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useum Ludwig

ntgarde im M
BAND

Russische Ava
MUS UN D
DER KUBOFUTURISMODERN E
R
DER AUFBRUCH DE
IN RUSSLAN D

Herausgegeben von Katia Baudin


unter Mitarbeit von Elina Knorpp WIENAND MUSEUM LUDWIG
AN HANG 86
WERKE DER 46
TEXTE UN D MANIFESTE 30
GRU SSWORT
4 SAMMLUNG LUDWIG
Wolfram Nolte
1912–1919 KÜN STLERBIOGRAFIEN
88
48
32 ALEXAN DRA EXTER Elina Knorpp
pe,
VORWORT
4 EIN E OHRFEIGE DEM Synthetische Darstellung von Diep
, 1912
ÖFFENTLICHEN GESCHMACK 1912/13 92
Kasper König AUTOREN
Hylæa-Gruppe Andréi Nakov
6 93
PROJEKTREIHE 3 33 58 ABBILDUNGSVERZEICHNIS
DAS WORT ALS SOLCHES, 191 LJUBOW POPOWA
RUSSISCHE AVANTGARDE mir Chle bnikow 3/14
Katia Baudin
Alexei Krut scho nych , Weli Sitzender weiblicher Akt, um 191 95
GLOSSAR
34 Regine Rapp
14 RAYONISTEN UND
SKYTHISCHE REITERINN EN 62 96
ZUKUNFTSMENSCHEN. OLGA ROSANOWA IMP RESSUM
John E. Bowlt Wörter,
EIN MANIFEST, 1914 Ein Entennestlein … schmutziger
ISMUS 22 Michail Larionow u. a. 1913
DER RUSSISCHE KUBOFUTUR
Jean-Claude Mar cadé 37 Ada Raev
BRIEF AN MARIN ETTI
TSC HAR OWA, 191 4 66
VON NATALJA GON WARWARA STEPAN OWA
38 Gaust Tschaba, 1919
,
BRIEFE VON OLGA ROSANOWA Regine Rapp
191 3–1 916
70
40 NATALJA GONTSCHAROWA
KUBISMUS. FUTURISMUS. Orangenverkäuferin, 1916
SUP REMATISMUS. 1917 Isabel Wünsche
Olga Rosanowa
74
42 MICHAIL LARION OW
ISTEN. 2
DIE RUSSISCHEN KUBOFUTUR Rayonistische Wurst und Makrele
n, 191
ERINNERUN GEN Isabel Wünsche
Michail Matjuschin
78
43 ALEXAN DER BOGOMASOW
EN,
GEGENSTAN DSLOSES SCHAFF Stadtansicht, 1913/14
1919 Andréi Nakov
Warwara Stepanowa
82
44 IWAN PUN I
AUTOBIOGRAFIE Bildskulptur, 1915
Nadeschda Udalzowa Magdalena Nieslony
Untersuchungen durchführen. Die Ansätze und Ergebnisse der Studien,
PROJEKTREIHE die beispielsweise durch Umhängung von Werken eine direkte Umset-
RUSSISCHE AVANTGARDE zung in der Präsentation erfahren können, werden der Öffentlichkeit
durch kabinettartige Ausstellungen, Symposien und wissenschaftliche
Katia Baudin
Publikationen zugänglich gemacht.

Der Kubofuturismus und der Aufbruch der Moderne in Russland


Mit über 830 Werken betreut das Museum Ludwig eine der weltweit Die Ausstellung „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“. Der Kubo-
umfangreichsten Sammlungen zur Russischen Avantgarde aus der vor- futurismus und der Aufbruch der Moderne in Russland eröffnete die
und nachrevolutionären Zeit. Sie gewährt einen tiefen Einblick in die Projektreihe mit einer Thematik, die besonders stark in der Sammlung
verschiedenen avantgardistischen Bewegungen zwischen 1905 und den vertreten ist.3 Anhand einer Auswahl von 36 Werken, geschaffen von
1930er-Jahren: Petersburger Organische Schule, Neoprimitivismus, 22 Künstlern in den Jahren zwischen 1911 und 1920, wurden unter-
Kubofuturismus, Rayonismus, Suprematismus und Konstruktivismus, schiedliche Aspekte der Rezeption des Kubismus und des Futurismus
um nur die wichtigsten zu nennen. Über 70 Künstler aus dieser Zeit, sowie der daraus folgenden neuen Entwicklungen Rayonismus und
darunter Persönlichkeiten wie Alexandra Exter, Natalja Gontscharowa, Kubofuturismus in Russland dargestellt, die den fruchtbaren künstleri-
Alexei von Jawlensky, Wassily Kandinsky, Michail Larionow, El Lissitzky, schen Austausch zwischen Russland, Frankreich und Italien in der
Iwan Puni, Alexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa oder Nikolai Einblicke in die Räume der Ausstellung vorrevolutionären Zeit widerspiegeln. In vier Abteilungen zeigte der
Suetin, sind mit Spitzenwerken, und in einzelnen Fällen, wie etwa bei „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Rundgang Gemälde, Reliefs, Künstlerbücher und Zeichnungen der
Kasimir Malewitsch und Alexander Rodtschenko, mit ganzen Werk- Geschmack“. Der Kubofuturismus und Sammlung Ludwig: Werke des russischen Futurismus, des Rayonismus
der Aufbruch der Moderne in Russland.
konvoluten in der Sammlung vertreten. Dieser Bestand spiegelt die Mai - Dezember 2009, Museum und des Kubofuturismus, kubistische Tendenzen sowie konstruktivisti-
große Vielfalt und Komplexität künstlerischer Positionen wider, die sich Ludwig, Köln sche Kompositionen, die vom Einfluss und der speziellen russischen
bewusst mit allen Facetten des Lebens auseinandersetzen wollten. Bildnachweis: RBA Transformation dieser ursprünglich westeuropäischen Avantgarde-
Folgerichtig spannt das Konvolut der Werke der Russischen Avantgarde bewegungen zeugen.4
des Museums Ludwig einen Bogen von der bildenden Kunst bis zur Anlässlich dieser Ausstellung wurden viele Werke zum ersten Mal seit
angewandten Kunst, mit wichtigen Beiträgen in Malerei, Skulptur, Grafik fast 20 Jahren erneut präsentiert – darunter Natan Altmans Frauenkopf
und Fotografie sowie mit Projekten und Entwürfen zu Architektur und (um 1913, Abb. 18) und Sergei Charchounes Madame O. Lickteig (um
Raum, Theater und Tanz, Möbeln und Alltagsobjekten, Künstlerbüchern 1920, Abb. 4).
und Plakaten. Im Zuge einer der Forschungsachsen der Projektreihe wurden einige
Auch wenn einige Schlüsselwerke von Künstlern wie Chagall, Kandinsky Gemälde umgerahmt, um deren ursprüngliches Erscheinungsbild wie-
und Jawlensky insbesondere durch Josef Haubrich in den Bestand des derherzustellen. Die Frage der Rahmung beziehungsweise der Verzicht
Hauses gelangten, als es noch Wallraf-Richartz-Museum hieß, wurde die auf einen Rahmen war von besonderer Bedeutung für Künstler der Avant-
Russische Avantgarde dank Peter und Irene Ludwig zu einem Schwer- garde, die ihre Bilder oft ungerahmt, nur mit Leisten versehen zeigten,
punkt der Sammlung. Das Sammlerehepaar trug im Laufe der Zeit über um sich von der „offiziellen“ und bürgerlichen Salonkunst abzugrenzen
550 Werke zusammen und übergab sie dem Museum als Dauerleih- und zu distanzieren. So wurden zum Beispiel Ljubow Popowas Sitzender
gaben. Schließlich erfuhr dieses Konvolut im Jahr 2008 noch eine weiblicher Akt (1913/14, Abb. 37) und Alexandra Exters Farbdynamik
bedeutende Ergänzung mit dem Ankauf der tschechischen Sammlung (1916/17, Abb. 10) von ihren mächtigen Leinwandpassepartouts und
Daniela Mrázkowá, die 234 sowjetische Propagandafotografien der vergoldeten Holzrahmen befreit, in denen sie ins Museum gelangt
1920er- und 1930er-Jahre in sich vereint.1 Die letzte Erweiterung des waren, und wurden in schlichte, diskrete Kastenrahmen versetzt.5
Bestands, eine ROSTA-Fensterreihe, die Anfang der 1920er-Jahre Die vorliegende Publikation basiert zwar auf der Ausstellung zum Kubo-
(mit Texten von Majakowski) entstand, konnte über die Freunde der futurismus, ist aber weniger ein Ausstellungskatalog als ein wissenschaft-
ART COLOGNE im Jahr 2009 erworben werden . licher Beitrag zum heutigen Verständnis dieses Sammlungsteils. Er
Die Projektreihe Russische Avantgarde wurde 2009 als mehrjähriges orientiert sich nicht an einer enzyklopädischen Systematik, sondern legt
und mehrteiliges Forschungsprojekt begonnen. Unser Ziel ist es, diesen seinen Hauptakzent auf die Vertiefung spezieller Aspekte. Texte über
Sammlungsschwerpunkt im Rahmen des aktuellen internationalen verschiedene Problematiken im Rahmen der kunsthistorischen, sozio-
Diskurses zur Russischen Avantgarde neu zu erforschen und seine kulturellen und politischen Kontexte, wie etwa vertiefte Analysen aus-
(kunst)historische Bedeutung aufzuzeigen. Die Neubewertung dieser gewählter Schlüsselwerke der Sammlung, wurden von international
einzigartigen Sammlung bot sich an, da der Wissensstand seit den letz- führenden Experten geschrieben und geben dem Leser zum Teil völlig
ten größeren Ausstellungen und Sammlungsbänden zum Bestand in neue Informationen zu den Schätzen der Sammlung, zu Entstehungs-
den Jahren 1986 und 1993 durch die Öffnung der Grenzen zum Osten kontexten und Ausstellungsgeschichte einzelner Werke. Ausgewählte
Europas inzwischen eine neue Qualität erreicht hat und der Zugang zu Zeitdokumente ergänzen die aktuellen Analysen und ermöglichen einen
den Archiven sowie zu den öffentlichen und privaten Sammlungen der aufschlussreichen Einblick in diese dynamische Epoche; sie geben nicht
ehemaligen UdSSR reibungsloser möglich ist.2 nur im visuellen Bereich, sondern auch auf theoretischer und literarischer
Die Projektreihe ist als Work-in-Progress konzipiert; sie unterscheidet Ebene Einsicht in die kreativen Prozesse der Künstler. Im Anhang des
sich in vielerlei Hinsicht von herkömmlichen Ausstellungen, da hier noch Buches finden sich die Biografien aller Künstler, die mit kubofuturisti-
1 Aristarch Lentulow, Skizze eines
Mädchens (vor einem Zaun), 1911/12, während der laufenden Präsentation interne Mitarbeiter und externe schen Werken in der Sammlung vertreten sind – ein Beitrag von Elina
Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig Experten hinter den Kulissen kunsthistorische und kunsttechnologische Knorpp, die auch an der Auswahl der Quellentexte aktiv beteiligt war.

6 7
DER RUSSISCHE
KUBOFUTURISMUS
Jean-Claude Marcadé

Der russische Kubofuturismus – und das macht ihn so originell –


kombiniert einerseits die plastischen und ikonografischen Prinzipien
des Kubismus (Neukonstruktion des Bildraumes durch die Zerlegung
des dargestellten Objekts, Geometrisierung der figürlichen Elemente)
mit denen des Futurismus (Darstellung von Bewegung, urbane und
Industriethematik) und verbindet diese andererseits auf der formalen wie
thematischen Ebene mit einem neoprimitivistischen Ansatz. Der Begriff
„Kubofuturismus“ bezeichnet also eine spezifisch russische Interpreta-
tion von geometrischem Cezannismus, analytischem und synthetischem
Kubismus sowie Futurismus, wie sie im Zeitraum zwischen 1911 und
1915 vorgenommen wurde.
Erstmals tauchte das Wort im Katalog zur letzten Ausstellung des Jugend-
bunds (Sojus molodjoschi) vom Herbst 1913 in St. Petersburg auf, die
den Durchbruch des Kubofuturismus bedeutete. Malewitsch betitelte
dort eine ganze Anzahl seiner Werke folgendermaßen: „1913. Kubofutu-
ristischer Realismus. 67. Schnitterin. 68. Petroleumkocher. 70. Lampe.
71. Samowar. 72. Porträt einer Gutsherrin“; ein Jahr später sollte der
Begriff („réalisme cubo-foutouristique“)1 im Pariser Salon des Indépen-
dants erneut zu lesen sein. Diese letzte Ausstellung der Künstlergruppe
Jugendbund versammelte die herausragenden Vertreter der russischen
linken Kunst: Natan Altman, Wladimir und David Burljuk, Iwan Kljun,
Kasimir Malewitsch, Alexei Morgunow, Michail Matjuschin, Iwan Puni,
Olga Rosanowa, Maria Sinjakowa, Wladimir Tatlin, Pawel Filonow,
Alexandra Exter und Elena Guro. Von Ljubow Popowa, Nadeschda
Udalzowa und Vera Pestel abgesehen, die noch im Pariser Kubistenmilieu
arbeiteten und erst Anfang 1915 zurückkehrten, war damit die russische
kubofuturistische Avantgarde der ersten Stunde komplett vertreten.
Zwischen 1914 und 1916 beherrschte der Kubofuturismus – neben
der 1915 sich herausbildenden radikalen Abstraktion – die Kunstszene
Russlands und präsentierte sich in einer Reihe denkwürdiger Ausstel-
lungen: 1914 und 1916 im Salon der Moskauer Künstlervereinigung
Karo Bube, 1915 auf der Ersten futuristischen Gemäldeausstellung
„Tramwai W“ und 1916 auf der Letzten futuristischen Gemäldeaus-
stellung „0,10“ – beide vom Ehepaar Puni in Petrograd organisiert –
sowie in noch zwei weiteren Moskauer Kunstsalons mit den Titeln Das
Jahr 1915 und Magasin, wobei letzterer auf eine Initiative von Wladimir
Tatlin zurückging.
Eine Besonderheit der Russischen Avantgarde besteht darin, dass sie
zwischen 1913 und 1915 einen direkten Einfluss durch den Pariser
analytischen und synthetischen Kubismus erlebte. Gleichwohl kommt
er ebenso wie der italienische Futurismus in den Jahren 1911 bis 1915
in der russischen Kunst kaum in Reinform vor. So sind einige Gemälde
Ostern bei Futuristen. Petrograder von Larionow, Gontscharowa, Kulbin, Baranoff-Rossiné und Malewitsch
Futuristen im Atelier von Nikolai Kulbin unmittelbar und maßgeblich geprägt vom Prinzip der vervielfältigten
(von links, 1. Reihe: Nikolai Kulbin,
Olga Rosanowa, Artur Lurje, Wladimir Bewegung, für das ab 1912 auf beinah schon mythologische Weise
Kamenski, stehend: Iwan Puni und Ballas berühmtes Bild Bewegungsrhythmus eines Hundes an der Leine
Wladimir Majakowski – Letzterer hält ein (Albright-Knox Art Gallery, Buffalo-New York) steht. Als Malewitsch in
von Kulbin gemaltes Porträt des Malers
Georgij Jakulow). Foto aus der Zeitschrift den 1920er-Jahren ein ähnliches Gemälde von Balla – Mädchen, über
Sini schurnal, Nr. 12, März 1915. den Balkon laufend (1912, Civita Galleria d’Arte Moderna Milano) – vor 18 Natan Altman, Frauenkopf, 1913, Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig

22
Mitglieder der Hylæa-Gruppe Alexei Krutschonych, Welimir Chlebnikow,
(v. l.n. r.: Alexei Krutschonych, David Das Wort als solches, Buchumschlag mit
Burljuk, Wladimir Majakowski, Nikolai Zeichnung von Kasimir Malewitsch, 1913
Burljuk, Benedikt Liwschiz, 1913)

EI NE O HR FE IG E DA S W O R T S , 1 9 1 3
DE M Ö FF EN TL IC HE N G ES CH M AC K, 1912
Den Lesenden unser Neues Erstes Unerwartetes. A LS S O LC H E
Am 18. Dezember 1912 erschien in Nur wir sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit röhrt durch Die Hylæa-Gruppe war eine der wichtigs- Über künstlerische Werke
Moskau der Almanach Eine Ohrfeige dem uns in der Wortkunst. ten futuristischen Gruppierungen, deren
öffentlichen Geschmack mit dem gleich- Mitglieder sich „Zukünftler“ (buduscht-
namigen Manifest, welches von futuristi- Das Vergangene ist zu eng. Die Akademie und Puschkin sind unver- schniki oder budetljane) nannten. Sie 1) damit geschrieben und gesehen werde in einem Augenblick!
schen Dichtern und Mitgliedern der ständlicher als Hieroglyphen. strebten ein neues literarisches System an, (Sang Plantsch Tanz, das Schleifen ungeschlachter Bauten, Vergessen,
Gruppe Hylæa unterzeichnet wurde. Im Runter mit Puschkin, Dostojewski, Tolstoi und ihresgleichen vom bei dem das Wort „befreit“ ist. Der Klang Erlernen.
Manifest wurde der Bruch mit der gängigen des Wortes und seine Form hatte für sie
literarischen Tradition und den bestehen- Dampfer der Gegenwart. mehr Bedeutung als der Inhalt. Dabei W. Chlebnikow, A. Krutschonych, E. Guro; in der Malerei W. Burljuk und
den ästhetischen Normen erklärt. Wer seine erste Liebe nicht vergisst, erfährt nicht seine letzte. versuchten sie, Eigenschaften aus der O. Rosanowa).
Wer wird denn vertrauensselig seine letzte Liebe der unzüchtigen bildenden Kunst wie etwa „Flächigkeit“, 2) damit stramm geschrieben und stramm gelesen werde, unbequemer
„Faktur“ etc. auf das Wort zu übertragen.
Parfümerie eines Balmont zuwenden? Finden sich in ihr die Reflexe Zu diesem Zweck nutzten sie sprachliche als geschmierte
der mannhaften Seele des heutigen Tags? Mittel wie Lautmalerei und Wortneu- Stiefel oder ein Lastwagen im Salon
Wer wird feige davor zurückschrecken, den papiernen Panzer vom schöpfungen, verwendeten das Archaische (Vielzahl von Knoten Verknüpfungen und Schlingen und Flicken schrun-
neben dem alltäglichen Wortschatz und
schwarzen Frack des Kriegers Brjussow zu reißen? Oder liegen auf missachteten die Regeln der Grammatik, dige Oberfläche, stark aufgeraut. In der Poesie D. Burljuk, W. Majakowski,
ihm die Morgenröten noch ungekannter Schönheiten? Orthografie und Interpunktion. Das führte N. Burljuk und B. Liwschiz, in der Malerei D. Burljuk, K. Malewitsch.)
Spült euch die Hände, die den Drecksschleim der von all diesen letztendlich zur (transrationalen) „Saum“- Was ist wertvoller: Wind oder Stein?
Sprache, eine Erfindung von Alexei
zahllosen Leonid Andrejews geschriebenen Bücher berührt haben. Krutschonych und Welimir Chlebnikow. Beide sind wertvoll ohne Wert! […]
All diese Maxim Gorkis, Kuprins, Bloks, Sollogubs, Remisows, Der vorliegende Text erschien 1913 in
Awertschenkos, Tschornys, Kusmins, Bunins und dergl. mehr – sie Krutschonychs Selbstverlag EUY. Wir sind nämlich der Meinung, dass die Sprache vor allem Sprache sein
geben sich mit einer Datscha am Fluss zufrieden. Solch eine Belohnung soll, und wenn sie schon an irgendetwas erinnert, dann wohl am ehesten
gibt das Schicksal Schneidern. an eine Säge oder an den vergifteten Pfeil eines Wilden
Aus Wolkenkratzerhöhen blicken wir herab auf ihre Nichtigkeit! … aus dem oben Dargelegten wird ersichtlich, dass
Wir befehlen, die Rechte der Dichter zu achten: die Sprachschöpfer vor uns sich viel zu viel in der menschlichen
1) Auf die Vergrößerung des Vokabulars in seinem Umfang durch will- „Seele“ umgetan haben (die Rätsel des Geistes, der Leidenschaften
kürliche und abgeleitete Wörter (Wort-Neuerung). und Gefühle), aber schlecht darüber im Bild waren, dass die Seele von
2) Auf den unüberwindlichen Hass gegen die Sprache, die vor ihnen Barden geschaffen wird, und da wir, die Barden Zukunftianer, mehr über
bestanden hat. das Wort nachgedacht haben als über die von unseren Vorgängern zer-
3) Mit Entsetzen Euch von der stolzen Stirn den Kranz des Groschen- schlissene „Psyche“, ist sie in Einsamkeit verstorben, und jetzt steht es in
ruhms, gemacht aus Badereisig, zu reißen. unserer Macht, eine beliebige neue zu schaffen … ob wir das wollen?
4) Zu stehen. Auf der Scholle des Wortes „wir“ inmitten eines Meers von …!Nein!…
Gepfeife und Unmut. mögen sie lieber vom Wort als solchem leben und nicht aus sich selbst.
Und wenn einstweilen auch in unseren Zeilen noch die dreckigen Male so werden (ohne Zynismus) viele Schicksalsfragen der Väter entschie-
Eures „Gesunden Menschenverstands“ und „guten Geschmacks“ den, denen ich denn auch das folgende Gedicht widme:
zurückgeblieben sind, so schillert in ihnen doch erstmals bereits das
Morgenglühen der Neuen Künftigen Schönheit des Selbstwertigen möglichst rasch Schluss machen
1 Alexei Krutschonych verwendet hier (selbsthaften) Worts. mit dem unwürdigen Vaudeville
sein Pseudonym Alexander, später unter-
schrieb er mit seinem eigentlichen Namen. o gewiss
D[avid] Burljuk, Alexander Krutschonych1, W. Majakowski, Viktor Chlebnikow2 damit erstaunt man keinen
2 Chlebnikow dagegen benutzt hier
seinen richtigen Namen Viktor, obwohl er das Leben ein dummer Scherz und ein Märchen
sich meist Welimir nannte (vgl. S. 33). Moskau 1912. Dezember. haben die Alten behauptet …

32 33
O N O LG A R O S A N O WA , 1913–1916
B R IE F E V
1912 lernte Olga Rosanowa den futuris- Brief an Anna Rosanowa (9. Dezember 1913)
tischen Dichter Alexei Krutschonych „[…] Ich habe gemeinsam mit Alexei Krutschonych Bücher koloriert, die
kennen, der großen Einfluss auf ihr
Schaffen ausüben sollte. Krutschonych sich sehr gut verkaufen. Wir werden also viel damit verdienen […]“
widmete sein 1913 erschienenes Buch
Wsropschtschem (Seien wir ungehalten) Brief an Alexei Krutschonych (Sommer 1915)
Rosanowa – „der ersten Künstlerin von
Petrograd“. Rosanowa gestaltete für und „Ich kann jetzt nur entweder vollkommen realistische oder gegenstands-
mit Krutschonych futuristische Bücher, lose Arbeiten in der Malerei machen, ein Mittelding halte ich nicht für
wie etwa Das Wort als solches, Ein Enten- möglich, weil es meiner Ansicht nach zwischen diesen beiden Künsten
nestlein … schmutziger Wörter, Explodiert,
Krieg, Der Universale Krieg und viele keine Bindeglieder gibt, es gibt da keine Konkurrenz und nichts Gemein-
mehr. Obwohl sie schon in ihrer Jugend sames, genauso wenig wie zwischen dem Schuster und dem Schneider-
Poesie verfasste, ist es sicherlich dem handwerk usw., ja sie sind sogar noch weiter voneinander entfernt. Ich
Einfluss Krutschonychs zu verdanken, dass
Rosanowa begann, futuristische Gedichte bekenne jetzt, dass Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit (in
zu schreiben. Der Briefwechsel zeugt von der Malerei) nicht zwei unterschiedliche Richtungen in der einen Kunst
einer engen schöpferischen und privaten sind, sondern zwei verschiedene Künste – ich halte es sogar für das ein-
Bindung der beiden Künstler.
zig Vernünftige, das Farbenmaterial für die gegenstandslose Malerei
durch die Leinwand zu ersetzen! Keinerlei Verbindung!“

Brief an Alexei Krutschonych (1916)


„Auf Deine Bitte hin habe ich den eingeschriebenen Brief mit den Zeich-
nungen für die Gedichte an Schemschurin geschickt. Die Zeichnungen
habe ich mit farbiger Tusche gemacht. Wie gefallen sie Dir? Du hast sie
doch sicher schon bekommen? Diese Gedichte und die Idee der sich
drehenden Buchstaben in transrationalen (saumnye) Gedichten gefallen
mir wahnsinnig gut, wie ich Dir schon geschrieben habe. Ich geriet ganz
außer mir vor Vergnügen, als ich sie lesebetrachtete.“

Titelblatt und zwei Seiten aus dem Inhalt Übersetzung des Vorworts: Übersetzung der Titel:
mit dem Vorwort, den Titeln der zwölf
Collagen von Olga Rosanowa und den Diese Klebebilder sind wie die Saum- Der Universale Krieg findet 1985 statt
zwölf Saum-Gedichten von Alexei Sprache entstanden durch die Befreiung Blatt 1: Kampf des Zukünftlers mit dem
Krutschonych aus dem Mappenwerk des Werks von entbehrlichen Bequemlich- Ozean
Der Universale Krieg (1916). Nachfolgend keiten (Leidenschaftliche Gegenstands- Blatt 2: Kampf des Mars mit dem Skorpion
die Übersetzung des Vorwortes sowie losigkeit). Die Saum-Malerei übernimmt die Blatt 3: Explosion eines Koffers
der Titel der einzelnen Blätter. Die dazu- Vorherrschaft. O. Rosanowa gab ihr [schon] Blatt 4: Kampf mit dem Äquator
gehörigen Saum-Gedichte werden hier früher Gestalt, was jetzt von ein paar Künst- Blatt 5: Verrat
nicht wiedergegeben. lern weitergeführt wird, unter anderem von Blatt 6: Zerstörung der Gärten
K. Malewitsch, Puni etc., die ihr einen wenig Blatt 7: Kampf zwischen Indien und Europa
aussagekräftigen Namen, Suprematismus, Blatt 8: Schwere Waffe
gegeben haben. Blatt 9: Deutschland im Übermut
Doch ich freue mich über den Sieg der Blatt 10: Deutschland in Asche
Malerei als solchen, den Ewiggestrigen Blatt 11: Bitte um den Sieg
und der Journaille der Italiener zum Trotz. Blatt 12: Militärstaat
Die Saum-Sprache (deren erster Vertreter
ich bin) reicht der Saum-Malerei die Hand.

A. Krutschonych 29 Olga Rosanowa, zwölf Blätter aus dem Album Der Universale Krieg, 1916, Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig

38
28 Alexandra Exter, Synthetische Darstellung von Dieppe, 1912–13, Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig
Konstruktion ist, die wie eine Pyramide wirkt. Diese Form ohne Sinn und somit per se wertlos. Die Suche
architektonische Form beherrscht die Gesamtheit nach Gehalt lässt sich ab 1912 bei Kandinsky
der involvierten Kräfte; sie veranlasst den Blick zu und Mondrian, bei Kupka, Malewitsch oder auch
ruhiger, sondierender Betrachtung der streng aus- Rosanowa beobachten – und eben auch bei
gewogenen, wie eine Bach’sche Fuge vollkommen Alexandra Exter, für die der Kubismus zwar ein
symmetrisch gegliederten Stadtlandschaft. Aus die- Stimulus war, der sie unmittelbar zu abstrakten
ser besonnenen Strenge spricht Alexandra Exters Formen und Strukturen anregte, nicht aber ein
Vorliebe für eine solide Konstruktion, eine Vorliebe, Werkzeug, um einzig und allein die Form analytisch
die bei den späteren Theaterdekors von großer zu befragen – was leicht in einer künstlichen Übung
Bedeutung sein sollte und sie zu einer der bemer- im Formalisieren hätte enden können. 1912 war eine
kenswertesten Bühnenbildnerinnen machte, und so heikle Zeit im Entwicklungsprozess der abstrakten
verwundert es nicht, dass sie in den 1920er-Jahren Formen, schienen diese doch ständig von der
ihren „konstruktivistischen“ Schülern riet, Nicolas „Sterilität“ des rein Dekorativen bedroht, und es ist
Poussin zu studieren. das Verdienst des futuristischen Wirbelsturms, eine
Der für das Gleichgewicht der Komposition bedroh- neue thematische Dynamik eingeführt zu haben.
lichen Bewegtheit der einzelnen Elemente setzte sie Es war dieser kraftvolle Beschleuniger der Form, der
ausgleichend die äußerst strenge kompositorische Futurismus, der eine schöpferische Störung des
Struktur entgegen; gleiches gilt für die Mehrzahl Gleichgewichts bewirkte, die später als „die konstruk-
jener Künstler, die einer – künftigen – abstrakten tive Motivation“ bezeichnet werden sollte. In Exters
Kunst entgegengingen. Tugendhold unterstreicht Vorliebe für schräg angelegte und „treppenartige“
diesen Aspekt bei Exter, indem er ihren kubistischen Bildgliederungen, die in der synthetischen Vision von
Konstruktionen „abstrakte Strenge“ bescheinigt Dieppe bereits deutlich werden, sind zwei Prinzipien
und von der „Logik“ ihrer formalen/stilistischen zu erkennen, die für die nächsten 20 Jahre ihren
Entwicklung spricht. bevorzugten malerischen Ansatz bildeten.
Das Bestreben nach kompositorischer Ausgewogen- Die futuristischen Proklamationen revolutionierten
heit ist in der Synthetischen Darstellung von Dieppe ab 1912 die moderne Plastik. Exter, die einen Groß-
derart stark ausgeprägt, dass das Bild in die Nähe teil des Jahres in Paris – nach Apollinaire der „Leucht-
des Dekorativen rückt; deutlich zeigt sich dies in den turm“ der plastischen Kunst – arbeitete, war mit der
Partituren aus Dreiecken, die, von der großen Mittel- futuristischen Ästhetik der französischen Künstler
pyramide ausgehend, einander antworten wie Motive bestens vertraut, nicht zuletzt deshalb, weil sie am
eines orientalischen Teppichs. Diesen „wohlüberleg- Montparnasse im Milieu um Apollinaires Zeitschrift
ten“ Umgang mit kompositorischen Strukturelemen- Soirées de Paris verkehrte. Und auch in Russland
ten hatte Exter schon zuvor in ihren kreisförmig geriet sie dank ihrer zahlreichen Kontakte in den
angelegten Stadtlandschaften14 entwickelt und sollte Kreis der Futuristen, dessen Zentrum damals David
ihn fortan noch weiter bei der Verwendung von Burljuk, einer ihrer Freunde, war.
Rhomben und Achtecken ausarbeiten,15 wie sie zur Zu den Pariser Avantgardekünstlern, bei denen sie
gleichen Zeit auch in den postkubistischen Land- ein- und ausging, gehörte unter anderem Fernand
schaften von Mondrian auftauchten. Exters Arbeit an Léger, aber vor allem Robert Delaunay, dessen Arbeit
einer scheinbar dekorativen, in Wahrheit jedoch sie aus nächster Nähe verfolgte und mit dem sie wohl
hochgradig „konstruierten“ Formalisierung ist ein auch ein kurze Liaison verband.16 1912 war das Jahr,
Indiz für ihr Bestreben, den mimetischen Kunstbegriff in dem Delaunay schlagartig berühmt wurde, und das
zu überwinden und zur Abstraktion zu gelangen. Jahr, in dem seine so überaus fruchtbare Verbindung
Wenn es also den Anschein hat, als unterwerfe Exter mit Apollinaire begann. In Paris hatte er eine Einzel-
sich in ihrer Stadtvision ganz der Logik des Ornamen- ausstellung in der Galerie Barbazanges, doch sein
talen, so bedeutet ihre Suche nach formalisierten Ruhm reichte weit über die Grenzen Frankreichs hin-
Strukturen in Wirklichkeit eine Abkehr von naturalisti- aus bis nach Deutschland und Russland. In München
schen Prinzipien – ganz so, wie es auch bei Matisse beteiligte er sich an den Aktivitäten des Blauen
in einigen seiner großen Kompositionen aus dieser Reiters (für dessen Mitglieder er eine Referenz, wenn
Zeit (Der Tanz, Die Musik) oder in František Kupkas nicht ein nachahmenswertes Vorbild war); in Berlin
Fuge in zwei Farben von 1912 zu beobachten ist. In bereitete er die für Februar 1913 geplante Ausstel-
diesen Werken arbeitet die musikalische Inspiration lung seiner Arbeiten in Herwarth Waldens Galerie
dem entgegen, was seinerzeit die „Bequemlichkeit“ Der Sturm vor. Innerhalb seines Werks war dies die
oder sogar der „Bankrott“ des Dekorativen genannt Phase, in der die Stadtansichten von Laon und die
wurde. Denn in den Augen der Künstler, die nach Türme sowie die extrem dynamischen Visionen des
einer neuen formalen, abstrakten Sprache suchten, damals vieldiskutierten, vom Abriss bedrohten Eiffel-
war eine Form ohne Gehalt zwangsläufig auch eine turms entstanden. 32 Alexandra Exter, Komposition (Genua), um 1912–14, Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig

52
NATALJA
GONTSCHAROWA
Orangenverkäuferin, 1916
Isabel Wünsche

Das künstlerische Werk von Natalja Gontscharowa tete gar eine „spanische Würde“ in ihren Darstellun-
ist vom Kontrast zwischen westlicher Kultur und gen der ukrainischen Juden.5
östlichen Einflüssen geprägt; 1913 schrieb die Zwischen 1911 und 1914 arbeitete Gontscharowa
Künstlerin: „Ich habe alles, was mir der Westen geben gemeinsam mit Michail Larionow im rayonistischen
konnte, gelernt […] jetzt schüttle ich den Staub von Stil. Doch während Larionows rayonistische Werke
meinen Füßen ab und verlasse den Westen, […] seine theoretische Auseinandersetzung mit den Mit-
mein Weg verläuft zur Quelle aller Kunst, dem teln der Malerei reflektieren,6 stehen Gontscharowas
Osten.“1 Gontscharowa, die aus einer angesehenen Bilder mit ihrer Bejahung von Energie und Geschwin-
Adelsfamilie stammte, wuchs auf den Familiengütern digkeit und ihren leuchtenden Farben den Auffassun-
in den Provinzen Orlow und Tula auf und besuchte gen der italienischen Futuristen näher.7 In diese kurze
das Gymnasium in Moskau, bevor sie zwischen 1901 rayonistische Schaffensperiode gehört auch ihr
und 1909 Bildhauerei am Moskauer Institut für Porträt Michail Larionow (Abb. 46). Gontscharowa
Malerei, Bildhauerei und Architektur studierte.2 malte das Bild im Sommer 1913 und zeigte es erst-
Gemeinsam mit Michail Larionow, mit dem sie seit mals in der Ausstellung Nr. 4 (Futuristen, Rayonisten,
1900 verbunden war, den Brüdern Burljuk und Primitivisten) im Frühjahr 1914 in Moskau.8 Bei
Kasimir Malewitsch gehörte sie zwischen 1908 und Michel Fokine, der Gontscharowa und Larionow im
1913 zu den Vertretern des Neoprimitivismus.3 Herbst 1913 zusammen mit Sergei Diaghilew in
Aus dieser Schaffensperiode stammt das Stillleben ihrem Atelier besuchte, hinterließ das Bild einen
mit Tigerfell (1908, Abb. 45), in dem Gontscharowa tiefen Eindruck. Er erinnerte sich: „Da war ein Porträt –
eine Vielzahl visueller, künstlerischer Traditionen zu- das Gesicht von fast einem Meter Durchmesser, und
sammenführt. Sie kontrastiert die westliche Kunst in ich glaube, es hatte nur ein Auge.“9 Das Bild ist eine
Form eines monochromatischen Sarkophagreliefs der wenigen rayonistischen Porträtdarstellungen; die
der klassischen Antike mit der östlichen Kunst in fast abstrakte Komposition trägt dennoch deutlich
Form der Darstellung eines japanischen Kabukis Larionows Züge. Sein Gesicht ist auf die Augen-
mit einem kämpfenden Samrai. Das Tigerfell vor brauen, ein Auge, auf Nase und Mund sowie die dar-
dem roten Hintergrund symbolisiert die elementare über verlaufenden Falten reduziert, zugleich betonen
Kraft und künstlerische Vitalität, die Gontscharowa die ihn umgebenden und einander überlagernden
aus ihrer Rückbesinnung auf die heimische Volks- farbigen Strahlen die dynamische Ausstrahlung sei-
kunst, die Ikonenmalerei und die östlichen Kultur- ner Persönlichkeit. Das Bild könnte die rayonistische
traditionen zog. Umsetzung eines Selbstporträts von Larionow 10 sein;
Ihr Bild Die jüdische Familie (1912, Museum Ludwig, es ist aber auch als Doppelporträt von Larionow und
Köln/Sammlung Ludwig) ist eine von mehreren Gontscharowa interpretiert worden.11
Darstellungen des Lebens der Juden in der Provinz. Das Bild Orangenverkäuferin (Abb. 44) entstand,
Zwei dieser Bilder zeigte sie im Frühjahr 1913 in der nachdem Gontscharowa und Larionow den Sommer
Ausstellung Die Zielscheibe.4 Mit ihrer flächigen 1916 mit Diaghilew und seiner Balletttruppe in
Malerei, reduzierten Farbigkeit und Formvereinfach- San Sebastian verbracht hatten. Gontscharowa, die
ung erfasst Gontscharowa die typische Kleidung und sich Zeit ihres Lebens stark von anderen Kulturen
traditionelle Lebensweise der Juden in der ukraini- inspirieren ließ, war tief beeindruckt von dem Land
schen Provinz, die sich gravierend von den bunten und seiner Kultur; die farbenfrohe spanische Volks-
Farben und ornamentalen Mustern der ihr vertrauten kunst übte eine große Anziehungskraft auf sie aus
russischen Volkskunst unterschied. Die Figuren- und wurde zur unmittelbaren Inspirationsquelle für
gruppe strahlt monumentale Ruhe und Feierlichkeit eine ganze Serie von Werken in den späten 1910er-
aus, die stark mit der Fröhlichkeit und Unbekümmert- und 1920er-Jahren.12 In San Sebastian begann
heit ihrer Darstellungen des russischen Bauernlebens Gontscharowa spanische Frauen in unterschied-
kontrastiert; ein zeitgenössischer Kritiker beobach- lichen Formaten und Farbzusammenstellungen zu 44 Natalja Gontscharowa, Orangenverkäuferin, 1916, Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig

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ALEXANDER
BOGOMASOW
Stadtansicht, 1913/14
Andréi Nakov

Die Geschichte der modernen Kunst – und des Futu- Quelle ist bei Bogomasow ebenso stark ausgeprägt
rismus im Besonderen – hat dem Werk Alexander und deutlich erkennbar wie bei Kandinsky.
Bogomasows bisher kaum Beachtung geschenkt. Bogomasows Auffassung von der Farbe deckt sich
Dabei gibt es, abgesehen von Michail Larionow und mit den Forderungen der Symbolisten: Wie bei
Olga Rosanowa, mit deren bedeutendsten futuristi- Gauguin und dessen Nachfolgern, den Nabis, ist sie
schen Arbeiten die Werke Bogomasows keinen frei von jeglichem Zwang zur „Objektivität“. Als subli-
Vergleich zu scheuen brauchen, im Prinzip keinen mierter Ausdruck von Erlebtem dient die Farbe aus-
anderen russischen Künstler1, den die Bezeichnung schließlich dem expressiven Wollen des Künstlers,
„Futurist“ in ihrem ursprünglichen, italienischen und sie folgt ausschließlich dem Verlauf der bis zum
rein malerischen Sinne treffender beschreibt als ihn. äußersten gesteigerten Subjektivität seiner Empfin-
Das Zusammenspiel der Reinheit seiner ‚energeti- dungen. Aus der Behandlung der Farbe als auto-
schen Inspiration’ und der intensiven rhythmischen nomes Element resultieren überaus schöpferische
Lyrik seiner Formen, die neoterischen Geschossen Kompositionen, die bar jeder illustrativen Bezug-
gleich in einen von extremen vektoriellen Kräften nahme sind; seine futuristischen Bilder sind voller
gebildeten Raum geschleudert werden, erzeugt eine Licht und vibrieren vor Energie.
Explosivität, durch welche die „herumwirbelnden In Kiew konnte Bogomasow unbeeinflusst von
Formen“, so der Maler selbst, „jeglicher statischen Picasso arbeiten, dem kubistischen Übervater, der
Masse und Erzählung eine Absage erteilen“. Das als kulturelles und schöpferisches (Pariser) Vorbild
Ergebnis ist eine sich in extremer Bewegung befind- die Moskauer Neuererszene zwischen 1912 und
liche Malerei, die das traditionelle formale malerische 1914 extrem stark beeinflusste. Bogomasows
Konzept der „endgültigen“ Form, der geschlossenen, formaler Reifungsprozess erinnert hingegen eher an
aus einem bestimmtem Blickwinkel heraus gemalten die Münchner Expressionisten und mehr noch an die
und deshalb erstarrten Form, sprengt. Entwicklung in Italien, bei der sich ein allmählicher
Die vektoriellen Formen in den futuristischen Kom- Übergang von einem lyrischen Symbolismus (spät-
positionen Bogomasows sind offene, in stetigem romantischen Pointillismus) hin zu der vektoriellen
Wandel begriffene Strukturen. Die Dynamik des Dynamik des elektrisierenden Futurismus vollzog.
Lichts in seiner Stadtansicht ist so gewaltig, dass es Diesen Prozess durchlief Bogomasow abseits der
die feste Materie zerstäubt und die Form buchstäb- Hauptentwicklungslinien des Kubismus, obwohl
lich zertrümmert. Zählt man Bogomasows technische dieser in Kiew mit Alexandra Exters Werk und päd-
Meisterschaft in der linearen Zeichnung, die jeden agogischem Wirken durchaus prominent vertreten
Partikel in Vibration zu versetzen vermag, sowie sein war; mit Exter, die sowohl im Pariser Kubistenmilieu
Gespür für Farbe, das von großer lyrischer Sensibili- als auch in den Kreisen der italienischen und der
tät zeugt, hinzu, wird deutlich, dass wir es mit einem russischen (St. Petersburger und Moskauer) Avant-
bedeutenden futuristischen Maler zu tun haben. garde verkehrte, stand Bogomasow in den 1910er-
Gerade diese Lebhaftigkeit ist es, die sich in jeder Jahren in regem Austausch. Eine weitere elementare
einzelnen von Bogomasow zwischen 1913 und 1916 Inspirationsquelle, ohne die sich Bogomasows künst-
gezeichneten Linie ausdrückt und in der sich die lerische Entwicklung nicht wirklich verstehen lässt,
Intensität der Bewegung an jedem Teilchen des ist Wassily Kandinsky, dem er sehr große Bedeutung
grafischen Gewebes mit einer solchen Eindring- beimaß und mit dessen Werk er auf dem „Internatio-
lichkeit Bahn bricht, dass man zu Recht an die nalen Salon“ in Berührung kam, den der Bildhauer
energetische – quasi animistische – Auffassung Wladimir Isdebski Ende 1909 in Odessa organisiert
erinnert wird, die Kandinskys expressionistischer hatte und der im März 1910 auch nach Kiew kam.
Vision zugrunde lag, in der die Linie als Resultat Ab 1912 erarbeitet sich Bogomasow eine malerische
der Bewegung eines Punktes im Raum betrachtet Ästhetik, die einerseits den emphatischen expressio-
wurde. Die Manifestation dieser energetischen nistischen Forderungen Kandinskys entspricht und 50 Alexander Bogomasow, Stadtansicht, 1913/14, Museum Ludwig, Köln/Sammlung Ludwig

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