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Im Sommer reifen wir, aber der Herbst!

Gnade uns!
Als Rainer Maria Rilke einmal eine ziemlich leichte Erkältung eingefangen hatte und
im Norwegerpullover auf der Bettkante sass, hörte er draussen die Mutter rumoren.
«Auf den Fluren lass die Winde los», dichtete Rilke in sein Heft. «Rainer Maria,
Schlafenszeit!», rief die Mutter, und Rilke schrieb: «Herr: es ist Zeit.»

Der Rest war ein Werk der Minute, weil Rilke jetzt auf fiebrige Weise in Form war.
Die Sache mit den Sonnenuhren. Früchte, letzte Süsse, schwerer Wein. Gebongt. Und
dann der Knaller: «Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. / Wer jetzt allein
ist, wird es lange bleiben». Die Mutter rief: «Schluss mit Wachen, Lesen, Lange-
Briefe-Schreiben!», und damit war das Herbstgedicht auch schon im Kasten.

Herbst in der Literatur ist dann, wenn die Dinge fallen. Es fällt «alles, was hold und
lieblich» (Hölderlin), es fallen «der Schleier» (Mörike), «die Blätter» (Eichendorff,
Lenau, Hebbel, Heine), «die Ähre» (Fontane), «ein Hund» (Trakl), «die Kastanien»
(Sonja Drechsel-Walther) und überhaupt «wir alle» (Rilke). Gerade war der Sommer
noch da, «er stand und lehnte / und sah den Schwalben zu» (Benn), aber jetzt ist er
weg.

Mit dem Herbst wird einem nie langweilig


Da soll einer nicht melancholisch werden. Aber dass man richtig melancholisch
werden kann, dafür gibt es ja Gedichte. Sie erinnern uns daran, dass der Sommer
nicht irgendwer ist, sondern eine Metapher. Im Sommer reifen wir, aber der Herbst!
Gnade uns!

Und wenn man dann auch noch in die Hände deutscher Dichter fällt, die in bleiernen
Zeilen mit dem Tod winken! «Sieh umher, die falben Bäume! / Ach! Es waren holde
Träume», schreibt Uhland. Auch bei Eichendorff riecht es unter den Achseln des
Herbstes schon streng. Nach Wehmut und Grab. Fontane legt metaphernmässig noch
eins drauf: «Es lischt das Licht / Und unser Winter bricht herein.»

Man kann über den Herbst manches sagen, aber es wird einem mit ihm nicht
langweilig. Vielleicht, dass «die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen» (Trakl), aber
die Fremdenverkehrsbranche kann nicht klagen. Zumindest meteorologisch ist der
Herbst heute oft ein zweiter Sommer. Man schiebt den Grill noch einmal auf die
Terrasse oder sitzt unter Heizpilzen in Ganzjahreswirtshausgärten.

Es soll November geben, die es mit einem Mai aufnehmen können, aber davon
schweigen die Dichter noch, wenn sie das Herbstblau des Himmels
zusammenreimen. Die gleichen Dichter, die lebhaft die Vogelflüge besingen und den
Süden, der heute oft froh wäre, etwas weiter im Norden zu sein. Man könnte da schon
einmal nachdenken, aber das engagierte Gedicht ist leider etwas aus der Mode
geraten. Obwohl es doch sogar einen «Herbst der Gedanken» (André Heller) gibt!
Wenigstens die Apotheken und Schminktippredaktorinnen machen sich ihre
Gedanken. Sie stellen die Blasenentzündungspräparate ins Schaufenster und
empfehlen gedeckte Farben. Die gedeckten Farben sorgen dafür, dass unser Teint aus
den früh einsetzenden Abenddämmerungen nicht unnötig heraussticht.

Die Stadtreinigung pflügt unterdessen mit Laubsauggeräten durch die Strassen, und
die Schulkinder müssen mit demütigenden Mützen aus dem Haus. «Und sind die
Blumen abgeblüht, so brecht der Äpfel goldne Bälle; / Hin ist die Zeit der
Schwärmerei, / so schätzt nun endlich das Reelle», dichtet Theodor Storm. Was
bleibt einem anderes übrig, denn wenn der Herbst etwas kann, dann ist es das Reelle.
Er klebt uns feuchte Blätter an die Schuhsohlen und fährt uns durchs Haar. Er bringt
Regen und hat Temperaturen im unguten Bereich. Zwischen Mantel und Sakko.

In der gedämpften Welt


Die Kollektionen führender Modeunternehmer können sich nicht mehr entscheiden,
ob sie uns in kurzen Herbsthosen dem Klimawandel entgegenschicken wollen oder
mit wattierten Ganzkörpermänteln. Aber der Herbst ist natürlich die
Entscheidungsschwäche per se. Er ist ein Übergang und auch deshalb in der Literatur
so beliebt. Aus ihm lässt sich schreibend philosophisches Kapital schlagen, das aus
anderen Jahreszeiten einfach nicht herauszuholen ist. Übertriebene Hitze schlägt
sich bekanntlich aufs Haupt und die Kälte sonst wohin.

Der Herbst ist die Jahreszeit für die Bescheidenen. Für jene, die sich mit dem milden
Spektakel verfärbter Blätter zufriedengeben. Die nicht die schwere Dröhnung des
Sommers brauchen und auch auf die Zumutungen des Winters verzichten können.
Die mögen, was zum Beispiel Mörike mag. Mit dem Dichter sehen sie gerne
«herbstkräftig die gedämpfte Welt / Im warmen Golde fliessen». «Gedämpfte Welt»,
so soll es sein. Und der eine oder andere Nebel darf in diesem Schauspiel sanfter
Zwischentöne auch dabei sein.

Aber das wäre wiederum ein ganz anderes Kapitel der Literatur. Jedenfalls: Der
Herbst wird schön, und wird er nicht schön, dann werden wir ihn auch überstehen.
So wie wir dann den Winter überstehen. Was macht der Dichter nach dem Herbst? Er
bleibt als Dichter im Amt, schaut schreibend in den Schnee und in die klirrende
Kälte. Oder er lässt sich rechtzeitig einschneien. Für «einen kellertiefen
Winterschlaf» (Ernst Jandl)

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