »Karlsbader Beschlü sse« von 1819 und die Maßnahmen der „Zentralen
Untersuchungskommission“ wurde sowohl die bü rgerliche Verfassungsbewegung als auch die
Einheitsbewegung, die aus enttä uschten Studenten an den Universitä ten (Deutsche Burschenschaft,
Wartburgfest 1817) und Professoren getragen wurde, kriminalisiert und in den Untergrund gedrä ngt.
Nach 1830 wurden liberale und demokratische Protestationen und Aufstä nde (z.B. Hambacher Fest
40 1832) noch gnadenloser verfolgt, viele Beteiligte eingesperrt oder ins Exil getrieben. […]

Nach 1840 spitzten sich die Konflikte zwischen feudalem Polizeistaat und aufbegehrender
Bevö lkerung zu. Zum organisierten politischen Protest trat nun auch noch der Druck des wachsenden
sozialen Elends der unteren Klassen (Weberaufstand 1844, Hungerrevolten 1847). So kam die
Revolution von 1848 durchaus nicht unerwartet. Im Bewusstsein der Menschen war diese Revolution
45 seit langem vorbereitet. […] In der genauen Analyse der Ursachen des Umbruchs zu einer neuen Zeit
sind die meisten Politiker, Gelehrten und Schriftsteller, konservative wie fortschrittliche, noch
ü berwiegend hilflos. Mit Sorge blickten die einen in die Zukunft, mit Wehmut die anderen in die
Vergangenheit, und es sind nicht nur die Verteidiger der alten Ordnung, sondern auch Bü rger, die vor
den Folgen der Befreiung aus den feudalen Fesseln zurü ckschrecken und sich verunsichert vor den
50 gesellschaftlichen Verä nderungen in die Innerlichkeit zurü ckziehen. Als am Vorabend der Revolution
von 1848 das »Gespenst des Kommunismus« beschworen und dem noch nicht recht zur Herrschaft
gelangten Bü rgertum das Ende vorausgesagt wird, ist mit Metternichs Ausspruch auf den Begriff
gebracht: die Erkenntnis, „dass das alte Europa am Anfang seines Endes ist“.

Zu fragen ist, welche Rolle und Funktion die Literatur bei der Auflö sung des Alten und der
55 Herausbildung des Neuen eingenommen hat. […] Die Leistung der Schriftsteller im Vormä rz, mit
ihren Werken den politischen Prozess Ausdruck zu geben und zugleich damit praktisch in ihn
einzugreifen, ist ohne Zweifel ein Kennzeichen: gerade die ab 1830 und verstä rkt nach 1840
sichtbaren Auseinandersetzungen zwischen reaktionä ren, konservativen, liberalen, demokratischen
und sozialistischen Krä ften fanden in der Literatur ihren Ausdruck, wie kaum jemals zuvor in der
60 deutschen Literaturgeschichte. […] In dieser Periode waren es gerade die Schriftsteller, die den
geschilderten Wandel thematisierten. Das hat nicht zuletzt darin seinen Grund, dass sich […] ein
Literaturmarkt herausbildete, die den Schriftsteller erst instand setzte, als ein mit Worten
„Handelnder“ aufzutreten. […] Mit der Zunahme des Warenverkehrs korrespondierte die steigende
Nachfrage nach raschen Informationen […]. Das Informationsbedü rfnis ließ, ermö glicht durch die
65 Erfindung der Papiermaschine und der Schnellpresse, das Zeitungswesen und die Buchproduktion
vor allem nach 1830 sprunghaft anwachsen. Zeitschriften, Zeitungen, Bü cher, Broschü ren und
Flugblä tter wurden in einer Menge verbreitet, wie zu keiner Zeit vorher. Zwischen 1821 und 1838
stieg die jä hrliche Buchproduktion um 150 % auf ü ber 10.000 Titel […] Die Verbreiterung der
Produktion bei Verdichtung des Distributionsnetzes, die Senkung der Preise bei Erhö hung der
70 Auflagen, die Vergrö ßerung des Absatzes bei Erschließung neuer Kä uferschichten, […] ließen ein
wirtschaftlich stabiles Verlags- und Buchhandelswesen entstehen. Die Verleger im Vormä rz [wurden]
politisch einflussreich (zum Beispiel im Kampf um Urheberschutz und Pressefreiheit); als
Unternehmer wurden sie zum Garanten wirtschaftlicher Besserstellung viele Schriftsteller, die somit
endgü ltig den U? bergang zum Berufsschriftsteller vollziehen konnten.

75 Nutznießer dieser Lage waren auch die engagierten Autoren. Da die oppositionelle Literatur als Aus-
druck des politischen Protests immer breiteren Absatz fand, zur Politisierung beitrug und deswegen
von der staatlichen Stellen mit der Zensur bekä mpft wurde, waren die Verleger immer auch mit
hohen finanziellen Risiko […] beteiligt. Das Profitinteresse fiel also mit dem Wirkungsinteresse der
oppositionellen Schriftsteller, Journalisten und Gelehrten zusammen. Und nur weil dies bis in die
80 vierziger Jahre so war, konnte die kritische Literatur in besonderem Maße tä tig werden und mit ihrem
literarisch-politischen Erfolg gleichzeitig das Geschä ft der Verleger machen, die das Buch als Ware
behandelten und sich nicht scheuten, bis an die Grenzen der Legalitä t vorzudringen (z.B. Heinrich
Heines Verleger Campe). […]

Die 1819 wieder eingefü hrte, einheitlich fü r alle Staaten des Deutschen Bundes geltende Zensur war
85 eine Vorzensur. Sie traf alle Publikationen unter 20 Bogen (320 Seiten), d.h. vor allem Zeitungen,
Zeitschriften, Broschü ren und weniger umfangreiche Bü cher; Schriften also, die wegen ihrer Form
und ihres Preises eine breite Masse erreichten. Bis 1830 wirkte diese Zensur insofern, als eine
nennenswerte kritische Presse sich nicht entfalten konnte und politische Kritik in den teuren
wissenschaftlichen Werken versteckt blieb. Als aber ab den 30er Jahren Verleger, Redakteure und
90 Schriftsteller immer mutiger und listiger gegen die Zensurknebelung angingen (z. B. durch Druck im
Ausland, durch Erweiterung des Buchumfangs, stä ndige Neugrü ndung verbotener Zeitungen,
raschen Verkauf usw.), als sich auch Wissenschaften und O? konomie immer mehr politisierten und
populä r wurden, verschä rfte sich auch die Handhabung der Zensur. Zusä tzlich erfolgte nun die
nachträ gliche Konfiskation beziehungsweise das Verbot, vor allem solcher Werke, die einer
95 Vorzensur nicht unterlagen; bald wurden die Produktionen einzelner Schriftsteller (z. B. Heine, das
„Junge Deutschland“) und spä ter auch ganzer Verlage generell und im Vorhinein verboten. Hinzu kam,
dass diese Zensur nur der auf Schriftsteller bezogene Teil eines umfassenden Staatsschutz – und
Bespitzelungsapparats war, durch den das oppositionelle Kommunikationssystem zerschlagen
werden sollte, wenn nicht schon die vielen Einzelfä lle von politischer Verfolgung, Einkerkerung,
100 Berufsverbot und Verbannung seit 1819 das ihre beigetragen hatten. […] Polizei und Zensur hatten
viel zu tun. Verboten war nicht nur die positive Erwä hnung alles Demagogischen, worunter sich
jegliche Kritik an den herrschenden Zustä nden sowie die Zustimmung zu Prinzipien des Fortschritts
zusammenfassen ließ […]. Verboten war Kritik an Herrscherhaus und Regierung, an Adel und Militä r,
Christentum und Moral. […] Bei Bü chern und der Presse war es nicht anders: bornierte, prü de,
105 ä ngstliche Zensoren entschä rften je nach Laune und Bildungsstand Text; anfangs schrieben sie
Korrekturen vor, dann wurde einfach gestrichen. Diese Streichungen waren zunä chst dem Leser als
so genannte Zensurlü cken oder als Striche noch sichtbar, was Heine im 12. Kapitel von „Ideen. Das
Buch Le Grand“ zu der Satire inspirierte: „Die deutschen Zensoren - - - - - - - Dummkö pfe - - - - -.“ Ab
1837 war selbst die Zensurlü cke in Preußen verboten. Zwar hat auch die rigorose Zensur die […]
110 allgemeine Politisierung nicht verhindern kö nnen […]. Gleichwohl ist die diffamierende Wirkung und
der weitreichende Schaden fü r die deutschen Schriftsteller nicht zu ü bersehen.

Quelle: Deutsche Literaturgeschichte, Von den Anfä ngen bis zur Gegenwart, Hg. v. u.a. Wolfgang Beutin, Peter Stein, J.B.
Metzler Verlag, Stuttgart/Weimar 1994, 5., ü berarbeitete Auflage, S. 208 f.
115 Anm. d. Red.: Der Text wurde gekü rzt und sprachlich leicht angepasst.

Arbeitsaufträge

120 1. Beschreiben Sie die historische Ausgangssituation sowie den geschichtlichen


Kontext des Vormä rzes.

2. Erlä utern Sie die Maßnahmen zur Unterdrü ckung der revolutionä ren Bestrebungen.

3. Bewerten Sie die Relevanz des Literaturbetriebs fü r die politischen


Transformationsprozesse.

125 4. Entwickeln Sie unter Rü ckgriff auf das Material (weitere) mö gliche Motive Heines
fü r die Gestaltung des Gedichts „Mein Herz, mein Herz ist traurig“.

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