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Minderjährige Flüchtlinge Verschwunden in Europa


Stand: 18.04.2021 08:39 Uhr

Mehr als 18.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche sind von 2018 bis 2020 in
Europa aus staatlicher Obhut verschwunden. Das zeigen Daten des
Rechercheverbunds "Lost in Europe". Gerade sie sind in Gefahr, ausgebeutet zu
werden.
Von Adrian Bartocha und Jan Wiese, rbb
Eine Kontrolle der Bundespolizei an der deutsch-polnischen Grenze: Ein Pkw wird
angehalten, darin ein polnischer Fahrer und vier weitere Insassen, Vietnamesen, alle ohne
Papiere, darunter ein Mädchen im Alter von 15 Jahren, wir nennen sie Trang.
Erwähnt wird die Kontrolle in einer Ermittlungsakte der Berliner Staatsanwaltschaft, die
dem rbb vorliegt. Weil Trang noch minderjährig und keiner der Insassen des Pkw mit ihr
verwandt ist, wird sie nach der Kontrolle in eine Brandenburger Kindernoteinrichtung
gebracht.
Offiziell ist sie nun ein "unbegleiteter minderjähriger Flüchtling" in staatlicher Obhut. Doch
schon nach kurzer Zeit verschwindet Trang. Ein Heimmitarbeiter erstellt eine
Vermisstenanzeige, weiter passiert nichts. Das Mädchen wird eine Nummer in der Statistik.

Exklusiv 20.06.2019
Eingeschleuste Vietnamesen Die verschwundenen Kinder
Eingeschleust, aufgegriffen, verschwunden - es herrscht Unklarheit über das Schicksal
illegal eingereister Kinder aus Vietnam.

18.292 Minderjährige verschwunden


Wie viele derartige Fälle es gibt, zeigt jetzt eine exklusive internationale Datenanalyse des
Rechercheverbunds "Lost in Europe", an dem unter anderem der britische "Guardian", der
niederländische Rundfunk VPRO und der rbb beteiligt sind. Die Recherchen ergaben:
Zwischen 2018 und 2020 verschwanden in ganz Europa 18.292 unbegleitete geflüchtete
Kinder und Jugendliche aus staatlicher Obhut und tauchten nicht wieder auf.
So viele sind es mindestens, denn die Analyse zeigt auch die Schwächen der nationalen
Einzelstatistiken. So erheben Frankreich, Dänemark und Rumänien erst gar keine Daten.
Bulgarien unterscheidet nicht zwischen begleiteten und allein reisenden Kindern und
Jugendlichen. Der Austausch der vorhandenen Daten funktioniert auch nicht immer
reibungslos.
Der EU-Kommission sind diese Defizite bekannt. Der Sprecher der für Flüchtlingsfragen
zuständigen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson teilt angesichts der aktuellen Zahlen
mit, dass "die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten bereits signalisiert habe, dass sie mehr
gegen das Verschwinden geflüchteter Kinder unternehmen müssten, unter anderem durch
bessere Datensammlungen".

Gefahr der Ausbeutung


Verena Keck von der internationalen Kinderrechtsorganisation ECPAT glaubt deshalb, dass
die tatsächliche Anzahl vermisster Kinder noch deutlich höher liegt. Sie kritisiert das Fehlen
eines europaweit einheitlichen Systems, um Vermisste zu registrieren: "Für Kinder und
Jugendliche kann das fatale Folgen haben, da sie in ausbeuterische Situationen und
Abhängigkeiten geraten können. Wenn allerdings niemand um diese Kinder und
Jugendlichen weiß, sucht auch niemand nach ihnen."

17.03.2021
Aktion in drei Bundesländern Razzien wegen Zwangsprostitution
Die Bundespolizei hat mehrere Objekte in Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein
durchsucht.
Das vietnamesische Mädchen Trang wurde einige Monate nach der Kontrolle der
Bundespolizei wiedergefunden - zufällig: Bei einer Wohnungsdurchsuchung in Berlin, wo
sie bei einem vietnamesischen Paar lebte, das im Drogen- und illegalen Zigarettengeschäft
tätig war. Wie sich herausstellte, musste Trang in einem Nagelstudio für 300 Euro im Monat
arbeiten. Auch als Drogenkurier und Zigarettenverkäuferin war sie tätig.

Ein "Skandal" aus Kinderschutzgründen


In Deutschland sind zwischen 2018 und 2020 7806 unbegleitete Kinder und Jugendliche als
vermisst gemeldet worden. Die meisten stammen aus Afghanistan, gefolgt von Marokko
und Algerien. Viele sind wieder aufgetaucht, doch bei 724 von ihnen fehlt jede Spur.
Erhoben werden diese Zahlen vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden, das auf seiner
Website offen auf die Lücken in der eigenen Statistik hinweist: Aufgrund verschiedener
Problematiken wie Mehrfacherfassungen, fehlender Personalpapiere oder fehlende
erkennungsdienstliche Behandlung sei eine genaue Erhebung nicht möglich. "Die
angegebenen Zahlen können daher lediglich als Annäherung dienen."

16.04.2021
Die polizeiliche Bearbeitung von Vermisstenfällen in Deutschland BKA
Die Qualität der deutschen Statistik hält Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des
Deutschen Kinderhilfswerkes, "aus Kinderschutzgründen für einen Skandal. Es gibt nach
unserem Kenntnisstand überhaupt keine belastbaren Zahlen, nicht mal Näherungswerte,
wie viele Flüchtlingskinder von Mehrfachregistrierungen oder fehlerhaften
Datenerfassungen betroffen sind. Solche Wissenslücken öffnen natürlich kriminellen
Netzwerken Tür und Tor."

Europaweit agierende Menschenhandelsnetzwerke


Dass diese kriminellen Netzwerke europaweit aktiv sind, weiß Europol seit langem. Bereits
Anfang 2016 warnte die europäische Polizeibehörde im "Guardian" vor deren Aktivitäten.
Zuletzt bestätigte im Januar 2021 das BKA dem rbb die Existenz europaweit agierender
vietnamesischer Schleuser- und Menschenhandelsnetzwerke.

Exklusiv 18.01.2021
Menschenhandel mit Vietnamesen Gefangen in moderner Sklaverei
Seit Jahren schleusen vietnamesische Organisationen Landsleute nach Europa und beuten
ihre Opfer hier aus.
Ein besonders eindringliches Beispiel für die europäische Dimension dieses Problems ist
der Tod von 39 Vietnamesen im Oktober 2019 in einem Kühllaster bei London, den sie in
Belgien bestiegen hatten. Zwei Jugendliche unter ihnen waren erst zwölf Tage zuvor aus
den Niederlanden verschwunden. Sie waren in einem Heim, in das sie nach Recherchen der
niederländischen Investigativredaktion ARGOS (VPRO) Monate zuvor die niederländische
Polizei gebracht hatte. Die hatte die beiden Jugendlichen aus einem anderen Laster befreit,
in den sie in Köln gestiegen waren.

26.10.2019
Leichenfund im Lkw Polizei geht von vietnamesischen Opfern aus
Die Hinweise auf vietnamesische Opfer unter den 39 in einem Lkw gefunden Toten
verdichten sich.
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Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 18. April 2021 um 08:00 Uhr.

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