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KULTURGESCHICHTE
Herausgegeben von
H E R B E R T G R U N D M A N N und F R I T Z WAGNER
For personal use only.
1969
BÜHLAU V E R L A G K Ö L N W I E N
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Druck der
Münster/Westfalen
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Gedruckt mit Uoterstützung
Aschendorfbchen Buchdruckerei
der Deutschen Forschungsgemeixuchalt
Inhalt
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D a s Z e u g n i s des Baeda
' Venerabiiis Baedae opera historica, ed. Ch. P l u m m e r (2 Bde., Text und
Kommentar, Oxford 1896, Neudr. 1946); fortan zitiert: Baeda.
2 Besonders I S. 298—303.
' Eigene Lebensskizze ebda. S. 357—360; dazu: C.F. B r o w n e , The venerable
1 Ardiiv für Kulturgeschidite i l / 2
184 Franz Flaskamp
' Baeda 1 S. 357: uel ex traditione maiorum uel ex mea ipse cognitione
scire potui.
« Lebensdaten s. P l u m m e r s Baeda-Ausgabe U, S. 316—329; auch u.
Anm. 24.
' Wobei sich allerdings nicht ausmachen läßt, was im einzelnen auf mündliche
Information, was auf dessen Vita Wilfridi zurückgeht.
S. u. Anm. 89.
" Baeda I S. 357: uel ex Utteris antiquorum.
" Besonders Gregorii L papae registrum epistolarum, ed. L. M. H a r t m a n n :
MG. Epp. I/II, 1899; dazu A.W. H a d d a n und W . S t u b b s , Councils and
ecclesiastical documents relating to Great Britain and Ireland, Bd. 3: English
diurdi during the Anglo-Saxon period, 595—1066 (Oxford 1871).
" Venantius Fortunatus, Carmina I X 1, v. 75f., ed. Fr. L e o : MG. Auct.
ant. IV 1 (1881) S. 203: Terror [es] extremis Fresonibus atque Suebis, qui neque
bella parant, sed tua frena rogant.
Immunität König Pippins von Verberie 23. Mai 753, ed. E. M ü h l b a c h e r :
MG. DD. Karol. I (1906) S. 8 nr. 5: eo quod antecessores nostri vel parentes
Clotharius quondam rex [wohl Chlothar IL, 613—29] et Theodebertus quondam
[sc. rex; wohl Theudebert IL, 595—612] per eorum auctoritates eorum manu
subscriptas de villis ecclesiae sancti Martini... integra immunitate concessissent.
186 Franz Flaskamp
tricht an der Sdielde missioniert, sogar ein Kloster am Elno (St. Amand)
gegründet", etwas später Bischof Eligius von Noyon an der W a a l " .
Im ganizen mochte das eine lodcere, oberflächlidie, der einheitlichen
Leitung bare, des Ausgleichs und der Vertiefung harrende Einwirkung
sein, der Erfolg ebenso viel aus politischen Rücksichten wie aus Einsicht
und freiem Entschlüsse sich ergeben haben. Umso leichter ist dieses frühe
fränkische Christentum in Friesland wieder zusammengebrochen, als die
Franken in der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts die Provinz Friesland nicht
zu behaupten vörmochten. Dabei wurden auch die christlichen Kirdien
und Kapellen zerstört, nicht nur die Martinskirche zu Utrecht*'. Aber
dieser markant gewesene fränkisch-christliche Außenposten, das vorge-
schobene Bollwerk, demonstrierte den folgenden Geschlechtern die ein-
stige Macht. Dieser Verlust wurde deiher als ein so schmerzhaftes Trauma
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" Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l S. 235: Et
[sc. Coloniensis episcopus] refert, quod ab antiquo rege Francorum Dagobercto
castellum "Traiectum cum destructa aecclesia ad Colon[i]ensem parrodiiam
[ = episcopatum] donatum in ea conditione fuisset, ut episcopus Colon[i]ensis
gentem Fresorum ad fidem Christi converteret et eorum predicator esset. Quod
et ipse non fecit; vgl. Fr. W . O e d i g e r , Die Regesten der Erzbisdiöfe von
Köln im Mittelalter I (1961) S. 21.
" Wodurdi zunächst die Frieslandabsiditen des Bonifatius gestört und 777
der Ansdiluß Frieslands zur Kölner Kirchenprovinz bewirkt wurde; vgl. W.
F e i s t e r , Stand und Herkunft der Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz im
Mittelalter (1909) S. 43—64, auch RR. P o s t , Gesdiiedenis der Utrechtsdie
bissdiopsverkiezingen tot 1535 (Utredit 1933).
" Vita s. Amandi, ed. Br. K r u s c h : MG. SS. rer. Merov, V (1910) S. 395—
485, dazu W. L e v i s o n : ebd. VII (1920) S. 846f.; A. H a u c k , KG. Deutsdi-
lands I, S. 322—328; H. v. S c h u b e r t , Gesehidite der diristlidien Kirdie im
Frühmittelalter (1921) S. 295; H. C l a e y s , Sint Amand, apostel van Viaande-
ren (Thielt 1913); E. d e M o r e a u , Saint Amand, apötre de la Belgique et du
nord de la France (Louvain 1927).
" Vita s. Eligii, ed. Br. K r u s c h : MG. SS. rer. Merov. IV (1902) S. 634—
761, besonders S. 696. 700, dazu W. L e v i s o n : ebd. VII (1920) S. 842 ff.;
H a u c k S. 328 f.; S c h u b e r t S. 295; P. P a r s y , Saint £loi (Paris n908;
£. M o r e 1, fitude critique sur la vie de s. filoi (ebd. 1930).
" Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l S. 235:
propter fundamenta cuiusdam destructae a paganis ecclesiolae, quam Uuilbror-
dus derutam usque ad solum in castello "Traiecto repperit.
S. u. Anm. 108 f.
Die frühe Friesen- und Sadbsenmission 187
zurüdk, hatte Bisdiof Wilfrith von York 678/79 die Möglichkeit er-
kannt und sich bereits erfolgreich bemüht, Ecgberht der Heilige das
Begonnene fortsetzen wollen, aber wegen Mißgeschicks dies nicht ver-
mocht, Wicgberht dann wirklich versucht, doch vergebens, Wilbrord in-
dessen in einem langjährigen Wirken zu einem trefflichen Gelingen
führen dürfen. So ist im Urteil Baedas Wilfrith der Pionier des
Christentums in Friesland gewesen, Wilbrord dessen Vollender ge-
worden". Über Wilbrords missionarische Anfänge und frühe Fortschritte
sind offenbar, wenn auch nicht erschöpfende, so doch leidliche Nach-
richten zum Kloster Wearmouth-Jarrow gelangt. Nach Wilfriths Lebens-
ende (709) mag das Einvernehmen sich gelockert haben und mit der Zeit
mehr imd mehr zusammengeschrumpft sein, wie Baedas Bericht spüren
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" So hat er selber sich genannt im Gedicht für den ehemaligen Kloster-
schüler Dud, nur der Akrostidionspielerei wegen als „Vynfreth" geschrieben;
ed. E. D ü m m l e r : MG. Poetae lat. I (1881) S. 16 f. Vynfreth priscorum
Duddo congesserat artem, viribus ille iugis iuvavit in arte magistrum.
Wilbalds Vita s. Bonifatii, ed. W. L e v i s o n : SS. rer. Germ., (1905)
S. 15 ff.
Baeda I, S. 326: quod postmodum Uilbrord, reuerentissimus Christi
pontifex, in magna deuotione conpleuit, ipse [sc. Uilfridus] primus ibi opus
euangelicutn coepit; so aber sdion Aeddi-Stephanus, Vita Wilfridi, ed. W.
L e v i s o n : MG. SS. rer. Merov. VI (1913) S. 220: quod adhuc superaedi-
ficat filius eins [sc. Wilfridi], in Hripis nutritus, gratia Dei Wilbrordus epi-
scopus, multo labore desudans, cuius merces manet in eternum. Allerdings auch
Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan II., ed. T a n g l S. 236: pagana
permansit gens Fresorum, usque quod venerandus pontifex Romanae sedis
Sergius supradictum servum Dei Uuilbrordum episcopum ad predicandum
supradictae genti transmisit, qui illam gentem, ut prefatus sum, ad fidem
Christi convertit, was auf die Zwisdbenzeit (vom Zusammenbrudi des alt-
fränkischen Christentums in Friesland bis zum Kommen Wilbrords) zu be-
ziehen ist, allerdings auch durdi die eigenen Frieslandabsiditen des Bonifatius
gefärbt wird. Zur Person vgl. W. L e v i s o n , Die Quellen zur Geschichte des
hl. Willibrord, in: Willibrordus (Echternadier Festschrift, hg. v. N. Goetzinger,
1940) S. 5—65; d e r s . , St. Willibrord and his place in history: Durham Uni-
versity Journal 32 (1940) S. 23—41, beide auch in: Aus rhein. u. fränk. Frühzeit
(1948) S. 304—329; G.H. V e r b i s t , Saint Willibrord, apotre des Pays-Bas et
fondateur d'Editernach (Louvain 1939).
188 Franz Flaskamp
Das friesische Interesse Baedas ergab sich ungesucht aus dem Augen-
merk für die heimisch-angelsädisisdie Kirchengeschichte. Die Brücke
bildete die Romreise Bischof Wilfriths von York, unternommen zu dem
Zwecke, seine Schwierigkeiten mit dem König Ecgfrith von Northumbrien
(671—685) und dem Erzbischof Theodor von Canterbury (669—690)
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liche Erfolge beschieden, vorab doch wohl, weil sich an Überreste der
früheren fränkischen Mission anknüpfen ließ. Solche Möglichkeiten haben
sich im Laufe der christlichen Missionsgeschichte audb anderswo ergeben
Baeda berichtet summarisch®'. Mehr als ein Beobachten und Fühlung-
nehmen dürfte es in der Tat nidit gewesen sein, immerhin so viel, daß
Wilfrith eine christliche Missionsarbeit im nun nicht mehr fränkisch
bevormundeten Friesland als aussiditsvoll erachten konnte. Ob Aldgisel
einem solchen Vorhaben nicht sogar zugesprochen hätte, wenn es seiner
Landeshoheit förderlich gewesen wäre? Die Könige halten immer zu den
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Göttern, die ihrer Herrschaft günstig sind. Wenn sich mit dem von
Northumbrien ausgestrahlten Christentum audi angelsächsische politische
Verbindungen zwecks Abwehr der fränkischen Eroberungsgelüste hätten
gewinnen lassen?
Was dann zunächst auf Wilfriths Reise folgte, mag Baeda ebenso er-
fahren haben wie A e d d i - S t e p h a n u s w a r ihm aber vielleicht im Hin-
blick auf seinen angelsächsischen Behuf nicht sonderlich erwähnenswert.
Wilfrith berührte nämlich auch die Pfalz König Dagoberts II. (676—679)
und führte sich so trefflich ein, daß man ihn den heimischen Verdrieß-
lichkeiten entheben und mit dem alamannischen Bistum Straßburg ver-
sorgen wollte. Das wäre dann allerdings eine Verpflichtung für fränkische
Kirchenpolitik gewesen und hätte später zu einer Mitwirkung an einer
neuen fränkischen Reichsmission auf friesischem Boden werden können.
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Schwertes" ähnelte, nadi und nach zu überwinden. Aber nur, weil die
fränkisdie Hoheit vorerst durch zweieinhalb Jahrzehnte verblieb.
Das Jahr von Wilbrords Ausreise (690) ist durch dessen eigenhändigen
Vermerk^^ im Editernadier Kalender^® verbürgt: In nomine Domini Cle-
mens Uuillibrordus anno sexcentesimo nonagesimo ab incarnatione
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Christi ueniebat ultra mare in Francia. Baeda erzählt von dem Aufbrudi
in voller Apostelzahl Aber nur wenige der Mitarbeiter hat er nament-
lich vermerkt": Suidberht«, Tilmon«, die beiden Eadwalde^^. Sie um-
fuhren den Süden der britischen Insel imd landeten an den Rhein-
mündungen, vielleicht in Duurstede*'. Alsdann bemühte sich Wilbrord
zunächst um eine Begegnung mit dem fränkischen Majordom. Ob ihr
Kommen durch Wilfrith vorbereitet, mit dem Majordom vereinbart war,
ob sie erst durch seine oder andere Geleitbriefe empfohlen wurden? Sie
konnten natürlich nicht als volle Fremdlinge und wie unbekannte Aben-
teurer sich einfinden. Auf jeden Fall: sie waren dem Majordom als
kirchliche Helfer in seiner Frieslandpolitik willkommen und wurden
bereitwillig in deren Dienst gestellt'". So der Huld des Majordoms
versichert, soll Wilbrord dann noch über die Alpen gezogen und in Rom
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" Wie die Translatio s. Liborii, ed. G.H. Pertz: MG. SS. IV, (1841) S. 151,
die Sachsenmission Karls d. Gr. kennzeichnet: Quem [sc. Karolum regem] arbitror
nostrum iure apostolum; quibus [sc. Saxonibus], ut ianuam fidei aperiret,
ferrea quodammodo lingtia praedicavit.
« So auA von W. L e v i s o n (MG. SS. rer. Merov. VII, S. 92) nadi dem
„quamuis indignus" des weiteren Textes gefolgert, da nidit ein Fremder so
hätte schreiben dürfen.
« H. A. W i I s o n , The calendar of St. Willibrord (London 1918) Tafel 11.
« Baeda I, S. 298 f.
" Auch der durch Alkuin, Versus de sanctis Euboricensis ecclesiae, v. 1073,
ed. E. D ü m m l e r : MG. Poetae lat. I (1881) S. 191 neben Suidberht genannte
Vira sacerdos mag zu dieser Gemeinschaft gehört haben, doch gesagt ist das nicht.
« Baeda I, S. 302.
" Ebd. S. 301.
" Ebd. S. 299 ff.
Vita s. Willibrordi, S. 120: donec prospero cursu ad ostia Hreni fluminis
vela deposuit; in Thiofrieds Vita s. Willibrord!, ed. A. P o n c e 1 e t , AA. SS.
November III (1910) S. 463, ist ohne ersichtlichen Grund an Gravelingen ge-
dadit. In Duurstede ist 716 Wynfreth gelandet; vgl. Wilbalds Vita s. Bonifatii,
ed. L e v i s o n : SS. rer. Germ., S. 16; zur Lage s. J. H. H o 1 w e r d a , Dorestad:
Bericht der Römisch-German. Kommission des Deutschen Archäolog. Instituts 16
(1927) S. 141—163.
" Solche damals ebenso üblich wie angebracht; Beispiel der Geleitbrief Bischof
Daniels von Winchester (718) für den ausreisenden Wynfreth (ed. T a n g l ,
S. 15 f.), päpstliche Geleitbriefe (722) für den heimkehrenden Bischof Bonifatius
(ebd. S. 29—34).
»« Baeda I, S. 299; audi Vita s. Willibrordi, S. 120 f.; zur Form vgl.
Muntbrief Karl Martells (723) für Bonifatius, ed. T a n g l , S. 36ff., audi in
Wilbalds Vita s. Bonifatii, ed. L e v i s o n , S. 21 f., erwähnt.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 193
erbeten sowie erhalten haben. Dies wird allerdings allein durdi Baeda
bezeugt und mutet sdion darum etwas eigenartig an, weil es ein Sdiritt
gewesen wäre, der dem Herkommen nidit entsprodien hätte; denn weder
Wilfrith nodi Ecgberht nodi Wicgberht waren um eine päpstlidie Sen-
dung besorgt gewesen, ebensowenig madite sich nodi Wynfreth gelegent-
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Baeda I, S. 301 f., aber nidit in Alkuins Vita s. Willibrordi; zur eventuel-
len Form vgl. Sendung des Wynfreth-Bonifatius (719), ed. T a n g l , S. 17 f.,
audi Vita s. Bonifatii, S. 21 f.
Wohl 718 bei seiner neuen Ausfahrt, im Hinblick auf die erstrebte Konkur-
renz Wilbrords; aber in Rom damals noch als so ungewöhnlidi empfunden, wie der
eigene Vermerk im Liber pontificalis c. 91 (Vita Gregorii), ed. L. D u c h e s n e ,
2. Bd. (Paris 1892) S. 397, verrät: Hic in Germania per Bonifacium episcopum
verbum salutis praedicavit et gentem illam sedentem in tenebris doctrina lucis
convertit ad Christum, et maximam partem gentis eiusdem sancti baptismatis
lavit unda.
s» S. o. Anm. 15 f. " S. o. Anm. 42.
« S. u. Anm. 65. " Baeda I, S. 303.
" Analogon des Wynfreth-Bonifatius s. o. Anm. 51.
" Über den rein praktischen Sinn, den römischen Kanzleibehuf, s. u. Anm. 76 f.
S. o. Anm. 23.
194 Franz Flaskamp
Wilbrord sei nädist der Verständigung mit Pippin auch nadi Rom gegangen,
bestimmt haben könnte
Durdi das Wohlwollen des Majordoms, also die Rüdcendedsung der
fränkischen Madit, begünstigt, eröffnete Wilbrord in Friesland ein erfolg-
reiches Wirken*'. Die neue politische Lage ließ eine Fühlung mit den
fremden Glaubensboten nicht mehr als fragwürdig erscheinen, nidit mehr
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Sendung nadi Rom war gewiß bewußt und gewollt. Man darf vermuten,
daß der Majordom sidi in Friesland freie Hand gegenüber den älteren
Kölner Diözesanrediten und zu befürditenden neuen Kölner Ansprüdien
sichern, aber audi die langsame Ablösimg der northumbrisdien Mission
von ihrem Ausgangsland und deren Angliederung zur fränkischen Reidis-
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nidit zu belasten, im festlosen Felde zwischen dem 20. und 21. November be-
gonnen und so lediglich bis zum 22. November herabgeführt.
Die Umnennung Wilbrord-CIemens erfolgte allein zu praktischem Behuf der
Römischen Kirche", nicht, wie man später hinsichtlich der Umnennung „Wyn-
freth-Bonifatius" vermutet hat, im Sinne einer Auszeichnung". Man hat sich
daher auch in Rom die Namensuche nicht schwer gemacht: W y n f r e t h wurde nach
dem Tagesheiligen seiner wohl am 14. Mai (719) und in der Titelkirche des
altrömischen Märtyrers Bonifatius ausgesprochenen Sendung, benannt, Wilbrord
nach dem männlichen Heiligen vom Folgetage der am Caecilienfest (695) voll-
zogenen Weihe. Über die Wirkung läßt sich nur halb und halb befinden.
Wynfreth-Bonifatius hat, das erweist sein verbliebener mengenhafter Brief-
wechsel, fortan gegenüber vertrauten Landsleuten sich des Namendoppels be-
dient, im übrigen aber nur den „angenommenen" Namen verwertet. W i e aber
Wilbrord verfahren ist? Die Zeugnisse sind zu gering an Zahl und zu wenig
besagend, als daß ein bündiges Urteil anginge. Als „Wilbrord-CIemens'' hat
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" Worauf Zehntdiplom König Pippins, von Verberie 23. Mai 753, ed. E.
M ü h I b a c h e r : MG. DD. Karol. I (1906) S. 6 f. nr. 4, verweist: ad illo
episcopatu, ut omnem decimam de terra seu de mancipia aut de theloneo vel
de negotio aut undecumque ad partihus fisci census sperare videbatur.
^ Baeda I, S. 303: Donauit autem ei Pippinus locum cathedrae episcopalis
in castello suo inlustri, quod antiquo gentium illarum uerbo Uiltaburg, id est
oppidum Uiltorum, lingua autem Gallica [sc. Latina] Traiectum uocatur; in
quo aedificata ecclesia, reuerentissimus pontifex lange lateque uerbum fidei
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praedicans...; audi Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed.
T a n g l S. 235: et sedem episcopalem et aecclesiam in honore sancti Salvatoris
constituens in loco et castello, quod dicitur Traiectum; et in illa sede et in
aecclesia sancti Salvatoris, quam construxit, predicans usque ad debilem senectu-
tem permansit; ebenso Altfrieds Vita s. Liudgeri, S. 21: Liudgerus igitur in
ordine vicis suae nocturnis temporibus post psalmodiam et orationes speciales ...
in solario aecclesiae sancti Salvatoris, quam sanctus Willibrordus construxerat,
membra quieti dare solebat-, dafür auch Schenkung Karl Martells vom 9. Juli
726, ed. S. M u 11 e r , Het oudste cartularium van het stidit Utrecht (s'Graven-
hage 1892) S. 6 nr. 2 (vgl. B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg. imp. ^I, S. 16 nr.
38, auch M u 11 e r , Regesten van het archief der bissdioppen van Utredit I
(1917) S. 1 nr. 2): ad basilicam, quae est constructa in honore Salvatoris, domini
nostri Jesu Christi.
" Schenkung Karl Martells vom 1. Januar 722, ed. M u l l e r , Het oudste
cartularium, S. 3 nr. 1 (vgl. B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg. imp. 'I, S. 14 nr.
34, audi M ü l l e r , Regesten, S. 1 nr. 1): ad monasterium, quod est infra
muros Traiecto Castro situm constructum, ubi apostolicus vir, dom\i\nus et in
Christo pater noster Uuillibrordus ardiiepiscopus sub sanctae conversationis
caenobitali ordine custos preesse videtur.
Sdiüler dortselbst wohl die Brüder Willibradit und Thiadbradit (Vita s.
Liudgeri, S. 10), deren Neffe Liudger (ebd. S. 13 f.) nadi seinem eigenen Zeugnis
(Vita Gregorii abbatis Traiectensis, S. 66): sermo iste de dom[i]no Gregorio,
abbate et praeceptore meo ab infantia; auch ebd. S. 78: beatus abbas mens et
praeceptor Gregorius.
" Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l S. 235:
et eam [sc. ecclesiolam' derutam] proprio labore a fundamento construxit et
in honore sancti Martini consecravit.
" Baeda I, S. 303: plures per illas regiones ecclesias... construxit; audi
Bonifatius, ed. T a n g l S. 235: fana et dilubra destruxit et aecciesias con-
struxit.
" Ebd. S. 152: Denique reuerentissimus antistes Acca [seit 709 Bisdiof
von Hexham] solet referre, quia, cum Romam uadens apud sanctissimum Fre-
sonum gentis ardiiepiscopum Uuilbrordum cum suo antistite Uilfrido moraretur.
198 Franz Flaskamp
Eoba, beide am 5. Juni 754 bei Dokkum ermordet'"', übernahm Gregor neben
seiner bisherigen Verwendung audi die Treuhändersdiaft für das friesische
Missionswerk somit ingleichen die fundierte Martinskirdie, der neue, aus
Northumbrien stammende Chorbischof Aluberht wieder die Erlöserbasilika"".
Nach Gregors Tode (774) folgte in dessen Stellungen der fränkisdie Neffe
Alberich'"', und dieser wurde nach auch wohl Aluberhts Tode 777 Diözesan-
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strittenen Ausländers unbedingt gelten lassen und den Widerspruch des Bischofs
Hildegar von K ö l n ' " bündig verworfen; er habe den westsächsischen Bonifatius-
'»3 Ebd. S. 49f.; Eigils Vita s. Sturmi, ed. G . H . P e r t z : MG. SS. II (1829)
S. 372; s. u. Anm. 159£f. " . . .
Liudgers Vita Gregorii c. 10, S. 74 f.: Sed et hoc silentio minime tegendum
est, ... quia post martyrium sancti magistri [sc. Bonifatii] . . . ipse quoque
beatus Gregorius a Stephane, apostolicae sedis praesule, et ab illustri et religioso
rege Pippino suscepit auctoritatem seminandi verbum Dei in Fresonia.
w Ebd. S. 75: simul cum chorepiscopo et adiutore suo Aluberhto, qui de
Britannia et gente Anglorum veniebat; seine Bischofsweihe 767 in York ist durch
Northumbrisdie Jahrbücher, hg. von R. P a u l i , Forschungen z. dt. Gesch. 12
(1872) S. 151 bezeugt, auch Altfrieds Vita s. Liudgeri I 10, S. 15 f.; Aluberht
ist aber offenbar niÄt der früheste Chorbischof Gregors gewesen, es sei denn,
dieser habe sich solange der Hilfe anderer Bischöfe, besonders des kölnischen,
bedient.
" " Ebd. c. 15, S. 79: de tardatione electi filii eins Albrici; Altfrieds Vita
s. Liudgeri I 15, S. 19: Sed et abbas Gregorius migravit ad Dominum, et suscepit
curam pastoralem Albricus, nepos eius.
Vita s. Liudgeri I 17, S. 31; dazu F r . W . O e d i g e r , Regesten d. Erz-
bischöfe v. Köln I, S. 34 nr. 79.
Bezeugt durch Diplom König Karls von Nimwegen 8. Juni 777 für die
Martinskirche, ed. M ü h l b a c h e r : MG. DD. Karol. I, S. 164 nr. 117: ad
basilicam sancti Martini, quae est constructa Traiecto Veteri subtus Dorestato
ubi venerabilis vir Albricus presbiter atque electus rector preesse videtur.
" " Liudgers Vita Gregorii c. 15, S. 79: oratorium sancti Salvatoris.
" " Begann mit S. M u l l e r , Die S. Salvatorskirche in Utrecht, Westdeutsche
Zeitschr. 16 (1897) S. 256—292, und endete mit N. B. T e n h a e f f , Dom en oud-
munster te Utrecht, Bijdragen voor vaderlandsche geschiedenis en oudheidkunde,
5. Reihe 2 (1915) S. 333—364.
Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l , S. 235:
Nunc autem Colon[i]ensis episcopus illam sedem prefati episcopi Clementis
a Sergio papa ordinati sibi usurpat et ad se pertinere dicit.
2 Ardiiv für Kulturgescfaidite 51/2
200 Franz Flaskamp
sdiüler Lul zum Bisdiof von Mainz ernannt und den so verfügbar gewordenen
bisherigen Mainzer Bisdiof Bonifatius zum Bisdiof von Utredit, und das un-
besdiadet der unbestreitbaren alten Kölner Anredite. So töridit aber waren
die Arnulfinger nidit, daß sie Ausländerstimmen Gehör geliehen und heimisdie
Leute ignoriert hätten. Pippin trug vielmehr in Verberie auf beiden Sdiultern
und bahnte eine Übergangslösung an mit dem Hinblidc auf sein festes Ziel,
eine kirdilidi-fränkisdie Zukunft Frieslands. Er beurlaubte den Bonifatius aus
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Lul, seit 752 Chorbisdiof (Bonifatiusbriefe, S. 213 nr. 93), wurde erst nadi
dem Tode des Bonifatius Bisdiof von Mainz und erst zwisdien 780 und 782
Erzbisdiof und Metropolit.
Eigils Vita s. Sturmi c. 14, S. 372.
S. o. Anm. 107.
Baeda I, S. 303: reuerentissimus pontifex lange lateque uerbum fidei
praedicans, multosque ab errore reuocans, plures per illas regiones ecclesias,
sed et monasteria nonnulla construxit; nam non multo post alios quoque illis in
regionibus ipse constituit antistites ex eorum numero fratrum, qui uel secum,
uel post se illo ad praedicandum uenerant, ex quibus aliquanti iam dormierunt
in Domino.
Monumenta Epternacensia, ed. L. W e i l a n d : MG. SS. X X I I I (1874)
S. 55 f., dazu O. D o b e n e c k e r , Regesta diplomatica necnon epistolaria
historiae Thuringiae I (1896) S. 3 f. nr. 5, auch C. W a m p a c h , Geschidite der
Grundherrsdiaft Edhternadi im Mittelalter I (1930) S. 113 ff.: der letzte Thürin-
gerherzog Heden (über ihn auch Wilbalds Vita s. Bonifatii c. 6, S. 32 f. sowie
MG. SS. rer. Merov. V S. 711—714) und dessen Gattin Theodrada sdienken
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 201
am 1. Mai 704 auf der Feste Würzburg dem Bisdiof Wilbrord aus ihrem Grund-
besitz bei Arnstadt, Mühlberg und zu Monra, der teilweise 726 (Dobenecker I,
S. 7 nr. 15) dem Kloster Editernadi überlassen wird.
Wilbalds Vita s. Bonifatii c. 6, ed. L e v i s o n S. 33: Torditwine et
Berdithere, Eanberdit et Hunraed; diese allerdings, da zur Gesellsdiaft Wilbrords
gehörend, von Bonifatius als „Irrlehrer" beanstandet.
"8 MG. SS. rer. Merov. VII, 1920, S. 88 f.; A. H a l b e d e l , Fränkisdie Stu-
dien (1915) S. 16ff.; C. W a m p a c h , Grundherrsdiaft Editemadi (2 Bde.
Luxemburg 1930/31).
" ' Monumenta Epternacensia, S. 60, dazu D o b e n e c k e r , Regesta I, S. 6 nr.
7: Thüringerherzog Heden schenkt am 18. April 716 auf der Feste Hammelburg
seinen gesamten dortigen Grundbesitz rechts der Fränkisdien Saale zum Zwecke
einer geplanten Klostergründung an Wilbrord (ubi et cogito Dei misericordia per
ipsius apostolici viri consilium monasterium construere); am 19. März 907 (Do-
benecker I, S. 74 f. nr. 312) Besitztausdi zwischen Editernadi und Fulda.
Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed T a n g l S. 235:
Et sibi corepiscopum ad ministerium implendum substituit; Name nicht bekannt,
muß aber (s.o. Anm. 98) vor der Berufung Dadans (741/42) gestorben sein.
W. L e v i s o n , Willibrordiana, Neues Ardiiv 33 (1908) S. 517—525,
audi: Aus rhein. u. fränk. Frühzeit S. 330—337.
Baeda I, S. 303: Ipse autem Uilbrord cognomento Clemens adhuc superest,
longa iam uenerabilis aetate, utpote tricesimum et sextum in episcopatu habens
annum, et post multiplices militiae caelestis agones ad praemia remunerationis
supernae tota mente suspirans.
Baeda geht dabei von seinem terminus quo „696" (s. o. Anm. 70 f.) aus
und gelangt durch Abzählen der Jahre (696. 97. 98. . . . 729. 30. 31) zu dieser
Summe. Dieses Verfahren war indessen weder typisdi angelsädisisdi noch aus-
schließlich mittelalterlidi; daneben kannte man das Aufrechnen der Jahre,
Monate und Tage.
2»
202 Franz Flaskamp
zu nennen, die sdion ihrer Eigenart und ihrer möglichen Folgen wegen
eigentlidi gar nidit übersehen werden konnten und übergangen werden
durften, nämlidi die erheblidie Störung des friesisdien Missionswerkes
und beinahe Ausweglosigkeit Wilbrords nadi dem Tode Pippins (714)
und während der so veranlaßten Maditkämpfe in Franken'" sowie die
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im Würfelspiel der Politik nidit erfahren, stand vor dem Rätsel, wie man
den untergeordneten Suidberht habe preisgeben, den verantwortlidien
Missionsobern Wilbrord habe sdionen können. Er vermutet, behauptet
geradezu, alles sei ohne Zutun Wilbrords gesdiehen, ohne sein Wissen
und seine Beteiligung, sei also eine — man darf sagen — unverantwort-
lidie Eigenmäditigkeit der ihm unterstellten Leute gewesen, habe sidi
eben bei längerem Fernsein Wilbrords abgespielt. Als soldie längere
Abwesenheit betraditet er die angeblidie Romreise Wilbrords aus Anlaß
der 690 eingeholten päpstlidien Sendung"'. So hat er die Wahl und
Weihe Suidberhts auf 690 datiert. Das alles kann nidit zutreffen; denn
eine derartige Eigenmäditigkeit ist den abhängigen Leuten nidit im
mindesten zuzutrauen; überdies bestand damals, wo die friesisdie Arbeit
erst beginnen sollte, keinerlei Anlaß zu einer Bisdiofswahl und Bisdiofs-
weihe. Nodi mehr: Wilfrith von York hätte gewiß keinen Anwärter ge-
weiht, der ohne die üblidien Empfehlungsbriefe"", hier seines Ver-
trauensmannes Wilbrord, gekommen wäre. Es kann darum nidit zweifel-
haft sein, daß Wilbrord ebenso beteiligt gewesen war wie die anderen,
im Grunde mehr verantwortlidi als diese. Wenn aber nun der geweihte
Suidberht das Ägernis darstellte, er als ein „Unmöglidi" politisdi
128 durdi Baeda hier bezeugt; über die gefählsdite Vita s. Swiberti des
Pseudo-Marcellinus (hg. von N. S u r i u s , De probatis sanctorum historiis III,
1618, S. 3—16) vgl. W. D i e k a m p , Histor. Jahrbudi 2 (1881) S. 272—287,
über den Fälsdier Theoderidi Pauli von Gorkum vgl. Jan R o m e i n , Gesdiiede-
nis van de Noord-Nederlandsdie gesdiiedsdirijving in de middeleeuwen (Haar-
lem 1932) S. 219fF. "» S. o. Anm. 51. S. o. Anm. 49.
204 Franz Flaskamp
beantstandet wurde, ließ sidi kaum ein anderer Ausweg finden als sein
Sdieiden vom friesisdien Missionsfelde. Oder sollte man das ganze
friesische Unternehmen preisgeben?
Das kirdienreditlidie Problem: Suidberht war durch einen einzelnen
»md einfachen Bisdiof geweiht, während nadi altkirdilidier Ordnung nur
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ein Erzbischof sollte weihen dürfen und audi er nur unter Assistenz
(Zeugenschaft) zweier sdion geweihten Bischöfe"'. Baeda kannte zwar
einen Praecedenzfall: im Jahre 627 hatte Bischof Paulinus von York,
gleichfalls als einfacher Bischof und einzeln, in Lincoln den neugewählten
Metropoliten Honorius von Canterbury konsekriert, was besonders in-
korrekt gewesen und dadurch nicht korrekt geworden war, daß Papst
Honorius I. (625—38) nadi einigen Jahren (634) beiden, dem Weihe-
bischof ebenso wie dem Geweihten, das Pallium verliehen hatte"'. Das
weiß auch Baeda. Daher beruft er sich nicht auf diesen Praecedenzfall,
um Wilfriths Alleingang verständlich zu machen, zu entschuldigen. Er
bedient sich einer anderen Erklärung: der neuberufene angelsächsische
Metropolit Berchtwald von Canterbury sei seiner Weihe wegen zum
Erzbischof Gottfried von Lyon unterwegs gewesen und nicht rechtzeitig
For personal use only.
reditlidien Mängeln seiner Weihe, sondern von seiner Wahl und Weihe
überhaupt. Der selbstbewußte fränkisdie Majordom interessierte sidbi
kaum für Formen und Formeln des römisdien Kirdienredits, um so mehr
aber für die Weiten und Engen, Möglichkeiten und Grenzen, Fäden und
Masdien des staatlidi-fränkisdien. Er mußte die ohne sein Einvernehmen
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erfolgte Wahl imd Weihe Suidberhts als eine gar nidit zu billigende
Eigenmächtigkeit der im Geltungsbereidi des fränkischen Staatskirdien-
redits tätigen Northumbrier erachten, als einen dem fränkischen Staats-
kirchenrecht widerstrebenden Versuch, ohne Genehmigung der zustän-
digen und verantwortlichen Landeshoheit ein friesisches Missionsbistimi
zu gestalten, oder sogar, ganz böse gedeutet, als ein Listenspiel, in dem
man kirchlicherseits vollendete Tatsachen geschaffen hatte und alsdaim
der Landeshoheit zumuten wollte, nolens-volens durch Bewilligung von
Regalien das Geschehene gutzuheißen und dabei noch ein Praejudiz für
die fernere kirchliche Entwicklung Frieslands in Kauf zu nehmen. Zwar
war das kaum so gemeint gewesen und hinsichtlich derartiger Konse-
quenzen überlegt worden. Vielmehr hatten die northumbrischen Mis-
sionare wohl nur dem Bedarf der Stunde genügen und lediglich einen
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zupassen und demnädist ihr voll zu assimilieren sei. E r hat daher die
W a h l und W e i h e Suidberhts nicht anerkannt, f ü r Friesland nicht gelten
lassen. Baeda meldet nidit, was und wie man d a n n innerhalb der frie-
sischen Missionsgesellschaft beraten, was und wie m a n mit dem M a j o r -
dom verhandelt habe. E r beriditet nur von dem Ausgang und weiteren
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sich vielmehr deren Botschaft gefallen und eröffneten ihrem kühnen Ver-
such günstige Aussichten. Doch fehlte dieser verlockenden Neulandkultur
die erwünschte und benötigte Dauer. Ein Überfall aus dem nördlichen
sächsischen K e m l a n d machte alles zunichte. Die Missionare mußten flüch-
ten und sahen ihr Mühen als gescheitert an. Sie hatten also schon in
einem recht befristeten W a g n i s erkannt, was Wynfreth-Bonifatius zwei
Menschenalter später als E r f a h r u n g eines langjährigen Wirkens aus-
sprach: daß n u r unter dem Schutze fränkischer Macht christliche Mis-
sionsarbeit möglich sei
I n solcher Verlegenheit erbat der kleine Suidberhtkreis Pippins N a d i -
sicht und erlangte auch — wie Baeda versichert: wesentlich dank der
Fürsprache von des Majordoms Gattin Plektrud — auf einer Uferinsel
(Werth) des Rheines eine Bleibe I n einem dort gebauten kleinen
Kloster d u r f t e n sie ihr ferneres Dasein fristen. Suidberht selber hat in
S. o. Anm. 127.
0 . B r e m e r , Ethnographie der germanisdien Stämme III (^1900) S. 903f.;
L. S c h m i d t , Gesdi. der deutsdien Stämme II (1919) S. 416—421; dazu u.
Anm. 147.
"» An Bisdiof Daniel von Windiester, ed. T a n g l S. 130: Sine patrocinio
principis Francorum nec populum aecclesiae regere nec presbiteros vel clericos,
monamos vel ancillas Dei defendere possum, nec ipsos paganorum ritus et
sacrilegia idolorum in Germania sine illius mandato et timore prohibere valeo.
Baeda I, S. 302: in insula quadam Hreni, quae lingua eorum vocatur ,in
litore'. Die Senke des einstigen Rheinarmes, der die Insel vom Festlande ab-
schloß, ist in den Wiesen nördlidi der heutigen Stadt Kaiserswerth verblieben.
Die frühe Friesen- und Sachsenmission 207
nadi sich bekaimt; man trug seinen Namen, zum 1. März, dem Kalender
der sonderlidi verehrten Heiligen ein'^. Später feierte der Wilbrord-
biograph Alkuin audi Suidberht als erlauchten Glaubensboten Northum-
briens'". Suidberhts Gründung aber hat, als späteres „Stift Kaiserswerth",
nach der benachbarten Pfalz so bezeichnet, die Jahrhunderte über-
dauert"'.
Im Echternaclier Kalender sind aber auch, zum 4. Oktober, die beiden
Eadwalde vermerkt"" und so gleichfalls als vordem Angehörige des
Wilbrordkreises in Friesland. Von ihnen hat Baeda allerdings noch viel
weniger erfahren als von den Suidberhtleuten. Was er von den Ead-
walden sagt, ihrem Wege und ihrem Mißgeschick'", liegt bereits zwi-
schen Geschichte, Sage und frommer Legende. Von ihnen war offenbar
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über den Rhein hinausgeführt"*. In Rom aber hielt man nicht viel von
kühnen Plänen, bevorzugte vielmehr das Beharren in sicherer Arbeit,
lehnte daher diese Frieslandgelüste bündig a b " ' . Auch die fränkischen
Majordome mochten von soldlier Nachfolge Wilbrords nicht hören. Sie
wußten, wie wenig Bonifatius beim fränkischen Episkopat gelitten war,
und taten gewiß gut daran, ihn in seinen bisherigen Aufgaben zu be-
lassen"'. Anderthalb Jahrzehnte später wurde ihm zwar die Betreuung
von Wilbrords Werk als Altershonorar zugestanden. Wo er dann aber
doch auch nodi Initiative entfalten wollte, im Vordringen nach Nord-
friesland sogar recht weit den Bereich fränkisch gewährleisteter Sicherheit
verließ, erfüllte sich sein Schicksal: am 5. Juni 754 verblutete er mit
angeblich 53 Gefährten und Helfern"« bei Dokkum"».
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richtig bestimmt werden. An dieser Stelle hat nun die Kritik an Kellers
Studie einzusetzen; denn die von ihm vertretene Auffassung hält gerade
in entscheidenden Punkten einer sachlichen Überprüfung nicht stand.
Die Abfassung der Vita Haimeradi steht — wie Keller zwar richtig
erkannt hat, ohne daraus jedodii Konsequenzen zu ziehen, — in engem
Zusammenhang mit der Umgestaltung des Hasunger Stifts in ein Klo-
ster. Auf dem Berge Hasungen, am Grabe des Einsiedlers Haimerad,
hatte Erzbischof Siegfried von Mainz 1074 ein Ktinonikerstift errichtet.
Auf den Wunsch der Kanoniker wandelte er dieses 1081 unter be-
ratender Beteiligung des ersten Abtes Lampert von Hersfeld in ein
' Vgl. hierzu die Arbeiten von H. L ö w e : Arbeo von Freising. Eine Studie
zu Religiosität und Bildung im 8. Jahrh., Rhein. Vjbll. 15/16 (1950/51) S. 87—
120; Liudger als Zeitkritiker, HJb 74 (1955) S. 79—91; Gesdiichtsdireibung der
ausgehenden Karolingerzeit, D A 23 (1967) S. 1—30; ferner: M. S c h w a r z ,
Heiligsprechungen im 12. Jahrh. und die Beweggründe ihrer Urheber, AKG 39
(1957) S. 43—62; A. B o r s t , Die Sebaldslegenden in der mittelalterlichen
Geschichte Nürnbergs, Jb. f. fränk. Landesforschg. 26 (1966) S. 19—178;
A. N i t s c h k e , Tiere und Heilige. BeobaAtungen zum Ursprung und Wandel
menschlichen Verhaltens, in: Dauer und Wandel der Geschichte, Festsehr. K. von
Raumer ( = Neue Münstersche Beiträge zur Gesdiiditsforsdig. 9, 1966) S. 62—100.
» Ekkebert, Vita sancti Haimeradi, ed. R. K o e p k e , MG. SS. 10 (1852)
S. 595—607; vgl. O. H o 1 d e r - E g g e r , N A 19 (1894) S. 563—574; W a t -
t e n b a c h - H o l t z m a n n (Neuausgabe, besorgt von F.-J. S c h m a l e , 1967)
I, 471 f. Um einen richtigen Text zu erhalten, muß man an vielen Stellen die
in die Fußnoten verwiesenen Lesarten der Ausgabe O v e r h a m s (0) ein-
setzen (vgl. H o l d e r - E g g e r , S . 181 Anm. 1).
' H. K e l l e r , „Adelsheiliger" und Pauper Christi in Ekkeberts Vita sancti
Haimeradi, in: Adel und Kirche, Festschr. G. T e l l e n b a c h (1968) S. 307—324.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 211
referente patre meo, quae se olim audisse commemorat ab eiusdem servi Dei
ministro, partim ipsis auctoribus, quorum adhuc superstes fovebatur hospicio,
humanitate et obsequio. — Als Gewährsleute nennt Ekkebert ferner die Kle-
riker von Warburg (c. 15, S. 603,34), den miles Roding und dessen Begleiter
(c. 32, S. 606,45) und zwei Brüder des Klosters Hasungen (c. 38, S. 607).
E. A u s f e 1 d , Lampert von Hersfeld und der Zehntstreit zwischen Mainz,
Hersfeld und Thüringen (Diss. Marburg 1879); F. P h i l i p p i , Zehnten und
Zehntstreitigkeiten, MIÖG 33 (1912) S. 393—431, bes. 407 £f.; E. H ö l k ,
Zehnten und Zehntkämpfe der Reichsabtei Hersfeld im frühen Mittelalter
(Marburger Studien zur älteren deutschen Gesdiicite 11,4, 1933); vgl. auch
H o l d e r - E g g e r , N A 19 (1894) S. 185ff.; G. M e y e r von K n o n a u , Jahr-
bücher 11 (1894) S. 658 ff. Über Hersfelds Stellung im Zehntstreit und seine
Beurteilung durch Lampert jetzt zusammenfassend S t r u v e , Hess. Jb. 19.
" S t r u v e , Hess. Jb. 19.
" Ann. 1072, S. 139.
" S t e n g e l , Lampert von Hersfeld der erste Abt von Hasungen (wie
Anm. 4) S. 257 u. Anm. 100; vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 19.
" H e i n e m e y e r , Urkundenfälschungen, S. 255f. — Gegen H e i n e -
m e y e r , S. 260 f. ist jedoch zu betonen, daß der Archetyp der Hasunger
Gründungsurkunde (XA) wegen des Gebrauchs der für Udalrich von Cluny
charakteristischen legitimum-sempiternum-YoTmA nicht schon 1081, sondern
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 213
kunde stammt auch die Vorstellung, die Ekkebert in der Vita (c. 39) als
„fromme Meinung des Volkes" bezeichnete, daß nämlich die Apostel
Petrus und Paulus als „Gehilfen" Heimerads bei dessen Heilungswun-
dern fungierten, da ihnen die Hasunger Kirche geweiht sei und die
göttliche Kraft ihres Verdienstes wegen solche Wunder zeige". Auch
der folgende Gedanke: man müsse jene um so eifriger verehren, die
schon mit Gott im Himmel regieren — nämlich die Heiligen, da ihre
Hilfe um so näher sein werde, je größer die Verehrung, die man ihnen
entgegengebracht, — ist zumindest der Konstruktion nach der Urkunde
entnommen". Da die benutzte Siegfried-Urkunde nach Heinemeyer''
nicht in den Fälschungsprozeß hineingehört und demnach wohl schon
For personal use only.
1082 entstanden ist, fand sie Ekkebert bei seiner Ankunft in Hasungen
bereits vor. Er lernte sie kennen, als er, auf der Sudie nadh Zeugnissen
über Haimerad, in den Hasunger Fälsdiungsprozeß hineingezogen wurde.
Ekkeberts Beziehung zum Hasunger Urkundenwesen gibt nun auch für
die Datierung der Vita Haimeradi einen Anhaltspunkt: sie kann erst
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Christi tragen, alle Habe verschenken, ganz pauper Christi und peregrinus
sein, durch die Predigt andere zum wahrhaft christlichen Leben führen"
Besonders bemerkenswert erscheinen Keller Haimerads nichtadelige Her-
kunft, seine Pilgerfahrten wie überhaupt sein unstetes Wanderleben, sein
Bekenntnis zur christlichen Armut und seine Verbindung zu häretischen
Kreisen. Ekkebert habe mit der Vita Haimeradi Kritik ,am Mönchtum
seiner Zeit, an der ,Adelskir(he' und an der ihr zugeordneten Vorstel-
lungswelt" üben wollen®'. Diese These kann historischer Kritik jedoch
nur dann standhalten, wenn die von Keller hervorgehobenen Merkmale
tatsächlich einmalig und neu sind, d.h. sich nicht auch in der gleich-
zeitigen Literatur nachweisen lassen.
Haimerads nichtadelige Herkunft ist für einen Heiligen des II. Jahr-
hunderts zwar ungewöhnlich; die Tatsache, daß Ekkebert diesen äußeren
Mangel durch Haimerads Seelenadel auszugleichen suchte beweist
N A 19, S. 572 f.
K e l l e r , S. 307 f. widerspridit sich insofern, als er den Zusammenhang
zwischen Entstehung der Vita und der Neuformung Hasungens zwar erkennt,
andererseits aber ihren Abschluß in die ersten Jahre des Abtes Hartwig
(1072—90) verlegen möchte. Es gibt auch keinen Anhalt für seine Vermutung,
die Kapitel 32—38 der Vita seien erst später nachgetragen worden.
" K e l l e r , S. 310.
" Ebd. S. 308.
V. H. c. 2, S. 599: Hic de Suevia oriundus exstitit de loco qui dicitur
Messankirche, de cuius conditione supervacuum visum est scribere, cum eum
Dominus cottidie illustret virtutum et signorum nobilitate.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 215
Regel Benedikts das kühne Bild, Haimerad sei als Bruder des Kaisers,
nämlidi Christi, den Hersfelder Mönchen an Adel ebenbürtig^'. Da
Haimerad schon Priester war, als er seine Dienstherrin bat, ihm die
Freiheit zu schenken andererseits aber nach kanonischem Recht nur
ein Freier die Priesterweihe empfangen durfte, kann er zumindest kein
Unfreier gewesen sein. Wie an anderer Stelle gesagt wird, war er auch
in den Wissenschaften gebildet^'; ein Merkmal, das in besonderer Weise
den Adelsheiligen auszeichnete. Gleich Haimerad stammte auch Anno
von Köln aus Schwaben^", audi er war nur von „mittlerem Stand".
Lampert gebrauchte zu seiner Charakterisierung die Klimax: nicht weil
ihn seine Herkunft empfahl, sondern allein durch den Rang seiner Weis-
heit und Tugend sei er Kaiser Heinrich III. aufgefallen'". Der standes-
For personal use only.
bewußte Lampert nahm keinen Anstoß daran, daß der von ihm sehr
verehrte Bischof keine hochadeligen Vorfahren aufweisen konnte, und sah
darin keine Minderung seiner Heiligkeit. — Wenn man bedenkt, daß
hier zwei Heilige im lO./ll. Jahrhundert, die abweichend vom Maßstab
ihrer Zeit den unteren bzw. mittleren sozialen Schichten angehörten, aus
Schwaben stammten, und andererseits hört, daß ein bedeutender Teil der
königlichen Ministerialen sich aus Schwaben rekrutierte — ja für Lam-
quent durchgehalten, indem er sich selbst als pauper bezeichnete und alle
frommen Gaben sofort an die Armen austeilte". Bei seinen Zeitgenossen
erregte er damit Bewunderung und zog sich den Ruf der Heiligkeit zu.
Auch Ekkebert beschrieb diese Haltung als vorbildlich; doch ließ er
nirgends durchblicken, daß seine Darstellung etwa als Kritik am Besitz
der Kirche aufzufassen sei. Das Bekenntnis zur christlichen A r m u t "
gehörte vielmehr — wie Lampert bezeugt — zu den Grundsätzen mön-
chischen Lebens", wenn auch infolge der Verweltlichung der Kirche
vielfach dagegen verstoßen wurde. In der Gründungsurkunde f ü r das
Chorherrenstift Ravengiersburg (1074) bekannte sich Erzbischof Siegfried
von Mainz nachdrücklich zur Armut der Urkirche'"; ebenso sprach er in
" Lamp. Ann. 1073, S. 147 f.; vgl. hierzu im zweiten Teil meiner Disser-
tation über Lampert von Hersfeld, der im Hess. Jb. 20 (1970) erscheinen wird:
Die Betrachtung der Gesellschaft vom Adelsstandpunkt.
'2 V. H. c. 2, S. 599. " V. H. c. 4, S. 599 f.
" Lamp. Ann. 1058, S. 73 und 1059, S. 74 f.
" Chron. 1053 (SS. 5) S. 133: Werinharius, frater meus, Augiensis monadius,
admodum doctus et religioni vere deditus iuvenis, cum alio monadio Liuthario,
studio vitae perfectioris flagrans, peregrinationem dam pro
Christo adgreditur, literis tamen remissis licentiam abbatis postulans et im-
petrans.
V. H. c. 5, 6 S. 600; c. 16, S. 603.
" Vgl. M. v. D m i t r e w s k i , Die christliche freiwillige Armut vom Ur-
sprung der Kirche bis zum 12. Jahrh. (Diss. Freiburg 1913).
" Lamp. Ann. 1071, S. 133: eos potissimum homines, qui crucis scandalum
et paup er tatis titulum preferrent et preter simplicem victum et vestitum
nihil rei familiaris habere se mentirentur.
" MUB 341, S. 237: canonicum ordinaremus, in qua fratres Uli communiter
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 217
bei den kirchlichen Autoritäten Anstoß erregte und von seinen Gegnern als
„Heuchler", als „Wahnsinniger und Abtrünniger" geschmäht wurde",
so wurde andererseits doch nie der Vorwurf der Häresie gegen ihn er-
hoben. Ekkebert ließ an keiner Stelle durchblicken, daß Haimerad etwa
als Manichäer — wie man im 11. Jahrhundert jeden Ketzer n a n n t e " —
bezeichnet wurde; er unternahm auch keinen Versuch, ihn vor einem
solchen Verdacht zu schützen. Die Tatsache, daß Haimerad — wie viele
andere — in Jerusalem war, liefert allein noch keinen Beweis für die
von Keller'" vermutete Verbindung zu östlichen Irrlehren. Nichts in der
Vita läßt darauf schließen, daß Haimerad wie in Ketzerkreisen üblich",
die kirchlichen Sakramente und Gebräuche (Taufe, Abendmahl, Beichte,
Kreuzverehrung) abgelehnt oder etwa Handauflegungen vorgenommen
hätte, was immerhin für eine Übernahme häretischen Gedankengutes
For personal use only.
sprechen würde. Also war es auch nicht Häresie, womit Haimerad Anstoß
erregte, sondern vielmehr sein ungebärdiges und wohl auch ungepflegtes
Auftreten außerhalb jeder kirchlichen Disziplin. Die Bischöfe und Äbte
dagegen betrachteten es als ihre Pflicht, die Kirche von solchen die
Kirchenzucht gefährdenden Elementen freizuhalten''. Ebensowenig kann
aber aus der Vita eine Sympathie Ekkeberts mit der Ketzerbewegung
herausgelesen werden, denn gerade die Heiligenverehrung wurde von den
Ketzern abgelehnt". Zudem spielte die Ketzerbewegung in der zweiten
S. 255,5 domna Bertha (V.H. c. 29, S. 606); S. 255,22 Meginfridus (c. 32,
S. 606); S. 256,2 Mathilth (c. 27, S. 606); S. 256,4 Ruothingus, Sigebraht
(c. 32, S. 606 Ruoding, Sigebertus?). Die Identität der genannten Personen ist
möglidi, kann jedoch nicht in jedem Falle mit Sidierheit behauptet werden.
« K e l l e r , S.311f.
" H. G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen im Mittelalter (2. Aufl. 1961)
S. 15.
' ' V . H . c. 3, S. 599: non vera cum niti via ad virtutem, ypocritam
esse ... existimabant; c. 15, S. 603: Cepitque ... beatum virum iniuriare,
eumque delirum et apostatam appellare.
** G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen, S. 476f.; ders., Ketzergeschichte
des Mittelalters, in: Die Kirdie in ihrer Gesdiidite II G (1963) S. 8.
»» K e l l e r , S. 312.
" G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen, S. 479; Ketzergesdiichte, S. 9 ff.
" Bei der Reformierung der schwäbischen Klöster werden die in c. 1 der
Benedikt-Regel verurteilten Sarabaiten und Gyrovagen vertrieben (vgl. Berthold,
Zwifaltensis Chron. c. 9, SS. 10, S. 102): eiectisque ex his monasteriis Gyro-
vagis et Sarabaitis alias ex Cluniacensibus instructos illuc substituerunt mo-
naihos.
" G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen, S. 23.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 219
Hälfte des 11. Jahrhunderts kaum mehr eine Rolle, da jene Kräfte, die
ihr noch in der ersten Jahrhunderthälfte zufielen, zunächst von der kirdi-
lidien Reformbewegung aufgefangen wurden'*. Simonie und Priesterehe
wurden nun als sdilimmste Formen der Ketzerei bekämpft. Ekkebert
propagierte aber auch nicht das Ideal des — Irrlehren verbreitenden —
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Arnold selbst bald darauf (1031) als Opfer einer Hofintrige abgesetzt
wurde, schien seine Schuld offenbar: quod pro iniuria, quam viro Dei
ingesserat, deponi meruissef*. Dennoch entschuldigte Ekkebert — das
ist gegen Keller zu betonen — die Handlung des Abtes, denn jener
konnte Haimerads Lauterkeit ja gar nicJit erkennen, „da die Leuchte
imter dem Scheffel verborgen war und der Glanz der Verdienste des
Gottesmannes noch nicht erstrahlte" Arnold sei deshalb nicht mit dieser
Welt zu verurteilen, sondern werde allein von Gott gerichtet; doch werde
Johannes der Täufer, dem zu Ehren er eine Propstei" gegründet hatte,
sicherlich Fürsprache für ihn einlegen. Auch für den Klosterbrand des
Jahres 1038 machte Ekkebert nicht ausschließlich Arnolds Versagen ver-
antwortlich Damit ist aber erwiesen, daß Ekkebert keine Kritik an den
Hersfelder Zuständen üben wollte.
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regel". Nach seinem Tode (1045) wurde Gunther hier als Heiliger ver-
ehrt, die Eremiten-Gemeinschaft aber in ein Priorat des Klosters Nieder-
altaich umgewandelt. Dort wurde schließlich auch seine Vita für den
liturgischen Gebrauch aufgezeichnet". Die Parallele und zugleich der
Unterschied zur Vita Haimeradi und zur Geschichte Hasimgens dürften
damit deutlich geworden sein. Auf der einen Seite steht Haimerad, der
dem Klosterleben entfloh, um frei, ohne Bindung an eine Regel, ohne
Zwang zur Unterordnung unter irgendeine kirchliche Instanz, nur der
Erfüllung seines Gelübdes zu leben; auf der anderen Seite Gunther, der
sich im Kloster auf sein späteres Eremitenleben vorbereitete und diese
Verbindung zum Kloster niemals abreißen ließ. Während Haimerad
jedoch weitgehend passiv blieb und im Ertragen von Schmähungen und
körperlichen Qualen sein Seelenheil zu erlangen suchte, wirkte Gunther
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aktiv für eine Gemeinschaft bei Rodung und Wegebau, zog als Missionar
zu den heidnischen Liutizen und Tschechen und kam in diplomatischem
Dienst sogar bis an den ungarischen Hof An Haimerads wie an Gunthers
Grabe entstand eine monastische Gemeinschaft, aus der in Hasungen
schließlich ein Kloster hervorging. Zur liturgischen Grundlage der
Heiligenverehrung wurde für Haimerad wie für Gunther eine Vita ver-
faßt. Folgender Stufengang kann demnach für den Weg eines Eremiten
und seiner Verehrung abgeleitet werden: 1. Abschied von Familie und
Heimat, verbunden mit der Aufgabe alles weltlichen Besitzes — 2. Pilger-
fahrt (Rom, Jerusalem) — 3. Einsiedlerleben (nach vorheriger Unter-
weisung in einem Kloster) — 4. Heiligenverehrung nach dem Tode —
5. Entstehung einer monastischen Gemeinschaft am Grabe des Heiligen,
die zur Gründung eines Klosters führen kann — 6. Aufzeichnung einer
Heiligenvita. Es ist sehr wahrscheinlich, daß nach Haimerads Tod (1019)
auch in Hasungen eine religiöse Gemeinschaft von Klerikern und Laien
bestand, bevor ihr Siegfried von Mainz (1047) eine festere Form gab,
indem er hier ein Kanonikerstift einrichtete
G r u n d m a n n , Eremiten, S. 75.
81 MG. DH. III. Nr. 25 (1040 Januar 17) S. 32: fratres regulam s. Benedicti
observantes (G r u n d m a n n , S. 75 Anm. 40).
^ G r u n d m a n n , Eremiten, S. 76f.
8» Ebd. S. 76 f.
Es ist jedoch verfehlt, mit K e l l e r (S. 312 Anm. 34) anzunehmen, Sieg-
fried habe bereits fertige Klostergebäude in Hasungen vorgefunden. Erzbischof
Aribo von Mainz wird 1021 hier zunächst eine Kirche errichtet haben: super
224 Tilman Struve
seits fehlte den Zeitgenossen nadi Ekkeberts Meinung der Glaube, ,wenn
Gott durdi seine Diener in der Gegenwart alte Wunder wiederhole',
so daß soldie Zeugen nidit nur des Trugs beschuldigt, sondern audi be-
leidigt und gesdimäht würden®®. Gleidiisam als Entschuldigung fügte
Ekkebert jedoch hinzu, die Taten der Heiligen könnten deshalb nicht mehr
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offen zutage treten, ,da ihre Lichter nicht auf den Leuchter gestellt
waren', oder wie es an anderer Stelle heißt, ,da das Licht unter dem
Scheffel verborgen war'
Für die Gegenwart bestand daher die Aufgabe, den Unglauben zu
überwinden, — und diesem Zweck sollte die Vita Haimeradi dienen.
Ekkebert sprach dies deutlich aus: der Glaube bildete erst die Voraus-
setzung für die am Grabe Haimerads geschehenen Wunder'". In den
Wundern aber offenbarte sich die göttliche Kraft, indem sie die Heilung
von Seele und Körper bewirkte. J e intensiver nun die Verehrung der
Heiligen geschah, ,desto näher würde man gegenwärtig ihre Wohltat,
künftig aber ihren Beistand genießen, desto leichter und schneller würde
man, wenn nur der Glaube nicht schwanke, die göttliche Barmherzigkeit
erlangen, wenn der Zeitpunkt der Not — d.h. das Jüngste Gericht —
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Lamp. Inst. S. 350; vgl. Ann. 1059, S. 75; hierüber S t r u v e , Hess. Jb. 20
(1970).
" Vgl. hierzu und im folgenden ebd.: Lamperts Religiosität und seine Stel-
lung zur Reformbewegung.
•» V . H . c. 3, S. 599; c. 10, S. 601.
Ann. 1075, S. 242: ad confutandam impudentiam eorum, qui paulo ante
xiitam eins sanctissimam atque ab omni huius mundi labe quantum ad hominem
integerrimam livido dente carpebant et preciosam margaritam, iam olim caelestis
regis diademati destinatam, falsis rumorihus obfuscare conabantur.
Lamp. Ann. 1071, S. 133; Liber de unitate ecclesiae conservanda II, 41
(ed. W. S c h w e n k e n b e c h e r , MG. Lib. de lite 2, 1892) S. 271.
»• Vgl. H a 11 i n g e r , Gorze-Kluny I, S. 657 f.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 227
wandeln, lehnte man alles ab, was über das mensdienmöglidie Maß
h i n a u s g i n g M i t Erbitterung sprach Lampert davon, daß die neuen
Möndie mehr Anklang fänden als das alte benediktinische Mönditum.
Wenn Ekkebert nun Haimerad infolge seiner bewunderungswürdigen
Heiligkeit sdion bei Lebzeiten unter die Engel versetzte"', dann brachte
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rads mit der Übernahme religiöser Ideale aus dem Umkreis Clunys und
Hirsaus. Solche neuartigen Formen der Frömmigkeit konnten jedoch nicht
vor dem Eintreffen der Hirsauer (1081) in Hasungen heimisch geworden
sein; denn vorher wirkte hier der konservativ eingestellte Lampert als
Abt. Die Vermittlung Hirsauischen Gedankenguts wurde erst unter
Lamperts Nachfolger Giselbert möglich; erst zu diesem Zeitpunkt wur-
den auf Siegfrieds Initiative die Hirsauer Gewohnheiten in Hasungen
eingeführt"*. Dem entspricht, daß die bezeichnete Hasunger Urkimde
tatsächlich erst 1082 ausgestellt worden ist. Bei seinem Aufenthalt in
Hasungen kam Ekkebert auch mit den religiösen Vorstellungen der
Hirsauer in Berührung.
Da Ekkebert jedoch die Vita Haimeradi im Auftrage Abt Hartwigs
von Hersfeld schrieb, dürfte er sidi in Fragen der Klosterreform nicht
allzuweit vom offiziellen Hersfelder Standpunkt, wie er von Lampert
und dem Verfasser des ,Liber de unitate ecclesiae' formuliert wurde, ent-
fernt haben. Kellers Versuch"', in der Vita Haimeradi den Beweis für
berts Verehrung für Haimerad und aus den besonderen Hasunger Ver-
hältnissen erklären läßt.
Bei der offiziellen Verehrung Haimerads, die in der Umwandlung des
Hasunger Stifts in ein Kloster imd in der Konzeption einer Vita gipfelte,
mag das Bestreben mitgewirkt haben, den Kult dieses wunderlichen
Mannes, der zu Lebzeiten mehrfach bei den kirchlichen Autoritäten An-
stoß erregt hatte, in Bahnen zu lenken, die von der Kirche gebilligt
werden konnten. Da Haimerad — etwa im Unterschied zum Eremiten
Gunther — das Klosterleben verwarf und keine kirchliche Instanz über
sich anerkannte, mußte die Kirche bestrebt sein, ihn wenigstens nach
seinem Tode in ihren Kult zu integrieren. Ausschlaggebend für seine
Verehrung in Hersfeld und Hasungen war dies Motiv allerdings nicht.
Haimerads einst ungebärdige Wesenszüge waren von der Nachwelt
schon längst in Tugenden eines Heiligen transformiert worden. Von den
einstigen Vorbehalten gegenüber seiner Person und seiner Lebensführung
war keine Spur zurückgeblieben. In Hersfeld genoß Haimerad schon seit
geraumer Zeit den Ruf eines Heiligen; dafür spricht nicht allein Lamperts
Nachricht aus dem Jahre 1072, sondern deutlicher noch Haimerads Auf-
nahme in das Hersfelder Nekrolog"'. Vom gläubigen Volk wurde Hai-
merad als „Vorbild echter spontaner Frömmigkeit" geschätzt und als
Licht ersdieinen, dagegen konnte die Funktion der Vita nicht erhellt
werden. Denn Keller unterließ es, die Vita aus ihrem historischen
Zusammenhang zu erklären; stattdessen trug er eigene Vorstellungen in
sie hinein, für die er vielfach den Beweis schuldig blieb. Sein Verfahren,
das die zeitgesdiichtliche Konstellation wie die gleichzeitigen Quellen
nahezu unberücksichtigt läßt, wirkt da besonders bedenklich, wo er sich
mit seinen Ergebnissen auch im Widerspruch zu der von ihm herangezo-
genen Literatur befindet. Haimerads radikales Bekenntnis zu diristlidier
Armut und Askese ist durchaus in Zusammenhang mit bestimmten reli-
giösen Strömungen seiner Zeit zu sehen; es kann daher nicht als Ankün-
digung der Ketzerbewegungen des 12. Jahrhunderts gedeutet werden. Die
Vita Haimeradi war aber auch nicht als Kritik am bestehenden Mönchtum
und der Kirche angelegt. Sie hatte vielmehr einer ganz anderen Aufgabe
zu dienen. Zunächst verfolgte Ekkebert mit ihr ein inneres Anliegen: er
wollte in einer Zeit der Not, in Erwartung des Weltendes, zur vertieften
Verehrung des Heiligen aufrufen. Wie Lampert in der Vita Lulli ver-
fodit er jedoch, auch hierin seinem Vorbild folgend, zusätzlich ein
aktuelles politisdies Ziel: die Befreiung des Klosters Hasungen aus
drückender innerer und äußerer Not.
Die Vita Haimeradi ist demnach in engstem Zusammenhang mit den
Bestrebungen des Abtes Wigbert nadi dem Abzug der Hirsauer (1085)
zu betrachten. Sie hatte wie die Hasunger Urkundenfälschungen dem
einen Ziel zu dienen, die Existenz des Klosters für die Zukunft zu sichern.
Eremiten, S. 90.
230 Tilman Struve
merads Grab merklich zurückgegangen. Damit waren aber audi die für
die Existenz des Klosters so wichtigen Opfergaben und Schenkungen
ausgeblieben. Die innere, auf religiösen und politischen Differenzen
beruhende Krise hatte eine äußere, wirtschaftlidie Krise nach sidi gezogen.
Gerade in dieser Zeit der wirtschaftlichen Not aber war das Kloster mehr
als zuvor auf die Opfergaben der nadi Hasungen ziehenden Pilger und
auf die Schenkungen frommer Männer und Frauen angewiesen. Nicht
umsonst wurden daher in der Vita"" die Jerusalemfahrer ermahnt,
den hl. Haimerad nicht zu vergessen. Diese sollten, das war die unaus-
gesprochene Absicht der Vita, ihr Gut nicht für die Fahrt ins Heilige
Land ausgeben, sondern zu Ehren des Heiligen dem Kloster Hasungen
übertragen. Damit waren wohl besonders die in der Nachbarschaft an-
sässigen begüterten Kleriker und Laien gemeint. Tatsächlich finden wir
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dienten Abt Ludwig jetzt zur Rechtfertigung der von ihm angestrebten
Elevation und Kanonisation. „Denn niemand entzündet eine Lampe und
stellt sie unter den Scheffel; m a n stellt sie vielmehr zum gemeinsamen
Nutzen hoch auf einen Leuchter, damit alle, die eintreten und seiner be-
dürfen, ein solches Licht sehen." So sollte das Licht des hl. Albuin sich
allen Völkern zeigen, damit ein jeder, der nach Heilung dürstet, eilends
herbeikommen könne Die Heiligsprechung Albuins wurde sehr bewußt
mit der Absicht betrieben, das Kloster Hersfeld wirtschaftlich zu sanieren;
Heiligsprechung Albuins und ^reformatio' des Klosters waren von A n f a n g
an aufs engste miteinander verbunden"*. D e n n von den in Hersfeld
W u n d e r und Heilung suchenden Pilgern erwartete man nicht nur eine
kräftige Belebung der Wirtschaft des Klosters, sondern auch reiche Opfer-
gaben und Schenkungen. Die Kanonisation Albuins sollte deshalb dem
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Grabe des hl. Stephan von Thiers (Grammont), da er wohl wußte, „daß ein
eigener Klosterheiliger die Armut und Abgeschiedenheit des Klosters durdi
lebhaften Verkehr und wirtsdiaftlidien AufsAwung verniditet hätte" (S. 49 f.).
Urkunde Abt Ludwigs von Hersfeld, 14. Januar 1341 (Original im
Staatsardiiv Marburg): Heinridi von Reidienbach, der Propst des Klosters
Johannisberg, wird zum Prokurator des Leibes des hl. Bisdiofs Albuin be-
stellt; vgl. audi S t r u V e , Hess. Jb. 19.
V. Lulli c. 21, S. 334 f.
Urkunde Abt Ludwigs von Hersfeld: ut tale lumen, uidelicet Beatus
Albuinus ... in altum eleuetur et canonizetur, ut per ipsum funditus illuminen-
tUT abscondita tenebrarum et graciose se manifestet ad omnes gentes, ut qui-
cumque graciam remedium uel sanacionem ab ipso sitiant, cum in manifesto
stet, ueniant festinanter (...).
Ebd.: ad reformandum ueterancialem ecclesie nostre structuram necnon
ipsum beatum Albuinum sanctificandum.
4 Archiv für Kulturgesdiidite il/2
232 Tilman Struve
Zehnten kämpfte"''. Der heutige Betrachter hat sidi allerdings vor der
einseitig rationalistisdien Erklärung zu hüten, die Kirche habe dem
gläubigen Volk um ihrer wirtschaftlidien und poltisdien Vorteile willen
nur etwas vorgegaukelt. Die Heiligenverehrung war vielmehr fest im
Bewußtsein der Menschen verankert; sie gehörte, wie die Beschwörung
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des Weltendes im Prolog der Vita Haimeradi beweist, zur Realität des
mittelalterlidien Lebens. Nur deshalb vermochte audi die Kirche, den
Heiligenkult für ihre Zwecke dienstbar zu machen.
In solchem Licht betrachtet, erhält die Vita Haimeradi einen bisher
nicht erkannten zeitgeschichtlichen Akzent. Gelöst aus dem Schema distan-
zierender hagiographischer Darstellung, ist sie xmmittelbar in das histo-
rische Geschehen ihrer Entstehungszeit einzubeziehen. Allgemein darf
festgestellt werden, daß viele der mittelalterlichen Heiligenviten nicht nur
Ausdrude verschiedengearteter Formen der Frömmigkeit und volksnahen
Wunderglaubens zum Zwecke religiöser Erbauung sind, sondern ebenso
Ausdruck höchst konkreter wirtschaftlicher und politischer Bestrebungen
bestimmter Personen oder Institutionen. In ihrer Beziehung auf die
Wirklichkeit, auf den mittelalterlichen Alltag, stehen sie den Urkunden
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nahe und zeugen gleich diesen als „Überrest" von den Vorstellungen
und Wünschen ihrer Verfasser und Auftraggeber. So finden wir in
mancher Vita die Verehrung eines Heiligen mit bestimmten politischen
Zielsetzungen verbunden. Sofern die Vita wirklich Lebensbeschreibung
bietet, ist sie „Tradition"; wo sie dagegen eine Tendenz verfolgt, ist sie
„Überrest". Hierbei ist es nicht nur eine Frage der Überlieferung, welcher
Teil von beiden in einer Vita überwiegt. Für Lamperts Vita Lulli wie
für Ekkeberts Vita Haimeradi konnte eindeutig nachgewiesen werden,
daß beide aus einer bestimmten historischen Situation heraus, in einer
bestimmten Absicht und zur Erfüllung eines bestimmten politischen
Zwecks geschrieben wurden. In diesem Zusammenhang ist auf die regionale
Gebundenheit der Vita zu verweisen, da der Heilige in einem begrenzten
geographischen Raum wirkte und hier — von seinem Grabe ausgehend,
an das sich eine Kirche bzw. ein Kloster anschloß — als Lokalheiliger
verehrt wurde. Deshalb steht die Heiligenverehrung meist in enger Be-
rührung mit der Lokaltradition und durch diese bedingt wiederum mit
politischen Interessen.
Sofern man sich bemüht, eine Heiligenvita nicht mehr nur im her-
kömmlichen Sinne als „Quelle", sondern auch ihrer Struktur und Funk-
tion nach zu betrachten, vermag man ihr in der Tat mehr als nur einige
„wichtige" Nachrichten zu entlocken. Denn stets ist sie ihrer Entstehung
Die Beschäftigung mit der Vita Haimeradi hat gezeigt, daß sie, seit
Holder-Egger sein vernichtendes Urteil über sie fällte, sehr zu Unrecht
von der Forschung vernachlässigt wurde. Denn sie gibt — wie wir nach-
weisen konnten — auch über ihre stilistische Abhängigkeit von Lampert
hinaus wichtige Aufschlüsse über die Verfassung des Klosters Hasungen
im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts. Die Erkenntnisse, die sie über
die Funktion der Heiligenviten des hohen Mittelalters vermittelt, reichen
in ihrer allgemeinen Bedeutung weit über den speziellen Hasunger Be-
reich hinaus. Wenn auch Ekkeberts schriftstellerische Leistung gemessen
an Lampert geringer einzuschätzen ist, so muß seine Vita doch als eine
durchaus eigenständige Schöpfung bewertet werden, die als Zeitdokument
unser Interesse beanspruchen darf.
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4*
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem H.Jahrhundert
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' Ich verdanke den Hinweis auf die Handschrift Prof. Bernhard B i s c h o f f .
Sie ist um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschrieben und stammt aus dem Prä-
monstratenserstift Windberg. Auf den Brief folgen u. a. Sentenzen aus Seneca,
politisdie Briefformeln und der medizinische Traktat De stomadio des Constan-
tinus Africanus. Vgl. Catalogus codicum manu scriptorum bibliothecae regiae
Monacensis 4,4 (1881) S. 40.
* Anders als etwa Magister Boncompagnos Rota Veneris, hg. F. B a e t h g e n ,
Texte zur Kulturgesdiidite des Mittelalters 2 (1927), wo die Abfassung des Brief-
stellers durch eine Traumerscheinung der Göttin Venus begründet wird und
verschiedene Briefvorschläge für wechselnde Situationen gegeben werden. Solche
Beispiele bietet auch das erste Buch von De amore des Andreas Capellanus
(hg. E. T r o j e l 1892, Neudrude München 1964), und Vorbilder für Liebes-
briefe (Ad mulieres ante factum und post factum) finden sich auch in Brief-
stellern wie der Summa dictaminis des Guido Faba (hg. A. G a u d e n z i , Pro-
pugnatore 23, 1890, S. 287 ff. und 345 ff.).
» Absatz 1.
< Abs. 41.
» Abs. 2; Abs. 35 f.; Abs. 31; Abs. 43.
• Abs. 24, 47; vgl. E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches
Mittelalter, 5. Aufl. (1965) S. 413 f.
^ Abs. 22; zum Topos der „Anführung unmöglicher Dinge" vgl. C u r t i u s ,
a.a.O. S. 105 ff. Die Stelle hier beruht wohl auf einem Mißverständnis von
2. Kg. 1,21. Um ganz sicher zu gehen, daß sein Adynaton verstanden wird,
setzt der Verfasser deshalb quod est inpossibile hinzu.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 235
könne ohne die Geliebte nidit leben'. Die auffälligste Eigenheit dieses
Dictamens aber ist das Prunken des Verfassers mit seiner Bildung, die
pedantisdie Bemühung, jedem erwähnten Begriff eine philosophische
Definition oder wenigstens eine Etymologie beizugeben, und zur Unter-
streichung oder Erläuterung aller Aussagen Autoritäten in großer Zahl
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weldies Vergleiche für die Vielzahl der guten Wünsche des Absenders
einleitet', und Carmen Buranum 62,8". Bei so freier Verwendung von
Gedichtstücken läßt sidi an manchen Stellen kaum entscheiden, ob Reim-
prosa oder ein Teil eines Gedichtes vorliegt, wie bei: üenias, / lenias /
cor amantis / graviter egrotantis / plurimumque pensantis / de tantis /
multimodis suis malis...
Vielfältig wie die angeführten Autoritäten sind auch die Sprach-
ebenen, deren sich der BriefSchreiber bedient: Die Bitte tibi supplico per
presentes, ut per vicissitudinem debite recompensacionis equaliter a te
diligar " klingt nach Urkundensprache, die Formel quod nobis permissive
prestare dignetur" nach Liturgie, und neben philosophischen Ausfüh-
Hingen in der Spradie Alberts des Großen stößt man auf die Wörter
vigella (Geige) und stupa ( S t u b e ) w o d u r d i sidi eigentümliche Kontraste
ergeben.
Über den Absender des Briefes läßt sidi feststellen, daß er Kleriker
ist: Si non religionis habitus prepediret würde er in den Krieg ziehen
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und für die Geliebte mit Freuden sein Blut vergießen". Die Vision der
Geliebten erscheint ihm, als er im Kloster, dem er angehört, spazieren
geht". Um die Geliebte nidit zu verlieren wäre er auch bereit, wilde
Tiere furditlos zu erlegen, Fabeltiere zu bekämpfen und unmöglich
Scheinendes zu vollbringen". Die Dame soll den Brief geheimhalten,
der Verfasser scheint sich die Veröffentlichung allerdings schon vor-
behalten zu wollen, denn sie soll ihn wöchentlich, mindestens aber einmal
im Monat aufmerksam lesen, dabei immer gut auf ihn aufpassen und
schließlich — auf die Dauer könnte sie ihn nämlich nicht sorgfältig auf-
bewahren — unbeschädigt zurückgeben". Über die Empfängerin ergibt
sich aus dem Brief, daß sie in Dinkelsbühl Verwandte hat, auf die sie
aber nicht hören soll, wie sie auch einem Hiltebrandus kein Zeichen ihrer
For personal use only.
Zuneigung gewähren soll, weil er erstens keine Hosen trage und daher
weibisch sei und zweitens ohnehin eine andere Frau liebe'*. Diese
Angaben deuten auf eine konkrete Person, für die der Brief ursprünglici
bestimmt war; die Verwendung als Briefmuster war demnaci sekundär.
Die anderen Aussagen sind allgemeiner gehalten und lassen kaum
bestimmte Schlüsse auf die Empfängerin zu: Ihr hoher Stand mache es
dem Absender unmöglich, würdige Geschenke zu übersenden'®, sie sei
gebildeter als alle, aber sie solle keine Angst haben, wenn jemand
gebildeter sei als sie, denn jeder Mensch könne noch l e r n e n J e d e n f a l l s
cise fragen.
Die überschwengliciien Wiederholungen der Liebesbeteuerungen lassen
den Brief trotz des gelehrten Apparates stellenweise ganz spontan wirken.
Keinesfalls handelt es sich bei den Gefühlen des Schreibers um geist-
lidie Liebe, j a er lehnt die allegorische Ausdeutung seiner Hohelied-
Zitate ausdrücklich ab und verweist das Mäddien auf den Litteralsinn.
Es sei versucht, den Inhalt ohne die gelehrten Zitate und Definitionen
zu paraphrasieren:
(1) Meiner erhabenen und geliebten Herrin alles erdenkliche Gute,
was ich für Dich leisten oder im folgenden schreiben kann. (2) Soviel
Sdiönes soll Didi Gott genießen lassen wie Sand am Meer. W a h r e Liebe
kaim durdi keine Trennung erschüttert werden. (3—4) Ich freue mich,
For personal use only.
wenn es Dir gut geht, aber um Deiner Liebe willen leide ich tausend
Qualen. Furcht madit mich unsicher und bringt mich dazu, am erwünschten
Glück zu verzweifeln. (5) U m bei Dir zu sein, ergebe ich mich freiwillig
in Deinen Besitz und schreibe zu Deinem Lob dieses Brieflein, die Du
alle Frauen an Schönheit und Tugend überragst. (6—7) Mein einziger
Trost ist nur ein kleiner Funke Hoffnung; trotzdem kann man mir
Anzeichen von Zwiespalt und Verzweiflung anmerken, denn mein Herz
brennt und mein Siim dürstet danach, daß Dein steinhartes Herz mich
nicht mehr quäle, sondern sich ändere und energisch meine Seele besänf-
tige. (8) Wie leide ich unter der Liebe zu Dir! Dein Körper ist mit allen
Vorzügen ausgezeichnet, das Kennzeichen der Vollkommenheit erhöht
Dich. (9) Mit Freude wollte ich Deine körperliche Schönheit verherrlichen
und rühmen, der dauernde Sdimerz in meinem Herzen, der Sturm meiner
Sorgen und deren Ursache, die Liebe zu Dir, hindern mich; ich muß
seufzen, und nur ganz heimlich überkommt mich kurze Freude über
Deine Gegenliebe aus der Süße der Erinnerung an Dich. Aber sofort
flammen die Sehnsucht nach Deiner Liebe und der kummervolle Schmerz
wieder auf und löschen die kurzen Freuden ganz aus. (10) W ü r d e mich
nicht mein religiöser Stand hindern, so wäre meine Freiheit ein Ansporn,
für Dich in den Kampf zu ziehen. (II, 12, 13) Und nun bitte ich Dich
bist von allen Geschöpfen durchaus gebildet, und Du bist natürlich aus
Erfahrung, ziehst alle Schlüsse mit Überlegung und hast von allen Tu-
genden eine hohe moralische Auffassung. Werde nicht hochmütig, indem
Du mich. Deinen Freund, gleichsam verächtlich wegwirfst. (18—19) Da
ich Dich zu meiner Herrin bestimmt habe, ziemt es sich, daß Du mich
Niedrigen xmd Armen nun erhöhest und mir in Deinem Sinn und im
Anteil an Deinem Herzen und Deinem Körper einen Primat einräumst.
(20—21) Desgleichen bitte ich, daß Du Deine Verwandtschaft in Din-
kelsbühl gänzlich verachtest. Durch die glaubwürdige Auskunft von den
Eltern eines Klerikers dort habe ich nämlich erfahren, daß sie nichts wert
und eitel ist. Ebenso sollst Du den Hiltebrandus verachten, der keine
Hosen hat und mehr für ein Weib als für einen Mann gehalten werden
muß. Außerdem weiß ich, daß ihn die Liebe zu einer anderen Frau
gepadct hat. Du hast um meiner ewigen Liebe willen geschworen, ihn
immer zu meiden und ihm auch kein Zeichen der Zuneigung mehr zukom-
men zu lassen. (22) Wenn wir aber das Glück haben sollten, irgendeinmal
zusammenzukommen, dann bitte ich Dich darum, daß Du durch Beneh-
men, Worte und Taten mir gegenüber nicht mehr so spröde bist, wie in
der Vergangenheit, weil alles an Deinem Körper mir immer gefallen
wird, und ich Dich nie verlassen werde. (23) Verzeih mir, daß ich keine
würdigen Geschenke schicken kann, aber Dein kluges Wesen soll den
guten Willen, nicht Deinen Gewinn erwägen. (24—25) Nimm mir nicht
übel, wenn ich zu viel schreibe, es ist der Befehl meiner Liebe. Die über-
flüssigen Ausführungen und verwirrten, unpassenden Wiederholungen
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 239
bunden bist, räume mir einen angemessenen Platz in Deinem Herzen ein.
(30) Wenn Dir, meine Herrin, gefällt, daß wir formaljuristisdi vorgehen
und unsere Situation wie ein Streit vor ein Sdiiedsgeridit gebradit wird,
daß Venus und Amor den Fall entsdieiden, dann würden wir nidit wie
vor Geridit streiten, denn Du würdest mit Amor stimmen, weil idi Didi
zum Anwalt unserer Sadie bestimme, und so würdest Du mit Amor
unsere Liebe gestalten. (31) Deshalb flehe idi zu Dir um ein Zeidien
unserer Liebe in Briefen, Worten oder Taten, weil idi Didi so ehrlidi und
vollkommen liebe, daß idi Didi zu den hödisten Ehren meines Reidies
erheben wollte, wenn idi alle Königreidie beherrsdite. (32) Stille meinen
Sdimerz und madie midi zu Deinem Vertrauten. Deine Liebe ziehe idi
allem vor, trotzdem ist es nidits Unerhörtes, wenn idi so sagen darf, daß
For personal use only.
sie mir zukommt, denn Deine Liebe ist eine herrlidie Gabe, die weder
durdi Teilung nodi durdi Versdienken gemindert wird. (33—34) Halte
diesen Brief geheim, lies ihn regelmäßig und sdiidce ihn mir wieder zu-
rüdc. (35) Meine Hohelied-Zitate mußt Du ganz wörtlidi, nidit allegorisdi
verstehen. (36) Idi liebe Didi über alles in der Welt, was nidit verwun-
derlidi ist, denn an Dir ist kein Makel. (37) Viele weise Männer handeln
töridit, indem sie treulose und häßlidie Frauen rühmen, weldie idi nie
lieben oder rühmen könnte, und soldie Frauen begreife idi in mein Lob
nidit ein. (38) Du allein bist rühmenswert, und mein Herz und meine
Worte weidien nie aus Deinem Dienst nodi von Deinem Gedenken, weder
aus Liebe zu jemand anderem, nodi durdi Vergessen. Denn die Last und
die Glut der Liebe zu Dir quälen midi unaufhörlidi, und idi bitte Didi,
daß Dein Mitleid wie ein Sturzbadi midi Dürstenden durdi die Liebe
erfreue. Es wäre eine furditbare Enttäusdiung, wenn Du mir keinen festen
Platz in Deinem Herzen zuweisen wolltest, und idi müßte die Sdiredcen
der Unterwelt fürditen. Aber idi hoffe, daß Du den Liebenden erhörst.
(39—40) Wenn Du etwas in dem Brief nidit verstehst, lasse es Dir ruhig
von jemand erklären. (41) Du übertriffst alle Frauen, und idi liebe Didi
über alles. Um Deiner Liebe willen würde idi Heldentaten vollbringen
und wollte sehr mutig sein. (42) Wenn Du midi nidit in Deiner Güte
tröstest, muß idi wahnsinnig werden, und Du mußt wegen meines Todes
vor Gott Rediensdiaft ablegen. (44) Die Liebe zu Dir quält midi ununter-
brodien, idi weiß nidit, wie idi diese Qualen überleben kann. (45) Eine
Frau, die rühmenswerter ist als Du, kenne idi nidit, ja kann idi mir nidit
240 Gabriel Silagi
einmal denken. (46) In Dir leuchtet, was wir unter honestum verstehen.
(47) Wenn ich irgendwo in diesem Brief die rechte Form nidit gewahrt
habe und Du eine Unregelmäßigkeit findest, dann mußt Du wissen, daß
ich ihn sehr schnell und heimlich schreiben mußte, und Du sollst mir dafür
verzeihen. (49) Auch wenn die modernen Autoren sich gerne kurz fassen,
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muß ich Dir jetzt noch einen wunderbaren Vorfall berichten, dessen
Wahrheit ich beschwören kann. Als ich eines Tages im Kloster spazieren-
ging und voll Sehnsucht und Liebe an Deine Schönheit dachte, wie ich es
Tag und Nacht tue, hörte ich aus einem Gebäude eine wunderschöne
weibliche Stimme. Ich fragte einige Leute, die dort in der Stube waren,
nach der Stimme, aber sie schworen nichts gehört zu haben. Ich gab mich
damit nicht zufrieden und suchte in allen Räumen und schaute schließlich
auf den Söller, und dort fand ich ein Ebenbild der Frau, die ich immer-
fort mit allen Sinnen begehre, nämlich eine schöne, edle, gefällige und
vornehme Erscheinung von Deinem Aussehen, und sie stand auf, lächelte
und sprach mich freundlich an: „Mein geliebter Herr, wie lange erwarte
ich Euch schon hier!" Und ich brach beim Eintreten in die Worte aus:
„Ach, im Namen des Erlösers, ohne daß ich es weiß, seid Ihr persönlich
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da!" Aber als ich zu ihr trat und sie in den Armen zu halten schien und
hochzuheben glaubte, da konnte ich dennoch nichts fühlen, sondern die
Erscheinung löste sich in meinen Armen langsam auf und verschwand.
Daß dies aber keine bösartige Erscheinung war, ging daraus offenkundig
hervor, daß bei ihrem Verschwinden der ganze Raum mit Wohlgerüchen
erfüllt war. (50) Da ich nun durch die Abwesenheit Deines Körpers und
Deiner Liebe solches erlebe und vielleicht noch Bedeutsameres durch Deine
Anwesenheit erleben köimte, so würde mich schon Deine Treue zu mir
trösten. Deshalb komme zu mir, der ich Dir immer treu bin, denn wenn
ich Dich verlasse, will ich nicht länger leben. Ich bin nämlich in der Liebe
zu Dir verstrickt und gefangen. Deshalb appelliere ich an Dein Mitleid,
daß Du mich mit der Fülle Deiner Tröstungen in Liebe erfreuen mögest.
(51) Mein Herz schlägt mit Dir, denn Du bist mein höchster Schatz. (52) Die
Liebe des Mannes zur Frau kann ich seit Adam nachweisen. (53) Ich bitte
Dich, mir Deine Anwesenheit in Kürze zuteil werden zu lassen, aber mich
vorher über Ort und Zeit des heimlichen und liebevollen Treffens zu
unterrichten. (54) Solange ich lebe, werde ich alles mir Mögliche zu
Deinem Vorteil tun und meine Versprechen wie Schwüre halten. Lebe
wohl, meine Geliebte.
Am Schluß des Briefes, also noch mitten in der Handschrift, steht der
Schreibervers: Qui me scribebat Chunr(adus) nomen habebat. Es ist nicht
auszuschließen, daß es sich bei Chunradus nicht um den Schreiber von
Clm 22300, sondern um den Verfasser C. des Briefes handelt. Der Ab-
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 241
Schreiber hätte dann den Vers ohne viel nachzudenken vom Original mit
übernommen.
Bei der Abschrift sind dem Schreiber eine Reihe von Fehlern unter-
laufen, wie viridis statt viridia, tm statt tn für tamen, per- statt pre- in
Zusammensetzungen, Auslassung von Silben und Dittographien, was die
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fore dignum, cum tamen per naturam merito simus unum, ut in volumine
Sex principiorum A r i s t o t i l e sie dicente: Ubi unum propter alterum,
ibi utrobique tantum unum^". Ergo sequitur, ut secundum discemam me
propter te factum, quamvis tamen nidiilominus per sentenciam A r i s t o -
t i l i s simus unum.
[16] En de te fari non ambigo mihi dulce, et nisi mater fastidii
prolixitas^' evitetur, vix finis dabitur tue laudi. Nam tota phylosophica'
tu probaris creaturarum, es per experigenciam naturalis, concludisque
<in> Omnibus racione, consuetudinaliumque virtutum habes noticiam per-
moralem; cum ergo cunctos scientia et virtutibus precellere» videaris, ne
in superbiam eleveris, sed humanitatem [fol. 79''] tuam valide recognos-
cas, quod es homo per naturam, homo per vetustatis culpam, homo per
infirmitatem, ideo ne me humilem amicum tuum quasi in despectu abicias
subito ac repente, quia B o e c i o attestante omne
quod precipiti via
certum deserit ordinem
letos non habet exitus
possunt, quod inopinabile est, visibus nec sensibus meis aliquando displi-
cere, immo numquam in pondere solius faville mihi fieri odiosa, quia
pocius crederem rorem ac pluviam descendere super montes Gelboe^®
— quod est inpossibile — quam te deserere, vel aliqua per me corpori
tuo attinencia distare.
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medentur per tui amoris colloquia et per tui amoris antidota dulcorata
Et licet amorem tuum omnium meorum sensuum per sententiam omni
thesauro precioso et cunctis deliciis nunc terrenis dileccione, laude ac
dignitate sufficienter te pretulerim et honestate, quamvis etiam apud me
magnum et quasi bonum incomparabile videatur, videlicet meam personam
hanc donacione, id est tui amoris titulo, investiri, non tarnen magnum
apud te — salva reverencia et gratia — mihi hanc donacionem a te fieri
iudicatur. Quare? Quia non inpossibiliter hec libere ac potenter has
divicias et huiusmodi delectabilium facultates possides habundanter. Si
tamen per amoris dileccionem bone voluntatis tibi aderit plenitudo, tunc
petens non admittitur difficulter, nec obstaculum mihi erit repulsio
negativa, sed erit merces amodo lucrativa, et tunc facile conceditur, si
iuste perpenditur, quod prius per dilacionem nimiam negabatur, quia
substancia nobilis, que dividendo nec largiendo noni minuitur, possidens
eam si non pluribus saltem soli speciali amico merito tenetur hylariter
absque numero, pondere ac mensura veluti regis ditissimum donativum
habundancius impertire, unde versus:
Non peto grandia donaque dicia, quero modesta.
Quod [/oZ. Si®] tibi sufficit et mihi deficit, hoc mihi presta".
Qua re tuam inclitam condecet honestatem, ut tuo ex genere et tuis a
progenitoribus patrisset nobiliter virtus tua, ita ut larga non solum
« S. o. Anm. 11.
" W a l t h e r Nr. 18223.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 251
ranz des katholischen Klerus aufzeigen. Die Etymologie quod mulceat virum
findet sidi in Osberns Panormia, hg. A. M a i , Class. Auct. 8 (1836) S. 345. Hier
ist sie wohl dem Catholicon des Johannes von Genua entnommen (s. v. mulier).
" W a l t h e r Nr. 28 967; vgl. Andreas Capellanus S. 23: amor deformem
quoque mulierem tanquam valde formosam representat amanti.
W a 11 h e r Nr. 9266 und 9253.
«« Matthaei Vindocinensis Tobias, hg. F. M u e l d e n e r (1855) nadi Vers 884
im Apparat; W a 11 h e r Nr. 20 188.
Zur Darstellung der Fortuna im Mittelalter vgl. H. P a t c h , The Goddess
Fortuna in Mediaeval Literature (1967) S. 42—57. Die Schilderung als einäugig
und hinkend ist ungewöhnlich.
254 Gabriel Silagi
non una per discordie et perfidie guerram extra spem sperate salutis quasi
per maledictam negativam constituar exulandoP', quod absit, quia mors
mihi foret, aut etiam quod invidie ac odii fomitu dilacionem mihi
nimiam salutis impediant accepture. P e r hoc siquidem corpus meum
erit quasi ad nichilum tunc redactum, et corporis mei membra omnia
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W a 11 h e r Nr. 7270.
" Vgl. Canticum 4,3; die Definition erinnert an die von dilectio: dilectio
interpretatur, quod duos in se liget, bei Isidor, Etymologiae 8, 2, 6, von dort im
Lexikon des Papias und im Catholicon des Johannes von Genua s. v. dilectio.
Distidia Catonis 4, 29, 2 hg. M. B o a s (1952) S. 229; W a l t h e r Nr. 27613.
" Eine Anspielung auf die bekannte Legende von der Begegnung Augustins
mit dem Knaben am Meeresstrand, vgl. H.-I. M a r r o u , Saint Augustin et la
legende de l'ange, Bulletin de la soci6te nationale des Antiquaires de France
1954/55, S. 131 ff. Duodennis wird bei Augustin, Enarr. in Ps. 101,1 für zwölf-
jährig gebraucht.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 255
quia non facile addiscitur, et per ipsius diffinicionem ars est collectio
multorum preceptorum ad unum finem t e n d e n c i u m A d idem: ars est
infinitatis compendium, et licet homo sit ingeniosus et capax, attamen
non proficit ad e£fectum, nisi per Studium continue usitatum. Unde
O r a c i u s in Epistula:
Ingenium, nisi sit Studium, flos est sine fructu,
Hec coniuncta simul fructificare s o l e n f .
[41] Preterea sufficiant ad presens hec pauca de talibus annotata, et
predicte virginis puldiritudinem commendabiliter exaltemus. Cum tamen
O r a c i u s in Poetria per quandam intimantem* regulam hoc affirmat,
quod natura in genere omnes mulieres plus ditavit quam viros per
puldiritudinis colorem^', sed tum tu omnes mulieres videaris precellere per
amenitatis videlicet colorem. Et nunc post expressam regule diffinicionem,
que talis est: regula est [fol. 55"] commune artis preceptum, et hec regula
quod hic visu puldirum, quod odoratu suave est, quod gustu dulce est,
quod omatu elegancie nunc prefulget, quod auditu iocundum est, quod
tactu per sensualitatem aptum est, quod gressu per liberum arbitrium
lascivum'' est, quod cordi concupiscibile" est, ac super omne, quod super-
bum vel pomposum est, et iureiurando veraciter^ hoc contestor, quod te
amando super me ipsum diligo et super omne, quod in hoc mundo
sensibus meis^ delectabile comprobatur; etenim sie tui amoris me potencia
superavit et intantum me sibimet subiugavit, quod non possum nec valeo
nec debeo quicquam velle, nisi quod tibi placuerit nunc et Semper et
quod tue benignitatis precepta mihi non dedignantur indicere per edic-
tum. Attamen, o dulcissima mi puella, ut tui nullo modo expers fiam,
sive sint grandia necnon aspera intolerabilia inperficibilia, sive dura,
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fortuna, quasi pro homicidio [fol. 84'^] hominis racionem eris penitus
redditura. Nam quasi almipotencie per virtutem ero sepissime velud
mentis in extasi positus et raptus et hoc quodamodo inprovise ac sie
amens et impotens ero corporis mei et sensuum omnium tunc meorum. Eia
ergo te invoco, bona et non mobilis sed stabilis nunc fortuna, ut mihi
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8» W a i t h e r Nr. 3917.
W a i t h e r Nr. 7874. Die zwei folgenden Verse habe idi nidit ermittelt.
Zu Fortuna vgl. o. Anm. 67.
Pamphilus, hg. G. C o h e n , La ,comedie' latine en France au XII®
si^cle 2 (1931) 192 ff., Vers 101; W a 11 h e r Nr. 10 236.
N i A t im 3. Budi der Topica des Aristoteles.
" Aus Cicero, D e inventione, im Mittelalter häufig zitiert, hier wohl aus dem
Moralium dogma philosophorum, S. 7.
Nidit bei Galfred von Vinosalvo, Poetria Nova, dagegen ähnlidi bei
Matthäus von Vendöme, Ars Versificatoria S. 115.
258 Gabriel Silagi
amoris rabida iam vindicta, scilicet incomoda nimia iam caloris iam
algoris, iam corporis debilitas coangustat, meque iam debilitat meorum
sensuum hebitudo, iam die noctuque vigiliarum instancia sine sompno,
iam cibi et potus parsimonia diuturna, iam tactus dolore cordis mei
intrinsecus offendendo intantum, ut conglomeracio iam malorum quasi
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substancia magna, tamen teneo quod cupivi, quia avaricie non appeto
iam thesaurum, sed quod pro utilitate amborum, scilicet ipsius puelle et
mea, sustentabiliter videbitur expedire, et quamvis ei magne nunc divicie
competerent et honores, pro me tamen cum O r a c i o sie allego:
Magnos magna decent et parvos parva, secundum
Quod pollet meritis ille vel ille suis
Quod dictum O r a c i i etiam nunc allego, sed pro nobis ambobus cum
0 r a c i 0 in Epistulis illud nos instruere non obmitto:
Si ventre bene, si latere bene, si pedibus, nil
Maius divicie regales addere possunt
[47] Ceterum autem si in hoc opusculo cursum alicubi debitum non
servavi et si hic varietatem sive diversitatem littere reperires, scire debes,
quod ex nimia celeritate scribendi in oculto taliter excedere sum coactus,
sed illa mihi tua virtus gloriosa tenetur ignoscere virtuose.
[48] 0 dulcissima mi puella et mea karissima domicella, horum voca-
bulorum proprietatem nimiam possides, o dilecta, quia puella dicta es a
disciplina continua et pudore, sed domicella dicta es a domo et cella,
id est quia in conclavi domus quasi in cella sis assidue includenda'»; que
proprietates nimium in te vernant, et hoc mihi in dampnum et in preiudi-
cium fieri existimo evidenter, et hoc idem doleo satis pure. Attamen si
[49] Licet nunc moderni gaudeant brevitate, presertim illud non pre-
termittendum silencio iam decrevi, quod est eventus satis mirabilis atque
rarus, et non credas esse falsigrafiam compositam atque mendosam, sed
meram absque omni ambiguo veritatem, quod etiam si deberem vice
sacramenti iuramento possem veridice comprobare, quod non oportet,
quia Novum precipit Testamentum: Sit sermo vester: est, est, non,
non; quod amplius est, a malo e s t " , et super hoc D e c r e t a l i s dicit:
A malo est, scilicet non iurantis sed non credentis", et hec duplex
repeticioi, scilicet est, est, non, non, amen, amen, est sola et sufficiens
confirmacio. Cum autem, u f ^ predictum est, quadam die pre maximo
desiderio te videndi, virgo decora, infra septa [fol.85'"] claustri deam-
bularem et tuam speciositatem et dileccionem meditans in corde meo,
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sicut est mea die noctuque continua consuetudo, et sie in nostro cenobio
quandam precederem officinam, audivi humanam ac femineam vocem
cantando clare ac dulciter iam sonantem, et quasi omnium humanarum
vocum dulcorem suavitate ac dulcedine precellentem. Ammirans steti
auscultando, sed finita voce et intravi celeriter et quesivi de voce, si
quid audierint, a quibusdam manentibus iam in stupa, qui nichil se
audivisse cum iuramento probabiliter affirmabant incontinenti; etiam in
cubilibus omnibus sie quesivi, sed adhuc nidiil inveni, et tunc ad su-
periorem partem domus ascendi et Solarium introspexi, et ibi sedentem
et mihi assurgentem similitudinem illius vidi, quam Semper desiderant
sensus mei, videlicet sub habitu et ymagine tua quandam speciosam,
curialem, habilem ac nobilem fantasiam, que sie arridendo iocunde et
amicabiliter me vocabat, scilicet sie dicendo: ' 0 mi dilecte domine, vos
quam diu hic exspecto!' Tunc in ingressu meo, priusquam ei appropin-
quarem, pre gaudio ammirando in hec verba prorapi: 'Ach, nomen sal-
vatoris domini nostri Jesu Christi, mi dilectissima domina, me ignorante
personaliter iam adestis?' Et hiis dictis cum accessissem ipsum corpus
et staturam tue delectabilis ymaginacionis parte reverenter ac benivole,
tunc suscepi tarnen delectabiliter per amplexus, et cum eam sie quasi
tenerem et adhuc cum ipsam elevare viderer', tamen palpabile™ nidiil
sensi, sed inter brachia mihi decrescendo evanuit, sed paulatim. Ex hoc
malicie nidiil sensi nisi quod illius presenciam perdidi caro iocundam.
De hoc quasi exanimis fui factus et omnibus mei corporis viribus destitu-
tus. Illud satis diu cepi dolere et adhuc Semper doleo, quia vix vel num-
quam amodo recuperare valebo. Illud autem horribilem aut malignam
non possum credere fanthasiam, sed pocius illud credo et adhibeo fidem
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factis dignam tuo servicio, et eam mei ipsam Venerem deam sacram
credo venisse miserearum mearum pressuram et me ipsum quemadmodum
sua visitacione ac suis virtutibus consolandum, quod in eius recessu appa-
ruit evidenter, quia totus locus in solario tunc fraglabat, et remansit odor
suavissimus sie diffusus, quod ipsius aromatice suavitatis sapor me quam
plurimum viribus recreavit.
[50] Et cum sie exigente tui amoris et corporis absencia tsi[fol. 86'']lia
tunc sum passus et hiis paciar iam maiora et asperiora forsitan sim pas-
surus consequenter per tui corporis et amoris presenciam, virgo decens
ac mi dilecta, quod si fides in te foret, quod non despero, re vera merito
consolarer, quam ob rem sucurre mihi famulo tuo tibi quam plurimum
Semper fido et iam diu propter te in perplexitate valido constituto, quia
For personal use only.
litate mea, sicut ijpse novit deus, et per intencionis mee integritatem, quia:
Quidquid agunt homines, intencio iudicat omnes
revera et ut premissum est secundum fidei mee argumentum, omne, quod
tibi promisi vel promitto, iurata certitudine non peribit. Vale, vale, vale,
mi dilectissimaP.
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W a i t h e r Nr. 25260.
Apparat
Clm 22 300, fol. 77^ In 2 Spalten geschrieben, über der 2. Spalte von neuzeit-
licher Hand: Priamel. Die zahlreichen Unterstreichungen, ebenfalls von jüngerer
Hand, sind nidit berüdisiditigt. Die ^-Zeichen der Hs. wurden durdt fortlau-
fende Zählung der Absätze ersetzt. Die Orthographie der Hs. ist beibehalten,
nur die Schreibung von u, v und w normalisiert. Die — in der Hs. unregelmäßig
gesetzten — Hinweise ver(sus) wurden weggelassen, stattdessen die Verse durA
Einrückung hervorgehoben.
For personal use only.
.
a Initiale S über zwei Zeilen b korr. aus at, u übergesdir. Hs. c hier
und im folgenden quod Hs. d korr. aus dona, do übergesdir. Hs. e viridis
Hs. f eingefügt g opido Hs. h tm statt tn gekürzt h' e grege Hs. i exi-
giente Hs. j vicissitudine Hs. k Jignis solet Hs. Verlesung einer -us
Endung: (9) zu -et: (3)? Oder ist signis solis zu lesen? 1 korr. aus digneris,
de übergesihr. Hs. m tuo tuo Hs. n Tydonis Hs. o palestia Hs. Ist
palatia gemeint? p semivilia Hs. q equiperacionem Hs. r physophica
Hs. s percellere Hs. t gratiam Hs. . u korr. aus ctero, e übergesdir.
Hs. • V recognoscant, Haken über erstem^o Hs. w pensent Hs. x per
te {oder parte) Hs. y über defCm nodi^ein e geschr. Hs. z modum Hs.
[26-42]
a absencia Hs. b cruciare Hs. c in al actione Hs. d demonstras
Hs. e venea Hs. f potestatem Hs. g quendam Hs. h amori Hs. i sed
Hs. j über geschr. j ' mineris Hs. k habundas Hs. 1 sangis, Haken über
dem i Hs. m hinter tibi nodi radiertes cave erkennbar n mare Hs. o viri-
tatem Hs. p ipsius Hs. p' exultando Hs. q hinter amena durdi Unter-
pungieren und Durdistreidien lux getilgt r perfidia Hs. s inusitas repe-
riris Hs. t intimarem Hs. f lascivium Hs. u concupiscibili Hs. v am
Rand Nota-Zeicfeera w me Hs. x extinguenda Hs. y korr. aus basili-
cum, s übergesdir. Hs. z am Rand Nota-Zeidien
\43—54\
a precellat Hs. b in sua potestate wiederholt Hs. c nature durdi Unter-
iungieren getilgt c' innocenter Hs. d am Rand "Nota-Zeichen e fidos
.1s. f am Rand Nota-Zeidien g ttiam-Zeichen Hs. h sit includendus
Hs. i ^deamodo Hs.; möglicherweise ist ergo de amodo zu lesen i' nach
Linceus: pro lincis, (Glosse) Hs. j repecio Hs. k am Rand Nota-Z«-
dien 1 viderem Hs. m palpale Hs. n amarose Hs. o incongruem
Hs. p Explicit liber ad dilectam. / Fides est sperandarum substancia rerum.
{Hebr. 11,1) / Qui me scribebat, Chunr(adus) nomen habebat. / Finivi librum
totum sine manibus istum. (FgZ. W. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittel-
alter, »1896, Nadidr. 1958, S. 509)
fi Ardiiv für Kulturgesctidite 51/2
Agrippa von Nettesheim in den neueren kritischen
Studien und in den Handschriften
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wie etwa Coluccio Salutati oder Giovanni Pico) lebhaft umstritten scheint.
Was die Aktualität des neuerlich für Agrippa erwachten Interesses an-
geht, mag der Hinweis genügen, daß man noch bis vor fünf Jahren
hätte feststellen müssen, daß nach der Biographie Joseph Morleys und
der als Dokumentation zwar soliden, unter kritischem Aspekt inzwischen
jedoch veralteten Monographie von Auguste Prost ^ nur wenige Einzel-
untersuchungen erschienen waren. Noch 1964 nahm George H. Daniels
Jr., der dem bekannten Problem „Knowledge and Faith in the Thought
of Cornelius Agrippa" einen Aufsatz gewidmet hatte®, unvorsichtiger-
weise an, er könnte sich auf die romanhafte Rekonstruktion Morleys
stützen. Gleichwohl kannte und zitierte er bereits einen der Aufsätze^,
' Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der auf der Tagung des
Arbeitskreises für Humanismusforschungen am 11./12. März 1969 im Germani-
schen Nationalmuseum gehalten wurde. Für die Übertragung ins Deutsche möchte
ich an dieser Stelle Herrn Dr. Willi Hirdt danken.
^ Henry M o r 1 e y , Cornelius Agrippa: The Life of Henry Cornelius Agrippa
von Nettesheim, Doctor and Knight, Commonly known as a Magician (London
1856, 2 Bde.); Auguste P r o s t , Les sciences et les arts occultes au XVI« si^cle.
Corneille Agrippa, sa vie et ses oeuvres (2 Bde., Paris 1881/82; Nachdruck B.
De Graaf, Nieuwkoop 1965).
3 Bibliothique d'Humanisme et Renaissance 26 (1964), S. 326—340; vgl. be-
sonders S. 328, Anm. 1. — Vgl. auch H. B u l l o t t a B a r r a c c o , Saggio bio-
hibliografico su E. C. Agrippa di Nettesheim, Rassegna di iilosofia 6 (1957),
S. 222—248.
* Magic and Scepticism in Agrippa's Thought, Journal of the History of
Ideas 18 (1957), S. 161—182. Dann: Agrippa in Renaissance Italy: the Esoteric
Tradition, Studies in the Renaissance 6 (1959), S. 195—222. Dieser Aufsatz
Agrippa von Nettesheim 265
benutzt und erörtert meine Ausgabe und Studie des unveröffentliditen 'Dialogus
de homine' von Agrippa; vgl. in Rivista critica di storia della filosofia 13 (1958),
S. 47—71.
® Charles G. N a u e r t Jr., Agrippa and the Crisis of Renaissance Thought
(University of Illinois Press, Urbana 1965; Illinois Studies in the Social Sciences
55), S. VI, 374. Dieses Buch übernimmt fast ohne Veränderung in den Kapiteln
VIII und II die beiden oben erwähnten Aufsätze.
' Ardiiv für Musikwisssensdiaft 16 (1959), S. 77—86.
^ Antaios 5 (1963), hrsg. von M. E1 i a d e und E. J u n g e r.
' Agrippa von Nettesheim, De occulta philosophia. Auswahl mit Einführung
und Kommentar von Willy S c h r ö d t e r (Remagen 1967), S. 168.
• Vgl. G. R u d o l p h , De incertitudine et vanitate scientiarum. Das Urteil
über die Zuverlässigkeit der Wissensdiaften, von Agrippa von Nettesheim bis
zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: XIX. Internationaler Kongreß der Ge-
sdiidite der Medizin (Basel-New York 1964), S. 573—580. Auf einer kürzlidi
abgehaltenen Veranstaltung des CESR in Tours (1965) hat der Marburger Uni-
versitätslehrer S c h m i t z zwei Vorträge über Agrippa in der Geschichte der
Pharmazeutik gehalten, die nodi nicht veröffentlidit sind. — Vgl. darüber hin-
aus — auf eher anekdotischem Niveau — M. S e n d r a i l , Le mage errant,
Corneille Agrippa, in: Table ronde, n. 224 (1966), S. 18—37.
" L. T h o r n d i k e , History of Magic and experimental Science 5 (Columbia
U.P., New York 1941), S. 127—138; E. G a r i n , Medioevo e Rinascimento
(Bari 1954), S. 150—191; D. P. W a l k e r , Spiritual and Demonic Magic from
Ficino to Campanella (London 1958), S. 90—96 et passim; F. Y a t e s , Giordano
Bruno and the Hermetic Tradition (London 1964), S. 130—143 et passim; D e r s . ,
The Art of Memory (London 1966), S. 157 f., 206 f., 214 f.; F. S e c r e t , Les Kab-
balistes dirdtiens de la Renaissance (Paris 1964), S. 157. Für die Neubetonung der
Problematik Magie-Religiosität im Falle Agrippas und der Luther-Epoche ganz
allgemein waren besonders wichtig die Büdier von D. P. W a l k e r und F.
Y a t e s . Nauert folgt dem Ansatz des ersteren, dessen Standpunkt auch ich teile;
6»
266 Paola Zambelli
hodihielt, so bezog sidi das aussdiließlidi auf den Zwedc des Bibel-
studiums. Wenn er das Studium antiker Autoren empfahl, so nidit aus
der Überzeugung heraus, daß irgendeine antike Philosophensdiule im-
stande wäre, ein System von großem Wert zu liefern, und fast immer
gesdiah es mit dem mahnenden Hinweis auf den größeren Wert des
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Studiums der Heiligen Sdirift. Wenn er selbst begierig die alten Texte
studierte, so tat er das in dem Glauben, daß sie eine geheime Offen-
barung Gottes für den Menschen bargen. Darüber hinaus hielt der ältere
Agrippa — zusätzlich zu seiner wachsenden Enttäuschung in bezug auf
hermetische und kabbalistische Schriften als Quellen göttlicher Offen-
barung — die schärfsten Pfeile für diejenigen bereit, die den Wert
schöngeistiger Literatur vertraten. Er klagte einige hochmütige Gelehrte
an, die Bibel wegen ihres Mangels an literarischer Ornamentik zu miß-
achten. Der Grammatik stritt er jegliche Gültigkeit ab, da sie mehr auf
gewohnheitsmäßigem Gebrauch denn auf Vernunft gründe; und er ver-
wies auf die Tendenz aller Grammatiker zur Überkritik." Und führte
er in diesem wie in anderen Kapiteln von ,De vanitate' über die
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verweilen, über die Otto Herding umfassend berichtet und ein ab-
gewogenes Urteil gefällt hat^'. Die Ausführungen Nauerts dienen mir
nur als Anlaß für die Erklärung, daß ich, im Gegensatz zu ihm, Agrippa
in jeder Hinsicht als einen Humanisten ansehe. Es versteht sich, daß weder
hier noch in Nauerts Buch (wenngleich es von den Auffassungen Bowsmas
imd Kristellers inspiriert ist) die enge Definition angenommen wird,
die letzterer und A. Campana für den Humanisten als „Grammatiker und
Spezialist im Studium klassischer Manuskripte und Texte" vorschlagen".
Diese Definition, die einer technizistischen (logisch-metaphysischen) Kon-
zeption der Philosophie entspricht, würde offensichtlidi die Mehrzahl der
bedeutendsten Vertreter des Humanismus nicht mit einbeziehen. Akzep-
tiert man hingegen die weiter gefaßte Begriffsbestimmung, auf die auch
Nauert sich bezieht, so gibt es zahlreiche biographische und kulturelle
Züge, die gestatten, Agrippa mit einzuschließen. Typisch für viele dem
Beweis und zeigt sein Interesse für sie, wie auch Nauert zugesteht".
Auf welche Weise es für einen Jüngling, der mit Repräsentanten der
neuen deutschen Humanistenkultur in Verbindung trat, möglich war,
vor diesem Zeitpunkt in Köln zu einer solchen Bildung heranzureifen,
ist übrigens offenkundig: Agrippa ist Schüler von Andrea und Jacobus
Ganter, deren vielschichtige und interessante Persönlichkeiten Nauert
(und andere Historiker) nicht analysieren. Andrea war in Köln als Er-
neuerer der lateinischen Sprache und als Lullianer bekannt; Jacobus gab
das ,Secretum' Petrarcas sowie die ,Astronomie' von Guido Bonatti heraus
und verfaßte einen humanistischen, evangelischen Kommentar zu Texten
der Virgil-Tradition, aber seine Leidenschaft war die Lullianische Kom-
binatorik ^^ Agrippa ist Freund des Hermann von Neuenahr, des Johan-
'' Diese Beobachtung hatte idi in der Einleitung zum 'Dialogus de homine'
(vgl. Anm. 4) auf S. 55 dargelegt; N a u e r t erörtert sie in Agrippa and the
Crisis . . . , Kap. VI.
Agrippa erwähnt die Gebrüder Ganter in der Epistola Joanni Laurentino
Lugdunensi, die den Commentaria in R. Lullum vorangestellt ist: Opera (Lyon
s. a.), II, S. 333 f., 415. Zu den Werken der Ganters (Johannes, geb. 1440, Vater
mehrerer berühmter Gelehrter, unter denen Andrea, geb. 1463, und Jacobus, geb.
etwa 1471, eine besondere Stellung einnehmen) vgl. H. D e V o c h t , History of
the Gollegium Trilingue Lovaniense (Louvain 1951—55), I, S. 131, 135 und die
dort aufgeführte Bibliographie. Über die Unterrichtsform des Lateinischen, die
in Köln nadi 1487 von Andrea durchgeführt wurde, vgl. J. J a n s e n n , L'Alle-
magne ä la fin du Moyen Age (Paris 1887), S. 77, und G. K r a f f t , Mittheilungen
aus der Matrikel, Zeitsdirift für Preußische Gesdiichte 5 (1868), S. 468 f. — Zu
Jacobus vgl. einen Beleg (Ubbo Emmius), den B. R y b a in der Einführung zu
seiner Ausgabe des "Rosa Rosensis' von Jacobus bringt: Homo notae impietatis
atque omnis religionis derisor, evangelium de Christo, vitam alteram, corporum
270 Paola Zambelli
nes Caesarius und einer Reihe anderer Humanisten, die er 1520 und
1533 bewundernd zitiert und dem verkalkten, nunmehr gemiedenen
Lehrbetrieb der Universitätsfakultäten entgegenhält''. Es ist nidit not-
ressurrectionem in anilibus fabulis habens, eorum, qui secus crederent stultitiam
scommatis insectans, denique etiam nunc eruditarum litterarum quam bonorum
ac honestorum morum fama apud posteros notior. Die von Jacobus Ganter
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gedrudcten Werke zeigen diesen Zug zur Irreligiosität nidit. Vgl. das Opusculum
vitae et passionis Christi eiusque genitricis Mariae ex revelationibus beatae Bri-
gittae compilatum, et compendiosa legenda eiusdem (Antverpiae 1489), Bl. Iv:
Legant alii sive litteras saeculares, alii sybillas cumanas aut erythraeam laudent.
Tu, Birgittam hanc sybillam haheto atque eius revelationes sedula legito...
Andererseits erblidcte er in Petrarca nicht nur ein stilistisdies, sondern audi ein
moralisdies Vorbild: F. Petrardia, De secreto conflictu curarum suarum (Daven-
triae 1498), Bl. Iv: Est namque in eis quod ad vitam prosit, est etiam quod ad
orationem... ei plurima gratia dehetur qui rem ad ima prope fundamenta
collapsam diligentia sua instauravit. Jacobus Canter war ebenso mit K. Celtis
befreundet (vgl. C e l t i s , Briefwedisel, hrsg. H. R u p p r i c h , Mündien 1934,
S. 79, 309) wie sein Vater Johann mit Trithemius verbunden war. Das Vorwort
zum Werk Bonattis bezeugt Jacobus Glauben an die zukunftsdeutende Fähig-
keit der Astrologie.
" A g r i p p a (Epistolae, II, 60) an Johannes Caesarius aus Köln, 1520 (in
Opera..., II, S. 778 f.): Intellexi hoc mane, colendissime Caesar, quam nequiter
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' ' Idi hoffe, demnädist eine Untersudiung über die „okkulte Philosophie" des
Trithemius vorlegen zu können, über seine Kenntnis gewisser Themen des
Florentinisdien Piatonismus und der französischen Vorreformation sowie über
seine persönlichen Verbindungen mit Germain de Ganay und Charles de Bouel-
les; trotz der verlodcenden Verfügbarkeit von Dokumenten sdieint eine soldie
Studie noch nidit unternommen worden zu sein. Einige Hinweise finden sich bei
L. W. S p i t z , The Religious Renaissance of the German Humanists (Cam-
bridge Mass. 1963), S. 13, 93 f., 163 und The "theologia platonica' in the
Religious Thought of the German Humanists, in: Middle Ages — Renaissance
Volkskunde. Festsdirift J. G. Kunstmann (University of North Carolina Studics
in the Germanic Languages, no. 26, 1959), S. 118—133. Bisher scheinen die
Historiker von einer solchen Untersudiung durch die Schwierigkeit abgehalten
worden zu sein, die die Würdigung seiner magischen Werke bietet, welche we-
niger bekannt sind als seine religiösen und historisdi-gelehrten Werke: neben
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dem 1508 für Kaiser Maximilian geschriebenen "De Septem secundeis', dem
'Liber VIII Quaestionum', dem 'Antipalus Maleficiorum', der 'Polygraphia' und
der 'Steganographia' (die ihm durch Bouelles den Vorwurf der Seiwarzkunst
einbrachte) sind für das Verständnis seines Denkens die magischen Manuskripte
seines Lehrers Libanius Gallus nützlich, der angeblich Schüler eines auf Mallorca
lebenden Einsiedlers angelsädisischer Herkunft war, eines gewissen Pelagio (in
diesem Zusammenhang danke ich F. Secret für einige wertvolle Hinweise, die
ich bei meiner Untersuchung dieses Materials verwenden werde). Sehr nützlich
sind auch die Apologien, die Butzbach zur Verteidigung des Trithemius sdirieb,
nachdem dieser auf die Beschuldigungen hin die Abtei von Sponheim verloren
hatte; aus diesen Sdiriften des höchst bescheidenen Mönchs geht die Kenntnis
etwa der Werke Picos hervor. Bereits H. F e r t i g , Neues aus dem literarischen
Nachlaß des Humanisten J. Butzbadi (Würzburg 1907), S. 70, hatte als stilistische
Vorbilder der 'Apologia ad Johannem Tritemium de lucubratiunculis suis"
(208r und 218^-*), die von ihm veröffentlicht wurde, den Brief Giovanni Picos
an Cortesi und einen Brief von Gianfrancesco sowie Beroaldo, A. Campano und
Battista Mantovano angegeben. Bedeutsamer scheint mir der Bezug, den Butzbach
im 'Macrostroma de laudibus Trithemianis et commendatione philosophica
adversus zoilos et Trithemiomastigas 11. XVP (Ms. Bonn S. 357, f. 91'—92-»^,
93r; S. 358, f. 4"') auf die 'Apologia' und auch die 'Disputationes adversus Astro-
logos' von Pico nimmt. Diese Hinweise auf Pico sind einbezogen, um mit
Nachdruck das gewohnte apologetische Thema der Unterscheidung zwischen
natürlicher und dämonischer Magie zu behandeln, und zwar im Hinblick auf die
Zensoren non intelligentes, nec intelligere volentes eum [Trithemium] de naturali
magia ibi agere, quam non parva intersticio, sicut et doctissimus ille Picus
dudum ab impia et scelesta differre, separari fortissimis rationibus et multorum
testimonio elegantissime edocet. Kam duplicem esse magiam nemo qui ipsius
Pici Apologiam legerit inficiabitur (f. 91'). — Was die platonisdi-florentischen
Lektüren des Trithemius anbelangt, vgl. seine Epistolae (Hagenau 1536), I, 47,
S. 117, wo 1505 Jamblich, Proklos, Porphyrio und Sinesius Erwähnung finden;
cf. au(h I, 48, S. 118 — aus dem Jahre 1505 — wo er Jamblich an Proklos und
den Pseudo-Dionysos annähert (lamblidium... dum lege una cum Proclo suo
conphilosopho profundiusque intueor, non eos sed Ariopagitam Dionysium me
272 Paola Zambelli
legere plerumque invenio); erwähnenswert ist weiter ein Hinweis auf die
translationem nostram Mysticae Theologiae Dionysii cum graeco exemplari,
ibid., I, 14, S. 32. Vgl. darüber hinaus die 'epistola' an Wilhelm Veldicus, zit.
bei P. L e h m a n n , Merkwürdigkeiten des Abtes J. Trithemius, Sitzungsberichte
der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Philos.-Histor. Klasse, Jahrgang 1961,
Heft 2 (München 1961), S. 25: Ficini varias translationes nuper vidi latinas,
Pici Mirandulani excellentissimi viri multa Volumina fulgentissima perlegi.
I. P u s i n o , Ficinos und Picos religiös-philosophische Anschauungen,
Zeitschrift für Kirchengeschichte 44 (1925); ders.. Der Einfluß Picos auf Erasmus,
ebd. 46 (1928); vgl. auch die in Anm. 22 genannten Arbeiten von L. W. S p i t z .
Agrippa von Nettesheim 273
Ebenso zweifelhaft ist, ob sie ohne Vertrautsein mit der Preisung von
littera und simplicitas des Neuen Testaments bei Erasmus und Lef^vre
verfaßt wurden, der letzterer die auf Cusanus zurüdcgehende Verherr-
lidiung des Idiota und der docta ignorantia hinzufügt. Was die generelle
Interpretation der Schrift 'De vanitate' als Ausdrude der Anti-Renaissance
angeht, die Nauert begeistert von Haydn sdion in seinem ersten Aufsatz
von 1957 übernimmt (nicht ohne diesen unbefangen mit widersprüchli-
chen Anleihen bei den Thesen Garins zu durchsetzen"), so ist hier nicht
der Ort für eine Erörterung der prinzipiellen Frage, die unter den For-
schern viel Ratlosigkeit ausgelöst hat. Will man jedoch — und zwar mit
dem Text in der Hand — einen wirklich nützlichen Vergleich zwischen
dieser Art Anti-Enzyklopädie oder skeptisch eingefärbten, mit religiösen
Einschlägen versehenen Globalüberschau über Wissenschaften und Künste,
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Jargon gemahnen will, wie sie die Pamphlete Huttens, den 'Henno rusti-
cus' des Sobius und die 'Epistolae obscurorum virorum' kennzeichnen.
Diese Polemiken hatte der junge Agrippa, wie einigen seiner Briefe zu
entnehmen ist, geschätzt. Zur Verteidigung seines Werkes und seiner
Einstellung gegenüber den Angriffen der Kölner Theologen, die darin
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ihren Kollegen aus Löwen und Paris folgten, hatte Agrippa eine "Quae-
rela' und dann eine 'Apologia' verfaßt, die er zusammen 1533 — sine
loco, jedodi in Köln — veröffentlidite. Darüber hinaus hatte er den
'Dialogus' geschrieben, der anonym gedruckt wurde und ohne typo-
graphische Angaben 1534 herauskam. Wir brauchen uns nicht bei der
höchst sonderbaren und gekünstelten Sprache dieses Textes aufzuhalten,
die von der üblichen Ausdrucisweise der Humanisten und Agrippas
ziemlich weit abweicht: Zu Ausdrücken von Vaganten und pseudo-
scholastischen Wendungen gesellen sich fremdartige Wörter und unge-
wohnte Gräzismen. Die Schreibweise ist gewollt „barbarisch", für viele
der dunkelsten Ausdrüdce jedoch findet sidb der Schlüssel in den 'Adagia'
des Erasmus. Die polemische Verteidigung selbst der humanae litterae
sowie der religiösen Freiheit, die das zentrale Thema des kleinen Dialogs
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ist, beruht sogar auf Texten und Themen der 'Antibarbari', jenes Wer-
kes, in dem Erasmus der Philosophie der Florentiner Humanisten viel-
leicht am nächsten steht.
Nauert, dessen Buch gleichzeitig mit meiner Edition erschien, hat die-
sen Text leider übersehen. Befremdlicherweise hat auch Kuhlow in seiner
zwei Jahre später veröffentlichten Arbeit keinen Bezug auf dieses Doku-
ment genommen, das für seinen Gegenstand von wesentlicher Bedeutung
gewesen wäre. Auf diese Weise wird eine Schrift vernachlässigt, die in
der Liste der Werke Agrippas nicht nur eine abschließende Position ein-
nimmt — sie liegt später als alle seine bekannten Werke und geht
seiner tragischen Flucht und dem Tod im Exil nur um ein Jahr voraus —,
sondern die meines Erachtens auch sehr wichtig für die ausdrücklichen
Überlegungen ist, die die Verteidigung der Magie [naturalis philosophiae
absoluta consummatio, gemäß der klassischen, von Pico übernommenen
Definition) und der Kabbala (für die er sich an die Erfahrung und das
Streitgespräch Reuchlins hält, ihr jedoch, mit Termini der göttlichen
Gnade, eine deutlich religiöse Auslegung gibt) mit der methodologischen
Kritik an den eitlen und hoffärtigen Wissenschaften und Künsten ver-
binden, die vom religiösen Bewußtsein seiner selbst und von der docta
Einführung sowie in dem Aufsatz Humanae literae... (s. Anm. 26) finden sich
die Angaben bezüglich dessen, was auf den folgenden Seiten ausgeführt wird. —
In seiner Rezension hat J. P o I I e t die Zuordnung des 'Dialogus de vanitate'
als vertretbar bezeichnet: Bibliothique d'Humanisme et Renaissance 30 (1969),
S. 414—416.
Agrippa von Nettesheim 275
ignorantia losgelöst sind. Der "Dialogus' erklärt, daß sich in 'De vanitate
declamatio invectiva' nihil in suggillationem bene doctorum procusum
findet. In ihr könne man nur monitionem suadentem et discernentem
erblicken, videlicet ut vere sapiens quisque praeferat scientiam dolentem
et contristantem (qualis ostensa iustis est) sanctorum vane tumenti seu
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^^ Dialogus de vanitate, Bl. Diiiv, in Scritti inediti (s. Anm. 27) S. 283.
Ibid., Bl. Diiiiv, S. 284 f.
" E. C a s s i r e r , Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen-
sdiaft der neueren Zeit (Berlin 1911), S. 192—194.
Opus Epistolarum Erasmi, ed. P. S. Allen 10 (Oxford 1941), Brief 2800,
S. 209—211.
276 Paola Zambelli
(sdion von Prost beachtetes) Problem bei einem Autor, der häufig zeigt
und erklärt, daß er die Art der Datierung je nach den vielen Orten
ändert, von wo aus er zufällig an seine Korrespondenten schreibt.
Der gesamte Briefwechsel Agrippas ist eine ungewöhnlich reiche Hinter-
lassenschaft, erweist sidi jedoch teilweise als rätselvoll, und zwar nicht
nur — natürlich nicht — aufgrund bloßer Datierungsfragen. Der Autor
selbst hat ofiFensiclitlicii Hunderte von Briefen gesammelt, die von den
Erben oder Anhängern in sieben Büchern geordnet und, organisch ge-
gliedert, bis zur ersten Ausgabe weitergereicht wurden, die man fünf-
undvierzig Jahre nach seinem Tod besorgte und die für uns leider immer
noch die einzig sachdienlidie Basis bleibt, da, von glücklichen Wieder-
funden abgesehen, das Corpus der Originalbriefe und alle Manuskript-
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exemplare verloren sind. Nur für eine geringe Anzahl von Briefen be-
sitzen wir die vom Autor selbst betreute Ausgabe, zusammen mit einigen
seiner weniger bedeutenden kleinen Abhandlungen. Bei sehr wenigen
weiteren Briefen verfügen wir über die Abschrift in einem Lyoner Kodex,
der offensichtlich von Agrippa in der Zeit seines Frankreich-Aufenthaltes
vorbereitet wurde und einige seiner Texte enthält, darunter den nicht
edierten 'Dialogus de homine'. In zwei weiteren Fällen schließlich sind
in der Breslauer Bibliothek und dem Archiv von Lille die Originale von
zweien seiner Briefe erhalten. Der eine ist an Erasmus gerichtet und viel-
fach abgedruckt worden; der andere, bis 1965 noch vergessen, ist eine
interessante Denkschrift, die am 22. Februar 1532 von Köln aus an den
Kaiserlichen Grand Conseil von Mecheln gerichtet wurde.
Die Umstände der Bewahrung und Überlieferung dieses Brief-Corpus
sind von der Forschung bisher kaum berührt worden, und nur ein glück-
licher Neufund würde erlauben, hier bis auf den Grund vorzustoßen. Mit
Sicherheit wäre eine kritische Ausgabe der Briefsammlung, die Briefe
an und von Agrippa enthält (meist ohne namentliche Erwähnung der
Korrespondenten, vielleidit, weil der Herausgeber nicht mehr imstande
war, diese anzugeben), in Anbetracht dessen, daß in vielen Fällen man-
cher nicht aus dem Brief-Corpus gestrichene Hinweis erlaubt, sie dennoch
mit Namen zu erschließen, ein äußerst nützliches Instrument, und zwar
nicht nur für die Kenntnis des Werkes und geistigen Weges des Huma-
nisten, sondern auch einer Reihe anderer Personen, die ihm verbunden
waren.
278 Paola Zambelli
Ich gebe die Hoffnung nidit auf, späterhin mit diesem schwierigen, aber
verlockenden Unterfangen zum Ziele zu gelangen: Für den Augenblick
haben mir eine Reihe von Wiederherstellungen der Briefköpfe Material
für das Studium der literarischen und philosophischen Schriften gelie-
f e r t " . Die Briefsammlung ist mit historisch sehr aufschlußreichen Seiten
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aviculam. In diesem Fall wurden sie nodi rechtzeitig des Irrtums gewahr,
zu dem sie ihre Unkenntnis dieses berühmten antiken „Automaten" und
überdies die schweren Vorurteile verführt hatten, die sie seit längerem
gegen Trithemius hegten, der anläßlich eines ähnlichen Werkes, der
'Steganographia', bereits aus der Abtei von Sponheim entlassen worden
war, da er unter der Anklage der Magie stand. Bei anderen Gelegen-
heiten jedoch führte der Irrtum zu allen seinen Konsequenzen: decennale
illud bellum contra Capnionem gesserunt, in quo omnis illorum doctrina,
robur, vires, honor, fama simul pariterque occiderunt; deinde qua in-
foelicitate Erasmum Roterdamum, orbis diristiani lumen, sorditie eorum
commaculare aggressi sunt, et qua nequitia Hermannum comitem Nue-
narium, illustrem et doctissimum virum, persecuti sunt, et qua Univer-
sitatis vestrae iactura Petrum Ravennatem, celeberrimum utriusque iuris
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und klaren Kodex von Interesse ist, sondern audi der Fußnoten wegen,
die z.B. Nauert die Bemerkung hätten ersparen können, daß Agrippa
erst in den Italien-Jahren (1511—1518) zu dem originellen Werk und
den Übersetzungen Ficinos Kontakt fand. Bereits in den ersten Kapiteln
der ersten Niedersdirift des Eingangsbudiies ist die Vorlage klar: Die
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sogar textliche Abhängigkeit von Ficinos 'De vita' ist unbestreitbar. Sdion
H. Meyer hatte in seinen mit Bleistift geschriebenen Randbemerkungen
auf dieses Faktum hingewiesen, das für jeden mit den Texten des
Florentinisdien Piatonismus etwas vertrauten Gelehrten kaum zu über-
sehen ist^'. Daß Nauert kein vertieftes Studium der beiden Niedersdbrif-
ten von 'De occulta philosophia' betrieben hat, verführte ihn dazu, das
Problem der notwendigen Historisierung und inneren Analysen der Texte
zu unterschätzen, die so oft von einem so gewissenhaften Autor wie
Agrippa überarbeitet wurden. Als seine beiden einzigen Dialogsdiriften
wieder ans Tageslicht kamen — ein weiteres Beispiel seiner Sympathie
für ein humanistisches Literatur-Genus —, wurde ersichtlidi, daß sich
Agrippa in dem am Vorabend seines Todes geschriebenen 'Dialogus de
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macht sidi die endgültige Niederschrift die beiden Seiten des 'Dialogus'
in einem der Zusatzkapitel zunutze, genauer gesagt im 36. des Budhes
III, De homine quomodo creatus ad imaginem Dei
Diese Tatsache verdient unter zwei Gesichtspunkten eingehendere Be-
trachtung. Ganz allgemein beweist sie, daß bei einem gebildeten und
stärkstens an der Bearbeitung und Bereidierung seiner Schriften inter-
essierten Autor die Vermutung unangebracht ist, ein Werk, über das
bei vierjähriger Distanz von der Veröffentlidiung im Briefwedisel ge-
sprochen wird, sei talis qualis zum Druck gelangt, wie es der Feder des
Autors im Verlauf der ersten Niederschrift entfloß — einer Niedersdirift,
die Nauert von der Enttäuschung und Wut über die Entlassung beein-
flußt sieht, die Agrippa am Hofe von Lyon traf. Allerdings sieht sich
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derselbe Gelehrte, der (in bezug auf 'De vanitate') die Hypothese einer in
einem Zug niedergeschriebenen, im ganzen unmodifizierten Abfassung
vertritt, gezwungen, in den Anspielungen auf die Scheidung Heinrichs
VIII. einen später als 1526 liegenden Einschub a n z u e r k e n n e n E i n e
solche Beobachtung veranlaßt ihn jedoch nicht, die Hypothese zu akzep-
tieren — die freilich nur im Falle der Wiederauffindung von Manu-
skripten beweisbar wäre —, daß der Text Überarbeitungen und Erwei-
terungen erfahren haben kann, die eben wegen des Kompilations-Charak-
ters eines Gutteils dieser Überschau über Wissensdiaften und Künste sehr
wahrsdieinlidi sind. Der lebhaft-brillante Ton in "De vanitate', der
Nowotny dazu veranlaßte, eine Interpretation zu geben, die in ihr ein
„Fastnaditspiel" sieht, das ganz um ein bukolisdies Ideal zentriert ist,
dem gegenüber alle komplexeren Leistungen der Bildung abgewertet
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werden^', scheint mir umgekehrt ein deutliches Zeichen für die unge-
zwungene Meisterschaft, die Agrippa im humanistischen Genus der
sehr feine Beobachtung). Es ist richtig, daß sich die Übersetzungen in die Volks-
sprache und in eine volkstümliche Form, die S. Franck von 'De vanitate' und
dem 'Encomion morias' vornahm, dieses Kunstgriffs bedienen; ebenso sicher ist
aber auch, daß sich ein so interessanter Übersetzer in religiösem Bereich nicht
ausschließlich von spielerisch-heiteren Absichten leiten läßt. Weder für Franck
noch für Agrippa gibt die Form des Fastnachtsspiels (und natürlich auch die der
declamatio nicht, auf die ich mich eher beziehen möchte) erschöpfend den Inhalt
und die Ideologie wieder. So scheint die Schlußfolgerung Nowotnys zu weit zu
gehen, wenn er sagt (S. 416): „Über einen Skeptizismus bei Agrippa zu reden,
erübrigt sich durch die Erkenntnis, daß De vanitate ein Fastnachtspiel ist." In
der ausgezeichneten Einleitung Nowotnys, die eine generelle Interpretation
Agrippas vorschlägt, kommt eine gewisse Tendenz zur abwertenden Beurteilung
der Sdirift 'De vanitate' zum Ausdruck, und hier liegt m. E. der Grund für ab-
weichende Auffassungen: 1. Er sieht in ihr eine getreue Anlehnung an die
traditionelle Struktur der sieben freien Künste (S. 394); dies scheint mir jedoch
vielmehr auf die historische Kontinuität der Studienpläne der Universitäten
zurückzuführen zu sein, wohingegen die Originalität Agrippas eher in den vielen
Kapiteln liegt, die über diese Tradition hinausgehen und entweder von der
magischen Kultur oder seinem antikonformistischen Studium der Erscheinungen
in Politik, Religion und Gebräuchen geprägt sind; 2. Er vermutet, daß die
Kapitel gegen die Astrologie und vor allem gegen die Magie aus einer „Vor-
sichtsmaßnahme" heraus geschrieben worden seien (S. 394 f.). Mit dieser Hypo-
these steht Nowotny in der Nähe von F. Yates, und dies ist gewiß auch das
schwierigste Problem, das einer Lösung bedarf, wenn man den so häufig er-
örterten Widerspruch zwischen diesen beiden Werken Agrippas beseitigen will.
Ich würde jedoch zögern, eine so „opportunistisch-vorsichtige" Auslegung der
grundlegencien Kapitel von 'De vanitate' zu akzeptieren, weil mich die Ent-
wicklung der magischen Konzeptionen, wie sie das Werk 'De occulta philosophia'
in seinen Niederschriften erkennen läßt, eher geneigt macht, im gesamten Werk
Agrippas die Koexistenz von nicht eindeutigen Positionen zu sehen. Schon die
in der Erstfassung von 'De occ. phil.' formulierte Konzeption ist nicht frei von
Vorbehalten und Doppeldeutigkeiten; vgl. Buch II, Kap. 58 (dann I, 59), Ms.
Würzburg cit., Bl. 82^—83', das die Astrologie und Traumdeutung kritisiert.
Agrippa von Nettesheim 285
declamatio invectiva erlangt hat, und ist nidit als Frudit einer roman-
tisdi-spontanen, reulosen Niedersdirift zu werten. Daß dem Schreiber
Agrippa eine ganz entgegengesetzte Verfjihrensweise eignet, bekräftigen
die Autorenvarianten, die sich audi in jenen Briefen finden, deren
Manuskripte wir kennen, und die so einen Vergleidi mit der posthimi
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gia' und des "Dialogus de vanitate' nähert"), löst sich auf, wenn man
überlegt, daß, im Unterschied zu Ficino, in Picos Entwicklung auf das
jugendliche Bekenntnis zur Naturmagie, das nach dem Zeugnis des
Neffen im Alter widerrufen wurde, nicht nur die Distanzierung von der
Astrologie in den 'Disputationes' folgte sondern vor allem das leiden-
schaftlich religiöse Savonarola-Erlebnis, das dank der Biographie Gianfran-
cescos allen bekannt war Ich möchte nicht weiter auf die Einwände einge-
hen, mit denen mir kürzlich ein Kenner des zweiten Pico, Gh. B. Schmitt,
begegnet ist", bin jedoch weiterhin überzeugt, daß Agrippa auch dessen
Werk kannte. Wiewohl er ihn nicht nennt — gemäß dem damals ge-
läufigen, bei Agrippa systematischen Gebrauch bei Zitaten aus Texten
von Zeitgenossen " —, hat der Kölner Humanist als vorbildlicher Schüler
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Ich möchte hier auf die Bemerkungen zur 'Dehortatio' und zu 'De triplici
ratione cognoscendi Daum' (1518) im Ardiivio di filosofia verweisen, wo das
letztgenannte Werk teilweise ediert und kommentiert ist: Testi umanistici sull'
ermetismo (1955), S. 113—115, Anm. 8; s. auch in Rivista critica di storia della
filosofia 15 (1960), S. 176 f.
" Wir haben bereits gesehen, daß Butzbach im Jahre 1507 die Disputationes
kannte, die in vielen deutschen Bibliotheken jener Zeit vorhanden sind und sehr
großes Interesse hervorrufen. Vgl. darüber hinaus einen Brief des Kölner Weih-
bischofs Theodoricus Wichwaels an Agrippa (1509), in dem er ihn um sein
Urteil über dieses Werk und die Antwort von Lucio Bellanti bittet (Ep. I, 21,
in Opera II, S. 700 f.).
Neben der bekannten Verbreitung der Vita — die für den englischen Be-
reich von S. E. L e h e m b e r g , Sir Thomas More's Life of Pico della Mirandola,
Studies in the Renaissance 3 (l956), S. 61—74, untersucht worden ist, der aber
auch den deutschen Bereich mit erfaßt — kann ein weiterer Vermittler, der die
Aufmerksamkeit auf die letzte religiöse und kritische Erfahrung Giovanni Picos
lenkte, das 'De rerum praenotione' des Neffen gewesen sein, auch er ein Savona-
rolianer. Dieses Werk Gianfrancescos war in der Absicht geschrieben worden,
einen Ersatz für das Buch 'adversus superstitiones' zu schaffen, das vom Onkel
geplant, durch seinen Tod aber unterbrochen worden war: s. De rerum praeno-
tione, 1. IV, Kap. 3; vgl. ibidem, 1. VII, Kap. 2: De multiplici magia et eins
inventoribus, et quid de magia naturali Joannes Picus ad ultimum senserit
.. .in hanc ipsum [loannem Picum] sententiam, naturalem haue esse magiam et
tantopere celebrandam, ad ultimum vitae non perstitisse, in Opera (Basel 1601),
II, S. 314 f., 416—19.
" C. B. S c h m i t t , Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469—1533) and
his critique of Aristotle (The Hague 1967), S. 237—242, Appendix C.
" Vgl. J. B i e l m a n n (s. Anm. 42) S. 319 f.; N o w o t n y , ed., De occulta
philosophia S. 391 schreibt dazu: „Mit der Zitierung von Zeitgenossen war man
damals äußerst vorsichtig und zurückhaltend. Agrippa zitiert bekanntlich Ficino
nicht und Pico sehr selten, auch Reuchlin... erwähnt er nie. Erasmus von Rotter-
dam bat Agrippa in seinen Briefen dringend, ihn um jeden Preis aus dem Spiel
Agrippa von Nettesheim 287
daß er nadi reiflicher Überlegung der Probleme, die sidi ihm erst nadi
den wenigen Tagen der Diskussion mit Trithemius in Würzburg erhellt
hätten, libellum presentem triplici tractatu iuxta tres facultates, quas
magia ipsa complectitur, compendiose perstrictum composuiIn Kap. 1,2
des Würzburger Manuskriptes erklärt er in eher sdiolastisdiem Ton, daß
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reddere quid faciat clamosa tonitrua nubes, unde vel etherea fulmen iaculetur
ab aula, que secreta faces noctu, que causa cometas proferat et tumidas, que
ceca potencia terras concutiat, que sunt auri, que semina ferri totaque nature
vis ingeniosa latentis. Hoc anima naturarum speculatrix phisica complectitur)
et que canit Vergilius:
Unde hominum genus et pecudum, simul imber et ignes [Aen. I, 743]
Unde tremor terris, qua vi maria alta tumescant
Obicibus ruptis rursusque in se ipsa residant [Georg. II, 479—80]
Mathematica vero docet nos planam et in tres porrectam dimensiones naturam
cognoscere motumque ac celestium progressus suspicere, scilicet
Aurea quo celeri rapiantur sidera motu
Quid caligantem modo cogat hebescere lunam
defectusque pati dimisso lumine solem.
Et ut canit Vergilius: Quo circa certis dimensum partibus orbem
per duodena regat mundi sol aureus astra
[Georg. I, 231—32; dann 477—78, 252—56]
... Theologia autem quid Deus ipsa docet, quid mens, quid denique demon,
quid anima, quid religio, quae sacra instituta, ritus, phana, observationes sacra-
que misteria. Instruit quoque de fide, de miraculis, de virtute verborum et
figurarum, de arcanis operationibus et misteriis signaculorum et, ut inquit
Apuleius [Apologia, 25], docet nos rite scire atque callere leges ceremoniarum,
fas sacrorum atque ius religionum. Sed redeam unde digressus sum: has
tres imperiosissimas facultates magia ipsa complectitur, unit atque actuat,
merito ergo ab antiquis summa sanctissimaque sciencia habita est. — Dieser
Absdinitt wird größtenteils in der Endfassung übernommen (s. De occ. phil.,
1,2, in Opera, I, S. 2 f.); beriditigt wird nur philosophia speculativa in philo-
sophia regulativa und doceat in docet-, ausgelassen wird ein Gutteil der Be-
schreibung des Feldes der Physik {quot sunt que rerum — complectitur), die
ja nur die traditionellsten und sdiolastisdisten Fragen dieses Bereidies auf-
zeigte, weldie nidit einmal in der ersten Niedersdirift behandelt worden waren.
Neben dem Verzidit auf eine angemessene Erörterung der Elemententheorie
(die nur unter dem Aspekt der virtutes mirabiles et occultae betraditet wird)
und dem Verzidit auf selbst die Erwähnung der gewohnten Probleme in bezug
Agrippa von Nettesheim 289
die Druckausgabe führt übrigens eine Reihe neuer Kapitel mit einer
wesentlichen Neuaufteilung der Naturmagie ein. Selbst das Incipit des
Werkes in der endgültigen Fassung {Cum triplex sit mundus, elementalis,
coelestis et intellectualis, et quisque inferior a superiori regatur ac suarum
virium suscipiat influxum...) läßt die Formulierung der Kosmologie
des 'Heptaplus' durchklingen Das zweite Kapitel, das in beiden Fas-
sungen in der Substanz ähnlich ist, zeigt bereits 1510 die Kenntnis einer
diarakteristischen Definition aus 'De daemonibus' von Psellos, das von
Ficino übersetzt und von allen Renaissancemagiem benutzt wurde
auf den Ursprung von Welt und Himmel, bezüglidi Gezeiten und Regenbogen,
Donner und Blitz, Kometen und Erdbeben sowie die semina von Gold und
Eisen ist erwähnenswert, daß sidi das Werk audi in der Endfassung nidit
For personal use only.
streng an eine soldi dreiteilige Struktur und die traditionelle Auffassung der
drei Disziplinen halten wird. Ebenso wird auch die Mathematik die Flächen-
und Festkörpergeometrie, die Gesetze der Bewegung und Himmelsbahnen kaum
berühren und sich in einer Zahlemnystik auflösen (unter Auswertung neuer
kabbalistischer Texte); Einstatt das Wesen Gottes, der Seele und des Geistes zu
diskutieren, wird die Theologie von einem ganz besonderen Gesichtspunkt aus
„Riten, heilige Einrichtungen, Mysterien, Glaube und Wunder" betrachten,
und zwar indem sie sie mit der „Kraft der Worte und Figuren, mit den ge-
heimnisvollen Operationen und den Geheimnissen der Zeichen" identifiziert.
Wenngleich grundsätzlich die dreiteilige Struktur beibehalten wird, so be-
gründet das Werk 'De occulta philosophia' von 1533 sie dodi von neuem und
in kohärenterer Weise, wobei jeglidier Versuch einer Übereinkunft mit der
scholastischen Problematik aufgegeben wird.
A g r i p p a , De occulta philosophia, hrsg. Nowotny (s. Anm. 12) S. 423 f.,
903. — Auch N a u e r t , Agrippa and the Crisis S. 264, Anm. 11, erwähnt die
ursprüngliche Einteilung der Magie gemäß den drei Disziplinen (Physik,
Mathematik, Theologie), führt sie allerdings auf Aristoteles zurück, während
doch diese Anordnung, die der Mathematik so viel Raum zugesteht, allenfalls
auf eine neuplatonische Anregung zurückgeführt werden kann; mit Recht hebt er
hervor (vgl. S. 264), daß die angekündigte Struktur in 'De occulta philosophia'
nicht streng befolgt wird, er übertreibt m. E. jedoch mit der Behauptung (S. 263,
Anm. 7), daß das Werk "never particularly tightly organized became more and
more a loose conglomeration as the years went by. The final revision made only
a few half-hearted attempts to correct this structural weakness". Nauert unter-
schätzt die Wichtigkeit dieser strukturellen Veränderungen (im Kap. I, 1 der
Endfassung), da ihm die auf Pico zurückgehende philosophische Bedeutung solcher
Zusätze nicht gegenwärtig ist: Cum triplex sit mundus, elementalis, coelestis et
intellectualis, et quisque inferior a superiori regatur, ac suarum virium suscipiat
influxum..., De occ. phil I, 1, hrsg. Nowotny, S. 1/13. Diese Dreiteilung wendet
Agrippa erstmals im 'Dialogus de homine' an; vgl. Z a m b e 11 i , Rivista critica
13 (s. Anm. 4), S. 60 f.
Vgl. P i c o , Heptaplus, Buch V, Kap. 6—7, in De hominis dignitate,
Heptaplus, De ente et uno, hrsg. E. G a r i n (Florenz 1942), S. 300 f.
290 Paola Zambelli
viele mag uns davon überzeugen. Die Kapitel 1,7 und 1 1 " (dieses
W. 1,5 entsprechend) zitieren die so berühmten Virgilverse: Igneus est
Ollis vigor et coelestis origo / Seminibus, quantum non noxia corpora
tardant. Diese Verse erfreuten sidi besonderer Beliebtheit im 12. Jahr-
hundert, das in ihnen die Idee der anima mundi erkannte bzw. „die
Natur selbst als dynamisches Prinzip, das das Ganze organisch be-
herrscht" Zur Zeit Agrippas waren sie von Reuchlin selbst in einen
sehr bezeichnenden Kontext von "De verbo mirifico' aufgenommen
wichtige Rolle dieses Textes in der natürlichen Magie der Renaissance ausführt.
Allerdings muß idi Nowotny (S. 419) in einem unwesentlichen Punkt berichtigen.
Er glaubt, daß zwei Zitate aus 'Picatrix', die 1510 vorhanden sind, in der Fas-
sung von 1533 nicht erscheinen: Das Kap. II, 10 De imaginibus Veneris (vgl. Ms.
Würzburg, Bl. ir v) wird im Jahre 1533 das Kap. II, 42, und das Kap. III, 1
Prologus docens utilitatem et virtutem religionis (Ms. Bl. 84'-^) bleibt im Kap.
III, 1 von 1533 unverändert.
S. oben Anm. 19.
" Das Kap. I, 11 der Endfassung entspricht dem Kap. I, 5 des Würzburger
Manuskripts (Bl. 7'), während das Kap. I, 7 in der Ausgabe von 1531/1533 ein
Zusatz ist.
«» V e r g i l i u s , Aeneis VI, 730—31. Über das Sdiidtsal dieses Topos im 12.
Jahrhundert vgl. T. G r e g o r y , L'idea della natura, in: La filosofia della natura
nel Medioevo Atti del III Congresso Internazionale di Filosofia medievale (Mai-
land 1966), S. 18, Anm. 55 und die umfangreidie dort angegebene Biblio-
graphie; s. audi d e r s . , Anima mundi (Florenz 1956), Kap. II. Zur Verbreitung
dieser und der unmittelbar vorangehenden Verse vgl. D. P. W a 1 k e r (s. o.
Anm. 10), S. 13 (Ficino betreffend), F. Y a t e s , G. Bruno (s. ebd.), S. 69
(Giordano Bruno betreffend) und R. M o n d o l f o , Filosofi tedeschi (Bologna
1958), S. 32 (ebenfalls zu G. Bruno).
292 Paola Zambelli
Abschließend möchte ich noch einige Kapitel von 'De occulta philoso-
phia' (1,63—65) imd die interessante Kontamination zeitgenössischer
Quellen betrachten, die in ihnen zu beobaditen ist. Es handelt sich um
eine Gruppe von Kapiteln, die die physischen Effekte der Leiden-
schaften erörtern". Diese Kapitel finden im Text der ersten Abfassung
(1,39—42) teilweise Entsprechung, sind jedoch alle mit neuen Beispielen
und philosophischen Überlegungen angereichert, die ihren Sinn ändern
und vertiefen. Sie werden uns behilflich sein, eine Art historisches Ex-
periment in bezug auf den Gebrauch durchzuführen, den Agrippa von
Werken zeitgenössischer Autoren machte (sei es, daß er sie zitierte oder
ohne Angabe der Abhängigkeit ein Plagiat vornahm), ein Experiment
gleichzeitig auch in bezug auf Agrippas Aufmerksamkeit für die ent-
gegengesetzten Lösungen, die zwei Philosophen (Ficino und Pomponazzi)
For personal use only.
für die Probleme der natürlichen und geistigen Magie vorschlugen. Der
Name Pomponazzi wird in der Diskussion über die Renaissance-Magie
zumeist vernachlässigt, weil von den Werken dieses Außenseiters unter
den Padovanischen Aristotelikern das 'De naturalium effectuum admiran-
dorum causis et de incantationibus' am wenigsten untersucht worden ist.
Erst Henri Busson hat den Text wieder ins Blickfeld gerückt, und zwar
™ J. R e u c h 1 i n , De verbo mirifico (Lyon 1551), II, 21, S. 218 f. u. II, 10, S. 141.
' ' Aeneis VI, 725—32 (vgl. audi oben Anm. 69) :
Principio caelum ac terras camposque liquentis
lucentemque globum lunae Titaniaque astra
spiritus intus alit totamque infusa per artus
mens agitat molem et magno se corpore miscet.
Inde hominum pecudumque genus vitaeque volantum
et quae marmoreo fert monstra sub aequore pontus.
Igneus est ollis vigor et caelestis origo
seminibus, quantum non noxia corpora tardant
terrenique hebetant artus moribundaque membra.
Die Verse werden in De occ. phil., II, 55 zitiert, eine Stelle, die schon im Ms.
Würzburg dem Kap. III. 18, BI. 96'-^ entspridit.
« Dieses Kapitel entspridit Kap. III, 18 des Ms. Würzburg, Bl. 96r-v.
" M. F i c i n o , De vita, III, 3, in Opera (Basileae 1576), S. 535; vgl. ibidem,
S. 128 f., 612.
" In der Endfassung sind es die Kapitel 1,62: Quomodo passiones animi mutant
corpus proprium, permutando accidentia et movendo spiritum, I, 63: Quomodo
passiones animi immutant corpus per modum imitationis a similitudine. Item de
transformatione ac translatione hominum et quas vires vis imaginativa non
solum in corpus, sed etiam in animam obtineat, sowie I, 65: Quomodo passione
animi etiam operentur extra se in corpus alienum. Im Ms. Würzburg, Kap. I,
39—42, Bl. 30f—33f.
Agrippa von Nettesheim 293
libri' ab", einem Werk, das auch Pomponazzi benutzt hatte", das in
umfassenderer Weise von Agrippa jedoch dem Text des Rhodiginus
selbst entnommen wurde. In eben diesem Kapitel 1,64 fügt Agrippa
aber (neben einem humanistischen Zitat aus Pontanus) einige Sätze
unzweifelhaft pomponazzianisdier Herkunft hinzu. Wir wollen dabei
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nazzi. Man könnte diese Abhängigkeit mit einer Reihe weiterer Ab-
schnitte und anderer Argumentationen unterstreichen, die Agrippa der
endgültigen Fassung hinzufügte. Sie zeigen sowohl die Lektüre von 'De
incantationibus' als auch die Vertiefung der religiösen Konzeptionen
Agrippas in antikonformistischer Richtung. Aus den ersten Kapiteln des
III. Buches von 'De occulta philosophia' (welches ganz der „religiösen"
bzw. zeremoniellen Magie und der Macht des Gebets bzw. der geistigen
Konzentration gewidmet ist) ließen sich sehr ergötzliche Dokumente
liefern: Unter anderem zeigen sie die Entwicklung der religiösen und
philosophischen Schlußfolgerungen dieses magischen Werkes parallel zu
denen von 'De vanitate'. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß die
Lektüre und das Interesse für Pomponazzis Philosophie, gerade in ihren
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lichkeit verloren hat, befindet sie sich immer mehr in der Gefahr, von der
allgemeinen Geschichtswissenschaft aufgesogen, mehr von Historikern als
von Juristen bearbeitet zu werden und schließlich gänzlich an die Ge-
schichtswissenschaft verlorenzugehen Für manchen in der Praxis tätigen
Juristen mag der Verlust dieser alten juristischen Disziplin vielleicht zu
verschmerzen sein; ob er über eine Kenntnis des alten Rechts verfügt oder
nicht, wird ihm bei der Ausübung seines Berufes — jedenfalls bei der
täglichen Berufsarbeit — ziemlich gleichgültig sein. Nicht gleichgültig wird
allerdings auch ihm die Kenntnis solcher Fakten sein, die der Rechts-
geschichte angehören, dennoch aber für das Verständnis und die Anwen-
dung geltender Rechtsvorschriften von Bedeutung sind. Man braucht nur
an die großen methodischen und dogmatischen Veränderungen zu denken,
die sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der Rechtswissenschaft
abgespielt haben, um zu erkennen, wie notwendig es auch für den prak-
tisch tätigen Juristen ist, sich in der Geschichte des Rechts auszukennen.
Daß auf der anderen Seite diese Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte
der neuesten Zeit nidit dem Historiker überlassen bleiben kann, wird
jedem Juristen ohne weiteres einleuchten. Die Reditsgeschichte dürfte also
auch heute noch — trotz aller Reduktion auf die Beschäftigung mit den
historischen RecJitsformen — nur zum Schaden der Juristen an die Ge-
sdiichtswissenschaft abgegeben werden können.
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Der letzte Nachweis dieser Zugehörigkeit dürfte freilich nicht durch den
Hinweis auf die praktische Verwertbarkeit rechtshistorischer Erkenntnisse
geführt werden können, sondern allein durch eine Besinnung auf den
inneren Zusammenhang der Rechtswissenschaft selbst: durch eine juri-
stische Enzyklopädie. Die juristische Enzyklopädie ist diejenige Darstel-
lungsform der juristischen Literatur, in der die Einheit der Rechtswissen-
schaft demonstriert wird.
Die Aufgabe, der Spezialisierung des Juristen entgegenzuwirken und
den Zusammenhalt der Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin
zu fördern, führt somit notwendig zu einer erneuten Beschäftigung mit
der traditionellen enzyklopädischen Darstellungsweise der Rechtswissen-
schaft. Tatsächlich hat es in der jüngsten Vergangenheit auch einige ver-
einzelte Ansätze gegeben, diese Darstellungsweise zu erneuern und das
For personal use only.
Vincenz von Beauvais. Seit der frühen Neuzeit nimmt die Zahl der enzy-
klopädischen Darstellungen ständig zu. Neben die eigentlidbien Gesamt-
darstellungen des mensdilichen Wissens, die in Aufbau und Zusammen-
stellung nodi immer den mittelalterlidien Vorbildern folgen, treten zu-
nächst die „Wörterbücher", d. h. alphabetische Zusammenstellungen von
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schrieben hat, auf einer Reise von Mainz nach Nürnberg verfaßt, um sich
mit ihr dem Kurfürsten von Mainz für dessen geplante Reform des Cor-
pus iuris civilis zu empfehlen. Sie entstand zu einem Zeitpunkt, als Leib-
niz sein juristisches Studium abgeschlossen hatte und an der Universität
von Altdorf zum Doktor beider Rechte promoviert worden war. Zugleich
fällt ihre Entstehung in eine Epoche der Geistesgeschichte, die durch die
Wendung zur streng rationalen Begründung der menschlichen Erkenntnis
in sämtlichen Bereichen des menschlichen Wissens geprägt ist. Beide Um-
stände spielen für das Verständnis der Gedanken, die Leibniz in seiner
„Nova methodus" entwickelt hat, eine nicht zu unterschätzende Rolle
' Über die versdiiedenen Versuche einer systematischen Ordnung innerhalb der
Jurisprudenz vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g I 1, S. 424 £f. Über die huma-
nistischen Versudie einer juristisdien Studienreform ebd. S. 139 ff. Vgl. auch
F. W i e a c k e r , Gründer und Bewahrer (1959) S. 44 ff., S. 58 f.
»» Vgl. dazu S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , III 1 (1898) S. 23 ff., bes. S. 24/25;
ferner G. v. H a r t m a n n , Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph (in: Festgabe
f. R. V. Ihering 1892) S. 16ff., bes. S. 20ff.; E. H e y m a n n , Leibniz als Jurist
(1927); ders. Leibniz' Plan einer juristischen Studienreform vom Jahre 1667;
zuletzt Hans-Peter S c h n e i d e r , Plan einer Jurisprudentia Rationalis bei Leib-
niz, Arch. f. Rechts- und Sozialphilosophie 52 (1966) S. 553 mit weiterer Literatur.
Vgl. auch W. R a b i t z , Einleitung zur Akademieausgabe, VI 1, S. X I X f f . ;
W. D i l t h e y , Gesammelte Sdiriften 3 (2. Aufl. 1959) S. 1 ff., insbesondere
S. 25 ff. sowie H.-P. S c h n e i d e r , Justitia universalis (1967) S. 46 ff.
" S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 1, S. 11 ff. vor allem S. 13 ff; ferner
E. W o l f , Große Reditsdenker der deutschen Geistesgesdiidite (MgeS) S. 311 ff.;
W. S c h ö n f e l d , Grundlegung der Rechtswissensdiaft (1951) S. 313ff.
Benutzt ist im folgenden die Akademieausgabe VI 1, hrsg. von W. R a b i t z .
Ältere Abdrucke der „Nova methodus" bei D u t e n s IV 3, S. 217 ff., ferner eine
Ausgabe von Christian W o l f f (Lips. et Hai. 1748).
302 Arno Busdimann
" L e i b n i z , Praefatio.
" Vgl. zu diesem Vorgang vor allem S c h ö n f e l d (s. Anm. 11). Über die
philosophisdien Aspekte vgl. H. H e i m s o e t h , Die Methode der Erkenntnis bei
Descartes und Leibniz (1912) I, S. 17 ff., ferner K. J a s p e r s , Descartes und die
Philosophie (1956) S. 32 ff.
'' Über den juristischen Studienplan vgl. vor allem E. H e y m a n n , Leibniz'
Plan einer juristischen Studienreform S. 7 ff.
" Über Weigel vgl. H. T h i e m e , Die Zeit des späten Naturredits, ZRG
Germ. Abt. 56 (1936), S. 222 mit weiteren Nachweisen. Thieme weist darauf hin,
daß Weigels mathematische Methode ihren Ursprung nicht in den Lehren Des-
cartes' hat, sondern letztlich in denen des Euklid und Aristoteles. Diese Tatsadie
dürfte auch entscheidend gewesen sein für den geringen Widerhall, den Weigels
Lehren gefunden haben.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 303
beginnt Leibniz nicht mit einer Bestimmung des Begriffs des Rechts oder
der Jurisprudenz, sondern des Begriffs des Studiums als solchem. Studium,
sagt Leibniz, ist seinem Wesen nach die Erreichung eines Zustandes der
Vernunft, d. h. die Erlangung des Vermögens, vernunftgemäß zu han-
deln". Das System des Studiums, die Einteilung der verschiedenen Ge-
genstände, auf die sich das Studium bezieht, kann sich demnach für Leib-
niz nicht aus dem traditionellen Schema der sieben freien Künste, der
„artes liberales" ergeben. System und Gegenstände des Studiums er-
geben sich für Leibniz vielmehr allein aus dem Vermögen der Vernunft
selbst^. Das Vermögen der Vernunft ist die Grundlage, auf die sich die
gesamte Materie des Studiums letztlich zurückführen läßt. Allerdings bil-
det es für Leibniz keineswegs eine festgefügte Einheit; es gliedert sich
vielmehr — und hierin folgt Leibniz ganz der Argumentation Bacon's —
For personal use only.
in drei verschiedene Vermögen, die alle zusammen erst das Wesen der
Vernunft ausmachen, nämlich das Erinnerungsvermögen, „memoria" ge-
nannt, das Erfindungsvermögen, als „inventio" bezeichnet, und das Ur-
teilsvermögen, das Leibniz „iudicium" nennt". Für das System des Stu-
diums folgt daraus, daß an der Spitze allen Studiums eine Lehre stehen
muß, deren Ziel die Ausbildung dieser drei Vernunftvermögen bildet.
Als diese Lehre wiederum erkennt Leibniz die traditionelle Didaktik,
deren Inhalt entsprechend den verschiedenen Vermögen der Vernunft aus
drei verschiedenen Teillehren besteht, nämlich der Gedächtnislehre,
„mnemonica", der Erfindungslehre, „topica", und der Urteilslehre, die als
„analytica" bezeichnet wird^^
Auch die weitere Einteilung folgt für Leibniz allein aus dem Vermögen
der Vernunft. Sie ergibt sich allerdings nicht aus den einzelnen Grund-
den Inhalt des gesamten positiven Rechts Allerdings liegt das Haupt-
gewicht für Leibniz nicht so sehr auf dem Inhalt, sondern vielmehr auf
der Art und Weise, wie dieser Inhalt vorgetragen wird: auf dem System.
Dieses System der didaktischen Jurisprudenz kann nach seiner Ansicht
nicht das System des römischen Rechts — das Institutionen- oder das
Pandektensystem — sein"". Auch dieses System kann sich vielmehr nur
aus dem Begriff der Jurisprudenz selbst, und das bedeutet letztlich, aus
dem Vermögen der Vernunft selbst e r g e b e n A u s ihm sollen sich daher
nadb Leibniz' Ansicht die Begriffe herleiten, die für die Einteilung des
Rechts überhaupt von grundlegender Bedeutung sind, die Begriffe von
Recht und Pflicht, von Rechtssubjekt xmd Rechtsobjekt, von Rechts-
geschäft, Klage usw.
For personal use only.
der exegetischen Jurisprudenz ist die Methode, mit deren Hilfe die Vor-
stellungen ermittelt werden, die den Vorschriften des geschriebenen Rechts
zugrundeliegen, mit anderen Worten, die traditionelle juristische Aus-
legungskunst, die Hermeneutik". Auch für ihre Einteilung kann es nach
Leibniz' Ansicht nidit auf die traditionellen Gesichtspunkte ankommen,
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sondern allein auf die Aspekte, von denen bereits bei der Einteilung der
übrigen Teildisziplinen ausgegangen worden ist. Ausgangspunkt kann
demnach auch hier nur der Begriff der Auslegung selbst sein. Rein be-
grifflich sind zwei Arten zu unterscheiden: die Exegese und die Inter-
pretation. Die Exegese bezieht sich unmittelbar auf den Text; sie ver-
sucht, die Vorstellungen zu ermitteln, die einer einzelnen Textstelle zu-
grundeliegen. Die Interpretation hingegen hat es nicht nur mit einer
einzelnen Textstelle zu tun, sondern vielmehr mit der Verknüpfung ver-
schiedener Textstellen zu einem einheitlichen Ganzen. Die Exegese ist
demnach für Leibniz juristische Philologie, d. h. die Anwendung der
traditionellen philologischen Disziplinen wie Grammatik, Rhetorik,
Dialektik usw. auf die Bearbeitung einer juristischen Textstelle, die Inter-
pretation dagegen eine systematische Beschäftigung, deren letztes Ziel die
For personal use only.
Rechtsgesdiidite. Auch hier existierte bereits vor Leibniz eine Art Uni-
versalgeschichte der Rechte, ohne daß allerdings eine Unterscheidung
zwischen innerer und äußerer Geschichte des Rechts gemacht worden wäre.
Selbst die Einteilung in die didaktische, historische, exegetische und pole-
mische Jurisprudenz stammt nicht ursprünglich von Leibniz. Leibniz über-
nahm sie von der zeitgenössischen Theologie, mit der er während seines
Studiums — dem Brauch der Zeit entsprechend, der keine strenge Tren-
nung des Studienganges vorsah — in Berührung gekommen war®®. Ent-
scheidend ist vielmehr nur eines: das umfassende, auf das Vermögen der
Vernunft gegründete System der gesamten juristischen Disziplinen.
Leibniz' Gedanken haben erst verhältnismäßig spät in der Jurisprudenz
Beachtung gefunden. Wie viele seiner Anregungen, so sind auch seine
For personal use only.
»» Ebd. II § 2, S. 293.
^ Über W o l f f vgl. vor allem M. W u n d t , Die deutsche Sdiulphilosophie
im Zeitalter der Aufklärung («1964) S. 122ff., ferner H. S c h ö f f l e r , Deutsches
Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung ('1956) S. 184 ff. Die beste
Quelle für die Kenntnis seines Werdegangs ist die von W u 11 k e herausgegebene
Lebensbeschreibung Christian Wolffs, ferner G o t t s c h e d s HistorisÄe Lob-
sdirift (Halle 1755). Über Wolffs Rolle in der Gesdiichte der Rechtswissenschaft
vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 1, S. 198, ferner H. T h i e m e , ZRG Germ.
Abt. 56 (1936) S. 224 mit weiterer Literatur, außerdem S c h ö n f e l d (wie
Anm. 11) S. 344 ff.
" Vgl. vor allem Philosophia practica universalis (Lips. 1738) Praefatio.
" lus naturae et gentium methodo scientifica pertractum (8 Bde. 1740—49).
308 Arno Busdimann
Nettelbladt allein der Begriff, und zwar der Begriff der Jurisprudenz des
positiven Redits. Jurisprudenz des positiven Redits, sagt Nettelbladt, ist
diejenige positive Wissensdiaft, d. h. diejenige Wissenschaft von gege-
benen Gegenständen, die sidi mit der Erkenntnis der vom Menschen
begründeten Redite und Pfliditen b e f a ß t F ü r die Abgrenzung kommt es
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demnach nicht auf die Beschaffenheit der Wissenschaft als solcher an, nicht
— wie bei Leibniz — auf die Art der Vorstellungen, mit denen sie es zu
tun hat, sondern allein auf die begriffliche Erkenntnis des Gegenstandes,
auf den sie sich bezieht
Der Begriff der vom Menschen begründeten Rechte und Pfliditen bildet
jedoch für Nettelbladt nicht nur das Kriterium der Abgrenzung. Er ist
vielmehr zugleich die Grundlage für die systematische Einteilung^. Alle
Rechte und Pflichten, sagt Nettelbladt, können begrifflich unter zwei
Gesichtspunkten erfaßt werden, einem theoretischen und einem praktischen.
Die gesamte Jurisprudenz des positiven Rechts muß demnach allererst in
zwei Teile eingeteilt werden, einen theoretischen und einen praktischen
Teil. Diese beiden Teile sind jedoch für Nettelbladt keineswegs gleich-
For personal use only.
wertig; der bei weitem wichtigere ist für ihn der theoretische Teil: er
bildet die Grundlage für den praktischen^». Alle Rechte und Pflichten
müssen ferner nach dem logischen Geltungsbereich ihres Begriffs in allge-
meine und besondere eingeteilt werden. Für die Einteilung der Juris-
prudenz ergibt sich daraus, daß sie außer einem theoretischen und einem
praktischen Teil auch noch einen allgemeinen und einen besonderen Teil
enthalten muß. Alle Rechte und Pflichten lassen sidi außerdem unter-
scheiden nach den verschiedenen Beziehungen der Personen, auf die sie
sich jeweils richten, Beziehungen, die durch Gleichordnung, durch Über-
und Unterordnung und Zusammenschluß gekennzeichnet sind. Alle Rechte
und Pflichten müssen daher für Nettelbladt notwendig in private, öffent-
liche und solche der Völker untereinander eingeteilt werden®".
Schließlich setzen alle Rechte und Pflichten, die vom Menschen begründet
sind, noch einen wichtigen Umstand voraus: die Existenz eines Gemein-
wesens, innerhalb dessen diese Rechte und Pflichten gelten. Ein weiterer
Teil der Jurisprudenz ist demnach das Recht des jeweiligen Gemeinwesens.
Die Eigenschaften, die dieses Recht aufzuweisen hat, lassen sich freilich
für Nettelbladt nicht aus rein rationalen Gründen ableiten, also nidit rein
begrifflich bestimmen. Sie beruhen vielmehr allein auf den — logisch
gesehen — willkürlichen Ereignissen der Geschichte. Zur Jurisprudenz des
« Ebd. § 4, S. 4.
« Ebd. § 2, S. 3/4.
« Ebd. § 12, S. 7.
" Ebd. § 11, S. 6/7.
" Ebd. § 12, S. 7.
310 Arno Busdunann
positiven Redits muß daher audi die Erkenntnis der Gesdiidite hinzu-
geredinet werden. Das gilt speziell für die Jurisprudenz des in Deutsch-
land geltenden positiven Rechts. Ohne die Erkenntnis der geschiditlichen
Entwicklung des deutschen Reiches und der in ihm geltenden Rechte und
Pflichten sei, so sagt Nettelbladt, eine wirkliche Erkenntnis aller dort
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prudenz ist nicht mehr die Wissenschaft des Rechts in allen tatsächlichen
und vorgestellten Fällen, sondern allein die Erkenntnis sämtlicher vom
Menschen begründeten Rechte und Pflichten. Das System der Jurisprudenz
ist demnach letztlich auch nicht ein System dieser Rechte und Pflichten als
solcher, sondern ihrer Erkenntnis, ihrer Begriffe®^.
Nettelbladts „Systema" hat zunächst, wie die meisten Werke seines Ver-
fassers, großen Einfluß gehabt. Seine Methode und seine Einteilung ist für
viele ähnliche Darstellungen des 18. Jahrhunderts Vorbild und Maßstab
gewesen. Seine Wirkung reichte freilich nur so lange, wie auch seine
Grundlage, die Lehre Wolff's, allgemein anerkannt war. Mit dem Vor-
dringen des Empirismus, also derjenigen philosophischen Richtung, der-
zufolge alle Erkenntnis nicht auf das bloße Vermögen der Vernunft, son-
dern vielmehr auf die Erfahrung zurückzuführen ist, insbesondere mit der
allmählichen Hinwendung zum Geschichtlichen, mußte auch Nettelbladts
Darstellung an Bedeutung verlieren. Was ehedem ihre besonderen Vor-
züge ausgemacht hatte, war im Licht der neuen Richtung Verirrung und
Encyclopädie und Methologie" aus dem Jahre 1 7 6 7 " " . In ihm findet
sich zum ersten Mal der Entwurf eines rationalen Systems der empirischen
Tatsachen des Rechts und der Jurisprudenz, d. h. der Tatsachen der juristi-
schen Erfahrung.
Wie Leibniz' Schrift und auch Nettelbladts „Systema", so wird man
freilich auch Pütter's Darstellimg kaum richtig verstehen und einordnen
können, wenn man nicht die Umstände betrachtet, unter denen es zustande-
gekommen ist. Nach Pütter's eigenen Angaben ist es aus Vorlesungen
entstanden, die Pütter in Göttingen über die „Lehrart" des juristischen
Studiums gehalten hat — Vorlesungen, die übrigens im Göttingen des
18. Jahrhunderts keineswegs eine Novität darstellten. Zugleich fällt Püt-
ter's Werk in eine Epoche der allgemeinen Geistes- und Wissenschafts-
For personal use only.
geschichte, die vor allem durch das grandiose, alles Wissen der Zeit
erfassen wollende Unternehmen der großen französischen Enzyklopädie
gekeimzeichnet ist. Beides hat in Pütter's Werk deutlich seine Spuren
hinterlassen".
Entsprechend dem Zwedc der Vorlesungen, aus denen diese Enzyklopä-
die hervorgegangen ist, enthält Pütter's „Versuch" zunächst eine Einfüh-
rung in das Studium und die Methode der Jurisprudenz im allgemeinen.
Entscheidend freilich ist nicht dieser pädagogische Teil, sondern allein das
System der Jurisprudenz, vornehmlich der Jurisprudenz des positiven
Rechts, das Pütter entwirft. Als Vorbild dieses Systems dient nicht mehr
das rein rationale System der Wolff'schen Schule, wie es in Nettelbladts
Darstellung verwendet worden war, sondern das System, oder besser, die
systematische Grundkonzeption der französischen Enzyklopädie. Es ist die
Idee, daß alle Wissenschaften, alle wissenschaftlichen Disziplinen und alle
Künste in einem geschlossenen logischen und historischen Zusammenhang
stehen und sidi daher in einer Art „Genealogie", einem „Stammbaum",
^ Vgl. zu dieser Wendung von der deduktiven zur empirischen Methode vor
allem H. T h i e m e , ZRG Germ. Abt. 56 (1936) S. 230ff. mit weiterer Literatur.
" Vgl. zur Göttinger Historischen Schule vor allem W . D i 11 h e y , Gesam-
melte Sdiriften 3 (®1959) S. 261 ff., ferner die zu Unrecht wenig beachtete Schrift
von C. A n t o n i , Der Kampf wider die Vernunft (1951) S. 159ff. Eine eigent-
liche Geschichte der Göttinger Historisdien Schule ist noch nicht geschrieben.
« Vgl. dazu S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , III 1, S. 237, ferner C. A n t o n i
aaO. S. 180 ff. Letzterer vor allem zur Stellung Pütters im Rahmen der Göttinger
Sdiule und den sich daraus ergebenden Folgerungen für die von ihm befolgte
Methode.
®® Über die französische Enzyklopädie vgl. F. S c h a l k , Die Einleitung in die
9 Ardiiv für Kulturgesdiiditc 51/2
312 Arno Buschmann
also einem aus der inneren Verwandtsdiaft selbst folgenden System zu-
sammenhängend darstellen l a s s e n A u s g a n g s p u n k t ist demnach für Pütter
auch nicht der Begriff der Jurisprudenz oder gar der Begriff des Studiums;
Ausgangspunkt ist vielmehr der Begriff eben dieser Enzyklopädie selbst.
Enzyklopädie, sagt Pütter, ist diejenige wissenschaftliche Disziplin, die sidi
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lichen Merkmalen. Es folgt vielmehr allein aus der Beschaffenheit der tat-
sächlichen Entstehungsgründe, d. h. der Quellen, aus denen diese Rechte
und Verbindlichkeiten hervorgehen.
Widitigste Quelle aller Rechte und Verbindlichkeiten ist für Pütter
zunächst die göttliche Gewalt. Sie ist die Grundlage für den Begriff der
Verbindlichkeit und damit für die allgemeine Unterscheidung zwischen
Recht und Unrecht überhaupt®". Eine weitere Quelle ist die menschliche
Vernunft, die dem Mensdien die Einsicht in die Notwendigkeit des
menschlichen Daseins ermöglicht und vor allem die Erkenntnis der Ab-
hängigkeit von Gott vermittelt'^. Eine Quelle ist auch die göttliche Offen-
barung als sinnfälliger Ausdruck des göttlichen Willens und schließlich,
als die praktisch wichtigste, das auf der menschlichen Willensäußerung,
der „Willkür" beruhende Gesetz
Auch die weitere Einteilung der Jurisprudenz folgt für Pütter nicht aus
rein logischen Gründen, sondern ebenfalls aus der Verschiedenheit der
den besonderen Bedingungen des Staates Eine Quelle ist auch der Ge-
sellschaf tsver trag, auf dem für Pütter dieser Staat b e r u h t D i e letzte und
entscheidende Quelle schließlich ist für Pütter das positive Recht aller
Völker, Zeiten und Landschaften, d. h. das positive Recht im universal-
historischen Sinne, insbesondere das positive Recht in Deutschland"'^.
Im Ergebnis besteht Pütter's System der Jurisprudenz daher aus folgen-
der „Genealogie" der juristischen Gegenstände: Göttliches Recht, Natur-
recht, Allgemeines positives Recht, Besonderes positives Redit, ins-
besondere positives Recht in Deutschland — sämtlich aufgegliedert nach
Privatrecht, Staatsrecht und Völkerrecht.
Auch von Pütter's „Versuch" gilt somit, was schon vorher von Leibniz'
Schrift und Nettelbladts Darstellung galt, nämlich daß auch in ihm der
For personal use only.
Einteilung ist die Verbindung der bis dahin völlig getrennten Materien
der „historia iuris", d. h. der juristischen Quellengesdiidite, und der
„antiquitates", der Rechtsaltertümer, d. h. der systematischen Zusammen-
stellung der historischen Rechtsinstitute in einer einzigen Darstellung".
Auf einem ähnlichen Gedanken beruht auch Gustav Hugos juristische
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Recht bezogen, gleichsam als deren einleitender Teil gedacht ist, fällt dem-
gegenüber nicht ins Gewicht.
Mit Hugos Enzyklopädie beginnt diejenige Phase in der enzyklopädi-
schen Bewegung, die durch die Wirkung der Historischen Rechtsschule
gekennzeichnet ist". Von den Häuptern dieser Schule ist uns freilich kein
" Über R e i t e m e i e r s Bedeutung für die Geschichte der Rechtswissenschaft
vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , III 1, S. 498.
« Über Hugo ebd. III 2 (1910) S. 1 ff.; F. E i c h e n g r ü n , Die Reditsphilo-
sophie Gustav Hugos (1935) zuletzt A. B u s c h m a n n , Ursprung und Grund-
lagen der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Diss. jur. 1963) und W. E b e l ,
Gustav Hugo, Professor in Göttingen (1966). Über den „Civilistischen Cursus"
vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , S. 25 sowie B u s c h m a n n , S. 154 ff.
™ Lehrbudi eines civilistischen Cursus, Erster Band, Lehrbuch der juristischen
Encyclopädie, hier benutzt in der 7. Aufl. 1820, § 36, S. 45 ff.
S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , S. 45, der allerdings betont, daß mit Hugo
nicht eigentlich die Historische Reditsschule beginne, sondern die moderne histo-
risdi-empirische Rechtswissenschaft — so Landsberg — überhaupt. Die These
dürfte zutreffen, wenn auch hervorgehoben werden muß, daß die meisten der
Lehren, die später der Historischen Rechtsschule, insbesondere Savigny, zuge-
schrieben worden sind, bei Hugo bereits vorhanden und ausgesprochen waren.
Was Hugo fehlt, ist der Glanz der Darstellung und das Vermögen, seine Ideen
in den großen und umfassenden Zusammenhang einer Theorie zu bringen. Die
Ansätze, die sich zu Beginn seiner akademischen Laufbahn zeigen, waren zu
schwach. Zu den Lehren der Historisdien Rechtsschule vgl. E. R o t h a c k e r ,
Einleitung in die Geisteswissenschaften (^1932) S. 37 ff., ders. Mensch und Ge-
schichte (1950) S. 9ff. Über Savignys Rolle uncl seine Lehren vgl. S t i n t z i n g -
L a n d s b e r g III 2, S. 186ff., ferner E. W o l f , Große Reditsdenker der deut-
schen Geistesgeschichte ('1963), S. 464 ff. mit Nachweis sämtlicher Literatur sowie
F. W i e a c k e r , Privatreditsgesdiidite der Neuzeit (n967), S. 381 ff. Eine
zusammenfassende Darstellung der Historisdien Rechtsschule ist noch nicht ge-
schrieben.
316 Arno Busdimann
W a r n k ö n i g , aaO. Vorwort.
" Über Pütter vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 2, S. 648 f.
" P ü 11 e r , aaO. Vorwort S. V passim.
™ Ebd. S. VII.
'» Ebd. S. VIII ff.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 317
Merkels Werk mag unsere Übersicht über die wichtigsten unter den
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von WolffA.vonSchmidt
Die Bewegungen des Sturm und Drang und der Romantik sind Peri-
oden, die in der deutsdien Literaturgesdiidhtssdireibung sdiarf ausein-
andergehalten werden; aber jeder, der sidi genauer mit diesen Strömun-
gen befaßt, ist erstaunt über die vielen Zusammenhänge und ideellen
Gemeinsamkeiten, die zwisdien ihnen bestehen. Eine Untersuchung der
persönlichen Beziehungen zwisdien dem Führer des Sturm und Drang, Jo-
hann Gottfried Herder, und dem Vater der romantischen Literaturtheorie,
Friedridi Schlegel, stellt einen Beitrag dar, der die Verwandtschaft dieser
beiden Epochen noch deutlicher hervorhebt.
Es läßt sich nicht eindeutig feststellen, wann Friedrich Schlegel mit dem
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Herderschen Werke zum ersten Mal bekannt wurde, jedoch gibt das erste
schriftliche Urteil, das der neunzehnjährige Friedrich Schlegel über Herder
ablegt, den Eindrudc, daß dies in der Göttinger Zeit geschah und durch
den Bruder August Wilhelm angeregt wurde, mit dem er auch in den fol-
genden Jahren häufig über Herder korrespondierte. A m 4. Juni 1791
schreibt Friedrich Schlegel an seinen Bruder den folgenden sehr aufschluß-
reichen Kommentar':
— So eben diesen Morgen laß ich eins Deiner Lieblingsbücher. Herders Pla-
stik — ich glaube seinen Charakter itzt mehr zu verstehen wie in Göttingen — es
hat mich vergnügt mich in sein Wesen zu versetzen — und gewiß ist es das
s e i n e s t e seiner Werke um mich eines Ausdrucks von ihm zu bedienen. Sehr
zart und fein ist sein Sinn, aber auch empfindlich und verletzbar durch das
kleinste. Seine Sprache ist wie eine blumenreiche Wiese und wenn sie sich erhebt
wie der Regenbogen. In der Plastik ist sie sehr bilderreich und ich glaube orien-
talisch; es fügt sich in einander wie ein Blumenstrauß. — Es fehlt ihm g a n z an
Kraft zum Wiederstande; seine Klagen quälen mich noch widerlicher wie die des
Rousseau. Aechte Schönheit muß sich als Siegerin über das Schicksal zeigen. —
Aber für das Schöne ist Herder zu zärtlich und das Erhabene gar das würde ihn
niederdrücken. — Eine kleine Stelle für Dich wegen Herabsetzung der Land-
schaften „die Tafel der Schöpfung schildern ist Ihnen unedel; als ob nicht Him-
mel und Erde besser wäre und mehr auf sich hätte, als ein Krüppel, der zwischen
ihnen schleicht, und dessen Konterfeyung mit Gewalt e i n z i g e würdige Mah-
lerey sein soll." Einige seiner Klaglieder sind Dir zu nahe geworden; sie zer-
stören die Ruhe und lähmen den Muth.
' Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, hrsg. von
O. W a l z e l (Berlin 1890), S. 3. Das Zitat ist in J. G. Herder, Sämmtlidie
Werke, hrsg. von B. S u p h a n (Berlin 1877—1913), Bd. 8, S. 17 zu finden.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Herder und Fr. Schlegel 319
Hier ist nidit der Ort, August Wilhelm Schlegels Stellung zur Landschafts-
malerei zu diskutierenFriedrich Schlegels ausführliche Stellungnahme zu
Herders Persönlichkeit und seinem Werk zeigt aber das Verhältnis dieser bei-
den großen Gestalten in klaren Worten auf, und es wird interessant sein,
zu beobachten, daß sich dieses Verhältnis in den folgenden Jahren prin-
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zipiell nidit ändert. Sdion in diesem Brief läßt sidi eine eigenartige Kom-
bination von Bewunderung und Kritik feststellen. Wie es typisch für
Friedrich Schlegel ist, interessiert ihn zuerst der Mensch Herder, dann
sein Werk, deim nur durch den Menschen kaim man das Werk verstehen:
„Es ist etwas Großes, den Menschen nicht nach seinen baren Thaten, son-
dern nach seinem innern Leben wägen zu können; nur der Weise vermag
e s " I n einem Brief vom 20. Mai 1791 scheint es Friedrich Schlegel un-
bewußt gelungen zu sein, das was Herder fehlt, zu beschreiben: „Der
Zweck der Kunst ist die Schönheit des Lebens hervorzubringen, und das
bewirkt sie auch. Wenn aber ein Mann mit sich selbst oder mit der Welt
noch nicht ganz in Übereinstimmung ist, so fehlt es dazu an Kraft, und sie
weckt grade das Gegentheil, die Harmonie eines Augenblickes macht die
beständigen Dissonanzen fühlbarer; man erliegt desto mehr unter der Last
For personal use only.
der Alltäglichkeit"
Jedoch auch Herder hat unbewußt, wie Enders feststellt®, in seinem
Essay „Liebe und Selbstheit" (1785) ein Urteil über Friedrich Schlegel ab-
gelegt, welches dessen Schwäche zeigt: „Die ganze Schöpfung mit Liebe
zu umfassen, klingt schön; aber vom Einzelnen, dem Nächsten fängt man
an: und wer dies nicht tief, irmig, ganz liebet: wie sollte er, was entfernt
ist, was aus einem fremden Gestirn nur schwache Stralen auf ihn herab-
wirft, lieben können? — so, daß es auch nur den Namen der Liebe ver-
diente. Die allgemeinsten Cosmopoliten sind meistens die dürftigsten
Bettler: sie die das ganze Weltall mit Liebe umfassen, lieben meistens
nichts, als ihr enges S e l b s t " W i l h e l m von Humboldt scheint diese ge-
wisse Gefühlskälte Friedrich Schlegels in einem Brief an Jacobi zu be-
stätigen, wenn er nadi dem Erscheinen von Friedrich Schlegels Woldemar-
Rezension feststellt, daß dessen gehässige Art auf der Manier beruhe,
immer den ganzen Menschen zu rezensieren, da es ihm an der nötigen
Ehrfurcht vor dem Objekt mangele
Wenn diese zwei Urteile geredit sind, ist es kein Wunder, daß das Ver-
hältnis von Herder und Friedridi Sdilegel nie sehr warm war. Für Fried-
ridi Schlegel war Herder zu „empfindlidi und verletzbar durdi das
kleinste", während für Herder die Gefühlskälte Friedrich Schlegels ab-
stoßend war. Trotzdem hat Friedrich Schlegel schon früh die meisten der
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Herdersdben Werke studiert und aus ihnen gelernt; in den „Ideen" findet
er „viel vortreffliches" ® und seinem Bruder August Wilhelm schlägt er
vor, das von Herder aufgestellte Programm eines „Winckelmannes der
Poesie" in die Tat umzusetzen». Am 4. Juli 1792 spricht Friedridi Schlegel
seine Gedanken über den gerade erschienenen vierten Band der „Zer-
streuten Blätter" von Herder aus und zeigt wiederum große Bewunderung
und Kritik zur gleichen Zeit: Er „enthält persische Sittensprüche, die mir
gleichgültig waren; schöne Gedanken einiger Bramanen, eine gute Ab-
handlung über Sakontala, und über die stille Unsterblichkeit, die durch
Thätigkeit zum Guten, Schönen und Wahren erreicht wird; und einige
herrliche Gedanken über das Schicksal so vieler sich selbst zu überleben.
Herder wandelt dießmal oft oben im Aether; er nimmt allmählig die er-
For personal use only.
habene Ruhe eines Bramanen an. Aber mit dieser erhabenen Geberde sagt
er über große Dinge nicht selten etwas geringfügiges"
Im Juni 1793 klassifiziert Friedrich Schlegel einige große Geister seiner
Zeit: „. . . idb habe den Geist einiger großen Männer, vielleicht nicht ganz
ohne Erfolg, zu ergründen gesucht als Kant, Klopstock, Göthe, Hemster-
huys, Spinosa, Schiller; andrer von weniger Bedeutung nicht zu erwähnen,
Herder, Plattner etc." Wenn auch Herder nur in der zweiten Gruppe
großer Autoren erwähnt wird, ist doch die Tatsache, daß sein Name in
diesem Zusammenhang überhaupt fällt, ein Beweis dafür, daß Friedrich
Schlegel sich in den neunziger Jahren intensiv mit Herder beschäftigt hat
und zu dieser Zeit seine Kenntnisse des Herderschen Werkes erwarb. Ein
halbes Jahr später stellt er, wieder halb bewundernd und halb ablehnend,
über Herders Altertumsforschungen fest: „Herder vereinigt Kentniß und
Sinn; hat aber doch dafür nicht viel gegeben" Ein paar Wochen dar-
auf, am 11. Dezember 1793, erwähnt Friedrich Schlegel ihn wieder in
demselben zweideutigen Licht: „In Herder finde ich großen Geschmack,
aber er scheint mir nur errungen, wiewohl nicht so mühsam wie bey
Moritz" Zu jedem Lob fügt er einen Tadel hinzu, was ein paar Jahre
später, als Herder einmal aufmerksam auf ihn wird, zu einem sehr ge-
spannten Verhältnis führen muß, wie dies auch in der Beziehung zwischen
sehr positiven Urteil: „Unter andern habe ich den gestrigen Tag, da idb
midi sehr übel befand, mich an Herders kritischen Wäldern gelabt. Das
Polemische des Werks ist nicht wiedrig und verleiht der Weichheit seines
Styls mehr Kraft, als sonst irgendwo" Im November schlägt er seinem
Bruder vor, nacli Jena zu ziehen. „Für alle Deine litterariscien Unter-
suchungen wärest Du am rechten Orte; . . . Du findest dort Humbold. Du
hast Weimar ganz in der Nähe, also Herder und G ö t h e " E s mag Zu-
fall sein, daß Herder hier vor Goethe gestellt wird, aber daß beide in
einem Zuge genannt werden, zeugt dafür, daß Friedridi Sdilegel Herder
jetzt höher einschätzt als je zuvor.
Friedridi Schlegel sieht es jetzt sogar gern, daß der Bruder sidi einiges
von Herders Stil aneignet: „Dein Styl war immer frisch und flüßig, iezt
For personal use only.
heißt es: „Ich bitte Dich, sobald als möglich, das übrige vom Inferno an
mich zu schicken, weil Schiller schon mehreremale deshalb gebeten. . . . Her-
hat es in einem Billet an Schiller sehr gelobt, und ersucht, falls Sein Name
etwas bey Dir vermöchte. Dich um die Fortsetzung zu bitten" Natürlich
steht Friedrich Schlegel erst an der Schwelle seiner schriftstellerischen Kar-
riere und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Herder auf ihn aufmerksam
werden muß.
Inzwischen beschäftigt er sich weiter mit dem Herderschen Werk, wie
seine Korrespondenz zeigt. Am 28. April schreibt er: „Von Herder ist im
Meßkatalog eine T e r p s i c h o r e angekündigt auf die ich sehr begierig
bin" und am 31. Juli heißt es in einem Brief: „Im 5ten und 6ten Bande
der Humanität wirst Du sehr vortreffliche Sachen finden über alte Kunst
und altes Publikum" Es handelt sich hier um den 5. und 6. Band von
For personal use only.
Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität", die Ostern 1795 er-
schienen und deren 7. und 8. Band von Friedrich Schlegel im folgenden
Jahr rezensiert wurden. Bei diesen letzten Zitaten ist von Wichtigkeit,
daß es nicht mehr August Wilhelm ist, der den Bruder auf Herdersche
Neuerscheinungen aufmerksam macht, sondern daß ein umgekehrtes Ver-
hältnis besteht, woraus wiederum zu schließen ist, daß zu jener Zeit Fried-
rich Schlegels Interesse an den Gedanken Herders sehr groß gewesen ist.
Ein Brief vom 23. Dezember desselben Jahres stellt einen Wendepunkt
dar, denn hier deutet Friedrich Schlegel an, daß er Herder einen Band mit
dem Titel „Grundriß einer Geschichte der Griechischen Poesie", sobald
dieser geschrieben und gedruckt ist, zusenden will". Er fühlt sich jetzt
also sicher genug, dem älteren Meister etwas zur Kritik vorzulegen, stu-
diert aber immer noch alles, was dieser zu sagen hat, um davon zu pro-
fitieren. In den Anmerkungen zu seinem Essay „Vom Wert des Studiums
der Griechen und Römer" (1795—96) bezieht er sich zweimal sehr positiv
auf Herder: „Wie H e r d e r in dem reichhaltigen klassischen Werk
[,Ideen'], auf welches Deutschland stolz sein darf; alle ähnliche Werke, der
Ausländer vornehmlich, erscheinen dagegen wie geringe Vorarbeiten"
An einer anderen Stelle dieses Essays sagt er: „Vortreffliche Gedanken
" Ebd., S. 213; Schiller hat dieses Billett später an A. W. Sdilegel gesdiidtt,
siehe S. 220.
Ebd., S. 215. Ebd., S. 231. «4 Ebd., S. 246.
August Wilhelm und Friedrich Schlegel in Auswahl, hrsg. von 0 . W a 1 z e 1,
Reihe: Deutsdie National-Litteratur (Stuttgart 1892), Bd. 143, S. 255*.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Herder und Fr. Schlegel 323
Ebd., S. 267».
" Fr. Sdilegels Briefe, S. 250.
» H. H ü f f e r (wie Anm. 14), S. 206.
Friedridi S c h l e g e l , Kritisdie Ausgabe [ = FSKA], hrsg. von E. B e h 1 e r
(Paderborn 1958 ff.), Bd. II, S. cvi.
>» Fr. Sdilegels Briefe, S. 250. " FSKA, Bd. II, S. cvi. Ebd., S. 4 f.
324 WolJf A. von Sdunidt
zukommen ließe; sie käme mir sehr gelegen. Und auch Sie würden sichs
gefallen lassen, wenn er Ihnen gegen Ihre ,in Unordnung gebrachte Ein-
bildungskraft' etwas verschriebe. Leider aber hält er das letzte, wahr-
scheinlich auch das erste Übel für ganz u n h e i l b a r . Und da kann uns
denn auch (allen Musen seys geklagt) seine schöne G r i e c h h e i t nicht hel-
fen." Nicht nur zeigt dieser Brief, daß Friedrich Schlegel aus dem ihm
vielleicht wohlwollenden Lehrer einen ihm gegenüber zynisch-arroganten
Feind gemacht hat, sondern H. Hüffer stellt riditigt fest, daß Herder sehr
wahrscheinlich auch Schiller gegen Friedrich Schlegel mit diesem Brief
beeinflußt habe".
Von diesem Moment an muß Friedrich Schlegel Herder gegenüber nicht
mehr vorsichtig und zurückhaltend sein, er kann jetzt ehrlich sagen, was
er denkt. Es ist daher keine Überraschung, daß er in einer Rezension der
For personal use only.
„Hören" (1796, elftes Stüde) ein Gedicht mit dem Titel „Die Trösterin-
nen", welches anonym von Herder veröffentlicht wurde, als „unklar" ab-
tut Auch hier besteht natürlich die Möglichkeit, daß Friedrich Schlegel
nicht wußte, wer der Autor war, aber er war sich zweifellos bewußt, daß
Herder der Autor sein könne, denn er war, wie schon einige Male gezeigt
wurde, ein großer Kenner des Herderschen Werkes.
In das Jahr 1796 fällt auch Friedrich Schlegels Rezension der Herder-
schen „Briefe zur Beförderung der Humanität" (7. und 8. Sammlung).
Hierzu seien zwei Dinge erwähnt, und zwar zunächst, daß Hans Eichner
sehr überzeugend die Frage der Urheberschaft beantwortet hat, die von
Haym, Minor und Josef Kömer aufgeworfen wurde. Es scheint, wenn
man sich an Eichners Belege hält, „völlig sicher, daß Friedridi Schlegel
die Rezension geschrieben h a t " d e n n es finden sich darin viele Gedan-
ken, die in dessen späteren Schriften wiederkehren. Zweitens erscheint
Kobersteins Behauptung überzeugend", daß Herder sich in der achten
Sammlung hauptsächlich auf Friedrich Schlegel bezieht, wenn er über die
Kritik nach der Zeit Lessings sagt: „Laß es seyn, daß zuweilen unbärtige
Jünglinge denen, von denen sie gelernt hatten, das Kinn rasiren, um doch
auch an ihnen berühmt zu werden; jeder honette Mann, der da sieht, wie
mit seinem Nachbar gehandelt wird und wer also handelt, wird sich all-
mählich aus diesen anonymischen Becken-Stuben zurückziehen, und so thut
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auch hier die Zeit ihr Werk; sie übt scharfe Kritik an der Kritik der Zei-
ten" »8.
Herders persönliche Bekanntschaft machte Friedrich Schlegel durch C. A.
Böttigers Vermittlung Ende September 1796 in W e i m a r A m 3. Oktober
schreibt Friedrich Schlegel an Böttiger: „Ich kann diesen Brief an Sie,
theuerster Freund, nicht auf die Post geben, ohne Ihnen für alles Gute
und Liebe, was Sie uns in W. erwiesen, herzlich zu danken. H. Pr. Herder
bitte ich mich u. mein[en] Br[uder] aufs angelegentlichste zu empfehlen"
Es ist nichts weiter über dieses Treffen bekannt, aber es hat das Verhältnis
zwischen Herder und Friedrich Schlegel zeitweilig, zumindest an der
Oberfläche, etwas verbessert, was sich aus dem nächsten Brief an Böttiger
vom 21. Oktober zeigt, wo es heißt: „H. Hofr. Wieland bitte ich recht
For personal use only.
zeigen wollen, wenn er es wagte, Herder, den er sdion einige Male kri-
tisiert hatte, seine erste große Sdirift zur Beurteilung vorzulegen. Er er-
wähnt Herder einmal in dem Essay „Über das Studium der griediisdien
Poesie", und was er hier schreibt, gehört zu dem Sdiönsten, was je über
Herder gesagt worden ist: „Herder . . ., welcher die umfassendste Kennt-
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niß mit dem zartesten Gefühl und der biegsamsten Empfänglichkeit ver-
einigt, und durdi eine besondre Gabe geschichtlicher Divination, tief füh-
lender Charakteristik und künstlerisch auffassender, alles nachdiciitender,
in jeglidie Weise und Form sich hineinempfindender Fantsisie den ersten
Grund gelegt und die Züge vorgezeichnet hat, zu der neuern Art von
Kritik, welche als die eigenthümlichste Frucht der deutschen Geistes-
bildung und Wissenschaft, aus beiden gemeinsam hervorgegangen ist."
Man muß hier allerdings erwähnen, daß der größte Teil dieser Bewer-
tung erst im Jahre 1823 für die „Sämmtlichen Werke" von Friedrich
Schlegel hinzugefügt wurde
Friedrich Schlegel tritt Herder von jetzt ab als Ebenbürtiger gegenüber,
dies zeigt sicäi besonders an einem Brief vom 11. Mai 1797, wiederum an
Böttiger: „In dem ,Lyceum der schönen Künste', welches diese Messe bey
For personal use only.
Unger erscheint, werde ich nun etwas emsthafter in jedem Stück auf-
treten. Im ersten Hefte bitte ich Sie einen Aufsatz über Forster nicht zu
übersehn. Vielleicht liest ihn auch Herder. Es hat midi immer sehr ge-
freut, dass H. ohngeachtet des allgemeinen Bannfluchs, Fs. zuweilen in vol-
len Ehren gedacht hat" Auch im „Lyceum" erschien Friedrich Schlegels
Studie „Über Lessing", in der er sich besonders auf Herders Essay „Les-
sing" (1781) bezieht, wenn er sagt": „Die Nähe einer so glänzenden Er-
scheinung blendet auch sonst starke Augen, selbst bei leidenschaftsloser
Beobachtung. . . . Der erste Eindruck literarischer Erscheinungen aber ist
nicht bloß unbestimmt: er ist auch selten reine Wirkung der Sache selbst,
sondern gemeinschaftliches Resultat vieler mitwirkenden Einflüsse und zu-
sammentreffenden Umstände. Dennoch pflegt man ihn ganz auf die Rech-
nung des Autors zu setzen, wodurch dieser nicht selten in ein durchaus
falsches Licht gestellt wird." Herder ist einer „der achtungswürdigsten
Veteranen der deutschen Literatur, . . . welche gleich im ersten Schmerz
über seinen Verlust schrieben" und daher viele wesentliche Dokumente
entbehren'®. In der zweiten Fassung dieser Lessing-Studie, die allerdings
erst 1801 veröffentlicht wurde, ist Friedrich Schlegel Herder gegenüber
äußerst zynisch; er spricht dort von den „harmonisch Platten, jene wür-
wir, daß der Zynismus das Höchste ist, wonach man zu streben hat"
Friedrich Schlegel beschäftigt sich auch noch weiter mit der Lyrik Her-
ders, wie die Rezensionen des Musenalmanachs 1797 verraten. Es heißt
dort zum Beispiel über ein von Herder anonym veröffentlichtes Gedicht:
„Es war kaum möglich einige im VIL imd VIIL Bande der Herderschen
,Briefe zur Befördenmg der Humanität' vorgetragene Gedanken über
Reim, Verstand und Dichtkunst sinnreicher und reizender zu dramatisieren,
als in folgendem Gedichte, von V." Oder er sagt über ein anderes ano-
nymes Gedicht von Herder: „Die ,Gefälligkeit', ein reizendes Gedicht von
0., besitzt selbst in hohem Grade die Eigenschaft, von der es benannt
ist"
Es besteht gar kein Zweifel, daß Friedrich Schlegel in dieser Periode
For personal use only.
stark unter dem Einfluß von Herder steht®®, obwohl er immer wieder ver-
sucht, seine eigenen Gedanken von denen Herders zu differenzieren. Wie
ihm dies gelingt, und wie er aber doch immer wieder auf Herder zurück-
kommt, soll hier an Hand einiger Zitate aus dem Jahre 1797 gezeigt wer-
den: „Bei Herder ist der synthetische Klumpen seines Geistes zu Wasser
geworden" — „Herder schrieb anfangs zäh, voll und klümpricht. Aber
er hat sich aus einander geschrieben und mittelst der Auflösung in Was-
ser sich selber v e r d e r b e t " — „ H e r d e r ist der vornehmste aller Volks-
dichter. Er hat bei der nothwendigen Regression der Deutschen auf alle
Elemente der P[oesie] soviel Verdienst um Naturpoesie, wie Klopstodc
um Sprache und deutsche Dichtung überhaupt, Goethe um Kunst, Schiller
um das Ideal"®®. — „ S i n n ist Herders dominirende Eigenheit. Was ist
nun eigentlich das Männliche was ihm fehlt, die Schärfe, das Salz? — Erst
fehlt ihm Philos[ophie] und damit Alles. Aber auch Praxis fehlt ihm
und damit auch P r o d u c t i o n s k r a f t " ® ' . — „Herders Liebe für die
Ebd., S. 107»; siehe auch S. xxix«.
" Jean Paul und Herder, hrsg. von P. S t a p f (Bern und Mündien 1959), S. 27.
FSKA, Bd. II, S. 31.
Ebd., S. 32; siehe audi S. 55.
»® FSKA, Bd. XVIII, S. xxi £f.
Friedridi Sdilegel, Literary Notebooks 1797—1801, hrsg. von H. E i c h n e r
(London 1957), Nr. 59.
®' Ebd. Nr. 133.
" Ebd., Nr. 136.
®» Ebd., Nr. 183; siehe audi Nrn. 148, 157, 626 und 1112; und FSKA,
Bd. XVIII, S. 198 und S. 219 (aus dem Jahr 1798).
10 Ardiiv für Kulturgesdiichte 51/2
328 Wolff A. von Sdimidt
Alten ist wohl mehr Interesse an Cultur überhaupt, sie mag progressiv
oder klassisch oder selbst barbarisch oder auch ganz kindisch seyn. (Uebri-
gens Studium, Glaube, Gewohnheit, etwas Kunstgefühl, aber kein Sinn
fürs Klassische.)"'® — „Polyhistor und Litterator ist noch sehr verschie-
den. Herders Verdienst um Naturpoesie und Naturmensdiheit überhaupt
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das Wichtigste"
Audi Herder, dem die kunsttheoretischen und diditerischen Tendenzen
der Romantik immer mehr widersprachen und dessen Verhältnis zu Goethe
in dieser Zeit sehr gespannt war, kritisiert Friedrich Schlegel jetzt ganz
offen und recht scharf. Am 1. Dezember 1797 schreibt er an Jacobi: „Was
sagst Du, außer der französischen und Kantschen zur dritten großen Re-
volution, der Friedrich SchlegelscJien? Hinfort ist zwar kein Gott mehr,
aber ein Formidol ohn' allen Stoff, ein Mittler zwischen dem Ungott und
den Menschen, der Mensch Wolfgang [Goethe]"
Das Erscheinen des „Athenäums" (1798) führte, wie in so vielen an-
deren Verhältnissen, zu einer grimmigen Feindschaft zwischen Herder
und Friedrich Schlegel, obwohl Herder selbst nirgends von einem der bei-
den Schlegel angegriffen, sondern hauptsächlich (und das erst später) von
For personal use only.
Der wohl gehässigste Brief Herders über Friedrich Sdilegel stammt vom
Dezember 1798. Er ist an Jacobi geriditet und bezieht sidi auf Friedrich
Sdilegels Rezension des „ W o l d e m a r " „ D e n S(h...knedit Friedridi
Schlegel oder Flegel vergiß ganz und gar; warum muß er mit Dir und
Richter [Jean Paul] einen Vornamen führen? Aber eben dieser Vorname
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sage Dir Friede. Vergib ihm; er wusste wahrhaftig nicht, was er that. Man
hat mir gesagt, daß er Deine Werke mit dem größten Entzüdcen gelesen
und sich immer tiefer hineingelesen, bis er Dir zur Dankbarkeit die Re-
cension herausquoll. Du siehst also, er ist am Tage der unschuldigen Kind-
lein geboren; diese und die Narren können nicht sündigen, eben weil sie
Kinder und Narren sind."
Am 18. Januar 1799 schreibt Herder wieder einen verärgerten Brief an
Gleim: „Im ,Athenaeum', ,Lyceum' u. f. kommt ein ander Geschlecht auf.
Wir wollen ihm aber nicht aus dem Wege gehen, sondern uns gerade
hinstellen. So lange wir leben, sind wir auch da"*'. Aber schon drei
Monate später scheint er des Streites müde zu sein und sieht ein, daß eine
neue Zeit gekommen ist. So schreibt er am 18. April an Eschenburg:: „Wir
gehören dünkt mich, nodi zu Einer Zeit, in Eine Welt und Region des
For personal use only.
Geschmacks in der Literatur; die neue Welt ist eine a n d r e " H e r d e r , der
selbst dreißig Jahre früher der Führer einer geistigen Bewegung gewesen
war, erkennt das Heranwachsen der Romantiker an, aber leider nur für
kurze Zeit, dann kämpft er weiter, um seine intellektuelle Führerposition
aufred tzuerhalten. Eigentlich hat Herder bis zu seinem Tode 1803, von
kurzfristigen Ausnahmen abgesehen, den Kampf nie ganz aufgegeben;
immer wieder wollte er zeigen, daß er auch noch etwas zu sagen hatte.
Vom Frühjahr 1799 ab bis zum Herbst 1800 dreht sich in dem Ver-
hältnis zwischen Herder und Friedrich Schlegel alles um die Herdersche
„Metakritik" (1799). Friedrich Schlegel erwähnt sie zuerst in einem Brief
an seinen Bruder August Wilhelm: „Nimm doch Notiz von einem philo-
sophischen Buch von Herder, welches ich im Meßcatalog finde. Das wäre
etwas für die Notizen, . . ." Es sind hier die „Notizen" im „Athenäum"
gemeint, die ja dann auch, von Bemhardi geschrieben, erschienen. Im Mai
erwähnt er die „Metakritik" noch einmal in einem Brief ein seinen Bruder
August Wilhelm und dessen Gattin Caroline: „Was den Herder betrifft,
so wünschte ich nur provisorisch Nachricht von Euch, wie es sey, ob. Ich
dachte, er fiele Euch wohl eher in die Hände. Ich möchte nicht gern kau-
fen, wenn ich nicht vorher weiß, daß es sich der Mühe lohnt" Friedrich
«» Koberstein, Bd. IV, S. 836^® f.
Von und an Herder (s. Anm. 65), Bd. I, S. 251.
„Briefe an EsAenburg«, ALG (1885), Bd. XIII, S. 512.
Friedridi Sdilegels Briefe, S. 417 f.
" Caroline. Briefe aus der Frühromantik, hrsg. von E. S c h m i d t (Leipzig
1913), Bd. I, S. 542.
10»
330 Wolff A. von Sdimidt
Wenn Du eine Notiz über Herder geben könntest, das wäre herrlich; grade
am Herder können wir am besten zeigen, daß wir uns nidit fürditen und daß der
Herzog uns nidits verboten hat. — Also sein ,Gott' wird Dir hiermit in noxam
übergeben. Ob eine Kritik seiner diristlidien Sdiriften im Athenäum an ihrem
Ort stehen würde, kannst Du selbst besser beurtheilen als wir. Ist es Dir Ernst
mit Deinem Eifer für den Teufel, so gieb Adit, ob aus Bernhardi's Notiz über die
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doch diese gut genug, und einiges darin ist sehr gut"
Es ist nicht weiter überraschend, daß Herder und seine Anhänger jetzt
leider auch sehr subjektiv über Friedridi Schlegel und seine Gruppe ur-
teilen. Zum Beispiel schickt Caroline Herder das im Jahre 1799 erschie-
nene Taschenbuch „Diogenes' Laterne", welches unter anderen Friedrich
Schlegel in boshaftester Weise angriff, im April 1800 mit dem folgenden
Kommentar an Jean Paul: „Hier ist die Latern mit dem ausgeblasnen
Licht, das stinkt"'*. Herder selbst antwortet auf die Attacken seiner
Gegner in der „Kalligone" (1800) s®:
Die strengere Ahndung gegen den Misbrauch der Kritik übe die Kritik selbst,
der die Ehre ihrer Kunst Werth ist. Indem sie sich der Mitgenossenschaft mit
Halbkennern und Muthwilligen entzieht und sie als eine unehrbare Gesellschaft
verachtet, fühlend den Verderb, der Jünglingen auf ihre Lebenszeit zuwächst,
wenn sie Kritiker werden, da sie noch lernen sollten, und sich deßhalb oben auf
dem Parnassus wähnen, überlässt sie die, Kraft der kritischen Philosophie, unter
jedem Lehrstuhl ausgebrüteten Nester voll junger Habichte*, die ohn' alle Be-
griffe und Kenntnisse kritisch richten, ihrer eignen Ignoranz und Arroganz und
Insolenz u. f. Scheuend entzieht jeder Edle sich einer Decke, unter welche Namen-
los und Benahmt so manches Unreine sich streckt; und es wird eine Zeit kommen,
da die Nation selbst sich jeder unwissenden, unanständigen. Regellosen Kritik als
eines ihr zugefügten Schimpfs schämet.
Ebd., S. 149. 8» Ebd., S. 176; siehe audi Friedridi Sdilegels Briefe, S. 430.
" Jean Paul und Herder (wie Amn. 52), S. 70.
Suphan, Bd. XXII, S. 223 f.
* There is an aiery of children, little eyases, that cry out on the top of que-
stion, and are most tyrannically clapt for it; these are now the fashion etc.
H a m l e t (11,2).
332 Wolff A. von Sdimidt
Dies ist wohl das erste Mal, daß Herder rücksichtslos und in aller
Öffentlichkeit gegen die Romantiker, und zwar besonders gegen Friedrich
Schlegel vorgeht, was allerdings nach dem Journal „Deutschland", dem
„Lyceum" und dem „Athenäimi" " mit ihren jeweiligen Kritiken an Her-
der und seinen Freunden keine Überraschung ist. Die Romantiker aller-
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wenn es auch nur bloße Rache wäre, die Böttiger gegen ein Stück des
Herrn Schlegel, das nach dem Ausspruch aller gesunden Welt verhunzt ist,
hätte nehmen können. . . . Genug hievon! . . . Lasse mjins gehn, wies
geht! Unsere häusliche Ruhe ist nun freilich das Beste." Auch der Roman
„Lucinde" hat bei Herder, wie zu erwarten, nur negative Reaktionen her-
vorgerufen. Caroline Herder schreibt im April 1802 ziemlich entrüstet an
Jean Paul und seine Gattin: „Thieriot wird Ihnen sagen, daß ich mich
über den Lucindianismus gegen ihn herausgelassen habe. Ich behaupte
nämlich, daß durch diese schamlose Lüsternheit die Liebe zernichtet wird,
und wenn uns diese zerstört wird, so hätten wir unser süßestes Glück des
Lebens verloren"
Während Friedridi Schlegel sich bis 1807 kaum noch auf Herder be-
zieht", schreibt dieser noch kurz vor seinem Tode in der „Adrastea"
(5. Band. 1803) sein letztes Wort, ohne jedoch Namen zu nennen: „Unter
Kritik verstand man im Anfcinge des vergangenen Jahrhunderts noch
etwas anders, als zu Ende desselben ein bekannter Haufe darunter ver-
stehen wollte" Herder läßt keinen Zweifel, wo seine Sympathien liegen
und wer mit dem „Haufen" gemeint ist'®:
Am Ende des verfloßnen Jahrhunderts sollte es anders werden. Von der neuen
kritisdien Philosophie hatte die ganze Vorwelt nichts gewußt; dies setzte man,
unbekümmert über das, was der oder jener Aeltere denn etwa auch gewußt, ge-
sagt oder gemeinet habe. Vielmehr setzte die neue Kritik, was er gesagt haben
sollte, und zwar in ihrer eignen neuen Sprache: denn jede andre und die ver-
ständlidie Sprache der Alten ward für populär, d. i. für untauglich erkläret. Rein
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schreiben mußte man gar nicht; sondern mystisch, barbarisdi. Die Zeit dieses
Despotismus scholastisdier Unwissenheit ist vorüber; mich dünkt, wir kehren zur
altern Kritik zurück, . . .
Im Juli 1807, also beinahe vier Jahre nadi Herders Tod, erwähnt Fried-
ridi Sdilegel Herder wieder einmal in einem Brief an seinen Bruder
August Wilhelm; er ist jetzt wieder in der Lage, objektiver zu urteilen:
„Bei Gelegenheit der Indischen Arbeit habe ich auch Herders theologisch-
orientalische Sachen wiedergelesen; trotz vieler Schwäche in Kenntniß und
Einsicht ist doch schöne Ahnung darin und mitunter herrlich geschrieben;
das beste gewiß oder vielleicht das einzige Gute was er je gemacht. Aber
auch ein trauriges Beispiel, wie tief der [sidi] selbst überlassene Geist sin-
ken kann, wenn man seine letzten Lebensjahre dagegen h ä l t " F r i e d r i c h
Schlegel meint mit den „theologisch-orientalischen Sadien" die „Älteste
For personal use only.
und Weisheit der Indier" (1808) bemerkt Friedrich Schlegel in einer Fuß-
note im Zusammenhang mit der Geschidite der orientalischen Völker:
„Herrliche Winke darüber finden sich in Herders .ältester Urkunde des
Menschengeschlechts'. Nur daß ich jeden trüben Strom entarteter Mystik
nicht so unmittelbar aus dem reinen Quell göttlicher Offenbarung herleiten
möchte. Sonst aber weht die Fülle des orientalischen Geistes in diesem
Werke, wie in mehren der frühen theologischen Schriften Herders"
Im „österreichischen Beobachter" (1810) nennt er Herder und Lessing
„zwei der vorzüglichsten deutschen Kritiker", die durch Winckelmann ge-
weckt wurden'"®, während er allerdings im Januar 1813 in einem Brief
an den Bruder August Wilhelm behauptet, daß Hamann „ein beßrer Kri-
tiker wie Herder" gewesen wäre. Im „Deutschen Museum" (1812) stellt
er dann kategorisch fest, djiß es Herder war, „der zuerst ein Ganzes der
Fantasie nachfühlend zu fassen, und dieß Gefühl in Worten auszuspre-
chen wußte" Friedrich Schlegels Interesse an Herder ist zu jener Zeit
so groß, daß er unter anderem einige „noch ungedruckte Autographe" von
Herder veröffentlichte
Sorgfalt für Reinheit und Richtigkeit der Spradbe" fehlte. „Dies gilt selbst
von Herder und Johannes Müller, an umfassender Kenntnis den reichsten,
durch mannigfaltige Übung den gewandtesten jener Epoche" Das Ur-
teil, das Friedrich Schlegel zu jener Zeit über Herder abgibt, ist nicht
mehr von persönlichen Differenzen überschattet und zeigt, was zu Anfang
behauptet wurde, daß nämlich Friedrich Schlegel in seinem Verhältnis zu
Herder eine seltsame Kombination von Bewunderung und Kritik auf-
weist
In der Philosophie der Geschidite ist eben dieser Sinn für das Poetisdie in dem
Charakter der Sage einer Nation, die Gabe sich in ihre individuelle Denk- und
Lebensweise zu versetzen, was Herdern eigentümlich auszeidinet; selbst als Theo-
loge war es die Poesie der Hebräer, die ihn am meisten anzog. Man könnte ihn
den Mythologen unsrer Literatur nennen, wegen dieses allgemeinen Sinnes für
For personal use only.
Poesie, dieser Gabe, die alte Sage zu empfinden, sidi in alle Gestalten und Her-
vorbringungen der Fantasie mitempfindend zu versetzen, die selbst einen hohen
Grad von Fantasie voraussetzt. Nur kritisdie Genauigkeit oder philosophische
und religiöse Tiefe darf man von diesem an Geist, Gefühl und Fantasie reidien,
aber seiner Naturanlage nadi durchaus nur ästhetischen Denker nidit erwarten.
Die Untersuchung der historischen Bezüge zwischen Herder und Fried-
rich Schlegel hat ergeben, daß ihr Verhältnis zu einander durch verschie-
dene Stadien gegangen ist und sich durchaus nicht in ein einseitiges
Schema wechselseitiger Bewunderung oder Ablehnung zwängen läßt. Für
Friedrich Schlegel gilt, daß er sich von einer ersten distanzierten Beschäf-
tigung mit Herder, über ein polemisdies Absetzen von ihm während der
eigentlichen romantischen Periode, bis zu einer objektiven Würdigung
seines großen Anregers durchgerungen hat. Diese Entwicklung erfolgt
neben den erwähnten persönlichen Gründen auch aus Friedrich Schlegels
eigener Wendung einer literarischen Haltung zu, die der romantischen
Literaturauffassung im allgemein europäischen Sinne und somit der Her-
derschen näher steht.
' Das hier gemeinte „Sendschreiben an Friedrich Wilhelm III." ist abgedruckt
in „Schriften von Friedrich von Gentz", ed. G. S c h l e s i e r (5 Bde. Mannheim
1836-1838) II, S. 12—32.
« Carl J. B u r c k h a r d t , Gestalten und Mädite (Mündien 1941) S. 207.
' Aus dem Nachlasse Varnhagens von Ense. Tagebücher von Friedrich von
Gentz, ed. Ludmilla A s s i n g (4 Bde. Leipzig 1873—1874) I, 1: „Durdi Gar-
lidte ein Schreiben von Lord Grenville, nebst einem Geschenk von 500 L.St. —
das erste dieser Art! — erhalten." Eintragung vom 1. Juni 1800.
* Vgl. dazu Gentz' Schreiben an Czartoryski vom 22. Juni 1806, in dem er
bemerkt: «Je n'ai jamais 6te, comme on le croit partout en Europe, pensionne
par le Gouvernement Anglais; je n'ai jamais eu avec ce gouvernement un
engagement quelconque. Mais il est vrai, et j e l'avoue avec plaisir, qu'il m'a
accord6 de temps-en-temps, librement et sans aucune stipulation d'aucun genre,
des gratifications p6cuniaires trfes considirables, qui m'ont et6 pr6cieuses
puisqu'elles m'ont donn6 les moyens de vivre avec une certaine aisance dans les
Premiers cercles de la soci4t6 et de maintenir une quantite de relations, sans
lesquelles je n'aurais jamais pu obtenir les Instructions qu'exigeaient mes
travaux.» Emila K i p e , Fryderyk Gentz a Polska (Krakau und Warschau 1911),
S. 120.
' Vgl. dazu Gentz' bislang unveröffentlichte Betrachtung „Parallele" aus dem
Jahre 1805, wo es im Hinblick auf die Friedensschlüsse von Lüneville (1801)
und Amiens (1802) heißt: Angleterre, isolde, et s6paree par la force des
^v^nements, de tous les Etats du continent de l'Europe, a 6t6 oblig^e de faire
avec la France une paix honteuse et funeste; cette paix par la faiblesse de ceux
qui ont entam6, dirig6, et achev6 les ndgociations est devenue plus mauvaise
encore qu'elle ne l'aurait 6t6 par la nature des choses.»
«VAutridie, isol6e, s6par6e par la force des 6v6nements du reste de l'Alle-
magne, et de toutes les autres cours, et finalement de l'Angleterre, a ete obligee
de faire une paix honteuse et funeste; et cette paix, etc. etc. etc.» (Brt. Mus.,
Add. Mss. 48401.)
Friedrich Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 337
tung stützte der schriftstellerische Lord, der sich bereits den modernen
Grundsätzen der demokratischen Regierungsbildung genähert hatte,
durch den Hinweis ab, daß man in beiden Fällen sowohl Parlament wie
öffentliche Meinung übergangen habe. So sei Addington "to the astonish-
ment of the people and the house of commons" ins Amt gelangt", wäh-
rend sich das Zweite Ministerium Pitt durch die „exclusion" von Fox
dem allgemeinen Wunsch einer "general union of weight and talents"
entgegen stelle". Die Schuld dafür liege an zweierlei: 1. an „private
partialities" unter den „responsible ad visers" des Monarchen. (Für diesen
selbst gilt, wie Hamilton betont, der britische Verfassungsgrundsatz: "the
' Daß dieses keine einfache Aufgabe war, ergibt ein bislang unveröffentlichter
Brief an Lord Auckland vom 8. März 1800. Kommt Gentz doch in diesem auf
«r^tendue et la force des pr6jug6s et des erreurs» zu sprechen, «que les
^crivains ineptes ou perfides ont r^pandu parmi mes compatriotes sur l'etat
int^rieur de l'^Angleterre...» (Brt. Mus., Add. Ms. 34455.)
' Brt. Mus., Add. Mss. 48401.
' Lesen wir in einer von mir zur Veröffentlichung vorbereiteten Denkschrift
von Gentz an Lord Harrowby vom 16. November 1804 (P.R.O., London, F.O.
95/8/2): «Je ne puis pas non plus m'empScher de repeter ici, qu'une ligue defen-
sive entre les deux premi^res puissances de l'Allemagne, me paraitrait dans ce
moment-ci non seulement une mesure infiniment precieuse, mais en meme temps
la seule, k laquelle on puisse s'arreter avec l'espoir raisonnable du succfes», —
finden wir bei Pitt knapp zwei Monate nach dem Eingang jenes M6moires im
foreign office in einer für den russischen Hof bestimmten Note vom 19. Januar
1805 folgende Notiz, die nahezu wörtlich dasselbe besagt: "It is of the utmost
importance, if not absolutely indispensable... to secure the vigorous and
effectual co-operation both of Austria and Prussia." Zitiert nach C. K. W e b -
s t e r . British Diplomacy 1813—1815 (London 1921) S. 391.
» Lord Archibald H a m i l t o n , Thoughts on the formation of the late and
present Administration (London 1804) S. 2.
Ebd. S. 5. " Ebd. S. 38.
338 Alexander v. Hase
Für Gentz, der die neuerliche Amtsübernahme Pitts als ,1a supreme
direction de l'Empire Britannique" begeistert begrüßt hatte", bot die
hier erörterte Hamilton-Kritik die Möglichkeit, sidi der abermaligen
Tory-Regierung nicht nur als Anwalt ihrer zwischenstaatlichen, sondern
auch ihrer innerstaatlichen Interessenpolitik zu empfehlen. Dabei — und
das erleichtert ihm die Dinge sehr — macht er sich nicht die sdion weit-
gehend parlamentarische Auslegung der britischen Monarchie zu eigen,
wie sie sich in den Hamiltonschen Erörterungen widerspiegelt, sondern
setzt ihr eine strikt konstitutionelle entgegen. Für ihn — wobei er sich
nur von e i n e m der Grundsätze des liberalen Lords leiten läßt — besitzt
der König „le pouvoir illimitd" sich seine Minister zu wählen, zumal nie-
mand „un titre legal quelconque" sein eigen nennt, „pour fixer le choix
de Sa Majest^". Von jenem Recht sei auch der König bei der Bildung
des amtierenden Kabinetts ausgegangen, wobei er die parlamentarische
Mehrheit auf seiner Seite gehabt habe. Habe doch die Legislative, was
theoretisch durchaus möglich gewesen wäre, dem neuen Ministerium
For personal use only.
durch als nur schwer zugänglidi g a l t " . Der von uns besorgte Abdruck
hält sich streng an das Original-Manuskript, nur wurden die Unter-
streichungen in Kursivdruck gesetzt. Idi beabsichtige, demnädist aus dem
erwähnten Nachlaß auch die Briefe von Gentz an Paget herauszugeben,
da sie eine Geschichtsquelle von hohem Rang für dtis beginnende 19.
Jahrhundert darstellen.
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son dioix, c'est appliquer une chim^re ä une autre diim^re. Gar, si mSme
la responsabilite des Ministres embrassait rdellement le dioix d'un nou-
veau Ministere, de sorte qu'on peut Idgalement attaquer, soit par les
anciens Ministres, pour avoir guide le Roi dans la nomination de leurs
successeurs, soit par les nouveaux pour le simple fait d'avoir acceptd
leurs places, si le principe de la responsabilite pouvait mSme 6tre etendu
ä ce cas-lä (ce qui est une question pour le moins douteuse et problemati-
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pour son Ministere, il n'y aurait personne en Angleterre, qui put etre
constitutionellement responsable de son exclusion. L'opinion contraire
d^truirait de fond en comble le pouvoir illimitd du Roi dans le dioix de
Ses serviteurs.
6. Mais autant qu'il est diimerique de vouloir dtendre la responsabilite
a un objet, qui par la nature m^me doit necessairement lui ediapper,
autant il est vrai, que l'esprit de la Constitution Britannique fournit un
autre moyen de diminuer les diances des mauvaix dioix, et mSme de
favoriser les bons, jusqu'au point ou la diose est possible. Le moyen (dont
l'auteur parle aussi) est le pouvoir du Parlement de refuser au Roi son
concours pour les actes de legislation et de gouvernement jusqu'ä ce
qu'il ait 6cart6 le Ministre que la Majorit^ croit incapable de sa place, ou
meme jusqu'ä ce qu'il ait nomme celui, que cette majorite ou l'opinion du
public parait indiquer comme le plus recommandable. Le moyen est
parfaitement süffisant pour contenir la pr6rogative, en eile mSme illimitee,
du Roi dans des bornes raisonnables et justes. Gar, si jamais, par exemple,
le Roi nommait une personne inadmissible, disons avec Lord A. H. un de
ses domestiques, ä la premi^re place de TAdministration, il est evident,
" Offenbar Anspielung auf Hamilton, S. 34 f.: Würde sidi der König von
England dazu entsdiließen, "to nominate his footman minister, . . . surely some
person must be responsible for the outrage; and there does not appear any
reason why the same responsibility, should not attadi to a capricious exclusion,
as to an unwise appointment."
" John Churdiill, Herzog von Marlborough (1650—1727), britisdier Staats-
mann und Feldherr.
" William Pitt, Barl of Chatham (1708—1778), britisdier Staatsmann.
Edmund Burke (1729—1797), britisdier Staatsmann, Sdiriftsteller und Red-
ner. Die Übersetzung seiner „Reflections on the Revolution in France" (17931
begründete Gentz' literarisdien Ruhm.
Friedrich Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 341
que le Roi en lui otant sa place, a sacrifi6 les affections particuli^res, non
pas ä une majorite imposante, non pas ä un cri universel, ou ä une
necessite absolue, mais ä une minorite dans les deux chambres, et ä la
seule apparence d'un mecontentement public. Apr^s en avoir tant fait,
il me semble qu'il ne devrait gu^re s'attendre a ce qu'on lui reprocherait
encore d'avoir use de sa prerogative incontestable pour composer le nou-
veau Minist^re de personnes, qui, jugees depuis longtemps capables des
premieres fonctions de l'Etat, si elles ne pouvaient pas pr^tendre ä cet
attachement et ä cette confiance personnelle qui ne se commandent jamais,
ne lui inspiraient pas du moins une defiance ou une aversion positive et
invincible.
Le Roi n'a exclu — puis qu'on veut absolument que cette expression
inadmissible et absurde soit employe ici — le Roi n'a exclu qu'un seul
individu; tous les autres, que l'opinion publique ou le voeu d'ime partie
For personal use only.
comme Lord A. H. le fait, d'avoir ete conduit par une fausse delicatesse,
en ne pas forjant le Roi ä un second pas, lorsqu'on l'avait une fois force
a faire le premier. Gar d'abord, s'il est vrai, que le Roi a ete force ä
eloigner Mr. Addington du Minist^sre, ce n'est pas Mr. Pitt, mais c'est
l'opposition dans les deux chambres du Parlement qui a produit cet efifet.
Ensuite, comme il y a une difference essentielle entre engager (puisque
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'' Vgl. dazu Hamilton, S. 47: „Had Mr. Pitt refused to form an admini-
stration upon a weak and narrow basis, where is the man who would have
dared to untertake the odious task?"
Friedridi Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 345
des id^es de Mr. Pitt; mais personne n'aurait le droit de l'accuser, si des
consid6rations de cette nature avaient motiv6 ses derai^res r6solutions.
Ce n'est pas tout encore, et il faut a j outer une autre r6flexion, qui me
parait d'un poids decisif. Lord A. H. et tous ceux qui partagent ses
opinions sur la rdunion entre le parti Grenville et Mr. Fox, sont telle-
ment p6n6tr6s des avantages inappreciables de cette reunion et de tout
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ce qu'elle aurait rdpandu de bienfaits sur le pays, si eile avait 6t6 investie
des pouvoirs du Gouvernement, qu'ils paraissent tout-ä-fait oublier, qu'il
peut exister dans le monde une mani^re de voir absolument diff^rente
de la leur. Serait-il donc impossible, que cette mani^re de voir eut 6t6
et fut encore celle de Mr. Pitt? Serait-il impossible que malgr6 une pre-
miere proposition, que par defdrence, par modestie, ou par ddlicatesse il a
pu faire au Roi dans le sens de la coalition, il eut toujours secr^tement
convaincu, que la composition d'un ministere d'apr^s le modele de cette coa-
lition etait une diose essentiellement impraticable, ou essentiellement dange-
reuse? Et si teile avait 6t6 sa demi^re pensee, pourrait-on le blämer serieuse-
ment pour ne pas avoir voulu tout sacrifier a une combinaison, dont le succes
lui aurait paru tr^s ^quivoque, ou mSme l'effet pernicieux presque certain!
La supposition que je fais ici, ne r^pugne point ni ä la vraisemblance,
ni k r i t a t connu des choses en Angleterre. Plus d'un homme eclaird a
cette mani^re de voir que je viens de preter ä Mr. Pitt; et s'il m'est
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sonnes tourmentees par les doutes, par les craintes, par les plus sinistres
pressentiments, lorsqu'on leur prdsente comme demier moyen de salut
une administration qui ne serait qu'un amalgame d'61^ments h6t6rog^nes,
discordants, hostiles, une administration, dans laquelle les disparit^s de
principes et de vues, les divisions, les contradictions, les mecontentements
mutuels, les guerres sourdes, et les explosions publiques, seraient selon toutes
les apparences, des 6venements joumaliers, et dont, loin de concevoir, sans
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parce qu'il s'est aperfu qu'il 6tait absolument impossible de les faire
embrasser par le Roi, soit parce qu'il a senti trop de repugnance ä heurter
ä la fois tous les sentiments de ce monarque, k forcer tous ses scrupules,
et a les pousser, pour ainsi dire, vers la derni^re extremite. II n'y a
qu'un seul cas, dans lequel Mr. Pitt aurait en acceptant le minist^re, agi
contre sa conscience et contre son devoir, et dans lequel il serait difficile
ou impossible de le d^fendre: c'est le cas, oü il aurait adoptd le syst^me
de ceux, qui avec Lord A . H . regardaient la formation d'un Minist^re
compos6 de tous les partis, non seulement comme une mesure tres
salutaire, mais encore coimne le seul et unique moyen de gouverner et de
sauver le pays. Ses adversaires m6me n'ont jamais pretendu que cette
Opposition 6tait la sieime; et jusqu'ä ce qu'on en administrera la preuve,
nous sommes parfaitement autoris6s ä croire, qu'il ne l'a jamais partag6e.