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Was explodierte bei der kambrischen Explosion?

In einem gigantischen Evolutionsschub besiedelten vor 540 Millionen Jahren die


ersten modernen Tiere die Ozeane. Was erzeugte ihre plötzliche Vielfalt?
Douglas Fox

© ISTOCK / SCOTTORR (AUSSCHNITT)


EXKLUSIVE ÜBERSETZUNG AUS

Schwarze, zerklüftete Felsnadeln erheben sich 80 Meter über die Grasebenen


Namibias. Sie gleichen uralten Stätten, Grabhügeln einer alten Zivilisation oder
Spitzen riesiger Pyramiden, die im Laufe der Zeit vom Sand begraben wurden.
Die Gesteinsformationen sind in der Tat Monumente eines vergangenen Reiches,
doch wurden sie nicht von Menschenhand erbaut. Es sind Reste von Riffen, die
Zyanobakterien vor 543 Millionen Jahren auf dem seichten Meeresboden
erschufen, in einer Periode, die man heute das Ediacarium nennt. Die urzeitliche
Welt dieser Riffe war wahrhaft unirdisch. Die damaligen Ozeane enthielten so
wenig Sauerstoff, dass heutige Fische dort schnell und qualvoll sterben würden.
Eine Schicht schleimiger Mikrobenmatten bedeckte den Meeresboden, auf dem
eine Vielzahl rätselhafter Tiere lebte, deren Körper dünnen wattierten Kissen
ähnelten. Die meisten waren unbeweglich, aber einige schlängelten sich blind
grasend über den Film von Kleinstlebewesen. Tierisches Leben war damals recht
einfach, und es gab keine Fressfeinde. Doch ein plötzlicher Evolutionssturm sollte
diese ruhige Welt bald auf den Kopf stellen.
© FOTOLIA / FARBKOMBINAT (AUSSCHNITT)
Bändereisenerz | Bändereisenerze zeugen von wechselnden chemischen
Bedingungen im Ozean, die auch mit dem Sauerstoffgehalt
zusammenhingen.
Das einfache Ökosystem verschwand binnen weniger Millionen Jahre und
machte einer Welt Platz, in der äußerst bewegliche Tiere mit neuen
anatomischen Merkmalen regierten. Während der so genannten kambrischen
Explosion entstanden Arthropoden mit Beinen und Facettenaugen, Würmer mit
gefiederten Kiemen und flinke Jäger, die ihre Beute mit zahnbesetztem Maul
zerrissen. Biologen streiten seit Jahrzehnten über den Auslöser dieser plötzlichen
Explosion der Artenvielfalt. Einige glauben an einen starken Anstieg des
Sauerstoffgehalts, der zu den Veränderungen geführt haben soll; andere
sprechen von Schlüsselentwicklungen in der Evolution als Ursache und nennen
beispielsweise das Sehvermögen. Bisher ist der genaue Grund unklar, nicht
zuletzt weil relativ wenig über die physikalischen und chemischen Verhältnisse in
der damaligen Zeit bekannt ist.
Doch mit immer mehr Entdeckungen der letzten Jahre klärt sich langsam unsere
Sicht auf das Ende des Ediacariums. Nicht nur von den namibischen Riffen gibt
es Hinweise, dass die bisherigen Theorien zu simpel gedacht waren – dass die
kambrische Explosion vielmehr aus einem komplexen Zusammenspiel kleiner
Umweltveränderungen hervorging, das gewaltige Evolutionsschübe auslöste.
Inzwischen nämlich glauben manche Wissenschaftler, dass ein geringer,
womöglich nur zeitweiliger Sauerstoffanstieg plötzlich einen ökologischen
Schwellenwert überschritt und so das Auftreten von Raubtieren ermöglichte.
Infolgedessen hätte das Aufkommen von Fleischfressern ein evolutives
Wettrüsten verursacht, das eine Vielzahl verschiedener, komplexer Körperformen
und Verhaltensweisen nach sich zog, von denen wir viele noch heute in den
Ozeanen finden. "Es war das bedeutendste Ereignis in der Evolution unserer
Erde", sagt der Paläobiologe Guy Narbonne von der Queen's University in
Kingston in Kanada. "Die immer weitere Verbreitung der Raubtiere wurde erst
durch die Sauerstoffanreicherung möglich und ist wahrscheinlich einer der
wichtigsten Auslöser der kambrischen Explosion."
Energie zum Verbrennen
In der heutigen Welt vergisst man leicht, dass komplexe Tiere verhältnismäßig
neu auf der Erde sind. Seit das erste Leben vor mehr als drei Milliarden Jahren
entstanden war, dominierten die Einzeller unseren Planeten eigentlich die längste
Zeit seines Daseins. Sie gediehen prächtig in einer Umwelt ohne Sauerstoff und
waren lediglich auf Stoffe wie Kohlendioxid, schwefelhaltige Moleküle oder
Eisenmineralien angewiesen, die sie als Oxidationsmittel zur Aufspaltung von
Nährstoffen nutzten. Auch heute noch lebt ein Großteil der mikrobiellen
Biosphäre unserer Erde von solchen anaeroben Stoffwechselwegen.
Vielzellige Tiere dagegen sind auf Sauerstoff angewiesen – eine viel
reichhaltigere Lebensstrategie. Ein Stoffwechsel in Anwesenheit von Sauerstoff
setzt wesentlich mehr Energie frei als die meisten anaeroben metabolischen
Wege. Tiere sind von dieser effektiven und stark kontrollierten Verbrennung ihrer
Nahrung abhängig, und nur dank ihrer konnten so energiehungrige
Entwicklungen entstehen wie Muskeln und Nervensystemen oder Werkzeuge zur
Verteidigung und Jagd – sprich Panzer, Außenskelette und Zähne aus
Mineralien.
Angesichts der Bedeutung des Gases für die Tierwelt galt lange Zeit sein
plötzlicher Anstieg in den Meeren beinahe auf heutiges Niveau als Antrieb der
kambrischen Explosion. Um diese Theorie zu überprüfen, untersuchten die
Wissenschaftler Sedimente aus den Erdzeitaltern des Ediacariums und des
Kambriums, die sich über den Zeitraum von 635 Millionen bis 485 Millionen
Jahren vor unserer Zeit erstreckten.
© ISTOCK / PAOCCA (AUSSCHNITT)
Versteinerte Trilobiten | Diese Tiere gehörten zur charakteristischen Fauna
des Kambriums.
In Namibia, China und vielen anderen Ländern sammelten die Forscher
Gesteinsproben des urzeitlichen Meeresbetts und bestimmten deren Gehalt an
Eisen, Molybdän und anderen Metallen. Weil die Löslichkeit der Metalle stark von
der vorhandenen Sauerstoffmenge abhängt, spiegelt Menge und Art solcher
Metalle im urzeitlichen Sedimentgestein den Gehalt des Gases zum Zeitpunkt der
Sedimentbildung wider.
Laut derzeitiger Daten scheint die Sauerstoffkonzentration in den Ozeanen
schrittweise angestiegen zu sein und erreichte zu Beginn des Kambriums vor
rund 541 Millionen Jahren eine Größenordnung, wie sie heute an der
Meeresoberfläche zu finden ist. Kurz danach traten plötzlich neue Tiere auf und
entwickelten sich in verschiedenste Richtungen. Alle diese Befunde stützten die
Theorie vom Sauerstoff als Schlüsselelement der explosionsartigen Evolution.
Doch letztes Jahr stellte eine große Studie über urzeitliche
Meeresbodensedimente das ganze Modell in Frage. Der Paläontologe Erik
Sperling von der Stanford University in Kalifornien hatte 4700 Messungen zur
Eisenkonzentration in Gesteinsproben der ganzen Welt aus dem Zeitalter des
Ediacariums und Kambriums gesammelt. Er und seine Kollegen konnten an der
Grenze der zwei Zeitalter aber entgegen aller Annahmen keinen statistisch
signifikanten Anstieg im Verhältnis von sauerstoffreichem zu sauerstofffreiem
Wasser feststellen.
"Jede Sauerstoffanreicherung muss bei Weitem geringer gewesen sein, als
allgemein angenommen wird", schließt Sperling. Die meisten Leute glauben,
"dass ein Oxygenierungsereignis den Sauerstoffgehalt im Prinzip auf das heutige
Niveau ansteigen ließ. Doch das war wahrscheinlich gar nicht der Fall", meint er.
Die aktuellen Ergebnisse kommen gerade zu einer Zeit, in der Fachleute neu
bewerten, wie es sich mit den ozeanischen Sauerstoffkonzentrationen jener
entscheidenden Periode verhielt. Der Geobiologe Donald Canfield von der
Süddänischen Universität in Odense bezweifelt, dass Sauerstoff für die frühen
Tiere ein limitierender Faktor war. In einer im letzten Monat veröffentlichten
Studie schlagen er und seine Kollegen die Deutung vor, dass bereits hunderte
Millionen von Jahren vor dem Auftreten der ersten Schwämme ausreichend
Sauerstoff für einfache Lebewesen vorhanden gewesen sei. Kambrische Tiere
brauchten zwar mehr Sauerstoff als frühe Schwämme, räumt Canfield ein. "Aber
ein weiterer Anstieg an der Grenze von Ediacarium zum Kambrium wäre nicht
nötig gewesen", sagt er. Sauerstoff könne schon "lange, lange vorher" in
hinreichenden Mengen vorhanden gewesen sein.
"Die Rolle des Sauerstoffs bei der Entstehung von Tieren wird heftig diskutiert",
berichtet der Geobiologe Timothy Lyons von der University of California in
Riverside. "Genau genommen war sie noch nie so umstritten wie heute." Laut
Lyons spielte das Gas eine Rolle bei den Veränderungen im Rahmen der
Evolution. Aber nach seinen bisher unveröffentlichten Daten über Molybdän und
andere Spurenelemente waren die meisten der präkambrischen
Sauerstoffveränderungen nur temporäre Spitzen über ein paar Millionen Jahre
hinweg inmitten eines eher langsamen Anstiegs.
Spiegel unserer Zeit
Der Paläontologe Sperling analysierte derweil moderne sauerstoffarme
Meeresregionen rund um den Globus, immer auf der Suche nach Anhaltspunkten
zu den Ozeanen des Ediacariums. Seiner Meinung nach haben sich Biologen
bisher auf falsche Denkansätze gestützt, wenn sie den Einfluss von Sauerstoff
auf die Evolution der Tiere betrachteten. Sperling verglich publizierte Daten mit
seinen eigenen, fasste sie zusammen und analysierte sie. Laut seinen
Auswertungen überlebten kleine Würmer auch auf einem Meeresboden mit sehr
niedrigem Sauerstoffgehalt – sogar bei weniger als einem halben Prozent der
global gemessenen durchschnittlichen Konzentration an der Meeresoberfläche.
Die Nahrungsnetze in dieser sauerstoffarmen Umwelt sind einfach, und die Tiere
leben direkt von den Mikroorganismen. An Orten mit etwas höherem
Sauerstoffgehalt am Meeresboden, ungefähr zwischen einem halben und drei
Prozent der Konzentration an der Wasseroberfläche, sind Tiere schon in größerer
Zahl vorhanden, auch wenn die Nahrungsnetze noch beschränkt bleiben: Die
Tiere ernähren sich hier immer noch von Kleinstlebewesen und fressen sich nicht
gegenseitig auf. Doch irgendwo zwischen drei und zehn Prozent treten die ersten
Räuber auf und beginnen, sich von anderen Tieren zu ernähren.
Diese Befunde haben tief greifende Auswirkungen auf unsere Sicht der Evolution,
erklärt Sperling. Ein mäßig starker Sauerstoffanstieg könnte seiner Meinung nach
kurz vor Beginn des Kambriums erfolgt sein und wäre ausreichend gewesen für
die großen Veränderungen. "Wenn der Sauerstoffgehalt zunächst bei
drei Prozent lag und dann über den Schwellenwert von zehn Prozent gestiegen
ist, dann hätte das einen riesigen Einfluss auf die frühe Evolution der Tiere
gehabt", sagt er. "Es gibt einfach unglaublich viele Faktoren in der Ökologie,
Lebensweise und Körpergröße der Tiere, die sich bei diesem Level dramatisch
verändern."
© NIK SPENCER/NATURE; FOX, D.: WHAT SPARKED THE CAMBRIAN
EXPLOSION? IN: NATURE 530, S. 268-270, 2016; DT. BEARBEITUNG:
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT (AUSSCHNITT)
Als das Leben schneller wurde
Das schrittweise Auftreten von Fressfeinden im Rahmen kleiner
Sauerstofferhöhungen war für die Tiere im Ediacarium problematisch, weil sie bis
dato keinerlei Abwehrmechanismen besaßen. "Man muss sich weiche, meist
unbewegliche Körper vorstellen, die wahrscheinlich überlebten, indem sie
Nährstoffe über ihre Haut aufnahmen", erklärt Narbonne.
Wie Studien an den urzeitlichen namibischen Riffen andeuten, scheinen
tatsächlich am Ende des Ediacariums die ersten Tiere anderen Tieren zum Opfer
gefallen zu sein. Die Paläobiologin Rachel Wood von der University of Edinburgh,
UK, untersuchte Gesteinsformationen eines Riffs und fand heraus, wie an
manchen Stellen die Gattung Cloudina, ein relativ primitives Tier, einen Teil des
Mikroorganismenriffs quasi übernommen hatte. Die trichterförmigen Lebewesen
breiteten sich nicht über den Meeresboden aus, sondern lebten in dichten
Kolonien, wo ihre verwundbaren Körperteile vor den Räubern verborgen
blieben – eine ökologische Dynamik, die auch auf heutigen Riffen zu finden ist.
Cloudina gehörte zu den ersten Tieren mit einem festen, mineralisierten
Außenskelett. Aber sie waren nicht allein. Zwei andere Arten der Riffe hatten
ebenfalls mineralisierte Körperteile. Somit scheinen sich bei mehreren nicht
verwandten Gruppen zur gleichen Zeit skelettartige Schalen entwickelt zu haben.
"Die Panzerbildung ist ziemlich aufwändig, und es ist schwer nachvollziehbar,
warum ein Tier ein Schale bilden sollte, wenn nicht zu seiner eigenen
Verteidigung", erklärt Wood. Ihrer Meinung nach sollten diese Hüllen Schutz vor
neu aufgetretenen Räubern bieten. Und tatsächlich fanden die Forscher bei
einigen Cloudina-Fossilien aus dieser Zeit seitlich Löcher, die wohl Spuren von
Angreifern sind, die sich in die Schale der Beutetiere gebohrt hatten.
Paläontologen fanden noch weitere Hinweise für das gegenseitige Auffressen der
Tiere im späten Ediacarium. In Namibia, Australien und Neufundland in Kanada
wurde in Meeresbodensedimenten eine ungewöhnliche Art von Tunneln
gefunden, die von einem unbekannten, wurmähnlichen Tier stammen. Diese
als Treptichnus bezeichneten Spurenfossilien verzweigen sich immer wieder, als
ob ein Räuber unter der Matte aus Mikroorganismen ganz systematisch nach
Beutetieren oberhalb der Matte suchte. Sie ähneln auch den Gängen heutiger
Priapuliden, den "Peniswswürmern" – gefräßigen Räubern, die in bemerkenswert
ähnlicher Weise auf dem heutigen Meeresboden jagen.
Die Entwicklung des räuberischen Verhaltens war für die sesshaften Tiere des
Ediacariums natürlich von großem Nachteil. "Herumsitzen und nichts tun wurde
zu einem Problem", sagt Narbonne.
Die Welt in 3-D

An einer Reihe freiliegender, von Gletschern rundgeschliffener Steinfelsen am


südlichen Rand von Neufundland ist der Übergang vom Ediacarium ins
Kambrium gut dokumentiert. Unterhalb der Zeitaltergrenze sind Abdrücke von
kissenartigen Tieren aus dem Ediacarium erhalten geblieben – die spätesten
dieser Fossilien. Nur 1,2 Meter darüber wurden Kratzspuren im grauen
Schluffgestein gefunden, die möglicherweise von Tieren mit Außenskelett
stammten, die sich schon auf gegliederten Beinen bewegten – die frühsten
Hinweise auf Arthropoden in der Erdgeschichte.
© KATRINA KENNY & UNIVERSITY OF ADELAIDE (AUSSCHNITT)
Anomalocaris, der Schrecken des Kambriums | Gestatten: Anomalocaris,
der größte Räuber der Welt – wenigstens zu seiner Zeit, die allerdings mit
gut 500 Millionen Jahren schon ein wenig zurück liegt. Damals, im
Kambrium, gab es für das ausgewachsen bis zu einem Meter lange Wesen
keine ernsthafte Konkurrenz, sondern weit und breit nur Beute. Die hat sich
die "ungewöhnliche Garnele", so der wissenschaftliche Name übersetzt,
sicherlich mit den zwei auffälligen Tentakeln geschnappt und zum Maul
geführt. Ungemein wichtig für den Jagderfolg waren aber vor allem die
hochleistungsfähigen Komplexaugen des Tieres, berichten nun John
Paterson und seine Kollegen, nachdem sie gut erhaltene fossile Überreste
eines Anomalocaris untersucht haben. Die Resultate der Forscher von der
University of New England im australischen Armidale belegen auch eine
schon ältere Hypothese über die Verwandtschaftsverhältnisse der
Anomalocariden: Offenbar vertraten sie tatsächlich eine sehr frühe
eigenständige Entwicklungslinie der Gliederfüßer – und sind damit so
etwas wie Urvettern aller heute lebenden Insekten, Spinnen und Krebse. Die
Gliederfüßer, so interpretieren die Evolutionsforscher die neuen
Erkenntnisse, haben demnach überraschend früh ausgereifte und
hochleistungsfähigen Augen besessen. Erst danach legten sie sich dann
ihre heute klassischen Kennzeichen zu, etwa das Außenskelett oder die
Gliederfüße: Beides fehlt der uralten Anomalocaris-Verwandtschaft noch.
Laut Narbonne weiß niemand, wie viel Zeit bei der Entstehung des
dazwischenliegenden Gesteins vergangen ist, es könnten nur wenige
Jahrhunderte oder aber Jahrtausende gewesen sein. Doch währenddessen
verschwand plötzlich die weich gebaute, unbewegliche Fauna des Ediacariums,
Narbonnes Vermutung nach wegen Ausrottung durch neue Räuber.
Narbonne untersuchte sehr detailliert die nicht gerade üppige Fauna, die den
Übergang überlebt hat. Seinem Schluss nach könnten einige der Arten neue,
komplexere Verhaltensweisen angenommen haben; die besten Anhaltspunkte
hierfür bieten die Spuren eines friedlichen und wurmähnlichen Tieres, das damals
wohl auf den mikrobiellen Matten graste. Frühe Spuren von vor etwa
555 Millionen Jahren verlaufen in geschlängelten Bahnen kreuz und quer. Die
Wege weisen auf ein wenig entwickeltes Nervensystem hin, mit dem man andere
grasende Tiere in der Nähe weder wahrnehmen noch darauf reagieren konnte –
geschweige denn Räuber. Doch am Ende des Ediacariums und im frühen
Kambrium wurden die Spuren komplexer: Die Geschöpfe machten engere
Wendungen und pflügten nah aneinanderliegende Linien in das Sediment. In
einigen Fällen geht eine kurvige Spur in eine gerade Linie über, was Narbonne
als Ausweichen eines Tieres vor seinem Räuber interpretiert.
Die neue Art und Weise des Grasens könnte damals im frühen Kambrium zur
Zergliederung der mikrobiellen Matten beigetragen haben. Die Umgestaltung des
Meeresbodens ist, so Narbonne, "vielleicht die am tiefsten greifende
Veränderung in der Geschichte des Lebens auf unserer Erde". Diese Matten
hatten zunächst den Meeresboden wie eine Plastikfolie verhüllt und das
darunterliegende Sediment weitgehend sauerstofflos und unzugänglich für Tiere
gemacht. Weil sich die Tiere im Ediacarium nicht tief eingraben konnten, ergab
sich ein Leben in nur zwei Dimensionen. Als sich die Weidefähigkeiten der Tiere
aber verbesserten, durchstießen sie die Matte, machten das Sediment erstmals
bewohnbar und öffneten so das Tor zu einer dreidimensionalen Welt.
Spuren aus dem frühen Kambrium zeigen auch, wie Tiere sich mehrere
Zentimeter tief in das Sediment unter der Matte einzugraben begannen. Das
ermöglichte ihnen den Zugang zu bisher ungenutzten Nährstoffen und gewährte
ihnen Zuflucht vor Fressfeinden. Möglicherweise bewegten sich die Tiere aber
auch in die entgegengesetzte Richtung. Weil sie ihre Räuber meiden mussten
(und andersherum die Beute jagen), könnten sie so auch in die Wassersäule
oberhalb des Meeresbetts gelangt sein, wo ihnen ein höherer Sauerstoffspiegel
erlaubte, Energie für das Schwimmen zu verbrauchen, überlegt Sperling.
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Immer mehr Hinweise auf Schwellenwerte und Ökologie des Sauerstoffs könnten
die Forscher nun auch bei einer ganz anderen wichtigen Frage der Evolution
weiterbringen: Wann sind die Tiere überhaupt entstanden? Die ersten
eindeutigen Tierfossilien tauchten vor nur 580 Millionen Jahren auf; allerdings
deuten Befunde aus der Genetik darauf hin, dass grundlegende Tiergruppen
bereits vor 700 oder 800 Millionen Jahren entstanden sein müssen. Als
möglichen Auslöser nennt Lyons einen Anstieg des Sauerstoffgehalts vor
800 Millionen Jahren auf zwei oder drei Prozent des heutigen Werts. Diese
Konzentration könnte für kleine, einfache Tiere ausgereicht haben, genauso wie
heutzutage etliche Populationen in den sauerstoffarmen Meereszonen damit gut
leben. Doch Tiere mit großen Körpern konnten sich bestimmt erst mit einem
Anstieg des Sauerstoffgehalts im Ediacarium entwickeln.
Um besser zu verstehen, wie dieses Gas die Entwicklung komplexer Tiere
beeinflusste, müssen Wissenschaftler noch genauere Hinweise im Gestein
finden. "Wir haben Fachleute für Fossilien angespornt, ihre Funde noch einmal
mit Blick auf unsere Sauerstoffanalysen anzuschauen", sagt Lyons. Damit
könnten sie entschlüsseln, wie hoch der Sauerstoffgehalt in den verschiedenen
urzeitlichen Umgebungen war und wie diese Werte mit den Tierfossilien der
entsprechenden Orte in Einklang zu bringen sind.
Mit diesem Ziel besuchte Wood letztes Jahr Sibirien. Sie sammelte dort Fossilien
von Cloudina und Suvorovella, einem weiteren Lebewesen aus den letzten Tagen
des Ediacariums, aber schon mit Skelett. Auf der Reise konnte die Forscherin
Fossilien von vielen verschiedenen Tiefen des urzeitlichen Meeres sammeln, von
der sauerstoffreicheren Oberfläche des Wassers bis hin zu tieferen Zonen. Wood
möchte nun nach Mustern suchen: Wo wuchsen den Tieren härtere Schalen,
wurden sie von Räubern angegriffen, und kann etwas davon eindeutig in
Zusammenhang mit dem Sauerstoffgehalt gebracht werden? "Nur solche Daten
enthüllen die ganze Geschichte."

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