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Koffer auf Abwegen

Bei Flugreisen geht etwa jeder hundertste Koffer verloren. Die meisten Gepäckstücke werden
schnell von Gepäckermittlern aufgespürt, manche bleiben verschollen. Welche Ansprüche
Passagiere haben

Von Harald Czycholl

„BK 02 HRW“ tippt Nicole Thuy-Neubert in eines der freien Felder ihrer Softwaremaske.
„Schwarzer Koffer im horizontalen Design, Hartschale, Rollen und kein Reißverschluss“
hätte sie stattdessen ebenfalls schreiben können. Das ist aber umständlicher und in ihrem
Metier auch wesentlich unverständlicher. Schließlich Thuy-Neubert zu jenen Mitarbeitern des
Frankfurter Flughafens, die die bangen Blicke der Passagiere an ihren Schaltern binnen
Minuten in ein erleichtertes Lächeln verwandeln können: Sie sucht und findet fehlende
Gepäckstücke – weltweit und mit standardisierten Codes über alle Sprachbarrieren hinweg.

Fast 26 Millionen Gepäckstücke wurden 2014 weltweit auf Flughäfen als vermisst gemeldet.
Laut dem jährlich veröffentlichten „Baggage Report“ des auf Luftfahrtdaten spezialisierten
IT-Unternehmens SITA kamen 99,3 Prozent der Koffer rechtzeitig bei ihrem jeweiligen
Besitzer an. Das klingt erstmal gut, bedeutet aber auch: Bei einem durchschnittlichen Flug mit
200 Passagieren stehen statistisch am Ende etwa zwei Personen ohne Koffer da. Die große
Mehrheit der verloren gegangenen Koffer, nämlich 95 Prozent, taucht zwar innerhalb von 48
Stunden wieder auf, etwa wenn sie mit dem nächsten Flieger nachgeliefert werden oder wenn
auffällt, dass sie beim Verladen neben das Gepäckband gefallen sind. Dennoch ist der Ärger
groß, wenn man plötzlich ohne Zahnbürste und frische Unterwäsche an seinem Reiseziel
steht.

Die Frankfurter Gepäckermittler bearbeiten durchschnittlich 1500 Verlustmeldungen pro


Monat. Besonders viel zu tun haben sie immer dann, wenn auch sonst viel los ist am
Flughafen. „Ferienzeiten oder Tage mit extremen Wetterverhältnissen bedeuten auch für die
Kollegen an den Schaltern im Terminal Hochsaison“, sagt Christina Koch, Betriebsleiterin der
Gepäckermittlung bei der Flughafengesellschaft Fraport. „Und wenn manchmal ein ganzer
Gepäck-Container am Ausgangsflughafen stehen geblieben ist, dann stehen auf einen Schlag
60 Menschen am Tresen, die eine Verlustmeldung aufgeben möchten.“

Was Gepäckermittler nur hinter vorgehaltener Hand erzählen: Gerade zur Weihnachtszeit,
wenn im Gepäck wertvolle Geschenke transportiert werden, häufen sich die Verluste. Diese
gehen auf das Konto von Gepäckdieben – oftmals sind es Flughafenmitarbeiter, die sich auf
diese Weise ihr Gehalt aufbessern. Erwischt werden sie meist nur durch dumme Zufälle: Am
Flughafen von Miami im US-Bundesstaat Florida etwa wurden im Herbst vergangenen Jahres
Gepäckmitarbeiter beim Stehlen gefilmt – von einer neu installierten Überwachungskamera,
von der sie noch nichts wussten.

Bei welchen Fluglinien besonders viel Gepäck verloren geht, lässt sich nicht mehr genau
sagen: Noch bis 2008 veröffentlichte die Association of European Airlines (AEA) jedes Jahr
die Gepäckverlustquote der einzelnen Fluglinien. Den Rekord hielt damals British Midland
Airways: Von 1000 Gepäckstücken verlor die britische Regionalfluglinie im Schnitt 24,5.
Auch British Airways (18,9), Air France (16,9) und die Lufthansa (12,7) bekleckerten sich
seinerzeit nicht gerade mit Ruhm. Auf Druck seiner Mitgliedsunternehmen verzichtete der
Verband fortan auf eine Veröffentlichung der Gepäckverlustquoten. In den USA ist das
anders: Dort wird jedes Jahr ein offizielles Ranking veröffentlicht. Am besten schnitt hier
zuletzt Virgin America ab, ganz hinten lag die Fluglinie Envoy.

Ein Ranking der Flughäfen, an denen besonders viel Gepäck verloren geht, gibt es nicht.
Fehlerquelle Nummer eins ist aber das Umsteigen von einem Flugzeug in ein anderes: 49
Prozent aller Gepäckzwischenfälle sind laut SITA-Statistik darauf zurückzuführen.
„Besonders groß ist die Gefahr daher bei Transfers an großen Drehkreuzen wie London-
Heathrow, New-York-JFK, Paris-Charles-de-Gaulle oder Frankfurt“, sagt Boris Narewski von
der auf Reiserecht spezialisierten gleichnamigen Berliner Rechtsanwaltskanzlei.
„Grundsätzlich ist die Gefahr bei Direktflügen deutlich geringer, dass Gepäck verloren geht.“
Verlorene oder falsche Gepäckabschnitte, schlechtes Wetter oder schlichtweg menschliche
Fehler sind weitere Gründe, warum Koffer verloren gehen.

Es gibt aber durchaus Flughäfen, die ihren Job besonders gut machen – darunter auch größere:
Die Unternehmensberatung Skytrax hat im vergangenen Jahr eine Liste der weltweit zehn in
dieser Hinsicht besten Flughäfen veröffentlicht. Die Airports in München, Zürich und
Kopenhagen schafften es auf diese Top-10-Liste, ganz vorne landete der Kansai International
Airport in der Nähe der japanischen Großstadt Osaka. Dort ist angeblich seit der Eröffnung
1994 noch kein einziger Koffer verloren gegangen. Ein Grund dafür dürfte das ausgeprägte
Servicedenken in Japan sein – neben Kansai schafften es mit Haneda und Narita noch zwei
weitere japanische Flughäfen auf die Liste. Außerdem nutzt die Betreibergesellschaft des
Flughafens Kansai ein spezielles Tracking-System, durch das die Mitarbeiter immer
nachvollziehen können, wo sich welcher Koffer gerade befindet. Zudem wird an
verschiedenen Punkten auf dem Weg der Tasche zum Flugzeug der Strichcode auf dem
Etikett eingelesen, um sicherzustellen, dass sich keine Tasche verirrt.

Derartige technische Neuerungen haben dafür gesorgt, dass das Problem der beschädigten,
verspäteten oder verlorenen Gepäckstücke seit einigen Jahren weltweit immer kleiner wird:
Obwohl die Summe der Flugpassagiere im vergangenem Jahr auf fast drei Milliarden
gestiegen ist, gab es 6,5 Millionen weniger fehlgeleitete Gepäckstücke als im Vorjahr. Seit
2007 ist die Quote laut dem SITA Baggage Report um 61,3 Prozent zurückgegangen. Vor
allem die Airlines investieren viel Grips und Geld in bessere Systeme – denn jedes
verschollene Gepäckstück kostet Geld. Vor allem, wenn es endgültig verloren geht und der
Passagier entschädigt werden muss.

Doch diese positive Entwicklung hilft Passagieren, deren Koffer trotz aller technischen
Neuerungen nicht auf dem Gepäckband stehen, nur bedingt weiter. Entsprechend verzweifelt
sind sie, wenn sie Nicole Thuy-Neubert und ihren knapp 50 Kolleginnen und Kollegen der
Fraport-Gepäckermittlung gegenüber stehen. Ihnen werden zu Beginn der Verlustmeldung die
immer gleichen zwei Fragen gestellt: „Haben Sie Sperrgepäck? Oder einen Anschlussflug?“
Diese Fragen sind wichtig: „Wenn ein Reisender am regulären Laufband vergeblich auf sein
Gepäck gewartet hat, können wir ihm damit in vielen Fällen ganz schnell weiterhelfen“,
berichtet die Gepäckermittlungs-Agentin. „Koffer oder Taschen, deren Ausmaße einen
bestimmten Wert überschreiten und die dann zu groß für einen Transport in der
Gepäckförderanlage sind, werden nämlich von der gelandeten Maschine immer direkt zur so
genannten Sperrgepäckausgabe gebracht – was wiederum vielen Passagieren am Abflugort
aber nicht erklärt wird.“ Gleiches gilt für viele Transitflüge, bei denen die Airline das Gepäck
oft ohne Wissen des Fluggastes bis zur endgültigen Destination durchcheckt.

Wenn sich Koffer oder Reisetasche tatsächlich auf Abwegen befinden, beginnt die eigentliche
Arbeit der Gepäckermittler. Dann zählen die harten Fakten rund um das verschollene
Gepäckstück: Name, Flugnummer, Koffertyp, Farbe, Inhalt, auffällige Aufkleber – jedes
Detail hilft bei der Detektivarbeit, die jetzt ansteht. Vor allem, wenn ein Fluggast den
Gepäckabschnitt, den er beim Check-in ausgehändigt bekommen hat und anhand dessen ein
Gepäckstück immer zweifelsfrei identifiziert werden kann, nicht mehr findet. Grundsätzlich
gilt: Je auffälliger der Koffer, desto leichter wird er auch wieder gefunden. Und wenn er mit
Zielort und Heimatadresse gekennzeichnet ist, am besten einmal innen und einmal mit einem
außen am Koffer befestigten Anhänger, sinkt das Risiko eines endgültigen Verlustes noch
einmal erheblich.

Wichtigstes Hilfsmittel für die Gepäckermittler ist das so genannte Worldtracer-System, an


das weltweit fast alle Gepäckermittler angeschlossen sind. Mit seiner Hilfe können sie ihre
Informationen schnell, mit international einheitlichen und vor allem sprachunabhängigen
Codes austauschen und sowohl vermisste Gepäckstücke als auch offensichtliche Irrläufer
registrieren, die eigentlich irgendwo anders hingehören. „Letztendlich ist das eine Art
Memory-Spiel“, sagt Fraport-Betriebsleiterin Koch. „Das System gleicht unsere Eingaben mit
allen weltweit registrierten Gepäckstücken ab und filtert mögliche Treffer mit einem hohen
Grad an Übereinstimmung automatisch heraus.“

Fehlt ein Gepäckstück, sollten sich Reisende immer sofort an die Gepäckermittlung des
Flughafens wenden. Zudem sollte die Fluggesellschaft oder der Reiseveranstalter informiert
werden. Wichtig ist es, eine formelle Verlustmeldung aufzugeben. Eine Kopie davon muss
dem Reisenden ausgehändigt werden. Außerdem sollte man das Flugticket, auf das beim
Einchecken auch der Sticker mit der Registrierungsnummer für das Gepäckstück geklebt
wurde, gut aufbewahren.

Wenn ein Koffer endgültig verloren geht oder seinen Besitzer verspätet oder beschädigt
erreicht, hat dieser einen Anspruch auf Schadensersatz. Das ist international einheitlich im
Montrealer Übereinkommen geregelt, der Höchstbetrag ist auf umgerechnet rund 1300 Euro
gedeckelt. „Die Haftung der Fluggesellschaften gilt pro betroffenem Passagier, nicht pro
Gepäckstück“, erläutert Reiserechtsexperte Narewski. Viele Airlines verlangen einen
Nachweis über den Wert des Gepäckinhalts – daher sollte man den Inhalt des verloren
gegangenen Koffers genau auflisten und bei wertvollen Gegenständen möglichst auch
Kaufbelege parat haben.

Wertgegenstände wie Bargeld, Dokumente und Schmuck sind allerdings von der Haftung der
Fluggesellschaften ausgenommen und werden bei einem Kofferverlust nicht ersetzt. Sie
sollten daher stets im Handgepäck verstaut werden. Mit der Schadensmeldung sollte man sich
außerdem nicht allzu viel Zeit lassen: „Bei Gepäckverspätungen ist eine entsprechende
Schadensmeldung binnen 21 Tagen, bei Gepäckbeschädigungen sogar binnen sieben Tagen
einzureichen“, sagt Narewski.

Wer eine Pauschalreise gebucht hat und ohne Gepäck am Urlaubsort sitzt, kann den
Reisepreis mindern. Dazu muss der Gepäckverlust vor Ort dem Reiseleiter schriftlich
mitgeteilt werden. „Für die Urlaubszeit ohne Gepäck kann dann der Reisepreis gemindert
werden“, erklärt Narewski. Als Richtwert gelten 25 Prozent des Tagesreisepreises für jeden
Tag ohne Gepäck. „Wird die Reise durch den Gepäckverlust erheblich beeinträchtigt, kommt
auch ein Schadensersatz wegen entgangener Urlaubsfreuden in Betracht.“ Auch hier tickt die
Uhr: „Die Mängel- und Schadensersatzansprüche müssen dem Veranstalter innerhalb einer
Frist von einem Monat nach Reiseende gemeldet werden“, sagt Narewski.
Wer ohne Waschzeug und passende Kleidung am Zielort steht, darf sich in der Regel auf
Kosten der jeweiligen Fluglinie mit dem Nötigsten ausstatten. Angemessene Ausgaben
werden von den meisten Airlines erstattet, allerdings wird die Grenze, was noch angemessen
ist, unterschiedlich gezogen. Je nach Fluggesellschaft liegt sie zwischen 25 und 200 Euro.
Manche Airlines bieten auch eine Art Notfallkoffer mit Toilettenartikeln und Unterwäsche an.

Den Frust im Fall eines verlorenen Gepäckstücks bei den Mitarbeitern der Gepäckermittlung
am Flughafen abzuladen, ist übrigens wenig zielführend und trifft dazu noch die Falschen:
„Dass wir lediglich im Auftrag der Fluggesellschaften arbeiten und als Flughafenbetreiber
selbst gar nicht für verlorenes oder beschädigtes Gepäck verantwortlich sind, wissen die
meisten Fluggäste gar nicht und können es ja auch nicht wissen“, sagt Fraport-Betriebsleiterin
Christina Koch. Die Mitarbeiter lernen in speziellen Schulungen, auf was es in aufgeheizten
Diskussionen mit verärgerten Passagieren ankommt: „Verständnis zeigen, erklären,
beruhigen“, fasst Koch zusammen.

Zumal es manchmal auch nach Jahren noch zu einem Happy End kommt – wie im Fall der
britischen Herzogin von Argyll, die im Jahr 2006 am Flughafen von Glasgow den Verlust
eines Koffers voller Schmuck im Wert von 125.000 Euro meldete, darunter eine Diamanten-
Tiara. Sechs Jahre lang blieben der Koffer und ihr Inhalt verschollen – bis die Herzogin 2012
zufällig beim Durchblättern des Katalogs eines schottischen Auktionshauses eine Brosche
wiedererkannte, die beim abhanden gekommenen Schmuck dabei gewesen war. Auf ihre
Recherche hin kam heraus, dass Flughafenmitarbeiter die Tasche gefunden hatten, der
Betreiber des Airports aber nicht etwa die Eigentümerin benachrichtigt, sondern den Schmuck
kurzerhand an einen Händler verkauft hatte – für umgerechnet gerade einmal 6200 Euro. Weil
die Herzogin nachweisen konnte, dass sie die rechtmäßige Eigentümerin ist, erhielt sie ihren
wertvollen Schmuck zurück. Lediglich ein Paar Ohrringe blieb verschwunden.

Kasten:
Ist eine Reisegepäckversicherung sinnvoll?

Die von sämtlichen Versicherungsgesellschaften angebotenen Reisegepäckpolicen sollen das


Reisegepäck gegen Verlust, Diebstahl und Beschädigungen absichern. Verbraucherschützer
raten jedoch vom Abschluss einer solchen Versicherung ab. Der Grund: Für einen
vergleichsweise hohen Beitrag besteht nur minimaler Schutz. Kann einem der Versicherer
vorwerfen, nicht ausreichend auf Koffer und Co. aufgepasst zu haben, wird dem Versicherten
ein Mitverschulden angerechnet und entsprechend weniger oder auch gar nichts erstattet.
Außerdem sind grundsätzlich die Fluggesellschaften für das aufgegebene Gepäck
verantwortlich und müssen im Verlustfall ohnehin für den Schaden aufkommen. Daher würde
sich eine zusätzliche Reisegepäckversicherung ohnehin nur in jenen seltenen Fällen lohnen, in
denen der Wert des aufgegebenen Gepäcks die Haftungshöchstgrenze von umgerechnet rund
1300 Euro übersteigt. czy

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