Literatur lebt in allen Zeitdimensionen. Sie beschreibt die Vergangenheit,
kann Vorhersagen für die Zukunft machen, aber zum größten Teil spiegelt sie die seelischen, philosophischen und auch gesellschaftlich relevanten Inhalte der Gegenwart wider. Es ist stets interessant zu verfolgen, welche Probleme die Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt beunruhigen, welche sich mit der Zeit auflösen und an Bedeutung verlieren und welche mit jeder nachfolgenden Generation noch dringender werden. In diesem Semester war uns vorgeschlagen, uns mit zwei ganz unterschiedlichen literarischen Werken bekannt zu machen. Sie sind mehrere hundert Jahre voneinander entfernt, sind in unterschiedlichen Stilen und mit unterschiedlichen Ansätzen geschrieben. Eines ist die allen von der Schulbank an bekannte Tragödie "Faust" von Goethe. Das zweite – „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann – ist einer der größten Bucherfolge der deutschen Literatur des 21 Jahrhunderts. Aber sie haben eines gemeinsam – sie beide legen die Ereignisse dar, die sich in der sogenannten Goethezeit abspielen. Die Goethezeit ist die Jahre 1770 – 1830 umfassende große Umbruchszeit, in der sich alles bewegte und veränderte: Machtverhältnisse innerhalb Europas, die Ländergrenzen, die gesellschaftlichen und politischen Strukturen, das Gedankengut in der Bevölkerung usw. Kein Wunder, dass prominente Wissenschaftler damals ihre großen Erfindungen machten. Die Jahrhundertwende in Deutschland ist die Zeit der Genies: Herder, Kant, Hegel, Schelling, Wilhelm und Alexander von Humboldt, Gauß, Möbius. Es ist auch eine glanzvolle Epoche der deutschen Literaturgeschichte, die durch Werke solcher Autoren und Autorinnen wie Johann Wolfgang von Goethe (nach wem die Epoche benannt ist) und Friedrich Schiller sowie Caroline von Wolzogen und Johanna Schopenhauer geprägt ist. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut,“ [1] – so klang der Leitspruch der damaligen Schriftsteller. Der Mensch sollte zu Vernunft und moralischem Handeln erzogen werden, auch die Politik sollte mit Vernunft geleitet werden. Wie man die weltweitgeltenden Ideale der Menschlichkeit – Toleranz, Harmonie und Humanität – erreicht, wo man das Gute, das Wahre, das Schöne findet – das waren die Fragen, die die Literaten in ihren Werken behandelten. Klingt ziemlich relevant, nicht wahr? Vielleicht haben wir mehr mit dieser längst vergangenen Epoche gemeinsam, als wir denken? Also, was geht uns die Goethezeit heute an? Der moderne Mensch ist es gewohnt, sich mit anderen Epochen durch Filme vertraut zu machen. Sie zeichnen sich durch einen gewissen Anteil der Sichtbarkeit, kreativer Darstellung der handelnden Personen, Handlungsentwicklungen, Landschaften (zu der unsere eigene Vorstellungskraft nicht immer fähig ist) und Dynamik aus. Dies hat mich auch nicht umgangen. Ein Teil unseres Lehrplans in diesem Semester war das Ansehen einer in 2012 gedrehten Verfilmung eines von Daniel Kehlmann geschriebenen Romans „Die Vermessung der Welt“. Die Narration im Roman selbst sowie im Kinofilm entwickelt sich in Form einer als Parallelbiographie angelegter Geschichte. Auf einer Seite lernt man den unbemittelten Gauß, der seine Begabung nur durch alle möglichen Schwierigkeiten unter Beweis stellen kann, auf anderer Seite folgt man dem adligen Humboldt, der sein beträchtliches Erbe für Reisen und Forschung ausgibt. Wir sehen vor uns zwei Menschen, die von der Wissenschaft besessen sind, die sie zum Sinn und Zentrum ihres Lebens gemacht haben. Humboldt wird als Mann äußerer wissenschaftlicher Erfolge dargestellt, während Gauß uns eher als Wissenschaftler innerer Eigenart vorkommt. Daniel Kehlmann ist es gelungen, die zeitlosen Themen für seinen Roman auszuwählen und dem Leser zu erlauben, über sie nachzudenken. In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [2] erklärt er, eines davon sei das Problem der nationalen Identität. Ein Mensch, der das Universum und inzwischen sich selbst erkennt, ist sinnbildlich für die deutsche Kultur. Deutsch zu sein bedeutet vor allem, sich zu bemühen, die Welt und die ihr zugrunde liegenden Gesetze zu verstehen. Es ist kein Zufall, dass auch Thomas Mann die Wissbegierde als eine der wichtigsten nationalen Eigenschaften der Deutschen nennt. Alexander von Humboldt, dessen Leidenschaft für Naturwissenschaft schon in der Kindheit zutage trat, symbolisiert das natürliche deutsche Streben nach Erkenntnis durch aktives Handeln. In diesem Helden ist die Fähigkeit des deutschen Geistes, sich in einer großen Idee vollständig aufzulösen, festgehalten. Karl Friedrich Gauß verkörpert dagegen einen modernen Wissenschaftler, der hauptsächlich theoretisch und planmäßig arbeitet und dabei alte Herangehensweisen hinterfragt. Gauß und Humboldt repräsentieren das Bild der Menschheit, die sich auf verschiedenen empirischen Wegen immer im Prozess der Messung (oder Erkenntnis) der Welt befindet. Die Handlung, die auf dem Kontrast der Wahrnehmung der Welt durch verschiedene Menschen basiert, ruft beim Leser dennoch kein Gefühl von Dissonanz oder Chaos hervor, sondern lässt ihn vielmehr unfreiwillig den Kontext auf sich selbst projizieren: Urteile vergleichen, Handlungen bewerten und Masken verschiedener handelnden Personen anprobieren. Dazu betont Kehlmann, dass jeder sich einen Helden auswählen kann, der ihm kongenial ist. Der Autor gibt zu, dass ihm Gauß menschlich näher und verständlicher ist. „Die Vermessung der Welt“ ist das Buch über die Wissenschaft. Sowohl Gauß als auch Humboldt sind als geistige Kinder der Aufklärung zu verstehen. Das sind Menschen, die dem rationalen und vernunftgesteuertem Denken ohne jegliche religiöse Skrupel Vorzug geben. Sie stehen ebenso für einen Wandel der Wissenschaft, der nach ihnen eingetreten ist, und sind des wissenschaftlichen Fortschritts, der der Menschen ein besseres Leben gewähren wird, bewusst. Viele Entdeckungen, die die Wissenschaftler gemacht haben, sind bis heute von großer Bedeutung, und dank Kehlmann sind sie der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Laut Kehlmann findet der Roman ganz erstaunlichen Anklang nicht nur bei Interessierten, deren Welt endlich einmal betrachtet und eingefangen wurde, sondern auch bei ganz durchschnittlichen Lesern. Die Figur von Immanuel Kant schickt noch ein für den Roman tragendes Thema voraus: das Altern [3]. Hier ist wie sich Daniel Kehlmann dazu äußert: „Ich empfinde stets eine große Traurigkeit dabei, mit alten Menschen zu tun zu haben und zu merken, dass die es eigentlich auch noch nicht gewöhnt sind, alt zu sein, dass sie sich eingesperrt fühlen in dieser Situation“ [2]. Meiner Beobachtung nach bleibt dieses Problem immer noch hochaktuell, weil sich ältere Menschen auch heute mit dem Gedanken nicht abfinden können, dass ihre körperlichen Fähigkeiten allmählich eingeschränkt werden und ihr Verstand nicht mehr so lebhaft funktioniert. Sie bedauern oft die vergangene Jugend und stellen sich vor, was sie noch tun könnten, wenn sie so gesund, frei und rege wie damals wären. Trotz der Tatsache, dass der Roman von Lesern auf der ganzen Welt anerkannt wurde, behaupten viele Kritiker, dass die Verfilmung weniger erfolgreich war. Hannah Pilarczyk behauptet [4], dass in einigen Filmabschnitten zu viel Zeit den unbedeutenden Ereignissen gewidmet wird, während die Gemütsbewegungen und Besorgnisse der Helden nicht vollständig offengelegt werden. Während Kehlmanns Blick beim Schreiben des Buches offensichtlich in die Vergangenheit gerichtet war, setzte sich Goethe in seinem „Faust“ ausschließlich mit den Problemen seiner Epoche auseinander und äußerte Bedenken hinsichtlich der Zukunft. Hier sehen wir wiederum das gleiche Bild eines nach der Erkenntnis der Welt strebenden Menschen. Goethe zeichnet einen modernen Menschen, der keine Grenze annimmt und sein ganzes Glück im Konsum sucht. Der bekannte Wissenschaftler Dr. Heinrich Faust konnte trotz seines hohen Bildungsstandes den Bedarf an allumfassendem Wissen nicht stillen. Sein ganzes Leben hat er im Erkenntnisstreben vergeblich verbracht, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Den „animalischen Lebensvollzug, der sich in Ruhm-, Macht- und Besitzstreben, Liebesleben und Familiengründung erschöpft“ [5], hat er außer Acht gelassen und ihm ist nicht gelungen, die Freuden des normalen Lebens zu genießen. Die Frage, die der Autor hervorhebt: Wie kann man ohne Selbstbetrug und Teufelspakt mit dem Leben, das unsere Sehnsucht nach Sinnlichkeit so wenig erfüllt, und stattdessen mit soviel Enttäuschung, Entbehrung und Schmerz aufwartet, zufrieden werden? Durch Darstellung der Konfrontation zwischen Gut und Böse belehrt Goethe den Leser, dass es selbst der Mensch ist, mit seinem Verstand, der schuldfähig ist, denn er verfügt über freien Willen für das Gute oder das Böse. Da man zur Einsicht und Selbstreflexion fähig ist, trägt man selbst die Verantwortung für sein Handeln. Meiner Ansicht nach wird die Frage der moralischen Wahl mit allmählicher Abschwächung der moralischen Gesetze in der Gesellschaft immer wieder akuter. Jeder wird mit der Notwendigkeit konfrontiert, eigenen Gleichgewichtspunkt auf der Koordinatenlinie seiner Werte zu bestimmen, wo die zwei Extreme sind nur im sinnlichen Genuss, in materiellen Gütern alleiniges Behagen zu finden oder sich weiterzubilden und, wie es bei Faust der Fall war, bis zu den Grenzen des Wissens vorzudringen und zu „erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält 1“. Sehr eng damit ist das Problem der Religion verbunden, das in der Tragödie umständlich erörtert wird. Man lernt die fromme und anständige Gretchen kennen, die ihr Leben nach christlichen Werten gestaltet. Faust im Gegensatz zu ihr ist überhaupt nicht religiös. Auch wenn er einen Doktorgrad in der Theologie erworben hat, behauptet der Wissenschaftler: „allein mir fehlt der Glaube 2“. Um göttliche Erkenntnis und Schaffenskraft zu erlangen, scheut er sich nicht davor, sich schwarzer Magie zuzuwenden. Das wird deutlich, als Faust angesichts des Makrokosmoszeichens sich selbst fragt: „Bin ich ein Gott? 3“ [6]. Während des tiefgründigen Gesprächs, das in Marthens Garten abläuft, stellt Gretchen an Faust eine sogenannte Gretchenfrage, mit der sie erfahren will, was Faust von Religion hält und was ihn im Innersten bewegt: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? 4“. Zu der Zeit, in der das Drama spielt, war er üblich, Parallelen zwischen der Einstellung zur Religion und Wertvorstellungen einer Person zu ziehen [7]. Die Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft hat stark abgenommen, aber die religiösen Wurzeln der Moral wirken immer noch nach, so kann man heute fast für jeden eine Gretchenfrage aussuchen, um zu bestimmen, von welchen Prinzipien man sich im Leben leiten lässt. Aufs Problem des Alterns stößt man auch beim Lesen dieser Tragödie. Wegen eines von der Hexe auf Wunsch Mephistos gebrauten Verjüngungstranks 1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Faust I, Vers 382 f. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Faust I, Vers 765 f. 3 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Faust I, Vers 439 f. 4 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Faust I, Vers 3415 f. geht aus dem einst alten Gelehrten ein Junger Mann hervor. In Faust regt sich die Begierde, sein neues Aussehen trägt dazu bei, dass er attraktiver für die Frauenwelt wird, neuen jugendlichen Mut fasst, impulsiver handelt. Als alter Mann hätte er die Freuden des Lebens nicht vollständig genießen können. Nicht nur die Konflikte der menschlichen Seele werden im Werk Goethes Lebens erleuchtet. Der Tragödie zweiter Teil kann als eine beispiellose Tragödie des Fortschritts des modernen Menschen interpretiert werden. Goethe sah die Schattenseiten des bevorstehenden technischen Fortschritts mit erschreckender Klarheit. Goethe-Forscher Michael Jaeger meint [8], dass „Faust“ als Parabel auf die globalisierte und beschleunigte Welt, in der die Umwelt ausgebeutet wird, die Menschen immer schneller unzufrieden sind und unaufhörlich auf die Zukunft spekulieren gelesen werden kann. Goethe zeigt, wie sich Fausts Einstellung zur Natur verändert: Das Meer wird, anstatt durch unberührte Schönheit zu treffen, zu einem Gegner, den man zu seinen Füßen stürzen muss. Die Kontemplation fließt in die Eroberung der Natur über. Die Entwicklung der Technologien zwingt uns auch heute, unumkehrbare Prozesse mitzuerleben oder uns auf sie vorzubereiten. Am Beispiel zweier großen Werke sehen wir deutlich, dass nicht nur die materiellen Errungenschaften der Wissenschaft der Goethezeit dem modernen Menschen zum Nutzen stehen. Die Autoren zeigen Probleme auf, die sich damals schon abzeichneten und heute noch nicht gelöst sind, weshalb viele Ideen, die die Gemüter der Menschen dieser Epoche bewegten, heute nicht weniger relevant klingen. Quellenverzeichnis
AUF DEN LEIB GESCHRIEBEN" - THOMAS LAQUEURS STUDIE ÜBER DIE DIFFERENZ DER GESCHLECHTER VON DER ANTIKE BIS ZUR GEGENWART So Frei Wie Das Spiel Der Gedanken