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von Der kompetente Umgang mit komplexen Systemen gehört bald zum Anfor-
Joachim Maier und
Christof Schmitz
derungsprofil an Führungskräfte.Ungewissheit, Unsicherheit, Nicht-
Wissen und Angst sind nicht einfach Störfälle im Betriebsalltag, sondern
Bestandteil eines wirtschaftlichen Spielfelds, dessen Entwicklung sich
in nichtlinearen Sprüngen vollzieht. Zur Kompetenzerweiterung können
Resultate der Komplexitätsforschung ebenso hilfreich sein wie ein aktueller
Kultfilm.

OUT OF THE CUBE


EINFÜHRUNG IN DEN AUSNAHMEZUSTAND

Es könnte sein, dass Sie den Film «Cube» gesehen haben. Es Let’s concentrate on what we know.
könnte sein, dass Sie den Film gesehen haben – und nicht an
Management gedacht haben. Schade, weist er doch verblüf- Feld eins – ein Albtraum: Eben noch war alles alltäglich
fend auf einige Kernpunkte heutigen Managements hin und und vertraut, plötzlich erwacht man als fremdgesteuerte
impliziert gleichzeitig ein Darüberhinaus. Wir möchten den Spielfigur in einem unbekannten, gleichförmigen Würfel. In
Film als Anlass nehmen, zu den Kernpunkten als auch zum das Zentrum jeder Würfelseite ist eine verriegelte Türe einge-
Darüberhinaus einige Gedanken zu entwickeln. lassen, die sich unter dumpf-pneumatischen Geräuschen öff-
Stellen Sie sich eine Versuchsanlage vor, die aus 17 576 nen lässt. Dahinter: weitere Raumwürfel, identisch bis auf
Kuben besteht: 26 würfelartige Räume breit, 26 Räume tief, ihre farbliche Anmutung und ihre Seriennummern. Das La-
26 Räume hoch, rätselhaft ineinander verschachtelt. Jeder byrinth erinnert an einen gigantischen Zauberwürfel, zeigt
Kubus beherbergt genügend Platz für eine Kleingruppe. sich allerdings längst nicht so harmlos. Hinter manchen
Ausgänge aus diesem Labyrinth gibt es: einen. Dieses Window Türen lauert der Tod: Gas, rasiermesserscharfe Stahlseile,
of Opportunity – oder sollte man besser sagen: Window of Esca- spitze Stäbe, Feuer oder Säure, gesteuert von empfindlichen
pe ? – steht nur während eines kurzen Zeitfensters offen. Die Sensoren, die unerwartet auslösen. Execution. Cube – eine
Versuchsanordnung ist mit akademischer Präzision bis auf die tödliche Falle? Gibt es ein Entkommen? Interaktion mit der
letzte Dezimalstelle durchkalkuliert und verschlüsselt ange- Umwelt ausserhalb gibt es jedenfalls keine.
bracht. Doch auch von diesem Umstand ahnen die sechs Ver-
suchsteilnehmer noch nichts. I want to wake up.
Hört sich das für den wirklichkeitserprobten Manager
irgendwie vertraut an? Die Exekution eines strategischen Die Welt um sie herum ist nicht mehr, was sie einmal
Planspiels scheint auf dem Programm zu stehen. Doch so war. Die Probanden dieser befremdlichen Spielanlage finden
schnell macht das alles keinen Sinn. Auch nicht für die sechs sich gekleidet wie in einer Strafkolonie, jeder mit seinem Na-
Probanden, die plötzlich und unerwartet im Kubus aufwa- men aufgedruckt. Das Urteil, unsichtbar eingeritzt auf den
chen. Sie wissen nichts. Wie komme ich hierher? Weshalb bist Rücken jeder Person, lautet: Du weisst zu viel, um mit dem
du hier? Warum ich? Was verdiene ich hier? Orientierungs- Nicht-Wissen der Gruppe umgehen zu können.
stiftende Phantasmen – Visionen, Missionen, Strategien etc.
– sind nicht erschliessbar. Es bleibt die gegenwärtige Gewor-
fenheit, bodenloses Nicht-Wissen bei gleichzeitigem Hand-
lungsdruck:
40 GDI _ IMPULS 4 _ 00 1 Muss man noch erwähnen, dass das 2 Selbst stolze Tiere wählen diese

erfolgreiche Buch von Intel-Gründer Variante. Ein österreichischer


Andrew Grove «Only the Paranoid Falkner, der mit seinem Steinadler
Survive» heisst? zur Beizjagd nach Kasachstan ging,
berichtet, wie der Vogel, angesichts
der unendlichen Steppe zu Boden
ging, seine Schwingen ausbreitete
und sich drei Tage lang tot stellte.

PARANOIA-MANAGEMENT

Wie eine Probandin sofort annimmt, dass es sich nur Noch ein anderes Beispiel, wie raffiniert ansprechende,
um einen satanisches Akt der Regierung oder des «militä- systematische Managementlehre zu verkürzen weiss, um Er-
risch-industriellen Komplexes» – ein Begriff der späten folg zu haben: Michael Porter, ein der Paranoia sonst unver-
Sechzigerjahre – handeln kann, so spielt der Film mit der dächtiger Harvard-Professor, hat mit seiner Branchenanalyse
insgeheimen Paranoia, die ein ganzes Zeitalter prägt(e). Ver- ein Werkzeug geschaffen, das nicht nur Standard des strategi-
schwörungen, wohin das Auge blickt – wenn man sie sehen schen Managements geworden ist, sondern lange auch als der
will. Man ist geheimen Codes ausgesetzt und entschlüsselt un- erhoffte grosse Schlüssel zum Knacken des Wettbewerbscodes
vermutet verschlüsselte Botschaften. Unversehens sieht man betrachtet wurde. Mit dem Einsatz der richtigen analytischen
sich unbekannten, unverständlichen, aber umfassenden Plä- Instrumente – so wie im Cube dem mathematischen Wissen
nen gegenüber oder entdeckt sich plötzlich, noch schlimmer, um Primzahlen und kartesische Koordinaten – kann ich als
als Teil darin, während man gerade noch wähnte, selbst zu Manager die richtigen Entscheidungen treffen und mein
entscheiden. Paranoia ist als Konsequenz dieser Sichtweise Shareholder schaut mir wohlwollend über die Schulter. Ich
absolut angebracht.1 Denn, wenn es den grossen Plan gibt, der analysiere – kühl und emotionslos – die Branche und ihre
nicht zu entschlüsseln ist, einen Code, der mich geheimnisvoll fünf Wirkkräfte. Ich weiss sodann um Substitutionsprodukte,
mit einbezieht – wie sollte man darauf nicht paranoid reagie- Eintrittsbarrieren etc., wähle zwischen den Strategievarianten
ren? und wechsle, wenn es eine Strategieänderung geben soll, ge-
gebenenfalls das Managementteam. Denn es gibt für jede
I can feel them looking at us. Aufgabe ein passendes Bündel menschlicher Kompetenzen.
Probandin Holloway, zunehmend paranoid Das ist dann wie im Film: Sechs Menschen begegnen
sich im Kubus, die unterschiedlicher nicht sein könnten. –
Nein, das muss nicht sein, Sie haben Recht. Es gibt eine Erinnern Sie sich an Ihr letztes gruppendynamisches Team-
zweite Möglichkeit: Wegschauen. Die Paranoia verschwindet, training? Eine Ärztin der 68er-Generation, ein Ausbrecher-
wenn ich den Blick senke. Wenn es mir gelingt auszublenden, könig, eine verhuschte Mathematikstudentin, ein zynischer
dann komme ich davon. Wenn ich den grossen Plan vergesse, Architekt, ein autistisches Zahlengenie und ein Polizist mit
wenn ich mein Haupt verhülle, wenn ich mich tot stelle, dann Führungsanspruch, der, wie sich zeigen wird, auch gemeinge-
geschieht mir nichts.2 Halt! Noch optimaler geht es mit einer fährlich sein kann, treffen aufeinander. Woanders wären sie
Zusatzleistung: wegschauen und so tun, als ob man in der La- sich wohl aus dem Weg gegangen, nun sind sie aufeinander
ge wäre, den grossen Plan zu entschlüsseln. Ich denke mich als angewiesen, wie Chiffren in einem Zahlencode, verfügt doch
smart guy, als zertifizierten Bezwinger des Ausnahmezustands, jeder über eine spezielle Begabung, die sie erfolgreich ihre
als MBA vielleicht, mit allen Wassern dieser Wettbewerbs- Strategie umsetzen lässt – beziehungsweise unversehrt aus
mühlen gewaschen, dem alle Tricks geläufig sind, der alle Me- ihrem Gefängnis führen könnte.
thoden beherrscht, und mache mich auf den Weg. Und so Porter ist nur ein Beispiel. Auch die anderen neun
machen sich auch die sechs Spielfiguren im Cube auf den Denkschulen der orthodoxen Strategielehre, wie sie Henry
Weg. Das ist gut, das kann funktionieren. Mir gehört die Mintzberg auflistet, funktionieren – übrigens genauso wie
Welt, wenn ich erst draussen bin. McKinsey’s Bewerbungs-Anzeigen oder vergleichbar gestalte-
Mit welcher Paradoxie haben wir es hier zu tun? Mana- te Assessment-Methoden – nicht anders: Finde den Weg aus
gement «funktioniert» nur, wenn es unterstellt, dass es etwas dem Kubus. Irgendwo steckt der Schlüssel, finde ihn, sei
«machen», etwas in der Zukunft Messbares bewirken kann. smart, sei cool, rechne. Hier schliesst sich der Kreis. Will-
Die nötige Zusatzannahme heisst: Menschen können ver- kommen auf Feld eins der Spielanlage – ein Albtraum: Eben
nünftig handeln! Intelligenz gewinnt. Wenn Sie sich an Ihre noch war alles alltäglich und vertraut, plötzlich erwacht man
Vernunft halten und sich sonst beherrschen – sprich: weg- als fremdgesteuerte Spielfigur in einem unbekannten, gleich-
schauen –, dann können Sie systematisch Management be- förmigen, 14 mal 14 mal 14 Fuss grossen Würfel.
treiben – Paranoia-Management eben. Wie das gehen soll,
belegt zum Beispiel Fredmund Malik, einer der letzten (?)
grossen Ritter dieses Denkens.
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MANAGEMENT BY EXORCISM

Management unter paranoiden Verhältnissen funktio- getan zu beweisen, was wir ohnehin schon immer wussten.
niert durch Wegschauen. Was ausgeklammert bleiben muss, ist Das ist wie im kalten Krieg (Paranoia!), als das «Reich des
zweierlei. Erstens die fundamentale Einsicht: Ich bin Teil des Bösen» dazu diente, die Auseinandersetzung mit dem Schei-
Ganzen, ich bin nicht singulär, sondern immer schon Mit- tern der eigenen Kultur zu verhindern.
spieler, vernetzt und verwoben mit anderen; und zweitens Hier das Gute, da das Böse. So einfach kann die Welt
mein Wissen um das jenseits des Vernünftigen liegende Cha- sein. Aber da passiert es wieder: Projekte scheitern, Strategien
otische, Irrationale, wie: Emotionen, Affekte, Wünsche, schlagen fehl, Unternehmen gehen in Konkurs, Manager
Phantasmen und Intentionen. Im derzeitigen Übergangszeit- versagen, Partner wenden sich ab, Kunden gehen zur Kon-
alter vom bewusstlosen zum bewussten Umgang mit komple- kurrenz, die Hotline-Nummer ist immer besetzt. Wie das
xen Systemen hat das Primat der wegschauenden Ausgrenzung verarbeiten? Wo die Früchte harter Arbeit doch gut sein soll-
immer noch Priorität, um «Management as we know it» be- ten! Ich tue alles, was gutes Management verlangt, doch, mein
treiben zu können. Wenn auch mit immer weniger Erfolg; Gott, der Shareholder-Value sinkt weiter. Was tun? Beten?
nicht nur im Film, wie wir noch sehen werden. Fusionieren? Kernkompetenzen stärken? Nur mehr Liegen-
Das Ausgeschlossene kommt unter den Deckel. Da schaften bewirtschaften und den Rest des Geschäftes verkau-
schwärt es dann wie in der Büchse der Pandora. Welche Angst fen? Die Frage stellt sich nunmal: Wie mit Chrysler umgehen,
den Deckel zu öffnen! Welche Sorge, dem hervorquellenden wenn Daimler alles recht getan hat? Die Theologie behilft sich
Ungemach nicht Herr werden zu können! Das Ausgeschlosse- hier mit der Einführung des Teufels. Er verführt zum
ne treibt aber sein Unwesen und kehrt sich gegen die Aus- Schlechten, aber als Herausforderung der Liebe Gottes. So
schliessenden. Konflikte brechen auf, Leute erleiden Herzin- kann das Gute, die allumfassende Liebe Gottes, doch Bestand
farkte, verdiente Mitarbeiter werden gemobbt, Innovationen haben. Das Ausgeschlossene bringt den Satan mit hervor oder
verhindert, Change blockiert, Karrierewege verschliessen anders herum: erst das Wegschauen zaubert Mephistopheles
sich, oder einfach: keiner macht mit. auf die andere Seite des Spielfelds. Mit dem muss man dann
Wie kann ich mir dieses Ungemach erklären, wenn ich umgehen. Es geht augenscheinlich um des Pudels Kern:
mich doch für wegschauen entschieden habe? Wie umgehen «Verkauf mir deine Seele und ich sage dir, wie du den grossen
mit der Erfahrung, dass es schlecht läuft, und ich es mir nicht Plan entschlüsseln kannst.» Eine grandiose Verführung! «Ich
erklären kann? – Sie haben Recht, das ist kein Problem. bringe dich gleich morgen ins Kader oder besser noch ins Di-
Denn die Technik des Wegschauens ist systematisiert und raf- rektorium, mache dich zum CEO, zum Präsidenten des Ver-
finiert: Kategorisierungen helfen zum Beispiel, kursierende waltungsrates, zum Most-Admired-Manager-of-the-Year; ich
allgemeine, unbeweisbare Behauptungen erweisen sich als sage dir, wie das geht.» – Der grosse Plan, da ist er wieder.
ebenso hilfreich wie klare Schuldzuweisungen. Schlechte Er- Welcome back to Paranoia-Land. Alles wäre zu haben – für
fahrungen sind also kein Problem, sondern bestens dazu an- ein bisschen Seele.
42 GDI _ IMPULS 4 _ 00 3 Schlussmonolog aus «The Matrix»

(Andy und Larry Wachowski, USA 1999)


4 Peter Sloterdijk: Weltfremdheit

Was also ist zu tun? Den Verführungen widerstehen! nagement-Psychoseminar? An Ihnen ist es! An Ihnen liegt es
Beherrschen Sie sich! Ausserdem: Gretchenfragen stellen, und wie Sie mit den anderen kooperieren möchten. Plötzlich
den Beelzebuben wieder in sein Schattenreich verweisen, In- wird Interaktion zum Thema. Wie verändert sich das Ganze
quisitionen durchführen, scharfe Befragungen exerzieren der anderen, wenn ich mich zu unterscheiden beginne? Die
unter Einsatz aller analytischen Instrumentarien, klare Aus- Herausforderung ist wie immer rätselhaft und besteht im
grenzungen vornehmen und die, die sich darüber hinwegset- Umgang mit der Form der Komplexität – oder zeigt sich, mit
zen, ordentlich verdammen. – Hoppla, hatte da nicht der de- Niklas Luhmann ausgedrückt, in der Fähigkeit, die Einheit
signierte deutsche Fussballbundestrainer Christoph Daum einer Vielheit mit jeder Wahl herzustellen. Das meint immer
Kokain genommen? Muss man ihm den Prozess machen? auch ein Paradox: Das eine [1] sein, das man von der Vielheit
Oder ist das Urteil längst schon gesprochen? [n] abziehen kann, um plötzlich identitätsgewinnend zu the
one zu werden: «Um Gottes willen, ich existiere!» Ist das
nicht mindestens paradox?
AUSWEG IDENTITÄTS-MANAGEMENT? Nicht nur «Cube»-erprobte Cineasten wähnen sich
mit the one dem Ausweg nahe. Klar, im Buchstabenspiel des
Sie haben sich selbst-beobachtet. Sie ahnen, was im Films «The Matrix», wird Neo zu the one und aktualisiert sei-
Glasperlenspiel der letzten Abschnitte, im Spiegelbild, der im ne Identität. The one bezwingt die Matrix, die Reinkarnation
letzten Jahrhundert real existierenden Wirtschaftslogik, aus- des grossen, alten Plans und verkündet: «I'm going to show
gespart blieb. Was so geschickt wegfällt durch Paranoia-Mana- them a world without you, a world without rules and controls,
gement ist die uns Spielfiguren so vertraute Unruhe, mani- without borders or boundaries, a world where anything is
puliert zu werden. Fremdgesteuert von unsichtbarer Hand, possible. Where we go from there is a choice I leave to you.»3
aufgelistet auf dem Spielplan der alten Ökonomie, der grös- Willkommen in der schönen, neuen Welt der Komplexität
ser und geschickter ist als ich und du, der mich schon lange ohne bekannte Regeln, Kontrollen und Grenzen.
«mitdenkt», wovon ich aber keine Ahnung haben will. Die Jedoch, ein Moment der Nachdenklichkeit stellt sich
Logik des Spielplans beginnt eine gewisse Unruhe zu schüren: ein. Fühlen Sie sich zum Supermann berufen? Eben! Die
Alle wichtigen Güter sind knapp, und deshalb gilt es, soviel Spielfiguren im Cube auch nicht. Trotzdem, die Welt um
wie möglich von ihnen zu verbrauchen. Ends, those funny mich herum könnte etwas mit mir zu tun haben, und ich
little plans, that never work quite right. Perplex – bin ich ei- eventuell etwas mit ihr. Nur was? Wozu? Warum das alles,
gentlich schizophren?! warum ich, warum ich hier, who’s responsible? Und schon ist
der Beelzebub da. «Verkauf mir deine Seele und sage dir, wie
I want to know who’s responsible! du den grossen Plan entschlüsseln kannst.» Der grosse Plan,
Holloway, brüllend vor Verzweiflung und Ratlosigkeit die Würfel die (m)eine Welt bedeuten, da sind sie wieder –
nur diesmal von innen her gesehen. Die Versuchung, sich
Was kann ich tun, wenn der grosse Andere mich ständig wieder in der Welt zu verlieren, taucht still und heimlich auf:
mitdenkt? Ja, ich kann mich auch mitdenken. Wir haben also Eine Frau im roten Kleid, eine kleine Intrige, eine aufkei-
nun mit n-1 zu tun. Plötzlich taucht im Flechtwerk der Wirk- mende Sinnfrage, eine Prise Misstrauen – und plötzlich tut
lichkeit eine Wahlmöglichkeit auf: Wer ist the one – ich oder sich eine Falltür auf: «Man ist 23 Jahre alt, oder 31, oder älter,
der grosse Andere, der Plan? Nur wer verantwortlich ist, und entdeckt beim Überqueren der Strasse oder während ein
kann im Zweifelsfall entscheiden. Ich kann mich immer ab- Schlüsselbund zu Boden fällt, dass man wirklich existiert. Davor
ziehen oder bin, anders formuliert, womöglich der entschei- gibt es keinen sicheren Schutz. Weder Theorie noch Alkohol kön-
dende Tropfen, der das ganze Fass zum Überlaufen bringt. nen eine lückenlose Daseinsverhütung garantieren. Safer thinking,
Wenn ich will, kann ich das Bierglas vom Tisch stossen – oder safer drinking – das hilft nicht in allen Fällen. Auch wer regelmäs-
einfach nur sagen, die Gravitationskraft liess es am Boden sig Waldläufe macht und ab 30 zur Vorsorgeuntersuchung geht,
aufschlagen. kann nicht ausschliessen, dass bei ihm über Nacht der Existenzfall
Wer bin ich im Verhältnis zu diesem Ganzen? Und was eintritt.» 4
passiert, sobald ich mich mitdenke, sobald ich als n-1 einen Mache ich einen Unterschied? Kann ich wirklich sein,
Unterschied zum Ganzen mache? Ich kann mir plötzlich was ich mache? Was bringt im Zweifelsfall das Fass zum Über-
überlegen, ob ich das Glas hinunterstossen möchte. Ich be- laufen? Um welchen Tropfen handelt es sich? Wie könnte
einflusse, ich bewirke! – Erinnern Sie sich an ihr letztes Ma- man ihn erkennen, ihn beeinflussen, wie früher ins Spiel
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Die Frage ist: Wie kann man im und mit dem


Spannungsfeld von Nicht-Wissen und Wissen
einen guten Umgang finden?

bringen oder ihn auffangen, verhindern, ins Trockene laufen sind sie alle versammelt, die Phänomene, welche die best-
lassen, wie ihn kalkulieren, in den Griff kriegen? Könnte ein durchdachten Kooperationen scheitern lassen. Wie viele
Spiegel von Nutzen sein – Identitäts-Management? Change-, Innovations-, Kreativ-, Projekt- oder sonstige
Und was, wenn ich mich mitdenke, aber nicht als Su- Teams in den Unternehmen dieser Welt sind schon verendet,
permann? Ich als Führungskraft verstünde mich dann konse- ehe sie ihre Aufgabe erfüllen konnten? Und woran? Wie oft
quent als Teil des Geschehens, als Mitspieler eines Spiels, zu an den Affekten, an der Unmöglichkeit, über den eigenen
dessen Regeln und Ablauf ich selbst beitrage. Meine Hand- Tellerrand hinaus zu sehen, an den unreflektierten Kategori-
lungen und mein Verhalten wären ausschliesslich in der Ein- sierungen, am Nicht-Berücksichtigen ihrer Vernetzungen,
bettung in die Entwicklungen, Trägheiten, aber auch Dyna- am Nichtkontrollieren-Können und Unterschätzen ihrer
miken konkreter Prozesse und Kontexte zu verstehen. Ich Gruppendynamik – kurz: an sich selbst? Irgendwie miteinan-
könnte mich dann nicht mehr, wie andere Manager, ausser- der wäre ihre einzige Chance, um jene mathematische Logik
halb der laufenden Konversationsprozesse stellen, nur schon, zu knacken, der dieses mörderische Bauwerk entsprang. Statt-
weil ich, um meine Arbeit tun zu können, mit anderen reden dessen Unberechenbarkeiten, die zum unerbittlichen Schluss
muss. Was Sie sagen, formt, was Sie hören und umgekehrt: Es führen: Die Versuche, den Ausweg aus dem komplexen Cube
gibt kein Entkommen aus dieser Zirkularität. Es wird Sie von zu finden, enden für alle, ausser für den geistig Behinderten,
nun an immer geben. Sie – und die anderen. Was tun? letal.
Wir könnten jetzt überlegen: Was wäre gewesen, wenn
das «Team» zuvor ein Training durch einen Teamentwick-
TEAM-MANAGEMENT – REALER ALPTRAUM? lungsexperten erfahren hätte? Oder hätte etwas Personalent-
wicklung der Gruppe gut getan? Um wie viel wären die Über-
Zurück zur Versuchsanlage: 17 576 rätselhaft miteinan- lebenschancen gestiegen? Wäre ein systemisches Training
der verschachtelter Kuben voller tödlicher Fallen einer ver- besser gewesen oder ein transaktionsanalytisches, oder hätte
schlüsselten Botschaft, die den Ausweg weisen kann; ein es einfach etwas mehr «sozialer Kompetenz» bedurft? Eine
«Team», das die Aufgabe aufgrund seiner Kompetenzen be- Schulung in emotionaler Intelligenz? – Hätte eine solche
wältigen könnte – ohne dass es weiss wie. Auf der Habenseite Unterstützung gefruchtet? Bringen uns diese Fragen weiter?
verfügt das Team über ausreichend Diversität, um sich orga- Wofür wünschte man sich eigentlich eine Lösung? Geht
nisieren zu können. Wie aus dem Lehrbuch: Höhere Vielfalt es um die Einsicht in die prinzipielle Unvorhersagbarkeit von
erhöht die Chance auf spontanen Wandel. Der Versuch: Lasse Entwicklungsprozessen (von Teams, von Unternehmen)? Um
die Teammitglieder selbst entschlüsseln, welche Kompeten- das sich immer schärfer konturierende Ausgesetztsein von
zen ihnen mit auf den Weg gegeben worden und für die Lö- Führungskräften gegenüber Ungewissheit, Unsicherheit,
sung der Aufgabe erforderlich sind. Uns Versuchsleiter inter- Nicht-Wissen und Angst angesichts der Unvorhersagbarkeit,
essiert die Frage, welche subtilen, impliziten und expliziten die komplexen Prozessen inne wohnt? Etwas mehr an «sozia-
Prozesse definieren, was im Team passiert, um den Optio- ler Kompetenz» schadet da nicht, aber hilft vielleicht auch
nenreichtum zu nutzen oder ihn irrtümlich zu reduzieren, nicht viel. Die Frage ist: Wie kann man im und mit dem
um sodann zu scheitern. Wir sind hoffnungsfroh: Schliesslich Spannungsfeld von Nicht-Wissen und Wissen einen guten
können die Menschen miteinander reden. Umgang finden? Dies wird noch verschärft durch den Erwar-
tungsdruck, dass ein guter Leader weiss, was passieren wird.
Stay calm, move as a team. Wofür wird man schliesslich bezahlt? Gleichzeitig fühlt man,
Aufforderung des Polizisten Quentin an die fünf anderen dass erst unterwegs zu wissen ist, was wirklich funktioniert und
wo genau das Ziel sein wird. Kein Business-Plan kann diese
Wie geht das Experiment aus? Die Bündelung der Ungewissheit nehmen, kein Budgetierungsprozess Sicherheit
Kompetenzen klappt beinahe nicht, jedenfalls viel zu spät in die Welt zaubern. In dem Moment, in dem Ausgänge und
und nur mehr per Zufall – weil das Team aufeinander auf- Resultate unvorhersehbar und Pläne damit zu Karikaturen
läuft. Da sind sie, die Störfaktoren, die Emotionen, der Är- werden, ist es daher sinnvoll, die Aufmerksamkeit auf die
ger, die Wut, die Verzweiflung, die Trauer, die Angst, die An- Qualität des Gegenwärtigen zu richten. Und auf das, was an-
tipathien, das Misstrauen, die Hoffnung und was man sonst dere im Team für gegenwärtig halten: What are you doing?
noch so gerne der eigenen Professionalität willen ausschlies- Was wir im Cube beobachten können, ist die Tragödie
sen möchte. Im Cube wie in anderen Organisationen auch hoffnungsvollen Managements. Alles ist wasserdicht fremdbe-
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Das Schöne der Komplexitätsforschung ist, dass ihre Erkennt-


nisse wunderbar mit einigen unserer Alltagserfahrungen
konvergieren, für die klassische Managementlehre keinerlei
Rezepte feilbietet.

stimmt vorgegeben, die Pläne rüttelfest, die Kompetenzen ment («non-lineare Dynamiken», «Selektion»). Die Ge-
vorhanden und der Spielplan von bestechender Schönheit. schichten sind mitreissend und eröffnen neue Blicke auf das
Alle wichtigen Vorentscheidungen sind getroffen und das Funktionieren komplexer Systeme («Artificial Life»). Ent-
Management hält sich – wie im General Management Pro- sprechend gross ist die Faszination im Management – und
gramm gelernt: Delegate and get out of the way – konsequent immerhin gibt es mit Prediction mindestens ein gelungenes
zurück, um nicht die Autonomie des «Execution-Teams» zu Beispiel der Transformation dieses Wissens auf die Finanz-
stören. Alles wie im Lehrbuch: Challenge, Commitment, märkte. Liegt hier ein Stein des Weisen, den es aufzuheben
Competence, Motivation, Selbstorganisation unter klaren gilt? Wäre es nicht wunderbar, man könnte Simulationen von
Rahmenbedingungen. Was sich ereignet, ist ein Trauerspiel, potenziellen Entwicklungen rechnen und damit das ganze
wenn auch ein spannendes und manchmal recht brutales. Wie Chaos wieder in den Griff kriegen? Aber bleibt da nicht die
aus dem Alltag der Unternehmen gegriffen. Oder ist es ein- alte Idee der Unbeteiligtheit des Beobachters? Ist das womög-
fach nur eine Geschichte? lich nur eine Neuauflage der Idee des grossen Plans? Oder
einfach ein grosses Missverständnis?
Was ist das Faszinosum der Komplexitätsforschung?
DIE GESCHICHTE VON DER «KOMPLEXITÄT» Ganz einfach: Sie korrespondiert mit einigen unserer Erfah-
rungen, die wir bislang nicht so recht erklären konnten.
Schweifen wir nochmals kurz zurück zum Film. 17 576 Schliesslich hatte es ja geheissen: Achtung! Wegschauen! Das
rätselhaft miteinander verschachtelte Würfel, das ist kompli- Schöne der Komplexitätsforschung ist, dass ihre Erkenntnisse
ziert. Das Finden des via Primzahlenfaktoren zu entschlüs- wunderbar mit einigen unserer Alltagserfahrungen konver-
selnden Auswegs erfordert umfangreiche Berechnungen, die gieren, für die klassische Managementlehre keinerlei Rezepte
erstens höheres mathematisches Können und zweitens geniale feilbietet. Ganz plakativ formuliert wie die korrespondieren-
Rechenfähigkeiten (die der Autist besitzt) voraussetzen. Es ist den Erfahrungen: «Irgendwie» hängt so vieles miteinander
schon heldenhaft, unter Bedingungen hoher Unsicherheit, zusammen, etwa die schlechte Jugend des CEO mit der
genaue Kalkulationen zu liefern. – Erinnert Sie das nicht an aggressiven Akquisitionspolitik des Unternehmens «Power-
die Unternehmen von heute? Zwar weiss keiner, wohin die law», irgendwie kommt immer wieder etwas Überraschendes,
Entwicklungen gehen und welche Faktoren sie beeinflussen, Gutes, sogar Ungeplantes dabei heraus, wenn Menschen
aber gerechnet wird bis auf die letzte Dezimalstelle genau. Die wirklich zusammenspannen wie in den Start-ups «kollektive
Unruhe über diese «Tugend» wächst allerdings. Nicht nur, Intelligenz», irgendwie wirkt das, was entsteht, zurück, so wie
weil die erste grosse Scheiterwelle der Dot-coms auch den aus Reichtum noch mehr Reichtum wird und aus Unglück
heldenhaftesten Rechenkünstlern unserer Welt, den Venture noch mehr Unglück («Selbstorganisation», «Emergenz»)
Capitalists, gezeigt hat, wo der Bartel den Most holt – nämlich und überhaupt verläuft so manches anders, als man es sich
da, wo es Gewinne zu erzählen gibt. Hatte man nicht schon vorstellte («nichtlineare Dynamik»).
gedacht, die Zauberformel gefunden zu haben, mit der man Die Plakativität dieser Beschreibungen täuscht leicht
Gold macht? Nein, nein, gerechnet hat man, kalkuliert, ak- darüber hinweg, dass zentrale Sachverhalte unseres Weltver-
kumuliert und abgezinst. Aber allen Kalkulationen zum Trotz ständnisses angesprochen sind. Viele Entwicklungen und Dy-
haben Geschichten die vernunftdurchtränkten Hirne selbst namiken sind nur schwer nachvollziehbar. Ein Beispiel: War-
der besten Rechner verwirrt. um hat der Umbruch in Serbien gerade zu diesem Zeitpunkt
Geschichten erzählen uns alles über uns. Kennen Sie schon und in dieser Art stattgefunden? Wie kam es, dass plötzlich
die über Komplexität(sforschung)? Sie erfassen zunehmend niemand mehr an Milosevics Macht glaubte und sie prompt
die Welt des Managements. Da ist ja auch Faszinierendes zu erlosch? Wie kam es, dass eine ganze Bevölkerung zur selben
erzählen. Plötzlich gibt es Zusammenhänge zwischen der Pro- Zeit zum gleichen Entschluss kam: Jetzt ist es genug! Wie war
gnostizierbarkeit des Wetters und der von Unternehmensent- es möglich, dass sich das friedlich ereignete?
wicklungen («kritische Abhängigkeit von Eingangsbedingun- Wir machen auf vielen Ebenen Erfahrungen mit dem
gen»), Ähnlichkeiten zwischen Lawinen auf einem in die Unverständnis angesichts eines plötzlich und unerwartet ein-
Höhe wachsenden Sandhaufen und auftretenden Innovatio- tretenden Wandels. Wieso entscheidet sich der Kunde dage-
nen in der Wirtschaft («Powerlaw»), Parallelen zwischen gen, obwohl es so gut zu laufen schien? Wie kommt es, dass
Ameisenhaufen und Finanzmärkten («kollektive Intelli- der Vorstand jetzt auf einmal die Entscheidung fällt, auf die
genz», «Emergenz»), oder zwischen Evolution und Manage- man seit drei Jahren gewartet hatte (schade, dass man schon
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Niemand kann wissen , wie es weitergehen wird, das ist die bittere
Pille der Komplexitätsforschung, weil niemand in der Lage ist,
die nicht-linearen Sprünge komplexer Systeme vorauszusagen oder
zu determinieren.

zur Konkurrenz wechselte)? Konnte Sulzer, beraten von In-


vestmentbankern, ahnen, dass die Investoren gegen ihren
Plan der Verschmelzung mit Sulzer Medica opponieren wür-
den? Wer hätte vor drei Monaten voraussagen können, dass
Bertelsmann mit Napster , gegen die sie gerade fundamentale
Klagen führen, eine strategische Allianz eingehen wird? Wer
kann prognostizieren, in welcher Kooperation sich die SAir
Group in 1,5 Jahren befinden wird?

VOM ENDE DER TEILNAHMSLOSIGKEIT

Heute noch gebrandmarkt, morgen liebgewonnener


strategischer Partner (Bertelsmann, Napster); gestern stolz auf
der Habenseite, heute schon abgeschrieben (Genfood, Mon-
santo ), gestern noch Buhmann der Journaille, heute wieder
der grösste Dealmaker der Nation (Marcel Ospel, PaineWeb-
ber) und so weiter. Die Beispiele unerwarteter Entwicklungen
sind Legion. Nur zu gerne wüssten wir, wo jeweils der Trop-
fen steckt, der das Fass zum Überlaufen bringt! Hatte man
nicht gerade gedacht, dass die Schweizer UMTS-Auktion Mil-
liarden in die Staatskassen schwemmt? Wie viel werden es jetzt
sein? 200 Millionen?
Können wir also den entscheidenden Tropfen identifi-
zieren? Was können wir tun? Wir können ihn nicht determi-
nieren, aber wir können unsere Aufmerksamkeit umdirigie-
ren. Sie richtet sich auf die unerwarteten Reaktionen der
beteiligten «Agenten» statt auf die Stützung der Erwartungen
(positives Feedback). Das lehrt die Komplexitätsforschung
und daraus kann man Hinweise auf Sprünge gewinnen. Wie
verändert sich die Aktionärsstruktur von UMTS-Auktions-
teilnehmern? Hat jemand Schlüsse aus den hohen Preisen in
Deutschland und England gezogen? Verhält sich ein Aukti-
onsteilnehmer unerwartet? Was tut Tele Danmark plötzlich an-
ders? Warum jetzt? Wie verhält sich das Bakom? Wie laufen
die Entscheidungen in Frankreich? Was hat Vodafone vor?
Unerwartete (Re)Aktionen sind aufschlussreich, sie geben
Hinweise auf Sprünge. Wir beobachten ebenso aufmerksam
Interventionen und Interaktionen, aus denen Neues entsteht
und Altes entsorgt wird. Interventionen sind nichts anderes
als Gesten von Managern gegenüber anderen in den Organi-
sationen. Was damit passiert und wohin sie führen, zeigt sich
darin, wie laufende, interaktive Prozesse sich entfalten. Dem
einzelnen Manager, der «immer öfter» an die Grenzen der
Planbarkeit stösst, zeigt sich ein Ausgang aus dem Cube, der
vielleicht ungewohnt anspruchsvoll und zugleich fast zu sim-
pel erscheinen mag: nämlich auf die Art seiner Teilnahme an
den selbst organisierten Interaktionen in und um das Unter-
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5 Sinnverwandt aus: Hyperorganismen

Es ginge um Vertrauen, um die Fähigkeit zur Wert-


schätzung der Fähigkeiten der anderen. Oder anders:
um das Mitdenken des eigenen Nicht-Wissens.

nehmen zu achten. Das Wie der Teilnahme am Ganzen wird in von Schwärmen handelte? (Vogel-, Fisch-)Schwärme bilden
diesem gemeinsamen Spiel mitunter wichtiger als die Inhalte sich ohne kollektiven Plan, ohne Führung, ohne Fremdsteue-
der Entscheidungen, deren Durchsetzbarkeit a priori von den rung, selbst organisiert, indem sich die Tiere einfachen Re-
nicht determinierbaren Reaktionen der Gegenüber abhängt. geln folgend, an ihren Nachbarn orientieren. Aus dem Zu-
In Luhmann’scher Systemsprache heisst das: «Die einzige In- sammenspiel dieser lokalen Interaktionen entstehen
variante des Systems ist die selbst erzeugte Ungewissheit seiner komplexe Muster. Komplexität ist das Hauptargument zur
eigenen Zukunft.» – Welche Geschichten helfen uns beim Begründung der These, dass verteilte Intelligenz schlagkräfti-
Umgang mit solcher Ungewissheit? ger und wenn es darauf ankommt handlungsfähiger ist als
Dieser Umgang ist womöglich das zentrale Problem – noch so generalstabsmässig vorbereitetes Management. Die
und die Lösung. Niemand kann wissen, wie es weitergehen Herausforderung hört sich einfach an: Zusammenhalten, aber
wird, das ist die bittere Pille der Komplexitätsforschung, weil nicht zusammenhängen; unabhängig sein, aber eine Gemeinschaft
niemand in der Lage ist, die nicht-linearen Sprünge komple- bilden. Ideen zur Schwarmbildung, basierend auf dem Guerilla-
xer Systeme vorauszusagen oder zu determinieren. Die in- Prinzip, sind auch heute noch erfolgversprechend in jeder Art von
härente Unberechenbarkeit eines so komplexen Systems wie Ausnahmenzustand. 5
ein Unternehmen, die aus jenen Interaktionen resultiert, die Wie schaffen wir es als Gruppe, uns zur Herstellung
das System erst bilden, bringt Entwicklungssprünge hervor, handlungsfähiger Einheiten Raum zu geben? Wie sind wir
die nicht zu prognostizieren sind. Da helfen auch die höchs- angesichts (un)berechenbarer Komplexität in der Lage, uns
ten Managergehälter nicht weiter. In einer komplexen Um- selbst zu organisieren, wenn es darauf ankommt, ohne uns
welt gibt es ihn nicht, den grossen Plan – es gibt ihn nicht, den wie die Geier zu zerstückeln? Wenn Sie interessiert sind, von
grossen Mann . hier weiter zu diskutieren, dann seien Sie willkommen auf
Wie lernen wir auszuhalten, dass wir nicht mehr alles www.nic-las.com/cube.
Überlebensnotwendige selber wissen können? Nicht nur
«Cube» lehrt, dass wir im sozialen Raum aufeinander ange-
wiesen wären, dass die Zeiten vorbei sind, in denen uns ein
Wunder oder ein wunderbarer Leader aus dem Chaos führen
könnte, wenn wir das Chaos selber mit jedem Schritt mit er-
zeugen. Es ginge um Vertrauen, um die Fähigkeit zur Wert-
schätzung der Fähigkeiten der anderen. Oder anders: um das
Mitdenken des eigenen Nicht-Wissens. Lektüre zum Thema, Niklas Luhmann
Individuelle Intention und Intelligenz sind die Spitze Eingänge in den Cube Die Gesellschaft der Gesell-
des Zauberwörter-Eisbergs, der Glaubensbekenntnisse, die schaft
den Sehnsuchts-Agenden MBA eine Identität einhauchen Vincenzo Natali Suhrkamp, Frankfurt 1997
und zum Erfolg verdammen. – Sie erinnern sich? Es liegt an Cube (Spielfilm)
dir! If you dream it, you can do it. So einfach ist das. So ein- Kanada 1998 Ralph Stacey
fach liegt man daneben. Wenn man aber alleine nicht mehr Strategic Management and
sicher sein kann, ob man den nächsten Raum im Kubus noch Fredmund Malik Organizational Dynamics
überlebt, zerbricht zwangsläufig das Credo «Ich bin, was ich Führen – Leisten – Leben. Financial Times, New York
weiss» und pathologische Selbstüberschätzung endet im kol- Wirksames Management 2000
lektiven Untergang. Wenn die wohlbekannten Superhelden – für eine neue Zeit
jene, die immer schon alles wissen – ausgespielt haben, dann Deutsche Verlagsanstalt, O. Arndt, S. Peter, D. Wün-
befinden wir uns im Ausnahmezustand. Wohl immer noch Stuttgart 2000 nenberg (Hrsg.)
umgeben vom Machbarkeitswahn zynisch zielfokussierter oder Hyperorganismen. Essays,
auch nur mediokrer Know-alls. Aber dennoch: Dann sind Henry Mintzberg Fotos, Sounds der Ausstel-
wir zwar nicht-wissend hinsichtlich der Zukunft, aber nicht Strategie-Safari. Eine Reise lung «Wissen» des ZKM im
mehr nichts-wissend, was die Art und Weise der Vernetzung durch die Wildnis des strate- Themenpark der Expo 2000
miteinander betrifft. gischen Managements Internationalismus Verlag,
Ist es ein Zufall, dass der richtungsweisende Pavillon Ueberreuter, Wien/Frankfurt Hannover 2000; www.bbm-
zum Thema Wissen an der Expo 2000 von der Inszenierung 1999 ww.de

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