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TRUE STORY AWARD 2023

Die weissrussische Falle


In Brüssel trifft der Autor zufällig auf den Handlanger eines Schleusernetzwerks,
der ihn bittet, beim Übersetzen von Dokumenten zu helfen. Ohne zu wissen, dass
sein Gegenüber Journalist ist, versorgt der Mann El-Sobky mit Informationen, wie
Flüchtlinge über Belarus in die EU geschleust werden. Der Autor tarnt sich
daraufhin als Migrant und erfährt detailliert, wie das Geschäft mit Flüchtlingen
funktioniert.

MAHMOUD EL-SOBKY (TEXT)

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Als ich zufällig Amjad, einen 43-jährigen Iraker, auf einer Polizeistation in Brüssel traf, wo
er mich freundlich bat, ein Dokument für ihn zu übersetzen, wusste ich nicht, dass er ein
Schleuser ist, und er wusste nichts von meiner Arbeit als Journalist. Dieser Zufall führte
dazu, dass ich viele Hinweise auf die Schleusung von Flüchtlingen aus Belarus in die EU, auf
die Geschehnisse an den Grenzen und verschiedenen Schleuserrouten erhielt.

Anhand von Zeugenaussagen, die die katastrophale humanitäre Situation an den Grenzen
zeigen, Dokumenten und der Analyse von Flugbewegungen zeigt diese Untersuchung, wie
Belarus innerhalb weniger Monate einen massiven Zustrom von Migranten von seinem
Staatsgebiet an die Grenzen zur Europäischen Union organisiert hat und wie aus illegaler
Migration eine organisierte Industrie geworden ist. Sie wird von Schleusergruppierungen
allerlei Tricks betrieben, mit denen sie die Grenzsicherungsmassnahmen der EU ausgehebelt
haben.

Die zweiteilige Untersuchung stützte sich auf Interviews mit Migranten, die davon träumten,
Europa zu erreichen, das sie für ein Paradies hielten, und auf Interviews mit Einzelpersonen
und organisierten Schleusern, die in den Menschenhandel verwickelt sind. Die Untersuchung
stützte sich zudem auf einige amtliche Statistiken.

1 die weißrussische Falle


Erster Teil

„Möchtest du ihn nach Deutschland oder nach Belgien bringen?“, fragte mich Amjad, der
eigentlich anders heisst, während eines Telefonats, das ich Ende November 2021 mit ihm
führte. Ich gab vor, ein Verwandter von mir sei in der Türkei und suche nach einer
Möglichkeit, in die Europäische Union zu gelangen. Amjad, der, wie ich später herausfand,
ein Agent von „Abu al-Abd al-Iraqi“ war, einer der Schleuser, der in den sozialen Netzwerken
am aktivsten ist. Er versicherte mir mit Bestimmtheit: „Sobald dein Verwandter in Belarus
ankommt, bringen ihn unsere Männer mit dem Auto nach Belgien oder Deutschland. Er kann
sich dann selbst aussuchen, wohin er möchte.“

Tausende von Migranten aus dem Nahen Osten und Asien haben sich entschieden, ihr
Schicksal in die Hände von Schleusern zu legen, die mit organisierten und intensiven Flügen
und beispiellosen Visaerleichterungen oder ohne Visa nach Belarus gelockt wurden.

Auf den Facebook-Konten konnte ich viele Seiten und Gruppen finden, die die illegale
Migration durch Schleuser oder ihre Vermittler initiieren. Sie heissen „Migration von Belarus
nach Europa – ein weissrussisches Visum“ oder „Über Belarus und Polen nach Deutschland –
Einwanderung nach Europa“. Sie erklären, wie Migranten nach Deutschland gebracht werden
können. Man schickt sie zu Treffpunkten, nachdem sie die geforderten Beträge in so
genannten “Tasheek”-Büros bezahlt haben. Das sind illegale Büros, die in Istanbul und Athen
weit verbreitet sind.

Bei vielen Treffen mit Migranten, die in Europa ankamen oder an einer Grenze scheiterten,
nannten diese mir immer wieder die Namen einiger Schmuggler: Abu Jabal, Abu Mohammed
al-Qalamouni, Ala’ Eddin.

In den Monaten von Dezember 2021 bis Ende Februar 2022 habe ich mich als Migrant, der
vorgab, nach Belgien zu wollen, verdeckt mit diesen Schleusern in Verbindung gesetzt. Die
drei Schmuggler sagten, dass es zwei Möglichkeiten gäbe: Die erste sei, mich über die GPS-
Koordinaten, die mir der Schmuggler schickte, zu Treffpunkten zu begeben. Dort sollte ich
auf die Autos der Schmuggler warten, die uns nach Polen bringen würden. Diese Option
kostet 2500 Euro. Die zweite Möglichkeit ist die Fahrt mit einer Person, die im Wortschatz
der Schleusergruppen als „Ribri“ bezeichnet wird. Er kennt sich auf den Strassen und in den
Wäldern aus und führt Gruppen gezielt zu den Treffpunkten. Diese Option kostet 4500 bis
6500 Euro.

Der Schleuser Abu Jabal erzählte mir am Telefon, dass er ein Haus in Warschau besitze, in
dem sich die Migranten in der Mitte ihrer beschwerlichen Reise einen Tag lang ausruhen und
dann ihre Reise nach Deutschland oder zum gewünschten Zielort fortsetzen könnten. Die
Schmuggler sagten auch, dass sie in Deutschland ein eigenes Fahrernetz hätten, das uns gegen
einen Aufpreis nach Belgien oder in ein anderes EU-Land bringen könne. Abu Mohammed
al-Qalamouni schickte mir über WhatsApp Videos von Ägyptern, die er gerade nach Europa
gebracht hatte, um mich zu motivieren, ihn als Schleuser anzuheuern.

Die Schmuggler waren einverstanden, dass ich den mit ihnen vereinbarten Betrag bei einem
der in Istanbul existierenden Geldversicherungsbüros hinterlegte. Als ich vorschlug, das Geld
im Büro von “Hahaftaro”, einem der bekannten illegalen Geldtransferbüros, in Istanbul zu
hinterlegen, gab es keine Einwände.

2 die weißrussische Falle


Hybride Kriegsführung – das Spiel mit dem Stacheldraht

Belarus grenzt an fünf Länder, von denen drei zur Europäischen Union gehören: Lettland
(170 Kilometer Grenze), Litauen (639 Kilometer), Polen (417 Kilometer), sowie Russland
(1311 Kilometer) und die Ukraine (1110 Kilometer). Die meisten Migranten gingen zur
Grenze zu Polen, da man von dort am einfachsten nach Deutschland kam, dem Hauptziel der
Migranten. Nach Litauen und Lettland wollten deutlicher weniger Menschen.

Nach vorläufigen Zahlen, die Frontex, die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache,
Ende Januar 2022 veröffentlichte, lag die Gesamtzahl der illegalen Grenzübertritte in die EU
im Jahr 2021 bei etwa 200 000, dem höchsten Wert seit 2017, was einem Anstieg von 36
Prozent gegenüber 2019 und 57 Prozent gegenüber 2020 entsprach.

Ein Faktor für diesen Anstieg der Grenzübertritte war die Situation an den belarussischen
Grenzen. Laut Frontex-Bericht wurde Migration dort eingesetzt, um die Aussengrenzen der
EU anzugreifen. Unter den Migranten waren Syrer die grösste Gruppe, gefolgt von Tunesiern,
Marokkanern, Algeriern und Afghanen.

An den EU-Außengrenzen zu Belarus wurden im Jahr 2021 etwa 8000 illegale


Grenzübertritte festgestellt, mehr als zehnmal so viele wie 2020. Die Zahlen erreichten in der
zweiten Jahreshälfte 2021 ihren Höhepunkt. Der Migrationsdruck konzentrierte sich zunächst
auf die litauische Grenze und verlagerte sich später in geringerem Mass an die polnisch-
lettische Gtenze. Laut Statistiken auf der Website der litauischen Regierung überquerten bis
zum 8. Februar 2022 insgesamt 4337 Migranten irregulär die Grenze von Belarus nach
Litauen. Unter diesen stellten Iraker den grössten Anteil (2858 Personen), gefolgt von
Kongolesen (203), Syrern (179), Afghanen (101) und anderen Nationalitäten, darunter
Jemeniten, Algerier, Tunesier und Marokkaner.

An der Grenze zu Polen registrierten polnische Grenzbeamte seit Anfang 2021 fast 40 000
Einreiseversuche von Belarus aus. Die Daten zeigen für Dezember 2021 insgesamt 1700
illegale Grenzübertrittsversuche, verglichen mit 8900 im November des gleichen Jahres. Im
Oktober wurden 17 900 Versuche verzeichnet, die höchste Zahl, verglichen mit 7700 im
September und 3500 im August.

Trotz eines Rückgangs an Grenzübertritten zu Beginn des Jahres 2022 aufgrund verschiedener
Faktoren – der harte Winter, die Corona-Beschränkungen, aber auch die Aussetzung von
Flügen aus Ländern des Nahen Ostens für Iraker, Syrer und Jemeniten – gab es im Januar
2022 gemäss dem polnischen Grenzschutz bereits mehr als 1000 illegale
Grenzübertrittsversuche von Belarus nach Polen, die meisten davon wurden von Irakern und
Syrern unternommen.

Für 2021 verzeichneten die deutschen Behörden die Ankunft von mehr als 11 000 Migranten
und Asylsuchenden im Land, die irregulär über die Grenze kamen, meist von Belarus über
Polen. Die polnisch-deutsche Grenze bildete den Hotspot dieser Migrationswelle, durch die
mehrere tausend Menschen aus arabischen Ländern ins Land kamen, darunter auch der
Jemenit Ghamdan Al-Awlaqi.

Die weissrussische Falle

„Es ist ein schmutziger Krieg zwischen Polen und Belarus, und wir sind die Waffe, mit der er
ausgetragen wird“, sagte der 27-jährige Jemenite Ghamdan Al-Awlaqi, während er sich aus

3 die weißrussische Falle


Angst vor einer Abschiebung nach Syrien oder in den Jemen in einer Wohnung in Minsk
versteckt hielt. Er hatte vier Mal erfolglos versucht, nach Polen oder Litauen zu kommen.

Ghamdan hatte 25 Jahre lang als Flüchtling in Syrien gelebt, wohin sein Vater als
jemenitischer Armeeoffizier 1996 geflohen war. Als er von der belarussischen Route und den
Visa- und Reisemöglichkeiten hörte, liess er sich auf den Deal ein und vereinbarte mit einem
Schleuser namens Abu Jabal, dass dieser ihn für 2500 Euro über Polen nach Deutschland
bringe. Am 20. Oktober 2021 flog er vom internationalen Flughafen Damaskus mit der
Fluggesellschaft Cham Wings nach Minsk.

Als Ghamdan und weitere Mitreisende an der belarussisch-polnischen Grenze ankamen, setzte
ein Grenzbeamter sie und andere in einen Militärlastwagen, fuhr sie zu einer Stelle, an der er
den Stacheldraht anhob und sie anwies, die Grenze zu überqueren. Sie mussten einen Fluss
durchwaten und dann vier Kilometer mit nassen Kleidern durch einen Wald laufen, bis zur
vereinbarten Sammelstelle, deren Koordinaten die Schleuser ihnen angegeben hatten und die
sie mit einem GPS-Gerät ansteuerten.

Aber bei eiskaltem Wetter hatte Ghamdan hohes Fieber bekommen und konnte die Reise
nicht fortsetzen. Anderthalb Tage blieb er im Wald sitzen, bis er sich 25 anderen Migranten
anschloss, die dieselbe Strecke nahmen – doch sie kamen nicht ans Ziel. Ghamdan berichtet:
„Trotz unserer Bitten nahmen polnische Grenzsoldaten uns fest, steckten uns in ein Auto und
brachten uns an die Grenze zurück. Sie öffneten den Stacheldraht ein Stück und zwangen uns,
wieder nach Belarus zu gehen.“ Es war Ghamdans erster gescheiterter Grenzübertrittsversuch.

Zurück in Belarus brachte der belarussische Grenzschutz sie alle in ein Lager. Sie bekamen
kein Essen, und jeder, der nach Minsk zurückwollte, wurde geschlagen, erzählte mir
Ghamdan. Rund um das Lager hätten sich Geschäftemacher herumgetrieben, die die
Erschöpfung und Frustration der Zurückgekommenen ausnutzen wollten und von jedem, der
nach Minsk wollte, 2000 US-Dollar verlangten.

In der nächsten Nacht weckten die belarussischen Grenzsoldaten Ghamdan und seine
Begleiter um zwei Uhr morgens. Sie setzten sie wieder in einen Lastwagen, der sie zu einer
anderen Stelle an der Grenze brachte, und öffneten auch hier den Stacheldraht, damit sie nach
Polen gelangen konnten.

„Ich lief vier Tage lang mit zwei irakischen Familien durch polnische Wälder, bis wir
eineinhalb Kilometer vor dem vereinbarten Aufnahmepunkt erneut festgenommen wurden“,
so Ghamdan. Wieder wurden alle in ein Lager gebracht, das einem Gefängnis glich. Ghamdan
wurde mehrfach verhört, weil er verdächtigt wurde, ein „Ribri“ der beiden Familien zu sein,
also jemand, der die Wege in den Wäldern kennt und von den Schleusern eingesetzt wird, um
Migranten zu führen. Anschliessend wurde Ghamdan zusammen mit Familien mit Kindern an
die belarussische Grenze gebracht. Polnische Grenzsoldaten öffneten den Zaun, damit sie
nach Belarus zurückkehren konnten. Sein zweiter Versuch war gescheitert.

In Belarus wurden die Zurückgeschobenen erneut in ein Grenzschutzlager gebracht, wo sie


geschlagen, ihres Geldes und ihrer Telefone entledigt und dann nachts in Busse gesteckt
wurden. Diesmal ging es an die Grenze zu Litauen. Strenge Strafen wurden allen angedroht,
die versuchen würden, sich dem Transport zu entziehen. Diesmal wurde Ghamdan Zeuge
einer der schlimmsten menschlichen Tragödien, die Migranten widerfahren können: Nachdem
die Belarussen einer Gruppe von Migranten – darunter ein kurdisches Ehepaar mit seinem

4 die weißrussische Falle


vierjährigen Kind – ein Schlauchboot zur Überquerung des Grenzflusses zur Verfügung
gestellt hatten, fiel das Kind in das eiskalte Wasser und ertrank.

„Selbst wenn Europa oder Deutschland in diesem Moment offen vor uns gelegen hätten,
wären wir nicht weitergegangen. Dieser Tod lähmte uns“, so Ghamdan. Kurz darauf trafen
litauische Grenzsoldaten ein, um die Migranten nach Belarus zurückzubringen. Ghamdans
dritter Versuch war tragisch gescheitert. Beim vierten Mal gaben ihnen belarussische
Grenzsoldaten eine Stacheldrahtschere und befahlen ihnen, auf polnisches Gebiet zu gehen.
Dort wurden sie mit Pfefferspray und Wasserwerfern empfangen und von polnischen
Grenzsoldaten geschlagen. „Ich sah, wie Familien auf dieser Reise Blut um ihre Kinder
weinten“, berichtet Ghamdan. „Sie sahen sich von Schleusern getäuscht, die ihnen
vorgegaukelt hatten, sie müssten nur ein paar Kilometer laufen, um ins Paradies zu kommen,
in dem sie sich ein glückliches Leben aufbauen könnten.“

Als ich Ghamdan später erneut kontaktierte, berichtete er, er hätte in Belarus Asyl beantragt.
Sein Antrag sei registriert und er sei in eine Flüchtlingsunterkunft in der Stadt Homel an der
belarussisch-ukrainischen Grenze geschickt worden. Ghamdan fürchtet sich davor, nach
Syrien oder in den Jemen abgeschoben zu werden: „Im Moment würde eine Rückkehr in den
Jemen meinen Tod bedeuten. Andererseits wäre schnell zu sterben besser als dieser langsame
Tod. Und nach Syrien? Aus Syrien bin ich geflohen, so wie die Hälfte der Bevölkerung!“

Auf Anfrage gibt das UNHCR an, von Berichten über Rechtsverletzungen an den
belarussischen Grenzen zu wissen. Man könne einzelne Informationen jedoch nicht bestätigen
oder verifizieren, da man nur begrenzt in Belarus präsent sei und keinen regelmässigen und
ungehinderten Zugang zu den Grenzgebieten habe. Weiterhin, so erfahre man, versuchten
Menschen die Grenze in die EU, insbesondere nach Polen, zu überqueren.

Der Himmel für Schmuggler, die Hölle für Migranten

Zahlreiche Schleuser nutzten die erleichterten Einreisebestimmungen nach Belarus für


Menschen aus Ländern des Nahen Ostens aus. Kaum hatte Belarus Visaerleichterungen zu
touristischen Zwecken eingeräumt, boten Reisebüros in vielen arabischen Ländern Reisen
nach Belarus an, die bis zu 3000 US-Dollar pro Person kosteten. Viele Reiseanbieter in
arabischen Hauptstädten rechtfertigen ihre Angebote damit, dass sie ihren Kunden offiziell
gültige Touristenvisa ausstellten. Darüber hinaus seien sie nicht verantwortlich dafür, wenn
Reisende diese dazu nutzten, irregulär von Belarus weiterzureisen.

Iraker stellten den grössten Anteil der Migranten, die durch Belarus in Länder der
Europäischen Union gelangten oder gelangen wollten. Dr. Karim Al-Nouri, Sekretär im
irakischen Ministerium für Migration und Vertriebene, sagte dazu, es sei das Recht jedes
Bürgers, der einen Pass habe, zu reisen. „Wir sind nicht dafür verantwortlich, wenn Iraker
Visa dazu nutzen, in ein Land einzureisen, um von dort illegal weiterzureisen, wie es bei
Irakern in Belarus der Fall ist. Dort werden von den Behörden Schleuserbanden geduldet, um
Iraker als Druckmittel gegen die Europäische Union einzusetzen.“

Dennoch stoppte der Irak schon bald Direktflüge von Bagdad nach Minsk in Abstimmung mit
der Europäischen Union als diplomatische Geste. Die Regierung schloss auch die
Honorarkonsulate von Belarus in Bagdad und Erbil, damit Iraker kein Visum mehr für
Belarus erhielten. Bagdad flog zudem etwa 3500 irakische Staatsbürger – die meisten von
ihnen waren aus der Region Kurdistan – aus Minsk zurück, wenn diese nicht

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weitergekommen waren. Viele von ihnen hatten Schlimmes erlebt – wie Haidar Kamal und
Umm Zumrud.

Tragödien an der Grenze

Haidar Kamal war mit Morddrohungen von einflussreichen Mitgliedern der irakischen
Regierung konfrontiert und sah keine andere Chance, diesen zu entkommen, als nach Belarus
zu fliegen. Das Bagdader Reisebüro „Nabaa al-Jud“ stellte dem 45-jährigen Mann, seiner
Frau und seinen drei Kindern eine „Einladung“ nach Belarus inklusive Sightseeing-Programm
für 7200 Dollar aus – ohne Rückflug. Am 9. September flog die Familie mit Flydubai nach
Minsk.

„In Minsk kamen die Schlepper von sich aus in unser Hotel, und ich konnte sehen, dass viele
Migranten auf sie zugingen“, so Haidar. Haidar sprach einen von ihnen an, der die libysche
Staatsbürgerschaft besass. Er versprach ihm, ihn und seine Familie an die belarussisch-
polnische Grenze zu bringen. Dort bekäme er ein GPS-Gerät, um drei Kilometer auf
polnischem Gebiet zu einem Sammelpunkt zu gelangen. Ein bereitstehendes Auto würde sie
zu einer Wohnung in Polen bringen, und zwei Tage später würde sie ein anderes Auto nach
Deutschland bringen. Für 2500 Euro pro Person.

Haidar und seine Familie überwanden die belarussisch-polnische Grenze relativ leicht, denn
Grenzsoldaten hatten sie an Stellen gebracht, die auf polnischer Seite unbewacht waren. Mit
einer anderen Familie zogen sie zu Fuss etwa drei Kilometer durch einen Wald in Polen und
warteten dann bis zum Einbruch der Dunkelheit auf das versprochene Auto. Haidars Frau aber
war entkräftet und klagte über Schmerzen. Daher beschloss er, den Wald zu verlassen und
sich einem Zivilisten anzuvertrauen, der mit seinem Auto unterwegs war. Er hoffte, der
Fahrer würde die polnischen Behörden informieren, und diese würden seine Frau in ein
Krankenhaus bringen.

Stattdessen nahm ihn, so Haidar, die polnische Armee in Empfang und brachte ihn, seine
Familie und ihre Begleiter mitten in der Nacht an die belarussische Grenze zurück. Trotz der
offensichtlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands brachte man seine Frau in kein
Krankenhaus. „Ich appellierte immer wieder an die polnischen Grenzsoldaten, meiner Frau zu
helfen, während wir auf die Grenze zufuhren, ohne Erfolg. Ihr Zustand wurde schlimmer, sie
bekam einen Anfall und starb Stunden später im Morgengrauen an der Grenze.“

Mit der Leiche seiner Frau, seinen Kindern und der anderen irakischen Familie wurde Haidar
auf der belarussischen Seite der Grenze zurückgelassen. Er wandte sich an Grenzsoldaten, die
sich weigerten, ihm zu helfen und den Leichnam wegzubringen. Stattdessen verhandelten sie
mit ihm: „Wir werden dir nur helfen, wenn du sagst, dass die Polen dich geschlagen und deine
Frau getötet haben.“ Die Grenzsoldaten arrangierten den Dreh eines Videos, um Polen die
Schuld an dem Vorfall zu geben. Haidar musste vor der Kamera sagen, polnische
Grenzsoldaten hätten sie angegriffen und den Tod seiner Frau verursacht. „Ich wurde dazu
gezwungen, weil ich mit meinen Kindern und der Leiche meiner Frau im Wald stand. Die
Wahrheit ist, dass die Polen uns nicht geschlagen haben.“

Haidar brachte den Leichnam seiner Frau nach Minsk, während das belarussische Fernsehen
die Geschichte verbreitete, die Polen hätten die Familie misshandelt. Auch im Irak wurden auf
die Nachricht mit Empörung reagiert, so Haidar. Die Familie seiner verstorbenen Frau
unterstellte ihm, dass er sie nicht vor den Polen beschützt habe. Später wurden Haidar und
seine Kinder in die Grenzstadt Gorodna gebracht, wo alles noch schlimmer wurde. Er wurde

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in ein Gefängnis gesteckt und die Kinder in einem Heim untergebracht. Nun begannen
Verhöre darüber, wie er aus Polen nach Belarus gekommen sei und wie die polnischen
Grenzsoldaten seine Frau umgebracht hätten. Die Befragungen dauerten über eine Woche,
jeweils viele Stunden am Tag. Sie fanden in mehreren Polizeistationen statt. „Es war eine
schwere physische und psychische Qual. In jeder Polizeiwache oder Zelle musste ich meine
Kleider ablegen und mich einer demütigenden Durchsuchung unterziehen. Meine
Menschenwürde wurde auf perverse Weise verletzt. So etwas wie Menschlichkeit habe ich
nicht erlebt.“

Nach Abschluss der Ermittlungen beschlossen die belarussischen Behörden, Haidar mit
seinen Kindern mit Turkish Airlines in den Irak abzuschieben, nachdem sie ihm sein Geld und
seine Telefone abgenommen hatten. „Ich habe nie von einem Land gehört, das jemanden
abschiebt und ihm auch noch die Kosten dafür aufbürdet. Als ich abgeschoben wurde, musste
ich für den Transport zwischen den Polizeistationen ebenso bezahlen wie für die Fahrt zum
Flughafen“, berichtet Haidar.

Es blieb unklar, was aus dem Leichnam seiner Frau werden würde, weil es in Minsk keine
irakische Botschaft gab. Erst zwölf unruhige Tage nach seiner Rückkehr in den Irak erreichte
er in Minsk jemanden, dem er über die irakische Botschaft in Russland eine Vollmacht
erteilen konnte, die Leiche auf eigene Kosten nach Bagdad zu bringen. „Das politische
Ringen zwischen Belarus und der Europäischen Union hat uns zu Opfern gemacht“, sagt
Haidar. „Die Belarussen tragen die alleinige Verantwortung dafür, dass wir so getäuscht
wurden. Unser Traum und Ziel war es, unseren Kindern eine Zukunft zu sichern. Aber wenn
Gott es so beschieden hat, stellen wir uns dem nicht entgegen.”

Sexuelle Übergriffe

Wie Tausende von Irakern träumte auch die 29-jährige Umm Zumrud von einem besseren
Leben und flog mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter von Istanbul nach Minsk. Die Visa
hatten sie sich in einem Büro in Istanbul für 1500 Dollar pro Person ausstellen lassen.
Bereitwillig brachten belarussische Soldaten die Reisenden zur Grenze und liessen sie auf
polnisches Gebiet. Als die Polen sie aber zurückschoben, ärgerten sich die belarussischen
Grenzsoldaten so sehr, dass einer von ihnen mit dem Kolben seines Gewehrs auf Umm
Zumruds Mann losging, während dieser das Baby trug. „Ich hatte Angst um meine Tochter“,
berichtet die Mutter, „und stellte mich vor meinen Mann. Daraufhin schlug mich ein Soldat
mit einem Ast, den er bei sich trug.“ Die Soldaten hätten zudem die Babysachen zerstört, die
ihr Mann in einem Rucksack getragen hatte.

Doch es blieb nicht bei Schlägen. Eine weitere Familie von fünf Personen hatte mit Umm
Zumrud versucht, über die Grenze zu kommen, darunter zwei Mädchen, eines 16 und das
andere 20 Jahre alt. Sie wurden von einem belarussischen Grenzbeamten unter dem Vorwand
belästigt, er müsse sie durchsuchen. Sie schrien, während ihr Vater durch einen Diabetesanfall
ohnmächtig wurde. Umm Zumrud trennte die Mädchen mühsam von dem Offizier, der sie
daraufhin herumstiess und beleidigte.

Unter den Augen polnischer und belarussischer Soldaten verblieben sie an dem Grenzzaun,
während ein belarussischer Offizier ihnen mit dem Tod drohte. Umm Zumrud bat einen
anderen Soldaten, ihnen bei der Rückkehr nach Minsk zu helfen. Er verlangte dafür von jeder
Familie 1000 Dollar, einen Betrag, den er nach langem Betteln auf 500 Dollar reduzierte. Am
nächsten Morgen rief der Soldat einen Fahrer an. Die Iraker mussten eine Stunde laufen, bis
das Auto kam und sie nach Minsk brachte.

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Minsk als Startpunkt

In einer Dokumentation wies eine von Grossbritannien aus betriebene belarussische


Oppositionswebsite nach, dass die Öffnung der Grenzen für Migranten aus dem Nahen Osten
und Asien von den belarussischen Behörden geplant wurde. Staatliche Reiseunternehmen und
Reisebüros spielten bei der Umsetzung des Plans eine wichtige Rolle.

United4Rescue, eine in Deutschland ansässige Migranten- und Flüchtlingshilfeorganisation,


die auch an der Grenze zu Belarus arbeitet, hat den grossen Zustrom von Migranten aus
Belarus an die Grenzen der Europäischen Union dokumentiert. Ihr Gründer Ihab al-Raoui
bestätigt, dass belarussische Behörden sich weigerten, Migranten nach Minsk zurückkehren
zu lassen oder ihnen medizinische Hilfe zu gewähren. Er berichtet von Migranten, die von
belarussischen Grenzschutzbeamten aufgefordert worden seien, „nach Polen zu gehen oder an
der Grenze zu sterben“.

Ab März und April 2021 waren die meisten Ankommenden in Belarus Iraker, seit September
waren auch immer mehr Syrer darunter. Die syrische Fluggesellschaft Cham Wings bot
damals fast täglich Flüge von Damaskus nach Minsk an. Der 44-jährige Syrer Zaid Idris nahm
einen davon. Nach zwei gescheiterten Versuchen im August 2021, auf dem Seeweg über die
Türkei nach Europa zu kommen, änderte Zaid seine Pläne und entschied sich für die
mittlerweile bekannte Belarus-Route. Er kehrte nach Damaskus zurück und stellte fest, dass
Cham Wings ein umfassendes Reiseprogramm nach Belarus anbot, einschliesslich Visum,
Flug und Hotelunterkunft, zehn Tage für 4000 US-Dollar.

Zaid und andere Syrer, die ihn begleiten wollten, nahmen zunächst Kontakt zu einem
irakischen Schlepper namens Abu Rashid auf. Für 500 Euro wollte dieser sie von Polen nach
Deutschland bringen. Der Betrag wurde beim Versicherungsbüro Haftaro in Istanbul
hinterlegt, welches dafür jeweils eine Provision von 100 Euro einbehielt. Nach ihrer Ankunft
in Minsk fuhren auch sie direkt an die Grenze, wo belarussische Soldaten ihnen beim
Grenzübertritt halfen. Sie mussten nun nur noch den von Abu Rashid genannten
Sammelpunkt in Polen erreichen, wurden aber vom dortigen Grenzschutz entdeckt und zurück
nach Belarus gebracht. Dort wurden sie von belarussischen Grenzsoldaten geschlagen und
beleidigt, und als sie den Wunsch äusserten, nach Minsk zurückkehren zu wollen, sagte ihnen
ein Offizier: „Wer zurückwill, wird erschossen! Es waren die Polen, die euch geschlagen
haben, nicht wir, das müsst ihr allen erzählen. Ihr sterbt hier oder ihr geht nach Polen, ganz
wie ihr möchtet. Aber es gibt keinen Weg zurück.“

Der belarussische Grenzschutz setzte sie in einen Lastwagen und fuhr sie zu einer anderen
Stelle, von wo sie erneut nach Polen gelangten. Sie kontaktierten nun einen anderen syrischen
Schlepper namens Abu al-Walid, der 2500 Euro dafür verlangte, sie nach Deutschland zu
bringen. Zaid rief einen Freund an und bat ihn, im Haftaro-Büro in Istanbul Bescheid zu
geben, dass die Kaution auf den Namen des neuen Schleppers umgeschrieben werden solle.
Dafür wurden noch einmal 100 Euro fällig.

Das Auto, mit dem Zaid und seine Begleiter aus den Wäldern Polens dann tatsächlich nach
Deutschland gebracht wurden, hatte ein schwedisches Kennzeichen und wurde von einem
Fahrer mit syrischer Staatsangehörigkeit und palästinensischer Herkunft gefahren. Dieser
erzählte ihm, so Zaid, dass er alle zwei Tage 2000 Kilometer fahre und auch täglich fahren
könne, wenn der Schlepper ihn entsprechend anweise. Jeder Schlepper habe Fahrer und Autos
zur Verfügung, mit denen er seine Kunden transportieren könne. Zaid kam schliesslich nach
Belgien, wo er in einem Asylzentrum bis heute auf die Bearbeitung seines Antrags wartet.

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Beteiligte Unternehmen und Einrichtungen

Am 2. Dezember 2021 verhängte die Europäische Union Sanktionen gegen Personen und
Organisationen, die mutmasslich an der Überführung von Flüchtlingen nach Minsk beteiligt
waren, um sie von dort nach Westeuropa zu bringen. Berichten zufolge stand der Anstieg des
Zustroms von Migranten zunächst im Zusammenhang mit EU-Sanktionen gegen das Regime
von Präsident Alexander Lukaschenko. Sie wurden verhängt, nachdem Belarus mit einer
Falschmeldung über eine Bombe an Bord ein Flugzeug von Ryanair am 23. Mai 2021 in
Minsk zur Landung gezwungen hatte. Dies geschah, um den Oppositionellen Roman
Portasevitsch festnehmen zu können.

Untersucht man die Häufigkeit von Flügen, kamen die Migranten aber bereits Wochen vor
dieser Entführung an den EU-Grenzen an. Die Reisebewegungen aus den Ländern des Nahen
Ostens beschleunigten sich in den folgenden Monaten stetig, bis sie zwischen August und
November 2021 ihren Höhepunkt erreichten. Zahlreiche Reisebüros und mehrere
Fluggesellschaften waren daran beteiligt.

Präsident Lukaschenko erklärte damals offen, er würde niemanden daran hindern, die
Grenzen zu überqueren, und dass die EU-Länder froh darüber sein könnten, wenn sie neue
Arbeitskräfte bekämen. Die litauische Regierung sprach dagegen von einem „hybriden
Kriegsführung“ gegen ihr Land und die gesamte Europäische Union, welche Lukaschenkos
Regime ihrerseits beschuldigte, Flüchtlinge als Waffe gegen die Staatengemeinschaft
einzusetzen. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte Lukaschenkos
Vorgehen „einen Angriff auf uns alle in der Europäischen Union“.

Für die staatliche belarussische Fluggesellschaft Belavia verhängte die EU ein Überflugverbot
für den europäischen Luftraum und ein Landeverbot aller belarussischen
Luftfahrtunternehmen auf Flughäfen der EU, da Belavia Migranten aus dem Nahen Osten
nach Belarus brachte. Sie reisten mit Belavia-Flügen aus Ländern des Nahen Ostens,
insbesondere dem Libanon, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei, nach
Minsk.

Belavia richtete neue Flugrouten ein und erweiterte die Anzahl der Flüge auf bestehenden
Strecken. Lokale Reiseveranstalter fungierten als Vermittler beim Verkauf von Belavia-
Flugtickets an Migranten. Nach Angaben des Luftaufklärungsunternehmens CH-Aviation hat
Belavia 17 der 30 Flugzeuge seiner Flotte über Flugzeuggesellschaften in Irland geleast. Das
Staatsunternehmen ist Kunde internationaler Flugzeugcharterunternehmen mit Sitz in Irland,
darunter AerCap und SMBC Aviation Capital mit Niederlassungen in Dublin, Nordic
Aviation Capital mit Sitz in Limerick und Thunderbolt Aircraft Lease mit Sitz in Shannon.

Tsentrkurort ist eine staatliche Tourismusgesellschaft, die dem Ministerium für


Präsidialangelegenheiten von Belarus unterstellt ist. Es ist eines der Unternehmen, die den
Zustrom von Migranten koordinierten. Tsentrkurort half mindestens 51 irakischen
Staatsbürgern, Visa für die Einreise nach Belarus zu erhalten. Mit dem belarussischen
Unternehmen Stroitur unterzeichnete man einen Vertrag über Transportdienstleistungen. Die
von Tsentrkurort gebuchten Busse brachten Migranten, darunter auch Kinder, vom Flughafen
Minsk in Hotels.

Oscar Tour ist ein belarussisches Reiseunternehmen mit Sitz in Minsk, das Migranten aus
dem Irak Zugang zu Visa verschaffte und ihre anschliessende Reise nach Belarus mit Flügen
von Bagdad nach Minsk organisierte. Diese irakischen Migranten wurden später an die

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belarussische Grenze gebracht, um diese illegal zu überqueren. Dank Oscar Tour und seinen
Kontakten zu Iraqi Airways, belarussischen Behörden und dem staatlichen Unternehmen
Tsentrkurort bot die irakische Fluggesellschaft regelmässige Flüge von Bagdad nach Minsk
an, um noch mehr Menschen nach Belarus zu bringen und von dort weiterzuschicken.

Die private syrische Fluggesellschaft Cham Wings, die dem Geschäftsmann Mohammed
Issam Shammout und seinem ehemaligen Geschäftspartner Rami Makhlouf (ein Cousin des
syrischen Präsidenten Baschar al-Assad) gehört. Cham Wings bot seit 10. September 2021
immer mehr Flüge von Damaskus nach Minsk an, um Migranten nach Belarus zu bringen. Im
Oktober 2021 eröffnete Cham Wings zwei neue Büros in Minsk, um Flüge zwischen
Damaskus und der belarussischen Hauptstadt organisieren zu können, stellte aber seine Flüge
nach Minsk ab dem 13. November 2021 ein, wie der Webseite FlyRadar zu entnehmen ist.

Das Pass- und Visa-Dienstleistungsunternehmen VIP Grub mit Sitz in Istanbul organisierte
Reisen nach Belarus mit der klaren Absicht, die Migration in die EU zu erleichtern. Das
Unternehmen warb aktiv für die Migration in die Europäische Union. Zeugenaussagen und
Daten, die mir vorliegen, deuten darauf hin, dass belarussische Behörden auch individuellen
Einreisen nach Belarus Tür und Tor öffneten und versuchten, die Aussengrenzen der EU mit
Migranten zu überschwemmen. Sie halfen ihnen beim Grenzübertritt, ungeachtet der
Tragödien, die den Betroffenen dabei widerfuhren.

Anhand der Flugdaten lässt sich vor allem zwischen April und November 2021 ein enormer
Zustrom von Migranten nachweisen. Insgesamt 1317 Flüge nach Minsk beförderten etwa 100
000 Menschen, die migrieren wollten, wenn man annimmt, dass bei jedem Flug nur 80
Passagiere mit diesem Motiv mitreisten. Die Kapazität der meisten Flugzeuge lag jedoch bei
mindestens 140 Passagieren, und einige fassten bis zu 400 Fluggäste. Professionelle
Schlepper setzten schnell und umfassend auf die „belarussische Linie“ und häuften so riesige
Gewinne an. Erst als klar wurde, dass diese Verbindung nicht mehr funktionieren würde,
konzentrierten sie sich wieder auf die herkömmlichen Wege, etwa über die Türkei und
Griechenland.

Zweiter Teil

Der Doppelgängerpass – ein Schwarzmarkt für europäische Reisedokumente

Meine Recherche führte mich zu einem grossen Markt für europäische Pässe.
Schleppernetzwerke sind in Athen, Istanbul und europäischen Städten aktiv, um Pässe aller
Art zu verkaufen – von Personen mit ähnlichem Aussehen, Originale und Fälschungen.

Als ich den irakischen Schlepper Amjad, den ich zufällig in Brüssel getroffen hatte, dazu
drängte, mir eine sichere Route zu nennen, um meinen vermeintlichen Verwandten nach dem
Wegfall der belarussischen Route von der Türkei nach Belgien zu bringen, verwies er auf
diese und jene Möglichkeit. Dann überraschte er mich mit dem „Doppelgängerpass“ und den
„Checkerbüros“. Er zeigte mir ein Video von Migranten, die in einem Wald warteten, bis ein
modernes Auto auftauchte und sie mitnahm. Das Video war auf der traditionellen
Schlepperroute aufgenommen worden, sie führte von der Türkei auf dem Landweg nach
Griechenland und von dort durch die Länder Osteuropas. Über ein Netzwerk von Schleusern,
das sich über diese Staaten erstreckte, ging es weiter nach Österreich, Deutschland oder
Belgien. Das Ziel konnte aber auch Calais in Frankreich und dann Grossbritannien sein.

10 die weißrussische Falle


Die Kosten für diese, wie er mir versicherte, sichere Route von der Türkei nach Belgien
beliefen sich auf 12 000 Dollar, die an verschiedenen Stellen und Etappen zu zahlen seien.
Als ich zu erkennen gab, dass mir dieser Betrag zu hoch sei, meinte er, dass er angesichts der
Länge der Strecke, der Schwierigkeiten und der von den Schleppern bereitgestellten
Leistungen angemessen sei. Zudem würden sich mehrere Personen das Geld teilen: „Wir sind
sechs Personen“, berichtete er, „und ich bekomme das Geld nicht allein. Wir sind über viele
Länder verteilt, und ich bin nicht der Leiter des Netzwerks, sondern nur ein Teil davon.“ Der
Organisator des Netzwerks wohne in Griechenland. Weitere Details nannte er nicht, wusste
sie aber möglicherweise auch nicht.

Mit dem Video wollte Amjad Werbung für seine Arbeit machen. Darin tauchte irgendwann
die Adresse eines Accounts auf TikTok auf, und als ich diesen öffnete, wurden Videos von
Migranten abgespielt, die in Begleitung von Schleppern einen Gruss an „Abu al-Abd al-Iraqi“
entrichten, den mutmasslichen Anführer des Schleusernetzwerks. Jener Mann ist auf
Facebook und TikTok aktiv und postet fast täglich Videos von Personen, die in Ungarn
ankommen oder auf dem Weg dorthin sind. Sie danken ihm und loben ihn. Jede Person weist
zudem auf das „Checkerbüro“ hin, in dem der mit dem Schleuser vereinbarte Betrag
hinterlegt wird. Das „Checking“ ist ein wichtiger Begriff im Wortschatz von Migranten und
Schleppern und der erste Schritt für jeden Migranten, der auf dem Luft-, Land- oder Seeweg,
per Boot, Auto oder LKW oder per Flug nach Europa gelangen möchte.

Checker-Büros: Ein Finanzsystem anderer Art

„Checker-Büros“ gibt es in Istanbul, Athen und einigen europäischen und arabischen Städten.
Oft sind es kleine Versicherungs- oder Geldtransferbüros, die illegal operieren. Wer eine
irreguläre Migrationsreise antreten möchte, hinterlegt den mit dem Schlepper vereinbarten
Betrag in einem solchen Büro und erhält dafür einen Geheimcode oder gleich mehrere (auch
Chiffres genannt, je nach Anzahl der Fahrten), die dem Schlepper bei der Ankunft im Zielland
übergeben werden müssen. Daraufhin erhält dieser sein Geld von dem Büro. Diese Art der
Bezahlung ähnelt in gewisser Weise Western Union oder MoneyGram-Überweisungen, ist
aber illegal und wird im Verborgenen praktiziert. Checker-Büros arbeiten zur Tarnung oft als
Reisebüros, Tourismus- oder Dienstleistungsunternehmen, sind aber nicht beschildert oder
machen Werbung. Sie sind nur jenen bekannt, die sich in sozialen Netzwerken über
Möglichkeiten irregulärer Migration informiert haben oder mit anderen Migranten und
Schleusern in Kontakt stehen.

Bei der Suche nach den Namen von Büros, die Migrationswillige in sozialen Netzwerken in
Istanbul häufig erwähnten, stiess ich etwa auf: „Fayyad-Büro“, „Büro Milano“, „Haftaro-
Büro“, „Akram Abu Ali-Büro“, „Jerusalem-Büro“, „Ahl Al-Sham-Büro“ oder das „Al-Assaf-
Büro“. Laut vieler Kommentare aus der ersten Dezemberwoche 2021 auf Social-Media-
Kanälen hat das letztgenannte Büro wohl viele Menschen betrogen und um ihr hinterlegtes
Geld gebracht.

Die Schlepper zwingen die Migrationswilligen in der Regel, ein bestimmtes Checker-Büro
aufzusuchen, was ein mögliches Betrugssystem bereits aufzeigt und verdeutlicht, in welch
zwielichtigem Verhältnis diese Büros zu den Menschenschmugglern stehen. Während manche
Büros schliessen, sobald sie ihr Gewinnziel erreicht haben, arbeiten andere weiter, um
fortlaufende Einnahmen zu haben. Sie investieren in eine kontinuierliche
Migrationsbewegung und eröffnen sogar Filialen in europäischen Städten, wie mir Schlepper
berichteten.

11 die weißrussische Falle


Kombi-Reisepässe zu verkaufen – Der Doppelgängerpass als perfekte Lösung

Amjad pries die Idee des Mitführens eines Passes einer ähnlich aussehenden Person als einen
einfachen und sicheren Weg zur Einreise in die EU an. Ich war überrascht zu erfahren, wie
beliebt diese Methode nach dem Ende der Migrationsroute über Belarus und dem Beginn des
Kriegs in der Ukraine ist. Sie ist allerdings kostspielig und erfordert Risikobereitschaft.In
europäischen Städten, insbesondere aber in Istanbul und Athen, ist der Verkauf von originalen
und gefälschten Doppelgängerpässen weit verbreitet, da es Tausende von Flüchtlingen aus
dem Nahen Osten, aus Nordafrika, Afghanistan und von anderswo gibt, die nach einem Weg
suchen, in die Europäische Union zu kommen.

Schlepper erhalten die EU-Pässe von Personen, die diese gestohlen oder gefunden haben.
Oder sie kaufen sie direkt von ihren Inhabern. Andere fälschen Pässe auf der Grundlage
echter Daten, die von Tourismusunternehmen, Reisebüros und Hotels aufgenommen wurden,
nachdem ein Tourist seinen Reisepass oder eine Kopie davon vorlegen musste. Auch einmal
angegebene Daten werden genutzt, um Pässe zu fälschen, die sie später in sozialen
Netzwerken und auf Websites zum Verkauf anbieten.

In sozialen Medien stiess ich auf diverse Anzeigen für sogenannte „ähnliche Pässe“. Ein
Anbieter warb mit der Verfügbarkeit griechischer Pässe, ein anderer bot verschiedene
europäische Pässe an, aber auch israelische Pässe und Pässe von arabischen Flüchtlingen
waren zu haben. Interessenten müssen bei Interesse zunächst ein eigenes Foto schicken, das
der Schlepper mit dem Foto im Pass vergleicht. Wenn er die Ähnlichkeit für akzeptabel hält,
wird der Kauf vereinbart. Die Preise sind uneinheitlich.

Deutsche Pässe zu verkaufen

Als der Schlepper Amjad erfuhr, dass ich einen europäischen Pass besitze, bot er mir sofort
5000 Euro für den Kauf an. Er erklärte sich auch bereit, den Betrag auf 6000 Euro zu erhöhen,
als ich so tat, als fände ich zwar die Idee gut, sein Angebot aber unzureichend. Zweifellos
hätte er meinen Pass für ein Vielfaches des Betrags weiterverkauft. „Warte“, sagte er dann.
„Ich habe ein Foto von einem Iraker in Istanbul, der einen ähnlichen Pass haben möchte. Ich
denke, er ähnelt dir.“ Unter zahllosen Fotos auf seinem Handy suchte er eines von einem
Mann Ende Zwanzig heraus. „Könnte ich ihm dein Passfoto oder deinen Personalausweis
nach Istanbul schicken? Er sieht dir wirklich sehr ähnlich.“

Amjad bezirzte mich weiter, ihm meinen Pass zu verkaufen, und schlug vor, auch den Betrag,
den er später dafür bekäme, mit mir zu teilen. Er drängte mich mehrfach über WhatsApp, ihm
eine Kopie meines Reisepasses zu schicken. Ich redete mich damit heraus, dass ich auf Reisen
sei und ihm die Kopie nach meiner Rückkehr senden würde. Hätte ich ihm den Pass gegeben,
hätte ich drei oder vier Tage verstreichen lassen müssen, bevor ich ihn als verloren melde. In
dieser Zeit wäre alles gelaufen gewesen: Der Mann, der mir mehr oder weniger ähnelt, wäre
mit meinem Pass, meinem Foto und meinen Daten von welchem Flughafen auch immer in das
von ihm gewünschte europäische Land eingereist. Das Risiko wäre dabei überschaubar
geblieben.

Neben dem Versuch, meinen Reisepass zu kaufen, versuchte Amjad, mich dazu zu überreden,
in seinem Netzwerk als Vermittler aufzutreten. Ich solle Migrationswillige oder Personen, die
Verwandte nach Belgien bringen wollten, kontaktieren. Pro vermittelter Person würde ich 500
Euro bekommen.

12 die weißrussische Falle


Halblegale Migration

Trotz allem, was der Schlepper sagte und was ich in den sozialen Medien in Bezug auf
Passangebote sah, blieb ich skeptisch. Wie gross wären wohl die tatsächlichen Chancen, auf
europäischen Flughäfen mit ihren strengen Verfahren und unter aussergewöhnlichen
Umständen mit einem Pass durchzukommen, nur weil man ein wenig so aussieht wie die
Person auf dem Foto im Dokument? Ganz zu schweigen davon, dass auch Frontex längst
weiss, wie beliebt diese Methode ist!

Ein Bericht der Grenzagentur vom 30. Juni 2021 bestätigt, dass Netzwerke der organisierten
Kriminalität zunehmend an der Herstellung gefälschter Dokumente und an der Beschaffung
und Verbreitung von Originaldokumenten über das Internet aktiv sind. Schlepper bieten dem
Bericht zufolge über Social-Media-Plattformen eine breite Palette von originalen oder
gefälschten Dokumenten an, die auf betrügerische Weise erlangt worden seien, um
Bestellungen direkt von Kunden zu erhalten. Im Jahr 2020 seien etwa 1500 Fälle von
Einreisen mit gefälschten Dokumenten entdeckt worden, darunter viele mit echten Pässen
„ähnlicher“ Personen. Die Zahl der Fälle war im Vergleich zum Vorjahr um 57 Prozent
zurückgegangen, was bedeutet, dass es 2019 über 3000 Fälle von Einreisen mit falschen
Dokumenten gegeben haben muss.

Ich kontaktierte Frontex bezüglich der Verbreitung von „Doppelgängerpässen“ und


gefälschter Dokumente und fragte nach behördlichen Vorkehrungen dagegen. Die Antwort
lautete: „Identitätsdiebstahl ist eine bekannte Methode des Missbrauchs von
Originaldokumenten. Eine ausgeprägte Ähnlichkeit zwischen dem eigentlichen und dem
momentanen Inhaber des Dokuments kann in einigen Fällen die Identitätsfeststellung an den
Grenzen und die Aufdeckung von Betrug erschweren. Wir unterstützen die Mitgliedstaaten
dabei, solchen Taktiken entgegenzuwirken, indem wir Schulungen zur Entdeckung falscher
Dokumente für Grenzschutzbeamte und Vollzugsbehörden organisieren, Erfahrungen
austauschen und operative Maßnahmen gegen Dokumentenfälschung unterstützen.“

Bei der Recherche dazu, wie „ähnliche Pässe“ verkauft werden und wie und auf welchen
Routen sie am häufigsten eingesetzt werden, konnte ich viele Fälle dokumentieren, die auf die
gängigsten Zugangswege in EU-Länder verweisen. Wer irregulär migrieren möchte, sucht
zunächst über einen der vielen Social-Media-Kanäle nach Schleppern und nach Pässen, die
zum Verkauf angeboten werden. Für diese Recherche in den sozialen Netzwerken habe ich
fiktive Namen benutzt.

Freier Markt für Reisedokumente

Im Internet und in sozialen Medien stiess ich auf einen florierenden Markt für Pässe –
europäische, amerikanische, kanadische und arabische Pässe (insbesondere syrische,
jemenitische und palästinensische Pässe, welche die Chancen auf Asyl erhöhen) sowie
Schleusungsangebote. In diesem Zusammenhang fand ich Hunderte von aktiven Gruppen auf
Instagram und TikTok sowie einige Dutzend auf Facebook, mit denen wiederum hunderte
Menschen interagieren. Die angebotenen Optionen für Pässe übertrafen meine Erwartungen,
und die Preise waren erschwinglich.

Solche Profile, die von professionellen Schleppern und Personen betrieben werden, die auf
Betrug aus sind, müssen im Kontext von organisiertem Verbrechen und Menschenhandel
gesehen werden, gerade angesichts der vielen Tragödien, die Migranten auf den
verschiedenen Migrationsrouten widerfahren. Als ich Facebook über die vielen Accounts

13 die weißrussische Falle


unterrichtete, die auf Menschenschmuggel, Passverkauf und den damit verbundenen Betrug
auf Kosten von Migranten ausgerichtet sind, lautete die Antwort: „Wir investieren permanent
in Technologie und in Personal, um solche Seiten und Gruppen frühestmöglich zu
identifizieren und sie gegebenenfalls umgehend von unserer Plattform zu entfernen. Wir
ermutigen Nutzer dazu, Inhalte zu melden, die gegen unsere Regeln verstossen könnten.“

Hunderte solcher Accounts, auf denen Schleusungsangebote, Reisedokumente aller Art und
Informationen über irreguläre Migrationsrouten angeboten werden, sind dennoch weiterhin
abrufbar, einschliesslich Einzelheiten zu Kauf, Verkauf und Preisen. Tausende von Menschen
folgen diesen Seiten und interagieren mit ihnen. Im Mai und Juni 2022 kontaktierte ich eine
Reihe von Schleppern, die in sozialen Medien aktiv waren und gab jeweils vor, nach einer
Möglichkeit zu suchen, ein EU-Land zu erreichen und dort Asyl zu beantragen. Ich erhielt
zahlreiche Angebote und verschiedene Optionen in Bezug auf die Preisgestaltung.

In einem WhatsApp-Anruf bat mich ein Schlepper, der sich Humam Bek nennt und in
Istanbul arbeitet um ein persönliches Foto, um es mit Pässen in seinem Besitz vergleichen zu
können. Ich bearbeitete ein willkürlich ausgesuchtes Foto von einer Person mit arabisch
anmutenden Gesichtszügen und schickte es an ihn. Er antwortete, indem er Bilder von zwei
französischen Pässen, einem amerikanischen Pass und einem niederländischen
Personalausweis zurücksandte. Eine Ähnlichkeit war nicht wirklich gegeben, aber der
Schlepper versicherte, er hätte noch weitere Optionen. Ich sollte ihm nur eine Aufnahme mit
kürzeren Haaren schicken, dann würde er schon etwas finden.

Humam Bek vermied es wie fast alle Schleuser, die ich kontaktierte, darüber zu sprechen,
woher er all diese Pässe und Ausweise hatte, die er seinen Kunden je nach Aussehen anbot.
Nur einer erzählte, sie stammten von Botschaften, wo sie noch nicht offiziell registriert seien.
Ein anderer Schleuser behauptete, sie entweder von Banden zu kaufen, die sie gestohlen
hätten, oder direkt von ihren Besitzern, wenn diese sie in sozialen Medien oder dem
Schlepper direkt anböten.

Bei einem Anruf bestätigte ein Hammam al-Rashad (aus Syrien stammend und von Istanbul
aus operierend), er habe eine ganze Palette von originalen und kopierten Pässen – spanische,
italienische, belgische, deutsche Pässe, sogar welche aus der Dominikanischen Republik,
sowie Flüchtlingspässe von arabischen Staatsbürgern in Deutschland, Belgien und Schweden.
Einen originalen belgischen Reisepass bot er zum Preis von 1700 Euro an, einen gefälschten
für 1200 Euro. Er versprach, er könne jedes Foto, das ihm zugesandt würde, in den
Originalpass einsetzen. Zudem bekäme man bei ihm auch einen Personalausweis mit
ausgetauschtem Chip. Hammam al-Rashad bot ein Gesamtpaket an, einschliesslich der
Möglichkeit, über den Flughafen der sudanesischen Hauptstadt Khartum „garantiert“ nach
Europa zu kommen. Dafür würden zusätzlich 5000 Euro fällig.

Um jegliche Befürchtungen zu zerstreuen, schickte mir der Schlepper noch ein Video von
einem belgischen Reisepass und Personalausweis, in dem er alle Details erläuterte und
erklärte, wie schwierig es sei, ihre falschen Merkmale auf Scannern zu erkennen, weil die
Codes und Barcodes ähnlich denen seien, die der Zoll an Flughäfen verwende. Mit solchen
Pässen seien schon mehrere Personen problemlos in ihr jeweiliges Zielland gelangt. An der
Stelle im Video, wo der Schlepper den Ausweis an einem Scanner überprüft, um seine
Qualität zu demonstrieren, ist eine Vielzahl von Ausweisen offenbar europäischer Provenienz
zu sehen, was die vielen Möglichkeiten illustriert, die ihm zur Verfügung stehen.

14 die weißrussische Falle


Man müsse nur die Angaben zur Person, das Foto und die Unterschrift senden und 300 Euro
an einen Vermittler bezahlen. Diesen würde ich in Istanbul treffen. Anschliessend könnte ich
ein Video des neuen Passes sehen, müssten den Restbetrag bezahlen und würde dann den
belgischen Pass und Personalausweis auf die gleiche Weise erhalten. Abu Iyad, ebenfalls ein
syrischer Schlepper, der sich in Istanbul betätigt, bot seinerseits ein Komplettpaket an, das
eine Reise von Istanbul nach Belgien einschliesslich eines echten niederländischen Passes,
eines Personalausweises und eines Tickets einschloss. Preis: 10 500 Euro.

Demnach würde der Besitzer des Originalpasses aus den Niederlanden nach Istanbul kommen
und seinen Pass verkaufen. Anschliessend würde das Originalbild per Laser verändert und das
Foto der neuen Person eingebaut. Der Einreisestempel nach Istanbul würde mir helfen, ohne
Probleme nach Amsterdam zurückzureisen; zudem würde man dafür sorgen, dass es bei den
Sicherheitskontrollen am Flughafen Sabiha Gökçen nicht übertrieben streng zuginge, so der
Schlepper.

Der ursprüngliche Inhaber des Reisepasses würde erst ausreisen, wenn die Person, die sein
Dokument nutzt, im Bestimmungsland angekommen wäre, das Dokument vernichtet und Asyl
beantragt hätte. Dann müsste er sich an das Konsulat seines Landes wenden, um ein
Rückkehrvisum oder einen Ersatzpass für den angeblich verlorenen zu beantragen. Die
meisten Migrationswilligen befassen sich nicht allzu sehr mit den strengen
Einreisemassnahmen an europäischen Flughäfen wie der Abnahme von Fingerabdrücken und
Gesichtsscans, mit denen ihre Identität festgestellt werden soll. Allein die Landung an einem
solchen Flughafen und die Beantragung von Asyl gilt ihnen als ein glückliches Ende ihrer
beschwerlichen Reise.

Bei der Suche nach weiteren Schleusern gab es weitere verlockende Angebote. Eine Person
namens Abu Ali bot einen originalen europäischen Pass mit manipuliertem Foto an,
einschliesslich einer Reise von Izmir nach Athen und anschliessend einen Weiterflug für 9500
Euro. Der Preis müsste nur in einem Checkerbüro in Istanbul, Izmir oder Athen hinterlegt
werden. Ein in Athen ansässiger Abu Mustafa, den ich über WhatsApp kontaktierte, bat
zunächst um ein Foto. Ich bearbeitete meines und schickte es ihm; er antwortete mit der
Abbildung eines französischen Passes. Das Passfoto darin sah so ähnlich aus wie das von mir
bearbeitete Bild, den Preis des Reisepasses veranschlagte er mit 4500 Euro.

Abu Mustafa versicherte, die Bereitstellung des Reisepasses und die Buchung der Reise
würde nicht länger als zwei Tage dauern, und überhaupt sei das Reisen mit einem Pass „ganz
einfach“, wenn einem nur das Bild ähnele. An diesem Passhändler blieb ich mit vielen
Anrufen und WhatsApp-Nachrichten dran, um den Deal vorgeblich abzuschliessen, auch
wenn es mir nur darum ging, die einzelnen Schritte nachzuvollziehen.

Auch Nasser Moayad ist von Athen aus aktiv. Für einen Flug nach Belgien innerhalb einer
Woche bot er einen Asylpass (wie ihn Flüchtlinge in europäischen Ländern erhalten) mit
arabischem Namen an. Das Foto, das ich ihm schicken sollte, müsse eine Ähnlichkeit von 60
Prozent haben; er würde sie anschliessend auf 90 Prozent erhöhen. Sein Angebot beinhaltete
auch die Option, mich für weitere 5000 Euro auf dem Flug nach Brüssel zu begleiten. Aus
gegebenem Grund konnte ich letztlich keinen Deal mit Schleppern abschliessen, die mir
originale oder „ähnliche“ Reisedokumente aus Europa oder anderen Teilen der Welt verkauft
hätten. Stattdessen suchte ich nach Leuten, die es getan hatten.

15 die weißrussische Falle


Als Doppelgänger auf europäischen Flughäfen

Der 38-jährige Syrer Siraj hätte sich nicht vorstellen können, dass er eines Tages mühelos mit
einem irischen Pass in Brüssel ankommen würde. Siraj und seine Begleiter waren zunächst
mit Hilfe von Google Maps Hunderte von Kilometern zu Fuss durch die Berge zwischen der
Türkei und Griechenland gewandert, bis sie im nordgriechischen Thessaloniki angekommen
waren. In dieser Stadt voller Migranten und Schlepper hörte er von der Masche mit dem
echten Pass mit ähnlichem Foto. Er kontaktierte einen syrischen Schlepper in Athen, der ihn
um ein Foto und einige Angaben wie Grösse und Gewicht bat und ihm zwei Tage später
mitteilte, ein irischer Pass läge für 5000 Euro für ihn bereit.

Siraj reiste umgehend nach Athen, traf sich mit dem Schlepper, wählte ein Reisedatum und
liess sich ein Ticket buchen. Auch einen Coronatest machte er im Namen der Person, die in
dem irischen Reisepass und Personalausweis stand. Das Ergebnis war negativ. Der Syrer hatte
bei der Ausreise vom Athener Flughafen keine Probleme. Weder der Zoll noch die
Flughafenpolizei forderten ihn auf, auch nur seine Maske abzunehmen, um sein ganzes
Gesicht zu sehen. Er hatte grosses Glück, an diesem Tag durchzukommen, sagt er: „Zwanzig
andere, die ich am Athener Flughafen kennengelernt hatte, wurden verhaftet. Sie alle hatten
versucht, mit Pässen zu reisen, die ihnen nicht gehörten.“

Athen ist zu einem idealen Ort für Schlepper und Passhändler und zu einem Sprungbrett für
Migranten und Asylsuchende geworden. Denn wer es schafft, von hier abzufliegen, hat eine
sichere Passage in den Rest der Europäischen Union, ohne weitere Durchsuchungen und
Passkontrollen – im Gegensatz zu jenen, die von ausserhalb kommen. Sirajs Flug nach
Belgien führte über den Mailänder Flughafen Malpensa und am nächsten Morgen von Linate,
dem zweiten Flughafen der Stadt, nach Brüssel-Charleroi südlich der belgischen Hauptstadt,
und an keinem dieser Flughäfen flog der „Doppelgängerpass“ auf.

Als Siraj am Flughafen Charleroi ankam, kam ein arabisch aussehender Mann auf ihn zu und
sagte: „Geben Sie mir in aller Ruhe den Pass, ohne mich anzusehen.“ Er nahm ihn an sich und
verschwand in der Menge. Der Mann war auf demselben Flug von Mailand nach Brüssel
gewesen, nur um ihm am Ende den Reisepass abzunehmen, damit man ihn für weitere
Migranten verwenden konnte.

Al-Ahmids Reise: 18 Grenzübertrittsversuche in zwei Jahren

Die Reise von Mohammed Al-Ahmid, 32, einem „Bidun“ (Staatenlosen) aus Kuwait, dauerte
von Anfang 2019 bis August 2021. Erst dann erreichte er sein endgültiges Ziel,
Grossbritannien. Zuvor hatte er zehn europäische Länder durchquert, beginnend in Georgien,
dann der Türkei, mit „ähnlichen“ und gefälschten Pässen sowie mit anderweitigen Methoden.
Al-Ahmid musste sich zunächst einen kuwaitischen Pass besorgen, um aus dem Golfstaat
ausreisen zu können. Nachdem er einem Beamten – der derzeit im Gefängnis sitzt, wie er sagt
– Geld gezahlt hatte, erhielt er ein kuwaitisches Reisedokument, das Staatenlosen im Falle
einer medizinischen Behandlung oder eines Studiums im Ausland ausgestellt wird, das es
ihnen aber nicht ermöglicht, ein Schengen-Visum zu bekommen und das sich farblich und
hinsichtlich der staatsbürgerlichen Rechte von einem offiziellen kuwaitischen Pass
unterscheidet.

Über einen palästinensischen Schlepper gelangte er damit nach Athen und entschied sich dort
für die Beschaffung eines europäischen Doppelgängerpasses. Innerhalb von drei Monaten
versuchte al-Ahmid es immer wieder über den Athener Flughafen: Mit einem belgischen,

16 die weißrussische Falle


dann einem schwedischen Pass und schliesslich mit einem dänischen Personalausweis, den
ihm ein Kurde für 7000 Euro beschafft hatte, und für den er nach seiner Ankunft über das
Haftaro-Büro hätte bezahlen sollen.

Aber all seine Versuche schlugen fehl; er wurde am Flughafen von Athen ein jedes Mal
festgehalten. Beim ersten Mal kam er schnell wieder frei, beim nächsten Versuch blieb er vier
Tage in Haft, und beim letzten Mal musste er eine Verpflichtung unterschrieben, solche
Versuche unter Androhung einer langen Gefängnisstrafe und einer Geldbusse nicht zu
wiederholen. Obwohl sie breite Anwendung findet und sehr gefragt ist, funktioniert die
Methode mit den Doppelgängerpässen nicht immer. Viele solcher Nutzer werden an
Flughäfen festgenommen, und immer wieder zerschlagen europäische Behörden einschlägige
Netzwerke, die mit offiziellen Dokumenten Handel treiben.

Nachdem er mit der Benutzung von fremden Pässen gescheitert war, brachte ein irakischer
Schlepper Al-Ahmid auf die Idee, auf dem Landweg von Thessaloniki nach Osteuropa zu
reisen. Aber die griechische Armee verhaftete ihn unterwegs und brachte ihn in die Türkei:
„Ich war wieder am Nullpunkt“, so der staatenlose Kuwaiter. Al-Ahmid blieb einen Monat
lang in der Türkei und reiste dann mit seinem kuwaitischen Dokument mit der Hilfe von
Schleppern nach Albanien und schliesslich nach Serbien. Nach 18 gescheiterten Versuchen
gelang es ihm, im Transporter eines syrischen Schleppers von Serbien nach Rumänien zu
kommen, dann für 4100 Euro nach Wien, Paris und Calais. Dort träumen Tausende Migranten
davon, Grossbritannien zu erreichen.

In Calais wandte sich al-Ahmid an einen irakisch-kurdischen Schleuser, der zuvor bereits
Migranten und Asylsuchende für 2100 britische Pfund auf die Insel gebracht hatte. Der Preis
wurde über einen Mittelsmann in Grossbritannien kassiert. Nach zwei gescheiterten
Versuchen war er beim dritten Mal, im August 2021, endlich erfolgreich. Al-Ahmid gelangte
in einem Boot mit rund 80 Menschen an Bord in britische Hoheitsgewässer und konnte Asyl
beantragen. Auf eine behördliche Entscheidung wartet er bis heute.

Die Welt des Dark Web

Pässe und Reisedokumente sind im sogenannten Dark Web meist nur die Spitze des Eisbergs.
Technologischer Fortschritt und die Vernetzung von Finanz-, Sicherheits- und
Informationssystemen ermöglichen es, dort alles Erdenkliche anzubieten, vom Hacken von
Social-Media- oder Google-Konten und Datenbanken über das Hacken von Kreditkarten,
PayPal- und Western Union-Accounts, bis hin zur Verbreitung von Malware, dem Verkauf
von gestohlenen Führerscheinen und Uber-Konten.

Die Website „Privacy Affairs“ hat für 2022 einen Dark Web-Preisindex für verschiedene
solcher Waren und Dienstleistungen erstellt. Je nach Art und Rang des Reisepasses oder des
Ausweises, der Anzahl der zu hackenden Accounts, Social-Media-Plattform, des
elektronischen Kontos oder des Dispositionskredits der Kreditkarte variieren die Preise
deutlich. Französische, polnische und maltesische Pässe kosten beispielsweise im Schnitt
3800 Euro, EU-Personalausweise 160 Euro und ein US-Führerschein 150 Euro.

Um der Frage nachzugehen, wie die Pässe, die von Schleppern und Passhändlern angeboten
werden, zu diesen gekommen sind, suchte ich anhand der Daten und Fotos ihre
ursprünglichen Besitzer, soweit möglich, in sozialen Netzwerken. Ich schrieb sie dort an und
fragte, wie es dazu gekommen sei, dass Schlepper ihre Pässe Migranten anböten, wie diese sie

17 die weißrussische Falle


erhalten hätten und ob sie den Verlust gemeldet hätten. Bis zur Veröffentlichung dieser
Recherche hatte keiner von ihnen geantwortet.

Die meisten der Schleuser, die ich kontaktierte, gaben an, dass die Pässe, die sie mir zeigten
und von denen sie Kopien schickten, echt und gültig seien. Man kaufe sie entweder ihren
Besitzern ab (wie Abu Mustafa es erwähnt und wie Amjad es mir vorgeschlagen hatte) oder
sie seien gestohlen, durch Betrug erlangt oder auf aufwendige Weise gefälscht. Im letzteren
Fall werden echte Daten und ein Foto des echten Besitzers eingesetzt. Auch Frontex bestätigt,
dass Schleuser und Passhändler meist Originaldokumente (Pässe und Personalausweise)
anbieten, die an den Grenzen der EU selten auffallen. Nur im Fall einer Meldung des Verlusts
oder Diebstahls des Passes wird dieser an den Grenzübergängen automatisch als ungültig
angezeigt.

Auch an Behörden, die in Belgien und Frankreich für die Ausstellung von Pässen zuständig
sind, wandte ich mich. Ich erkundigte mich nach dem Status von Pässen, die mir von
Schleppern zugeschickt worden waren und fragte, wie mit solchen Fällen umgegangen werde.
Ich wollte zudem wissen, wie verbreitet das Phänomen der Doppelgängerpässe ist und was
man über die Ausnutzung von Migranten durch Schleusernetzwerke wisse, die mit
Reisedokumente handelten. Auch hier kam bis zur Veröffentlichung dieser Recherche keine
Antwort.

Es ist unausweichlich, dass Migranten und Asylsuchende, die nach Europa wollen,
Schleppern in die Falle gehen und bei den Auktionen für Reisedokumente mitbieten –
getrieben von Illusionen, Träumen oder dem Mut der Verzweiflung. Der Schleuser Abu
Mustafa warb bei mir – wie bei vielen anderen sicherlich auch – mit dem Satz: „Man fliegt als
Lehrer los und kommt als Professor an.“

Wahrscheinlich ist es aber immer noch besser als zwanzig Tage im Stauraum eines
Lastwagens zu verbringen oder zwischen den Ufern des Evros an der türkisch-griechischen
Grenze hin- und hergeschoben zu werden.

Aus dem Arabischen von Günther Orth.

18 die weißrussische Falle

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