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Botakoz Kassymbekova und Annette Werberger über russische Geschichte https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/botakoz-kassymbekova-...

22.08.2022 - Aktualisiert: 23.08.2022, 06:53 Uhr


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Russische Geschichte

Das Herrschervolk regiert noch in den Köpfen


Die Dekolonisierung der russischen Geschichte ist nötig, um die
Entstalinisierung zum Abschluss zu bringen. Ein Gastbeitrag

Von BOTAKOZ KASSYMBEKOVA UND ANNETTE WERBERGER

© AP
Kolonialismus auf dem Schirm: Als Wladimir Putin am Ende des Jahres 2014 eine
Pressekonferenz gab, hatte er die Halbinsel Krim in die Landkarten der Russischen
Föderation längst integriert.

Dem 2019 verstorbenen amerikanischen Historiker Mark von Hagen ist es wesentlich zu
verdanken, dass die Geschichte der Ukraine ernst genommen wird. Der Artikel mit dem
provokanten Titel „Does Ukraine Have a History?“, den er 1995 in der „Slavic Review“
publizierte, war insbesondere an westliche Historiker gerichtet. Von Hagen hat später immer
wieder erzählt, dass er über seine Beschäftigung mit der Ukraine und durch den engen
Kontakt mit ukrainischen Forschern eine Art innere Dekolonialisierung als Historiker
durchlaufen habe.

Er begann Quellen in Ukrainisch zu lesen und neue Kontexte zu entdecken. Unverständliches


Material erhielt plötzlich einen neuen Sinn. Als angesehener Professor wusste er genau, dass
man sich mit einer derartigen Confessio in der Historikerzunft dem Vorwurf der
Unprofessionalität und des oberflächlichen politischen Aktivismus aussetzt. Aber er bestand
darauf, dass ihn seine Zuwendung zur Ukraine zu einem besseren Erforscher des Russischen
Reichs und der Sowjetunion insgesamt gemacht habe. Er wollte einer jüngeren Generation
Mut machen, eigene Wege abseits der Zentralstellung des Russischen in den
Osteuropastudien zu gehen.

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Botakoz Kassymbekova und Annette Werberger über russische Geschichte https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/botakoz-kassymbekova-...

Warnung vor antirussischen Erzählungen

In den Monaten seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat es viele
Veranstaltungen gegeben, auf denen Vertreter der historischen Osteuropastudien über die
Zukunft ihrer Fächer diskutierten. Unter der Losung der Dekolonisierung wurde ein besseres
Verständnis der kolonialen Kontinuitäten in der Region gefordert. In diesem Kontext haben
sich die Osteuropahistoriker Robert Kindler, Tobias Rupprecht und Sören Urbansky am 8.
August im Feuilleton der F.A.Z. in dem Artikel „Die Verdammten der russischen Erde“ mit
der „postkolonialen“ Geschichtsschreibung auseinandergesetzt. Sie warnen vor einer
„Repolitisierung oder Moralisierung der Vergangenheit“, die dazu verleite, „Narrative zu
bedienen, die auf eine Affirmation ‚antirussischer‘ Nationalgeschichten hinauslaufe“.

Dekolonisierung in den Wissenschaften ist ein Prozess, der strukturelle und politische
Veränderungen mit sich bringen wird, denn auch Teile der europäischen Wissenschaften
basieren auf einem moralischen Wertesystem, das ethnische oder kulturelle Überlegenheit
oftmals als Rationalität und Neutralität ausgibt. Vor der Oktoberrevolution von 1917 verstand
sich das Russische Reich als stolze Kolonialmacht auf einer Ebene mit Großbritannien oder
Frankreich. Die Sowjetunion gab sich hingegen als antiimperiale Union aus, die mit dem
Zarenreich auch den Kolonialismus beendet haben wollte. Da der heutige russische Präsident
Putin mit seinem Krieg so etwas wie eine Wiederherstellung der Sowjetunion im Schilde
führt und im diplomatischen Verkehr mit afrikanischen Ländern versichert, Russland sei nie
kolonial gewesen, wird die Frage akuter, ob die Sowjetunion tatsächlich antikolonial war und
warum Russland heute der einzige postsozialistische Staat bleibt, der die Sowjetunion mit
Gewalt wiedererstehen lassen möchte.

Da die Bolschewiki den Kolonialismus als ein Produkt von Kapitalismus und Imperialismus
betrachteten, glaubten sie, dass der Sozialismus ihn automatisch beenden werde. Die
Sowjetunion erwies sich hingegen als imperiale Diktatur, welche die russische Nation in ihr
Zentrum setzte. Stalin proklamierte das russische Volk zum größten und wichtigsten Volk der
Sowjetunion. Viele Völkergruppen wurden durch Deportationen oder künstlich
herbeigeführten Hunger völkermörderisch unterdrückt. Das frühsowjetische Versprechen auf
Selbstbestimmung wurde nicht realisiert und verwandelte sich in öffentliche Inszenierungen
der „Völkerfreundschaft“.

Deutsche galten als besonders gefährlich

Politische Eliten, die sich eine andere Zukunft für ihre Völker vorstellten, wurden
ausgelöscht. Zudem wurden einige Gruppen als feindliche Völker bezeichnet, weil sie
angeblich mit Ausländern kollaborierten. Diese Stereotype zielten meist auf Nichtrussen, die
als besonders gefährlich galten (Deutsche, Tschetschenen, Krimtataren, Koreaner) oder als
unterentwickelt betrachtet wurden. Die Russen wurden als Maßstab der zivilisatorischen
Entwicklung angesehen. Wer Aufstiegschancen suchte, musste sich russifizieren. Stalin
nutzte die russische Kultur aus, um Nichtrussen ihre Kulturen abzusprechen und zu
eliminieren.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren viele Russen überrascht darüber, dass andere
Völker plötzlich Unabhängigkeit verlangten statt sich beim russischen Volk zu bedanken. Die
Russen waren von Stalin dazu erzogen worden, sich als bestes Volk zu verstehen, das sich

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opfere, um andere zu „entwickeln“ oder vor dem Nazismus sowie dem westlichen
Kolonialismus zu retten. Den Erfolg des Erziehungsprogramms belegen Aussagen zweier
berühmter russischer Schriftsteller: Joseph Brodskys lyrischer Einspruch gegen die
Unabhängigkeit der Ukraine und Alexander Solschenizyns Ruf nach der Annexion von
Nordkasachstan. Beide Autoren waren dissidentische Kritiker des sowjetischen Systems aber
nicht der russischen Überlegenheit. Die Entstalinisierung des Denkens bleibt ohne
Dekolonisierung unvollendet.

Niemand will zurück in die Union

Putin gründet seine Rhetorik auf sowjetischem Selbstlob der Stalinzeit. Stalin entpolitisierte
das Konzept der Nation, er ließ nur eine folkloristische, bäuerliche Repräsentation
nichtrussischer Nationen zu. Bis heute verweigert Putin den Ukrainern ein politisches
Konzept von Nation. Indes verstehen sich Ukrainer und andere Nachbarn Russlands
mittlerweile als politische Nationen, die ein multiethnisches und bilinguales Verständnis
ihrer Bevölkerung pflegen.

Man streitet sich bis heute über die Faktoren, die zum Kollaps der Union der
Sowjetrepubliken führte. Niemand bestreitet aber die Tatsache, dass die ehemaligen
Republiken nicht in die ungleiche und unfreie, durch militärische Gewalt entstandene Union
zurückkehren möchten. Die sowjetische Kolonialität unterscheidet sich zwar von westlichen
Formen des europäischen Kolonialismus, aber sie ähnelt ihnen auch. Der Bruch mit dem
Mythos von der großen multiethnischen Sowjetunion, die nichts mit Kolonialismus zu tun
hat, ist eine riesige gesellschaftliche Aufgabe, bei der die historischen Wissenschaften eine
wichtige Rolle spielen sollten. Als „antirussisch“ lässt sie sich nicht abtun.

© University of Cambridge
Mark von Hagen (1954 bis 2019), Professor an der Columbia University und zuletzt an
der Arizona State University, war Präsident der International Association of
Ukrainianists. Am 23. Februar 2018 hielt er an der Universität Cambridge die sechste
Stasiuk-Vorlesung zum hundertsten Jahrestag des Friedens von Brest-Litowsk. Seine
Kollegen gaben ihm zu Ehren ein Dinner (auf dem Foto ist er der Vierte von rechts). Vier
Monate später reiste er noch einmal nach Europa, um in Frankfurt an der Oder an der
Viadrina zu sprechen.

Warum blieben Kolonialisierungsprozesse in der Osteuropaforschung oft unsichtbar? Sie


wurden positiv im Rahmen der sozialistischen Variante von Modernisierung gelesen.

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Außerdem betrafen sie Europäer und Nichteuropäer gleichermaßen, und historische


Wissensproduktion fand unter geopolitischen Vorannahmen statt, wie sie sich in der Formel
der „Einflussgebiete“ verdichten. Man fuhr in den Osteuropastudien im Fahrwasser der
russischen Staatlichkeitsidee und glaubte mit der russischen Sprache alle Phänomene
abdecken und beforschen zu können. Auch Putin präferiert eine Geschichtsschreibung, die
Russland ins Zentrum stellt und diese Zentralität gleichzeitig verwischt, indem man sich
hinter der polyethnischen Herkunft russifizierter Eliten versteckt.

Das Beispiel Mark von Hagens zeigt, dass ein fundierter dekolonialer Ansatz auf
Archivbesuchen und Spracherwerb beruht, keineswegs ein bestimmtes Ge-
schichtsverständnis vorschreibt oder nur agitatorischen Aktivismus befördert. Die
Diversifizierung der Osteuropastudien und der Umbau von Strukturen, Studiengängen und
internationalen Kontakten ist eine wichtige Investition, damit wir in Europa in Zukunft in
den Morgenstunden seltener von „der Geschichte“ überrascht werden. Die deutsche
Wissenschaftscommunity sollte denjenigen, die völkermörderisch bedroht wurden, offen
entgegenkommen, auch weil sie selbst eine solche Bedrohung nie erfahren musste. Als
Neutralität wäre die von der Wissenschaft bei dieser Thematik geforderte Haltung falsch
beschrieben. Zu oft verweist der Anspruch auf Neutralität darauf, dass man alte Privilegien
weiter genießen möchte. Was für den einen wertneutral ist, kann für den anderen die
Duldung einer Praxis der Gewalt darstellen.

Mark von Hagen hat den 24. Februar 2022 vier Jahre zuvor bei seinem letzten Besuch an der
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder vorhergesehen: „Wenn die Dinge noch
schlimmer werden“, sagte er, „wird das wieder unsere Aufgabe sein, so leid es mir tut. Die
Ukrainischen Freien Universitäten werden wieder Menschen aufnehmen müssen, die vor der
bolschewistischen Herrschaft fliehen, die sich zwar nicht mehr Bolschewiken nennen,
sondern wohl faschistische Herrschaft. Es tut mir leid, dass ich Ihnen keinen
optimistischeren Ausblick geben kann.“

Botakoz Kassymbekova lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel,


Annette Werberger Osteuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina in
Frankfurt an der Oder.

Quelle: F.A.Z.

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