Sie sind auf Seite 1von 129

Klappentext

Ein unheimlicher Fledermauskönig und seine riesige


Vampirgefolgschaft haben Sunnydale heimgesucht und stellen
Buffy vor große Rätsel. Hat diese grausame Brut etwas mit den
Zukunftsvisionen einer mysteriösen Seherin zu tun, von welcher
der Geist der alten Jägerin Lucy Hanover berichtet?
Buffy muss schnell handeln, um dem brutalen Unwesen ein
Ende zu setzen. Doch anstatt zusammen mit Giles, Willow, Oz
und Xander gegen diese neue, unberechenbare Gefahr
vorzugehen, schlägt die Jägerin trotzig die Hilfe ihrer Freunde
aus. Buffy hat sich in den Kopf gesetzt, Camazotz und seine
Vampire ganz alleine zu bekämpfen. Eine fatale Entscheidung!
Denn als Giles sich nicht beirren lässt und Buffy helfen will,
den Unterschlupf der Vampirhorde ausfindig zu machen,
kommt es zu einer Katastrophe, die ungeahnte Folgen haben
wird...

2
Christopher Golden

Die verlorene Jägerin


Erstes Buch
Die Prophezeiung

Aus dem Amerikanischen


von Sabine Arenz

3
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Buffy, im Bann der Dämonen– Köln: vgs
Die verlorene Jägerin / Christopher Golden.
Aus dem Amerikan. von Sabine Arenz
Buch I. Die Prophezeiung. – I. Aufl. – 2001
ISBN 3-8025-2873-5

Das Buch »Buffy – Im Bann der Dämonen. Die verlorene Jägerin. Erstes
Buch. Die Prophezeiung« entstand nach der gleichnamigen Fernsehserie
(Orig.: Buffy, The Vampire Slayer) von Joss Whedon,
ausgestrahlt bei ProSieben.

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der


ProSieben Television GmbH
Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Buffy, The Vampire Slayer.
The Lost Slayer. Part one. The Prophecies.
™ und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation.
All Rights Reserved.

I. Auflage 2001
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH
Alle Rechte vorbehalten.
Produktion: Sebastian Sabors
Umschlaggestaltung: Sens, Köln
Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001
Satz: Kalle Giese, Overath
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3-8025-2873-5

Besuchen Sie unsere Homepage:


www.vgs.de

4
1
Buffy war bereit, doch weit und breit gab es nichts zum
Jagen.
Ein kalter Wind wehte vom Pazifischen Ozean. Buffy
Summers zog den Reißverschluss ihres marineblauen
Sweatshirts bis zum Hals hoch und fröstelte. Sicher, es war
November, aber normalerweise war es in Kalifornien zu dieser
Jahreszeit noch nicht so kalt. Am liebsten hätte sie sich die
Kapuze über den Kopf gezogen, verzichtete aber darauf, weil
sie keine Lust hatte, für ein Gangmitglied gehalten zu werden.
Buffy ging an der Strandpromenade entlang, steckte die
Hände in die Taschen ihres Sweatshirts und murmelte etwas
vor sich hin. Ihr Blick schweifte über den Kai, die
Konservenfabrik und die großen Frachtschiffe draußen auf der
See. Auch Sunnydale besaß schöne Strände, wie überhaupt
ganz Kalifornien, aber dieser hier gehörte definitiv nicht dazu.
Das hier war Docktown, ein Stadtviertel, das die Industrie- und
Handelskammer vor den Touristen zu verbergen suchte.
Eigentlich war es erstaunlich, dass die Straßen immer noch
auf dem Stadtplan verzeichnet waren.
Bis jetzt war die Patrouille vollkommen ereignislos verlaufen
– und es war schon spät. Mitternacht war vorbei, und Buffy
hätte schon längst zu Hause im Bett liegen müssen. Am
nächsten Morgen um zehn vor neun hatte sie einen Kurs, und
sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Nun, da sie aufs
College ging, hatte sie ein neues Kapitel in der Geschichte der
Jägerinnen aufgeschlagen. Den Rat der Wächter hatte die
Erfahrung gelehrt, dass eine Jägerin nicht sowohl ihren
privaten und beruflichen Interessen nachkommen als auch
erfolgreich im Kampf gegen die Mächte der Finsternis sein
konnte.

5
Ganz egal, was die Zukunft bringen würde, Buffy war fest
entschlossen, den Rat der Wächter vom Gegenteil zu
überzeugen. Sie würde die beste und fähigste Jägerin aller
Zeiten sein. Aber sie wollte auch ernsthaft studieren und das
Studentenleben kennen lernen. In ihrer Schulzeit hatte sie
manchmal Schwierigkeiten gehabt, beides miteinander zu
vereinbaren, und oft genug hatte sie alles vermasselt. Aber mit
dem College würde alles anders laufen. Okay, eine normale
Studentin würde sie wohl niemals sein, aber mithilfe ihrer
Kräfte als Jägerin würde es ihr schon irgendwie gelingen,
beides miteinander zu vereinbaren. So hoffte sie zumindest.
Falls ich es schaffe, morgen früh rechtzeitig zum College zu
kommen, dachte sie dann.
Was zum Teufel mache ich hier eigentlich die ganze Zeit?,
kam ihr plötzlich in den Sinn.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und sie war
recht einfach: ihren Job.
Sie tat genau das, was von ihr erwartet wurde. Buffy war die
Jägerin, die Auserwählte, das einzige Mädchen auf der ganzen
Welt, das die Macht besaß, gegen die Mächte der Finsternis
anzutreten.
Doch heute Nacht war es recht ruhig gewesen. In Sunnydale
nachts nach dem Rechten zu sehen war ein wichtiger
Bestandteil ihrer Arbeit als Jägerin. Aber wenn die Patrouille
so ruhig war wie heute, kamen ihr gelegentlich Zweifel.
Zweifel daran, ob es ihr gelingen würde, den Balanceakt
zwischen der Schule, ihrer Mutter, ihren Freunden und ihrem
Job als Jägerin zu vollführen.
Was sie jetzt brauchte, war Action, Adrenalin, ein oder zwei
nette kleine Monster. Buffy und Monster. Buffy, wie sie den
Monstern einen Tritt in den Hintern verpasst. Genau das
brauchte sie jetzt, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen.
Plötzlich gellte ein Schrei durch die Nacht, kurz und brutal
wie ein Schuss. Buffy schauderte – auch noch, als das Echo

6
schon längst nicht mehr zu hören war. Trotz dieses
erschütternden Schreis konnte sie ein flüchtiges Lächeln nicht
unterdrücken. Ihr Herz pochte laut, und wie der Blitz rannte sie
über den Kai und ließ die Hafenmeisterei und einen lang
gezogenen, hässlichen Betonklotz, in dem die Büros mehrerer
Schiffsreedereien untergebracht waren, hinter sich. Sie
erwartete einen weiteren Schrei, aber es war nichts mehr zu
hören. In der Dock Street raste sie Richtung Stadt und kam an
einem Spirituosengeschäft und an ein paar
heruntergekommenen Mehrfamilienhäusern vorbei, deren
Zimmer an Fischer und Fischhändler vermietet wurden. Einen
halben Block weiter fiel ihr Blick auf das ramponierte und
flackernde Neonschild des Fish Tank. Sie vermutete, dass der
Schrei hier herkam. Vor dem Laden war niemand zu sehen,
also begab sich Buffy direkt zum Eingang der Kneipe, der sich
seitlich, in unmittelbarer Nähe einer übel riechenden Gasse
befand. Diesen Schuppen als ›Kneipe‹ zu bezeichnen, war eine
Beleidigung für alle anderen Kneipen dieser Welt.
Kein Anzeichen eines Kampfes in der Gasse.
Buffy runzelte die Stirn. Vielleicht hatten sie ihre Jägerinnen-
Instinkte getäuscht. Sie schaute sich aufmerksam um und
suchte nach Hinweisen auf denjenigen, der den Schrei
ausgestoßen haben könnte. Sie kannte diesen Ort; sie war auf
einer Patrouille schon einmal hierher geraten. Das Fish Tank
war einer jener Orte, an dem anspruchslose Vampire, die sich
davor fürchteten, die Aufmerksamkeit der Jägerin auf sich zu
ziehen, gerne auf die Jagd gingen. Sie glaubten nämlich, es
läge außerhalb von Buffys Wirkungskreis. Doch da täuschten
sie sich.
Aus der Gasse drang nun gedämpftes Lachen. Es schien aus
dem hinteren Teil zu kommen, der vollständig in Dunkelheit
getaucht war.
Irgendetwas lauerte dort im Dunkeln; Wesen, deren leises
und obszönes Gekicher auf finstere Absichten schließen ließ.

7
Buffy war seltsam fasziniert, dass ein einziges Lachen so viel
Bösartigkeit verraten konnte.
Sie lief die dunkle Gasse hinunter, die von den Häusern auf
beiden Seiten völlig eingeschlossen war, blieb dann an einem
Haus stehen, lehnte sich an eine Ziegelsteinmauer und
verharrte regungslos. Zu ihrer Linken lag der kleine
gepflasterte Hinterhof des Fish Tank, der nur von einer
einzigen Glühbirne über der Hintertür beleuchtet wurde. In
dem trüben gelblichen Licht konnte sie einen offenen
Müllcontainer erkennen, der vor zusammengedrückten
Bierdosen und den Überresten von etwas, das diese Kneipe
wohl als Essen bezeichnete, nur so überquoll.
Der Weg hinter den kleinen Häusern und Geschäften war so
schmal, dass Buffy sich fragte, wie die Müllabfuhr es schaffte,
sich dort hindurchzuquetschen – wenn auch nur einmal die
Woche.
Es stank bestialisch, so viel war klar. Aber weitaus wichtiger
als der Gestank war die Tatsache, dass dieser Ort sehr
abgelegen und gefährlich war, da er auf der einen Seite von den
Häusern und auf der anderen Seite von einem Zaun begrenzt
wurde und man im Falle einer plötzlich notwendigen Flucht
nicht eben leicht entkommen konnte. Das war kein Ort, an dem
man sich freiwillig lange aufhalten würde.
Und doch hatten sie sich irgendwie die Frau dort hinten ge-
schnappt.
Vampire.
Die Frau wurde von drei Vampiren bedrängt. Sie hatte nur
einmal geschrien, zu weiteren Hilferufen war sie nicht mehr in
der Lage gewesen. Sie hingen über ihr, als würden sie sich in
einer Art Trance befinden, einer mit seinem Mund an ihrem
Hals. Seine Fangzähne bohrten sich in ihr weiches Fleisch,
sodass ein kleiner Bach aus Blut auf den Kragen ihres
Aerosmith-T-Shirts rann und ihn dunkelrot färbte. Die anderen
beiden saugten an ihren Armen und schienen konzentrierter

8
vorzugehen, da noch kein Blutstropfen danebengegangen war.
Auf der nackten Haut der Vampire entdeckte Buffy
Tätowierungen, aber die Symbole waren ihr fremd, und sie
konnte nur vermuten, dass sie irgendeine geheimnisvolle
Bedeutung hatten. Ansonsten waren die Blutsauger ganz in
Leder gekleidet.
Die Frau war wahrscheinlich um die vierzig, und ihr
Aerosmith-T-Shirt und die ausgefransten Jeans ließen darauf
schließen, dass sie ein Stammgast des Fish Tank war. Rocker,
Alkoholiker und ähnliches Volk waren dort an der
Tagesordnung, und eine Frau konnte fünfundzwanzig sein und
wie vierzig aussehen – trotzdem fuhren jede Menge dieser
Typen auf sie ab.
Was für ein Leben, ging es Buffy durch den Kopf. Sie konnte
nicht begreifen, dass es Läden wie das Fish Tank und vor allem
genügend Leute, die auch noch regelmäßig dort hingingen,
überhaupt gab.
Aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber
Gedanken zu machen. Handeln war angesagt. Rache nehmen.
Aus dem, was sie sah, konnte Buffy schließen, dass die Frau
ihre Hilfe nicht mehr benötigte: Drei Vampire saugten ihr
gleichzeitig das Blut aus, und sie hing völlig schlaff, mit
gläsernem Blick in ihren Armen.
Zu spät, dachte Buffy bitter.
Sie nahm einen langen Pfahl mit einem glatten Griff und
einer scharfen Spitze aus einem kleinen Halfter an ihrem
Rücken. Sie mochte es, sein Gewicht in ihrer Hand zu fühlen.
Sie holte noch einmal tief Luft und schoss dann aus der Gasse
auf die spärlich beleuchtete Zufahrt vor dem riesigen blauen
Müllcontainer.
Der Vampir, der seine Fänge tief in den Nacken der Frau
gegraben hatte, gab einen grunzenden Laut von sich und
richtete den Blick auf die Jägerin. Er hatte zwei schwarze
Tattoos im Gesicht: eine Fledermaus mit ausgebreiteten

9
Flügeln über den Augen und ein weiteres Symbol, das aussah
wie ein knorriger Bonsaibaum, auf der Höhe seines Kiefers.
Seine Augen verengten sich.
Zuerst dachte Buffy, dass ihr das gelbliche Licht etwas
vorgaukelte, aber dann erkannte sie, dass sie sich nicht
getäuscht hatte. Die Augen des Vampirs glühten in einem
schwachen Orange, und sie schienen eine Art Energie
auszustrahlen, die seinen ganzen Körper umgab und wie
Elektrizität knisterte.
Einem solchen Vampir war Buffy noch niemals zuvor
begegnet.
Einen Augenblick lang war sie wie gelähmt. Sie schüttelte
den Kopf, als ihr wieder einfiel, wie sehr sie sich nach einem
Kampf gesehnt hatte. Pass bloß auf mit dem, was du dir
wünschst, mahnte sie sich.
»Ich kann mich nicht entscheiden«, hob die Jägerin mit lauter
und scharfer Stimme an, die kristallklar durch die kühle
Nachtluft drang. »Vielleicht gehörst du zu einer Gang. Zu
Sunnydales Fliegenden Bisamratten zum Beispiel. Oder so was
in der Art«, sagte Buffy und zählte die Möglichkeiten an den
Fingern ihrer linken Hand ab, hielt aber weiterhin den Pfahl
umklammert. »Vielleicht hast du dich auch auf dem Weg zu
einer Comic-Messe verlaufen. Oder aber, du hast Matrix zu
wörtlich genommen und verwechselt jetzt Film und Realität.«
Die Vampire ließen den leblosen Körper der Frau auf den
Gehsteig sinken. Buffy fiel auf, dass die Augen der anderen
ebenfalls in diesem merkwürdigen Orange glühten und eine
stark energetische Aura absonderten. Das hatte die Jägerin
bisher bei noch keinem Vampir ihrer gesamten Laufbahn
erlebt. Alle drei hatten dasselbe Fledermaus-Tattoo im Gesicht.
Der Effekt, der dadurch erzeugt wurde, war äußerst
beängstigend. Langsam bewegte das Trio sich auf Buffy zu und
bildete einen Halbkreis um sie, wie um sie daran zu hindern,

10
die Flucht zu ergreifen. Natürlich hatte sie keineswegs die
Absicht zu flüchten.
»Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit übrig«, sagte sie
ruhig. »Alle eben genannten Möglichkeiten treffen zu.«
Die drei Vampire gaben ein knurrendes Geräusch von sich,
ihre Fangzähne funkelten in dem dämmerigen Licht, und ihre
Augen glühten. Wenn sie sich bewegten, schien es, als würden
sie zu einem einzigen Vampir verschmelzen, der wild zum
Angriff ansetzte. Genau das hätte Buffy dazu verleiten können
anzunehmen, dass sie gnadenlos dumm waren, wenn nicht ihre
Augen diese finstere Intelligenz verraten hätten.
Buffy machte es nervös, dass sie sich so still verhielten. Die
Angeber und Aufschneider unter den Vampiren waren stets
einfach zu töten. Die stilleren waren im Allgemeinen weitaus
gefährlicher.
Mit einem Zischen stürzten sie sich auf sie. Buffy wich
zurück in Richtung Müllcontainer. Angeekelt von dem Gestank
und der Anwesenheit der Vampire verzog sie den Mund. Sie
machte einen Schritt auf sie zu. Der Vampir zu ihrer Rechten
war nur noch wenige Zentimeter entfernt. Sie duckte sich so
weit nach unten, bis er nicht mehr an sie herankommen konnte,
schnellte dann hoch und rammte ihren Ellenbogen in seinen
Nacken. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, brach
sie ihm den Schädel.
Bonsai stürzte sich schneller auf sie als erwartet. Als sie sich
umdrehen wollte, um ihn zu pfählen, hatte er sie schon
gepackt. Kräftige Hände umklammerten ihren Hals, und er hob
sie mit einer Leichtigkeit in die Luft, die sie überraschte. Alle
Vampire waren stark, aber das hier war ungewöhnlich. Die
Kreatur schmetterte sie hart gegen den Müllcontainer, und ihr
Kopf knallte auf das Metall. Wäre sie ein normaler Mensch
gewesen, dann hätte sie jetzt tot sein müssen.
Aber sie war kein normaler Mensch. Sie war die Jägerin.

11
In ihrem Kopf explodierte ein Feuerwerk, und Sterne kreisten
vor ihren Augen. Der Vampir drückte ihr die Luftröhre zu, und
Buffy war dem Ersticken nahe. Ihre Augenlider flatterten einen
Moment; sie fühlte, wie eine schreckliche Erschöpfung, eine
dunkle Müdigkeit wie eine Welle über ihren Körper
schwappte. Obwohl sie mit den Händen in sein Gesicht schlug
und auf seinen Brustkorb trommelte, konnte sie sich nicht aus
dem eisernen Griff befreien. Sie fragte sich, ob es vielleicht
daran lag, dass der Vampir ihr auf irgendeine Weise Energie
entzog. Oder bekam sie ganz einfach keine Luft mehr?
Nicht dass es eine große Rolle spielte, welche der
Vermutungen zutraf. Buffy sah nur eine Möglichkeit. Sie
musste sich aus Bonsais Griff um ihren Hals befreien. Aus den
Augenwinkeln beobachtete sie, wie die anderen zwei – der eine
hatte sich gerade wieder erholt – aus sicherer Entfernung dem
Kampf zusahen und dabei grinsten wie Hyänen. Eine
ungeheure Wut stieg in Buffy auf.
Sie konzentrierte sich und vereinte tief in ihrem Inneren die
Urkräfte der Jägerin. Dann stützte sie sich am Müllcontainer
ab, riss die Beine hoch, presste sie dem Vampir gegen die
Brust und schleuderte ihn davon. Auch die anderen zwei
Vampire, die ihrem Kumpanen zu Hilfe eilen wollten, flogen
schon bald darauf durch die Luft. Buffy sprang auf den
Gehsteig und ging in die Hocke.
Bei dem Versuch, sich aus Bonsais Griff zu befreien, hatte
sie ihren Pflock fallen gelassen. Als die drei erneut auf sie
zustürmten, hob sie ihn auf. Bonsai kam als Erster. Er näherte
sich ihr, ohne selbst in Verteidigungsstellung zu gehen –
wahrscheinlich in dem Glauben, dass ihre Flucht nur ein
unglücklicher Zufall gewesen und sie ihm hoffnungslos
unterlegen war. Zielstrebig rammte sie ihm den Pflock in die
Brust, und die Spitze bohrte sich tief in sein Herz. Die Augen
des Vampirs weiteten sich, was sehr komisch aussah, da sein
schwarzes Fledermaus-Tattoo sich ebenfalls dehnte, und dann

12
explodierte er mit einem gedämpften Knall zu Staub und
Asche.
Die Jägerin war nun auf der Hut, sie würde sich nicht noch
einmal von den Angreifern überwältigen lassen. Mit welcher
Macht auch immer sie verbündet waren und was auch immer
ihre Augen in diesem dunklen Orange glühen ließ, Buffy
würde siegen. Sie wusste nun, dass es ihnen möglich war,
ihrem Gegner die Energie zu rauben, so wie sie mithilfe ihrer
Fangzähne einem Menschen das Blut aussaugten.
Die beiden rasten auf sie zu. Buffy sprang in die Luft, drehte
sich dabei einmal um die Achse, trat dann zu und erwischte
einen der beiden. Doch der andere, dessen Körper über und
über mit geheimnisvollen Symbolen tätowiert war, schaffte es,
Buffy den Pflock zu entreißen. Das kostbare Stück rollte über
den Boden, bis es in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen war.
Anschließend packte der Vampir sie brutal an’ den Haaren. Sie
fühlte, wie ihre Kopfhaut zu bluten begann und er ihr, als er sie
nach hinten schleuderte und ihr an die Kehle griff, einige
Strähnen ausriss. Wie gebannt starrte er sie mit seinen
orangefarbenen, glühenden Augen an, um kurz darauf seine
Zähne in ihren Hals zu stoßen.
Buffy zog verwundert die Augenbrauen hoch. Ich darf es
nicht zulassen, dass er mich überwältigt, war ihr einziger
Gedanke. Sie rammte ihren Kopf gegen sein Gesicht und nahm
erleichtert wahr, wie sein Nasenbein zersplitterte und er
rückwärts taumelte.
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Wenn du es auf mich
abgesehen hast, wirst du mit dem Tod bezahlen, du Idiot. Diese
Nosferatu-Nummer läuft bei mir nicht.«
Während sie sprach, trommelte sie weiterhin mit den Fäusten
auf ihn ein. Der Vampir versuchte sich zu verteidigen, aber es
war ihm deutlich anzumerken, dass er kurz davor war
aufzugeben. Er hatte die Oberhand verloren, und es war
unwahrscheinlich, dass sich die Situation noch einmal zu

13
seinen Gunsten wenden würde. Buffy wirbelte herum und trat
so fest zu, dass seine Rippen brachen, als er nach hinten flog
und gegen den Zaun knallte, der die schmale Zufahrt
begrenzte.
Da entdeckte Buffy den Pflock.
Schon wieder stürzten sich die Vampire auf sie, und ihr kam
in den Sinn, dass diese Monster nicht nur sehr stark waren,
sondern auch irgendwie überlegter vorgingen als andere. Dass
sie alle die gleiche Tätowierung trugen, deutete darauf hin,
dass sie sich organisiert hatten, und Organisation unter
Vampiren war nicht nur äußerst selten, sondern auch ein sehr
beunruhigendes Zeichen.
Buffy holte zu einem Tritt aus und traf den Vampir zu ihrer
Rechten, dann drehte sie sich blitzschnell herum und
zerschmetterte mit einem schnellen Schlag den Kiefer des
anderen Angreifers. Sie sank mit ihm auf den Boden und
erledigte ihn schließlich mit ihrem Pflock. Er löste sich in
Staub auf, und die Brise, die vom Meer herwehte, fegte seine
Überreste davon, zusammen mit dem Gestank von
abgestandenem Bier und vergammeltem Fisch.
Der Vampir, der bis jetzt überlebt hatte, ging in die Knie und
wimmerte.
Buffy verpasste ihm einen Fußtritt, und er knallte gegen den
Müllcontainer. Daraufhin packte sie ihn fest am Hals und hielt
ihm den Pflock an die Brust, in unmittelbarer Nähe seines
Herzens.
»Die Tattoos. Was bedeuten sie?«, wollte die Jägerin wissen.
Der Vampir grinste und leckte sich sein eigenes Blut von den
Lippen und den rotgefärbten Zähnen. Die Haut an seiner Stirn
war an genau der Stelle aufgerissen, wo die Fledermaus
tätowiert war.
»Mir gefällt nicht, dass ihr alle dasselbe Tattoo tragt. Mir
gefällt nicht, dass ihr kein Wort sagt. Mir gefällt nicht, dass ihr
euch vollkommen anders verhaltet, als es Vampire

14
normalerweise tun. Ich will Antworten. Entweder sagst du mir
jetzt alles, was ich wissen will, und dein Tod ist kurz und
schmerzlos, oder aber ich pfähle dich splitterfasernackt auf
einem Dach dieser Betonklötze dort hinten, und dein Körper
wird bei Sonnenaufgang Zentimeter für Zentimeter qualvoll
verbrennen. Du bist zwar kein herkömmlicher Vampir, aber ich
denke, du wirst ebenso gut brennen wie alle anderen.«
Der Vampir verkrampfte sich, die Furchen auf seiner Stirn
wurden tiefer, und ein knurrender Laut drang aus seiner Brust.
Buffy presste die Spitze des Pflocks so fest an seine Brust,
dass die Haut aufgeritzt wurde. Sie legte sich mit ihrem
gesamten Gewicht auf den verletzten Vampir und antwortete
ihm mit demselben drohenden Knurren. Sie behielt seine
Hände im Auge, damit er nicht wie Bonsai versuchen würde,
ihr die Energie auszusaugen.
»Die Tattoos und eure Kampftaktik. Es gibt mehr von eurer
Art als nur ihr drei. Wie viele? Wer ist euer Anführer? Wo
versteckt ihr euch?«
»Du wirst ihn nicht suchen müssen«, knurrte die Kreatur, und
ihre heisere Stimme hatte einen Akzent, den Buffy noch nie
zuvor gehört hatte.»Camazotz wird dich finden. Und seine
Gefolgschaft ist unendlich.«
»Wo ist sie?«, hakte sie nach.
Er lachte gellend – ein heiseres, überlegenes, bösartiges
Lachen. Buffy erhob sich, trat ihm gegen die Brust, stieß ihn
auf den Boden und schleuderte ihn abermals gegen den
Müllcontainer.
»Die Sonne geht auf«, mahnte sie mit erzwungener
Heiterkeit. »Du wirst rösten.«
In einiger Entfernung hörte man nun Sirenengeheul. Buffy
spähte hinüber zur Hintertür des Fish Tank und sah, dass sie
beobachtet wurden. Die Tür war einen Spalt breit geöffnet, und
ein paar Augen lugten hervor, aber nachdem man Buffys Blick
bemerkt hatte, schlug man die Tür sofort zu.

15
Die Sirenen kamen näher.
Dumme Fragen konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen.
Leider hatte sie keine Zeit mehr, den Vampir die Straße
hinunterzuschleifen und ihn auf ein Dach zu hieven. Buffy
spürte, wie Wut in ihr hochstieg, aber sie versuchte sie
abzuschütteln. Es ließ sich nicht ändern. Sie konnte schließlich
nicht die ganze Nacht über die Kreatur wachen und dann am
Morgen, ohne geschlafen zu haben, in ihren Kurs gehen.
»Deine letzte Chance«, sagte sie zu dem Vampir. »Letzte
Quizfrage. Was ist das für ein Geräusch, das da immer näher
kommt?«
Seine orangefarbenen, wilden und furchtlosen Augen
funkelten noch einmal auf wie ein erlöschendes Feuer.
Buffy pfählte ihn, und er löste sich in Staub auf.
So viel dazu, Giles ein wenig Recherchearbeit zu ersparen,
murmelte sie.
Die Leiche des Opfers lag ausgestreckt an der Hauswand des
Fish Tank, die Ärmel des Aerosmith-T-Shirts waren bis zu den
Schultern hochgezogen. Buffy wusste, dass die Frau tot war,
aber sie kniete sich neben sie auf den Boden und fühlte ihren
Puls. Schließlich konnte sie doch nicht einfach so gehen. Aber
natürlich war kein Puls mehr da.
Das Sirenengeheul war jetzt ganz nah.
Buffy stand auf und lief los, weg von diesem Ort,
durchquerte die Hinterhöfe der Gebäude, wo weitere
Mülltonnen auf die Müllabfuhr warteten. Als sie am Ende des
Blocks angelangt war, hielt sie an und drehte sich um. Sie
konnte das Blaulicht der Polizeiwagen in der Gasse sehen. Sie
hatten den Weg genommen, der eigentlich für die Müllabfuhr
vorgesehen war. Buffy bog um eine Ecke, und die Lichter
hinter ihr verschwanden. Dann steckte sie den Pflock wieder in
ihr Halfter zurück. Als sie ihre Patrouille begonnen hatte, war
ihr kalt gewesen, jetzt schwitzte sie, und so zog sie ihr
Sweatshirt aus und knotete es sich um die Hüften. Auf dem

16
Meer ertönte das Tuten einer Barke. Die salzhaltige Luft war
erfrischend.

Als Buffy endlich den Kopf auf ihr Kissen bettete, konnte sie
nicht einschlafen. Jedesmal, wenn sie die Augen schloss, sah
sie glühende orangefarbene Augen vor sich und spürte, wie
sich kräftige Hände um ihren Hals schlossen und ihre
Lebensgeister schwächer wurden. Ihr schwirrte der Kopf, wenn
sie an diese neue Vampir-Spezies dachte. Die Tätowierungen
und ihr Verhalten konnten nur bedeuten, dass sie einer
Organisation angehörten. Sie waren Teil einer Einheit und
nicht einfach eine Gruppe einzelner Aasfresser. Buffy musste
am nächsten Tag dringend mit Giles darüber sprechen, und sie
mussten herausfinden, mit was für einer dunklen Macht sie es
diesmal zu tun hatten.
Schließlich sank sie erschöpft in den Schlaf, und sie träumte.
Sie träumte, wieder in Docktown zu sein...

Orangefarbene Augen glühten aus jedem Schatten in der


Gasse hervor. Sirenen schrillten von den Barken unweit des
Kais, wo die Brandung gegen die hölzernen Wellenbrecher
donnerte und gegen den Deich prallte. Ein kühler Wind strich
durch das zerbrochene Schaufenster eines leer gefegten
düsteren Ladens links von ihr und trieb Müll und Papierfetzen
über die Straßen. Eine leere Bierflasche rollte über den
Bürgersteig und klirrte melancholisch wie ein Windspiel.
Buffy ging schneller. Die Kreaturen in den Schatten griffen
nicht an, aber sie fühlte sich beobachtet, und ihr war
unbehaglich zu Mute. Sie kam sich schwach vor, ängstlich, wie
ein gehetztes Tier, das auf der Straße umherirrt und gleich
überfahren wird...
Als sie aufschaute, versperrte ihr ein Geist den Weg.
Erschrocken wich Buffy ein Stück zurück und machte sich
bereit zur Verteidigung. Ihr Herz klopfte heftig. Aber kurz

17
darauf entspannte sie sich wieder. Es war ein Geist, der da vor
ihr stand, so viel war sicher. Diese spezielle Kreatur wollte ihr
nichts Böses anhaben. Tatsächlich war die tote Frau, deren
Geist nun schemenhaft und undeutlich vor ihr schwebte, vor
Jahrhunderten selbst eine Jägerin gewesen.
»Lucy?« Buffy starrte sie ungläubig an.
Der Geist von Lucy Hanover wandelte nun auf den Ghost
Roads, jenen Pfaden, die zwischen dem Diesseits und dem
Jenseits verlaufen, und sie half verlorenen Seelen, den Weg zu
ihrem ursprünglichen Bestimmungsort wieder zu finden. Sie
hatte Buffy schon mehrere Male geholfen, erschien
normalerweise aber nur Willow, was wohl in Zusammenhang
mit Willows magischen Kräften stand.
»Ich komme, um dich zu warnen, Buffy Summers«, flüsterte
der Geist leise, mit einer Stimme wie Blätter, die im Wind
rascheln. »Auf meinen Reisen bin ich der Seele einer alten
Seherin begegnet. Sie verkündet, dass ein schreckliches Unheil
bevorsteht.«
Durch die schimmernde Gestalt des Geistes hindurch konnte
Buffy auf die Straße blicken. Sie nahm den Schatten von etwas
wahr, das soeben um die Ecke eines Häuserblocks huschte –
und einen Hund, der an einer rostigen Kette angeleint war und
versuchte, diesem Etwas hinterher zu laufen. Dann schlug der
Hund Alarm. Buffy sah sich um und hoffte, dass die Polizei
nichts gehört hatte und nicht herkommen würde, um nach dem
Rechten zu sehen.
Aber sie wusste, dass die Polizei nicht kommen würde. Sie
war sich ihres Traumzustandes durchaus bewusst. Und
trotzdem waren Buffys Träume nicht einfach nur Träume.
Obwohl dieser hier in einer Art Traumlandschaft stattfand,
hatte Lucys Besuch doch etwas sehr Reales.
Lucy sprach so leise, dass die tosende Brandung fast ihre
Worte übertönte.
»Es wird deine Schuld sein«, sagte der Geist.

18
»Was meinst du damit?«, wollte Buffy wissen. »Was wird
geschehen?«
»Ich kann noch nichts Genaues sagen. Ich werde die Seherin
wieder aufsuchen und hören, ob sie noch eine Vision gehabt
hat. Bis dahin kann ich dir nur raten, bei all deinen Schritten
äußerst vorsichtig und besonders wachsam gegenüber den
dunklen Mächten zu sein, die sich um dich herum sammeln.«
Der Geist der Jägerin schimmerte wieder auf, flimmerte und
verwischte dann, wie ein Fernsehbild bei Sendepause oder
Regenspritzer auf einer Windschutzscheibe, und dann war Lucy
einfach verschwunden.
Buffy starrte auf die Stelle, wo der Geist eben noch zu sehen
gewesen war. Der Hund bellte nach wie vor.

Ihre Lider flatterten, und sie öffnete kurz die Augen. Ein
nachhaltiges Gefühl des Grauens hatte von ihren Gedanken
Besitz ergriffen, und selbst als sie wieder einschlief, ließ es
sich nicht aus ihrem Kopf verdrängen.
»Na großartig. Vielen Dank auch«, murmelte sie, kurz bevor
sie wieder in den Schlaf fiel. »Das war sehr hilfreich.«
Doch es sollte nicht der letzte Traum sein, den sie in dieser
Nacht haben würde.
Und auch nicht der schlimmste.

19
2
»Buffy!«
Sie träumte, dass sie in Angels Wohnung vor dem großen
Kamin, in dem ein Feuer brannte, in seinen Armen lag und
schlief. Sie wusste, dass seine Umarmung alles war, auf das sie
jemals hoffen konnte, und doch erfüllte die Berührung seiner
starken Arme sie mit einem tiefen und andauernden Gefühl von
Zufriedenheit und Frieden. Es war ein Frieden, den sie, wenn
sie gemeinsam auf Jagd gingen, besonders in der letzten Zeit
niemals empfunden hatte.
Harmonie.
Doch dieses Gefühl wurde plötzlich von einem finsteren Ver-
dacht verdrängt. Das Lächeln in ihrem schlafenden Gesicht
gefror. Sie spürte, wie eine nicht greifbare bösartige Präsenz
versuchte, in ihre Gedanken einzudringen, sie aus Angels
zärtlicher Umarmung fortzureißen und in eine Welt aus Chaos,
Furcht und Schrecken zu ziehen.
»Buffy!«
Etwas griff mit eisiger Hand nach ihrer nackten Schulter,
und die Wärme des Kaminfeuers schwand noch im selben
Augenblick. Buffy schüttelte den Kopf und versuchte, sich der
Macht des Wesens entgegenzustellen. Ihr Blick fiel auf Angel,
aber er schlief immer noch und ahnte nicht, dass sie
angegriffen und von ihm fortgerissen wurde.
»Nein!«, brüllte sie und schreckte vor der eisigen Berührung
des Wesens zurück. Sie holte zu einem mächtigen Schlag aus
und...
»Nein!«, zischte Buffy und fand sich mit halb geschlossenen
Augen und noch völlig benommen von ihrem Traum aufrecht
im Bett wieder. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, die so
verworren waren, als hätte jemand in ihrem Kopf ein
Spinnennetz gewoben, während sie geschlafen hatte.

20
Sie blinzelte ein- oder zweimal. Ihre Fingerknöchel
schmerzten von dem Schlag, zu dem sie noch vor einem
Moment ausgeholt hatte. Sie blickte auf ihre Hand und spürte,
wie die Angst wieder in ihr hochstieg, dann wandte sie sich
nach rechts, wo ihre beste Freundin und Mitbewohnerin
Willow Rosenberg saß und die Hand auf einen roten Fleck in
ihrem Gesicht presste, der immer größer wurde. Willows
Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, und ihr Mund war
zu einem ›o‹ geformt, was unter anderen Umständen sicher
lustig ausgesehen hätte.
»Oh Gott, Will«, flüsterte Buffy. »Oh... ich habe... ich habe
geträumt. Es tut mir Leid.«
Willow runzelte die Stirn und rieb sich die Wange. »Das war
das letzte Mal, dass ich dich geweckt habe.« Sie seufzte
frustriert, griff dann nach einem dünnen Sweatshirt, das über
der Lehne ihres Schreibtischstuhls hing, und zog es über den
Kopf.
»Bist du in Ordnung?«, fragte Buffy. Sie kletterte aus dem
Bett und strich sich die vom Schlaf zerzausten Haare aus dem
Gesicht. »Ich... ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich
hatte diesen Traum, und ich schätze, dein Versuch mich zu
wecken, war irgendwie ein Teil davon, aber im Traum warst du
dieses schreckliche Monster, das versucht hat...«
Während Buffy sprach, war Willow zum Spiegel gegangen
und tastete nun behutsam die Schwellung auf ihrer linken
Wange ab. Sie wimmerte, als sie zu fest drückte. Buffy war
von ihrer Tat so geschockt, dass sie mitten im Satz abbrach,
und Willow drehte sich um und sah ihr in die Augen.
»Dein Wecker hat ein paar Mal geklingelt. Du hast ihn
einmal ausgestellt, aber er ging noch einmal an. Dann hast du
ihn ganz ausgestellt. Das ist jetzt eine halbe Stunde her. Da in
ungefähr« – sie blickte auf ihre Uhr – »sieben Minuten dein
Kurs anfängt, dachte ich, es wäre besser, dich zu wecken. Du

21
hast gesagt, dass du es dir nicht leisten kannst, ihn zu
verpassen.«
Buffy öffnete den Mund, fand aber keine Worte. Fassungslos
schüttelte sie den Kopf und holte tief Luft. »Es tut mir echt
Leid, Will. Gestern Nacht auf der Patrouille ist es sehr spät
geworden. Ich glaube, ich hatte einfach Schlaf nachzuholen.
Wie kann ich das wieder gutmachen?«, fragte sie strahlend.
»Darf ich dich auf ein paar Mochaccinos einladen?«
Willows ärgerlicher Gesichtsausdruck blieb noch einen
Moment bestehen. Nicht, dass Buffy es ihr hätte übel nehmen
können. Dann verschwand er jedoch so plötzlich, als wäre er
nie da gewesen. Willow bot Buffy unmissverständlich ihr
scheues, halb angedeutetes Lächeln an und verdrehte die
Augen.
»Heute Nachmittag nach dem College. Aber ich bestehe auf
jede Menge Schlagsahne. Ach, ich bin so schwach.« Sie
seufzte. »Ich sollte mich doch langsam daran gewöhnt haben,
dass ich so verfressen bin.«
Buffy nickte verständnisvoll. »Es ist nicht deine Schuld. Ich
war nicht fair.« Mochaccinos sind wie ein Lockstoff für
Willow, dachte sie.
»Sie machen mich willenlos«, stimmte Willow dann auch zu.
»So wirst du deine Freunde ein für alle Mal los. Umfassendes
Wissen über ihre Verwundbarkeit, und sie sind erledigt.«
»Das ist der Grund, warum ich dich niemals zum Feind
haben will. Wenn wir gegeneinander kämpfen, wird niemand
gewinnen.«
Willow warf ihr ein breites Lächeln zu und jammerte dann
vor Schmerzen, weil sie ihre Verletzung vergessen hatte, die
ihr diese Gesichtsregung übel nahm.
»Oh, Will«, sagte Buffy schnell und kam zu ihr. »Tut es so
weh? Ich hoffe, ich habe dir nicht den Kiefer gebrochen oder
so. Lass mich das mal genauer ansehen.«

22
Sie traten ans halb geöffnete Fenster, wo Buffy Willows
Gesicht im Sonnenlicht besser betrachten konnte. Die
Schwellung war schon ein wenig zurückgegangen, aber der
rote Bluterguss hatte sich schnell in einen dunkelvioletten
Fleck verwandelt, der zu Willows Ärger sicher einige
Aufmerksamkeit erregen würde.
Eine kühle Brise wehte durch das Fenster, und Buffy
fröstelte.
»Das sieht gar nicht gut aus. Bist du sicher, dass du das nicht
irgendwie verdecken willst? Ich könnte dir einen schönen
Verband anlegen.«
Traurig schüttelte Willow den Kopf. »Dann würde das so
aussehen, als hätte mein Freund mich geschlagen, meinst du
nicht? Ich will auf keinen Fall, dass jemand denkt, ich habe
etwas zu verbergen. Das wäre peinlich, vor allem für Oz.«
»Oz«, wiederholte Buffy und fuhr zusammen. »Er wird mich
umbringen.«
»Immerhin hast du seine Freundin geschlagen«, sagte
Willow resigniert. Dann nickte sie entschlossen. »Ich werde
mit ihm sprechen und versuchen, ihn von einer
Kurzschlussreaktion abzuhalten. Davon abgesehen dürfte ein
bisschen Camouflage ausreichen, das Ganze abzudecken. Ich
brauche nur etwas Zeit. Am besten heute Nachmittag nach dem
College. Da wir gerade davon sprechen, hallo, College? Du bist
die neue Super-Buffy, erinnerst du dich? Supergirl. Du solltest
dich mal auf den Weg machen.«
Buffy wurde von Panik ergriffen. Die nächsten Tage würden
ihren Entschluss, ihr Leben besser zu organisieren und
gleichzeitig eine gute Jägerin und gute Studentin zu sein, auf
eine harte Probe stellen. Morgen hatte sie eine Klausur in
Geschichte, und am Montag musste sie ein Thesenpapier in
Soziologie abliefern. Aber was ihr am meisten Sorgen
bereitete, war neben ihren studentischen Verpflichtungen die

23
Tatsache, dass sich in Sunnydale eine neue Vampir-Spezies
breit gemacht hatte.
Manchmal kam sich Buffy vor wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde.
In ihrem speziellen Fall machte das Mädchen Buffy der Jägerin
das Leben schwer – und umgekehrt. Ein wunderbares Beispiel
hierfür war die Tatsache, dass sie gerade ihre beste Freundin
geschlagen hatte. Aber Buffy war überzeugt, dass sie es, wenn
sie nur hart genug arbeitete, schaffen konnte, die beiden Seiten
ihres Lebens miteinander zu vereinbaren.
»Ich werde wohl ein wenig zu spät kommen«, meinte sie.
»Professor Blaylock wird sauer sein, aber ich muss mit Giles
sprechen. Es gibt Neuzugänge in der Stadt, und ich würde
gerne herausfinden, mit wem genau ich es da zu tun habe.«
Willow nickte besorgt. »Wir gehen heute Nachmittag zu ihm,
direkt nach den Mochaccinos. Ich muss mich heute sowieso an
den Computer setzen, da kann ich auch direkt für Giles
recherchieren.«
»Ich verstehe«, meinte Buffy schnell. »Du hast selber genug
zu tun.«
»Genauso wie du«, erinnerte Willow sie. Dann zuckte sie die
Schultern. »Ich bin immer für dich da, wenn du meine Hilfe
benötigst.«
»Danke. Warte noch einen Moment.«
Sie wählte Giles’ Nummer und verzog enttäuscht das
Gesicht, als der Anrufbeantworter ansprang. »Giles«, sprach
sie aufs Band, »ich bin’s. Die Patrouille letzte Nacht war
ziemlich heftig. Wir sollten uns darüber unterhalten. Ich
versuche es später noch mal.«
Sie seufzte und legte den Hörer auf. Willow schaute sie
ungeduldig an. Buffy zog, so schnell sie konnte, einen dicken
Wollpullover und Jeans an. Dann durchwühlte sie hektisch ihre
Sachen nach einem Haargummi.

24
»Weißt du, nach der Geschichte mit Kathy frage ich mich
wirklich, ob du geeignet bist für eine WG«, meinte Willow und
zog scherzhaft die Augenbrauen hoch.
Sie machte Spaß, so viel stand fest. Buffys Mitbewohnerin
im ersten Semester war eine ziemlich nervige Tussi gewesen,
die ihr mit ihrem schlechten Musikgeschmack und absoluter
Schlampigkeit, was den Haushalt und das Zusammenleben
betraf, auf die Nerven gegangen war. Außerdem war sie ein
Dämon gewesen, aber das war eine andere Geschichte.
»Du bist eine Verräterin, Will. Danke, dass du mir so in den
Rücken fällst«, erwiderte sie trocken. Sie schmunzelte, als sie
sich aufs Bett setzte und die Schuhe anzog. »Okay, ich bin
ständig unterwegs, aber ich glaube, ich bin trotzdem eine gute
Mitbewohnerin. Und du bist auch nicht gerade perfekt. Nasse
Handtücher auf dem Teppich, CDs, die in der ganzen
Wohnung verstreut rumfliegen, und dann deine Lernerei. Du
steckst deine Nase sogar noch nachts in die Bücher, sodass ich
einen totalen Minderwertigkeitskomplex kriege. Kathy hatte
die Entschuldigung, dass sie ein Dämon war. Aber was ist
deine?«
Willow antwortete nicht, und als Buffy hochschaute, musste
sie feststellen, dass ihre Freundin sie mit einem verletzten
Gesichtsausdruck anstarrte.
»Ich habe nie behauptet, perfekt zu sein«, erwiderte Willow
kühl. Sie war anscheinend sehr verärgert.
»Mensch, ich habe doch nur Spaß gemacht«, meinte Buffy.
Aber plötzlich war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Ein
Teil von ihr hatte diese Dinge ernst gemeint. Es war ihr nur
rausgerutscht, weil sie so müde und erschöpft war, aber jetzt
konnte sie ihre Worte nicht mehr rückgängig machen.
Sie ging zu Willow und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wirklich«, versicherte sie ihr.
Willow nickte. »Ich weiß. Wir haben beide zu wenig Schlaf
abbekommen. Dann sagt oder tut man manchmal sonderbare

25
Dinge und muss auch noch alles im College mitkriegen. Ich
komme mir manchmal vor, als wäre mein Leben eine
Seifenoper. Vielleicht solltest du versuchen, den Frust deiner
Patrouillen beim Lernen abzubauen. Wir haben doch genug
Freunde, die uns unterstützen.«
Buffy atmete erleichtert auf. »Du hast vollkommen Recht.
Ich putze mir noch schnell die Zähne, und dann können wir
los.«
»Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich schon mal vor«,
antwortete Willow und ging Richtung Tür. »Ich möchte nicht
zu spät kommen.«
»Oh«, meinte Buffy leise. »Ist gut.«
Willow verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort und zog
die Tür hinter sich zu. Buffy starrte ihr nach und ließ das, was
sich gerade abgespielt hatte, noch einmal Revue passieren.
Willow hatte es abgestritten, aber Buffy wusste, dass ihre
Worte sie verletzt hatten. Einen Fausthieb mitten ins Gesicht
konnte sie verzeihen, aber die scherzhaften Bemerkungen über
sie als Mitbewohnerin gingen tiefer. Buffy hatte Probleme, das
nachzuvollziehen, und sie hoffte, dass Willow es im Laufe des
Tages nicht mehr so ernst nehmen würde.
Schließlich waren sie beste Freundinnen. Sie hielten
zusammen, was immer auch passierte.
Mittlerweile war es spät geworden, und ihr Kurs hatte vor
drei Minuten begonnen.

Professor Blaylocks Soziologie-Kurs fand im Bibeau Social


Science Building statt, in einem Hörsaal mit über zweihundert
Sitzplätzen. Er war ein beliebter Dozent, und zu Buffys Glück
war das Seminar gut besucht. So konnte sie normalerweise,
wenn sie zu spät kam, durch die Hintertür in den Hörsaal
spähen und brauchte dann nur noch den Moment abzupassen,
in dem sich Blaylock zur Tafel umdrehte, um

26
hineinzuschlüpfen und sich zu setzen, ohne dass er etwas
davon mitbekam.
In den letzten Wochen war sie häufiger zu spät gekommen,
aber Blaylock hatte sie nur einmal dabei erwischt.
Buffy eilte durch die Tür und war gerade auf der Hälfte der
kurzen Treppe angelangt, als ein Typ mit Igelschnitt, einem
muskulösen Nacken und einer Nase, die so aussah, als wäre sie
mindestens einmal gebrochen, sie anschaute und ihr ein
verschwörerisches Lächeln zuwarf. Ein Footballer, dachte
Buffy. Er war ihr schon häufiger aufgefallen, aber sie hatte sich
noch nie mit ihm unterhalten.
Der Typ hielt mit einem zur Tafel gerichteten Blick einen
Finger hoch, um sie zu warnen. Buffy hörte, wie Professor
Blaylock über die »Epidemie der Depression in den
Vereinigten Staaten« sprach, was wohl sein Lieblingsthema
war. Dann schweifte er ab zu den Manisch-Depressiven, und
seine Stimmlage veränderte sich, als spräche er mit dem
Rücken zum Publikum. Erwartungsvoll blickte Buffy zu Mr.
Football, der sich nun umdrehte und ihr mit einem Grinsen im
Gesicht zunickte.
Buffy huschte die letzten Stufen so unauffällig wie möglich
hoch und drängelte sich an drei Leuten vorbei, da sie sich auf
den Platz direkt neben Mr. Football in der letzten Reihe setzen
wollte.
»He, hallo Sie da!«
Buffy blieb wie angewurzelt stehen.
Es war die Stimme von Professor Blaylock.
Sie drehte sich um und sah ihn verlegen vom anderen Ende
des Hörsaals an. Er hatte die Hände in die Hüften gestützt und
lächelte sie freundlich an.
»Entschuldigung«, sagte Buffy schüchtern. Sie zuckte mit
den Achseln und wies auf ihren Stuhl. »Ich wollte...«
»Nein, nein, bitte bleiben Sie, wo Sie sind.«

27
Buffy blinzelte überrascht und blieb peinlich berührt stehen,
da alle Studenten im Hörsaal sie anstarrten beziehungsweise
angrinsten.
»Wie ist Ihr Name, bitte? Es tut mir Leid, aber ich kann mir
nicht alle Namen merken.«
»Buffy«, erwiderte sie rasch.
»Würden Sie bitte lauter sprechen?« Er lächelte immer noch,
aber Buffy wurde klar, dass das Lächeln alles andere als
freundlich war.
»Buffy Summers«, sagte sie jetzt mit schnippischer Stimme,
da ihre Verlegenheit bereits in Ärger umschwang.
»Ah, ja, Miss Summers. Darf ich annehmen, dass Ihr
Zuspätkommen mit den letzten Vorbereitungen für Ihr
Thesenblatt zusammenhängt?«
Buffy runzelte die Stirn. »Nun ja. Ich meine, ich arbeite noch
daran.«
Professor Blaylocks Lächeln verschwand. »Sie arbeiten noch
daran? Heißt das etwa, Sie haben es nicht geschafft, es
rechtzeitig abzugeben?«
Buffy wurde bleich. Ihr Mund war auf einmal ganz trocken.
Die anderen Studenten starrten sie immer noch an, aber einige
hatten aufgehört zu grinsen. Ihr Gesichtsausdruck glich jetzt
mehr den mitleidigen Blicken, die man Verkehrsopfern zuwarf,
wenn man an einem Unfall vorbeifuhr.
»Der Abgabetermin ist doch erst am Montag. Ich... ich habe
es mir aufgeschrieben.«
»Dann haben Sie es falsch aufgeschrieben«, erwiderte
Blaylock kühl.
Auf einmal sah sie die drei Stapel mehrfarbiger
Schnellhefter, die unten auf dem Tisch des Professors lagen.
Sie erkannte die zwei Assistenten des Professors, die in der
ersten Reihe saßen und sich zu ihr umdrehten. Sie schauten sie
freundlich an, aber das machte es für Buffy nur noch
schlimmer.

28
»Ich schätze, das muss ich wohl«, sagte sie so leise, dass sie
nicht wusste, ob er es überhaupt gehört hatte. Aber das machte
jetzt sowieso keinen Unterschied mehr.
»Ich schätze, das haben Sie wohl«, wiederholte Blaylock,
und eine Spur von Spott lag unverkennbar in seiner Stimme.
»Wissen Sie, Miss Summers, wenn Sie heute rechtzeitig
erschienen wären, hätte ich nicht so viel Aufhebens um Ihr
Thesenpapier gemacht. Aber so bin ich nicht bereit zu glauben,
dass das Ganze einfach nur ein Irrtum Ihrerseits war.«
Buffy spürte, wie die Wut wieder von ihr Besitz ergriff. »Es
war ein Missverständnis, Herr Professor.«
»Möglich. Aber vielleicht sind Sie ja der Meinung,
Abgabefristen würden für Sie nicht gelten. So oder so, Sie
haben Ihr Thesenpapier nicht fertig, oder? Nun, dann tun wir
Folgendes: Sie nehmen sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Bis
zum Semesterende, wenn Sie wollen.«
Buffy schaute ihn ungläubig an und schüttelte
andeutungsweise den Kopf. »Ich glaube, ich habe Sie nicht
verstanden.«
»Das sollten Sie aber«, gab Blaylock zur Antwort. »Und jetzt
lassen Sie mich fortfahren, ja? Sie geben das Papier ab, wann
Sie möchten, Buffy. Aber mit jedem Wochentag, der
verstreicht, haben Sie zehn Punkte weniger. Das Wochenende
zählt nicht. Von Mitternacht an, Mittwoch, geht es los mit
neunzig. Zwölf Uhr morgen Nacht achtzig und Montag siebzig.
Wenn Sie sich entschließen sollten aufzugeben, es einfach
bleiben lassen, geben Sie es eben nicht ab, aber dann garantiere
ich Ihnen, dass Sie diesen Kurs nicht bestehen werden.«
Buffy konnte ihn nur noch anstarren.
»Jetzt können Sie sich setzen.«
Mochaccinos mit Buffy waren eine große Enttäuschung für
Willow. Am Nachmittag, nach ihrem letzten Kurs im College,
war Willow gemeinsam mit Buffy zum Espresso Pump
gegangen und hatte ihr Bestes getan, für eine entspannte und

29
fröhliche Stimmung zu sorgen. Sie hatte es sich so nett
vorgestellt, zusammen mit ihrer besten Freundin, nur sie beide.
Aber Buffy war dermaßen fertig mit den Nerven wegen dieser
Geschichte mit ihrem Soziologieprofessor, der sie vor allen
Studenten gedemütigt hatte, und sie war so unzufrieden mit
sich selbst, dass ihr Treffen nicht gerade ein Erfolg gewesen
war.
Willow hatte versucht ihr klarzumachen, dass das Ganze
einfach nur ein Versehen gewesen war und dass es jedem hätte
passieren können. Aber Buffy war in letzter Zeit dermaßen hart
zu sich selbst und verlangte sich so viel ab, dass scheinbar
nichts von dem, was Willow sagte, sie von ihrer schlechten
Laune abbringen oder besänftigen konnte.
Es machte Willow wahnsinnig, dass sie nicht in der Lage
war, ihr zu helfen.
Wenn sie so viel Wert darauf legt, alles allein zu machen,
wozu braucht sie mich dann noch?, fragte sich Willow traurig.
Aber es war nicht nur die Traurigkeit, die ihr zusetzte. Als sie
den Campus überquerte und zu dem Haus ging, das Oz
zusammen mit ein paar anderen Studenten bewohnte, wurde ihr
klar, dass auch sie frustriert und verärgert war. Irgendjemand
musste mit Buffy reden. Sie war sich ziemlich sicher, dass es
helfen würde, wenn jemand anderes mit ihr sprach. Aber so
lange Buffy nicht mal ihr zuhörte, würde es vermutlich nichts
bringen. Und die Wahrheit war, dass nichts und niemand Buffy
dazu zwingen konnte, etwas zu tun, was sie nicht wollte.
Der Bluterguss auf ihrer Wange drückte auf den Knochen,
und Willow schrie vor Schmerz auf, als sie die Stelle berührte.
Sie seufzte.
Noch etwas benommen vom Schmerz klopfte sie an Oz’
Haustür. Ein großer, stiller Typ, mit dem Willow noch nie ein
Wort gewechselt hatte, öffnete ihr. Er hatte den etwas
seltsamen Namen Moon. Als Freundin eines Typen, der Oz
hieß und sich gelegentlich in einen Werwolf verwandelte, war

30
Willow eigentlich mit den merkwürdigsten Dingen vertraut,
aber dass Oz’ Mitbewohner nun auch noch Moon hieß, war
mehr als nur ein bisschen ironisch.
»Hi«, sagte sie und trat ein.
Moon zog die Augenbrauen hoch und hob die Hand zur
Begrüßung. Willow war nicht ganz klar, ob ihm ihr Kommen
ungelegen war oder nicht, denn er drehte sich sofort wieder um
und ließ sie allein an der Tür stehen. Sie stieg die Treppe zu
Oz’ Zimmer hoch und trat ein. Oz saß mit einer großen
Akustik-Gitarre auf dem Boden und spielte eine komplizierte
Reihe von Akkorden so sauber durch, dass jeder, der ihn
kannte, sofort feststellen musste, dass er ein weitaus
talentierterer Musiker war, als er jemals zugeben würde.
»Hi«, begrüßte ihn Willow leise.
Oz blickte überrascht auf und brummte etwas.
Normalerweise verzog er nie eine Miene, aber jetzt lief ein
winziges Zucken durch sein Gesicht, dass Willow fast als
Mienenspiel bezeichnet hätte. Es war nicht so, dass er immer
denselben Gesichtsausdruck aufsetzte – sie brachte ihn oft
genug zum Lachen – es kam nur äußerst selten vor, dass er eine
Miene verzog.
»Nettes Veilchen.« Oz unterbrach sein Gitarrenspiel nicht,
verpatzte aber einen Akkord, während er sprach.
»Ich habe Buffy heute Morgen geweckt. Sie hatte wohl einen
Albtraum. Ich bin nicht scharf darauf, sie noch einmal zu
wecken. Und, na ja, sie ist meine beste Freundin und so weiter,
also nehme ich es ihr nicht weiter übel. Kann ja mal passieren.
Aber später war sie so... ich weiß nicht... seltsam.«
Oz hörte ihr aufmerksam zu.
Willow setzte sich neben ihn auf den Boden. Oz sah sie an
und spielte eine wunderschöne leise Melodie, einen Blues-Riff,
den sie schon einmal gehört hatte. Er musste immer seine
Finger in Bewegung halten. Wahrscheinlich merkt er nicht
einmal, dass er gerade diese Melodie spielt, dachte Willow.

31
»Ich meine, klar, es ist ziemlich hart für sie, alles unter einen
Hut zu kriegen. Aber sie ist schließlich nicht die Einzige mit
diesem Problem. Okay, ich bin vielleicht nicht jede Nacht auf
Patrouille oder muss ständig damit rechnen, im Kampf gegen
die dunklen Mächte getötet zu werden, Buffy steht in dieser
Hinsicht schon mehr unter Druck. Aber das alles ist noch lange
kein Grund, so gereizt zu sein.«
Willow schwieg und sah Oz an, der aufgehört hatte zu
spielen. Ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
»Du bist ihre beste Freundin«, sagte er.
»Ich weiß«, antwortete Willow und runzelte die Stirn. »Aber
das ist nicht so einfach.«
»Warum nicht?«
Sie öffnete den Mund, schwieg aber. Dann rückte sie näher,
blickte ihren Freund missmutig an und seufzte.
»Ich weiß, ich weiß. Ich sollte versuchen, mehr Verständnis
für sie aufzubringen, wenn sie fertig ist mit den Nerven. Das
tue ich ja auch! Oft genug! Und dieses Mal... vielleicht war es
nicht genug. Ja, ich bin irgendwie sauer. Und nicht nur wegen
des Veilchens. Aber ich mache mir auch Sorgen. Sie setzt sich
selbst zu sehr unter Druck. Sogar Superman hat es geschafft,
sein Leben als Superheld ganz klar von seinem normalen
Leben zu trennen, aber kapiert denn keiner, dass Superman
eine Comicfigur ist?«
»Und als Nächstes willst du mir weismachen, dass es den
Weihnachtsmann in Wirklichkeit gar nicht gibt.«
»Du machst dich lustig über mich«, erwiderte Willow
grimmig, »aber ich meine es ernst. Ich glaube, diese ganze
Geschichte mit Martha Stewart und ihrem Perfektionswahn hat
ihr ziemlich zugesetzt und kommt jetzt wieder hoch. Es muss
sie wahnsinnig machen, dass sie so wenig Kontrolle über ihr
Leben hat. Heute Morgen hat sich wieder etwas
zusammengebraut... es liegt immer so etwas in der Luft, wenn
die Jägerin auf neue Dämonen trifft, die Ärger machen... aber

32
sie redet mit keinem darüber. Das passt zu dem neuen Bild, das
sie sich von sich selbst gemacht hat. Super-Buffy. Sie muss
sich ganz schön allein fühlen.«
Oz’ Miene verfinsterte sich. »Aber sie ist nicht allein«, sagte
er.
»Nein«, stimmte Willow zu. »Ist sie nicht. Aber wie kann ich
ihr das beweisen?«
»Vielleicht kannst du das nicht«, meinte er. »Vielleicht ist
das etwas, was sie von ganz allein herausfinden muss.«

Rupert Giles stand vor der schmalen Kochnische, die seine


Vermieterin als Küche bezeichnet hatte, die aber seiner
Meinung nach eher aussah wie die Bordküche eines Flugzeugs.
Er öffnete den Ofen und warf einen Blick auf das Essen, das er
gerade zubereitet hatte. In der ganzen Wohnung roch es
danach. Er lächelte zufrieden und summte den Refrain »Going
Mobile« von The Who.
Giles öffnete den Kühlschrank, nahm die zwei Flaschen
Piesporter heraus, die er zum Kühlen hineingestellt hatte, und
stellte erfreut fest, dass sie nun kalt genug waren. Dann suchte
er nach dem Brie, fand ihn und griff nach einer Packung
Cracker. Er war gerade dabei, das Ganze auf einer Platte
anzuordnen, als es plötzlich an der Tür klingelte.
»Hmm?«, murmelte Giles. Er blinzelte und sah auf die Uhr,
die über dem Ofen an der Wand hing. Es war kurz vor halb
fünf und somit recht unwahrscheinlich, dass sein Gast so früh
kommen würde. Neugierig ging er durch das Wohnzimmer und
öffnete die Tür. Buffy stand mit einem breiten Grinsen im
Gesicht vor ihm. Über ihrer Schulter hing die dunkle Tasche
aus Segeltuch, in der sie für gewöhnlich ihre Waffen
aufbewahrte.
»Guten Abend, Buffy«, begrüßte er sie freundlich. »Was ist
denn so lustig?«

33
Langsam schüttelte sie den Kopf, und ihr Grinsen wurde
noch breiter.
»Kleider machen Leute.«
Giles schaute an sich herunter. Er war lässig gekleidet, aber
stilvoll, wie immer. Was findet sie daran so...?, fragte er sich,
doch dann fiel der Groschen, und er lief rot an. Auf seiner
Schürze war ein knallbunter, wütender Duffy Duck abgebildet,
über dem in großen Buchstaben stand: »Wann ist denn nun das
Essen fertig?«.
»Sieht so aus, als würden Sie jemanden erwarten«, meinte
Buffy. »Haben Sie mich vielleicht deshalb nicht
zurückgerufen?«
Giles bedachte sie mit einem erstaunten Blick. »Was? Du
hast angerufen?«
»Fünfmal.«
Verwirrt blickte er zu dem kleinen Ecktisch im
Wohnzimmer, auf dem ein altes schwarzes Telefon neben
einem Anrufbeantworter stand, der bereits antiken Wert besaß.
Eine Topfpflanze stand ebenfalls auf dem Tisch und verdeckte
das Telefon und den Anrufbeantworter zur Hälfte.
»Tut mir schrecklich Leid«, sagte er und ging durch das
Zimmer zum Telefon. »Ich war heute Morgen einkaufen und
bin wohl etwas zerstreut. Aber taub bin ich nicht. Ist fünfmal
nicht ein bisschen übertrieben?«
Während er sprach, schob er die Topfpflanze beiseite und
entdeckte die rot leuchtende Anzeige auf dem
Anrufbeantworter und direkt daneben die Zahl fünf.
»Fünfmal«, wiederholte Buffy.
Giles murmelte eine Entschuldigung, drehte sich zu Buffy
um und zuckte die Schultern. »Entweder hast du immer den
ungünstigsten Moment erwischt, oder ich war zerstreuter, als
ich dachte.«
»Oder beides«, erwiderte Buffy und lächelte nachsichtig.
Dann wurde sie ernst. »Wann kommt Ihr Gast?«

34
Giles entging die leise Anspielung in ihrer Stimme nicht.
»Jetzt noch nicht«, versicherte er ihr. »Olivia kommt für ein
paar Tage, und ich koche gerade, aber ich bin durchaus in der
Lage, mich gleichzeitig mit dir zu unterhalten und mich um das
Essen zu kümmern.«
Buffy zögerte. »Ich will Sie nicht von Ihren Kochkünsten
abhalten.«
»Verdammt noch mal, jetzt komm endlich rein«, rief er
ungeduldig und winkte sie in die Wohnung. »Entschuldigung.
Ich habe mich wohl ein wenig im Ton vergriffen.«
»Auf alle Fälle habe ich es kapiert«, sagte Buffy amüsiert.
Sie spazierte durch das Wohnzimmer und ließ sich zielstrebig
im bequemsten Sessel nieder. »Also, was kochen Sie für Ihre
Liebste?«
Giles sah sie verblüfft an. »Nun, ich weiß nicht, ob sie
›meine Liebste‹ ist, aber ich habe Brathähnchen gemacht, eins
ihrer Lieblingsgerichte.«
Buffy starrte ihn an.
»Ja,... ähm, es ist so kalt draußen, und Olivia hat immer einen
Riesenappetit, also dachte ich...«
Giles seufzte, setzte sich auf die Lehne des Sofas und
verschränkte die Arme. Er sah sie ruhig an, wurde sich aber im
selben Moment bewusst, dass seine Gelassenheit von dem
wütenden Duffy-Duck-Motiv auf seiner Schürze wohl etwas
beeinträchtigt wurde.
»Nun denn. Wir haben wohl Ärger, nehme ich an?«
Buffys Miene verfinsterte sich. »Und zwar gewaltigen«, gab
sie zu. »Ich weiß noch nicht, wie schlimm es wirklich ist. Der
Weltuntergang steht uns wahrscheinlich nicht sofort bevor,
aber ich bin da auf ein paar sehr merkwürdige Dinge gestoßen,
und ich dachte, dass Sie vielleicht ein wenig Recherchearbeit
betreiben könnten.«
Aufmerksam lauschte Giles ihrem Bericht über die Patrouille
am vorherigen Abend, einschließlich des Traums, in dem ihr

35
Lucy Hanover erschienen war. Damals, als Buffy noch dem
Rat der Wächter unterstellt war, hatte Giles als ihr Wächter
fungiert. Doch es war schon eine Weile her, seit sie die
Verbindung zum Rat abgebrochen hatten; bei Giles war es vom
Rat ausgegangen, und Buffy hatte die Verbindung von sich aus
gelöst. Obwohl Buffy nun nicht mehr offiziell als sein
Schützling galt, bedeutete sie Giles doch sehr viel. Gut, er war
nicht mehr ihr Wächter, dafür aber ihr Freund und Mentor.
Sein Training brauchte sie jetzt nur noch äußerst selten, aber
sein Rat und seine Erfahrung waren für die Jägerin
unverzichtbar.
»Diese Vampire sind interessant.«
»Sie meinen wohl eher unheimlich und beängstigend?«,
schlug Buffy vor.
»Wie? Ja, ja, genau das meinte ich. So, wie du sie
beschrieben hast, sind sie mir völlig unbekannt. Wenn sie der
armen Frau nicht das Blut ausgesaugt hätten, würde ich mich
ernsthaft fragen, ob sie wirklich Vampire sind. Das Aussaugen
von Energie und die glühenden Augen lassen eher auf
Dämonen schließen. Ich werde mich bei meiner Recherche
zunächst auf diese Eigenschaften und die Tätowierungen
konzentrieren. Vielleicht gehören sie einem Orden oder einer
Bruderschaft an, und die Tätowierungen sind so eine Art
Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Es könnte auch ein Mal
ihres Meisters sein, dieses Camazotz, den sie erwähnt haben.
Der Traum mit Lucy Hanover kann, muss aber nicht
unbedingt damit in Zusammenhang stehen. Allerdings ist es
ungewöhnlich, dass sie dir einen Besuch abstattet. Sie muss
einen triftigen Grund dafür gehabt haben, und doch ist ihre
Botschaft so verschlüsselt, so...«
»Leider so undeutlich?«, bot Buffy an.
»Ja, in der Tat«, gab Giles zu. »Du solltest in den nächsten
Tagen besonders vorsichtig sein. Wir alle sollten das.
Vielleicht sind diese Vampire, auf die du letzte Nacht gestoßen

36
bist, wirklich die Bedrohung, vor der der Geist dich gewarnt
hat. Dieser Camazotz...«
»Ich hatte das Gefühl, dass es noch mehr von ihnen gibt«,
unterbrach Buffy ihn. Sie erschauerte bei dem Gedanken an die
Fledermaus-Gesichter. »Noch viel mehr.«
»Ich vertraue deiner Intuition«, sagte Giles. Er dachte einen
Moment nach. »Camazotz. Der Name kommt mir bekannt vor,
aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gehört
habe. Und ich begreife nicht, was diese Tätowierungen
bedeuten sollen. Der Volksglaube verbindet Fledermäuse mit
Vampiren, aber wie du ja selbst weißt, handelt es sich dabei
nur um eine Legende.«
»Vielleicht haben sie zu viele Filme gesehen«, schlug Buffy
vor.
Giles nickte bedächtig. »Alles wäre denkbar.«
»Das war ein Witz«, bemerkte Buffy trocken.
Er zog die Augenbrauen hoch, wie um sie zurechtzuweisen,
als ihm plötzlich der Geruch von verbranntem Essen in die
Nase stieg.
»Oh Gott, das Hähnchen!«
Er stürzte in die Küche, rammte sich dabei das Knie am
Kaffeetisch und brüllte vor Schmerz auf. Dann öffnete er den
Ofen und fasste mit der Hand hinein, wobei der Topflappen
leicht verrutschte und sein Daumen das brutzelnde Hähnchen
berührte. Er fluchte und stellte die Auflaufform auf die
Arbeitsplatte, deren Kunststoffoberfläche daraufhin sofort zu
schmelzen begann. Giles stopfte ein paar Topflappen unter die
Form, aber es war bereits zu spät. Weder die Arbeitsplatte noch
seinen armen Daumen konnte er retten, und diese Erkenntnis
veranlasste ihn, lauthals vor sich hin zu schimpfen. Er hielt den
Daumen unter lauwarmes Wasser, steckte ihn dann in den
Mund und lutschte daran. Dann fiel ihm ein, dass er nicht allein
war.

37
Er schaute zu Buffy rüber und musste feststellen, dass sie ihn
mit besorgtem Gesicht beobachtete.
»Ist es sehr schlimm?«
Verlegen nahm Giles den Daumen wieder aus dem Mund.
»Es brennt, aber das geht schon.«
»Eigentlich meinte ich das Essen. Ist es noch genießbar?«
Er betrachtete die braune Kruste oben auf dem Hähnchen und
nahm dann eine Gabel, um sie abzukratzen. »Ich werde es
schon irgendwie hinkriegen. Ich muss nur die verbrannte
Kruste oben abmachen, bevor Olivia...«
Es klingelte an der Tür.
Giles schloss die Augen und stöhnte auf.
»Wissen Sie was?«, sagte Buffy fröhlich. »Ich gehe jetzt.
Patrouille. Die Stadt, die niemals schläft, und so weiter und so
fort. Vielleicht begegnen mir diesmal mehr von diesen
Fledermaus-Gesichtern, und es gelingt mir – man weiß ja nie!
–, ein Foto oder so für Sie zu machen. Und... Sie kümmern sich
um diesen Camazotz?«
»Okay, okay. Machst du bitte die Tür auf?«
»Und keine Hektik, ja?«, sagte Buffy.
»Ich werde mich darum kümmern, und ich rufe dich an,
sobald ich etwas herausgefunden habe.«
Buffy war nun an der Tür. Sie öffnete sie, und eine
überrascht aussehende Olivia stand ihr gegenüber. Giles setzte
sein strahlendstes Lächeln auf, dann fiel ihm die Schürze ein,
und er zog sie schnell über den Kopf und legte sie auf einem
Stuhl ab.
»Hallo Olivia«, begrüßte Buffy sie. »Ich wollte gerade
gehen. Einen schönen Abend wünsche ich.« Sie lächelte Giles
an. »Und amüsieren Sie sich gut.«
Dann verschwand sie und zog die Tür hinter sich zu. Giles
sah Olivia an. Sie war gerade erst mit dem Flugzeug aus
London eingetroffen und sah so perfekt aus wie immer. Sie
trug dunkle Hosen und ein elfenbeinfarbenes Top, das ihre

38
samtweiche Haut besonders gut zur Geltung brachte. Ihr süßes
Lächeln tat Giles gut, und er stieß einen langen Seufzer aus.
»Dein Anblick ist Balsam für meine müden Augen«, ließ er
sie wissen.
»Du siehst aber auch nicht schlecht aus«, antwortete Olivia
mit einem neckischen Grinsen. Sie ging auf ihn zu, schlang
ihre Arme um seinen Hals und streckte ihm ihren Mund
entgegen.
Er küsste sie.
»Ich fürchte, unser Essen ist ungenießbar«, gestand Giles
dann.
Olivias Augen leuchteten auf. »Das Essen kann warten,
Rupert.«

Xander hatte das Klopfen zunächst nicht gehört. Er lag


ausgestreckt vor dem Fernseher auf dem Boden, und seine
Hand steckte in einer Tüte Planters Cheese Curls. Das Video,
das er sich anschaute, war die Raubkopie eines Actionfilms mit
dem Titel God of Gamblers, und der supercoole Chow Yun-Fat
spielte die Hauptrolle. Xander war vollauf damit beschäftigt,
die englischen Untertitel, die in gelber Schrift auf dem unteren
Teil des Bildschirms prangten, zu lesen, und sein Besucher
musste ein paar Mal klopfen, bis Xander endlich reagierte.
Er runzelte die Stirn, sah zur Tür, blickte dann wieder auf
den Fernseher und versuchte sich einzubilden, dass es eine
Halluzination wäre. Dann klopfte es noch einmal, und er sah
sich genötigt, aufzustehen und zur Tür zu schlendern. Seine
Hand steckte immer noch in der Chips-Tüte.
»Ich trete in keine Sekten ein«, brummte er zu der
unbekannten Person, die vor der Tür stand. »Ich kaufe keine
Steakmesser oder Enzyklopädien.«
Natürlich wusste er, dass derjenige, der vor der Tür stand,
kein Hausierer sein konnte. Schließlich befand sich seine Tür
auf der Rückseite des Hauses seiner Eltern und führte direkt in

39
die Kellerwohnung, in die er nach der High School eingezogen
war. Diese Tatsache stimmte ihn irgendwie traurig, da er einen
kurzen Augenblick lang gehofft hatte, eine Gruppe von
Pfadfinderinnen vor seiner Tür vorzufinden.
Wegen der Cheese Curls natürlich. Weil Cheese Curls ein
guter Köder für Pfadfinderinnen sind, und die armen Dinger
ganz versessen darauf sind, dachte er.
Xander hielt die Chipstüte vor seine Brust und öffnete die
Tür. Doch es war niemand zu sehen.
»Hallo?«
Er trat auf die kleine betonierte Veranda, blickte sich um und
sah gerade noch, wie Buffy zurück zum Vordereingang des
Hauses ging. Als sie seine Stimme erkannte, drehte sie sich um
und lächelte ihn an.
»Hi, Xand.«
»Buffy, hi. Welchem glücklichen Umstand verdanke ich
deinen Besuch?«
»Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen
und dachte, ich schau mal vorbei und frage, ob du Lust hast,
diese Nacht mal wieder damit zu verbringen, mich auf der
Patrouille zu begleiten?«
Xander starrte sie erstaunt an. In der High School waren er,
Willow und Buffy unzertrennlich gewesen, und sie hatten zum
Kern der Gruppe gehört, die sie scherzhaft The Scooby Gang
getauft hatten. Sie waren gemeinsam ins Bronze gegangen,
hatten sich in der Schulbibliothek getroffen und viel Zeit auf
Friedhöfen verbracht. Aber seit das College begonnen hatte,
war alles anders. Xander hatte beschlossen, nichts mehr zu
machen, was der Schule auch nur im Geringsten ähnelte – und
das, obwohl Willow, Buffy und Oz auf die U.C. Sunnydale,
das College, gegangen waren. Die Scooby Gang existierte zwar
nach wie vor, und besonders in Krisensituationen hielten sie
zusammen wie früher, aber sie verbrachten viel weniger Zeit
miteinander als damals. Deshalb war es ungewöhnlich, dass

40
Buffy zufällig vorbeischaute und fragte, ob er mit auf
Patrouille gehen wollte.
»Xander?« Buffy runzelte die Stirn und schubste ihn ein
wenig.
»Entschuldigung«, antwortete er und schüttelte den Kopf.
»Mein Gehirn ist nicht in der Lage, mehrere Informationen
gleichzeitig zu verarbeiten, und ich gebe mir die größte Mühe,
sexuelle Anspielungen bei Sätzen wie ›Die-Nacht-damit-zu-
verbringen‹ zu unterdrücken.«
»Ich verstehe.« Sie trat unruhig von einem Bein auf das
andere, und Xander wusste sofort, was mit ihr los war, dass sie
am liebsten sofort losgezogen wäre, um ein paar Vampire zur
Strecke zu bringen. »Und, was ist jetzt mit der Patrouille?«
Xander fühlte sich geschmeichelt, dass Buffy ihn dabeihaben
wollte, und er war neugierig. Er rieb sich die Wange in der
Hoffnung, dass es sehr nachdenklich aussehen würde. »Hmm,
mal schauen. Vor dem Fernseher hocken und einen
wunderbaren Hong Kong-Actionfilm gucken und dabei leckere
Sachen knabbern oder die Action aus erster Hand erleben,
dabei etwas für die Kondition tun und mein Leben aufs Spiel
setzen.« Er zuckte die Achseln. »Versprich mir, dass du nicht
wiederholst, was ich jetzt sage, denn aus einem unerklärlichen
Grund, den nur mein Therapeut begreifen wird, denke ich, dass
ich mich dafür entscheide, mein Leben zu riskieren.«
Buffy sah verwirrt aus. »Und was ist mit Anya?«
»Die ist unterwegs und haut gerade ihr Geld für Klamotten
auf den Kopf. Sie hat irgendwas von einem weiblichen
Grundbedürfnis erwähnt. Was auch immer das sein soll.« Er
nickte und warf einen Blick zurück in die Wohnung. »Ich hole
noch schnell meine Jacke.«

Schon fast zwei Stunden waren vergangen, ohne dass sie


etwas Übernatürlichem begegnet waren. Buffy war ein
bisschen enttäuscht, da sie damit gerechnet hatte, auf die

41
Fledermaus-Vampire von letzter Nacht zu stoßen. Sie war sehr
neugierig und wollte auf keinen Fall nach Hause gehen, ohne
etwas Neues über sie herausgefunden zu haben, vor allem da
Giles wahrscheinlich noch nicht mit seiner Recherche
begonnen hatte. Natürlich hätte sie auch Willow bitten können,
etwas über die neue Vampirspezies in Erfahrung zu bringen –
sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie es nicht getan
hatte –, aber als sie sich heute getroffen hatten, war es Buffy so
vorgekommen, als wäre Willow ihr gegenüber etwas
angespannt und distanziert gewesen. Und das gefiel ihr ganz
und gar nicht.
Willow war ihre beste Freundin. Sie sollte in der Lage sein,
mit ihr zu sprechen, wenn sie etwas bedrückte oder störte. Aber
Buffy war ja auch nicht besser. Keine von ihnen hatte die
Spannung gelöst, bis Buffy das Treffen damit beendet hatte,
dass sie aufgebrochen war, um Giles einen Besuch abzustatten.
Sie war besorgt gewesen, weil er sich so lange nicht gemeldet
hatte.
Buffy nahm sich fest vor, mit Willow zu sprechen, sobald sie
zu Hause war, und die Unstimmigkeiten, die seit dem Morgen
zwischen ihnen herrschten, aufzuklären. Mittlerweile bedauerte
sie zutiefst, dass sie Xander gebeten hatte, sie zu begleiten.
Was zum Teufel habe ich mir nur dabei gedacht?, ging es ihr
durch den Kopf.
Aber eigentlich wusste sie den wahren Grund für ihr
Verhalten. Da Giles Besuch von Olivia hatte und es zwischen
ihr und Willow momentan nicht so gut lief, hatte sie einfach
jemanden an ihrer Seite gebraucht, der ihr das Gefühl gab, dass
sie mehr war als nur die Jägerin.
Sie und Xander waren bereits die Gegend um das Bronze und
die Hauptfriedhöfe abgegangen, und Buffy bog nun rasch nach
Westen ab, Richtung Meer, wo es ein paar nette Viertel in
Strandnähe gab, die jedoch nicht ihr Ziel waren. Natürlich
rechnete sie nicht damit, die tätowierten Vampire wieder am

42
Fish Tank anzutreffen, aber da auf den üblichen Jagdrevieren
nichts los war, beschloss sie, sich die Gegend am Kai noch mal
anzusehen. Xander jammerte, dass seine Füße ihm wehtäten,
aber es hielt sich noch in Grenzen. Buffy hatte das Gefühl, er
jammere nur dann und wann, um ein Gesprächsthema zu haben
und sie an seine Anwesenheit zu erinnern.
Wenn es noch nicht so spät gewesen wäre, hätte sie
vorgegeben, die Patrouille zu beenden, ihn nach Hause
gebracht und dann allein weitergemacht. Sicher, er brachte sie
zum Lachen. So war er eben. Er gab ihr das Gefühl, ein ganz
normaler neunzehnjähriger Teenager zu sein. Aber das geschah
nur an der Oberfläche. Tief in ihrem Inneren machte sie sich
Sorgen und warf sich vor, ihn nur mitgenommen zu haben,
damit sie sich selbst einreden konnte, noch Freunde zu haben.
Aber so schlimm war es nun auch wieder nicht, versuchte sie
sich selbst zu beruhigen. Dieser Zwiespalt war nun mal ein Teil
ihres Lebens geworden.
Sie zwang sich, nicht daran zu denken, wie Professor
Blaylock sie gedemütigt hatte, und sie verdrängte den
Gedanken an das Thesenpapier, das sie noch immer nicht
geschrieben hatte, und an die Klausur, die ihr am nächsten Tag
bevorstand.
Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen.
Es war ziemlich kalt, seit die Sonne untergegangen war, und
sie zitterte trotz des dicken Wollpullovers, den sie über ihrem
T-Shirt trug. Auch Xander klappte gerade den Kragen seiner
Jacke hoch. Buffy drehte den Kopf und spannte ihre
Halsmuskeln an; sie brauchte Bewegung, um die Nervosität
abzubauen. Die Tasche über ihrer Schulter war lästig, aber
notwendig: Sie hatte Wert darauf gelegt, eine Armbrust
mitzunehmen. Xander hatte die paar Pflöcke, die sie ihm
gegeben hatte, in die Taschen seiner dunkelbraunen Jacke
gesteckt. Gemeinsam gingen sie den menschenleeren Gehsteig

43
einer Straße mit heruntergekommenen Häusern entlang, bis sie
an der Ecke zu einer Tankstelle kamen.
Auf der anderen Seite der Straße, gegenüber der Tankstelle,
befand sich ein schmuddeliges italienisches Lokal, das Marias,
und Buffy vermutete, dass es der Mafia gehörte. Daneben war
ein Tattoo-Laden und gegenüber der Kat Scratch Club, ein
scheußlicher Schuppen, dessen Fenster von einer Rußschicht
bedeckt und mit Neonlampen und -schildern vollgestopft
waren. Ein auffällig blinkendes Neonschild versprach Live
Girls, und Buffy dachte, dass das doch gar nicht so schlecht
war, wenn die nicht so unrealistische Alternative aus toten
Mädchen bestand. Der Kat Scratch Club stellte ein Aufgebot
von 365 barbusigen Tänzerinnen, so kündigte es zumindest ein
von Hand geschriebenes Schild im Fenster an, das sie erst
entdeckten, als sie die Straße überquerten und darauf zugingen.
»Sollen wir nicht mal kurz reingehen, die Füße ausstrecken
und ähm... einen Schluck Mineralwasser trinken?«, schlug
Xander vor.
Buffy schaute ihn zweifelnd an. Xander setzte sein
unschuldigstes Gesicht auf und zuckte die Achseln.
»Warum hast du mich mitgenommen?«, fragte er plötzlich.
Buffy überraschte sein ernster Gesichtsausdruck. Zuerst
wollte sie ihn fragen, was er damit meinte, aber sie wollte ihm
nichts vormachen. Nur nicht die ganze Wahrheit sagen.
»Darf ich dich nicht mal einfach so vermissen?«, fragte sie
zurück.
»Das darfst du nicht nur, das musst du sogar«, scherzte er.
»Aber da steckt doch mehr dahinter. Du hättest Willow fragen
können. Oder Giles. Nicht, dass ich nicht ständig kampfbereit
wäre. Xander Harris und seine wirbelnden Fäuste dürsten nach
dem Ruf des Kampfes. Aber... da ist ein ›Aber‹. Es liegt
sozusagen in der Luft. Ein Aber. Also, was bedeutet das
Aber?«

44
Buffy nickte langsam und seufzte. Dann warf sie ihm einen
entschlossenen Blick zu. »Es stimmt aber auch, dass ich dich
vermisse.«
»Okay.«
»Ich habe mich mit Willow gestritten. Weißt du, im Moment
weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Morgen früh habe ich
eine Klausur, und ich bin ziemlich erschöpft. Zum wievielten
Mal sage ich das heute eigentlich schon? Dann habe ich die
Abgabefrist eines Thesenpapiers in Soziologie verpasst, und
ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich meine,
alles geht irgendwie schief bei mir. So hat es zumindest den
Anschein.«
Xander lächelte. »Dein Leben ist bis obenhin vollgestopft,
Buffy. Das kann manchmal stressig werden.«
Buffy starrte ihn an. »Ich kann es aber nicht mehr ertragen,
dass es so stressig ist, Xander. Manchmal denke ich, dass
Buffy verschwindet und nur noch die Jägerin übrig bleibt.«
»Nicht so lange ich da bin. Dafür hat man Freunde.« Xanders
Lächeln verschwand, und es war ihm deutlich anzumerken,
dass er es sehr ernst meinte. Er bedachte Buffy mit einem
eindringlichen Blick.
»Da wir gerade davon sprechen, was ist mit dir und
Willow?«
Buffy überlegte und suchte nach den passenden Worten, um
nicht nur den Streit, sondern vor allem ihre Gefühle Willow
gegenüber zu beschreiben. Dann blickte sie zur Eingangstür
des Kat Scratch Club und sah drei Männer und eine Frau, die
herauskamen, auf den Gehsteig stürzten und dabei lauthals
lachten.
Alle vier hatten tätowierte Fledermäuse über den Augen.
Buffy griff in ihre Tasche.
»Merk dir, wo wir stehen geblieben waren.«

45
3
»Wow, die lassen auch Frauen rein? Wenn ich das früher
gewusst hätte, dann hätte ich mir auch noch schnell so ein
bescheuertes Tattoo ins Gesicht machen lassen.«
Die vier Fledermaus-Gesichter starrten Buffy an, und ihre
Augen begannen, orangefarbene Funken zu sprühen. Die Frau
war wie die anderen ganz in schwarzes Leder gekleidet, und sie
trat einen Schritt vor und musterte Buffy neugierig von oben
bis unten. Buffy hatte ihre Tasche fallen gelassen und hielt nun
die bereits gespannte Armbrust in den Händen. Es war ein
altertümliches chinesisches Modell, ein Nachbau, aber
immerhin konnte man damit sechs Bolzen in Abständen von
nur wenigen Sekunden abfeuern.
»Was bist du denn für eine?«, fragte die Frau amüsiert. Sie
runzelte die Stirn und verzog missbilligend die Mundwinkel.
Buffy sah, dass sie sich weiß geschminkt hatte, anscheinend,
um den Kontrast zu ihrem schwarzen Fledermaus-Tattoo noch
mehr hervorzuheben.
Buffy grinste sie an. »Ich? Hast du dich in letzter Zeit mal im
Spiegel betrachtet?«
Einer der männlichen Vampire, ein breitschultriger
Schlägertyp mit einem Bulldoggen-Gesicht und einer Kette, die
an seinem rechten Ohr befestigt war und im Nasenloch
mündete, schnaubte verächtlich. Seine glühenden Augen
weiteten sich und funkelten.
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lustig das ist«,
grollte er in dem merkwürdigen Akzent, den sie in der Nacht
zuvor schon einmal gehört hatte. Anscheinend sprachen sie alle
so.
»Doch, ich kann.«
Sie stutzten. Die vier Vampire betrachteten Buffy
aufmerksam. Am anderen Ende der Straße begann ein Hund zu

46
heulen, und ein paar seiner Artgenossen stimmten in das Gebell
mit ein.
Es war kalt. Buffy fror, rang sich aber ein Lächeln ab. Sie
hatte schon Mächten und Dämonen gegenüber gestanden, die
älter waren als die Menschheit und deren Boshaftigkeit den
tapfersten Kämpfer in die Flucht trieb, aber letztlich hatte sie
sie doch besiegt. Sie würde sich ganz bestimmt nicht von vier
Möchtegern-Vampiren mit angemalten Gesichtern
verunsichern lassen.
Und doch passierte genau das. Das Fledermaus-Tattoo trug
einen Großteil dazu bei. Es sprach eine unbewusste Ebene in
ihr an, einen Teil von ihr, in dem ihre Urinstinkte saßen, und
ein Angstschauer, den sie nicht auf die heulenden Hunde
schieben konnte, nahm von ihrem Körper Besitz. Sie starrten
sie an, und Buffy erinnerte sich an die letzte Nacht, daran, wie
diese lodernde Energie in ihren Augen ihr die Kraft geraubt
hatte. Wenn sie sich nicht noch in letzter Sekunde befreit hätte,
wäre sie ihnen machtlos ausgeliefert gewesen.
Machtlos. Nichts jagte ihr mehr Angst ein.
Xander hatte sich gemeinsam mit ihr den Vampiren genähert,
und jetzt stand er ein, zwei Meter hinter ihrer rechten Schulter,
genau dort, wo sie ihn haben wollte. Sie sah aus den
Augenwinkeln, wie er von einem Bein aufs andere trat,
vielleicht war er wegen der Hunde ein wenig unruhig
geworden.
»Ich bin nicht sicher, ob mir diese Rechenaufgabe gefällt,
Buff«, flüsterte er.
Die Vampire warfen ihm einen Blick zu, einen einzigen
Blick, als wären sie ein Kollektiv oder ein Rudel Wölfe. Einer
von ihnen, dessen tätowierte Fledermausflügel sich um seinen
gesamten Glatzkopf schwangen, fuhr sich mit der Zunge über
die Lippen. Dann grinsten sie und wandten ihre
Aufmerksamkeit wieder Buffy zu. Ihre Gesichter verwandelten
sich gleichzeitig, Fangzähne traten aus den Mündern hervor,

47
Stirnfurchen und Augenbrauen ragten aus ihren Gesichtern,
und sie wurden zu Bestien.
»Keiner hat Lust auf Mathematik, Xander«, stieß Buffy
keuchend hervor. »Nur wir, weil wir gleich... subtrahieren
werden.«
Buffy setzte zum Sprung an.
Die Vampire rasten auf sie zu.
»Pass auf, dass sie dich nicht berühren!«, zischte sie Xander
zu.
Ein knurrender Laut drang tief aus ihrer Brust, in der rechten
Hand hielt sie die seitlich ausgerichtete Armbrust, und mit ihrer
linken Hand packte sie den Vampir vor sich am Hals und
drückte ihm die Luft ab. Mit ihrem ganzen Gewicht stemmte
sie sich auf ihn und verpasste dem Bulldoggen-Gesicht mit der
Nasenkette, der von der Seite angeschossen kam, einen harten
und schnellen Fußtritt gegen den Kiefer. Die Bulldogge krachte
rückwärts in die Vampirin mit dem Clown-Gesicht, und beide
gingen zu Boden. Buffy beugte sich wieder zu dem ersten
Vampir, der auf sie losgegangen war. Während der kurzen
Attacke von der Bulldogge hatte sie ihn nicht losgelassen,
sondern weiterhin gewürgt. Nun schleuderte Buffy ihn im
Kreis und warf ihn auf den Gehsteig. Das war ein Griff, den ihr
ihr erster Wächter, Merrick, beigebracht hatte, als sie fünfzehn
Jahre alt gewesen war. Das war eine ihrer ersten Lektionen als
Jägerin gewesen. Immer effektiv und überlegt vorgehen.
»Xander!«, brüllte sie.
Sie drehte sich um und wehrte den Glatzkopf ab, sah aber aus
den Augenwinkeln, wie Xander sich über den Vampir
hermachte, den sie auf die Straße geschleudert hatte. Der
Blutsauger schloss gerade Bekanntschaft mit einem Pflock.
Plötzlich fühlte sie sich ein wenig besser. Diese Vampire
waren schneller und stärker als alle, gegen die sie jemals
gekämpft hatte, und sie saugten den Menschen mit ihren
seltsamen phosphoreszierenden Augen die Energie aus... aber

48
wenn Xander es fertig brachte, sie zu pfählen und in Staub zu
verwandeln, waren sie dann wirklich so stark?
Bulldogge war wütend, dass man ihm den Hintern versohlt
hatte. Er befreite sich von der Vampirin mit dem Clown-
Gesicht, das heißt, er versuchte sich zu befreien. Ihr
Zusammenstoß hatte ihn wertvolle Zeit gekostet. Der
Kahlköpfige stürzte sich auf Buffy.
Sie hielt die Armbrust fest in beiden Händen und feuerte
einen Bolzen in das Herz des Vampirs, der daraufhin in einer
Staubwolke explodierte. Sie legte den nächsten Bolzen ein und
schwang die Armbrust in Richtung des Clown-Gesichts und
der Bulldogge, die beide einen Augenblick erstarrten und dann
zurück in den Club rannten. Buffy feuerte noch zwei Bolzen
ab, bevor die beiden die Tür des Kat Scratch hinter sich
zuknallten, und beide Bolzen trafen Bulldogge mit einem
feuchten, platschenden Geräusch in den Rücken. Er wurde
noch nicht einmal langsamer.
»Jedesmal geht das so«, sagte Xander, der nun neben sie trat.
»Sie sehen mich, kriegen eine Heidenangst und dann hauen sie
ab.«
»Du bist wirklich Angst einflößend«, bestätigte Buffy. »Echt.
Es muss an deinem Bowling-T-Shirt liegen.«
Empört schaute Xander auf sein blau-braun gemustertes T-
Shirt unter der Jacke. »Hey, das ist jetzt total in. Vielleicht
nicht jedermanns Geschmack, aber Mom kommt mit der
Wäsche nicht so schnell hinterher.«
»Ich dachte, deine Mutter hat aufgehört, sich um deine
Wäsche zu kümmern, als du in die Kellerwohnung gezogen
bist.«
Xander zog die Augenbrauen hoch. »Das erklärt allerdings
einiges.«
»Also«, sagte Buffy. »Vier minus zwei?«
»Gleich zwei. Sag, dass ich ein Ass in Mathe bin. Und was
nun?«

49
Buffy blickte zur Tür des Clubs. »Wir subtrahieren weiter.«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal gerne hören würde,
aber schließlich warten Live Girls auf uns. Los geht’s!«
Der Kat Scratch Club war in buntes, grelles Licht getaucht,
und die Musik war so laut, dass man sie nur noch als Krach
und wohl kaum noch als Rockmusik bezeichnen konnte.
Obwohl es ein Ort war, an dem man sich ganz dem
Alkoholgenuss und der käuflichen Liebe verschrieben hatte,
schien sich niemand wirklich zu amüsieren. Biker, Fischer und
Hafenarbeiter machten den Großteil der männlichen Gäste
dieses Lokals aus... und zugleich den Großteil der gesamten
Gäste. Es gab nur sehr wenige Frauen, die nicht auf der Bühne
tanzten oder an den Tischen bedienten, und Buffy dachte, dass
die meisten von ihnen entweder Prostituierte waren – oder
zumindest Frauen, die aussahen wie Prostituierte.
Als sie und Xander eintraten, hatte der Türsteher ihnen den
Rücken zugewandt, und er starrte zur Bühne, wo ein Mädchen
tanzte, das die Überreste der Uniform einer katholischen
Mädchenschule trug, die ihr mehrere Nummern zu klein war.
Die Theke zog sich an der gesamten Wand auf der linken Seite
hin, und auf der rechten Seite waren zwei Bühnen aufgebaut.
Dazwischen standen jede Menge Tische. Buffy kniff die Augen
zu, als eine grell leuchtende Discokugel sie streifte, und
versuchte, die Musik zu ignorieren. Die Vampire waren
nirgends zu sehen, und es gab auch kein Anzeichen dafür, dass
sie durch den Laden gestürmt waren.
»Plötzlich bekommt die Wendung ›Die-Nacht-mit-etwas-
verbringen‹ eine ganz neue Bedeutung«, meinte Xander, der
ziemlich beeindruckt war.
Der Türsteher hatte ihn gehört. Der bullige, bärtige Typ
drehte sich um, starrte sie an, bemerkte Buffys Armbrust und
blickte der Jägerin direkt ins Gesicht.
»Der einzige Weg hier hereinzukommen, Mädel, ist der über
die Bühne.«

50
»Nicht dass diese Idee nicht auch ihren Reiz hätte«, sagte
Xander zu dem Mann, »aber Sie hätten sich nicht so im Ton
vergreifen sollen.«
Der Türsteher schüttelte sich vor Lachen, und ein
gefährliches Blitzen leuchtete in seinen Augen auf, als er sich
nun Xander zuwandte. »So, du Wurm? Und warum nicht?«
Xander schenkte ihm sein charmantestes Lächeln.
»Hauptsächlich, weil ich annehme, dass Sie Ihre Zähne nicht
bei Lloyds versichert haben, hab ich Recht?«
In dem Moment, als der bullige Typ Xander an die Gurgel
gehen wollte, packte Buffy sein Handgelenk. Er zuckte vor
Schmerz zusammen, starrte sie überrascht an und versuchte,
sich ihr zu entziehen. Buffy ließ nicht locker. Widerstand war
zwecklos.
»Du wirst weder meinen Freund noch mich anrühren. Wir
sind hier nicht zum Spaß. Wir sind schneller wieder weg, als
du gucken kannst. Aber du hättest nicht versuchen sollen, ihm
wehzutun.«
»Du eingebildete, kleine...«, zischte der Türsteher, als es ihm
gelang, sich mit einem Fausthieb seiner linken Hand zu
befreien.
Buffy fing den Fausthieb mit ihrer Armbrust ab und stieß den
Mann hart zurück. Er stürzte auf den mit Bierlachen bedeckten
Holzboden und gab, bis auf ein leises Grunzen, keinen Ton
mehr von sich.
»Fünf Minuten. Dann verschwinden wir, als wären wir nie
dagewesen.«
Der Türsteher schluckte und rieb sich sein Handgelenk. Dann
nickte er langsam, stand auf und postierte sich wieder an der
Eingangstür. Ein ärgerliches Raunen ging durch den Club, und
zwei der Mädchen hatten aufgehört zu tanzen. Ein Biker-
Pärchen erhob sich und kam drohend auf sie zu.

51
»Hinsetzen«, befahl Buffy den beiden mit unbewegter Miene
und hob die Armbrust auf. Natürlich hätte sie nicht abgefeuert,
aber das wussten die beiden schließlich nicht.
Sie warfen dem Türsteher einen Blick zu und setzten sich
wieder hin.
»Los«, war Buffys einziger Kommentar, und dann arbeitete
sie sich durch die Tischreihen, vorbei an glotzenden,
muskelbepackten Arbeitern.
Xander murmelte etwas, als er ihr folgte, aber Buffy reagierte
nicht. Sie hatten mit dem Türsteher bereits zu viel Zeit
vergeudet. Die Vampire waren nirgends zu sehen. Das
bedeutete, dass sie entweder durch die Toiletten oder die
Hinterräume entwischt waren. Buffy überlegte, ob sie zu einer
Hintertür gerannt sein könnten, falls es überhaupt eine gab. Sie
ging auf eine schwere Holztür am Ende der Theke zu. Das
Licht war an dieser Stelle so schummrig, dass die meisten
Gäste die Tür wahrscheinlich nicht registriert hatten.
Die Musik dröhnte weiter aus den Boxen, und die
Tänzerinnen fuhren mit ihrem Programm fort. Bevor Buffy und
Xander die Tür erreicht hatten, waren alle wieder mit Trinken
oder den Mädchen beschäftigt. Buffy hielt die Armbrust
schussbereit, spannte ihre Muskeln an und machte sich wieder
auf einen Kampf gefasst.
»Xander, öffne die Tür.«
Xander eilte neben sie, beugte sich nach unten, drehte am
Knauf und stieß die Tür auf. Sein Gesichtsausdruck war jetzt
ganz ernst, keine Spur mehr von Heiterkeit. Buffy ging voran
und sah sich in dem Raum um, der anscheinend den
Tänzerinnen als Umkleide diente. Es wimmelte von Spinden
und Spiegeln, die in dem schwachen Licht allerdings kaum zu
erkennen waren. Trotzdem war es nicht so dunkel, dass sie sie
nicht gesehen hätte.

52
Bulldogge. Clown-Gesicht. Vier... nein fünf weitere. Wie
angewurzelt blieb Buffy in der Tür stehen und hinderte Xander
am Eintreten.
»Was ist los?«, fragte er ängstlich.
»Noch mehr Matheaufgaben.« Sie lehnte sich nach hinten
und reichte Xander einen Pflock. Dann tastete sie nach der Tür,
zog sie hinter sich zu und ließ ihn im Club zurück. Xander rief
nach ihr, doch Buffy brüllte zurück, er solle sich nicht von der
Stelle rühren.
Wenn im Club weitere Vampire waren, würden sie sich wohl
kaum zu erkennen geben. Und falls doch, dann hatte Xander ja
noch den Pflock. In der Zwischenzeit konnte sie arbeiten, ohne
ihren Freund ständig im Augenwinkel behalten zu müssen.
Die Vampire krochen fast geräuschlos durch den Raum, ja
sie schienen wie Schlangen durch die Dunkelheit zu gleiten.
Clown-Gesicht und Bulldogge hielten sich im Hintergrund,
während die anderen näher kamen. Ihre orange glühenden
Augen sahen in der Dunkelheit aus wie Kürbislaternen an
Halloween, und eingerahmt von den schwarzen Tattoos war
ihre Erscheinung mehr als Furcht einflößend.
Sie begannen, etwas zu singen, und setzten dabei gleichzeitig
ein, in einer Sprache, die Buffy nie zuvor gehört hatte. Es war
mehr ein Summen, so als würden sie sich selbst etwas
zuflüstern. Der Gesang ging Buffy unter die Haut, und sie hatte
das Gefühl, als strichen ihr gespenstische Finger über den
Rücken. Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Ihre Augen
flatterten, und ihre Lider wurden ganz schwer.
Gerade noch rechtzeitig schoss eine Welle von Zorn und
Adrenalin in ihr hoch, und sie schaffte es, die Müdigkeit
abzuschütteln.
»Denkt ihr etwa, ihr kriegt mich so leicht?«, fragte sie
verächtlich.
Xander rief wieder nach ihr und drückte die Tür auf. Mit
einer einzigen, blitzschnellen Bewegung drehte Buffy sich um,

53
schob ihn wieder in den Club und knallte die Tür zu. Dann
wandte sie sich wieder den Vampiren zu, die sie mittlerweile
umzingelt hatten.
Ihre Finger spannten sich um den Abzug der Armbrust. Ein
Bolzen schoss davon und bohrte sich in das Herz eines
Vampirs in ihrer unmittelbaren Nähe – er explodierte in einer
Wolke aus glühender Asche. Innerhalb von Sekunden feuerte
sie einen weiteren Bolzen ab, aber einer der Vampire, dessen
Tattoo von einer hellen Narbe durchzogen war, packte sie am
Hals und strich sich mit seiner langen Zunge über die
Fangzähne. Krallen griffen nach ihr. Auf keinen Fall durfte sie
zulassen, dass einer sie erwischte und festhielt. Mit der
Rückhand stieß sie ihrem Angreifer die linke Faust gegen den
Kiefer und erwischte seine Zunge. Er brüllte vor Schmerz auf
und taumelte orientierungslos zurück, wodurch Buffy
genügend Freiraum erhielt, auf einen Dritten zu zielen und
abzufeuern. Die Augen des Vampirs weiteten sich, als der
Bolzen durch seine Brust schoss und dann sein Herz
durchbohrte. Eine Sekunde später hatte er sich in Staub
verwandelt.
»Ihr seid zu still«, tadelte Buffy die übrig gebliebenen
Blutsauger. »Verhaltet euch nicht wie Vampire. Lasst uns ein
bisschen Bewegung in die Sache bringen. Typen wie ihr sind
doch sonst ganz scharf darauf, Sprüche zu reißen.«
Schweigen. Fünf waren noch übrig, doch Buffy entging
nicht, wie Clown-Gesicht Bulldogge am Arm festhielt, als die
drei anderen auf sie zukamen und sie in die Ecke drängen
wollten. Buffy hatte nur noch einen Bolzen in der Armbrust.
Sie hob die Waffe – und plötzlich griffen alle gleichzeitig an.
Dieses Mal war sie nicht schnell genug. Die Armbrust wurde
ihr mit einem so harten Hieb entwendet, dass ihre rechte Hand
ganz taub war.
»Hey!«, schrie sie überrascht auf.

54
Einer der Vampire schubste die anderen beiseite, begierig
darauf, Buffy anzugreifen. Er legte seine Krallen um ihren Hals
und drückte ihr die Luft ab, sodass sie keinen Ton mehr von
sich geben konnte. Anschließend schleuderte das Biest sie
gegen einen Spiegel und provozierte dadurch einen wahren
Glasscherbenhagel, der sich quer über den Boden verteilte.
Buffy drückte ihren Fuß gegen die Wand, um sich
abzustützen und knallte ihren Kopf so fest sie konnte gegen
seinen. Sie verfehlte ihr Ziel nur knapp, und ihr Schädel
krachte gegen sein Nasenbein. Sie hörte, wie Knochen
zersplitterten und sah, wie Blut spritzte.
»Diese Armbrust«, knurrte sie, »war eine Antiquität. Giles
wird nicht sehr glücklich sein, wenn er davon erfährt.
Wahrscheinlich wird er sogar stinksauer sein.«
Einer der anderen Vampire kam von links auf sie zu. Buffy
duckte sich, holte weit aus und verpasste seiner Brust einen
Hieb, der ihn fast niederwarf.
Schon langte noch ein Fledermaus-Gesicht nach ihr, aber
Buffy war schneller. Binnen einer Sekunde zog sie einen
Pflock aus dem Rückenhalfter, wirbelte herum und bohrte ihn
in seine Brust. Unterdessen stürmte der Vampir mit der Narbe
im Gesicht und der gebrochenen, zu Brei geschlagenen Nase
durch die Staubwolke seines toten Kameraden auf sie zu. Buffy
schwang ihre rechte Faust zu einem Hieb, der es in sich hatte,
und er fiel hart auf den Boden.
Danach bewegte sich Buffy wie eine Tänzerin in einer
einzigen, ineinander verschmolzenen Bewegung. Einem
wirbelnden Faustschlag ins Gesicht ihres verbliebenen
Angreifers folgte ein gewaltiger Stich mit dem Pfahl, und noch
mehr Staub wirbelte durch den Raum. Sie begab sich auf den
Boden und hielt den Pflock über das Herz des Narbengesichts,
befand sich Auge in Auge mit dem Vampir. Er atmete
keuchend und stank nach altem Blut.
Buffy verwandelte ihn in Staub.

55
Im nächsten Moment war sie wieder auf den Beinen. Sie
drehte sich, alle Muskeln ihres Körpers waren angespannt, und
sie war bereit und kampfwillig. Mit ein bisschen Glück konnte
sie ihnen ein paar Antworten entlocken. Den letzten
Überlebenden wollte sie verhören. Aber sie hatte nicht damit
gerechnet, dass sie abhauen würden. Die letzten beiden, die sie
Clown-Gesicht und Bulldogge nannte, waren fort – die weit
geöffnete Hintertür des Clubs, durch die man bis nach draußen
in die Nacht sehen konnte, zeugte davon. Ein halbes Dutzend
dummer Sprüche, die sie ihnen noch hinterherbrüllen wollte,
gingen ihr durch den Kopf, aber sie schwieg. Es kam häufig
vor, dass Vampire vor ihr flüchteten, aber in diesem Fall war es
etwas anderes. Ihr war klar, dass die beiden keineswegs aus
Angst geflüchtet waren, sondern dass es sich eher um so etwas
wie einen strategischen Rückzug handelte. Dieser Gedanke
beunruhigte sie zutiefst. Vampire waren ein streitsüchtiger
Haufen, und sie kamen selten so gut miteinander aus, dass sie
Allianzen bildeten, von Familien oder kleinen Horden einmal
abgesehen. Nur ein absolut charismatischer und mächtiger
Vampir war in der Lage, die anderen zu unterwerfen.
Wer auch immer dieser Camazotz war, er hatte seine
Anhänger gut trainiert.
Mit diesen finsteren Gedanken öffnete sie die Tür, die in den
Club führte. Xander lehnte links von ihr an der Wand und
starrte die zwei Tänzerinnen auf der Bühne an. Es dauerte fast
zehn Sekunden, bis er bemerkte, dass Buffy neben ihm stand
und ihn musterte.
»Hi. Ich habe die ganze Zeit aufgepasst, dass dich niemand
stört«, sagte er nervös.
»Mein Held.« Buffy zog die Augenbrauen hoch.
Xander wich ein Stück zurück. »Du hast mich rausgeschubst.
Hast mir die Tür nicht nur einmal, sondern sogar zweimal vor
die Nase geknallt. Ich dachte mir, da drinnen hätte ich nur als
Kanonenfutter getaugt, also bin ich draußen geblieben. Ich

56
habe mir dann gesagt, dass du bestimmt gerufen hättest, wenn
meine Hilfe nötig gewesen wäre.«
»Ja, das hätte ich«, stimmte Buffy zu. Dann grinste sie. »Ob
du mich allerdings gehört hättest, steht auf einem ganz anderen
Blatt.«
»Was?«, wollte Xander wissen. Sein Blick schweifte zur
Bühne. »Oh, die meinst du? Hab sie kaum eines Blickes
gewürdigt. Ich hab dir den Rücken freigehalten. Du wirst doch
Anya erzählen, du hättest mich hier hineingeschleift, ja?«
Buffy suchte sich ihren Weg durch die Tische und den
Zigarettenqualm zum Ausgang des Kat Scratch Clubs. Keiner
der Gäste schaute auf.
Xander folgte ihr. »Buffy? Das wirst du ihr doch sagen,
oder?«

57
4
Das schrille Klingeln des Weckers riss Buffy um kurz nach
sieben am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Sie öffnete ein
Auge und starrte den Wecker so hasserfüllt an, wie sie es sonst
nur bei handfesten Dämonen tat. Doch da sie ihn mit bloßem
Anstarren schließlich nicht zum Schweigen bringen konnte,
setzte sie sich im Bett auf und schaltete ihn aus. Ihre Augen
waren zu schläfrigen Schlitzen verengt.
»Ich hasse Montage«, murmelte sie heiser. Natürlich war es
überhaupt nicht Montag. Aber der Tag begann wie einer.
Sie runzelte die Stirn und schaute sich im Zimmer um.
Willows Bett war schon gemacht oder, besser gesagt,
unbenutzt. Ihre Zimmergenossin war letzte Nacht nicht nach
Hause gekommen. Daran war im Prinzip nichts
Ungewöhnliches, Willow verbrachte die Nacht öfter bei Oz,
aber Buffy hatte das Gefühl, dass das Fernbleiben ihrer besten
Freundin etwas mit ihrem gestrigen Streit zu tun hatte. Sie
wollte schon bei Oz anrufen, aber dafür war es noch zu früh.
Zwar war Willow wahrscheinlich schon aufgestanden, aber bei
Oz konnte man das nie so genau wissen. Mal stand er morgens
auf und ging in alle Kurse am College, und dann wieder blieb
er bis mittags in den Federn.
»Nein«, sagte sie sich streng. »Keine negativen Gedanken.«
Sie war entschlossen, den Tag gut gelaunt zu beginnen. Mit
diesem Vorsatz stand sie auf und schaute aus dem Fenster. Der
Himmel war grau und bedeckt, würde sich jedoch mit
Sicherheit auflockern. Es war bereits Herbst, aber wohlgemerkt
in Südkalifornien. Schlechtes Wetter kam vor, aber so selten,
dass keiner darüber nachdachte, bis es irgendeinen Schaden
anrichtete. Hinterher stritten dann alle darüber, ob es am
schlechten Wetter gelegen hätte. Genau auf dieselbe Art und

58
Weise verfuhren die Menschen in Sunnydale mit dem
Übernatürlichen.
»Keine negativen Gedanken«, wiederholte Buffy.
Sie summte eine Melodie aus einem Lied vor sich hin, das
die Dingoes immer im Bronze spielten, kramte ihre Sachen
zusammen und ging den Flur hinunter, um zu duschen.
Eine Viertelstunde später stand Buffy wieder in ihrem
Zimmer. Ihre Gedanken kreisten um den gestrigen Kampf im
Kat Scratch Club, um die Tätowierungen, den gespenstischen
Gesang der Vampire, ihre sonderbaren Augen und ihre
Arroganz. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, es änderte
nichts daran, dass diese Kreaturen ihr mächtig Angst einjagten
und sie zudem noch aus dem Konzept brachten.
Giles hatte versprochen, Informationen über Camazotz zu
sammeln, und sie wusste, dass er sich für gewöhnlich so
schnell wie möglich an die Arbeit machte. Aber da Olivia zu
Besuch war, würde das nicht so einfach sein. Nach der
ereignisreichen letzten Nacht war Buffy in Versuchung, ihrem
ehemaligen Wächter einen Besuch abzustatten, aber die
Gefahr, in ein romantisches Tête-à-tête zu platzen, hielt sie
davon ab. Giles’ Liebesleben zu stören war das Letzte, was sie
wollte, und sich vorzustellen, da mitten rein zu marschieren,
während...
Sie erschauderte. Dieser Gedanke war fast noch grauenhafter
als die Fledermaus-Gesichter.
Buffy bedachte ihren Feind, den Wecker, mit einem Blick.
Es war erst kurz nach halb acht, noch massig Zeit also, und der
Drang, Willow anzurufen und all die Dinge aus der Welt zu
räumen, die unbedingt aus der Welt geräumt werden mussten,
wurde immer stärker.
Oz hob ab. »Ja?«, flüsterte er heiser.
»Hallo Oz. Entschuldigung, dass ich so früh anrufe. Ist
Willow schon auf?«
»Moment.«

59
Ein gedämpftes Murmeln am anderen Ende, dann ging
Willow an den Apparat.
»Hallo.«
»Hi. Tut mir Leid, wenn ich euch störe.«
»Du störst nicht«, sagte Willow gut gelaunt. »Jedenfalls nicht
mich. Aber ich bin ja auch nicht so ein Morgenmuffel wie eine
ganz bestimmte Person. Was gibt’s?«
Buffy stockte. Jetzt kamen ihr Bedenken, ob es ungeschickt
wäre, direkt mit ihrem Streit ins Haus zu fallen, aber einfach
nur zu sagen, dass sie aus keinem bestimmten Grund anrufen
würde, war auch nicht viel besser.
»Buffy? Geht’s dir gut?«
»Ja«, antwortete Buffy schnell. »Keine Morgenmuffel hier.
Hör mal, eine interessante, neue Spezies treibt hier ihr
Unwesen, und ich wollte heute Nachmittag mal bei Giles
vorbeischauen und besprechen, was wir tun können. Hast du
Lust mitzukommen?«
»Mmm«, antwortete Willow, und es schien, als würde sie
abgelenkt.
Buffy versuchte, nicht neidisch auf ihre beste Freundin zu
sein, die einen Freund hatte, der es liebte, sie abzulenken.
»Treffen wir uns in Giles Wohnung, ja?«
»Einverstanden. Aber jetzt muss ich auch los. Ich muss noch
ein bisschen lernen, ich habe ja heute die Geschichtsklausur.
Danach muss ich mich an das Thesenpapier für Professor
Blaylock setzen. Heute fange ich bei neunzig Punkten an.«
»Tritt ihnen in den Arsch«, riet Willow. »Du weißt schon,
wie ich das meine.«
Sie verabschiedeten sich voneinander und legten auf. Als
Buffy das Schlafzimmer verließ, strahlte sie übers ganze
Gesicht. Willows Freundschaft war ihr wichtiger als alles
andere, und Buffy hatte keine Ahnung, was sie tun würde,
wenn Willow eines Tages vielleicht nicht mehr genauso dachte
wie sie.

60
Oz saß im Schneidersitz auf dem Boden von Giles’ Wohnung
und beförderte alte Schätze aus dessen Plattensammlung ans
Tageslicht. Olivia, die Willow erst ein- oder zweimal gesehen
hatte, und die Giles sehr viel bedeutete, saß auf einem
gepolsterten Stuhl und erging sich in Begeisterungsschreien
über ein paar Scheiben, die Oz hervorkramte. Nebenbei gab sie
ein paar peinliche Anekdoten über Giles in seiner Jugend zum
Besten.
Sie war in der Tat eine sehr schöne Frau, und ihr britischer
Akzent trug zu ihrer eleganten Erscheinung bei. Willow hatte
ein schlechtes Gewissen, dass sie die beiden gestört hatten.
»Sind Sie sicher, dass das in Ordnung ist?«, sagte sie mit
leiser Stimme.
Giles saß am Esstisch, als die beiden auf einen Stapel
Zauberbücher stießen, von denen die meisten in spanischer
Sprache geschrieben waren. Ein paar der Bücher waren sogar
älter als die antiken Ausgaben, die Willow erst kürzlich in
seiner Sammlung gesehen hatte.
»Giles?«
Er blinzelte ein paar Mal und sah Willow dann an, als wäre
er gerade aus einer Hypnose erwacht. »Entschuldigung,
Willow, was hast du gesagt? Hast du was gefunden?«
»Nein, noch nicht. Ich wollte... ich weiß, dass Sie und Olivia
sich nicht so oft sehen, und sie kann ja auch nicht lange
bleiben. Sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht, dass
wir uns heute hier treffen?«
Giles nahm seine Brille ab und lächelte sie freundlich an. »Es
ist sehr lieb von dir, dass du dir darüber Gedanken machst. Die
Antwort ist natürlich nein. Natürlich kommt mir das Treffen
nicht gerade gelegen. Aber mir ist auch klar, dass durch diese
Neuankömmlinge viele Menschen in Gefahr sind, und ein paar
Nachforschungen sind das Mindeste, was ich für Buffy tun
kann, um sie bei ihrem Kampf zu unterstützen. Sie meint

61
vielleicht, sie wäre unsichtbar und unbesiegbar, aber solange da
draußen Dämonen rumlaufen, die eine Bedrohung für die
Menschen darstellen, müssen wir ihr zur Seite stehen.«
Er warf einen Blick über die Schulter, als Olivia gerade
angesichts einer bestimmten Schallplatte lachte. Oz flüsterte ihr
etwas zu. Bestimmt etwas Ironisches, dachte Willow, typisch
Oz.
»Oz scheint Olivia gut zu unterhalten«, versicherte Giles ihr.
»Aber wie er das anstellt, ohne seine Regel zu brechen, nicht
mehr als zwölf Wörter die Stunde von sich zu geben, ist mir
ein Rätsel.«
»Er ist ein guter Zuhörer«, erwiderte Willow und rang sich
ein mühsames Lächeln ab. Jedesmal, wenn sie das Gesicht
verzog, schmerzte der Bluterguss, den Buffy ihr am Morgen
zuvor zugefügt hatte, so sehr, dass sie fast an die Decke ging.
Die Abdeckcreme, die sie darüber gestrichen hatte, verdeckte
ihn zwar, aber änderte natürlich nichts an den Schmerzen.
»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, fragte sie Giles.
»Ja, sogar schon eine ganze Menge.« Er zog zwei Bücher aus
dem Stapel. »Ich wollte es aber erst erzählen, wenn Buffy da
ist, damit ich es nicht zweimal erklären muss.«
Willow machte sich Sorgen, wo Buffy nur steckte. Am
Morgen hatten sie ausgemacht, dass sie sich nach dem College
alle bei Giles treffen würden. Willow wusste ganz sicher, dass
Buffys letzter Kurs um kurz vor drei aus war. Jetzt war es
schon fast vier Uhr, und Buffy war noch immer nicht da.
»Ich habe eigentlich schon viel früher mit ihr gerechnet«,
fügte Giles hinzu.
Das beunruhigte Willow nur noch mehr. »Ich hoffe, ihr ist
nichts...«
Ein Klopfen unterbrach sie. Willow stand auf und ging zur
Tür, und Giles griff nach einem Buch, das er beiseite gelegt
hatte. Oz und Olivia, absolut vertieft in die Plattensammlung,

62
wollten gerade eines der frühen Rolling Stones-Alben auflegen,
hielten aber ebenfalls inne und blickten zum Eingang.
Willow öffnete die Tür, und Buffy stand vor ihr.
»Hi!«, begrüßte sie ihre Freundin. »Da bist du ja.«
»Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Es ist wegen diesem
Thesenpapier für Professor Blaylock. Ich dachte, es würde mir
leicht fallen, das schnell runterzuschreiben, aber langsam
kommt es mir so vor, als müsste ich bei null anfangen. Vor
Montag werde ich es auf keinen Fall fertig bekommen, und das
ist der Tag, den ich fälschlicherweise zuerst für den Abgabetag
gehalten habe. Jetzt fange ich bei siebzig Punkten an. Ich muss
es irgendwie hinkriegen. Und dann bin ich heute Nachmittag
zufällig Aaron Levine, einem Typen aus meinem
Geschichtskurs, über den Weg gelaufen. Wir haben uns über
die Geschichtsklausur von heute Morgen unterhalten, von der
ich eigentlich angenommen hatte, dass ich sie nicht so schlecht
geschrieben habe. So wie es aussieht, ist das Ganze wohl doch
nicht so gut gelaufen. Ich habe ein paar Königsfamilien
miteinander verwechselt, und bei einer der Aufgaben, bei der
es viele Punkte gab, habe ich kompletten Mist geschrieben. Ich
weiß einfach nicht, was im Moment mit mir los ist.«
Willow runzelte die Stirn, zwang sich aber, Buffy
anzulächeln. »Soll ich dir mal was sagen? Du hast zu viel
Stress. Vielleicht geht es dir besser, wenn du nach Hause gehst
und mit deinem Thesenpapier weitermachst. Wir kümmern uns
dann eine Weile allein um die Dämonen. Und wenn es dir
wieder besser geht...«
»Ich komme auch jetzt mit allem ganz gut klar«, fuhr Buffy
sie an.
Überrascht trat Willow einen Schritt zurück. Was hatte sie
denn jetzt schon wieder Falsches gesagt? Sie blickte sich um
und sah, dass jeder Buffy anstarrte.
»Außer vielleicht mit deiner momentanen Laune«, schalt
Giles sie.

63
Buffy sah aus, als wollte sie etwas zu ihrer Verteidigung
hervorbringen, aber dann wurde ihr Gesichtsausdruck sanft.
Zerknirscht blickte sie Willow an.
»Tut mir Leid, Will. Vielleicht bin ich ein bisschen
empfindlich im Moment, liegt vermutlich an dem ganzen
Ärger, den ich zur Zeit am Hals habe. Es ist lieb, dass du dir
Sorgen um mich machst, aber ich komme wirklich damit klar.
Ich muss damit klarkommen.«
»Du solltest nicht so schnell eingeschnappt sein«, antwortete
Willow, die immer noch ein bisschen beleidigt war.
Buffy legte eine Hand auf ihre Schulter. Willow sah in ihren
Augen, dass sie es bedauerte, gleichzeitig aber total unter
Strom stand, und sie wünschte, sie könnte mehr tun, um ihr zu
helfen.
»Hey. Ist jetzt wieder alles in Ordnung?«, wollte Buffy
wissen.
»Ja, ja, schon okay.« Willow nickte eifrig. »Und ich werde
auch nicht nachtragend sein.«
»Prima«, entgegnete Buffy glücklich. »Ich werde mir Mühe
geben. Und die schlechte Laune in Zukunft zu Hause lassen.«
»Keine schlechte Laune mehr«, versprach auch Willow.
Giles erhob sich, als Buffy die Wohnung betrat.
»Entschuldigung für den lustus interruptus«, sagte Buffy und
warf Olivia einen bedeutungsvollen Blick zu. Olivia lächelte
und winkte ohne eine Spur von Verlegenheit ab.
Warum sollte sie auch verlegen sein?, dachte Willow. Es ist
ja nicht ihre Wohnung, sie sind beide erwachsen, und die
Eindringlinge sind ja schließlich wir. Andererseits, wäre
Willow an ihrer Stelle gewesen, wäre sie sicher vor Scham rot
angelaufen und hätte kein einziges vernünftiges Wort mehr
herausbringen können.
»Nun, wir sollten uns jetzt mit dem rituellen Massenmord
beschäftigen, der in gewisser Weise alles andere in den
Schatten stellt«, verkündete Giles.

64
Buffy sah Willow von der Seite an. »Weißt du, es ist genau
dieses ›Massen‹, was mich so stutzen lässt. Ich hasse
ehrgeizige Vampire. Warum sind sie so machtbesessen, und
warum verhalten sie sich dermaßen anders als die übrigen
Vampire?«
Aus der Ecke erklang nun Oz’ Stimme. Er legte gerade eine
Platte auf und sprach, ohne von dem antiken Grammophon
aufzusehen. »Jeder sollte seine Träume haben.«
Giles räusperte sich. »Tja, unser Timing ist mal wieder
perfekt, Buffy, so wie immer. Ich glaube, wir haben gefunden,
wonach wir gesucht haben.«
»Wir wollten nur noch auf dich warten«, fügte Willow hinzu.
»Giles wollte sich nicht wiederholen.«
»Entschuldigt bitte, dass ich euch so lange habe warten
lassen.«
Giles hielt abwehrend eine Hand hoch. »Kein Problem.
Können wir jetzt anfangen, bitte?«
Willow und Buffy nahmen nebeneinander auf dem Sofa
Platz. Oz stellte den Plattenspieler leiser und kam zu ihnen
herüber. Olivia starrte sie kurz an, dann verdrehte sie amüsiert
die Augen und stieg die Treppe hoch ins Dachgeschoss.
Giles sah ihr verlegen nach und zuckte die Achseln. »Olivia
ist eine Skeptikerin«, flüsterte er ihnen zu. »Ich glaube, sie hält
uns alle für verrückt.«
»Sie sollte mal für längere Zeit in Sunnydale bleiben«,
erwiderte Buffy. »Dann würde sie sehr schnell merken, dass
wir alles andere als verrückt sind.«
Oz machte es sich auf einem alten Stuhl bequem. Giles stand
vor ihnen und lehnte am Esstisch. Er hielt ein abgenutztes, in
Leder gebundenes Buch in der Hand.
»Alle Legenden, die ich gefunden habe, besagen, dass
Camazotz kein Vampir, sondern ein Gott war«, begann Giles.
»Oh, heidnische Götter. Haben wir nicht schon einmal
welche gejagt?«, fragte Willow aufgeregt.

65
Oz lächelte sie an und streichelte ihre Wange. »Nicht die
großen Gottheiten.«
»Keiner der Hausgötter heißt Camazotz!«, warf Buffy ein.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine große Gottheit ist.«
»Ganz im Gegenteil«, konterte Giles. Er schlug das Buch auf
und blätterte darin, bis er die gesuchte Seite ziemlich am Ende
gefunden hatte. Papier raschelte. Willow erkannte sofort, was
er ihnen zeigen wollte. Eine Zeichnung auf der unteren linken
Seite zeigte eine abscheuliche Kreatur, die aussah wie eine
Kreuzung aus Mensch und Fledermaus und zudem so groß war
wie ein Riese. Anstatt eines Fells besaß sie Stacheln und war
mit spitzen Ohren, langen, scharfen Fangzähnen und geäderten
Flügeln ausgestattet. Sie hatte noch ein Dutzend kleinerer
Gliedmaßen, die aus der Brust ragten, jedes einzelne mit
eigenen Krallen besetzt, und einen dicken rattenähnlichen
Schwanz, an dessen Ende ein messerscharfer Dorn saß.
»Bei den alten Mayas«, fuhr Giles fort, »war Camazotz der
Gott der Fledermäuse. Er war mit der Göttin der Finsternis,
Zotzilaha Chimalman, verheiratet und lebte angeblich in einem
alten, grabähnlichen Kellergewölbe, das zum Reich der
Finsternis und des Todes führte. Übersetzt bedeutet der Name
seiner Höhle einfach ›Haus der Fledermäusen‹.«
Unruhig rutschte Buffy auf dem Sofa hin und her. »Also
haben wir es mit Dämonen zu tun. Ein Gewölbe, das zum
Reich des Todes führt, hört sich für mich sehr nach
Höllenschlund an.«
Giles legte das abgewetzte Buch auf dem Esstisch ab. Dann
nahm er ein anderes in die Hand, eine kleinere Ausgabe
diesmal als die erste und offensichtlich auch eine neuere, doch
auch diesem Buch waren seine Jahre anzusehen. Als er es
aufschlug, konnte Willow sehen, dass es von Hand geschrieben
war, und ihr war klar, dass Giles eine der gebundenen
Aufzeichnungen in den Händen hielt, die der Rat der Wächter
seit Jahrhunderten aufbewahrte.

66
»Hat der Rat Ihnen erlaubt, es zu behalten?«, fragte sie, ohne
nachzudenken.
»Hmm?« Giles blickte auf und runzelte die Stirn.
Willow wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Giles war
vom Rat der Wächter abgesetzt worden, da man der Meinung
gewesen war, seine Beziehung zu Buffy sei zu emotional
geworden, zu intensiv, als dass er noch ein rationaler,
überlegener Wächter hätte sein können. Er war sehr wütend
gewesen und schien froh darüber, den Kontakt mit dem Rat
abbrechen zu können, aber Willow vermutete, dass die
Geschichte immer noch ein wunder Punkt für ihn war. Und
jetzt hatte sie alte Wunden aufgerissen.
»Die Aufzeichnungen«, wiederholte sie. »Ich dachte, Sie
hätten Sie nach Ihrem, ähm, Ausscheiden dem Rat der Wächter
zurückgeben müssen.«
»Ach so, ja. Die meisten von den handgeschriebenen
Exemplaren hat Wesley konfisziert. Ich durfte nur die behalten,
die keine Originale waren, und diese eine Aufzeichnung hier.
Meine Großmutter hat sie verfasst, sie hat diese Geschichten
selbst von Hand aufgeschrieben. Sie hat alle Vampirlegenden
und Mythen, von denen sie im Lauf der Jahre gehört hat,
gesammelt und katalogisiert. Ich dachte, ich hätte in einer ihrer
Geschichten mal etwas über die Mayas gelesen. Wenn die
Legenden, die man ihr erzählt hat, stimmen, dann ist Camazotz
ein Abkömmling eines richtigen Dämons, eines der ersten, die
auf Erden wandelten, und eines Gottes. Was ›Gott‹ in diesem
Zusammenhang bedeutet, ist unklar, da meines Wissens nach
noch nie jemand von der Begegnung mit einem Gott berichtet
hat.
Mir erscheint wichtig festzuhalten, dass Camazotz eine
Kreatur ist, die schon seit Jahrhunderten existiert. Mit
Sicherheit ist er kein Vampir, versteht ihr, sondern einer
Theorie nach, die meine Großmutter entwickelt hat, war

67
Camazotz der Dämon, der verantwortlich war für die
Erschaffung der Vampire.«
Buffy rutschte an den Rand des Sofas und starrte ihn an.
»Wissen wir, ob das stimmt?«
»Leider haben wir keine Möglichkeit, es zu überprüfen«,
entgegnete Giles. »Ich bin auch auf nichts gestoßen, was einen
Hinweis darauf gegeben hätte, dass seine Anhänger größere
Kräfte besitzen als herkömmliche Vampire.«
»Der Gott der Fledermäuse. Was bedeuten dann die
Tätowierungen auf ihren Gesichtern? Sind sie so etwas wie
sein persönliches Markenzeichen?«
»Vielleicht hat das etwas mit der Höhle zu tun«, meinte
Willow. »Okay, nehmen wir mal an, dass dieser finstere und
ungemütliche Ort wirklich existiert hat – dann ist es auch nicht
schwer sich vorzustellen, dass es dort von Fledermäusen nur so
wimmelte.« Sie nickte bedächtig. »Vielleicht hat er sie mit
einem Zauber oder einem Trick angelockt und gefügig
gemacht, der Gott der Fledermäuse. Und dann hat er sie als
seine Lakaien mit einer Tätowierung gekennzeichnet.«
»Oder es ist eine Art Brandzeichen. Wie beim Vieh. Man
brandmarkt seinen Besitz.«
Giles schien kurz darüber nachzudenken, dann hielt er die
Aufzeichnungen seiner Großmutter hoch. »Das Einzige in den
Aufzeichnungen, dass auf die Legenden der Mayas hinweist,
ist, dass Camazotz als Fürst der Legionen der Finsternis
bezeichnet wird, als Herrscher über die Kreaturen der Nacht.
Als Gegner ist er einzigartig.«
»Ist das alles? Steht dort nichts über seine Lakaien?«, fragte
Buffy enttäuscht. »Glühende Augen, Aussaugen menschlicher
Energie? Nichts?«
»Mehr haben wir im Moment nicht, fürchte ich«, seufzte
Giles. »Vielleicht war das Aussaugen nur ein Einzelfall, eine
Fähigkeit, die nur dieser eine Vampir besaß, aber das werden
wir schon noch herausfinden. Buffy, warum gehst du nicht...«

68
»Ich werde heute Nacht wieder auf Patrouille gehen. Und ich
werde versuchen, einen von ihnen zu fassen zu kriegen. Mit
ihren Tätowierungen sind sie ja kaum zu übersehen. Ich könnte
auch bei Willy vorbeischauen, vielleicht hat er ja irgendetwas
gehört, das uns weiterhelfen könnte.«
Buffy stand auf, schwang die Jacke über ihre Schulter und
ging zur Tür. Die ganze Zeit über war sie recht entspannt
gewesen und hatte sogar Witze gemacht. Aber Willow entging
die plötzliche Veränderung nicht, die in ihr vorgegangen war.
Sie hatte jetzt wieder diesen entschlossenen, ernsten
Gesichtsausdruck und schien nur allzu bereit, allein gegen die
Mächte der Finsternis anzutreten.
»Will, könntest du Xander anrufen und ihn und Anya bitten
vorbeizukommen? Giles kann sie kurz einweisen. Falls Anya
noch irgendwelche Kontakte zu Dämonen hat, und sie bereit
wäre, mit ihnen zu sprechen, könnte sie sich etwas umhören
und so vielleicht etwas herausfinden. Falls nicht, wäre es ganz
gut, wenn ihr versucht, in Erfahrung zu bringen, wie die
Vampire hierher gekommen sind und wo sie sich tagsüber
versteckt halten. Vielleicht findet ihr Hinweise in der Zeitung,
in den Passagierlisten der Fluggesellschaften und den
Schifffahrtsbüros. Es sind ziemlich viele Vampire auf einmal
gekommen, die können sich nicht in einem Mauseloch
verstecken. Ich wette, irgendwo hier in Sunnydale hat
Camazotz seine ganz private Version vom ›Haus der
Fledermäuse‹. Das ist ein weiterer Punkt, den wir überprüfen
müssen. Wo würde man hier auf Fledermäuse stoßen?«
Während Buffy sprach, weiteten sich Willows Augen, und
Panik und Hilflosigkeit sprachen aus ihnen. Sie schluckte. »Oz
und ich gehen bei Xander vorbei. Giles hat seine Schuldigkeit
für heute getan, würde ich sagen.«
Buffy blickte hoch zum Dachgeschoss, wohin Olivia sich
verzogen hatte. »Ja, natürlich!«, gab sie zur Antwort. »Du hast
absolut Recht. Giles hat genug getan, und bis Morgen früh

69
machen wir allein weiter. Das werden wir schon hinkriegen.
Wirklich. Wir kommen dann morgen vorbei.«
Giles war damit beschäftigt, die Bücher auf seinem Tisch zu
ordnen, und Willow und Oz folgten Buffy. Gemeinsam
verließen sie die Wohnung.
Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatten, blieben sie
stehen und sahen sich gegenseitig an.
»Bist du sicher, dass du allein auf Patrouille gehen willst?«,
wollte Willow wissen.
Buffy schüttelte den Kopf. »Ich gehe allein, und ich mache
auch nur den üblichen Rundgang und kontrolliere kurz die
Bereiche, wo ich vorher schon mal auf sie gestoßen bin, das
war’s. Dann werde ich nach Hause gehen und versuchen, mich
noch ein bisschen an mein Thesenpapier zu setzen und den
Gedanken an die Geschichtsklausur, die ich so jämmerlich in
den Sand gesetzt habe, zu verdrängen.«
Willow hätte Buffy gerne ihre Hilfe angeboten, aber Buffy
war in den letzten Tagen so überreizt und genervt gewesen,
dass sie sich kaum traute. Und doch musste sie es zumindest
versuchen.
»Hey, ich weiß, dass du versessen darauf bist, alles allein auf
die Reihe zu kriegen, aber jeder braucht mal Hilfe, oder? Wir
könnten die anderen zusammentrommeln und heute Nacht für
dich den Ersatzmann spielen, und du hättest dann genug Zeit
für dein Thesenpapier. Du würdest damit zehn Punkte
reinholen. Und es ist ja auch nicht so, als würden wir zum
ersten Mal für dich einspringen.«
Buffy seufzte frustriert. »Okay, mir ist das ja alles klar. Und
es ist auch nicht so, dass ich es nicht zu schätzen wüsste. Aber
ich find’s nicht richtig, wenn ihr das tut. Ihr tragt keine
Verantwortung, sondern ich ganz allein. Ich kann mir nicht
ständig von euch helfen lassen. Wenn ich mehr sein will als nur
Buffy die Jägerin, dann muss ich es selbst tun, ich muss selbst

70
herausfinden, ob ich in der Lage bin, das alles miteinander zu
vereinbaren.«
Oz sagte nichts, sah ihnen nur schweigend zu. Willow warf
Buffy einen flehenden Blick zu.
»Deine Freunde sind auch ein Teil dieses Lebens, Buffy.«
Buffy öffnete den Mund und starrte sie an. Sie zog eine
Grimasse, und es war offensichtlich, dass diese Bemerkung sie
verletzt hatte. Dann seufzte sie, und ihr Gesichtsausdruck
wurde hart.
»Du verstehst mich nicht, Will. Aber das ist schon in
Ordnung, wirklich. Wie sollte das auch jemand verstehen
können?«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging davon.
Willow blickte ihrer besten Freundin nach, wie sie in der
Dunkelheit verschwand, und sie hoffte, Buffy würde sich noch
einmal umdrehen und einsehen, dass sie es allein nicht schaffen
würde.
Willow wollte sie schon zurückrufen, aber Oz legte ihr seine
Hand auf den Arm.
»Lass sie.«
Ungläubig starrte sie ihn an.
»Es ist schwer für sie, das alles allein durchzustehen«, meinte
er.
Willow blickte zu Boden, damit Oz nicht sehen konnte, wie
verletzt und enttäuscht sie war, aber daraus war kein Hehl mehr
zu machen. »Es ist für uns alle schwer. Warum versteht sie
nicht, dass sie nicht die Einzige ist, die Probleme hat? Niemand
schafft es, alle Hürden, die das Leben einem manchmal in den
Weg stellt, ohne Schwierigkeiten zu überwinden.«
»Gib ihr ein bisschen Zeit. Irgendwann wird sie’s einsehen.«
Dann legte er einen Arm um sie und geleitete sie zu seinem
Auto.
Willow schwieg die ganze Fahrt über und behielt ihre
Enttäuschung für sich.

71
5
»Wir haben nichts gefunden.«
Giles zog die Augenbrauen hoch und blickte von der Karte
auf, die vor ihm auf dem Esstisch lag. Xander und Anya saßen
in der Mitte des Zimmers auf dem Boden. Um sie herum waren
sämtliche Ausgaben der Lokalzeitungen der letzten Woche
ausgebreitet, sodass es den Anschein hatte, als hätte Giles sich
einen Welpen angeschafft, der noch nicht ganz stubenrein war.
»Aber es muss doch irgendetwas geben«, rief Giles
verzweifelt, da Xanders Eingeständnis ihn nicht eben ermutigt
hatte. »Ein abgeschossenes Flugzeug. Seltsame Ereignisse bei
der Grenzwache. Gewalttätige Auseinandersetzungen beim
Flughafenzoll in Los Angeles. Irgendeinen Hinweis darauf, wie
sie hierher gekommen sind und wo sie ihr Lager aufgeschlagen
haben.«
Anya wies mit der Hand auf die ausgebreiteten Zeitungen.
»Nichts. Der neue Bürgermeister hat weiter Lügen verbreitet,
getarnt als Versprechen, wie man es von den meisten
redegewandten Politikern gewohnt ist. Die Küstenwache
streitet die Vorwürfe ab, sie hätte letzte Woche bei der
Ölkatastrophe nicht schnell genug reagiert. Nichts. Letzte
Nacht war ereignislos und langweilig, so wie heute.«
»Wir haben eben Bapkes«, fügte Xander spontan hinzu.
Anya, die einst ein Dämon und jetzt mit Xander zusammen
war, starrte ihn unsicher an. »Bapkes?«
»Nada«, sagte Xander. »Null. Absolute Pleite. Gar nichts. Er
zuckte die Achseln. Bapkes. Ist mir gerade so gekommen.«
»Seltsam«, meinte Anya. Sie schüttelte kaum merklich den
Kopf und drückte somit ihren Ärger über diese verwirrende
Welt um sie herum aus, eine Bewegung, die ihr genauso zu
Eigen geworden war wie der unangemessene Ton, den sie ihren

72
Mitmenschen gegenüber anschlug. »Das hört sich fast an wie
ein sexueller Akt.«
»Oh, um Himmels willen«, murmelte Giles leise. Die beiden
ließen sich regelmäßig über die mehr körperlichen Aspekte
ihrer Beziehung aus.
»Du hast Recht«, sagte Xander nachdenklich. »Ich glaube,
wir sollten diesen Ausdruck in unseren Wortschatz aufnehmen.
Babkes. Wir werden die Ersten sein.«
»Hört mal, ihr beiden!«, schnauzte Giles sie an. »Die
Situation ist verdammt ernst. Wir haben es hier mit einer
Invasion fremdartiger Vampire zu tun, die von einem antiken
Dämonen-Gott angeführt werden. Lucy Hanover erscheint
Buffy im Traum und warnt sie vor irgendeiner Katastrophe,
und zur gleichen Zeit begegnet Buffy dieser neuen Vampir-
Spezies. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es da eine
Verbindung gibt. Ich schlage vor, ihr versucht ernsthaft
mitzuarbeiten und findet heraus, wo sich diese
Neuankömmlinge verstecken, oder ihr macht mit euren...
Albernheiten zu Hause weiter und verschwindet auf der
Stelle.«
Anya bedachte ihn mit einem süßen Lächeln. »Fantastisch«,
sagte sie und stand auf. »Lass uns gehen, Xander. Wir haben
erst die Hälfte des Kamasutra geschafft, und es gibt noch
Dutzende von...«
Xander hatte sich bei Giles’ Worten am Riemen gerissen und
sah jetzt verlegen aus. »Hallo, Anya? Das war Sarkasmus. Bei
Giles ist das immer schwierig zu unterscheiden, ich weiß. Aber
er braucht unsere Hilfe und hat nicht ernsthaft gemeint, dass
wir jetzt gehen sollen.« Xander runzelte die Stirn und sah zu
Giles. »Stimmt doch, oder?«
»Ich bin mir da selbst nicht mehr so sicher«, erwiderte Giles
trocken. »Aber ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann. Ich
verstehe nicht, warum sich Buffy und Willow noch nicht
gemeldet haben.«

73
»Buffy hat wahrscheinlich noch nichts Neues
herausgefunden, sonst hätte sie dich heute Morgen bestimmt
schon angerufen, meinst du nicht?«, beruhigte ihn Xander. »Sie
ist zu Willy’s Alibi Room gegangen und wollte Willy mal auf
die Füße treten. Wenn sie irgendetwas Nützliches aus ihm
rausgekriegt hätte, wüssten wir es sicher schon.«
Giles sah zum Telefon und betrachtete dann wieder den
Stadtplan von Sunnydale, der auf dem Tisch ausgebreitet war.
»Ich nehme an, du hast Recht«, gestand er schließlich ein.
»Und wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte Willow uns
bestimmt schon heute Morgen Bescheid gesagt.«
»Oder vielleicht auch nicht, so sauer wie sie auf Buffy war«,
warf Anya ein.
Xander und Giles warfen ihr beide exakt denselben
verwirrten Blick zu.
Anya verdrehte daraufhin nur die Augen. »Männer. Ihr kriegt
aber auch nie irgendetwas mit. Ich könnte jede Seele – nicht
meine eigene natürlich – darauf verwetten, dass Willow letzte
Nacht bei Oz geschlafen hat und Buffy heute weder gesehen
noch mit ihr gesprochen hat.«
»Stimmt«, entgegnete Giles barsch. Er schob seinen Stuhl
zurück und nahm die Karte in die Hand. »Lasst uns jetzt sofort
weitermachen. Wenn dieser Camazotz herausgefunden hat,
dass sie die Jägerin ist, dann wäre es gut möglich...«
Das Telefon klingelte.
Eilig rannte Giles auf den kleinen Tisch mit dem Apparat zu.
»Macht ihr ruhig schon weiter«, ließ er Xander und Anya
wissen. Nach dem zweiten Klingeln hob er ab.
»Hallo?«
»Hi, ich bin’s«, meldete Buffy sich. »Entschuldigung, dass
ich noch nicht vorbeigekommen bin. Ich war im College, und
dann musste ich noch in die Bibliothek.«
»Ja, nun, ich bewundere, wie ernst du dein Studium nimmst,
Buffy, aber Lucy Hanovers Warnung ist auch nicht auf die

74
leichte Schulter zu nehmen, stimmst du mir da zu? Wir müssen
diesem Camazotz unsere volle Aufmerksamkeit widmen.«
»Tue ich bereits«, erwiderte sie kühl. »Ich werde die Welt
retten wie immer, okay? Aber es gibt da noch eine Sache in
meinem Leben, die sich Studium nennt und um die ich mich
ebenfalls kümmern muss. Mir ist klar, dass ich dieses
Thesenpapier nicht vor Montag fertig haben werde, also habe
ich für heute alle Kurse gestrichen. Aber geben Sie mir bitte
kurz Zeit zum Verschnaufen, Giles. Ich verbringe schließlich
nicht meine ganze Freizeit zusammen mit meiner Liebsten.«
Giles zögerte. Ihr offensichtlicher Ärger und Frust bestürzten
ihn. Er wollte sich verteidigen und sagen, dass er seine
Verpflichtungen während Olivias Besuch in keinster Weise
vernachlässigt hatte. Tatsache war, dass ihre gemeinsame Zeit
durch Giles’ Verpflichtungen deutlich getrübt worden war.
Aber er sagte nichts dergleichen, da er fürchtete, Buffy würde
es in ihrer momentanen Erregung als Vorwurf ansehen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er so sanft, wie er konnte.
»Ja, mir geht’s ausgezeichnet«, entgegnete sie, aber ihre
Stimme klang gepresst.
»Das ist seltsam, denn so hörst du dich ganz und gar nicht an.
Buffy, eine der ersten Lektionen, die eine Jägerin lernen muss,
ist, dass es zum Überleben absolut notwendig ist, sich
anzupassen, zu improvisieren und auf jede Situation schnell
und prompt zu reagieren. Mit dem bewundernswerten Versuch,
deinem Leben Ordnung zu verleihen, hast du das, fürchte ich,
vergessen.«
»Genau das tue ich, Giles. Ich reagiere. Seit dem Tag, an
dem ich entdeckt habe, dass ich die Jägerin bin, und an dem
das Chaos in mein Leben getreten ist, versuche ich zu
improvisieren und wieder Ordnung in mein Leben zu bringen.
Ist das ein Fehler?«
Er seufzte. »Ich fürchte, du musst das Chaos akzeptieren.
Indem du dagegen ankämpfst, verlierst du dich nur immer

75
mehr darin. Und im Gegenzug opferst du eine der Gaben der
Jägerin: die Macht, den Rest der Welt vor eben diesem Chaos
zu bewahren.«
Eine lange Pause entstand, bevor Buffy wieder etwas
erwidern konnte. »Ich weiß nicht, ob ich so weiterleben kann.
Wenn ich nicht mehr versuche, mein Leben in den Griff zu
bekommen...«
»Buffy, du weißt, dass du dabei immer mit meiner vollen
Unterstützung rechnen kannst. Es gibt aber einfach Zeiten...«
»Ich weiß«, antwortete sie traurig. »Ich danke Ihnen. Ich
werde darüber nachdenken. Aber jetzt mache ich erst mal
weiter. Letzte Nacht habe ich Willy das Messer an die Kehle
gesetzt, aber er wusste von nichts. Von den Fledermaus-
Gesichtern hat er zwar schon mal gehört, aber er konnte nicht
sagen, wo sie sich aufhalten, warum sie hier sind und so
weiter.«
»Babkes«, murmelte Giles.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Sie
haben sich alte Wiederholungen von Hill Street Blues
angeschaut, hab ich Recht?«
»Du wolltest mit deinem Bericht über die Patrouille
fortfahren«, lenkte er schnell ab.
»Ich bin die Innenstadt abgegangen, dann den Friedhof und
die Gegend ums Bronze. Sonst ist dort immer was los, aber
diesmal haben die Seelenlosen nicht einen Mucks von sich
gegeben. Dann habe ich einen Rundgang durch Docktown
gemacht. Ich habe zwar viele Tätowierte gesehen, aber leider
niemanden mit einem Fledermaus-Tattoo im Gesicht.«
Giles lauschte Buffys Bericht über die Patrouille der letzten
Nacht und starrte auf den Stadtplan. Im Geiste versuchte er,
den Weg, den Buffy genommen hatte, nachzuzeichnen. Er
endete in Docktown, in jenem Teil der Stadt, den Sunnydale
schon seit einem Jahrhundert als Hafen nutzte. Das Fish Tank,
wo sie zum ersten Mal den Dienern von Camazotz begegnet

76
war, lag im Norden von Docktown, direkt am Kai, wo die
Schiffe vor Anker lagen. Der Kat Scratch Club lag ein Stück
weiter südlich in Richtung Innenstadt.
Beide Läden waren recht weit entfernt vom Zentrum, das
normalerweise von jungen Leuten nur so wimmelte und
Vampire deshalb magisch anzog. Dieser Teil der Stadt war das
erklärte Hauptziel der Blutsauger. Außerdem lag er näher am
Höllenschlund, der die Vampire – so vermutete Giles –
ebenfalls anzog. Die übernatürlichen Wesen der Stadt
entfernten sich nie weit oder für lange Zeit vom Tor zur Hölle.
Docktown. Und im Westen gab es nichts außer dem
Pazifischen Ozean.
»Buffy«, sagte Giles, und seine Stimme klang gepresst, »ich
bin ein absoluter Idiot.«
»Das sagen Sie mir jetzt erst, wo ich immer auf Ihre
Ratschläge gehört habe?«
»Es muss ein Schiff sein«, meinte er. »Das neue Haus der
Fledermäuse, Camazotz’ Höhle.« Giles blickt zu Xander und
Anya, die vom Boden aufgestanden waren und an den Tisch
traten, da sie nun auch einen Blick auf die Karte werfen
wollten. »Es muss ein Schiff sein. Irgendwie haben sie es
geschafft, der lästigen Aufmerksamkeit der Zollbehörden und
der Hafenmeisterei trotz ihrer auffälligen Tätowierungen im
Gesicht zu entgehen.«
»Das hört sich logisch an«, gab Xander zu. »Aber es muss
jemand unter ihnen sein, der wie ein normaler Mensch aussieht
und sie vor den Behörden vertritt. Man kann schließlich nicht
ein ganzes Schiff verstecken. Es muss irgendwo gemeldet
sein.«
Buffy, immer noch am Apparat, war derselben Meinung wie
Xander. »Das würde erklären, warum ich noch keinen von
ihnen in der Innenstadt gesehen habe. Noch nicht. Und selbst
wenn Sie nicht Recht haben mit Ihrer Vermutung, dann stehen
wir auch nicht schlechter da als zuvor. Aber wie finden wir

77
ihren genauen Aufenthaltsort heraus? Es ist viel zu riskant, in
jedes Schiff einzubrechen, das im Hafen vor Anker liegt,
außerdem viel zu zeitaufwendig, und davon abgesehen habe
ich auch keine Lust, verhaftet zu werden.«
»Es müsste doch möglich sein, die gesuchten Informationen
mit Hilfe des Computers herauszufinden. Ansonsten bleibt uns
nur noch der Griff in die Zauberkiste. Auf jeden Fall solltest du
Willow Bescheid geben.«
»Ich könnte doch auch selbst nach Docktown gehen und
mich mit der zuständigen Person aus der Hafenmeisterei
unterhalten«, schlug Buffy vor.
»Ja, das ist eine gute Idee«, stimmte Giles zu. »Aber die
Hafenmeisterei ist eigentlich nicht dazu befugt, Informationen
herauszugeben, und es wäre nicht sehr ratsam, jemanden
einzuschüchtern, der mit den örtlichen Behörden
zusammenarbeitet. Wir sollten uns eher darauf einstellen, dass
wir per Computer und mithilfe von Magie nach ihnen suchen
müssen. Und damit sind wir auf Willows Hilfe angewiesen.«

Nachdem Buffy aufgelegt hatte, starrte sie das Telefon fast


eine Minute lang unverwandt an. Giles wollte, dass sie Willow
anrief. Auch für Buffy gab es keinen Zweifel daran, dass
Willow eine Hilfe sein konnte, aber sie war nicht derselben
Meinung wie Giles, der glaubte, dass ihre Hilfe unbedingt
notwendig war. Sie hielt es sogar für die bessere Lösung, selbst
zur Hafenmeisterei zu gehen und dort gegebenenfalls jemanden
zum Reden zu zwingen, oder die Schiffe alle einzeln zu
überprüfen – auch wenn sie wusste, dass die Zeit dafür zu
knapp sein würde. Ein Teil von ihr hielt dies für die einfachere
Lösung, der andere Teil war sich vollkommen im Klaren
darüber, dass Giles und Willow Recht hatten. Aber sie hatte
Angst vor dieser Möglichkeit. Wenn das wahr wäre, so
flüsterte eine innere Stimme ihr zu, dann würde der Tag nicht
fern sein, an dem sie sich zwischen ihrem Leben als Buffy

78
Summers und ihren Verpflichtungen als Jägerin entscheiden
musste.
Diese Entscheidung würde sie nicht überstehen.
Buffy wünschte, sie hätte Giles gegenüber ihre Meinung
deutlicher zum Ausdruck gebracht und ihm gesagt, sie sollten
sich ruhig verhalten und einfach nur ihre Nachforschungen
weiter vorantreiben. Doch jetzt war sie zuständig für ihre
Sicherheit, und abermals lastete die ganze Verantwortung
allein auf ihren Schultern. Doch sie würde es schaffen.
Sie musste.
Widerwillig wählte sie Oz’ Nummer.
Nach dem dritten Klingeln ging er ans Telefon. »Hallo?«
»Hier ist Buffy. Ist Willow da?«
»Sie holt gerade eine Pizza.«
Plötzlich war Buffy sehr erleichtert. Giles dachte, sie würden
Willows Hilfe unbedingt benötigen. Natürlich würde es die
Angelegenheit vereinfachen, wenn Willow ihnen half. Aber
eine Jägerin wählte nicht den einfacheren Weg. Wenn Willow
nicht da war, konnte sie vielleicht Giles wieder nach Hause
schicken und ihm sagen, sie würden sich erst am nächsten Tag
auf die Suche nach dem Schiff begeben.
So könnte sie sich allein auf den Weg machen und die Dinge
auf ihre Art erledigen. Sie würde nicht den einfachen Weg
wählen.
»Buffy? Ist irgendwas?«, fragte Oz.
»Könntest du sie fragen, ob sie etwas für mich tun kann?«,
begann sie. Dann erklärte sie Oz, dass Willow mithilfe des
Computers nach dem Schiff suchen sollte, und dass es Giles
Idee gewesen war, sich bei den Schifffahrtsbehörden
einzuhacken. Zumindest würde sie Willow dabei keiner Gefahr
aussetzen. Normalerweise war es ungefährlich, am Computer
zu sitzen.
»Ich ruf später noch mal an, um mich zu erkundigen, ob sie
schon etwas herausgefunden hat.«

79
»Ich werd’s ihr ausrichten«, gab Oz zur Antwort. »Sie wird
sich sehr freuen.«
Seine Worte enthielten wie immer mehr Bedeutung, als es
den Anschein hatte, aber Buffy fragte nicht weiter nach.

Die Nacht war bereits angebrochen, als Buffy sich auf den
Weg nach Docktown machte. Sie ging am Fish Tank vorbei
und blieb einen Block weiter im Schatten eines zerfallenen
Mietshauses stehen. Prüfend sah sie sich um. Gegenüber der
heruntergekommenen Kneipe erkannte sie Giles’ alten Citroën.
Das geparkte Auto sah ziemlich verlassen aus. Aber hier in
dieser Gegend würde es nicht lange dauern, bis man es
aufbrach.
Buffy wusste Bescheid.
Sie durchquerte eine schmale Gasse, um zu dem Auto zu
gelangen, und kam an einem Obdachlosen vorbei. Der Mann
hatte sich an der Ziegelmauer eine Art Unterstand aus
verwittertem Holz errichtet, das er wahrscheinlich von den
Docks entwendet oder von der Felsenküste in der Nähe
aufgelesen hatte. Er bemerkte, dass sie ihn gesehen hatte, und
zischte etwas in die Schatten hinter sich. Buffy lief es eiskalt
den Rücken hinunter – sie fragte sich unwillkürlich, ob er nun
mit einer finsteren, dämonischen Kreatur oder einem Wesen,
das nur in seiner Fantasie existierte, kommunizierte. Die erste
Möglichkeit fand sie allerdings wesentlich beunruhigender.
Sie bewegte sich hauptsächlich im schützenden Schatten der
umliegenden Gebäude vorwärts, legte dann jedoch einen
Schritt zu. Einen Augenblick später stand sie hinter dem
Citroën. In dem dämmrigen Licht, das vom Neonschild des
Fish Tank auf der anderen Straßenseite ausging, erkannte sie
Giles hinter dem Lenker. Er hatte eine fettige braune Papiertüte
mit frittierten Muscheln, Pommes Frites und eine Flasche
Wasser auf dem Schoß. Das Ganze war nicht gerade sein
Lieblingsessen, aber wahrscheinlich hatte er in der Eile nichts

80
anderes bekommen. Sie konnte ihn gut verstehen, da sie selbst
seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, aber ihr war
jetzt nicht nach Essen. Ihr Magen fühlte sich klein und hart an,
als könne er nicht mal ein winziges Stück Brot vertragen.
Später, wenn sie zu Hause war, würde sie etwas zu sich
nehmen.
Buffy beugte sich zu dem Auto hinunter und klopfte an
Giles’ Fenster. Er fuhr zusammen, ließ eine Muschel fallen und
fluchte, als ihm die Tartarsoße auf das Sweatshirt tropfte.
Dann bedeutete er ihr, sich neben ihn zu setzen. Während
Buffy auf den Beifahrersitz kletterte, versuchte Giles, die Soße
zu entfernen. Er sah sie verwirrt an.
»Du bist allein? Was ist mit Willow?«
Buffys Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich habe bei Oz
angerufen, aber sie war nicht da. Ich habe ihm erklärt, dass sie
am Computer Nachforschungen anstellen soll, aber ich fürchte,
wir müssen diesen Teil unseres Plans auf morgen
verschieben.«
»Hast du Oz zu verstehen gegeben, wie dringend die Sache
ist?«
Sie zuckte die Achseln. »Willow war nicht da, Giles. Oz
besitzt keine Zauberkräfte. Wir könnten noch mal anrufen und
fragen, ob sie jetzt zurück ist, aber machen denn zwölf Stunden
einen so großen Unterschied? Wenn sie sich an den Computer
setzt, brauchen wir ihre magischen Kräfte vielleicht gar nicht
mehr.«
Buffy runzelte die Stirn.
Giles räusperte sich und warf ihr einen vernichtenden Blick
zu. »Zwölf Stunden können einen entscheidenden Unterschied
machen, Buffy. Noch eine Nacht mehr kann zahllosen
Menschen das Leben kosten.«
Buffy blickte aus dem Fenster auf die verschmutzte Straße.
»Ich werde mich hier umsehen und die ganze Nacht hier
bleiben, wenn es sein muss. Morgen ist Samstag, wie Sie wohl

81
wissen. Also kann ich ausschlafen. Ich werde in Docktown
herumschnüffeln und so vielleicht etwas Neues erfahren. Und
Sie und die anderen versuchen weiterhin, etwas über ihre
seltsamen glühenden Augen herauszufinden, ja?«
»Xander und Anya sind gerade dabei. Langsam kommt mir
der Verdacht, dass es sich nicht um eine einzelne, unbekannte
Vampir-Spezies handelt, sondern vielmehr um Vampire, die
von Camazotz mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet werden.
Xander und Anya forschen auch in dieser Richtung. Aber so
bedauerlich Willows Abwesenheit auch ist, wir sollten alle
Möglichkeiten in Erwägung ziehen und auf alles gefasst sein,
wenn wir ihre Höhle oder Lagerstätte finden wollen.«
Giles startete den Motor und legte einen Gang ein.
»Hey!«, rief Buffy überrascht. »Hören Sie, Giles, ich meine
es wirklich ernst. Sie sind den anderen eine viel größere Hilfe.
Was die Patrouille angeht – ein paar Leute einschüchtern und
ein paar Fausthiebe austeilen, um Informationen zu bekommen
–, das ist wohl eher die Sache der Jägerin, okay? Zuerst knöpfe
ich mir den Hafenmeister vor, und dann geht’s weiter. Xander
und Anya sind wahrscheinlich sowieso nicht mit Arbeiten bei
Ihnen zu Hause beschäftigt, sondern knutschen die ganze Zeit
herum. Wir werden nicht herausfinden, womit wir es zu tun
haben, wenn die beiden die Bücher beiseite legen, weil sie
Besseres zu tun haben. Ich bleibe hier und verteile
schlagkräftige Argumente. Das ist mein Job. Sie gehen nach
Hause und suchen nach Querverweisen in der einschlägigen
Literatur. Das ist Ihr Job.«
Giles warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und zog erstaunt
eine Augenbraue hoch. »Buffy, ich war schon dutzende, wenn
nicht sogar schon hunderte Male zusammen mit dir auf
Patrouille. Warum beharrst du so darauf, mich nicht
dabeihaben zu wollen? Du kannst doch nicht so plötzlich
ernsthaft um meine Sicherheit besorgt sein.«
»Nein, garantiert nicht«, sagte Buffy verächtlich.

82
»Nun, das beruhigt mich aber.«
Buffy wandte kurz den Blick ab. »Ich mache mir Sorgen um
meine Sicherheit. Sie, Giles, haben mir erzählt, dass Jägerinnen
normalerweise allein vorgehen. Sie haben keine Freunde um
sich, so wie ich, Leute, auf die man sich verlassen kann. Für sie
gibt es nur ihre Arbeit, daneben führen sie eigentlich kein
Leben. Ich aber schon, das heißt, ich versuche es. Wenn ich
zwei Leben führen will, muss ich doppelt so viel und doppelt
so hart arbeiten. Für mich als Jägerin bedeutet das natürlich,
dass ich die Verantwortung, die Auserwählte zu sein, ganz
allein auf meine Schultern nehmen muss. Ich bin auserwählt,
niemand sonst. Manchmal ist es schwer, aber ich muss lernen,
mich auf niemand anderes als auf mich selbst zu verlassen. Die
Einzige auf der ganzen Welt, erinnern Sie sich? Das haben Sie
mir gesagt, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Weder
ein anderes Mädchen noch ihr Wächter, ihre besten Freunde,
ihr Freund, ihre Freundin und wer auch immer uns über den
Weg läuft, haben ihre Mittel.
Ich muss es machen, Giles. Sie gehen. Ich bleibe.«
»Jeder Mensch benötigt mal Hilfe, Buffy. Das ist in erster
Linie der Grund, warum jede Jägerin einen Wächter hat, der ihr
zur Seite steht«, meinte Giles und sah sie besorgt an.
»Aber die Mächte wählen nicht die Wächter aus. Nur die
Jägerinnen.«
Giles nahm seine Brille ab und ließ sie an seinen Fingern
baumeln, während er über Buffys Worte nachdachte.
»Das ist jetzt nicht der passende Zeitpunkt, diese Dinge zu
diskutieren, Buffy. Oder hast du vergessen, was meine
Meinung dazu war, den Hafenmeister zu bedrohen? Ich habe
gesagt, dass es nicht von Vorteil für uns wäre, wenn die
Behörden davon Wind bekämen. Wir gehen zusammen
dorthin, und ich werde zuerst mit ihm sprechen. Wenn er
verdächtig wirkt, kannst du dich immer noch um ihn
kümmern.«

83
Buffy wollte schon Einwände erheben, aber Giles schien fest
entschlossen. Sie musste zugeben, dass es vermutlich besser
war, wenn er als Erster mit dem Mann sprach. Irgendwie passte
ihr das zwar nicht, aber sie hatte wohl keine andere Wahl.
Im Moment zumindest nicht.

Im Büro der Hafenmeisterei brannte noch Licht. Buffy wollte


mitgehen, aber Giles bestand darauf, dass sie im Auto wartete.
Sie versuchte, sich zwar selbst zu beweisen, dass sie alles tun
konnte, was sie wollte, aber wieder mal musste sie sich
eingestehen, dass es nicht immer klappte. Giles war der
Ansicht, dass der Mann in der Hafenmeisterei eher bereit war,
mit ihm zu reden, als mit einem Teenager.
Er parkte den Citroën anderthalb Block weit entfernt und
ging zu Fuß zum Büro. Es war ein kleines Gebäude mit zwei
oder drei Räumen und lag ordnungsgemäß dem Meer
zugewandt. Die Öffnungszeiten waren auf einer Tafel an der
Tür angeschlagen, und sie waren schon lange vorbei, aber
Giles deutete das Licht im Inneren als ein gutes Zeichen.
Es gab keine Klingel, also klopfte er an die Tür. Gerade, als
er zu einem erneuten Klopfen ansetzen wollte, drehte sich der
Türknauf, und die große Eichentür öffnete sich.
»Was zum Teufel wollen Sie?«, brüllte ihm ein bärtiger,
grauhaariger Mann entgegen, dem eine Zigarre zwischen den
Zähnen steckte.
Giles sah ihn erstaunt an. Der Mann sah aus wie die
Karikatur eines Hafenmeisters, oder zumindest so, wie Giles
sich einen typischen Hafenmeister vorstellte. Er zwang sich,
ihn nicht weiter anzustarren. Das Letzte, was er wollte, war,
den Mann zu beleidigen.
»Sie sind der Hafenmeister, nehme ich an?«
»Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ja, natürlich, Sir. Aber es wird nicht lange dauern. Ich bin...
Journalist und recherchiere über die neuesten Vorkommnisse

84
hier in Docktown. Banden, die ihr Unwesen treiben, um genau
zu sein. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie.«
Der Hafenmeister kniff die Augen zusammen, nahm einen
Zug von seiner Zigarre und beäugte Giles misstrauisch.
»Sie sind Engländer«, stellte er fest.
»Ja.«
»Was zum Teufel treibt ein Engländer nachts in Docktown?
Was geht Sie denn an, was hier vor sich geht?«
Giles zögerte. Er hatte schon befürchtet, dass das Ganze nicht
funktionieren würde, aber der Mann hätte ihm erst recht nicht
geglaubt und seine Fragen beantwortet, wenn er sich als Police
Officer ausgegeben oder ihm einfach die Wahrheit gesagt hätte.
»Wie ich schon sagte, Sir. Ich bin Journalist und arbeite für
die L. A. Times. Ich schreibe einen Artikel über neue Banden,
die sich hier angeblich breit gemacht haben«, sagte er
nachdrücklich. Ohne zu zögern, fuhr er fort. »Es heißt, dass
sich hier gewalttätige Ausschreitungen häufen, verursacht
durch eine Gruppe von Raufbolden, die ein sehr auffälliges
Tattoo tragen. Jeder von ihnen hat eine Fledermaus auf dem
Gesicht tätowiert.«
»Hhhm«, machte der alte Mann. Er kratzte sich am Bart und
zog erneut an seiner Zigarre. Dann blies er den Rauch aus und
pustete ihn Giles ins Gesicht, sodass er fast erstickte. »Wie
sagten Sie, war Ihr Name?«
»Robert Travers.«
Nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, drehte der
Mann die Zigarre mit der Zunge zwischen seinen Zähnen und
nickte. »Kann sein, dass ich was darüber weiß. Vielleicht hat
sogar eine der Ratten, die hier über die Docks rennen, was
gesehen. Zahlen Sie für die Information?«
Giles lächelte. »Selbstverständlich.«
Der alte Mann kniff wieder die Augen zusammen. »Sie
bewegen sich keinen Millimeter von der Stelle. Ich werde mal
kurz telefonieren gehen.«

85
»Ich stehe Ihnen zu Diensten.«
Der alte Mann schloss die Tür.
Möwen krächzten über ihm in der Dunkelheit. Der Himmel
war leicht bedeckt, und nur wenige Sterne waren zu sehen. In
der Ferne hupte jemand, und Giles blickte in Richtung Straße.
Um diese Zeit waren hier nur sehr wenige Autos unterwegs,
aber er hörte das Rattern eines Lastwagens, der ganz in der
Nähe sein musste. Ein metallenes Scheppern war zu
vernehmen, das von dem schwimmenden Dock und den vor-
und zurückschwappenden Wellen unterhalb der Hafenmeisterei
verursacht wurde.
Die Zeit verging.
Schließlich blickte er stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr
und drückte den Knopf für das Licht. Siebzehn Minuten nach
neun. Er hatte vorher nicht auf die Uhr geschaut, vermutete
aber, dass er schon seit mindestens fünf, eher zehn Minuten
wartete. Langsam fragte er sich, ob der Mann ihn zum Narren
halten wollte.
Giles entfernte sich ein paar Schritte von der Tür und blickte
die Straße hinunter zu seinem Auto. Es war dunkel, und auch
Buffy war nirgends zu sehen. Er seufzte und ging zurück an
seinen Posten. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere.
Um neun Uhr zweiundzwanzig klopfte er an die Tür, dieses
Mal eindringlicher.
Der Mann öffnete die Tür vorsichtiger als vorhin. Sein
Gesicht verzog sich zu einem grausamen Lächeln.
»Sie sind ziemlich hartnäckig, was?«, grummelte er.
»Das bringt mein Beruf mit sich«, gab Giles zur Antwort.
»Sie machen Ihren«, sagte der Mann und kaute auf seiner
Zigarre herum und zog sich seine zerrissene Jeans zurecht,
»und ich meinen.«
Mit diesen Worten schossen seine Hände mit einer schier
übermenschlichen Geschwindigkeit nach vorne und legten sich
um Giles’ Hals. Der alte Mann spuckte seine Zigarre aus,

86
schleppte Giles in das Innere der Hafenmeisterei und
schleuderte ihn durch den Raum.
Mit einem lauten Krachen fiel der ehemalige Wächter auf
den Schreibtisch und schrie auf, als sein Rücken an der Kante
aufschlug. Dann sank er ohnmächtig auf den dreckigen
Holzboden.
Der Hafenmeister zischte ihn an. Unter seinem langen grauen
Bart traten Fangzähne hervor.

87
6
Das dauert eindeutig zu lange, dachte Buffy. Sie lehnte sich
über das Armaturenbrett und spähte durch die
Windschutzscheibe.
Giles stand draußen vor der Tür der Hafenmeisterei. Buffy
sah, wie er auf seine Armbanduhr blickte. Also bin ich nicht
die Einzige, die findet, dass es zu lange dauert, dachte sie.
Einen Augenblick später hielt Oz’ Van hinter ihr. Buffy
verzog das Gesicht. Das machte die Dinge noch komplizierter,
und genau das hatte sie vermeiden wollen. Sie blickte noch
einmal zu der Hafenmeisterei, vergewisserte sich, dass Giles
noch da war und niemand sie beobachtete, dann stieg sie aus
dem Auto und ging zu dem Van.
Willow saß auf dem Beifahrersitz. Buffy war gleichzeitig
verärgert und erfreut über ihr Kommen. Wahrscheinlich hatte
ihre Freundin sich verpflichtet gefühlt, ihr beizustehen. Das
Fenster war heruntergekurbelt.
»Hallo«, begrüßte Willow sie.
»Pst! Mach hinten auf.«
Die Hintertür wurde geöffnet. Buffy ging um das Auto
herum, stieg ein und blickte plötzlich in Xanders Gesicht.
»Hi«, sagte er. »Was macht Giles denn da, steht einfach so
herum?«
Buffy sah ihn besorgt an und meinte: »Ich weiß es, ehrlich
gesagt, auch nicht genau. Er wartet auf den Mann von der
Hafenmeisterei. Der Kerl ist einmal an die Tür gekommen, hat
sie dann wieder geschlossen, und seitdem steht Giles da und
wartet. Aber was treibt euch hierher?«
Oz behielt Giles weiterhin im Auge, aber Willow drehte sich
auf ihrem Sitz um und blickte Buffy und Xander an.
»Wir dachten, wir könnten dir den Rücken frei halten«, ließ
sie verlauten. »Als Oz mir gesagt hat, dass du angerufen hast,

88
habe ich versucht zurückzurufen. Anscheinend warst du nicht
da, also habe ich es bei Giles versucht. Xander hat mir dann
alles erzählt. Wir haben ihn mitgenommen, und jetzt sind wir
hier. Ich denke, Anya wird auch ohne uns mit der Recherche
zurechtkommen.«
»Ich danke euch.« Buffy lächelte. »Aber wir haben es ganz
gut unter Kontrolle, denke ich. Ihr könnt ruhig wieder nach
Hause fahren und weiter Bücher wälzen. Und Pizza essen. Und
euch keine Sorgen machen.«
»Die Pizza haben wir schon hinter uns«, entgegnete Willow.
»Oder besser gesagt, Xander hat sie sich schon einverleibt.«
»Mann!«, protestierte Xander. »Recherchieren macht mich
immer hungrig.«
»Wie so ziemlich alles«, gab Buffy zurück.
»Du hast nichts von einem Zauberspruch erwähnt«, sagte
Willow.
Buffy schaute sie an. »Was?«
»Als du mit Oz gesprochen hast. Du hast nichts von einem
Zauberspruch erwähnt, aber Xander meinte, Giles möchte, dass
ich einen Suchzauber oder so etwas in der Art erwirke. Ich
hätte mir die Zutaten besorgen können.«
»Du warst nicht da, Will. Ich dachte, wir verschieben das mit
dem Zauberspruch einfach auf morgen. Giles versucht ja
schon, irgendetwas aus dem Hafenmeister
herauszubekommen«, antwortete Buffy.
Eine leichte Spannung lag in der Luft, aber Buffy gab vor, es
nicht zu bemerken, und hoffte, Willow würde ebenfalls darüber
hinwegsehen. Sie lehnte sich nach vorn und blickte hinter
Willow durch die Windschutzscheibe, als wäre das Gespräch
jetzt beendet. Giles stand immer noch unruhig vor dem
Eingang der Hafenmeisterei.
»Meinst du nicht auch, dass da etwas nicht stimmt?«, wollte
Xander wissen.

89
Buffy dachte eine Weile darüber nach und wägte den
Gedanken nach allen Möglichkeiten ab. Dieser Teil von
Docktown war nunmehr menschenleer. Das Fish Tank – und
mit ihm wenigstens ein paar Menschen – lag zwar nur ein paar
Schritte von ihnen entfernt, aber hier unten war... nichts. Das
war ein bisschen zu viel nichts.
Durch das geöffnete Fenster an Willows Seite drang das
ferne Heulen einer Sirene. Draußen auf dem Meer läutete die
Glocke einer Heulboje immer und immer wieder, als würde es
ewig Nacht bleiben.
Buffy betrachtete die Türen und Fenster der umliegenden
Häuser. Aus manchen flackerte das silbergraue Licht von
Fernsehern und warf unheimliche Schatten auf die Straße. Aber
die meisten Gebäude waren in absolute Dunkelheit getaucht.
Eine unangenehme, beklemmende Vorahnung strömte durch
ihren Körper und hinterließ ein dumpfes Gefühl in ihrer
Magengrube. Die feinen samtigen Haare auf ihren Armen und
in ihrem Nacken stellten sich auf und prickelten, als wären sie
elektrisch geladen. Ihr Herz schlug schneller.
»Irgendetwas stimmt hier wirklich nicht«, sagte sie.
Auch Willow und Xander sahen aus, als hätte etwas
Gespenstisches sie in seinen Bann gezogen. Sie starrten aus
dem Van, als würden sie jeden Moment damit rechnen, dass
die Schatten lebendig werden würden.
»Merkt ihr es auch?«, fragte Buffy.
Xander zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe immer
so ein komisches Gefühl, wenn wir auf Dämonenjagd gehen.«
Aber Willow erwiderte Buffys Blick. »Irgendetwas. Du hast
Recht. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber da... ist etwas.«
»Also hast auch du den sechsten Sinn?«, fragte Xander sie.
»Das hat nichts mit übersinnlichen Kräften zu tun«, erwiderte
Willow. »Vielleicht sind wir alle einfach nur paranoid. Es ist ja
auch nicht gerade sehr gemütlich hier. Aber ich lass Buffy
nicht im Stich.«

90
»Ich hätte Giles in die Hafenmeisterei begleiten müssen«,
erklärte Buffy und durchwühlte ihre Tasche, nahm die
Armbrust heraus und reichte sie Xander. »Nimm du sie. Ich
möchte, dass wir vorbereitet sind, wenn...«
»Buffy!«, rief Xander aufgeregt. Er deutete mit der Hand aus
dem Fenster.
Die Jägerin konnte gerade noch sehen, wie der alte Mann
Giles packte und ihn mit übermenschlicher Kraft in das Büro
der Hafenmeisterei schleifte. Die Tür knallte hinter ihm zu.
»Gebt mir Deckung, aber bleibt auf alle Fälle im Van, bis ich
euch sage, dass ihr rauskommen sollt.«
Als Buffy aus dem Van sprang, fühlte sich ihr Herz so kalt
und so schwer an wie ein Stein. Angst stieg in ihr hoch und
lähmte ihre Bewegungen. Doch sie zwang sich dazu, die Straße
hinunter zur Hafenmeisterei zu sprinten, und sie hatte dabei das
Gefühl, als hätte sich alles um sie herum verlangsamt, als wäre
die Welt stehen geblieben, als müsse sie nicht nur ein paar
Meter, sondern unendlich viele Meilen zurücklegen.
»Giles«, flüsterte sie mit atemloser Stimme, ihre Gedanken
kreisten nur noch um ihn. Ihre Freunde im Van hatte sie völlig
vergessen. Doch da hörte sie das Knattern eines Motors, und
plötzlich waren sie wieder da. Anscheinend wollten sie ihr
folgen.
Aber so viel Zeit blieb Giles wahrscheinlich nicht mehr.
Sie schoss vorwärts, ihre Schuhsohlen klatschten auf den
aufgerissenen Gehsteig, und ihr Gesicht war trotz der
Anstrengung plötzlich eiskalt. Die Welt um sie herum
verschwand, und das Einzige, das sie noch hören konnte, war
ihr eigener Atem. Alle anderen Geräusche waren gedämpft, als
befände sie sich unter Wasser.
Buffy raste auf den Eingang der Hafenmeisterei zu, zog
einen Pfahl aus ihrem Halfter und trat die Tür mit solcher
Wucht ein, dass der Rahmen splitterte und sie aus den Angeln
brach. Das ganze Zimmer war voller Müll. Ein riesiger

91
Eichenholzschreibtisch, der in einer Ecke stand, war übersät
mit Papier. Neben einem Telefon, dessen Kabel aus der Wand
gerissen war, lag eine zerbrochene Lampe auf dem Boden.
Beides hatte wohl ursprünglich auf dem Schreibtisch
gestanden. Ein altes, gerahmtes Bild eines Schoners, der kurz
davor war, neben einem Leuchtturm auf einen Felsen
aufzulaufen, hing fast verkehrt herum an der Wand. Ein
umgekipptes Bücherregal lag auf dem Boden. Zwei schwache
Lampen brannten, aber ihr Licht reichte aus, um Buffy die
schreckliche Szene mitbekommen zu lassen, die sich vor ihr
abspielte.
Giles lag in dem schmalen Flur, der in einen anderen Teil der
Meisterei führte. Seine Hosenbeine waren zerrissen, und Blut
sickerte durch den Stoff und färbte ihn rot. Er versuchte sich
aufzusetzen, und als er den Kopf schüttelte und Buffy wie irr
zublinzelte, entdeckte sie, wie glasig seine Augen waren. Sein
Gesicht war schon ganz blau geschlagen und an mehreren
Stellen aufgeschürft; Blut rann ihm aus dem Mundwinkel und
tropfte am Kinn herunter.
Der Vampir kauerte über ihm. Er hielt Giles mit seinen
scharfen Krallen am T-Shirt fest. Mit der anderen Hand
umfasste die graubärtige Kreatur seinen Hals. Als Buffy durch
die Tür krachte, blickte der Vampir auf und knurrte sie an. Sein
Anblick verblüffte sie: Noch nie hatte sie einen Vampir
gesehen, der alt war. Normalerweise wählten Vampire nur die
stärksten und schönsten Menschen aus, wenn sie sich auf der
Suche nach neuen Gefährten befanden – und aus eben diesem
Grunde wirkten die meisten Vampire so attraktiv und lebendig.
Doch dann begriff Buffy: Camazotz’ Diener hatten diesen
Mann nur deshalb in einen Vampir verwandelt, weil er der
Hafenmeister war. Mit seiner Hilfe gestaltete sich ihre Einreise
in die USA bedeutend einfacher.
Der Hafenmeister fauchte sie an und entblößte die
Fangzähne. Seine Stirn wölbte sich abscheulich, seine Augen

92
funkelten wild, und doch glühten sie nicht in diesem seltsamen
Orange wie die der anderen. Noch ein Rätsel.
»Lass ihn gehen«, befahl Buffy.
Der Vampir lachte heiser. »Und wenn nicht? Wirst du mich
dann töten? Und wenn ich ihn freilasse, was dann? Lässt du
mich dann auch gehen? Wir sind nicht so dumm, wie du
vielleicht meinst!«
Mit diesen Worten schleuderte die Kreatur Giles in die Höhe,
drehte sein Opfer und hielt es wie einen Schutzschild vor sich.
»Buffy... du musst... gehen«, krächzte Giles.
Und schon rammte der Vampir seine Stirn gegen Giles’
Hinterkopf. Der Aufprall war laut, Knochen krachten und
zersplitterten. Buffy erstarrte. Ihr wurde speiübel. In Giles’
Augen trat das Weiße hervor, und er erschlaffte in den
mächtigen Armen des Vampirs.
Die Jägerin wurde rot vor Zorn und umklammerte ihren Pfahl
fester.
»Du hast wohl noch immer nicht kapiert, mit wem du es hier
zu tun hast, du Hornochse!«, schrie sie ihn an. »Oder du bist
einfach zu dumm, um es zu kapieren. Ich bin Buffy Summers.
Ich bin...«
»Die Jägerin.«
Die Stimme ertönte hinter ihrem Rücken. Buffy fuhr herum
und positionierte sich direkt an der Wand, sodass sie
gleichzeitig den Flur und den Hafenmeister im Auge behalten
konnte. Zwischen den Überresten der Tür stand ein Wesen,
dessen Anblick ihr den Atem raubte. Es war groß, hatte einen
nackten Oberkörper und kauerte mit lauerndem Blick vor ihr.
Aus seinem Rücken ragten skelettartige Flügel, die wirkten, als
wären sie in Stücke zerrissen oder durch ein Feuer verunstaltet
worden. Auf seiner Brust klaffte eine riesige Narbe, in deren
Mitte eine offene Wunde prangte, die nur halb verheilt zu sein
schien.

93
Die Haare der Kreatur waren schwarz und bestanden aus
einer einzigen filzigen Masse, ebenso wie ihr Bart. Sie hatte
eine kurze, hässliche Schnauze und feuchte Schlitze als
Nüstern, und ihre kreideartige, grünlich-weiße Haut war über
und über mit Pockennarben bedeckt. Die Stirn lag in tiefen
Furchen, einem Vampir nicht unähnlich. Aus dem Mund ragte
eine Reihe Zähne hervor, die wie Eiszapfen aussahen, und die
Finger des Wesens waren länger und dünner als die eines
Menschen und von einem solchen Weiß, dass sie eher an die
Hände eines Skeletts erinnerten.
Aber was Buffy am meisten erschütterte, waren seine Augen.
Glühende orangefarbene Augen, wie Feuer, genauso wie die
seiner Anhänger.
»Camazotz«, flüsterte Buffy. Sie hasste sich selbst für den
Schrecken und die Ehrfurcht, die aus ihrer Stimme sprachen.
»Ich bin gerührt, dass du meinen Namen kennst.«
Das Monster grinste hämisch.
»Kein Wunder, dass du in einer Höhle lebst«, schnaubte
Buffy verächtlich. »Wer würde das nicht, wenn man so
aussieht wie du?«
Sie beobachtete den Hafenmeister aus den Augenwinkeln,
für den Fall, dass die Beleidigung, die sie seinem Herrn an den
Kopf geworfen hatte, ihn zu einer plötzlichen Reaktion
veranlassen würde – zum Beispiel dazu, ihrem Mentor das
Genick zu brechen. Aber nichts dergleichen passierte.
Camazotz grunzte nur amüsiert, wohingegen viele andere nach
einer solchen Beleidigung getobt hätten.
»Der Mann bedeutet dir etwas«, stellte der Dämonengott fest.
»Ist er dein Wächter?«
Seine Stimme schien irgendwie feucht und belegt,
vergleichbar mit dem Tonfall einer Person, die in Treibsand
geraten ist und verzweifelt versucht, sich zu befreien. Er sprach
mit einem Akzent, den Buffy nirgendwo einordnen konnte – er

94
ähnelte jedoch dem der Fledermaus-Gesichter, gegen die sie
gekämpft hatte.
Ihr Blick fiel auf Giles, der immer noch bewusstlos am
Boden lag, und dann wieder zurück auf Camazotz. Lügen wäre
jetzt sinnlos. Der Dämonengott war ganz offensichtlich nicht
dumm, auch wenn das noch lange nicht hieß, dass sie ihm ihre
Lebensgeschichte anvertrauen würde.
»Nein, nicht mein Wächter. Ein Freund«, erwiderte sie. Sie
wiegte den Pfahl in ihrer rechten Hand und richtete die Spitze
auf Camazotz. »Du bist also der Gott der Fledermäuse, hm?
Wenn du deinem Namen alle Ehre machen willst – und das
nehmen wir doch mal an – dann sind das aber ziemlich
erbärmliche Flügel.«
Camazotz bebte vor Zorn. Auf Buffys erste Beleidigung hatte
er nicht reagiert, aber diese hier schien ihm unter die Haut zu
gehen. Neugierig musterte sie ihn und suchte nach weiteren
Bemerkungen über seine äußere Erscheinung.
»Tut bestimmt weh, oder?« Mit ihrem Pfahl wies sie auf
seinen Rücken. »Da hat dich aber jemand ganz schön in die
Mangel genommen. Kannst du damit überhaupt noch fliegen?«
Camazotz verlor die Beherrschung, und ein primitives
Knurren entstellte seine Gesichtszüge. Seine Augen glühten
und funkelten.
»Ich wusste, dass ich dich töten muss, wenn ich den
Höllenschlund erreichen will, du Miststück. Ich bin bereit.
Meine Kakchiquels sind von mir persönlich verwandelt und
aufgezogen worden. Sie fürchten dich nicht, Mädchen, denn sie
haben noch niemals von dir gehört. Sie werden dich allesamt,
ohne zu zögern, angreifen – ganz einfach, weil sie nicht
wissen, was eine Jägerin ist.«
»Sicher«, entgegnete sie und knurrte ihn ebenfalls an,
während sie den Griff um den Pfahl verstärkte. »Ich habe
schon weitaus größere, bösartigere und abscheulichere Monster
als dich getötet. Du willst mich besiegen? Dann komm und hol

95
mich.« Sie starrte ihn an, und ihr Schweigen schien die Luft
zwischen ihnen mit knisternder Energie aufzuladen. Dann
lächelte sie auffordernd.
»Komm, du Krüppel, verlieren wir keine Zeit.«
Das Fleisch des antiken Dämonengottes wogte vor Wut. Er
erbebte, seine Nüstern zitterten, dann fletschte er seine langen,
scharfen Zähne und erhob sich zu seiner vollen Größe, bereit,
sich auf sie zu stürzen.
Camazotz lächelte.
Buffy fluchte still vor sich hin und begrub ihre Hoffnungen.
Ihr Herz schmerzte.
»Du willst mich tatsächlich zu einem direkten Zweikampf
herausfordern, und du glaubst, du kannst mich besiegen und
deinen... Freund retten«, sagte Camazotz ungläubig. »Und
vielleicht würde es dir sogar gelingen, Jägerin. Vielleicht. Aber
ich bin lange genug auf Erden gewandelt, bevor der
menschliche Bazillus sie verseucht hat, und ich habe gelernt,
vorsichtig zu sein.«
Camazotz wandte sich an den Hafenmeister. »Wenn sie mir
nicht auf der Stelle gehorcht, tötest du ihn. Trinkst ihn.«
Er strich sich mit der Zunge über die Zähne und glotzte sie
an. Jegliche Spur von Humor war aus seinem scheußlichen
Antlitz verschwunden. »Lass den Pflock fallen! Auf die Knie!
Kriech zu meinen Füßen!«
Ihr Herz raste, und sie versuchte, die Wirkung seiner Worte
auf sie zu verbergen. So gut sie auch kämpfen würde, er hatte
sie in seiner Gewalt. In Windeseile ging sie im Kopf alle
Möglichkeiten durch, die ihr noch blieben. Es war nur eine.
Wenn sie nämlich tat, was er befahl, wären sie beide tot. Wenn
sie ihn angriff, würde Giles verletzt, wahrscheinlich getötet
werden, bevor sie ihn befreien konnte. Sie musste darauf
hoffen, dass Camazotz Giles als Geisel behalten und ihn nicht
töten würde, um etwas gegen sie in der Hand zu haben.

96
Das war die einzige Möglichkeit. Vielleicht wird er trotzdem
sterben, dachte Buffy entsetzt, aber ich habe keine andere
Wahl.
Sie warf einen letzten Blick auf Giles und unterdrückte die
Tränen und den Schmerz in ihrer Seele, dann drehte sie sich
um und rannte zum Schreibtisch des Hafenmeisters. Auch als
Camazotz ihr etwas hinterherschrie, wurde Buffy nicht
langsamer. Entschlossen hüpfte sie auf den Schreibtisch, zog
die Schultern ein, sprang durch das Fenster und landete an der
Hinterseite des Gebäudes auf der Straße. Sie fand sich auf dem
Bürgersteig in einem Haufen aus zersprungenem Glas wieder,
und die scharfen Kanten zerschnitten ihr die Haut.
Sie hasste sich selbst für das, was sie getan hatte, wurde fast
wahnsinnig vor Angst um Giles. Doch sie hatte keine andere
Wahl gehabt. Nun musste sie rasch zu Willow und den anderen
und...
Buffy rannte um das Gebäude herum und erstarrte, den Mund
weit geöffnet vor Schreck. Die Kakchiquels waren überall und
hatten sich wie eine Armee auf der Straße aufgestellt. Es waren
zwanzig, vielleicht mehr, und alle trugen Camazotz’ Zeichen
im Gesicht. Auch weibliche Vampire waren unter ihnen.
Aber sie sahen Buffy nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war
auf den Van gerichtet.
Sie hatten den Wagen eingekreist, verharrten aber
schweigend. Durch die Windschutzscheibe konnte Buffy Oz
und Willow sehen, die sich nicht rührten, als befürchteten sie,
dass eine einzige Bewegung die Vampire zum Angriff
veranlassen würde. Sie griffen nicht eher an, bevor die anderen
nicht den ersten Schritt taten; eine jämmerliche Strategie.
Dann begannen die Kakchiquels zu singen. Ihre Stimmen
wurden lauter, aber die Tonhöhe nahm ab, bis ihr Summen den
Boden zum Erbeben brachte, und ein Donner grollte, der so
laut war wie das Feuerwerk am Vierten Juli.

97
Das Ganze dauerte nur einen Moment. Einen einzigen
Moment.
Camazotz trat aus der Hafenmeisterei und blickte Buffy mit
glühenden Augen an. Der Dämonengott schleifte Giles an der
Gurgel hinter sich her wie eine Stoffpuppe. Einen kurzen
Augenblick dachte Buffy, dass sein Opfer schon tot war. Giles’
Brille war schon lange verschwunden, und das Blut auf seinem
Gesicht war bereits zum Teil getrocknet. Seine Augen waren
gläsern und matt. Eine Leiche, dachte sie. Er ist tot.
Aber er atmete noch.
Das reichte aus, um sie aus ihrer Erstarrung wachzurütteln,
den kurzen Moment der Lähmung wie eine dünne Eisschicht
auf einem See zu durchbrechen.
»Oz!«, brüllte sie. »Fahr!«
Camazotz schrie etwas in einer Sprache, die Buffy nicht
verstand. Und dann war es, als hätte jemand einen Knopf
gedrückt, denn mit einem Mal erwachten die Kakchiquels zum
Leben und verwandelten sich in Furcht erregende, bösartige
Monster. Sie schlugen die Windschutzscheibe ein, bevor Oz
den Motor starten konnte. Eine unglaublich große Frau, die im
Gesicht überall dort gepierct war, wo es normalerweise
besonders wehtat, zerschmetterte mit beiden Fäusten das
Fenster des Beifahrersitzes. Doch im selben Moment schoss
der Van ein paar Meter nach vorn, schleuderte dabei vier
Vampire zur Seite und zermalmte einen unter den Reifen. Der
überfahrene Blutsauger brüllte auf vor Schmerz, aber er würde
nicht sterben. Er konnte nicht sterben. Seine Qualen würden
Jahrhunderte währen.
Und das ist auch gut so, dachte Buffy.
Schwerfällig drängte sie sich durch die Masse der Vampire,
für vollendete Körperbeherrschung blieb ihr jetzt keine Zeit.
Bei Typen wie diesen, dachte sie, heißt es alles oder nichts.
Die Vampire umschwärmten sie wie Insekten und versuchten,
eine Schwachstelle in ihrer Verteidigung auszumachen. Sie

98
wehrte einen Schlag von hinten durch eine wirbelnde
Bewegung ab und brach damit ihrem Gegner das Nasenbein,
fing einen Tritt ab, der ihren Brustkorb hätte zerschmettern
können, und trat selber so hart zu, dass der Vampir vermutlich
das Bein gebrochen hatte... es waren zu viele, um sie alle zu
töten. Stattdessen musste sie sie kampfunfähig machen, sie zu
Krüppeln schlagen.
Nach wenigen Augenblicken hatte sie ihren Rhythmus
gefunden, und sie kämpfte, als wäre ihr Körper darauf
programmiert. Behände bohrte sie den Pfahl erst in ein Herz,
dann in ein zweites, wehrte einen Faustschlag ab, fing einen
Tritt ab und ließ den Pfahl anschließend in ein drittes Herz
sausen. Eine Wolke aus Staub und Asche hüllte sie ein und
überdeckte die salzige Luft des Meeres mit dem Gestank von
verwesenden Körpern und erkalteter Asche.
Irgendjemand schrie, grunzte, brüllte einen Schlachtruf nach
dem anderen, bis Buffy auf einmal erkannte, dass es ihre
eigene Stimme war. Schweiß tropfte ihr übers Gesicht, und ihr
Bewusstsein hatte sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen. Sie
war nun nur noch Buffy die Jägerin, die Kriegerin. In der Hitze
des Gefechts hatte Buffy ihr zweites Ich zurückgelassen.
Fledermaus-Gesichter stürzten sich auf sie, aber sie sah sie
nicht einmal mehr. Das Einzige, was ihr noch auffiel, war jene
Stelle auf der Brust, in die sie ihren Pfahl bohren musste.
Plötzlich zerriss ein Schrei die Nacht, unterbrach ihren
rasenden Zorn und störte den blutigen Kampf, den Buffy jetzt
nicht beenden wollte: Die Perfektion war gerade vollkommen,
ihr Fieber, ihre Ekstase einzigartig. Jemand rief ihren Namen.
Buffy horchte auf und sah, wie die große Vampir-Frau, stark
wie eine Amazone und im ganzen Gesicht gepierct, Willow aus
dem Fenster zerrte und auch dann nicht von ihr abließ, als Oz
den Motor startete und sie fast überfuhr. Da jedoch ein halbes
Dutzend Kakchiquels das Heck des Vans in die Höhe
gestemmt hatte, konnte er nicht weiterfahren. Plötzlich

99
zersplitterte die Heckscheibe, Xander erschien mit der
Armbrust und schoss einem der Angreifer mitten ins Herz. Das
Manöver gelang, doch sofort nahm eine andere Kreatur den
Platz ihres Vorgängers ein.
»Verdammt, nein!«, schrie Buffy.
Sie setzte zum Sprung an, drehte sich in der Luft blitzschnell
um die eigene Achse und trat dem Fledermaus-Gesicht vor ihr
fest genug in den Nacken, um ihm das Genick zu brechen. Als
Buffy wieder festen Boden unter den Füßen hatte, rannte sie
los zum Van. Zahlreiche Vampire stellten sich ihr in den Weg,
aber sie sprang über sie hinweg auf das Autodach und pfählte
die Vampir-Frau in letzter Sekunde. Sie explodierte in einer
Staubwolke, und Willow rutschte wieder zurück auf den Sitz.
Sie blutete aus mehreren tiefen Schnittwunden an Armen und
Bauch.
»Raus hier!«, rief Buffy und sprang wieder auf den Gehsteig.
Durch die zerbrochene Scheibe konnte sie sehen, wie Xander
weitere Bolzen in die Armbrust einlegte. Oz bedachte Willow
mit einem erwartungsvollen Blick und startete den Motor.
Willow ihrerseits starrte Buffy verblüfft an.
»Aber Giles...«, setzte sie an.
»Wir können ihm nicht helfen, wenn wir tot sind«,
unterbrach Buffy sie. Dann kletterte sie wieder auf das
Autodach, sprang hinten auf die Erde und schlug zwei der
Vampire nieder, die den Wagen festhielten. Den dritten
verwandelte sie in Staub.
»Jetzt!«, brüllte sie und beobachtete, wie Xander mit der
Armbrust einen Bolzen nach dem anderen abfeuerte.
Oz gab Gas. Willow starrte Buffy verzweifelt und
fassungslos durch die offene Rückscheibe an. Immer mehr
Vampire versuchten, sich an dem fahrenden Van
festzuklammern, aber Oz gelang es in Sekundenschnelle, ein
paar abzuschütteln und zu überfahren. Zwei jedoch gaben nicht

100
nach: Sie hingen hartnäckig am Auto und wurden hinter ihnen
hergeschleift.
Buffy kämpfte weiter und bekam aus den Augenwinkeln mit,
wie der Van aus der Gefahrenzone fuhr. Ein letzter Blutsauger
hing noch auf dem Dach. Als Buffy sich wieder kurz
umblickte, sah sie, wie Xander sich durch das Loch im Dach
aufrichtete. Sofort wollte der Vampir sich auf ihn stürzen, aber
Xander feuerte einen Bolzen in seine Brust.
Die Kreatur zerfiel zu Staub.
Der Van war nicht mehr zu sehen.
Sie sind in Sicherheit, dachte Buffy. Und jetzt zu Giles.
Suchend blickte sie sich nach Camazotz und ihrem
bewusstlosen ehemaligen Wächter um. Sie hatte mindestens
ein Dutzend Kakchiquels zur Strecke gebracht, aber trotzdem
schienen es immer mehr zu werden. Buffy war zwar die
Jägerin, aber auch ihre Kräfte schwanden langsam. Doch sie
kämpfte sich den Weg frei, ein Tritt, ein Schlag mit dem
Ellenbogen, ein Stoß mit dem Pfahl setzte ihre Gegner für
kurze Zeit außer Gefecht. Camazotz stand immer noch vor der
Hafenmeisterei. Buffy starrte ihn an.
Ihre Blicke trafen sich.
Sie sahen sich in die Augen – und mit einem Mal wusste
Buffy, dass er unbesiegbar war.
Camazotz hob Giles mit einer Hand in die Luft. Giles’ Kopf
knickte nach einer Seite weg, aber seine Augen waren geöffnet,
und es hatte fast den Anschein, als würde er endlich
aufwachen. Doch dann stieß der Dämon eine lange Kralle in
Giles’ Hals, und erneut begann Blut zu fließen. Aus der Reihe
der übrig geblichenen Vampire, die sich um ihren Meister
postiert hatten, traten Clown-Gesicht und Bulldogge hervor.
»Giles, nein!«, schrie Buffy. Sie war wie gelähmt vom
glühenden Flackern in Camazotz’ Augen und der Erkenntnis,
dass sie verloren hatte.

101
Dann rief sie wieder seinen Namen und stürzte auf die
Vampire zu. Camazotz begann zu lachen.
Durch die Rufe war Giles anscheinend wieder zum Leben
erwacht, denn er wehrte sich nun mit allen Mitteln. Buffy
versuchte verzweifelt, zu ihm durchzudringen, pfählte einen
Vampir und trat einem anderen so fest gegen den
Kieferknochen, dass es ihm fast den Kopf abriss. Dann fiel
Giles’ Blick auf Buffy, wie sie sich zwischen all den Vampiren
hindurchkämpfte, und er hörte auf zu toben.
Sie sahen sich in die Augen.
»Sieh zu, dass du verschwindest!«, brüllte er ihr zu. »Du
allein kannst ihn nicht besiegen. Hol Angel. Hol...«
»Bringt ihn zum Schweigen!«, befahl Camazotz.
Bulldogge hielt Giles fest, und Clown-Gesicht schlug ihm
hart auf den Schädel. Der Wächter erschlaffte. Anschließend
übergaben die zwei Vampire ihn den anderen Mitgliedern ihrer
Brut.
»Wähle, Jägerin!«, wies der Gott der Fledermäuse sie an.
Buffy wollte ihm ihren ganzen Hass entgegenschreien,
brachte aber keinen Ton heraus. Sie litt plötzlich Todesangst
und entließ all ihren Zorn und all ihre Angst in einem
gellenden Schrei, der ihre Lungenbläschen fast zum Platzen
brachte und ihre Stimmbänder zu zerreißen drohte. Dann
rannte sie los.
Aber zwischen ihnen standen viele Vampire.
Ihre Angst um Giles machte Buffy für einen Moment
unaufmerksam, und so sah sie weder das Geschoss, das wie ein
Baseball auf sie zuflog, noch hörte sie es nahen. Das hölzerne
Etwas schlug auf ihrem Kopf auf und brach entzwei, als sie
taumelte und auf den Gehsteig fiel.
Doch sie verdrängte den Schmerz, wischte sich das Blut aus
den Augen und sah auf. Die schneeweiß geschminkte Frau, die
Buffy Clown-Gesicht nannte, stand über ihr und grinste sie

102
blöd an. Kaum einen Herzschlag später war Bulldogge an ihrer
Seite.
Dann fingen sie an, Buffy zu treten.
Ein oder zwei Rippen brachen.
Sie kickten ihr mit den Füßen ins Gesicht, und Buffy spuckte
einen Zahn aus. Blut tropfte aus ihrem Mund.
Sie rollte sich herum und erhielt daraufhin einen Tritt in die
Wirbelsäule, der einen eisigen Schmerz durch alle
Nervenstränge ihres Körpers jagte. Ihre Augenlider zuckten,
und verschwommen erkannte sie etwa dreißig Meter weit
entfernt den hinteren Teil der Straße. Dort endete das Festland
und die Docks begannen – unmittelbar dahinter lag, wie ein
riesiger schwarzer Abgrund, das Meer.
Clown-Gesicht schlug ihr auf die Augen. Mit letzter Kraft
packte Buffy ihren Knöchel und verdrehte ihn so, dass sie das
Gleichgewicht verlor. Dann schwang sie blitzschnell ihre
eigenen Beine herum und trat Bulldogge die Füße weg.
Zwei weitere Vampire eilten herbei, aber zu spät. Buffy
entledigte sich ihrer mit einer Reihe von rasch aufeinander
folgenden Fausthieben und rannte davon. Der Gesang war
während des Kampfes verstummt, setzte aber jetzt wieder ein,
und Camazotz brüllte etwas Unverständliches. Buffy biss sich
auf die Lippen und betete zu allen Mächten, die ihr jetzt
hoffentlich zur Seite standen, dass der Fledermausgott Giles als
Geisel am Leben lassen würde. Als letzte Sicherheit.
Sie presste sich die Hand auf die Brust, genau dort, wo die
Rippen gebrochen waren und schrecklich schmerzten. Sie
blutete überall, und ihr Körper war so geschunden, dass er gar
nicht mehr auf den Schmerz reagierte. Wie betäubt lief sie
weiter. Als sie endlich die Docks erreicht hatte, rannte sie noch
ein Stück und sprang dann, ohne zu zögern, in die
schäumenden Wellen.
Wenigstens zwei Vampire nahmen die Verfolgung auf. Buffy
hörte, wie sie ins Wasser eintauchten.

103
Und sie brauchen noch nicht einmal zu atmen, dachte sie
verzweifelt. Ihre Hoffnungen schwanden gleichermaßen wie
das Blut in ihrem Körper.
Buffy tauchte in Richtung Grund, weiter, immer weiter,
drückte das Wasser weg, drang in die düsteren Tiefen des
Pazifiks ein und betete, sie mochten sie nicht vor morgen früh
aufspüren.
Doch der Morgen war nicht mehr fern.
Und die Luft wurde knapp.
Schon früher einmal war sie beinahe ertrunken. Aber jetzt
würde niemand zur Stelle sein, um sie aus dem Wasser zu
fischen.
Ihre Augen brannten von dem Salzwasser, aber Buffy zwang
sich, sie offen zu halten und in die Dunkelheit zu blicken. Ihre
Lungen brannten. Die Düsternis, die sie umgab, wurde nicht
nur von den Schatten verursacht, die auf den Meeresgrund
geworfen wurden, sondern ihr wurde auch langsam schwarz
vor Augen.
Ihre Glieder erschlafften.
Ihr Mund öffnete sich, und zum ersten Mal schluckte sie
Wasser.
Sie hörte auf zu schwimmen.

»Buffy.«
Sie kneift die Augen zusammen und versucht sich gegen die
Hitzewelle, die durch ihren Körper läuft, zu wehren. Sie
schmeckt Blut in ihrem Mund, beißend wie Kupfer, schluckt
wieder etwas, röchelt und spuckt es aus, und ihr Gesicht sinkt
auf den Grund.
»Buffy.«
Sie öffnet die Augen und blinzelt, schreckt zurück vor den
hellen Sonnenstrahlen. Ihre Brust ist ganz schwer, ihr Hals
schmerzt so sehr, dass sie nicht sprechen und kaum atmen
kann.

104
»Buffy.«
Feuchter Sand klebt an ihrer Brust, und Wasser tropft von
ihren Beinen und ihrem Bauch. Sie öffnet die Augen zu
Schlitzen und blickt auf, um zu sehen, wer dort unablässig
ihren Namen ruft.
Ein Geist. Es erstaunt sie nicht, denn ihr ist, als müsste sie
tot sein. Lucy Hanover schwebt in der Luft, ein Geist, durch
den sie hindurchblickt. Weiter oben an der Küste kann sie ein
paar Bäume erkennen, die sich im Wind bewegen. Ein
Gespenst, eine unheimliche Erscheinung, die schreckliche
Dinge verkündet, deren Augen wie kleine Geister aussehen,
Geister in einem Geist, Lucy, die sich selbst quält – durch das,
was sie sieht und weiß.
Sie hat keine Beine.
Stattdessen ist dort Nebel. Wie die Nebelschwaden, die
manchmal frühmorgens vom Meer aufsteigen. Vielleicht ist das
alles, was sein wird.
Sie treibt in der Luft umher.
»Buffy.«
»Lucy.« Ihre Stimme ist nur ein klein wenig lauter als das
Scharren eines Krebses, der über den Sand krabbelt.
»Die Katastrophe...«
»Steht bevor«, ergänzt Buffy. »Ich hab’s kapiert.«
»Nein.«
Lucy schwebt näher zu ihr hin und legt ihre Hand auf Buffys
Augen. Die Hitze der Sonnenstrahlen, die sie versengt haben,
nimmt ab, und eine angenehme Kühle tritt an ihre Stelle und
durchströmt ihren Körper. Sie entspannt sich.
Aber...
»Nein?«
»Camazotz ist nicht die Gefahr, vor der ich dich gewarnt
habe. Zumindest nicht ausschließlich. Die Seherin spricht von
mehr. Eine Vampirplage wird kommen. Eine Plage, die die
Sonne über dem Höllenschlund verdunkeln wird.«

105
»Es ist nicht Camazotz?«
»Nicht er allein. Ich kann nur das Wenige verkünden, was sie
mir mitgeteilt hat.«
»Ist es mein Fehler?«
In Lucys Augen schimmern Tränen. »Ja. Es tut mir Leid.«
Buffys Tränen sind schon lange versiegt. »Das ist mir
gleichgültig.«
»Was meinst du damit?«
»Giles«, entgegnete die Jägerin. »Das Einzige, was zählt. Ich
habe ihn im Stich gelassen.«
Lucy versteht, und eine Spur von Trauer trübt ihre Züge.
Blaue und weiße Wolken steigen hinter ihr auf, durch sie
hindurch. »Du lebst. Deine Alternative wäre der Tod
gewesen.«
»Ich bin nicht tot?« Eine Schockwelle durchläuft Buffy.
Wieder schwappen die Wellen über sie.
»Noch nicht.«

»Buffy?«
Der Traum verblasste und verschwand. Ihre Augen flatterten
und öffneten sich, und sie zuckte vor der unbarmherzigen
Sonne zurück, schmeckte feuchten Sand in ihrem Mund und
fühlte das Plätschern von Wasser ganz in ihrer Nähe. Die
Brandung rollte vor und zurück, und kleine Wellen berührten
sie. Der Strand. Sie hatte es bis zum Strand geschafft.
Vertraute Umrisse warfen ihren Schatten auf sie.
»Bist du in Ordnung?«
Es war Willow, mit Tränen in den Augen. Oz stand neben
ihr, und sein normalerweise unbewegtes Gesicht war ganz
angespannt vor Sorge.
»Will«, krächzte Buffy. Der Schmerz in ihrem Hals war
unerträglich. »Ich glaube, ich bin fast ertrunken«, flüsterte sie
dann kaum hörbar. »Ich fühle mich, als wäre ich in der Hölle
gewesen.«

106
»So siehst du auch aus«, meinte Oz.
»Mensch, Buffy, wir haben den ganzen Morgen nach dir
gesucht. Wir dachten, du wärst tot.«
Das habe ich auch gedacht, schoss es Buffy durch den Kopf.
Vorsichtig schlang Willow die Arme um sie, bedacht darauf,
sie nicht an den Stellen ihres Körpers zu berühren, an denen sie
verletzt war. Buffy brach fast das Herz, so dankbar war sie für
diese liebevolle Geste ihrer besten Freundin, für das, was sie
miteinander verband und für die Kraft, die Willow ihr in
diesem Moment gab.
Dann kam alles wieder hoch.
»Willow«, sagte Buffy mit belegter Stimme, fast unfähig zu
atmen. »Sie haben Giles. Camazotz hat ihn in seiner Gewalt.
Ich weiß nicht, ob er noch... Ich weiß nicht...«
Willow presste die Lippen aufeinander, versuchte, ihre
eigene Furcht und ihren Kummer zu verbergen, und nickte
dann entschlossen. »Wir werden ihn finden. Ich schwöre dir,
dass wir ihn finden werden.«

107
7
»Ich hätte nicht weglaufen dürfen.«
Buffy fühlte sich ganz steif, und ihr war kalt. Obwohl ihre
Schnittwunden und Prellungen bereits zu heilen begannen und
teilweise sogar schon verschwunden waren, fühlte sie sich leer
und ausgehöhlt, als wären ihre Lebenskräfte durch den Kampf
mit Camazotz aufgebraucht worden. Und irgendwie war dem
auch so.
Willow griff nach Buffys Hand, wie um sie vor dem
Ertrinken zu retten. Ertrinken. Sie saßen jetzt beide in dem
Schlafzimmer, das sie miteinander teilten, doch Buffy fühlte
sich, als wäre sie nie an den sicheren Strand gespült worden,
als treibe sie immer noch auf den Wellen, den Gezeiten hilflos
ausgeliefert.
Oz lehnte im Türrahmen. Anya saß am Rand von Willows
Bett, und Xander lag ausgestreckt hinter ihr. Ähnlich wie bei
Willow war sein ganzer Körper übersät mit Stichwunden, die
vom zerbrochenen Glas des Vans herrührten. Seine linke
Stirnhälfte zierte eine Reihe von sechs Stichen. Es sah fast so
aus, als wäre er auch am Hinterkopf genäht worden, aber Buffy
hatte ihn nicht darum gebeten, es sehen zu dürfen.
Xander war ungewöhnlich still. Er hatte Schmerzen.
»Verdammt, ich kann’s einfach nicht glauben«, murmelte
Buffy und schüttelte den Kopf.
»Hey«, sagte Willow sanft. »Du hast das einzig Richtige
getan.«
Buffy sah sie alle der Reihe nach an und versuchte, aus den
Augen der anderen zu schließen, was sie dachten. Dann
schaute sie aus dem Fenster und kurz darauf wieder zu Willow.
»Will... ich bin abgehauen. Giles könnte tot sein. Ich bin
abgehauen!«

108
»Nein. Du bist um dein Leben gerannt. Buffy, das ist ein
Unterschied! Du hast selbst gesagt, dass, wenn du geblieben
wärst, ihr jetzt vermutlich beide tot wäret. Es war deine einzige
Chance. Und jetzt haben wir eine Chance.«
»Wenn sie ihn nicht...« Buffy konnte an nichts anderes mehr
denken.
Xander fuhr zusammen. »Haben sie nicht«, sagte er tonlos.
Auch wenn seine Augen nicht wie sonst funkelten, sah Buffy
doch ein Leuchten in ihnen, das sie noch nie zuvor gesehen
hatte. Ein scharfes Glimmen, ein Lichtstrahl wie der einer
scharf geschliffenen Klinge. Nur Schmerz und Zorn konnten so
etwas verursachen. Buffy wusste das besser als jeder andere.
»Xand...«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Das war keine
Falle, Buffy«, klärte er sie auf. »Aber es hätte eine sein
können. Camazotz wusste, dass du kommen würdest, und er
war bereit. Giles schnüffelte herum und machte den
Hafenmeister misstrauisch, sodass der seinen Boss anrief, den
Fledermausgott. Er hat Giles nicht getötet, doch es wäre ihm
ein Leichtes gewesen. Und Camazotz hat ihn auch am Leben
gelassen. Er ist ihre Versicherung. Du weißt, dass ich Recht
habe. Du hast es instinktiv auch gewusst, sonst wärst du nicht
ins Meer geflüchtet.«
Wieder blickte Buffy ihre Freunde der Reihe nach an. Sie
war immer noch ganz steif. Oz hatte einen grimmigen
Gesichtsausdruck aufgesetzt und zog die Augenbrauen
zusammen. Anyas Blick war erwartungsvoll. Aus Willows
Augen sprachen Liebe und Besorgnis, und sie schlenkerte mit
den Armen, wie um ihre eigenen Verletzungen vor Buffy zu
verbergen. Aber es war Xanders blau geschlagenes,
zerschnittenes Gesicht, das ihr am meisten zusetzte.
Entschlossen blickte er sie an und fuhr dann fort.
»Noch zwei Dinge, Buff«, sagte er. »Dann verabschiede ich
mich, falls ihr erlaubt. Als Erstes wollte ich sagen, dass

109
Willow, Oz und ich tot wären, wenn du uns nicht gerettet
hättest. Ich fühle mich zwar, als wäre ich von einer ganzen
Vampirhorde schikaniert worden, aber das ist immer noch
besser, als tot zu sein. Das Zweite ist, dass ich überzeugt bin,
dass Giles noch lebt. Alles andere würde keinen Sinn machen.
Nicht dass ich hier Druck machen will, aber ich finde, wir
sollten uns mal Gedanken darüber machen, ob wir eine Truppe
organisieren und ihn da rausholen.«
Die Last der Verantwortung, sowohl in vergangener als auch
in zukünftiger Hinsicht, lag unglaublich schwer auf Buffys
Schultern. Alle blickten sie erwartungsvoll an, und sie starrte
auf den Boden. Ihre Nasenflügel zitterten, und ihre Zähne
knirschten. Langsam begann das steife Gefühl zu
verschwinden. Sie begriff, dass es nur eine Schutzfunktion
ihres Körpers gewesen war, damit ihre Verzweiflung und
Angst um Giles nicht überhand nahmen und alles andere
blockierten.
Eine kurze Zeit lang war sie verloren gewesen.
Das war jetzt vorbei.
»Buffy?«, sprach Willow sie an.
Sie berührte Willows Hand, nickte einmal und erhob sich.
Mit grimmigem Gesichtsaudruck durchschritt sie das Zimmer
und rief sich nicht nur die Ereignisse der letzten Nacht, sondern
auch den seltsamen Traum von Lucy Hanover und die
entsetzlichen Prophezeiungen der unbekannten, geisterhaften
Seherin ins Gedächtnis. Als Buffy an den Strand gespült
worden war, hatte Lucy sie wieder im Traum besucht. Die
ehemalige Jägerin, die jetzt ein Geist war, hatte ihr erzählt,
dass nicht Camazotz die Gefahr war, vor der sie sie vor kurzem
gewarnt hatte. Das beunruhigte Buffy mehr als alles andere.
Sie konnte es sich nicht leisten, die Augen zu verschließen,
wenn Giles’ Leben auf dem Spiel stand, und die Stadt von
Camazotz und seiner gefährlichen Gefolgschaft bedroht wurde.

110
»Es ist alles meine Schuld«, flüsterte sie hilflos. »Ich war so
sehr damit beschäftigt, alle Dinge unter einen Hut zu bringen
und eure Hilfe auszuschlagen, dass ich...«
Buffy schloss die Augen. Ihr Körper drohte wieder steif zu
werden, aber sie versuchte sich zu entspannen. »Willow«, sagte
sie rasch. »Du könntest den Zauberspruch vorbereiten, den
Giles ursprünglich hatte einsetzen wollen. Nehmen wir an, du
schaffst es, ihr Schiff ausfindig zu machen. Könntest du dann
irgendeinen Zauber erwirken, um uns so lange vor ihnen zu
verbergen, bis wir im Schiff sind? Einen Bannspruch,
irgendetwas, das uns für sie unsichtbar macht, und wir den
Überraschungsmoment ausnutzen können?«
Willow runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Ich
weiß nicht. Giles hätte...« Sie blickte schuldbewusst auf. »Lasst
mich ein wenig recherchieren. Vielleicht ein
Verhüllungszauber. Aber so etwas ist ernst zu nehmende
Hexerei, und...«
»Nein, tu’s nicht, wenn du meinst, es ist zu gefährlich. Ich
möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Keinem von euch.« Buffy
blickte ihre Freunde an. »Das ist der Plan. Anya, du bleibst bei
Willow und gehst ihr beim Recherchieren und bei den
Zaubervorbereitungen zur Hand. Jahrhundertelange
Dämonenerfahrung muss doch für irgendetwas gut sein, oder?
Oz, wir arbeiten gemeinsam, stellen die Waffen zusammen und
überlegen uns einen Schlachtplan.«
»Hallo?«, ließ Xander verlauten und wackelte mit den
Fingern seiner rechten Hand. Er hatte es sich immer noch
bäuchlings auf Willows Bett bequem gemacht.
»Was ist meine Aufgabe? Mission impossible?«
»Dich brauche ich hier«, entgegnete Buffy. »Du musst auf
Angel warten.«
Alle blickten auf. Willow und Anya sprachen gleichzeitig.
»Angel?«

111
Buffy nickte ernst. »Sobald wir hier fertig sind, rufe ich ihn
an und erzähle ihm, was hier los ist. Ich hab keine Ahnung, ob
er kommen wird...«
»Er wird kommen«, sagte Willow traurig. »Du weißt, dass er
kommen wird.«
»Ich hoffe, du hast Recht«, erwiderte Buffy. »Wir können
jede Hilfe gebrauchen, die wir kriegen können. Ich wollte ihn
nicht... aber nach dem, was Lucy Hanover mir erzählt hat,
müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen.«
Sie drehte sich zu Willow um. »Wir müssen uns informieren,
mehr darüber erfahren. Wir müssen Lucy rufen und versuchen,
in direkten Kontakt mit diesem geheimnisvollen Sehergeist zu
treten. Vielleicht gelingt es uns, mehr aus ihr
herauszubekommen als ein ›Ihr seid dem Untergang geweiht‹.«

Ausnahmsweise schien die Sonne... ausgerechnet jetzt, wo


ein wenig Dunkelheit angebracht gewesen wäre. In Buffys und
Willows Zimmer waren die Jalousien heruntergezogen, sodass
nur ein winziger Schimmer Sonnenlicht seinen Weg durch die
Ritzen fand. Sie hatten weiße Kerzen im Kreis aufgestellt, und
deren orangeweiße Flammen flatterten in einem Windzug, der
von nirgendwo zu kommen schien.
Buffy und Willow saßen sich in ihren Schreibtischstühlen
aus Holz gegenüber, die sie zwischen die beiden Betten gestellt
hatten. Xander und Anya hatten sich auf das eine Bett, Oz auf
das andere begeben, und zusammen bildeten sie auf diese
Weise einen großen Kreis. Von den früheren Malen, an denen
sie so etwas durchgeführt hatten, wusste Buffy, dass man das
Ganze genaugenommen eine Séance nannte, oder auch
Geistersitzung. Aber die Zeit war zu knapp, sich über derartige
Formalitäten Gedanken zu machen. Viel zu knapp.
»Konzentriert euch!«, befahl Willow.
Ihre Stimme hört sich anders an als sonst, fiel Buffy auf, viel
tiefer, selbstsicherer. In solchen Situationen war es stets so, als

112
würde Willow, der Teenager, ihre Schale abwerfen und sich in
jene selbstbewusste und erfolgreiche Frau verwandeln, die sie
einmal sein würde. Ihre Unsicherheit, die schüchterne
Zurückhaltung, die so oft in ihrer Stimme zum Ausdruck kam,
war vollständig verschwunden. Willow strahlte vor Energie,
lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Zunächst
schien sie mit dem Licht der Kerze zu verschmelzen und dann
mit der Energie im Raum eins zu werden. Buffy fand, dass sie
noch nie so schön ausgesehen hatte.
Willow schlug die Augen auf und sah Buffy durchdringend
an. »Ich sagte, konzentriert euch!«
»Oh«, erwiderte Buffy verlegen. »Entschuldigung.«
Sie schloss die Augen und atmete lang und tief ein, hielt
einen Moment inne und atmete dann aus, als wäre es ihr letzter
Atemzug. Das war eine Atemtechnik, die Giles ihr vor vielen
Jahren in der High School beigebracht hatte, und die man zu
meditativen Zwecken einsetzte. Sie funktionierte immer.
Giles.
Buffy konzentrierte sich so gut es ging, aber die Gedanken an
Giles ließen sich nicht aus ihrem Kopf vertreiben, sie waren
wie eingeschlossen in dem Verlies ihrer Erinnerung.
»Voller Hoffnung, Licht und Erbarmen öffnen wir unsere
Herzen all jenen Wanderern zwischen den Welten, die mein
Rufen hören und die wir bitten, uns in dieser dunklen Stunde
beizustehen«, begann Willow und verlieh jedem einzelnen
Wort ganz besonderes Gewicht.
Buffy fühlte, wie Xanders Hand sie berührte, und sie spürte
Oz’ Hand auf der anderen Seite. Es war, als ob die natürlichen
Stärken Willows, ihre Ausgeglichenheit und die mystischen
Fähigkeiten ihres Herzens und ihrer Seele sie so empfänglich
machten für das Übernatürliche. Eine Art Energie floss wie
eine elektrische Strömung durch sie hindurch, sie waren ein
geschlossener Kreis weißer Magie, sichtbar für die Seelen, zu
denen Willow jetzt sprach.

113
Hört sie sie, wenn sie die Augen schließt?, fragte Buffy sich.
Kann sie sie sehen? Sie hatten nie darüber gesprochen, und
Buffy glaubte nicht, dass sie Willow je fragen würde. Das
Ganze war irgendwie zu intim, ungefähr so, als würde man
jemanden über die Details einer leidenschaftlichen
Liebesbeziehung ausfragen.
»Ihr Geister der Luft, tragt meine Stimme zu den Pfaden der
Toten, flüstert meine Botschaft jeder verlorenen Seele und
jedem Wanderer zu«, fuhr Willow mit ihrer tiefen Stimme fort,
die einem Gesang immer ähnlicher wurde. »Ich ersuche den
Rat von Lucy Hanover, sie, die einst die Jägerin war. Sie, die
nun die Laterne trägt, um den Pfad zwischen den Welten zu
erleuchten und den Reisenden den Weg zu weisen.«
Giles.
Als erneut ein Hauch von Traurigkeit durch ihre Gedanken
huschte, mahnte Buffy sich zur Konzentration. Giles war am
Leben. Etwas anderes würde – und wollte – sie nicht glauben.
Aber sie wusste, welches Schicksal ihm blühen konnte. Sie
hatte gesehen, wie man ihn grün und blau geschlagen, wie der
Hafenmeister ihm seine Fänge ins Fleisch gebohrt hatte und
wie das Blut geflossen war, nachdem Camazotz ihm den Hals
aufgeschlitzt hatte.
Widerwillig erinnerte Buffy sich, dass Giles nicht viel von
Geisterbeschwörung hielt. Ich möchte, hatte er gesagt, dass
irgendwo festgehalten wird, dass ich dagegen bin. Die Geister
der Toten zu rufen, ist nicht der ungefährlichste Weg.
Natürlich hatte er Recht. Schließlich war es sein Job, über
solche Dinge Bescheid zu wissen. Aber jetzt hatten sie nun
einmal keine andere Wahl. Nur so konnten sie herausfinden,
mit wem da draußen sie es zu tun hatten und welche Rolle
Camazotz dabei spielte – falls er überhaupt eine spielte. Und
vor allem mussten sie endlich Klarheit darüber erlangen,
welche Rolle Buffy in der zu eskalieren drohenden Situation

114
spielte und was sie tun konnte, um die Katastrophe zu
verhindern.
Nach dreißig Sekunden Stille sprach Willow wieder, dieses
Mal war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Lucy,
tragen die Seelen der Verlorenen meine Stimme zu dir?«
Die Antwort folgte unmittelbar.
»Ja, das tun sie.«
Buffy öffnete die Augen, und die anderen taten es ihr gleich.
In der Mitte des Kreises, den sie geschaffen hatten, erschien
nun Lucy Hanover. Das Flackern der Kerzen und das wenige
Sonnenlicht, das durch die Ritzen drang und Schatten ins
Zimmer warf, erzeugte ein dämmriges, gedämpftes Licht.
Sowohl der Raum als auch der Geist wirkten in dieser
Umgebung ganz grau, und Lucy ähnelte weniger einem Wesen
aus Nebel und Dunst als vielmehr einer uralten Sepiadruck-
Fotografie, die man irgendwie mitten in den Raum projiziert
hatte.
»Sei gegrüßt, Freundin Willow«, meldete sie sich zu Wort.
Ihre Stimme hörte sich hohl an und schien von weit her zu
kommen. Dann richtete der Geist seine dunklen Augen auf
Buffy. »Wir treffen uns abermals, Jägerin. Ich bedaure, was
passiert ist, Buffy. Die Reisenden zwischen den Welten
bringen viel Gerede, aber auch schreckliche Botschaft.«
Buffy blieb das Herz stehen. »Giles?«, fragte sie leise, als
fürchte sie sich davor, seinen Namen zu laut auszusprechen.
»Er ist doch nicht...«
Lucys Augen blickten freundlich. »Nein. Er ist noch nicht
unter den Geistern. Du hast noch Zeit, ihn zurückzuholen.«
Obwohl sie fast gelähmt gewesen war vor Sorge um ihren
Freund, wurde ihr erst jetzt, nach Lucys Worten, wirklich klar,
wie viel Angst sie um ihn gehabt hatte. Beständig hatte ihr eine
innere Stimme zugeflüstert, dass sie sich damit abfinden
müsste, wenn es doch schon zu spät für Giles sein würde.
Buffy nickte. »Ich werde ihn da rausholen.«

115
»Lucy«, unterbrach Willow die beiden. »Buffy hat uns
erzählt, was du ihr im Traum gesagt hast. Über diese Seherin.
Doch deine Warnungen sind undeutlich, und nach allem, was
passiert ist, müssen wir so viel wie möglich darüber wissen.
Wir möchten die vollständige Prophezeiung hören.«
Lucy schüttelte traurig den Kopf. Ihre Silhouette bewegte
sich, flackerte wie Kerzenlicht, und der Nebel, der ihre Beine
verdeckte, zog sich zur Hälfte in die Breite, sodass es wirkte,
als wäre sie geschrumpft.
»Ich bin keine Seherin, Willow. Ich kann nicht versprechen,
dass das, was sie vorhersagt, auch eintreffen wird. Ich kenne
sie nicht und weiß nicht mehr über sie als das, was die
verlorenen Seelen sich zuflüstern. Sie sagen, dass sie die
Zukunft sehen kann, dass sie das Rätsel der Zeit durchschaut.
Ich habe nur der Jägerin von ihren Prophezeiungen berichtet,
damit ihr alle gewappnet seid gegen das, was kommen wird.«
Willow warf Buffy einen besorgten Blick zu; sie war sich
anscheinend unsicher, wie sie das Gespräch fortführen sollte.
Buffy zögerte nicht lange. »Können wir mit ihr sprechen?«
»Wenn sie bereit ist, mit euch zu sprechen«, antwortete Lucy
mit hohler Stimme. »Ich werde nach ihr suchen.«
Dann, als wäre sie nie dagewesen, war sie einfach
verschwunden.
Oz löste als Erster den Kreis auf. Er ließ Buffys Hand los,
und Buffy ließ Xanders Hand los. Sie alle holten tief Luft,
blinzelten und sahen sich schweigend an.
Anya untersuchte Xander, als befürchte sie, dass die
Anstrengung ihn zu Tode erschöpft haben könnte. Buffy fand
das Ganze gleichermaßen süß und unheimlich – Xanders
Freundin wirkte wie ein Pathologe, der den toten Körper eines
geliebten Menschen autopsiert. Willow hatte ihre
Selbstsicherheit wieder eingebüßt und sah ein wenig verloren
aus, wie sie sich so umsah, offensichtlich unsicher darüber, was
als Nächstes anstand.

116
Oz brach das Schweigen. »Na, das hat uns ja richtig was
gebracht«, meinte er.
»Was machen wir jetzt?« Xander blickte Buffy an, nickte
auffordernd mit dem Kopf und zog die Augenbrauen hoch.
»Buff?«
»Wir warten.«
»Und wie lange?«, drängte Anya. »Ich muss mal pinkeln.
Manche finden das ja angeblich erotisch, aber ich find’s eher
lästig und ziehe es persönlich vor, diesem Bedürfnis nicht in
aller Öffentlichkeit nachzugehen.«
Buffy fragte sich, ob ihr Gesichtsaudruck all ihren Ärger und
Abscheu genügend zum Ausdruck brachte. »Ich stimme mit dir
überein, dass es lästig ist... unangenehm. Bitte. Dort ist die
Toilette.«
Anya stand auf und ging zur Tür.
Ein Windstoß warf sie fast um. Die Böe wehte so heftig
durch das Zimmer, dass sie beinahe den Putz von den Wänden
gefegt hätte. Amy lief wie wild in ihrem Rattenkäfig im Kreis
und kreischte. Die Fenster waren geschlossen, doch jetzt
rüttelte der Wind an ihnen. Das Wachs lief nur so von den
Kerzen. Seltsamerweise gingen diese jedoch nicht aus, sondern
brannten nach wie vor.
Dann, als hätte jemand die Kerzen auf einem
Geburtstagskuchen mit einem Mal ausgeblasen, wurde es
plötzlich dunkel im Zimmer.
Auch von dem Sonnenlicht, das vorher durch die Ritzen der
Jalousien gekrochen war und die Schatten an die Wände
geworfen hatte, war auf einmal nichts mehr zu sehen.
Dann flaute der Wind etwas ab und erzeugte stattdessen in
der Mitte des Zimmers eine Art Mini-Tornado. Er schien eine
ölige Substanz abzusondern, wobei das Öl sich ausbreitete und
zu einer Form verdichtete. Der Wind nahm ab.
Nahm Gestalt an.
»Sie ist willens mit euch zu sprechen.«

117
Buffy blickte rasch zum Fenster und sah den Geist von Lucy
Hanover dort schweben, wachsam.
Auf der Hut.
Als sie sich wieder umdrehte, fiel ihr auf, dass kein
Lufthauch mehr zu spüren war und das kreisende schwarze
Herz des Tornados sich zu einer Figur geformt hatte, zu der
Silhouette einer Frau. Die Seherin hatte jedoch weder ein
Gesicht, noch bestand sie aus einer festen Substanz. Kein
Nebelschleier verlieh ihr wie Lucy eine Form. Stattdessen war
die Seherin nichts als ein Loch in der Mitte des Zimmers, das
die Form einer Frau aufwies, ein schwarzer Abgrund, der in der
Luft schwebte wie der Ruß eines Schornsteins.
Aber das Loch sprach. Sie sprach.
»Jägerin. Du hast mich gerufen. Womit kann ich dir dienen?«
Ihre Stimme hörte sich an wie das heisere Flüstern eines
Kettenrauchers, dessen Rachen vom Krebs vollständig zerstört
worden ist. Sie sprach wie eine gequälte Kreatur, gepeinigt und
wissend zugleich.
Buffy beeilte sich. Je schneller die Seherin wieder aus dem
Zimmer verschwand, desto besser.
»Lucy hat mir erzählt, dass du eine schreckliche Katastrophe
kommen siehst. Mit apokalyptischen Ausmaßen und ebenso
böse, zumindest aber sehr schlimm. Sie sagte mir auch, dass du
der Meinung bist, es würde durch meinen Fehler geschehen.
Ich brauche deine Hilfe. Gibt es denn keine Möglichkeit, die
Katastrophe zu verhindern? Den Fehler nicht zu begehen? Und
wenn es wirklich keinen Weg gibt, das alles zu verhindern,
dann muss ich mehr über das Böse, das kommen wird, wissen,
wie es aussehen wird und wie ich es bekämpfen kann. Ein
Dämon treibt hier in der Stadt sein Unwesen, ein uralter,
mächtiger...«
Die Seherin lachte. Ihre Gestalt, einem Obsidian gleich,
flackerte und begann im Raum umherzutreiben, ein Riss

118
zwischen den Welten. Es schmerzte, sie anzusehen, obwohl
Buffy nicht einmal genau sagen konnte, warum.
»Ich verstehe nicht, was jetzt so lustig ist«, entfuhr es
Xander.
Anya mahnte ihn, still zu sein, und Buffy hielt sie nicht
davon ab. Bei derartigen Wesen sollte niemand versuchen, die
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber Buffy hatte keine
andere Wahl.
»Du wirst uns also nicht helfen?«
»Nein. Ich kann nicht.« Der wirbelnde Schatten bewegte sich
ganz leicht auf Buffy zu. »Das, was du fürchtest, ist schon in
Gang gesetzt worden. Die Würfel sind gefallen. Deinen Fehler,
Jägerin, hast du bereits begangen.«
»Was?«, fragte Buffy entsetzt. Sie starrte die Seherin mit
offenem Mund an. Ihr setzte der Atem und einen Moment lang
sogar der Herzschlag aus. Dann schüttelte sie den Kopf und
gab einen leisen, kläglichen Aufschrei von sich. »Aber ich
habe doch nichts getan. Wie kann das sein? Und es hat sich
doch noch nichts verändert.«
»Aber es wird sich etwas verändern«, erklärte die Seherin.
»Niemand kann die Zukunft jetzt noch aufhalten. Die Uhr tickt
bereits. Aber ich kann dir meine Vision zeigen, meine Sicht mit
dir teilen, sodass du sehen kannst, was kommen wird, und du
dich besser darauf vorbereiten kannst.«
Buffy taumelte und starrte erst Willow und Oz und dann
Xander und Anya an. Sie alle waren nicht minder geschockt
von den Worten der Seherin. Lucy Hanover, die immer noch
am Fenster schwebte, streckte beide Hände in Richtung der
Jägerin aus, als wollte sie ihr helfen, sie halten, damit sie nicht
unter der erdrückenden Last dieser Nachricht zusammenbrach.
Prophezeiung, versuchte Buffy sich innerlich Mut
zuzusprechen. Es ist noch keine unabänderliche Tatsache. Wir
wissen nicht, ob es wahr ist.

119
Aber es hörte sich wahr an. Die Worte der Seherin wogen
schwer vor Endgültigkeit. Vor dem Untergang.
Buffy schluckte und blickte dann wieder die ölige Form an.
»Zeig es mir.«
»Ich brauche dich nur zu berühren, und du wirst sehen.«
»Tu es«, forderte Buffy sie auf.
Die ölige, glänzende Form der Seherin glitt vorwärts. Der
Riss im Gefüge der Welt, Finger wie Ranken näherten sich ihr.
»Buffy«, sagte Willow bedächtig, und ihre Stimme zitterte
ein wenig vor Furcht. »Vielleicht ist das keine so gute...«
Die Seherin berührte sie.
Drang in sie ein.
Und Buffy schrie.

Fortgerissen.
Buffy raste vorwärts, nicht durch etwas, das sie nach vorne
drückte, sondern sie wurde plötzlich in einen schwarzen und
roten Abgrund gerissen, gezogen, geschleppt. Alles schmerzte,
ihr Gesicht fühlte sich an, als würde es in Stücke gerissen und
würde weiter und immer weiter in die schwarze, unendliche
Schlucht vor ihr gezogen, getrennt von ihrem Körper, von dem
Gewicht, das aus ihrem Fleisch und Blut und Knochen und
dem Bild bestand, das sie von sich selbst hatte. Was war noch
von ihr übrig? Geist und Herz und Seele. Ein Gesicht. Augen
und Ohren und ein Mund. Wörter.
Rote Strudel rissen Löcher in den samtigen Schatten, der sie
umgab, flammten hinter ihr auf, als sie vorwärts gezogen
wurde. Es sah aus, als würde das ganze Universum aus den
Fugen gerissen und bluten.
Eine vage Vermutung zunächst, doch sie vertrieb den Nebel,
der ihren Geist umhüllte, und eine finstere Erkenntnis
überwältigte sie.
Das war keine Vision. Irgendwie hatte ihr Geist sich von
ihrem Körper getrennt und reiste jetzt durch die Unendlichkeit.

120
Raste unaufhaltsam und ohne Kontrolle auf einen bodenlosen
Punkt in weiter Ferne zu.
Buffy fühlte, wie sie den Verstand verlor, von etwas erfasst
und in die Leere gezogen wurde... weiter... und weiter. Sie
wurde in eine Art Schlaf versetzt, war gleichzeitig bei
Bewusstsein und doch unfähig, auf ihre Umgebung zu
reagieren.
Dann plötzlich fühlte sie, dass die Leere nicht unendlich, der
Abgrund nicht grenzenlos war. Irgendwo gab es eine Schranke,
eine Wand, und sie raste darauf zu und würde damit
kollidieren. Sie spähte durch die Dunkelheit vor sich, aber
alles war schwarz, blind. Blind oder sehend, sie konnte es
fühlen, seine Nähe spüren, als sie weiter dem unvermeidlichen
Aufprall entgegenstürzte.
Dann kam die Wand.

Kaltes Wasser platschte in ihr Gesicht.


Geschockt starrte Buffy ihre gespreizten Finger, das
schmutzige, rissige Porzellan des Waschbeckens und das
Wasser an, das aus dem Hahn lief. Instinktiv schaute sie hoch,
um sich im Spiegel über dem Waschbecken zu betrachten, aber
da war kein Spiegel.
Natürlich ist da kein Spiegel. Sie haben ihn am ersten Tag
abgenommen, ging es ihr durch den Kopf. Ihr kam jener
schreckliche Tag vor fünf Jahren in den Sinn, als Clown-
Gesicht und Bulldogge sie überwältigt, sie blutig und fast
bewusstlos geschlagen und anschließend in diese Zelle gesteckt
hatten. Sie wollten nicht, dass ich mir die Pulsadern damit
aufschneide, erinnerte sie sich.
Wie ein in die Ecke getriebenes und gehetztes Tier wirbelte
Buffy herum, und ihre Augen huschten durch den Raum. Die
Zelle. Die Gitterstäbe vor den zwei hohen Fenstern ließen so
gut wie kein Sonnenlicht aus der Außenwelt hinein. Nichts als

121
meterdicke Steinwände. Eine vernietete Stahltür, an der es
weder einen Türgriff noch ein Schlüsselloch gab.
Für mich gebaut. Sie haben die Zelle für mich gebaut. Immer
wieder murmelte Buffy diese Sätze vor sich hin.
Sie packte sich mit den Händen an den Kopf und presste die
Augen fest zu. Dann riss sie sie wieder auf, blickte sich in der
Zelle um und schlang die Arme um sich. Buffy wusste es. Sie
verstand nicht wieso, aber sie wusste es.
Unmöglich.
Aber es war die Wahrheit.
Sie war schon seit sehr langer Zeit in dieser Zelle.
Widerwillig und ängstlich zugleich musterte sie ihre Hände.
Raue, grobe Hände, mit Rissen und Furchen, die vorher nicht
da waren. Sie streckte sich, fühlte ihren Körper, sah in sich
hinein.
Sie war nicht dünner als früher. Aber stärker. Härter. Ihr
Körper bestand nur noch aus Muskeln, so wie bei den
olympischen Athleten, von denen sie Bilder im Fernsehen und
in Zeitschriften gesehen hatte, und deren Leben aus nichts
anderem als aus Üben, Üben, Üben und Training und Sport
bestand.
Aber ihr Körper war nicht wie der eines Sportlers.
Buffys Körper war gespannt und gefährlich. Sie fühlte es,
fühlte es in der Art, wie sie sich bewegte. Ihr Körper war eine
Waffe.
Die Zelle. Unzählige Tage und Nächte hatte sie darin
verbracht, von nichts anderem umgeben als von den vier
Wänden, und mit nichts anderem beschäftigt, als ihren Körper
rücksichtslos zur Bewegung zu zwingen. Vampire mit
tätowierten Gesichtern und orange glühenden Flammen in den
Augen; sie gaben ihr zu essen, hielten sie am Leben, nicht
mehr und nicht weniger. Keine Gespräche, noch nicht einmal
Bedrohungen oder Beschimpfungen. Nur das Training ihres

122
Körpers und die Hoffnung, eines Tages auszubrechen, hielten
ihre Lebensgeister wach.
Manchmal jedoch schwand auch diese Hoffnung dahin, und
nur noch die Routine des Trainings blieb. Kaum noch
Hoffnung.
Das sind nicht meine Erinnerungen, zweifelte Buffy. Das
können nicht meine Erinnerungen sein. Ich erinnere mich an
gestern. Sie haben Giles gefangen. Camazotz ist in Sunnydale
eingefallen. Lucy Hanover ist mir in meinen Träumen
erschienen, und Willow hat sie gerufen und...
Buffy starrte wieder ihre Hände an. Und es waren ihre
Hände. Genauso wie die Erinnerungen an diesen Raum ihre
eigenen waren – Monat um Monat wurde sie vertrauter mit
diesen vier Wänden, sie aß darin den widerlichen Fraß, den sie
ihr vorsetzten, und sie wartete darauf, dass die Stahltür sich
öffnete.
Die Furchen auf ihren Händen.
Seit fünf Jahren saß sie in dieser Zelle.
»Nein«, flüsterte sie. Das ist doch unmöglich.
»Nein«, schrie sie.
Zorn und Hass stiegen in ihr auf, und brüllend rannte sie auf
die Tür zu. Obwohl sich ihr Körper noch fremd anfühlte, liebte
sie die Art, wie er sich bewegte. Schnell und stark und tödlich.
Mit voller Wucht trat sie gegen die Tür, schmiss sich so fest
dagegen, dass beinahe ihr Kieferknochen zerschmettert wurde,
fiel auf den Boden und donnerte mit dem Kopf auf den
Steinboden. Adrenalin schoss in ihr hoch, und sie versuchte,
den Schmerz zu unterdrücken. Mit einem Schwung war sie
wieder auf den Beinen, und sie trat und schlug gegen die Tür,
doch lediglich das Echo ihrer eigenen Schreie war zu hören.
Einige Minuten verstrichen. Sie wurde langsamer und atmete
keuchend.
Langsam ließ der Adrenalinschub nach. Die Schmerzen in
ihrem Schädel und an ihren blutenden, aufgerissenen

123
Fingerknöcheln waren echt, die Haut auf ihren Händen
zerrissen. Buffy berührte ihren Hinterkopf an der Stelle, wo sie
auf den Boden aufgeschlagen war, und als sie ihre Finger
betrachtete, waren sie voller Blut.
Ihre Wunden würden schnell heilen. Sie war immer noch die
Jägerin. Auch wenn die Wunden echt waren. Das alles war
echt.
Voller Grauen hing sie diesen Gedanken noch einen Moment
lang nach. Als sie ihren Körper untersuchte und ihre
Umgebung betrachtete, stellte sie fest, dass ihre Erinnerungen
an den Kampf mit Camazotz nachließen. Verzweifelt hatten sie
Lucy Hanover um Hilfe angerufen; sie mussten Giles retten.
Lucy hatte ein Wesen, bekannt als die Seherin, gerufen, und
diese hatte Buffy versprochen, ihr ihre Vision der Zukunft zu
zeigen, damit sie besser darauf vorbereitet war und Giles retten
konnte.
Die Seherin hatte sie berührt.
Aber das war keine Vision.
Was auch immer die Seherin mit ihr angestellt hatte, Buffy
war keine neunzehn Jahre mehr alt. Buffy Summers war nun
mindestens vierundzwanzig. Vielleicht sogar fünfundzwanzig.
Irgendwie hatte diese Kreatur es an jenem Tag vor vielen
Jahren geschafft, Buffys Geist von ihrem Körper zu trennen
und ihn in die Zukunft, in diesen Körper, zu schicken.
Ihre Erinnerungen an besagten Tag schwanden. Obschon sie
ganz sicher wusste, dass es erst vor wenigen Momenten
geschehen war, sagte ihre Erinnerung ihr, dass seitdem Jahre
vergangen sein mussten. Aber in ihrer Erinnerung herrschte
auch ein schwarzes Loch... einige Tage, von denen sie nichts
mehr wusste... einige Tage vor ihrer Gefangennahme. Da war
ein Riss in ihrer Erinnerung zwischen dem Tag, an dem die
Seherin sie berührt hatte, und dem Tag, als Clown-Gesicht und
Bulldogge sie in die Zelle gesteckt hatten.

124
Fünf Jahre lang hatte sie versucht, die Leere in ihrem
Gedächtnis auszufüllen, das Blackout zu vertreiben und sich zu
entsinnen, was genau geschehen war.
Nein. Das bin ich nicht. Ich bin nie hier gewesen. Es ist nie
passiert, ermahnte sie sich. Und doch gab es keinen Zweifel
mehr daran, dass das hier Wirklichkeit war. Sie konnte jeden
Muskel fühlen, jeden Kratzer. Jede noch so kleine
Gefühlsregung war zweifelsohne echt. Das war ihr eigener
Körper, ihr eigenes Leben, und doch war der Geist eines
neunzehnjährigen Mädchens in einen älteren Körper, in eine
dunkle, entsetzliche Zukunft geschickt worden.
Und das Einzige, was sie tun konnte, war, ihre Zelle
abzuschreiten. Ihren Körper in Bewegung zu halten. Für den
Tag zu trainieren, an dem die Vampire ihren Wächter
entließen.
Tage verstrichen. Sie trainierte und schlief und wusch sich
und trainierte. Sie brachten ihr jeden Tag vor dem
Morgengrauen etwas zu essen, immer in Alarmbereitschaft, in
Gruppen von drei oder mehr Vampiren. Sie trieben sie in eine
Ecke und hatten Angst, ihr zu nahe zu kommen. Als wäre sie
ein wildes Tier. Sie musste unwillkürlich lächeln.

Ungefähr zwei Wochen später brachten sie das Mädchen.


Es war dunkel, als sie sie in die Zelle stießen. Sie war
verletzt und voller Blut, aber bei Bewusstsein. Das Mädchen
hatte braune Haare und sah südländisch aus. Vielleicht eine
Italienerin, dachte Buffy. Sie war groß, doch noch sehr jung,
und als sie Buffy herausfordernd mit wilden Augen anblickte,
sah diese, dass sie noch ein Kind war. Nicht älter als sechzehn,
vielleicht sogar jünger.
Buffy stand einfach nur da und starrte sie an. Fünf Jahre ohne
menschlichen Kontakt waren nicht spurlos an ihr
vorübergegangen, und ihr Herz und ihre Seele waren
verschlossen. Sie vereinte zwei Menschen in sich, zwei Buffys

125
auf einmal, die stählerne und gefährliche Gefangene und die
junge Kriegerin. Dann geschah etwas Seltsames. Jener Teil
ihres Geistes, der noch neunzehn Jahre alt war, erwachte. Jetzt
begriff sie, was passiert war.
Jetzt befreite sie sich.
Ihr wahres Ich wachte auf und machte sich bemerkbar.
Buffy ging auf das Mädchen zu und streckte die Hand aus.
»Bist du in Ordnung?«
Die Augen des Mädchens nahmen einen anderen Ausdruck
an. Es blinzelte und starrte sie mit offenem Mund an.
»Oh, mein Gott«, flüsterte das Mädchen, und ihre Stimme
überschlug sich. »Du bist... du bist wirklich hier?«
»Ich verstehe nicht.«
Das Mädchen wich zurück, stand langsam mit
schmerzverzerrtem Gesicht auf und starrte sie an. »Du bist
Buffy Summers. Ich habe Fotos von dir gesehen.«
»Ja? Wie sehe ich aus?«
Trotz ihrer schlimmen Verletzungen musste das Mädchen
lachen. Ein nicht sehr harmonisches Geräusch, aber Buffy war
froh, es zu hören.
»Entsetzlich«, sagte sie. »Du siehst entsetzlich aus.«
»Wer bist du?«, wollte Buffy wissen.
Aber sie hatte das Gefühl, die Antwort schon zu kennen.
»Ich bin August.«
Buffy zog die Augenbrauen hoch. »Du bist ein Monat?«
»Das ist mein Name«, entgegnete das Mädchen verärgert. Sie
wischte sich das Blut von der Nase, aber die Wunde blutete
weiter.
»Ich bin jetzt die Jägerin.«
Buffy schloss die Augen. Sie schüttelte den Kopf, um sich
besser konzentrieren zu können. Dann schwankte sie ein
wenig. So viele Fragen. Aber wenn dieses Mädchen die Jägerin
war, was ist dann mit...
»Faith?«

126
August nickte. »Vor einem halben Jahr. Sie haben jahrelang
versucht, sie zu fangen, so wie sie dich... wie sie dich gefangen
haben. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten sie jetzt schon die
ganze Westküste eingenommen, vielleicht sogar mehr.
Jedenfalls meint mein Wächter das. Sie haben sie außerhalb
von L.A. in die Falle gelockt, hab ich gehört.«
Unsicher, vielleicht sogar ein wenig ängstlich, warf ihr das
Mädchen einen vorsichtigen Blick zu. »Warst du die ganze Zeit
hier eingesperrt? All die Jahre?«
Nein. Ich bin gerade erst hierher gekommen. Vor ein paar
Wochen. Ich sollte eigentlich nicht hier sein. Das waren die
ersten Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, aber selbst in
dem Moment wusste sie, dass sie nicht der Wahrheit
entsprachen.
»All die Jahre«, sagte Buffy. Sie drehte dem
Neuankömmling den Rücken zu und schritt durch die Zelle.
»Und jetzt habe ich Gesellschaft bekommen.«
»Aber hast du nicht versucht...«
Buffy drehte sich rasch um und fuhr das Mädchen barsch an:
»Jeden Tag. Für wen zum Teufel hältst du mich? Ich bin die
Jägerin.«
»Du bist eine Jägerin«, berichtigte August sie. »Du bist nicht
mehr die einzige Jägerin. Noch nicht lange allerdings. Der Rat
nennt dich jetzt nur noch die Verlorene Jägerin. Sie nennen
dich nicht einmal mehr bei deinem Namen.«
Buffy brauchte einen Moment, bis sie die Bedeutung dieser
Worte begriff. Sie ging in ihrer Erinnerung zurück zu dem Tag,
von dem sie wirklich wusste, dass sie ihn erlebt hatte. Ihre
Seele... war fortgezogen worden, ins Hier und Jetzt, und ihren
Körper hatten sie von ihr getrennt und in der Vergangenheit
behalten. Er war entführt worden.
Was war seitdem passiert? Wo waren die anderen? Was war
mit Giles geschehen? »Wie groß ist das Gebiet, das sie
kontrollieren? Camazotz und die Vampire?«, fragte sie.

127
August erschien diese Frage unangenehm. Sie starrte
zunächst die Stahltür, dann Buffy an und musterte sie kritisch.
»Und?«, insistierte Buffy.
»Sunnydale. Und ein paar andere Städte. Ungefähr einen
Umkreis von dreißig Meilen.«
»Und niemand vermutet etwas?«
»Niemand glaubt es«, entgegnete August. »Niemand will es
glauben. So gewinnen sie. Sie kontrollieren alles. Geben den
Leuten die Illusion, das alles wäre völlig normal. Unzählige
bereitwillige Helfer, die alles für ein Stückchen von der Macht
tun.«
»Oh Gott«, krächzte Buffy.
»Es gibt also keine Fluchtmöglichkeit?«, wollte August
wissen, und ihre Stimme klang verzweifelt – als hätte ein Teil
von ihr bereits resigniert. »Du hast alles ausprobiert?«
»Fünf Jahre sind eine lange Zeit«, gab Buffy zu bedenken.
»Vielleicht wird es anders aussehen, wenn wir zu zweit sind,
aber ich schätze, sie werden ganz einfach mehr Wächter
schicken, wenn sie das Essen bringen.«
»So wie es aussieht, haben wir wohl keine Chance«, sagte
August mit weinerlicher Stimme. Tränen schimmerten in ihren
Augen, aber sie wischte sie fort. Dann holte sie tief Luft,
richtete sich wieder auf und machte ein grimmiges,
entschlossenes Gesicht.
»Ich verstehe dich schon wieder nicht, glaube ich«, sagte
Buffy.
August sah sie an, als wäre sie schwer von Begriff. »Sie
haben dich gefangen, weil sie endlich schlauer geworden sind.
Wenn niemand die Jägerin tötet, wird es auch keine neue
Jägerin geben. Wenn sie dich hier festhalten...« Sie drehte sich
im Kreis und warf hysterisch ihre Arme in die Luft. »Wenn sie
uns hier gefangen halten, wird es niemals eine neue Jägerin
geben.«

128
Buffy sah sie ungläubig an. »Du hast wirklich ein Talent, das
Offensichtliche in Worte zu fassen.«
»Und du willst das einfach so hinnehmen? Dann wird sie
niemand daran hindern, sich noch weiter auszubreiten.« August
biss sich auf die Lippen, als versuchte sie, ihre Gedanken zu
vertreiben.
»Es ist schlimm. Es ist sehr schlimm«, erwiderte Buffy. Ihr
entging der Schmerz in ihrer eigenen Stimme nicht. Die
Verzweiflung. »Aber es gibt nichts, was wir tun können, als
darauf zu warten, dass sie leichtsinnig werden und die Anzahl
der Wärter reduzieren.«
August strich sich eine Locke ihrer kurzen schwarzen Haare
hinter die Ohren. Noch würde sie den Blick nicht heben und
Buffy mit ihren stahlgrauen Augen konfrontieren.
»Es gibt etwas, das ich tun kann«, sagte sie sanft.
Buffy runzelte die Stirn und musterte sie. »Und was soll das
sein? Was kannst du tun?«
Schließlich drehte August sich um und sah sie an. Sah sie
direkt an. Ihre sanften Augen funkelten jetzt wieder. Wilde,
herausfordernde Augen. Kalte und entschlossene Augen.
»Ich kann dich töten.«

Fortsetzung folgt...

129

Das könnte Ihnen auch gefallen