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Schwerpunkt

Zu viel – zu wenig?
Klinischen Befunden vertrauen, unnötige Diagnostik vermeiden

In der Praxis sind Fälle, bei denen man sich nicht so sicher ist, ob weitere
Abklärungen oder die Zuweisung ans Spital nicht doch angebracht wäre,
nicht so selten. An der Session der Kinderärzte Schweiz am Jahreskongress
von pädiatrie schweiz empfahlen Dr. med. Sergio Stocker und Dr. med. Marc
Sidler anhand von Fallbeispielen, klinischen Befunden und der eigenen Er-
fahrung stärker zu vertrauen, um überflüssige diagnostische Massnahmen
zu vermeiden.

Wer viel misst … Behandlungsbedürftige


Foto: RBO

Eine Mutter bringt ihre 18 Monate alte Tochter in die Gedeihstörung?


Praxis. Das Kind hat seit zwei Tagen Fieber, eine leichte Eine Mutter stellt sich mit ihrer bis anhin unauffällig und
Rhinitis und eine Otitis media rechts. Es ist ansonsten gut entwickelten 10-monatigen Tochter in der Praxis vor.
gesund, geimpft und normal entwickelt. Das Kind erscheint erstmals dystroph. Die Wachstums-
Eigentlich sei das ein einfacher Fall, bei dem es keine zu- kurve knickt ab, das Gewicht liegt deutlich unter der
sätzliche Laboruntersuchung brauche, sagte Dr. med. 3. Perzentile und der Kopfumfang entwickelt sich eben-
Sergio Stocker. Trotzdem wurde von dem behandelnden falls nicht normal.
Kinderarzt ein Blutbild erstellt, weil die Mutter befürch- Kinder mit Gedeihstörungen würden oft zum Gastroen-
tete, ihr Kind könne eine Leukämie haben. «Damit star- terologen oder Endokrinologen überwiesen, aber das sei
tete er eine Kaskade weiterer, unnötiger Abklärungen, die häufig zunächst einmal gar nicht nötig, sagte Sidler und
Dr. med. Sergio Stocker er hätte verhindern können», sagte Dr. med. Marc Sidler. erläuterte das empfohlene Vorgehen aus der Sicht der
Stattdessen hätte dieser Arzt der Mutter erklären können, Guidelines. Die «Gedeihstörung» sei keine Diagnose,
dass nichts auf eine Leukämie hindeute und ein Blutbild sondern ein rein deskriptiver Begriff, der folgendermas-
zum jetzigen Zeitpunkt sinnlos sei, weil die Blutwerte sen definiert wird:
Foto: RBO

wegen des akuten Infekts sowieso nicht den Normwerten • Unterschreitung der 3. Perzentile für Körpergewicht
entsprechen würden. und eventuell auch der Körperlänge
Aber so kam es nicht und die Laboruntersuchung lieferte • Abfall des Körpergewichts um mehr als 2 Hauptperzen-
wie zu erwarten abnorme Werte (CRP 81 mg/l; Leukozy- tilen
ten 40 000/µl). «Wer viel misst, misst viel Mist», kommen- • vermindertes Längensollgewicht oder BMI unter der
tierte ein Zuhörer im Auditorium das Vorgehen dieses 3. Perzentile.
Kinderarztes. Doch nun, mit diesen Messwerten schwarz Was über Wachstumskurven und Laborwerten oft ver-
auf weiss, wagte es dieser Kinderarzt nicht mehr, lediglich gessen werde, sei überdies der Aspekt von «good health
die akuten Beschwerden zu behandeln und zunächst ab- and happiness», der ebenfalls ein wichtiger Faktor für das
zuwarten – obwohl das Kind in einem guten Allgemein- Gedeihen sei, so Sidler.
Dr. med. Marc Sidler zustand war, keinerlei Atemprobleme hatte und der Aus- Eine Gedeihstörung entwickelt sich entweder bei unzu-
kultationsbefund normal war. Er überwies das Kind reichender Nahrungsaufnahme, gestörter intestinaler
wegen der Laborwerte an die Notfallambulanz des Aufnahme der Nährstoffe (intestinale Malabsorption z. B.
nächstgelegenen Spitals, wo man alle möglichen Unter- bei Zöliakie) oder einem erhöhten Bedarf an Nährstoffen
suchungen durchführte, inklusive Thoraxröntgen und Ab- (z. B. Herzerkrankungen, atopisches Ekzem, Lungen-
domensonografie – ohne Befund. erkrankungen). Auch eine Kombination aus den drei ge-
All das sei völlig unnötig gewesen und leider kein Einzel- nannten Gruppen ist möglich, wie bei der zystischen Fi-
fall, sagte Dr. med. Sergio Stocker. Weil man im Spital brose (gestörte intestinale Aufnahme und erhöhter
kaum den Mut habe, nichts zu tun, gerate ein Kind allzu Bedarf an Nährstoffen). Typische Probleme, die zu einer
rasch in die diagnostische Mühle, obwohl das vielleicht unzureichenden Nahrungsaufnahme führen, sind Appe-
gar nicht nötig sei. «Wir müssen auf die Klinik vertrauen. titlosigkeit, Schluck- und Kaustörungen sowie Motilitäts-
Macht keine unnötigen Untersuchungen, weil ihr nicht störungen des Ösophagus. Leitsymptome der Malabsorp-
an eure klinischen Untersuchungsfähigkeiten glaubt!», tion sind chronische Diarrhö (mehr als 4-mal Stuhlgang/
forderte Stocker. Ihn selbst störten abnorme Laborwerte Tag über mehr als 4 Wochen) sowie Fettstühle. Kurzat-
zunächst einmal nicht, wenn es dem Kind gut gehe. Viel- migkeit ist ein Anzeichen für Herz- und Lungenprobleme.
mehr würde er dann lediglich die akute Erkrankung Eine ausführliche Übersicht über mögliche Differenzial-
behandeln und schauen, wie sich der Krankheitsverlauf diagnosen bei Gedeihstörungen ist im Kasten zusammen-
entwickle. gestellt. Angesichts dieser langen Liste stellt sich die

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Frage, welche Abklärungen man tatsächlich ins Auge wenn das tTG-IgA (bei normalem Gesamt-IgA) negativ ist,
fassen sollte. sodass in der ­Gastroenterologie sehr oft angefragt werde,
«Das Schöne in der Praxis ist, dass wir die Kinder und was dann zu tun sei. «Gar nichts!», empfahl Sidler: «Be-
Familien über eine lange Zeit begleiten und dann ein biss- stimmen Sie diese Antikörper nicht! Die Gliadin-Anti-
chen pragmatischer arbeiten als im Spital», sagte Stocker. körper haben ­keinen Stellenwert in der primären Diag-
Weil das Mädchen trotzdem gesund wirkte und bei seinen nostik bei Zöliakieverdacht.»
Geschwistern im Säuglingsalter ähnli-
che Phänomene auftraten, die ver- Klinische Untersuchung entscheidend
Zusätzliche Abklärungen
schwanden, sobald die Mutter mehr Während es bei den genannten Fällen eher um das Ver-
müssen zu den klinischen
zufütterte, entschied sich Stocker für meiden einer Überdiagnostik ging, schilderten die beiden
Befunden passen.
das Zuwarten. Und siehe da: Es funktio- Referenten auch zwei Fälle, in denen zum einen trotz
nierte. Ab dem Zeitpunkt, an dem das zahlreicher Untersuchungen das Wesentliche übersehen
Kind anfing, gut zu essen, nahm es wie gewünscht zu. wurde und zum anderen ein Symptom zu einer etwas
«Ich habe einfach nichts gemacht. Keinen Test, nichts. Ich vorschnellen Diagnose führte.
habe die Familie gekannt und darauf vertraut, dass es gut Ein Jugendlicher geht mit Schmerzen im rechten Unter-
kommt», so Stocker. bauch, aber ohne Fieber, Erbrechen oder Durchfall zu
einer Notfallambulanz für Erwachsene. Dort untersucht
Keine Gliadin-Antikörper bestimmen! man das Abdomen, ermittelt Laborwerte und führt sogar
Im Zusammenhang mit dem letztgenannten Fall wies ein CT durch. Das Genitale wird jedoch nicht untersucht
­Sidler auf eine obsolete Laboruntersuchung hin: Bei Ver- und man entlässt ihn mit der Diagnose einer selbstlimitie-
dacht auf eine Zöliakie werden die Gewebetransglutami- renden «Lymphadenitis mesenterialis» nach Hause. Vier
nase-IgA-Antikörper (tTG-IgA) und das Gesamt-IgA (Aus- Tage später meldet sich der Jugendliche mit starken
schluss IgA-Mangel) bestimmt, aber nicht mehr die Bauchschmerzen bei seinem Kinderarzt, der eine Hoden-
Gliadin-Antikörper (1). torsion entdeckt, nachdem er den Jungen davon über-
«Die Gliadin-Anti­körper sind zu unspezifisch», sagte Sid- zeugen konnte, sich am Genital untersuchen zu l­assen.
ler. Sie könnten häufig grenzwertig erhöht sein, auch Eventuell habe man, weil sich der Junge vor der Unter-
suchung zierte, auf der Notfallambulanz nicht so genau
nachgeschaut und «nur am Bauch herumgedrückt, aber
Kasten: nicht das Genital untersucht», sagte Stocker und betonte
Häufige Grunderkrankungen bei Gedeihstörungen anhand dieses Beispiels, wie wichtig eine wirklich gründ-
liche klinische Untersuchung sei.
Neugeborene: Kleinkinder (9 bis 36 Monate): Ein 8-jähriges Mädchen wird von seinen Eltern spät an
• Kurzdarm nach nekrotisierender • unzureichende Nahrungszufuhr einem Sonntagabend mit rezidivierendem Erbrechen in
Enterokolitis • Vernachlässigung die Notfallaufnahme gebracht. Der Allgemeinzustand des
• Volvulus und Darmresektionen • Zöliakie Kindes ist nur leicht reduziert. Das Mädchen kann kein
Wasser lösen, sodass keine Urinuntersuchung erfolgt.
• kongenitale Resorptionsdefekte und • zystische Fibrose
Nach einem Einlauf entleert sie etwas harten Stuhl und
Defekte der Dünndarmstruktur • Essstörungen und/oder erhöhter
wird mit der Diagnose «Obstipation und Verdacht auf
• unzureichende Nahrungszufuhr ­Bedarf bei kardiologischer, neurologi-
HWI» mit der Empfehlung entlassen, am nächsten Mor-
scher, onkologischer oder renaler gen zum Kinderarzt zu gehen. Am nächsten Tag fällt dem
Säuglinge (2 bis 8 Monate): Grunderkrankung Kinderarzt auf, dass das Kind in den letzten Monaten über
• unzureichende Nahrungszufuhr • chronische Diarrhö bei Immundefekten 1 kg abgenommen hat. Die Urinuntersuchung ergibt er-
• Vernachlässigung • Münchhausen-by-proxy-Syndrom höhte Glukose- und Ketonwerte (Erstmanifestation eines
• intestinale Kuhmilchprotein-Allergie Diabetes mellitus). Dieser Fallbericht sei «kein Vorwurf an
• Ösophagitis bei gastro-ösophagealem Kinder (3 bis 16 Jahre): irgendjemand», sagte Sidler. Er solle lediglich illustrieren,
Reflux • unzureichende Nahrungszufuhr dass die Obstipation zwar eine sehr häufige pädiatrische
• zystische Fibrose • Vernachlässigung Diagnose sei, man bei Vorliegen von möglichen «red
• Essstörungen und/oder erhöhter • psychiatrische Erkrankungen, flags», wie zum Beispiel bei Erbrechen, Gewichtsverlust
oder einem reduzierten Allgemeinzustand, weitere Ab-
­Bedarf bei kardiologischer, neurologi- ins­besondere Anorexia nervosa
klärungen gezielt durchführen solle. Zum Dauerbrenner
scher, onkologischer oder renaler • chronisch-entzündliche Darm­
«Bauchschmerzen» gab Sidler am Ende der Session noch
Grunderkrankung erkrankungen
einige Literaturtipps (3, 4).
• Zöliakie • Zöliakie Renate Bonifer
• chronische Diarrhö bei Immundefekten • zystische Fibrose
• Autoimmunenteropathie • Essstörungen und/oder erhöhter Dr. med. Marc Sidler und Dr. med. Sergio Stocker an der Session: Kinderärzte Schweiz:
• Postenteritis-Syndrom und Malabsorp- ­Bedarf bei kardiologischer, neuro­ «From Bench to Praxis» – Alltag und Notfall in Spital und Praxis. Jahresversammlung
pädiatrie schweiz am 16. Juni 2023 in Interlaken.
tions-Syndrome logischer, onkologischer oder renaler
• Münchhausen-by-proxy-Syndrom Grunderkrankung Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar
• chronische Diarrhö bei Immundefekten
• Lambliasis und andere chronische
Darminfektionen
Quelle: nach (2)

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Literatur:
1. Sidler M, Posovszky C: Vorgehen ohne Biopsie – Paradigmenwechsel bei der Zölia-
kie-Diagnostik. Erkennen der Zöliakie bei Kindern und Jugendlichen – ein Update. Prim
Hosp Care. 2023;23(3):90–93.
2. Nützenadel W: Failure to thrive in childhood. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(38):
642–649. https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=106177.
3. Egger S, Heinz-Erian P, Fankhauser M, Müller T (2010) Akutes Abdomen aus pädiat-
rischer Sicht. Monatsschr Kinderheilkd 158: 695–704.
4. Bufler P et al.: Chronische Bauchschmerzen bei Kindern und Jugendlichen.
Dtsch Arztebl Int 2011; 108(17): 295–304.

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