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KULTURGESCHICHTE

Herausgegeben von
H E R B E R T G R U N D M A N N und F R I T Z WAGNER
For personal use only.

51. Band Heft 2

1969
BÜHLAU V E R L A G K Ö L N W I E N
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Druck der

Münster/Westfalen

Printed in Germany
Gedruckt mit Uoterstützung

Aschendorfbchen Buchdruckerei
der Deutschen Forschungsgemeixuchalt
Inhalt
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FRANZ FLASKAMP, Die frühe Friesen- und Sadisenmission aus


northumbrisdier Sidit. Das Zeugnis des Baeda 183

TILMAN STRUVE, Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi . . 210

GABRIEL SILAGI, Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahr-


hundert 234

PAOLA ZAMBELLI, Agrippa von Nettesheim in den neueren kritischen


Studien und in den Handsdiriften 264
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ARNO BUSCHMANN, Enzyklopädie und Jurisprudenz 296

W o L F F A. VON SCHMIDT, Die persönlichen Beziehungen zwischen


Herder und Friedrich Schlegel 318

ALEXANDER VON HASE, Friedrich Gentz gegen Lord Archibald


Hamilton. Ein Beitrag zur Bildung des Zweiten Ministeriums
Pitt (1804) 336
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Die frühe Friesen- und Sachsenmission
aus northumbrischer Sicht
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D a s Z e u g n i s des Baeda

von Franz Flaskamp

Alles neuzeitlidie Geschehen von einigem öffentlichen Belang erfreut


sich einer mehr oder minder regen Aufmerksamkeit und löst dann zumeist
auch ein breiteres literarisches Echo aus. Ganz anders war es im Früh-
mittelalter. Damals mangelte es an einer vergleichbar reichen Beobachtung
ebenso wie am benötigten Pergament und erst recht an federgeübten Hän-
den. Von dem Wenigen aber, das trotzdem geschrieben wurde, ist nur
ein bescheidener T e i l seinem Wortlaut nach überliefert, daher sogar von
wichtigen Ereignissen nur eine geringe und ganz ungenügende Kunde
verblieben.
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Die frühe Friesen- und Sachsenmission beispielsweise war gewiß ein


zukunftweisendes Beginnen, bedeutete mehr eine geschichtliche Epoche
als nur eine Episode deutschmittelalterlicher Entwicklung. W i e dürftig
aber sind deren gerettete Zeugnisse! Im großen und ganzen handelt es
sich um ein verstreutes Mancherlei ohne viel spürbaren Zusammenhang,
abgesehen von dem zwar nicht ausgedehnten, so doch eine Kette der
Begebenheiten ausweisenden Bericht von Baedas des Ehrwürdigen „An-
gelsächsischer Kirchengeschichte" Dieser wurde darum auch zum eigent-
lichen Grundstock des heutigen Wissens, wenigstens vom northumbrischen
Anteil. Baedas Z e u g n i s ' gestattet nämlich eine Einordnung der ver-
schiedensten annalistischen, biographischen sowie diplomatischen Einzel-
heiten und Kleinigkeiten zu einem halbwegs genügenden Bilde vom
gewesenen Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit.
Aus quellenkundlicher Erwägung ist daher Baedas Dienst an der
frühen friesischen und sächsischen Missionsgeschichte ausnehmend dan-
kenswert. Seine Zusteuer aus der Ferne hat festländisches Versagen oder
doch Ungenügen einigermaßen wettgemacht, und das unter keineswegs
günstigen Bedingungen. Zwar kann dieser 672/73 geborene und 735 ge-
storbene northumbrische E d e l i n g ' als „Zeitgenosse" gelten, wie man zu

' Venerabiiis Baedae opera historica, ed. Ch. P l u m m e r (2 Bde., Text und
Kommentar, Oxford 1896, Neudr. 1946); fortan zitiert: Baeda.
2 Besonders I S. 298—303.
' Eigene Lebensskizze ebda. S. 357—360; dazu: C.F. B r o w n e , The venerable
1 Ardiiv für Kulturgeschidite i l / 2
184 Franz Flaskamp

sagen pflegt, wenn ein Lebenslauf und fremdes Tun in ebenderselben


Jahresfolge sidi abspielten. Dodi war er, als die northumbrisdie Arbeit
auf dem Festland anhub, nodi ein Kind und demnädist für lange Jahre
als Zögling und dann Möndi im Großkloster Weannouth-Jarrow mit
Lernen, Lehren und Kirdiendienst beschäftigt, später durA sdiulfadi-
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lidie, bibelkundlidie, patristisdie, hagiologisdie und dironologisdie For-


sdiungen und Darstellungen ganz ungewöhnlichen Ausmaßes gebunden.
Erst im Alter vernahm er den Ruf zur Beschäftigung mit der Geschichte
seines Klosters und, davon fortsdireitend, mit der angelsächsischen Kir-
chengesdiichte im Rahmen der angelsächsischen Geschichte überhaupt. Er
war nahezu sechzig Jahre alt, als er sein geschichtliches Hauptwerk, die
„Historia ecclesiastica gentis Anglorum", abschloß*. Die biblischen Stu-
dien begründeten seinen frühen Ruhm®, die Kirchengeschichte gewähr-
leistete seinen unverwelklichen Nachruhm.
Aus northumbrischer Sicht war Baeda auch für das missionarische
Wirken seiner Landsleute in Friesland und Sachsen interessiert, bei den
„Altsachsen", wie man drüben die festländischen Stammesverwandten
bezeichnete*. Er ließ sich unterrichten, so gut es anging, die weite Ent-
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Bede, history, life and writings (London ^1928); A . H . T h o m p s o n , Bede, his


life, time and writings, (Oxford 1935), darin (S. 111—151) W. L e v i s o n ,
Bede as historian, auÄ in L e v i s o n , Aus rheinisdier und fränkisdier Früh-
zeit (1948) S. 347—382.
* Fristvermerk I S. 351, ebenso S. 356 die Zeittafel mit dem Tode Erz-
bischof Berhtwalds von Canterbury ( t 13. Januar 731) beschlossen.
» Sdion Wynfreth-Bonifatius 746/47 an Erzbisdiof Ecgberht von York (ed.
M. T a n g l , MG. Epp. seil. I, 1916, neu 1955, S. 158): Praeterea obsecro, ut
mihi de opusculis Bedan lectoris aliquos tractatus conscribere et dirigere
digneris, quem nuper, ut audimmus, divina gratia spiritali intellectu ditavit et
in vestra provincia fulgere concessit, et ut candela, quam vobis Dominus largitus
est, nos quoque fruamur; ebenso an Abt Huetberht von Wearmouth-Jarrow
(ebd. S. 159): Interea rogamus, ut aliqua de opusculis sagacissimi investigatoris
scripturarum Bedan monadii, quem nuper in domo Dei apud vos vice candellae
aecclesiatice scientia scripturarum fulsisse audimmus, conscripta nobis trans-
mittere dignemini.
' Baeda I S. 31: De Saxonibus, id est ea regione, quae nunc Antiquorum
Saxonum cognominatur, uenere Orientales Saxones, Meridiani Saxones, Occidui
Saxones; ebda. S. 302: a gente Antiquorum Saxonum-, audi nodi im Sadisenbrief
Papst Gregors IIL (738), ed. T a n g 1, Epp. seil. I S. 35: Gregorius papa uni-
verso populo provinciae Altsaxonum; ebenso Bonifatius (746/47) an König
Aethelbald von Mercien, ebd. S. 150: in Antiqua Saxonia, si virgo paternam
domum cum adulterio maculaverit. Nachwirkend noch im Titel des 1473/75 bei
Arnold ther Hoernen in Köln erschienenen Westfalenbuches des Kölner Kar-
täusers Werner R o l e v i n g (1425—1502), neu durdi H. B ü c k e r (1953)
ediert: De laudibus Westpkaliae sive de laude Antiquae Saxoniae nunc
Westphaliae dictae; ebenso im Titel des etwa 1517 vom Liesborner Benediktiner
Bernhard W i t t e verfaßten, dodi erst 1778 durch Asdiendorff zu Münster ge-
druckten Westfalenbuches: Historia antiquae occidentalis Saxoniae seu nunc
Westpkaliae anklingend.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 185

fernimg und die klösterlidie Abgesdilossenheit nicht im Wege standen.


Dabei bedurfte er der Hilfe älterer und jüngerer Augen- und Ohren-
zeugen', unmittelbarer und mittelbarer Nachrichten. Er dürfte mehr
Handreichung erfahren haben, als sein Werk in diesem Felde verrät oder
durchblicken läßt. Vornehmlich wird man an Bischof Wilfrith von York®
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und dessen Biographen Aeddi-Stephanus' zu denken haben. Selber nennt


er Wilfriths Reisebegleiter Acca, den späteren Bischof von Hexham, als
seinen Gewährsmann'". Wer von wissenschaftlicher Neugier angespornt
wird, der erspäht auch in ödem und wüstem Gelände die erwünschten
Quellen und weiß selbst kümmerliche Gelegenheiten ergiebig zu nutzen.
Baeda spricht auch von älterem Schrifttum, das ihm dienlich gewesen
sei". Aber gemeint sind dabei ausschließlich Zeugen und Zeugnisse der
insularen Entwicklung, Mitteilungen über das Werden der insularen
Heptarchie sowie zu ihrer Kirchen- und Klostergeschichte''. Auf das
frühzeitliche rein festländische Geschehen hat er kaum geachtet. So blieb
es ihm auch verborgen, daß längst vor dem Frieslandinteresse seiner
northumbrischen Landsleute christliche Missionsarbeit in Friesland ge-
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leistet, das südliche Friesland schon einmal christlich gewesen war.


Bereits in den Tagen König Chilperichs I. (561—84) hatte das von Rhein
und Yssel abgeriegelte südfriesische Gebiet unter fränkischer Bot-
mäßigkeit gestanden", daher auch unter christlicher Einwirkung. Das
war also früher gewesen, als die Mönche des römischen Andreasklosters
mit der Christianisierung Englands begonnen hatten. Für die Wende des
6. und 7. Jahrhunderts ist sogar schon die fränkische Martinskirche in
Utrecht b e z e u g t K ö n i g Dagobert I. (623—39) hatte den Kölner Bischof

' Baeda 1 S. 357: uel ex traditione maiorum uel ex mea ipse cognitione
scire potui.
« Lebensdaten s. P l u m m e r s Baeda-Ausgabe U, S. 316—329; auch u.
Anm. 24.
' Wobei sich allerdings nicht ausmachen läßt, was im einzelnen auf mündliche
Information, was auf dessen Vita Wilfridi zurückgeht.
S. u. Anm. 89.
" Baeda I S. 357: uel ex Utteris antiquorum.
" Besonders Gregorii L papae registrum epistolarum, ed. L. M. H a r t m a n n :
MG. Epp. I/II, 1899; dazu A.W. H a d d a n und W . S t u b b s , Councils and
ecclesiastical documents relating to Great Britain and Ireland, Bd. 3: English
diurdi during the Anglo-Saxon period, 595—1066 (Oxford 1871).
" Venantius Fortunatus, Carmina I X 1, v. 75f., ed. Fr. L e o : MG. Auct.
ant. IV 1 (1881) S. 203: Terror [es] extremis Fresonibus atque Suebis, qui neque
bella parant, sed tua frena rogant.
Immunität König Pippins von Verberie 23. Mai 753, ed. E. M ü h l b a c h e r :
MG. DD. Karol. I (1906) S. 8 nr. 5: eo quod antecessores nostri vel parentes
Clotharius quondam rex [wohl Chlothar IL, 613—29] et Theodebertus quondam
[sc. rex; wohl Theudebert IL, 595—612] per eorum auctoritates eorum manu
subscriptas de villis ecclesiae sancti Martini... integra immunitate concessissent.
186 Franz Flaskamp

Kunibert föniilidi für Friesland v e r p f l i d i t e t D a m a l s war also wohl eine


Angliedenmg zum Kölner Sprengel geplant gewesen, vielleicht sogar
vereinbart worden. Wenigstens beansprudite Köln später (imi 753) Diöze-
sanredite in Friesland und wußte diese audi einigermaßen zu vertreten
In Dagoberts Tagen hatte allerdings audi Bischof Amandus von Maas-
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tricht an der Sdielde missioniert, sogar ein Kloster am Elno (St. Amand)
gegründet", etwas später Bischof Eligius von Noyon an der W a a l " .
Im ganizen mochte das eine lodcere, oberflächlidie, der einheitlichen
Leitung bare, des Ausgleichs und der Vertiefung harrende Einwirkung
sein, der Erfolg ebenso viel aus politischen Rücksichten wie aus Einsicht
und freiem Entschlüsse sich ergeben haben. Umso leichter ist dieses frühe
fränkische Christentum in Friesland wieder zusammengebrochen, als die
Franken in der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts die Provinz Friesland nicht
zu behaupten vörmochten. Dabei wurden auch die christlichen Kirdien
und Kapellen zerstört, nicht nur die Martinskirche zu Utrecht*'. Aber
dieser markant gewesene fränkisch-christliche Außenposten, das vorge-
schobene Bollwerk, demonstrierte den folgenden Geschlechtern die ein-
stige Macht. Dieser Verlust wurde deiher als ein so schmerzhaftes Trauma
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empfunden, daß man auch das spätere Missionswerk der Northumbrier


schließlich wieder bei der neuerstandenen Utrechter Martinskirche aus-
klingen ließ

" Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l S. 235: Et
[sc. Coloniensis episcopus] refert, quod ab antiquo rege Francorum Dagobercto
castellum "Traiectum cum destructa aecclesia ad Colon[i]ensem parrodiiam
[ = episcopatum] donatum in ea conditione fuisset, ut episcopus Colon[i]ensis
gentem Fresorum ad fidem Christi converteret et eorum predicator esset. Quod
et ipse non fecit; vgl. Fr. W . O e d i g e r , Die Regesten der Erzbisdiöfe von
Köln im Mittelalter I (1961) S. 21.
" Wodurdi zunächst die Frieslandabsiditen des Bonifatius gestört und 777
der Ansdiluß Frieslands zur Kölner Kirchenprovinz bewirkt wurde; vgl. W.
F e i s t e r , Stand und Herkunft der Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz im
Mittelalter (1909) S. 43—64, auch RR. P o s t , Gesdiiedenis der Utrechtsdie
bissdiopsverkiezingen tot 1535 (Utredit 1933).
" Vita s. Amandi, ed. Br. K r u s c h : MG. SS. rer. Merov, V (1910) S. 395—
485, dazu W. L e v i s o n : ebd. VII (1920) S. 846f.; A. H a u c k , KG. Deutsdi-
lands I, S. 322—328; H. v. S c h u b e r t , Gesehidite der diristlidien Kirdie im
Frühmittelalter (1921) S. 295; H. C l a e y s , Sint Amand, apostel van Viaande-
ren (Thielt 1913); E. d e M o r e a u , Saint Amand, apötre de la Belgique et du
nord de la France (Louvain 1927).
" Vita s. Eligii, ed. Br. K r u s c h : MG. SS. rer. Merov. IV (1902) S. 634—
761, besonders S. 696. 700, dazu W. L e v i s o n : ebd. VII (1920) S. 842 ff.;
H a u c k S. 328 f.; S c h u b e r t S. 295; P. P a r s y , Saint £loi (Paris n908;
£. M o r e 1, fitude critique sur la vie de s. filoi (ebd. 1930).
" Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l S. 235:
propter fundamenta cuiusdam destructae a paganis ecclesiolae, quam Uuilbror-
dus derutam usque ad solum in castello "Traiecto repperit.
S. u. Anm. 108 f.
Die frühe Friesen- und Sadbsenmission 187

Von diesem frühen fränkischen Christentum in Friesland erfuhr der


Westsadise W y n f r e t h " bei seinem friesischen Versuch 716 an Ort und
Stelle", Baeda dagegen im sehr abgelegenen Wearmouth-Jarrow, so-
weit ersiditlich, rein nichts. Nadi seiner Information ging die Christia-
nisierung Frieslands aussdiließlich auf seine northumbrisdien Landsleute
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zurüdk, hatte Bisdiof Wilfrith von York 678/79 die Möglichkeit er-
kannt und sich bereits erfolgreich bemüht, Ecgberht der Heilige das
Begonnene fortsetzen wollen, aber wegen Mißgeschicks dies nicht ver-
mocht, Wicgberht dann wirklich versucht, doch vergebens, Wilbrord in-
dessen in einem langjährigen Wirken zu einem trefflichen Gelingen
führen dürfen. So ist im Urteil Baedas Wilfrith der Pionier des
Christentums in Friesland gewesen, Wilbrord dessen Vollender ge-
worden". Über Wilbrords missionarische Anfänge und frühe Fortschritte
sind offenbar, wenn auch nicht erschöpfende, so doch leidliche Nach-
richten zum Kloster Wearmouth-Jarrow gelangt. Nach Wilfriths Lebens-
ende (709) mag das Einvernehmen sich gelockert haben und mit der Zeit
mehr imd mehr zusammengeschrumpft sein, wie Baedas Bericht spüren
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läßt. Doch blieb er zeitlebens aufmerksam. Von dem northumbrischen


Vorstoß nach Sachsen mochten schon die in Friesland verbliebenen
Missionare wenig Bestimmtes erfahren haben, wußte daher erst recht
Baeda wenig Konkretes zu vermerken. Aber er verankerte auch die un-
sicheren Gerüchte und verhütete so ein volles Nichtwissen der Nachwelt.

" So hat er selber sich genannt im Gedicht für den ehemaligen Kloster-
schüler Dud, nur der Akrostidionspielerei wegen als „Vynfreth" geschrieben;
ed. E. D ü m m l e r : MG. Poetae lat. I (1881) S. 16 f. Vynfreth priscorum
Duddo congesserat artem, viribus ille iugis iuvavit in arte magistrum.
Wilbalds Vita s. Bonifatii, ed. W. L e v i s o n : SS. rer. Germ., (1905)
S. 15 ff.
Baeda I, S. 326: quod postmodum Uilbrord, reuerentissimus Christi
pontifex, in magna deuotione conpleuit, ipse [sc. Uilfridus] primus ibi opus
euangelicutn coepit; so aber sdion Aeddi-Stephanus, Vita Wilfridi, ed. W.
L e v i s o n : MG. SS. rer. Merov. VI (1913) S. 220: quod adhuc superaedi-
ficat filius eins [sc. Wilfridi], in Hripis nutritus, gratia Dei Wilbrordus epi-
scopus, multo labore desudans, cuius merces manet in eternum. Allerdings auch
Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan II., ed. T a n g l S. 236: pagana
permansit gens Fresorum, usque quod venerandus pontifex Romanae sedis
Sergius supradictum servum Dei Uuilbrordum episcopum ad predicandum
supradictae genti transmisit, qui illam gentem, ut prefatus sum, ad fidem
Christi convertit, was auf die Zwisdbenzeit (vom Zusammenbrudi des alt-
fränkischen Christentums in Friesland bis zum Kommen Wilbrords) zu be-
ziehen ist, allerdings auch durdi die eigenen Frieslandabsiditen des Bonifatius
gefärbt wird. Zur Person vgl. W. L e v i s o n , Die Quellen zur Geschichte des
hl. Willibrord, in: Willibrordus (Echternadier Festschrift, hg. v. N. Goetzinger,
1940) S. 5—65; d e r s . , St. Willibrord and his place in history: Durham Uni-
versity Journal 32 (1940) S. 23—41, beide auch in: Aus rhein. u. fränk. Frühzeit
(1948) S. 304—329; G.H. V e r b i s t , Saint Willibrord, apotre des Pays-Bas et
fondateur d'Editernach (Louvain 1939).
188 Franz Flaskamp

Das friesische Interesse Baedas ergab sich ungesucht aus dem Augen-
merk für die heimisch-angelsädisisdie Kirchengeschichte. Die Brücke
bildete die Romreise Bischof Wilfriths von York, unternommen zu dem
Zwecke, seine Schwierigkeiten mit dem König Ecgfrith von Northumbrien
(671—685) und dem Erzbischof Theodor von Canterbury (669—690)
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in Rom persönlich vorzutragen und dort eine Begünstigung seiner


eigenen Kirchenpolitik zu erwirken Nachdem nämlich 634 Bischof
Paulinus von York mehr durch Zufall als in einer planvollen Entwicklung
das Palliimi erhalten hatte®', spielte man in York mit dem Gedanken
einer vom Süden (Canterbury) abgesonderten anglischen Kirchenprovinz;
deren Anwalt und Anwärter war besonders Wilfrith Er verzehrte sich
deswegen in Reibereien, bereitete aber den Weg: 735 wurde Ecgberht
von York wirklich Erzbischof und Metropolit
Indem Wilfrith 678 seinen Weg durch Friesland nahm, trat Fries-
land in den northumbrischen Gesichtskreis. Der Friesenfürst Aldgisel
gewährte dem vornehmen Besuch aus Übersee Gastfreundschaft, sogar
Winterquartier. Diese Gunst nutzte Wilfrith zu neuer, aber freier, nicht
durch fremde Politik belasteter Missionsarbeit. Es waren ihm auch merk-
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liche Erfolge beschieden, vorab doch wohl, weil sich an Überreste der
früheren fränkischen Mission anknüpfen ließ. Solche Möglichkeiten haben
sich im Laufe der christlichen Missionsgeschichte audb anderswo ergeben
Baeda berichtet summarisch®'. Mehr als ein Beobachten und Fühlung-

Vita Wilfridi, ed. L e v i s o n , S. 220: C.F. B r o w n e , Theodore and


Wilfrith (London 1897); d e r s . , The English church in the eighth Century, its
influence on the continent of Europa (ebd. 1897); S c h u b e r t , Frümittelalter
(wie Anm. 17) S. 270ff.; J. J u n g - D i e f e n b a c h , Die Friesenbekehrung bis
zum Martertode des hl. Bonifatius (1931); S.J. C r a w f o r d , Anglo-Saxon
lufluence on Western Christendom (Oxford ®1966); W. L e v i s o n , England
and the continent in the eighth Century (ebd. 1946); Th. S c h i e f f e r ,
Angelsachsen und Franken, Abhandl. der Mainzer Akad., geisteswiss. Kl., 1950,
S. 1431—1539.
« S. u. Anm. 132.
" Deswegen von seinem Schüler Aeddi-Stephanus (Vita Wilfridi, ed. L e v i -
s o n , S. 210) sdion „Metropolit" genannt: beatae memoriae Vilfrido, episcopo
metropolitano Eboracae civitatis constituto.
" Baedae continuatio, ed. P l u m m e r , S. 361: Anno DCCXXXÜ...
Ecgherctus episcopus, accepto ab apostolica sede pallio, primus post Paulinum
in ardiiepiscopatum confirmatus est. Im Liher pontificalis (ed. L. D u c h e s n e ,
II, 1892) nidit erwähnt.
So fanden die frühesten Steyler Chinamissionare Johann Baptist A n z e r
und Joseph F r e i n a d e m e t z 1882 in einem Dorfe Puoli im äußersten Westen
der Provinz Schantung 158 Christen, die aus viel früherer Missionsarbeit ohne
jedwede fernere geistliche Betreuung sich behauptet hatten.
Baeda I S. 326: praedicabat eis Christum, et multa eorum milia uerbo
ueritatis instituens a peccatorum suorum sordibus fönte Salvatoris abluit;
so, an Apostelgeschichte 8,5 anklingend, audi schon Vita Wilfridi, ed. L e v i s o n
S. 220.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 189

nehmen dürfte es in der Tat nidit gewesen sein, immerhin so viel, daß
Wilfrith eine christliche Missionsarbeit im nun nicht mehr fränkisch
bevormundeten Friesland als aussiditsvoll erachten konnte. Ob Aldgisel
einem solchen Vorhaben nicht sogar zugesprochen hätte, wenn es seiner
Landeshoheit förderlich gewesen wäre? Die Könige halten immer zu den
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Göttern, die ihrer Herrschaft günstig sind. Wenn sich mit dem von
Northumbrien ausgestrahlten Christentum audi angelsächsische politische
Verbindungen zwecks Abwehr der fränkischen Eroberungsgelüste hätten
gewinnen lassen?
Was dann zunächst auf Wilfriths Reise folgte, mag Baeda ebenso er-
fahren haben wie A e d d i - S t e p h a n u s w a r ihm aber vielleicht im Hin-
blick auf seinen angelsächsischen Behuf nicht sonderlich erwähnenswert.
Wilfrith berührte nämlich auch die Pfalz König Dagoberts II. (676—679)
und führte sich so trefflich ein, daß man ihn den heimischen Verdrieß-
lichkeiten entheben und mit dem alamannischen Bistum Straßburg ver-
sorgen wollte. Das wäre dann allerdings eine Verpflichtung für fränkische
Kirchenpolitik gewesen und hätte später zu einer Mitwirkung an einer
neuen fränkischen Reichsmission auf friesischem Boden werden können.
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Diese Gefahr einer doppelzüngigen Haltung Wilfriths war freilich zur


Stunde nicht zu besorgen; deim man hatte im Frankenreiche einstweilen
sattsam mit innerer Sicherheit zu tun, anstatt Eroberungen nach außen
planen zu dürfen. So haben auch die verschiedenen demnächstigen angel-
sächsischen Ausblicke nach Friesland, Ecgberhts, Wicgberhts und noch
716 Wynfreths, nur auf eine freie, nicht wegen fränkischer Verbindungen
ohne weiteres verdächtige Missionsarbeit reflektiert. Wilfrith aber ließ
sich sowieso nicht fränkisch binden. Immerhin hatte er durch die gewon-
nene Fühlung mit dem austrasischen Majordom Pippin dem Mittleren auch
der Friesenmission, wie sie später sich ergab, die Wege geebnet.
Was Wilfrith als im freien Friesland möglich erkannt hatte, suchten
Mönche des irischen Klosters Rathmelsigi zu verwirklichen, Ecgberht
und Wicgberht. Beide waren aber gleichfalls Northumbrier. Darum waren
sie auch für Baeda beachtenswert, und nur so, durch dessen Zeugnis, blieb
ihr Dasein und ihr Missionseifer der Nadbwelt bekannt.
Ecgberht hatte in Rathmelsigi als einziger des Klosters die böse Pest
von 664 überstanden, wollte nun aber auch nicht mehr zeitlebens
klösterlich geborgen bleiben, sondern dem Herrn zuliebe „im Elend"
sein, d.h. in der vollen Fremde sich bewegen und wirken". Wann, wo
und wie das zu erreichen sein möchte, ließ sich gewiß zur Stunde noch
nicht absehen; denn seine nächste Aufgabe konnte nur die Sorge für den

Vita Wilfridi, S. 221.


" Baeda I S. 192ff.; d a z u H a u c k I, S. 432 ff.; S c h u b e r t , S. 296.
190 Franz Flaskamp

wirtsdiaftlidien Fortbestand seines Klosters und die Sammlung einer


neuen Klostergemeinde sein. Als auch dies, sei es durdi Nadisdiub aus
Northimibrien, sei es durdi Heranbildung aus irisdiem Zugang, in Jahr-
zehnten gelungen war, meldete sidi aber ein vorher kaum erwogener
Außendienst, die durch Wilfriths Interesse empfohlene Frieslandmission.
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Ecgberht rüstete wirklich zu einer Frieslandreise. Doch zersdiellte das


beladene S(hi£f in der Nacht vor der geplanten Ausfahrt. So berichtet
Baeda", unverkennbar etwas legendenhaft, aber doch wohl als Zeugnis
für die Tatsache, daß Ecgberht an eigene Frieslandmission gedacht und
sich dafür vorbereitet hat, indessen nicht zu diesem Einsatz gekommen
ist. Wohl zu einem anderen: im Irenkloster Hy-Jona warb er für An-
schluß an den römischen Ostertermin".
Doch hat Wicgberht, der als jüngerer Northumbrier nach Rathmelsigi
gelangt und vielleicht schon für Ecgberhts geplante Fahrt vorgesehen war,
mit einigen Gleichgesinnten die Missionsreise nach Friesland tatsächlich
ausgeführt. Er landete, genoß den Schutz des neuen Friesenfürsten
Ratbod, durfte missionieren, konnte gleichwohl in zweijährigem Mühen
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nichts Nennenswertes erreichen'^. Ratbod selber war dem Christentum


gegenüber bedenklich. Es kann nicht überraschen, daß ein Fürst, der um
seine Selbständigkeit, seine Unabhängigkeit bangen mußte, mit der frän-
kischen Religion sich so wenig einlassen wie mit den Franken selbst zu
tun haben wollte. Wer das aber wußte, im gesellschaftlich belangvollen
Friesland, d.h. im Adel, bei den freien und vermögenden Leuten, mied
die landesfremden Missionare, als wenn dies verkappte fränkische
Agenten gewesen wären. Zweifellos war diese Vorsicht jetzt viel mehr
angebracht, geboten als in den Tagen Aldgisels. Das sollte sidi bald
offenbaren.
Demnächst nämlich änderte sich schon das fränkisch-friesische Neben-
einander. Der austrasische Majordom beseitigte durch die Schlacht bei
Tertry (687) den neustrischen Majordom Ebroin und trug, so im
Frankenreiche merklich erstarkt, um 689 die fränkische Macht wieder
nach Friesland vor, und zwar für den gesamten Raum, der vordem frän-

«i Ebd. S. 296 ff.


" E b d . S. 134f. 193f. 296f. 346ff.; zur Sache: Br. K r u s c h , Die Ein-
führung des griechischen Paschalritus im Abendlande, Neues Archiv d. G. f. ä.
A. Geschiditsk. 9 (1883) S. 99—169; J. S c h m i d , Die Osterfestberedinung auf
den britisdien Inseln (1904); ders.. Die Osterfestberedinung in der abendländi-
sdien Kirdie (1907); S c h u b e r t , Frühmittelalter, S. 268 f.
Baeda I S. 298: duobus annis continuis genti Uli ac regt eins Rathbedo
uerbum salutis praedicahat, neque aliquem tanti laboris fructum apud barharos
inuenit auditores. 7um reuersus..anschließend Alkuins Vita s. Willibrordi,
ed. L e v i s 0 n : MG. SS. rer. Merov. VII (1920) S. 118 f.
Die frühe Friesen- und Sadisemnission 191

kisdi gewesen war Diese Entwicklung wurde Anlaß zur Frieslandfahrt


von Wilfriths geistigem Sohne W i l b r o r d " und zur Einleitung einer
neuen Friesenmission", die nadi fünf Jahren schon zur Gründung eines
eigenen friesisdien Bistums führte, zwar gelegentlidb nodi merklidb gestört
wurde, aber dodi unter zunächst allein northumbrisdier, dann auch
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westsächsiseher, schließlidi fränkisdier und friesischer Betreuung eine


dauernde diristliche Zukunft des „linksrheinischen" Friesland, später auch
des Nordens gezeitigt hat. Zeuge dessen ist allerdings nicht Baeda allein
geworden, wohl aber wesentlicher Gewährsmann für Wilbrords missio-
narische Anfänge und dessen früheste Ergebnisse.
Wilbrord, Sohn eines northumbrischen Edelings Wilgils, war zunächst
Zögling in Wilfriths Gunstkloster Ripon gewesen und 678 Mönch in
Rathmelsigi geworden". Hier hatte er das Mißgesdiick Ecgberhts und
Wicgberhts erlebt und sah sich nun vom Wandel der politischen Lage
zu einer aussiditsvolleren Frieslandmission begünstigt". Die neuen poli-
tischen Maditverhältnisse führten nämlich zu einer Abkehr von der bisher
erstrebten freien Frieseimiission, zu ihrem Einschwenken auf eine
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fränkische Reichsmission, wenn auch von Northumbriem vertreten. Das


Ideal christlicher Verkündigung wurde schnell hintangestellt gegenüber
den wirklichen Gegebenheiten, praktischen Möglichkeiten, Erfolgsaus-
sichten und unsdiwer zu erzielenden Ergebnissen. Als greifbare Resultate
wertete man die Reihen der Taufwilligen und die Anzahl der wirklidi
gespendeten Taufen. Das genügte dem politischen Prinzip der Anpassung,
entsprach auch der Größe einer beschleunigt zu lösenden Aufgabe, ein
ganzes Volk, soweit noch nicht getauft, dem Christentum zuzuführen. In
ähnlich kursorischer Arbeit hatte sich gewiß auch die frühere fränkische
Frieslandmission abgespielt, nur mit dem Unterschiede, daß es damals
an der Nacharbeit gemangelt hatte. Den Northumbriem dagegen wurde
es ermöglicht, die zum Christentum „eingeschriebenen Mitglieder" nach-
träglich einzuführen, das Halbundhalb auszugleichen und die vielen
Bedingtheiten dieser politisch belasteten Mission, die einer „Predigt des

» Fredegarii continuatio, ed. Br. K r u s c h : MG. SS. rer. Merov. II (1888)


S. 172; B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Regesta imperii I' (1908) S. 6 nr. 5a.
" S. o. Anm. 23.
" Baeda I S. 299: et quia [sc. Pippinus dux] nuper citeriorem Fresiam
expulso inde Rathbedo rege ceperat; das „diesseitige" Friesland aus northum-
brisdier Sidit, mit (ebd. S. 303) Wiltenburg-Utredit als widitigstem Platz.
" Vita Wilfridi, S. 220; Baeda I, S. 152. 299; Vita s. Willibrordi, S. 114.
l i e f . 119. 137 f.
" H. B ü t t n e r , Die Franken und die Ausbreitung des Christentums, Hes-
sisdies Jahrbudi 1 (1951) S. 8—24.
192 Franz Flaskamp

Schwertes" ähnelte, nadi und nach zu überwinden. Aber nur, weil die
fränkisdie Hoheit vorerst durch zweieinhalb Jahrzehnte verblieb.
Das Jahr von Wilbrords Ausreise (690) ist durch dessen eigenhändigen
Vermerk^^ im Editernadier Kalender^® verbürgt: In nomine Domini Cle-
mens Uuillibrordus anno sexcentesimo nonagesimo ab incarnatione
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Christi ueniebat ultra mare in Francia. Baeda erzählt von dem Aufbrudi
in voller Apostelzahl Aber nur wenige der Mitarbeiter hat er nament-
lich vermerkt": Suidberht«, Tilmon«, die beiden Eadwalde^^. Sie um-
fuhren den Süden der britischen Insel imd landeten an den Rhein-
mündungen, vielleicht in Duurstede*'. Alsdann bemühte sich Wilbrord
zunächst um eine Begegnung mit dem fränkischen Majordom. Ob ihr
Kommen durch Wilfrith vorbereitet, mit dem Majordom vereinbart war,
ob sie erst durch seine oder andere Geleitbriefe empfohlen wurden? Sie
konnten natürlich nicht als volle Fremdlinge und wie unbekannte Aben-
teurer sich einfinden. Auf jeden Fall: sie waren dem Majordom als
kirchliche Helfer in seiner Frieslandpolitik willkommen und wurden
bereitwillig in deren Dienst gestellt'". So der Huld des Majordoms
versichert, soll Wilbrord dann noch über die Alpen gezogen und in Rom
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beim Papste Sergius (687—701) auch eine förmliche kirchliche Sendung

" Wie die Translatio s. Liborii, ed. G.H. Pertz: MG. SS. IV, (1841) S. 151,
die Sachsenmission Karls d. Gr. kennzeichnet: Quem [sc. Karolum regem] arbitror
nostrum iure apostolum; quibus [sc. Saxonibus], ut ianuam fidei aperiret,
ferrea quodammodo lingtia praedicavit.
« So auA von W. L e v i s o n (MG. SS. rer. Merov. VII, S. 92) nadi dem
„quamuis indignus" des weiteren Textes gefolgert, da nidit ein Fremder so
hätte schreiben dürfen.
« H. A. W i I s o n , The calendar of St. Willibrord (London 1918) Tafel 11.
« Baeda I, S. 298 f.
" Auch der durch Alkuin, Versus de sanctis Euboricensis ecclesiae, v. 1073,
ed. E. D ü m m l e r : MG. Poetae lat. I (1881) S. 191 neben Suidberht genannte
Vira sacerdos mag zu dieser Gemeinschaft gehört haben, doch gesagt ist das nicht.
« Baeda I, S. 302.
" Ebd. S. 301.
" Ebd. S. 299 ff.
Vita s. Willibrordi, S. 120: donec prospero cursu ad ostia Hreni fluminis
vela deposuit; in Thiofrieds Vita s. Willibrord!, ed. A. P o n c e 1 e t , AA. SS.
November III (1910) S. 463, ist ohne ersichtlichen Grund an Gravelingen ge-
dadit. In Duurstede ist 716 Wynfreth gelandet; vgl. Wilbalds Vita s. Bonifatii,
ed. L e v i s o n : SS. rer. Germ., S. 16; zur Lage s. J. H. H o 1 w e r d a , Dorestad:
Bericht der Römisch-German. Kommission des Deutschen Archäolog. Instituts 16
(1927) S. 141—163.
" Solche damals ebenso üblich wie angebracht; Beispiel der Geleitbrief Bischof
Daniels von Winchester (718) für den ausreisenden Wynfreth (ed. T a n g l ,
S. 15 f.), päpstliche Geleitbriefe (722) für den heimkehrenden Bischof Bonifatius
(ebd. S. 29—34).
»« Baeda I, S. 299; audi Vita s. Willibrordi, S. 120 f.; zur Form vgl.
Muntbrief Karl Martells (723) für Bonifatius, ed. T a n g l , S. 36ff., audi in
Wilbalds Vita s. Bonifatii, ed. L e v i s o n , S. 21 f., erwähnt.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 193

erbeten sowie erhalten haben. Dies wird allerdings allein durdi Baeda
bezeugt und mutet sdion darum etwas eigenartig an, weil es ein Sdiritt
gewesen wäre, der dem Herkommen nidit entsprodien hätte; denn weder
Wilfrith nodi Ecgberht nodi Wicgberht waren um eine päpstlidie Sen-
dung besorgt gewesen, ebensowenig madite sich nodi Wynfreth gelegent-
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lidi seiner frühen Frieslandfahrt (716) Gedanken wegen einer benötigten


päpstlichen V o l l m a c h t S o f e r n Baedas Bericht verläßlidi ist, wird man
eine Weisung Pippins zu vermuten haben, sei es zur Rüdcendedcung
seiner Frieslandpolitik schlechthin, sei es zwecks Absicherung gegenüber
den älteren Kölner Diözesanrechten in Friesland" und daraus zu be-
fürchtendem Kölner Einspruch.
In der geschiditlichen Urteilsbildung soll die Vermutung „für die Über-
lieferung streiten", daher audi überrasdiende Einzelzeugnisse gelten lassen,
wenn sie nicht durch das Gewicht von Gegenzeugnissen entkräftet werden.
Baedas Meldung von Wilbrords Romfahrt zwecks einzuholender päpstlicher
Sendung ist aber nicht nur bedenklich, weil ein solches Bemühen in Rom damals
keineswegs üblidi war, sondern auch wegen anderer Zeugnisse, die sidi schlecht
dazu „reimen" lassen. Wilbrord selber hat im Editernacher Kalender wohl
seine 690 erfolgte Reise „nach Franken" eine Romreise aber erst gelegentlich
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seiner 695 erfolgten römisdien Bisdiofsweihe vermerkt". Nadi Baedas Zeugnis


wurde Wilbrord audi erst aus diesem Anlaß in Rom zu „Clemens" um-
benannt", was sdion bei einer wirklich 690 erfolgten römisdien Sendung, wo
dann doch audi Urkunden auszufertigen gewesen wären", hätte geschehen
müssen und gewiß geschehen w ä r e " . Zwar beruft sich Bonifatius 753 in seinen
Sdiwierigkeiten hinsiditlich der erstrebten Nachfolge Wilbrords in Utredit auf
eine tatsächlich geschehene römische „Sendung" Wilbrords, aber erst anläßlidi
der 695 erfolgten römischen Bisdiofsweihe™. Hätte Wilbrord schon vor Antritt
seines friesisdien Dienstes sich in Rom bevollmächtigen lassen, so hätte es für
Bonifatius nahegelegen, sogar zu dieser Stunde dringend sich empfohlen, dies
betont zu erwähnen; denn damit hätte er seine Parallele Wilbrord-Wynfreth
unterstreichen und seine Utrediter Ansprüdie bemerkenswert erhärten können.
Auch sein Gegenzeugnis beweist, daß die Meldung Baedas kaum glaubwürdig
ist. Überdies läßt sich eine von Baeda empfundene Sdiwierigkeit in der friesi-
schen Missionsgeschidite ausmadien, die ihn zu der Meinung oder Überzeugung,

Baeda I, S. 301 f., aber nidit in Alkuins Vita s. Willibrordi; zur eventuel-
len Form vgl. Sendung des Wynfreth-Bonifatius (719), ed. T a n g l , S. 17 f.,
audi Vita s. Bonifatii, S. 21 f.
Wohl 718 bei seiner neuen Ausfahrt, im Hinblick auf die erstrebte Konkur-
renz Wilbrords; aber in Rom damals noch als so ungewöhnlidi empfunden, wie der
eigene Vermerk im Liber pontificalis c. 91 (Vita Gregorii), ed. L. D u c h e s n e ,
2. Bd. (Paris 1892) S. 397, verrät: Hic in Germania per Bonifacium episcopum
verbum salutis praedicavit et gentem illam sedentem in tenebris doctrina lucis
convertit ad Christum, et maximam partem gentis eiusdem sancti baptismatis
lavit unda.
s» S. o. Anm. 15 f. " S. o. Anm. 42.
« S. u. Anm. 65. " Baeda I, S. 303.
" Analogon des Wynfreth-Bonifatius s. o. Anm. 51.
" Über den rein praktischen Sinn, den römischen Kanzleibehuf, s. u. Anm. 76 f.
S. o. Anm. 23.
194 Franz Flaskamp

Wilbrord sei nädist der Verständigung mit Pippin auch nadi Rom gegangen,
bestimmt haben könnte
Durdi das Wohlwollen des Majordoms, also die Rüdcendedsung der
fränkischen Madit, begünstigt, eröffnete Wilbrord in Friesland ein erfolg-
reiches Wirken*'. Die neue politische Lage ließ eine Fühlung mit den
fremden Glaubensboten nicht mehr als fragwürdig erscheinen, nidit mehr
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Argwohn und Verfolgung befürditen, im Gegenteil staatliciies Wohl-


gefallen erhoffen. Vor allem wurde so dem Adel ein Anschluß nahe-
gelegt". Wursing, Liudgers Großvater, ist daher gewiß nicht der einzige
friesische Edeling gewesen, der sich früh durch Wilbrord gewinnen ließ
Der Adel konnte sich damit billig „bei Hofe" empfehlen und audi in
kirchlichen Anwartschaften (Bisdiofsstühlen, Domkapiteln, vornehmen
Stiften und Klöstern) seine führende Stellung festigen und ausweiten.
Dem Beispiel des Adels pflegten alsdann die sonstigen Freien zu folgen.
Was schließlich noch übrigblieb, die Hörigen, Heuerlinge, Knechte und
Mägde, konnte man im Gange des Geschehens unschwer „anpassen",
assimilieren. So ist es überall bei staatlich gesteuerter Missionsarbeit
gewesen, also nicht etwas Besonderes, daß die fränkische Mission „von
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oben nach unten" sich entwickelte. Ein „demokratisches" Aufbauen von


unten her, mit den gesellschaftlich unbedeutenden Volksschichten be-
ginnend, wäre überhaupt unmöglich gewesen, weil ohne weiteres als De-
magogie empfunden und vom Adel abgelehnt worden
Die aristokratisch begünstigte Frieslandmission Wilbrords zeitigte
derart schnelle Fortschritte, daß schon nach fünf Jahren die Gründung
eines eigenen Friesenbistums erwogen wurde, sogar die Weihe weiterer
Bischöfe in Friesland, und als Abschluß wohl die Errichtung einer
friesischen Kirchenprovinz mit der Metropole Utrecht geplant war. Bis
dahin hatte man für Firmungen und die Weihe gottesdienstlicher Stätten
oder wenigstens von Tragaltären wahrscheinlich bischöfliche Hilfe aus
Northumbrien bestellt, sonst aus dem Frankenreiche. Jetzt aber wurde
Wilbrord durch Pippin nach Rom geschickt; er sollte sich dort zum
Bischof weihen und anschließend zum Erzbischof ernennen lassen". Die

•» S. unten Anm. 129.


•1 Baeda I, S. 299: unde factum est, opitulante gratia diuina, ut multos in
breui ab idolatria ad fidem conuerterent Christi; anschließend Vita s. Willi-
brordi, S. 120.
" A. S c h u l t e , Der Adel und die deutsdie Kirdie im Mittelalter (»1958).
«» Altfrieds Vita s. Liudgeri, ed. W. D i e k a m p , Vitae s. Liudgeri (1881)
S. 7; was mehr oder weniger lange vor Grimoalds Ermordung (im April 714 zu
Lüttich; vgl. B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Regesta imperii 'I, S. 9 nr. 21a)
geschehen war.
" Wie beispielsweise die portugiesischen Jesuiten 1637 in ihrer als Wühl-
arbeit empfundenen Japanmission gesdieitert sind.
Die Tatsache der römischen Weihe bezeugen außer Baeda (s. u. Anm. 67)
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 195

Sendung nadi Rom war gewiß bewußt und gewollt. Man darf vermuten,
daß der Majordom sidi in Friesland freie Hand gegenüber den älteren
Kölner Diözesanrediten und zu befürditenden neuen Kölner Ansprüdien
sichern, aber audi die langsame Ablösimg der northumbrisdien Mission
von ihrem Ausgangsland und deren Angliederung zur fränkischen Reidis-
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kirdie fördern wollte. Ohne des Majordoms ausdrüdclidie Weisung hätten


die Frieslandmissionare, kaum zweifelhaft, die Weihe Wilbrords in
Northumbrien nachgesucht.
A m Caecilientage (22. November) wurde Wilbrord in der römischen
Titelkirche der hl. Caecilia"' durch Papst Sergius zum Bischof geweiht";
alsdann wurde ihm auch das Pallium überreicht". Anläßlich dieser
Bischofsweihe erst soll er in Rom anstatt seines dort befremdenden, als
„barbarisch" empfundenen, weil schwer auszusprechenden, schwer ein-
prägsamen, schwer zu schreibenden, auch nicht seinem northumbrischen
Sinn gemäß verstandenen heimischen Namens den Namen des am 23.
November gefeierten hl. Papstes Clemens erhalten haben, wie B a e d a "
berichtet.
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Das Weihejahr 695 ist verbürgt durdi Wilbrords eigenhändigen Kalender-


v e r m e r k E t in Dei nomine anno sexcentesimo nonagesimo quinto ab in-
carnatione Domini, quamuis indignus, fuit ordinatus in Romae episcopus ab
apostolico viro, dom\i\no Sergio papa. Daher ist Baedas Datierung für 696 als
irrig zu erachten. Weihetag und Weiheort bedingen sich gegenseitig, da der
Papst am 22. November in seiner Titelkirche St. Caecilia amtierte'*. Hier ist
der Liber ponficalis c. 86 (Vita Sergii), ed. Th. M o m m s e n : MG. Gesta
pont. Rom. I (1898) S. 216; Baedas Vita Cudbercti prosaica c. 44, ed. J. S t e -
v e n s o n (London 1841) S. 132; Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan
II. (s. o. Anm. 23): Nam tempore Sergii, apostolicae sedis pontificis, venit ad
limina sanctorum apostolorum presbiter quidam mirae abstinentiae et sanctitatis
generis Saxonum, nomine Uuilbrord et alio nomine Clemens vocatus, quem
prefatus papa episcopum ordinavit et ad predicandam paganam gentem Fre-
sorum transmisit in litoribus Oceani occidui; Vita s. Willibrordi, S. 121 ff.
•• H. G r i s a r , Gesdhidite Roms und der Päpste im Mittelalter 1 (1901)
S. 150; V. B i a n c h i - C a g l i e s i , Santa Cacilia e la sua basilica nel
Trastevere (Rom 1902); P.F. K e h r , Italia pontificia 1 (1906) S. 123f.;
J. P. K i r s c h , Die römischen Titelkirdien im Altertum (1918) S. 113—116; über
über das Caecilienfest vgl. C. E r b e s , Die hl. Caecilia usw., Zeitschr. f. Kirdien-
gesdi. 9 (1887) S. 1—66; J. P. K i r s c h , Die hl. Caecilia in der römischen
Kirche des Altertums (1910).
" Baeda I, S. 303: Ordinatus est autem in ecclesia sanctae martyris Ceciliae,
die natalis eins.
" Ebd. S. 302; dazu F. Z e h e t b a u e r . Das Kirdienredit bei Bonifatius
(Wien 1910) S. 46—53.
Ebd. S. 303: inposito sibi a papa memorato nomine Clementis.
H.A. W i l s o n , The calendar of St. Willibrord (London 1918) Tafel 11;
dazu o. Anm. 41.
Beispiel vom Jahre 545 im Liber pontificalis c. 61 (Vita Vigilii), ed.
Mommsen S. 151: Qui Anthemus scribon veniens Romae invenit eum [sc.
Vigilium papam] in ecclesia sanctae Ciciliae X £aZ[endas] Decemb[Tts\; erat
enim die natalis eins.
196 Franz Flaskamp

Baeda genau unterriditet gewesen. Gewiß wurde audi Bonifatius, da am


Andreastag (30. November) 722, in der Titelkircbe St. A n d r e a s " g e w e i h t ' ' .
Diese mit Titelkirdien bedachten Martyrerfeste gestatteten also eine römisdie
Bisdiofsweihe audi an Nidit-Sonntagen Der besondere Editernadier Kalender-
vermerk'® Ordinatio dom\i\ni nostri Clementis zeugt nidit gegen den 22.
November; er wurde nur, um den Raum neben dem Clemensfest (23. November)
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nidit zu belasten, im festlosen Felde zwischen dem 20. und 21. November be-
gonnen und so lediglich bis zum 22. November herabgeführt.
Die Umnennung Wilbrord-CIemens erfolgte allein zu praktischem Behuf der
Römischen Kirche", nicht, wie man später hinsichtlich der Umnennung „Wyn-
freth-Bonifatius" vermutet hat, im Sinne einer Auszeichnung". Man hat sich
daher auch in Rom die Namensuche nicht schwer gemacht: W y n f r e t h wurde nach
dem Tagesheiligen seiner wohl am 14. Mai (719) und in der Titelkirche des
altrömischen Märtyrers Bonifatius ausgesprochenen Sendung, benannt, Wilbrord
nach dem männlichen Heiligen vom Folgetage der am Caecilienfest (695) voll-
zogenen Weihe. Über die Wirkung läßt sich nur halb und halb befinden.
Wynfreth-Bonifatius hat, das erweist sein verbliebener mengenhafter Brief-
wechsel, fortan gegenüber vertrauten Landsleuten sich des Namendoppels be-
dient, im übrigen aber nur den „angenommenen" Namen verwertet. W i e aber
Wilbrord verfahren ist? Die Zeugnisse sind zu gering an Zahl und zu wenig
besagend, als daß ein bündiges Urteil anginge. Als „Wilbrord-CIemens'' hat
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er sich im Echternacher Kalender'®, so hat auch Bonifatius bei einmaliger


Erwähnung ihn g e n a n n t " . Baeda spricht gleichfalls von „Uilbrord cognomento
Clemens"^; dagegen war er f ü r das Kloster Echternach der „dominus noster
Clemens"Darf man daraus mit einiger Wahrscheinlichkeit folgern, daß er
mehr als Bonifatius auf seinen angestammten Namen d ü r f t e gehalten haben? —
D a ß später bei dem einen der heimische Name schlechthin gebräuchlich blieb,
bei dem anderen der neue Name durchaus sich einbürgerte, hatte seinen Grund
im Biographischen: Baeda und seine Nachfolger schrieben „Wilbrord", der
Mainzer Priester Wilbald und seine Nachfolger schrieben „Bonifatius".
Dem heimgekehrten Wilbrord-CIemens wies Pippin den befestigten
Handelsplatz Wiltenburg-Utredit als Bischofssitz an®^ und bedachte den

'2 K e h r , Italia pontificia 1, S. 56 f.


" Wilbalds Vita s. Bonifatii, S. 29; die Weihebriefe, ed. T a n g l , S. 16 ff.,
sind vom folgenden Werktag (Dienstag, 1. Dezember) datiert, d . h . da aus-
gefertigt.
" Th. M i c h e l s , Beiträge zur Geschichte des Bischofsweihetages im christ-
lidien Altertum und im Mittelalter (1927) S. 52.
'5 W i e oben Anm. 70.
'» S. o. Anm. 58.
" Von der vermeintlichen dignitas in Wilbalds Vita s. Bonifatii, S. 29 f.,
über Liudgers Vita Gregorii abbatis Traiectensis, ed. O. H o l d e r - E g g e r :
MG. SS. X V 1 (1887) S. 72, und Vita et miracula s. Pirminii, ebd. S. 28f.,
und Radbods Vita s. Bonifatii, ed. L e v i s o n S. 64, und Vita tertia s. Bonifatii,
ebd. S. 82, und Hukbalds Vita s. Lebuini, ed. M i g n e , PL. 132, Sp. 885, sdiließ-
lich zur vermeintlich einwandfreien Erklärung als „Wohltäter" gediehen; vgl.
F. F l a s k a m p , Der hl. Bonifatius im Blickfelde Luthers: Arch. f. Kulturgesch.
46 (1964) S. 219—226.
'» S. 0. Anm. 42. '» S. o. Anm. 65.
Baeda 1, S. 303. S. o. Anm. 75.
S. u. Anm. 84.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 197

neuen Friesenbisdiof mit dem friesischen Zehnten Wilbrord errichtete in


Utredit eine Erlöserbasilika als Bischofskirche und schloß ein S t i f t " mit
Stiftssdiule " an. Zuvor gewiß hatte er die zerstörte Martinskirche wieder-
aufgebaut'^, mittlerweile auch schon mehr oder weniger zahlreiche neue
Kirchen und Kapellen im weiten Missionsgebiet erstehen lassen''. Von
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diesen Einzelheiten war Baeda gleichfalls einigermaßen imterrichtet. Ihm


allein ist aber noch eine recht beachtliche Mitteilung zu verdanken: daß
der daheim umstrittene Bischof von York auf einer weiteren Romfahrt
(703/04) zusammen mit seinem Vertrauensmann Acca den Friesenapostel
Wilbrord in Friesland besucht habe

" Worauf Zehntdiplom König Pippins, von Verberie 23. Mai 753, ed. E.
M ü h I b a c h e r : MG. DD. Karol. I (1906) S. 6 f. nr. 4, verweist: ad illo
episcopatu, ut omnem decimam de terra seu de mancipia aut de theloneo vel
de negotio aut undecumque ad partihus fisci census sperare videbatur.
^ Baeda I, S. 303: Donauit autem ei Pippinus locum cathedrae episcopalis
in castello suo inlustri, quod antiquo gentium illarum uerbo Uiltaburg, id est
oppidum Uiltorum, lingua autem Gallica [sc. Latina] Traiectum uocatur; in
quo aedificata ecclesia, reuerentissimus pontifex lange lateque uerbum fidei
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praedicans...; audi Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed.
T a n g l S. 235: et sedem episcopalem et aecclesiam in honore sancti Salvatoris
constituens in loco et castello, quod dicitur Traiectum; et in illa sede et in
aecclesia sancti Salvatoris, quam construxit, predicans usque ad debilem senectu-
tem permansit; ebenso Altfrieds Vita s. Liudgeri, S. 21: Liudgerus igitur in
ordine vicis suae nocturnis temporibus post psalmodiam et orationes speciales ...
in solario aecclesiae sancti Salvatoris, quam sanctus Willibrordus construxerat,
membra quieti dare solebat-, dafür auch Schenkung Karl Martells vom 9. Juli
726, ed. S. M u 11 e r , Het oudste cartularium van het stidit Utrecht (s'Graven-
hage 1892) S. 6 nr. 2 (vgl. B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg. imp. ^I, S. 16 nr.
38, auch M u 11 e r , Regesten van het archief der bissdioppen van Utredit I
(1917) S. 1 nr. 2): ad basilicam, quae est constructa in honore Salvatoris, domini
nostri Jesu Christi.
" Schenkung Karl Martells vom 1. Januar 722, ed. M u l l e r , Het oudste
cartularium, S. 3 nr. 1 (vgl. B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg. imp. 'I, S. 14 nr.
34, audi M ü l l e r , Regesten, S. 1 nr. 1): ad monasterium, quod est infra
muros Traiecto Castro situm constructum, ubi apostolicus vir, dom\i\nus et in
Christo pater noster Uuillibrordus ardiiepiscopus sub sanctae conversationis
caenobitali ordine custos preesse videtur.
Sdiüler dortselbst wohl die Brüder Willibradit und Thiadbradit (Vita s.
Liudgeri, S. 10), deren Neffe Liudger (ebd. S. 13 f.) nadi seinem eigenen Zeugnis
(Vita Gregorii abbatis Traiectensis, S. 66): sermo iste de dom[i]no Gregorio,
abbate et praeceptore meo ab infantia; auch ebd. S. 78: beatus abbas mens et
praeceptor Gregorius.
" Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l S. 235:
et eam [sc. ecclesiolam' derutam] proprio labore a fundamento construxit et
in honore sancti Martini consecravit.
" Baeda I, S. 303: plures per illas regiones ecclesias... construxit; audi
Bonifatius, ed. T a n g l S. 235: fana et dilubra destruxit et aecciesias con-
struxit.
" Ebd. S. 152: Denique reuerentissimus antistes Acca [seit 709 Bisdiof
von Hexham] solet referre, quia, cum Romam uadens apud sanctissimum Fre-
sonum gentis ardiiepiscopum Uuilbrordum cum suo antistite Uilfrido moraretur.
198 Franz Flaskamp

Das sowohl monasterium wie coenobium genannte Stift beherbergte zunächst


northumbrisdie (vielleidit audi einige irisdie) Möndie stärker kolumbanischer
Richtung, nicht Benediktiner, wandelte sieh aber mit der Zeit, durch den
friesischen Nachwuchs, zu einem Heim weltgeistlicher Domherren. Zeugnis
dieser Entwicklung ist der friesische Edeling Liudger": zunächst Schüler der
Stiftsschule", dann Kleriker im Stift»2, 767 Diakon zu York»», 777 Priester zu
Köln»^, 784—87 in Monte Cassino, dort im Ordenskleid mit der benediktini-
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schen Lebensform bekannt geworden" und zur späteren Eigenklostergründung


zu Werden (799) gerüstet", trotzdem Weltgeistlicher {canonicus) geblieben".
Die altfundierte fränkische Martinskirche und die neue Erlöserbasilika samt
Stift und Stiftsschule wurden einheitlich durch Wilbrord betreut, entsprechend
gewiß auch durch dessen im Auftrage des Majordoms Karlmann berufenen
Nachfolger D a d a n " . Die wirtschaftliche Ausstattung eben des Bischofs" ge-
währleistete den Bestand des Ganzen. Nach Dadans Tode trat aber eine Gliede-
rung ein, und zwar aus dem Gegensatz und Gegeneinander privater, missiona-
rischer, fränkisch-kirchlicher Interessen. Zunächst wurde der fränkische Bonifatius-
Schüler Gregor zum Abt des Stifts und Leiter der Stiftsschule bestellt"»,
Ende Mai 753 Bonifatius selber zum Treuhänder der Friesenmission berufen
und mit der fundierten Martinskirche versorgt'", dessen Chorbischof Eoba
mit der Erlöserbasilika bedacht"'. Nach dem Tode des Bonifatius und des
crebro eum audierit de mirandis, quae ad reliquias eiusdem reuerentissimi regis
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[sc. Osualdi] in illa prouincia gesta fuerint, narrare.


" Alois S c h r ö e r , Chronologische Untersuchung zum Leben Liudgers, in:
Westfalia sacra 1 (1948) S. 85—138.
" S. o. Anm. 86.
Altfrieds Vita s. Liudgeri, S. 14: deposito saeculari habitu in Traiecto
monasterio.
" Ebd. S. 15.
Ebd. S. 21, anläßlich der Bischofsweihe Alberichs; vgl. Fr. W. O e d i g e r ,
Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, 1961, S. 34 nr. 79.
" Ebd. S. 25: penexit Romam et inde progrediens pervenit ad monasterium
sancti Benedicti in regno Beneventino et illic in sancta conversatione con-
sistens didicet regulam eiusdem sancti patris Benedicti.
" Ebd. S. 37 f.; Niederrheinisches Urkundenbuch I, Nr. 2—28.
" Ebd. S. 36: Cucullam eo, quod promissionem observationis monadiorum
non fecerat, portare desivit.
" Bonifatuis nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g ! S. 235:
Princeps autem Francorum Carlmannus commendavit mihi sedem illam ad con-
stituendum et ordinandum episcopum. Quod et feci. Ist also während der
kurzen Regentschaft Karlmanns in Austrasien (741—47), doch, da schon auf
dem Concilium Germanicum (742) begegnend, gleich anfangs geschehen; für die
weitere Entwicklung fehlen alle Zeugnisse. Ob der Nachfolger Wilbrords in
Utrecht wirklich bis zur 752 neu erörterten Sedisvakanz gelebt hat?
" S. o. Anm. 83.
Liudgers Vita Gregorii c. 1, S. 66; Altfrieds Vita s. Liudgeri I c. 10. 15,
S. 15 f. 19.
"" Diplome König Pippins von Verberie 23. Mai 753, ed. M ü h l b a c h e r :
MG. DD. Karol. I, S. 6£f. nr. 4 f.; vgl. B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg.
imp. ^I, S. 33 f. nr. 70 f., auch M u 11 e r , Regesten van het archief der bisschop-
pen van Utrecht, S. 1 nr. 3 f.
Wilbalds Vita s. Bonifatii c. 8, ed. L e v i s o n S. 47: Et multa iam milia
hominum, virorum ac mulierum, sed et parvulorum, cum commilitone suo
diorepiscopo Eoban baptizavit; quem ad subveniendum suae senilis aetatis
debilitati Fresonis, iniuncto sibi episcopio in urbe, qui vocatur Tredit, subrogavit.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 199

Eoba, beide am 5. Juni 754 bei Dokkum ermordet'"', übernahm Gregor neben
seiner bisherigen Verwendung audi die Treuhändersdiaft für das friesische
Missionswerk somit ingleichen die fundierte Martinskirdie, der neue, aus
Northumbrien stammende Chorbischof Aluberht wieder die Erlöserbasilika"".
Nach Gregors Tode (774) folgte in dessen Stellungen der fränkisdie Neffe
Alberich'"', und dieser wurde nach auch wohl Aluberhts Tode 777 Diözesan-
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bisdiof von Utrecht"", erlangte also wieder die umfassende Rechtsstellung


Wilbrords. Zwischendurch war jedoch die altfundierte Martinskirche bereits zur
Bischofskirche b e s t i m m t i n f o l g e d e s s e n glitt Wilbrords Erlöserbasilika zu einer
Nebenkirche ab"". Dieser Wechsel in Äußerlichkeiten spiegelt aber auch einen
Wandel in der Sache: die fremdländische Mission wurde zur fränkischen Reichs-
kirche eingeschmolzen; man holte die altfränkische Martinskirche aus dem
Abseits hervor, kennzeichnete so die altfränkische Frieslandmission als das
Wesentliche, als die Epoche der friesischen Kirchengeschichte, das Wirken der
Northumbrier als nur episodenhaftes Nach- und Zwischenspiel.
Der literarische Streit wegen des Ranges der Utrechter Kirchen hätte nicht
aufkommen können, wenn man weniger auf den Nimbus des Bonifatius, mehr
auf die Nüchternheit fränkischer Kirchenpolitik geachtet hätte. Es war eine
irrige Meinung, der fränkische Majordom Pippin der Jüngere sei in den Ver-
handlungen von Verberie (Mai 753) den Zuflüsterungen des Westsachsen
Bonifatius erlegen, habe die Absichten dieses im fränkischen Episkopat sehr um-
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strittenen Ausländers unbedingt gelten lassen und den Widerspruch des Bischofs
Hildegar von K ö l n ' " bündig verworfen; er habe den westsächsischen Bonifatius-

'»3 Ebd. S. 49f.; Eigils Vita s. Sturmi, ed. G . H . P e r t z : MG. SS. II (1829)
S. 372; s. u. Anm. 159£f. " . . .
Liudgers Vita Gregorii c. 10, S. 74 f.: Sed et hoc silentio minime tegendum
est, ... quia post martyrium sancti magistri [sc. Bonifatii] . . . ipse quoque
beatus Gregorius a Stephane, apostolicae sedis praesule, et ab illustri et religioso
rege Pippino suscepit auctoritatem seminandi verbum Dei in Fresonia.
w Ebd. S. 75: simul cum chorepiscopo et adiutore suo Aluberhto, qui de
Britannia et gente Anglorum veniebat; seine Bischofsweihe 767 in York ist durch
Northumbrisdie Jahrbücher, hg. von R. P a u l i , Forschungen z. dt. Gesch. 12
(1872) S. 151 bezeugt, auch Altfrieds Vita s. Liudgeri I 10, S. 15 f.; Aluberht
ist aber offenbar niÄt der früheste Chorbischof Gregors gewesen, es sei denn,
dieser habe sich solange der Hilfe anderer Bischöfe, besonders des kölnischen,
bedient.
" " Ebd. c. 15, S. 79: de tardatione electi filii eins Albrici; Altfrieds Vita
s. Liudgeri I 15, S. 19: Sed et abbas Gregorius migravit ad Dominum, et suscepit
curam pastoralem Albricus, nepos eius.
Vita s. Liudgeri I 17, S. 31; dazu F r . W . O e d i g e r , Regesten d. Erz-
bischöfe v. Köln I, S. 34 nr. 79.
Bezeugt durch Diplom König Karls von Nimwegen 8. Juni 777 für die
Martinskirche, ed. M ü h l b a c h e r : MG. DD. Karol. I, S. 164 nr. 117: ad
basilicam sancti Martini, quae est constructa Traiecto Veteri subtus Dorestato
ubi venerabilis vir Albricus presbiter atque electus rector preesse videtur.
" " Liudgers Vita Gregorii c. 15, S. 79: oratorium sancti Salvatoris.
" " Begann mit S. M u l l e r , Die S. Salvatorskirche in Utrecht, Westdeutsche
Zeitschr. 16 (1897) S. 256—292, und endete mit N. B. T e n h a e f f , Dom en oud-
munster te Utrecht, Bijdragen voor vaderlandsche geschiedenis en oudheidkunde,
5. Reihe 2 (1915) S. 333—364.
Bonifatius nach 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed. T a n g l , S. 235:
Nunc autem Colon[i]ensis episcopus illam sedem prefati episcopi Clementis
a Sergio papa ordinati sibi usurpat et ad se pertinere dicit.
2 Ardiiv für Kulturgescfaidite 51/2
200 Franz Flaskamp

sdiüler Lul zum Bisdiof von Mainz ernannt und den so verfügbar gewordenen
bisherigen Mainzer Bisdiof Bonifatius zum Bisdiof von Utredit, und das un-
besdiadet der unbestreitbaren alten Kölner Anredite. So töridit aber waren
die Arnulfinger nidit, daß sie Ausländerstimmen Gehör geliehen und heimisdie
Leute ignoriert hätten. Pippin trug vielmehr in Verberie auf beiden Sdiultern
und bahnte eine Übergangslösung an mit dem Hinblidc auf sein festes Ziel,
eine kirdilidi-fränkisdie Zukunft Frieslands. Er beurlaubte den Bonifatius aus
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dessen Mainzer Diözesangesdiäften, gestattete die Annahme Luis als stell-


vertretenden Chorbisdiofs ermöglidite so dem Bonifatius die friesisdie Treu-
händersdiaft, gewährte ihm aber nidit das Bistum Utredit. So wurde audi die
Leidie des Bonifatius nidit in der Utrediter Erlöserbasilika aufgebahrt, sondern
in der M a r t i n s k i r d i e D i e weitere Entwidtlung hat Pippin nidit mehr erlebt:
daß (777) der Franke Alberidi Gesamterbe des von frühen Franken, dann
Northumbriern, dann audi Westsadisen, sdiließlidi jüngeren Franken und dazu
sdion friesisdiem Nadiwudis vertretenen Missionswerks in Friesland werden
durfte
Zusammenfassend kennzeidinet Baeda das Wirken Wilbrords als ein,
wenn auch vielleicht nicht volles Gelingen, so doch überzeugendes Ge-
nügen: an Mitarbeitern habe es ihm dank andauerndem heimischen In-
teresse nicht gemangelt, einige seien jedoch mittlerweile gestorben; er
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habe viele Neuchristen gewonnen, viele Kirchen errichtet, auch einige


Klöster gründen und sogar aus dem Kreise seiner Mitarbeiter neue Bi-
schöfe berufen können"'. Man darf nicht annehmen, das seien ganz
leere Worte im Legendenstil; dafür war Baeda doch zu sehr den ge-
schichtlichen Tatsachen innerlich verpflichtet. Er mochte wirklich mehr an
Einzelheiten erfahren haben, als der heutigen Beobachtung noch zu-
gänglich ist. Manches, was er über Wilbrords Erfolge mitteilt, darf man
sowieso angesichts seines langjährigen Mühens ohne weiteres gelten
lassen, so die große Schar der Getauften, den aufgekommenen Bedarf an
Kirchen und Kapellen. Von einem sehr gewachsenen Mitarbeiterkreis
zeugt die urkundlich für 704 verbürgte Ausdehnung nach Thüringen"',

Lul, seit 752 Chorbisdiof (Bonifatiusbriefe, S. 213 nr. 93), wurde erst nadi
dem Tode des Bonifatius Bisdiof von Mainz und erst zwisdien 780 und 782
Erzbisdiof und Metropolit.
Eigils Vita s. Sturmi c. 14, S. 372.
S. o. Anm. 107.
Baeda I, S. 303: reuerentissimus pontifex lange lateque uerbum fidei
praedicans, multosque ab errore reuocans, plures per illas regiones ecclesias,
sed et monasteria nonnulla construxit; nam non multo post alios quoque illis in
regionibus ipse constituit antistites ex eorum numero fratrum, qui uel secum,
uel post se illo ad praedicandum uenerant, ex quibus aliquanti iam dormierunt
in Domino.
Monumenta Epternacensia, ed. L. W e i l a n d : MG. SS. X X I I I (1874)
S. 55 f., dazu O. D o b e n e c k e r , Regesta diplomatica necnon epistolaria
historiae Thuringiae I (1896) S. 3 f. nr. 5, auch C. W a m p a c h , Geschidite der
Grundherrsdiaft Edhternadi im Mittelalter I (1930) S. 113 ff.: der letzte Thürin-
gerherzog Heden (über ihn auch Wilbalds Vita s. Bonifatii c. 6, S. 32 f. sowie
MG. SS. rer. Merov. V S. 711—714) und dessen Gattin Theodrada sdienken
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 201

auch die noch 724 daselbst begegnende Reihe northumbrisdier Geist-


lichen"'. Wilbrords festländisches Klosterinteresse läßt sich durch zwei
Beispiele belegen, die 706 erfolgte Gründung des Großklosters Echter-
n a c h " ' und die 716 angebahnte Gründung zu Hammelburg"', sein
Mühen um weitere Bischöfe freilich nur durch die Annahme eines Chor-
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bischofs und die mögliche Berufung Theudberhts für Duurstede


Baeda sdiließt 731 seinen Beridit mit einem Hinweis auf Wilbrords
mittlerweile erreichtes hohes Alter und dessen nahende Vollendung'^'.
Er wähnte wohl nicht, daß auch hier das Schicksal gegen die W a h r -
scheinlichkeit befinden sollte: Wilbrord hat, obwohl fünfzehn Jahre älter
als Baeda, doch vier Jahre länger gelebt. Aber Baeda schrieb dem
greisen Friesenmissionar einen Ehrentitel (venerabilis) zu, der später ihm
selber verliehen ward, unter dem er selber in der Geistesgeschichte ver-
ankert wurde.
In diesem letzten Blick nach Friesland überschlägt Baeda auch W i l -
brords 36 Bischofsjahre'^'. Dabei konnte er kaum dem Gedanken aus-
weichen, daß doch erheblich mehr, auch in belangvollen Dingen, zu
melden gewesen wäre, wenn die friesische Mission sich nicht so wort-
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karg benommen hätte. Um nur zwei Neben- und Gegenentwicklungen

am 1. Mai 704 auf der Feste Würzburg dem Bisdiof Wilbrord aus ihrem Grund-
besitz bei Arnstadt, Mühlberg und zu Monra, der teilweise 726 (Dobenecker I,
S. 7 nr. 15) dem Kloster Editernadi überlassen wird.
Wilbalds Vita s. Bonifatii c. 6, ed. L e v i s o n S. 33: Torditwine et
Berdithere, Eanberdit et Hunraed; diese allerdings, da zur Gesellsdiaft Wilbrords
gehörend, von Bonifatius als „Irrlehrer" beanstandet.
"8 MG. SS. rer. Merov. VII, 1920, S. 88 f.; A. H a l b e d e l , Fränkisdie Stu-
dien (1915) S. 16ff.; C. W a m p a c h , Grundherrsdiaft Editemadi (2 Bde.
Luxemburg 1930/31).
" ' Monumenta Epternacensia, S. 60, dazu D o b e n e c k e r , Regesta I, S. 6 nr.
7: Thüringerherzog Heden schenkt am 18. April 716 auf der Feste Hammelburg
seinen gesamten dortigen Grundbesitz rechts der Fränkisdien Saale zum Zwecke
einer geplanten Klostergründung an Wilbrord (ubi et cogito Dei misericordia per
ipsius apostolici viri consilium monasterium construere); am 19. März 907 (Do-
benecker I, S. 74 f. nr. 312) Besitztausdi zwischen Editernadi und Fulda.
Bonifatius nadi 23. Mai 753 an Papst Stephan IL, ed T a n g l S. 235:
Et sibi corepiscopum ad ministerium implendum substituit; Name nicht bekannt,
muß aber (s.o. Anm. 98) vor der Berufung Dadans (741/42) gestorben sein.
W. L e v i s o n , Willibrordiana, Neues Ardiiv 33 (1908) S. 517—525,
audi: Aus rhein. u. fränk. Frühzeit S. 330—337.
Baeda I, S. 303: Ipse autem Uilbrord cognomento Clemens adhuc superest,
longa iam uenerabilis aetate, utpote tricesimum et sextum in episcopatu habens
annum, et post multiplices militiae caelestis agones ad praemia remunerationis
supernae tota mente suspirans.
Baeda geht dabei von seinem terminus quo „696" (s. o. Anm. 70 f.) aus
und gelangt durch Abzählen der Jahre (696. 97. 98. . . . 729. 30. 31) zu dieser
Summe. Dieses Verfahren war indessen weder typisdi angelsädisisdi noch aus-
schließlich mittelalterlidi; daneben kannte man das Aufrechnen der Jahre,
Monate und Tage.

202 Franz Flaskamp

zu nennen, die sdion ihrer Eigenart und ihrer möglichen Folgen wegen
eigentlidi gar nidit übersehen werden konnten und übergangen werden
durften, nämlidi die erheblidie Störung des friesisdien Missionswerkes
und beinahe Ausweglosigkeit Wilbrords nadi dem Tode Pippins (714)
und während der so veranlaßten Maditkämpfe in Franken'" sowie die
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wohl damit zusammenhängende Ljindung (716) und dann bleibend


lästige Konkurrenz Wynfreths Davon hat Baeda, wie es sdieint, nichts
erfahren. Wohl umgekehrt: der westsächsische Gegenspieler Wilbrords
gehörte zu den frühesten Baedazeugen, Vertretern von Baedas wissen-
schaftlichem Ansehen sogar auf dem Festland
Aber für das Schicksal einer bestimmten Gruppe aus Wilbrords Schar
blieb man in Wearmouth-Jarrow etwas aufmerksamer. Baeda verwertete
sich als Anwalt ihrer Erinnerung, er allein. Was die Missions- und
Kirchengeschichte noch einigermaßen tatsachenhaft, einigermaßen durch-
sichtig von Suidberht und den beiden Eadwalden zu melden weiß,
geht auf Baedas Zeugnis zurück. Er hat gleichfalls nicht viel zu sagen
vermocht, doch immerhin eine Entwicklung ausgewiesen, besser: an-
gedeutet.
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Nach Baedas Worten vollzog sich Wilbrords Romreise zum Zwecie


der Bischofsweihe in voller Einmütigkeit seiner damaligen friesischen
Missionsgesellschaft"'. Wenn aber ein solcher Consens betont wird, so
heißt das zugleich, dies sei nicht als selbstverständlich zu erachten, habe
auch anders sein können, sei nicht immer so gewesen, obwohl man eigent-
lich hätte meinen mögen, eine solche isolierte Gemeinschaft auf vorge-
schobenem Posten habe aus Sinn für Verantwortung jedwede Unstimmig-
keit zu vermeiden gesucht und zu verhüten gewußt. Tatsächlich war vor-
dem einmal eine böse Mißhelligkeit aufgekommen, unbeabsichtigt zwar,
doch mit sehr peinlichen Verstriciungen. Die Frieslandmissionare hatten
sich nämlich entschlossen, einen älteren Geistlichen ihres Kreises, Suid-
berht, zum Bischof weihen zu lassen, doch wohl, um fortan bei Firmun-
gen und Kirchweihen nicht mehr fremder Hilfe zu bedürfen. Sie hatten
diesen dann auch zum heimischen Northimfibrien geschickt, sich weihen

B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg. imp. ^I, S. 12f. nr. 301 — 31f.; auch


Wilbalds Vita s. Bonifatii c. 4, ed. L e v i s o n S. 16: gravi ingruente paganorum
impetu hostilis exorta dissensio inter Carlum, principem gloriosumque ducem
Frandiorum, et Redbodum, regem Fresonum, populos ex utraque parte pertur-
bahat, maximaque iam pars ecclesiarum Christi, quae Frandiorum prius in
Fresia subiectae erant imperio, Redbodi incumhente persecutione ac servorum
Dei facta expulsione vastata erat et destructa, idulorum quoque cultura ex-
structis dilubrorum fanis lugubriter renovata.
Fr. F l a s k a m p , Wilbrord-Clemens und Wynfrith-Bonifatius, in: Jubi-
läums-Festgabe „St. Bonifatius" (1954) S. 157—172.
« • S. o. Anm. 5.
Baeda I, S. 302: fauente omnium consensu.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 203

zu lassen; Bisdiof Wilfrith von York, damals flüditig in Mercien, hatte


ihn geweiht"'. Daraus war aber den Friesenmissionaren eine arge
Verlegenheit erwachsen, hatte sidi bei diesem gleidistrebenden Kreis eine
Gruppenbildung ergeben. Suidberht war mit seinem unbedingten Anhang
abgerüdct, Wilbrord mit dem wohl größeren Rest geblieben und er dann
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später — ohne Schwierigkeiten — Bisdiof geworden.


Von dieser unerquidslidien Entwidmung hat audi Baeda erfahren,
wohl nidit alle Einzelheiten und alle Fäden des Zusammenhanges, aber
dodi soviel, daß er sidi sagte, bei mehr Vorsidit und Behutsamkeit habe
sidi dieser üble Zwisdienfall nidit zu ereignen braudien. Er hat überlegt,
wie es dazu gekommen sein mödite, was etwa inkorrekt gewesen sei. So
stellt sidi ihm ein ethisdies und ein kirdienreditlidies Problem. Beiden
ist er nadigegangen; das eine hat er jedodi unabhängig von dem anderen
erwogen, infolgedessen das Gesdiehnis einmal so und das andere Mal
durdiaus abweidiend datiert. Der eine Zeitvermerk ist gewiß falsdi, der
andere mag riditig sein.
Das ethisdie Problem: Baeda, in klösterlidier Disziplin groß geworden,
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im Würfelspiel der Politik nidit erfahren, stand vor dem Rätsel, wie man
den untergeordneten Suidberht habe preisgeben, den verantwortlidien
Missionsobern Wilbrord habe sdionen können. Er vermutet, behauptet
geradezu, alles sei ohne Zutun Wilbrords gesdiehen, ohne sein Wissen
und seine Beteiligung, sei also eine — man darf sagen — unverantwort-
lidie Eigenmäditigkeit der ihm unterstellten Leute gewesen, habe sidi
eben bei längerem Fernsein Wilbrords abgespielt. Als soldie längere
Abwesenheit betraditet er die angeblidie Romreise Wilbrords aus Anlaß
der 690 eingeholten päpstlidien Sendung"'. So hat er die Wahl und
Weihe Suidberhts auf 690 datiert. Das alles kann nidit zutreffen; denn
eine derartige Eigenmäditigkeit ist den abhängigen Leuten nidit im
mindesten zuzutrauen; überdies bestand damals, wo die friesisdie Arbeit
erst beginnen sollte, keinerlei Anlaß zu einer Bisdiofswahl und Bisdiofs-
weihe. Nodi mehr: Wilfrith von York hätte gewiß keinen Anwärter ge-
weiht, der ohne die üblidien Empfehlungsbriefe"", hier seines Ver-
trauensmannes Wilbrord, gekommen wäre. Es kann darum nidit zweifel-
haft sein, daß Wilbrord ebenso beteiligt gewesen war wie die anderen,
im Grunde mehr verantwortlidi als diese. Wenn aber nun der geweihte
Suidberht das Ägernis darstellte, er als ein „Unmöglidi" politisdi

128 durdi Baeda hier bezeugt; über die gefählsdite Vita s. Swiberti des
Pseudo-Marcellinus (hg. von N. S u r i u s , De probatis sanctorum historiis III,
1618, S. 3—16) vgl. W. D i e k a m p , Histor. Jahrbudi 2 (1881) S. 272—287,
über den Fälsdier Theoderidi Pauli von Gorkum vgl. Jan R o m e i n , Gesdiiede-
nis van de Noord-Nederlandsdie gesdiiedsdirijving in de middeleeuwen (Haar-
lem 1932) S. 219fF. "» S. o. Anm. 51. S. o. Anm. 49.
204 Franz Flaskamp

beantstandet wurde, ließ sidi kaum ein anderer Ausweg finden als sein
Sdieiden vom friesisdien Missionsfelde. Oder sollte man das ganze
friesische Unternehmen preisgeben?
Das kirdienreditlidie Problem: Suidberht war durch einen einzelnen
»md einfachen Bisdiof geweiht, während nadi altkirdilidier Ordnung nur
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ein Erzbischof sollte weihen dürfen und audi er nur unter Assistenz
(Zeugenschaft) zweier sdion geweihten Bischöfe"'. Baeda kannte zwar
einen Praecedenzfall: im Jahre 627 hatte Bischof Paulinus von York,
gleichfalls als einfacher Bischof und einzeln, in Lincoln den neugewählten
Metropoliten Honorius von Canterbury konsekriert, was besonders in-
korrekt gewesen und dadurch nicht korrekt geworden war, daß Papst
Honorius I. (625—38) nadi einigen Jahren (634) beiden, dem Weihe-
bischof ebenso wie dem Geweihten, das Pallium verliehen hatte"'. Das
weiß auch Baeda. Daher beruft er sich nicht auf diesen Praecedenzfall,
um Wilfriths Alleingang verständlich zu machen, zu entschuldigen. Er
bedient sich einer anderen Erklärung: der neuberufene angelsächsische
Metropolit Berchtwald von Canterbury sei seiner Weihe wegen zum
Erzbischof Gottfried von Lyon unterwegs gewesen und nicht rechtzeitig
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heimgekehrt"'. Als wenn der Northumbrier Suidberht seine Weihe in


Canterbury hätte nachsuchen wollen, als Mitglied der dem Bischof Wil-
frith von York unbedingt ergebenen friesischen Missionsgesellschaft sich
nach Canterbury habe wenden, den heimischen Erzbischof-Anwärter
Wilfrith habe ignorieren dürfen! Inmmerhin hat Baeda so, mit dieser
angeblichen Bedingtheit, die Weihe Suidberhts auf den Sommer 693
datiert; denn, soweit Baeda wußte, war Berhtwald am 1. Juli 692 ge-
wählt, am 29. Juni 693 geweiht'" und am 31. August 693 wieder in
Canterbury gelandet.
Die Schwierigkeiten aber, die sich demnächst in Friesland einstellten
und Suidberhts Abrücken veranlaßten, rührten niciit von den kirchen-

F. H i n s c h i u s , Kirdienrecht I (1869) S. 101 ff. Bonifatius bestellte


daher für die Weihe des vorgesehenen Thüringerbischofs Wilbald, am 21./22.
Oktober 741 zu Sülzenbrüdcen bei Erfurt vollzogen, die entfernten Bischöfe Witta
von Buraburg und Burchard von Würzburg; vgl. Fr. F l a s k a m p , Das Bistum
Erfurt, Westfäl. Zeitsdir. 83 (1925) S. 1—26.
Baeda I, S. 119ff.; Ph. J a f f 6, Reg. pont. Rom. «I (1885) S.225 nr.2019f.
Ebd. S. 302.
Ebd. S. 295. Indessen vermerkt der Liber pontificalis c. 86 (Vita Sergii),
ed. Th. M o m m s e n S. 216: Hic [sc. Sergius papa] ordinavit Bertoaldum,
Britanniae ardiiepiscopum, atque dementem in gentem Frisonum, womit also
Berhtwalds wie Wilbrords römische ordinatio behauptet, als gleichartig be-
handelt wird. Ob daneben wirklich Baedas Zeugnis von Berhtwalds in Lyon
erfolgter Weihe bestehen kann? Ob man ein Versehen der Vita Sergii vermuten
oder annehmen darf, der Verfasser habe die Verleihung der Pallien als
ordinatio bezeichnet?
Die frühe Friesen- und Sachsenmission 205

reditlidien Mängeln seiner Weihe, sondern von seiner Wahl und Weihe
überhaupt. Der selbstbewußte fränkisdie Majordom interessierte sidbi
kaum für Formen und Formeln des römisdien Kirdienredits, um so mehr
aber für die Weiten und Engen, Möglichkeiten und Grenzen, Fäden und
Masdien des staatlidi-fränkisdien. Er mußte die ohne sein Einvernehmen
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erfolgte Wahl imd Weihe Suidberhts als eine gar nidit zu billigende
Eigenmächtigkeit der im Geltungsbereidi des fränkischen Staatskirdien-
redits tätigen Northumbrier erachten, als einen dem fränkischen Staats-
kirchenrecht widerstrebenden Versuch, ohne Genehmigung der zustän-
digen und verantwortlichen Landeshoheit ein friesisches Missionsbistimi
zu gestalten, oder sogar, ganz böse gedeutet, als ein Listenspiel, in dem
man kirchlicherseits vollendete Tatsachen geschaffen hatte und alsdaim
der Landeshoheit zumuten wollte, nolens-volens durch Bewilligung von
Regalien das Geschehene gutzuheißen und dabei noch ein Praejudiz für
die fernere kirchliche Entwicklung Frieslands in Kauf zu nehmen. Zwar
war das kaum so gemeint gewesen und hinsichtlich derartiger Konse-
quenzen überlegt worden. Vielmehr hatten die northumbrischen Mis-
sionare wohl nur dem Bedarf der Stunde genügen und lediglich einen
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Weihebischof nach irisch-northumbrischer A r t " ' gewinnen, nicht schon


einen Diözesanbischof einspielen wollen"'. Ihr Außendienst brachte es
im ganzen mit sich, daß sie fort und fort nach eigenem Ermessen han-
deln, ohne Beihilfe der fränkischen Staatskirche neue Mitarbeiter in
Northumbrien und Spenden der Heimat suchen mußten.
Wie dem auch sei, für Pippin bedeutete die Wahl und Weihe Suid-
berhts einen üblen Verstoß gegen die im Frankenreiche gültige staats-
kirchenrechtliche Ordnimg, die dem Majordom ebenso die Errichtung
neuer Bistümer und die Ernennung der Bischöfe zugestand, wie er durch
Gewährung von Regalien die wirtschaftliche Existenz sichern mußte"'.
Er konnte und wollte auch nicht einräumen, daß im Missionsgebiete, in
der fränkischen Provinz Friesland, eine weniger profränkische kirchliche
Ordnung sich anbahnte, als im fränkischen Kernlande üblich war. Dies
um so weniger, da er ohnehin die Mission nur für ein unvermeidliches
Einstweilen hielt, das nach Möglichkeit der fränkischen Staatskirche an-

"s H i n s C h i US, Kirdienredit II (1878) S. 162—169; Th. G o t t l o b , Der


abendländische Chorepiskopat (1928).
So audi H . A . W i l s o n , The calendar of St. Willibrord, (London 1918)
S. 7: But there seems to he no reason for regarding it as an attempt to Sub-
stitute Suidbert for Willibrord as their head. They were no doubt accustomed
by their experiences in Ireland to a system, by whidi the bishop in a monastic
Community was subject to the rule of a presbyter abbot.
" ' A . W e r m i n g h o f f , Verfassungsgeschidite der deutsdien Kirdie im
Mittelalter (n913) S. 10—17; audi Fr. Z e h e t b a u e r , Das Kirdienredit bei
Bonifatius (1910) S. 129—132.
206 Franz Flaskamp

zupassen und demnädist ihr voll zu assimilieren sei. E r hat daher die
W a h l und W e i h e Suidberhts nicht anerkannt, f ü r Friesland nicht gelten
lassen. Baeda meldet nidit, was und wie man d a n n innerhalb der frie-
sischen Missionsgesellschaft beraten, was und wie m a n mit dem M a j o r -
dom verhandelt habe. E r beriditet nur von dem Ausgang und weiteren
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Verlauf: Suidberht sei abgerückt, Wilbrord nachher durch Pippin zum


friesischen Diözesanbisdiof bestimmt. M a n möchte sagen, es sei nach den
Spielregeln der Politik eine „ganz natürliche Entwidclung" gewesen;
man habe den „Stein des Anstoßes" beseitigt und so den W e g wieder
gangbar gemadit, den gestörten consensus^^ wiederhergestellt.
Suidberht und die Seinen verließen aber nicht nur Friesland, sondern
das fränkisdie Hoheitsgebiet überhaupt. Sie wandten sidi zu den „Bruk-
terern" im sächsischen Grenzraum südlich der Lippe und begannen eine
eigene Missionsarbeit. Grenzlandbewohner pflegen nie eingeschworene
„Patrioten" zu sein, vielmehr nach beiden Seiten zu blicken, der Gunst
und Abgunst beider Seiten gewärtig zu bleiben. So waren audi die
Brukterer den harmlosen Fremdlingen nicht ohne weiteres abhold, ließen
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sich vielmehr deren Botschaft gefallen und eröffneten ihrem kühnen Ver-
such günstige Aussichten. Doch fehlte dieser verlockenden Neulandkultur
die erwünschte und benötigte Dauer. Ein Überfall aus dem nördlichen
sächsischen K e m l a n d machte alles zunichte. Die Missionare mußten flüch-
ten und sahen ihr Mühen als gescheitert an. Sie hatten also schon in
einem recht befristeten W a g n i s erkannt, was Wynfreth-Bonifatius zwei
Menschenalter später als E r f a h r u n g eines langjährigen Wirkens aus-
sprach: daß n u r unter dem Schutze fränkischer Macht christliche Mis-
sionsarbeit möglich sei
I n solcher Verlegenheit erbat der kleine Suidberhtkreis Pippins N a d i -
sicht und erlangte auch — wie Baeda versichert: wesentlich dank der
Fürsprache von des Majordoms Gattin Plektrud — auf einer Uferinsel
(Werth) des Rheines eine Bleibe I n einem dort gebauten kleinen
Kloster d u r f t e n sie ihr ferneres Dasein fristen. Suidberht selber hat in

S. o. Anm. 127.
0 . B r e m e r , Ethnographie der germanisdien Stämme III (^1900) S. 903f.;
L. S c h m i d t , Gesdi. der deutsdien Stämme II (1919) S. 416—421; dazu u.
Anm. 147.
"» An Bisdiof Daniel von Windiester, ed. T a n g l S. 130: Sine patrocinio
principis Francorum nec populum aecclesiae regere nec presbiteros vel clericos,
monamos vel ancillas Dei defendere possum, nec ipsos paganorum ritus et
sacrilegia idolorum in Germania sine illius mandato et timore prohibere valeo.
Baeda I, S. 302: in insula quadam Hreni, quae lingua eorum vocatur ,in
litore'. Die Senke des einstigen Rheinarmes, der die Insel vom Festlande ab-
schloß, ist in den Wiesen nördlidi der heutigen Stadt Kaiserswerth verblieben.
Die frühe Friesen- und Sachsenmission 207

dieser Zurüdcgezogenheit nodi bis 713 gelebt"^. Zwar gebridit es an


unmittelbaren Zeugnissen irgendeiner über die Trennung hinaus fort-
gesetzten Verbindung mit den Wilbrordleuten in Friesland. Dodi läßt
vielleicht Baedas Wissen ein später wieder aufgelebtes Einvernehmen
vermuten. Zu dem verewigten Suidberht hat das Wilbrordkloster Editer-
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nadi sich bekaimt; man trug seinen Namen, zum 1. März, dem Kalender
der sonderlidi verehrten Heiligen ein'^. Später feierte der Wilbrord-
biograph Alkuin audi Suidberht als erlauchten Glaubensboten Northum-
briens'". Suidberhts Gründung aber hat, als späteres „Stift Kaiserswerth",
nach der benachbarten Pfalz so bezeichnet, die Jahrhunderte über-
dauert"'.
Im Echternaclier Kalender sind aber auch, zum 4. Oktober, die beiden
Eadwalde vermerkt"" und so gleichfalls als vordem Angehörige des
Wilbrordkreises in Friesland. Von ihnen hat Baeda allerdings noch viel
weniger erfahren als von den Suidberhtleuten. Was er von den Ead-
walden sagt, ihrem Wege und ihrem Mißgeschick'", liegt bereits zwi-
schen Geschichte, Sage und frommer Legende. Von ihnen war offenbar
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redit wenig Greifbares bekannt geworden; den empfundenen Leerraum


hatte man bereits mit vertrauten Motiven biblisdien xmd hagiologisdien
Ursprungs zu füllen gesucht.
Sie sollten auch zu den Sadisen gekommen sein, in einem sädisisdien
Eschdorf Halt gemacht, auf dem adeligen Haupthof daselbst um eine
Empfehlung beim zuständigen Häuptling (princeps) gebeten haben, doch,
ehe der adelige Gutsherr (villicus) diese Verbindung habe vermitteln
Annales s. Amandi, ed. G.H. P e r t z : MG. SS. I (1826) S. 6, ansdiließend
Annales Petaviani: ebd. S. 7: 713. ... et depositio Suitberti episcopi.
» " H . A . W i l s o n , The calendar of St. Willibrord, Tafel 3: Suidberht
aepiscopus.
Versus de sanctis Euboricensis ecclesiae, v. 1071—1076, ed. E. D ü m m 1 e r :
MG. Poetae lat. I (1881) S. 193:
At alii atque alii praefata ex gente ministri
sermonis fuerant Ulis in partibus orbis.
Ex quibus egregii Suidbert Viraque sacerdos
temporibus fulsere suis, qui culmine clari
virtutum fuerant. Nostro quos carmine cunctos
längere non libuit.
K. H e c k , Gesdiidite von Kaiserswerth (M925); P. G i e m e n , Kaisers-
werth (1909); d e r s . , Kunstdenkmäler der Rheinprovinz III 1 (1894) S. 128—145;
H. K e l l e t e r , Urkundenbuch des Stiftes Kaiserswerth (1905); G. P o t t h o f f ,
Inventar der Pfarrkirdie St. Suidbertus in Kaiserswerth (1961).
H.A. W i l s o n , The calendar of St. Willibrord, Tafel 10: Natale sancto-
rum martyrum Heuualdi et Heuualdi; Baeda I, S. 299, hat sie nur mit der
Formel „Horum secuti exempla" dem Wilbrordkreis angegliedert.
Baeda I, S. 299f.; dazu H. W i e d e m a n n , Die Sadisenbekehrung (1932);
bedingt H. R a d e m a c h e r , Die Anfänge der Sadisenmission südlidi der
Lippe, in: Westfalia sacra 2 (1950) S. 133—186; Fr. F l a s k a m p , Der Boni-
fatiusbrief von Herford, Ardi. f. Kulturgesdi. 44 (1962) S. 315—334.
208 Franz Flaskamp

können, von den mißtrauisch gewordenen Bauersleuten ermordet sein. A n


der Stätte aber, wo ihr Blut vergossen sei, habe der E r d b o d e n eine
wertvolle Quelle g e s p e n d e t I h r e Leichen sollten von den „ G e f ä h r t e n "
(socii), doch wohl die Kaiserswerther gemeint, aus dem Rheine geborgen
und beerdigt, indessen auf Pippins Geheiß nadi K ö l n gebradit und dort
geziemend bestattet sein. K ö l n (St. Klemens, später St. Kxmibert genannt)
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w a r also, als B a e d a 731 seine Kirdhengeschichte absdiloß, sdion zur eigent-


lidien Stätte des Ewaldenkults geworden
Die verschiedenen späteren Versudie, den Ewaldenmord zu lokalisieren, lassen
sidi als Vermutungen ohne tatsadienhafte Begründung erklären. Der Ewalden-
kult zu Aplerbedc bei Dortmund geht gewiß auf den dortigen Grundbesitz der
Kölner Benediktiner zurüdc; die Benediktiner von Deutz hatten das Patronats-
redit der Pfarrkirdie. Spätestens im 14. Jahrhundert deutete man den örtlidien
Gutshof „Mortmann" als „Mordhof", nämlidi als Stätte, wo die beiden Ewalde
ermordet seien'". Im 15. Jahrhundert glaubte der Kölner Kartäuser Werner
Roleving, sein Heimatkirdispiel Laer im Münsterisdien lasse sidi so erweisen,
das nadi einer kirdilidien Stiftung an Ort und Stelle üblidierweise „Hilgen-
feld" genannte Gelände sei als Kamp der hll. Ewalde zu verstehen und der
unterhalb des Dorfes einer Abdadiung der Baumberge entfließende bemerkens-
wert wasserreiche Badi als die Ewaldenquelle*". Für den nun vermeintlidj als
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„zu Laer" gesdiehen „erwiesenen" Ewaldenmord entded(te man in der S.Hälfte


des 19. Jahrhunderts nodi eine mehr empfehlenswerte, weil wirklidi rheinnahe
Stätte, die Bauersdiaft Laar bei Ruhrort, und baute dort 1862 eine Ewalden-
kapelle, 1891 zur heutigen Ewalden-Pfarrkirdie von Duisburg-Laar ausge-
weitet
W i l b r o r d s A l t e r n und vorauszusehendes Lebensende w a r aber nicht
n u r für B a e d a bemerkenswert; ein anderer machte sidi noch interessierter
darüber seine Gedanken, der Westsachse W y n f r e t h - B o n i f a t i u s . Dieser
w a r 7 1 6 in Friesland ebenso ergebnislos geblieben wie v o r d e m Wicg-
berht und h a t t e 7 1 9 ein E i n v e r n e h m e n mit W i l b r o r d nicht e r r e i c h t " ' .
Beides mochte ihm eine quälende Erinnerung sein, ein der Füllung
harrendes vacuum. So plante er die Nachfolge W i l b r o r d s in Friesland,

Über bemerkenswerte Quelle audi G. J a c o b , Ein arabischer Bericht-


erstatter aus dem 10. Jahrhundert ('1896) S. 47 f.: „wunderbare Wasser-
quelle, Honigquelle genannt" in der Gegend von JUJaterbruna" (Paderborn).
Dort audi der Irrtum „Brüder Ewalde" beheimatet, nämlich zu erklären
als Mißverständnis der „fratres" im Testament des Erzbisciofs Bruno I., hg. von
H. S c h r ö r s : Annalen d. Hist. Vereins f. d. Niederrhein 91 (1911) S. 121:
Sancto Cuniberto [d. h. für dessen Altar] scutülae duae; sanctis Ewaldis duohus
d . h . für deren Altar] pallia tria; fratribus [d.h. für die Stiftsherren vom
: Cunibertstift] vasa duo, librae octo, mensale, scamnalia duo, tapete unum.
" " J . M. L o h o f f , Kritische Untersuchung der Geschichte der beiden Ewalde
unter besonderer Berüdcsichtigung der Aplerbecker Tradition, Beiträge zur Ge-
sdiidite Dortmunds und der Grafsdiaft Mark 1 (1875) S. 106—126.
» " Westfalenbudi, neu hg. von H. B ü c k e r (1953) S. 54—59.
Akte Duisburg-Laar I in der (1945 verbrannten) Registratur des General-
vikariats Münster.
S. 0. Anm. 125.
Die frühe Friesen- und Sadisenmission 209

sogar in wirklidikeitsfremder Zuversicht nodi mehr, nämlich die Aus-


weitung der Wilbrordmission zu den noch unabhängigen Nordfriesen
rechts von Rhein und Yssel. Mit solchen Absichten hat er sich 738 in
Rom hervorgewagt. Es bestand wirklich einiger Anlaß: im Jahre 734
hatte der Majordom Karl Martell die fränkische Macht in Friesland
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über den Rhein hinausgeführt"*. In Rom aber hielt man nicht viel von
kühnen Plänen, bevorzugte vielmehr das Beharren in sicherer Arbeit,
lehnte daher diese Frieslandgelüste bündig a b " ' . Auch die fränkischen
Majordome mochten von soldlier Nachfolge Wilbrords nicht hören. Sie
wußten, wie wenig Bonifatius beim fränkischen Episkopat gelitten war,
und taten gewiß gut daran, ihn in seinen bisherigen Aufgaben zu be-
lassen"'. Anderthalb Jahrzehnte später wurde ihm zwar die Betreuung
von Wilbrords Werk als Altershonorar zugestanden. Wo er dann aber
doch auch nodi Initiative entfalten wollte, im Vordringen nach Nord-
friesland sogar recht weit den Bereich fränkisch gewährleisteter Sicherheit
verließ, erfüllte sich sein Schicksal: am 5. Juni 754 verblutete er mit
angeblich 53 Gefährten und Helfern"« bei Dokkum"».
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Davon hat man auch im fernen Wearmouth-Jarrow gehört. Baedas


chronographischer Nachfolger verzeichnete zutreffend die Frist „754"
und dazu manche Einzelheiten, nahm also vom Ausgang des Wilbrord-
konkurrenten einige Notiz "S vom Lebensende Wilbrords dagegen über-
haupt nicht und nur ganz bescheiden vom Tode Baedas

B ö h m e r - M ü h l b a c h e r , Reg. imp. «I, S. 17 nr. 39d.


Von Rom 738 an seine austrasischen Mitarbeiter, ed. T a n g l S. 66:
apostolicus pontifex ... consilium et preceptum dedit, ut iterum ad vos rever-
tamus et in certo labore persistamus.
" ' Beweis: die Ernennung eines neuen Friesenbischofs durch Karlmann (s. o.
Anm. 98).
Über seine Mitwirkung beim Staatsstreich Pippins (751) vgl. M. T a n g l ,
Die Epodie Pippins, Neues Ardiiv 39 (1914) S. 257—277; E. P e r e i s , Pippins
Erhebung zum König, Zeitsdir. f. Kirdiengesdi. 53 (1934) S. 400—416.
Sollte diese Anzahl der 54 Märtyrer nicht dem Todesjahr 754 zuge-
paßt sein?
"» S. o. Anm. 103.
Darüber vgl. L. O e l s n e r , Jahrbücher des fränkischen Reiches unter
König Pippin (1871) S. 489—494; M. T a n g l : Jahrbudi des Vereins für
hessisdie Gesdiichte 37 (1903) S. 223—250; F. F l a s k a m p : Histor. Jahr-
budi 47 (1927) S. 473—488.
Ch. P l u m m e r , Venerabiiis Baedae opera historica I, S. 362: Anno
DCCLIIII. Bonifactus, qui et Uinfridus, Francorum episcopus, cum quinquaginta
tribus martyrio coronatur; et pro eo Redgerus [d.i. Chrodegang von Metz]
consecratur arehiepiscopus a Stephane papa.
Ebd. S. 361: Anno DCCXXXV. ...et Baeda presbyter obiit.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi
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von TU man Struve

Nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß audi Heiligenviten


als historisches Dokument betrachtet werden können, als welches sie die
geistige und religiöse Verfassung ihres Autors und seiner Zeit spiegeln S
hat die bisher von der Forschung wenig beachtete Vita Haimeradi' un-
längst eine eingehende Würdigung durch Hagen Keller erfahren'. So
fruchtbar solche Bemühungen auch prinzipiell sein können, sie werden
nur dann zum Erfolg führen, wenn eine Analyse des konkreten histo-
rischen Hintergrundes, der geistigen Situation der Zeit und der litera-
rischen Tradition mit in die Untersuchung einbezogen wird. Erst auf
dieser Grundlage kann der geistige Standort von Autor und Werk
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richtig bestimmt werden. An dieser Stelle hat nun die Kritik an Kellers
Studie einzusetzen; denn die von ihm vertretene Auffassung hält gerade
in entscheidenden Punkten einer sachlichen Überprüfung nicht stand.
Die Abfassung der Vita Haimeradi steht — wie Keller zwar richtig
erkannt hat, ohne daraus jedodii Konsequenzen zu ziehen, — in engem
Zusammenhang mit der Umgestaltung des Hasunger Stifts in ein Klo-
ster. Auf dem Berge Hasungen, am Grabe des Einsiedlers Haimerad,
hatte Erzbischof Siegfried von Mainz 1074 ein Ktinonikerstift errichtet.
Auf den Wunsch der Kanoniker wandelte er dieses 1081 unter be-
ratender Beteiligung des ersten Abtes Lampert von Hersfeld in ein

' Vgl. hierzu die Arbeiten von H. L ö w e : Arbeo von Freising. Eine Studie
zu Religiosität und Bildung im 8. Jahrh., Rhein. Vjbll. 15/16 (1950/51) S. 87—
120; Liudger als Zeitkritiker, HJb 74 (1955) S. 79—91; Gesdiichtsdireibung der
ausgehenden Karolingerzeit, D A 23 (1967) S. 1—30; ferner: M. S c h w a r z ,
Heiligsprechungen im 12. Jahrh. und die Beweggründe ihrer Urheber, AKG 39
(1957) S. 43—62; A. B o r s t , Die Sebaldslegenden in der mittelalterlichen
Geschichte Nürnbergs, Jb. f. fränk. Landesforschg. 26 (1966) S. 19—178;
A. N i t s c h k e , Tiere und Heilige. BeobaAtungen zum Ursprung und Wandel
menschlichen Verhaltens, in: Dauer und Wandel der Geschichte, Festsehr. K. von
Raumer ( = Neue Münstersche Beiträge zur Gesdiiditsforsdig. 9, 1966) S. 62—100.
» Ekkebert, Vita sancti Haimeradi, ed. R. K o e p k e , MG. SS. 10 (1852)
S. 595—607; vgl. O. H o 1 d e r - E g g e r , N A 19 (1894) S. 563—574; W a t -
t e n b a c h - H o l t z m a n n (Neuausgabe, besorgt von F.-J. S c h m a l e , 1967)
I, 471 f. Um einen richtigen Text zu erhalten, muß man an vielen Stellen die
in die Fußnoten verwiesenen Lesarten der Ausgabe O v e r h a m s (0) ein-
setzen (vgl. H o l d e r - E g g e r , S . 181 Anm. 1).
' H. K e l l e r , „Adelsheiliger" und Pauper Christi in Ekkeberts Vita sancti
Haimeradi, in: Adel und Kirche, Festschr. G. T e l l e n b a c h (1968) S. 307—324.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 211

Benediktinerkloster um^. Da jedoch zu den älteren Hasunger Verpflich-


tungen aus der Kanonikerzeit auch die Seelsorge für die zum Grabe
Haimerads pilgernden Gläubigen gehörte, wurde ein Passus über den
Predigtauf trag in die Hasunger Gründungsurkunde aufgenommen®. Die
Vita Haimeradi sollte nun die liturgische Grundlage zur Heiligenver-
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ehrung in Hasungen schaffen.


Mit der Abfassung einer solchen Vita wurde der Hersfelder Mönch
Ekkebert von seinem Abt Hartwig betraut'. Ekkebert, der ein Schüler
Lamperts von Hersfeld w a r ^ dankte — unter Anspielung auf Lamperts
Vita Lulli — seinem Abt für das ihm geschenkte Vertrauen, das Leben
Haimerads aufzeichnen zu dürfen, da er auf diese Weise ein seit langem
ausgesprochenes Gelübde einlösen könne'. Für diese Aufgabe schien er
besonders geeignet zu sein, da er Haimerad nicht nur persönlich verehrte,
sondern auch manches über ihn aus den Erzählungen seines Vaters er-
fahren hatte, was dieser einst vom Diener und von verschiedenen Wohl-
tätern des Heiligen gehört'. Es ist immerhin denkbar, daß Ekkeberts

* Mainzer UB (zit. MUB), ed. M. S t I m m i n g , I (1932) Nr. 358, S. 253 ff.


For personal use only.

Vgl. H. B ü t t n e r , Das Erzstift Mainz und die Klosterreform im 11. Jahrh.,


Ardiiv f. mittelrhein. Kirdiengesdi. 1 (1949) S. 30—64; E. E. S t e n g e l , Lam-
pert von Hersfeld der erste Abt von Hasungen, in: Aus Verfassungs- und
LandesgesAidite, Festsdir. Th. Mayer, II (1955) S. 245—258; J . S e m m l e r ,
Lampert von Hersfeld und Giselbert von Hasungen, Stud. u. Mitteil. z. Gesch.
d. Bened.-Ordens 67 (1956) S. 261—276; ders.. Die Klosterreform von Siegburg
(Rhein. Ardiiv 53, 1959) S. 140, 219—223; W. H e i n e m e y e r , Die Urkunden-
fälsdiungen des Klosters Hasungen, Ardi. f. Dipl. 4 (1958) S. 226—263;
K. H a 11 i n g e r , Zur Rechtslage der Anfänge des Klosters Hasungen, Jb. f. d.
Bistum Mainz 8 (1958/60) S. 224—272; ders., Gorze-Kluny I (1950) S. 260 f.;
H. J a k o b s , Die Hirsauer (Kölner Histor. Abh.4, 1961) S.38ff., 88ff., 135f. Zur
Rolle Lamperts wie zum zeitlichen Ablauf der Klostergründung vgl. T. S t r u v e ,
Lampert von Hersfeld (Diss. Tübingen 1968, ersdieint im Hess. Jb. f. Lds-
gesdi. 19, 1969): Die Umwandlung des Hasunger Stifts in ein Kloster.
' MUB 358, S. 257: quoniam td populi ibidem confluentis salus exigit, (abbas)
nostra auctoritate in ^cclesia doceat; vgl. H a 11 i n g e r , Hasungen, S. 230.
• V. Haimeradi, Prol. S. 598, 19: Precepisti namque mihi, ut vitam sancti
Haimeradi confessoris litteris mandarem.
» VgL S t r u v e , Hess. Jb. 19.
' V. H., Prol. S. 598, 43 ff.: libens experiar quod possum, presertim cum id
ipsum studii olim me devoverim arrepturum, si qua rerum ab eo feliciter
gestarum invesügare possem, quamvis hucusque distulerim. Unde et satis credo
non sine divini numinis instinctu tibi in meutern venisse, ut inter tot preclara
ingenia, inter tot filios matris Hersveldie, qui educati sunt in faustis penetralibus
philosophiae, mihi, qui sum corpus sine pectore, id operis iniungeres,
ne forte contingeret me voti reum esse existere, quia tucius erat non vovisse,
quam post votum non reddere. Vgl. Lampert, V. Lulli c. 27 (Opera, ed.
O. H o l d e r - E g g e r , SS. rer. Germ., 1894) S. 340, 19: Ego mihi eam
tantum o per am iniunxer am-, Institutio Herveldensis ecclesiae S. 348,23:
Ego mihi hanc tantum o per am iniunxi; vgl. Inst. S. 350: et mater
Herveldia ubique odorem noticiae suae diffunderet nobilitate filiorum in
laribus philosophiae a tenero ... ungue obversatorum.
' V. H., Prol. S. 598, 23 f.: Horum enim mihi aliqua comperta sunt, partim
212 Tilman Struve

Familie aus der näheren Umgebung Hasungens stammte; im Sdienkungs-


katalog der Hasunger Gründungsurkunde taudit Ekkeberts Name aller-
dings nidit auf, und den seines Vaters kennen wir nidit.
Da infolge des thüringisdien Zehntstreits " zwischen dem Kloster Hers-
feld und Erzbisdiof Siegfried von Mainz, dessen Eigenkloster Hasungen
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war, Spannungen bestanden, die durch des Erzbisdiofs Übertritt in das


Lager der Königsgegner (1077) wohl nodi versdiärft wurden, ist an
engere Beziehungen zwischen Hersfeld und Hasungen erst nadi Sieg-
frieds Tod (1084) zu denken. Unter seinem königstreuen Nadifolger
Wezilo kamen wahrsdieinlidi einige Hersfelder Mönche nach Hasungen,
um die nach dem Abzug der Hirsauer 1085 zusammengeschmolzene
„winzige Herde" des Abtes Wigbert zu ergänzen*'. Nach dieser Verbin-
dung dürfte das sdion bei Lampert" vorhandene Interesse an dem
Hasunger Heiligen auch in Hersfeld wieder aufgelebt sein. Ekkebert,
der vielleicht schon als Gehilfe Lamperts, spätestens aber mit Hersfelder
Mönchen 1085 nach Hasungen kam, sammelte hier Material für seine
Vita. Die zuerst von Edmund E. Stengel in den Hasunger Urkunden be-
merkten Anklänge an Lamperts Diktion " deuten darauf hin, daß Ekke-
For personal use only.

bert als sprachgewandter Schüler Lamperts möglicherweise auch zur Ab-


fassung der Hasunger Urkunden herangezogen wurde; denn nach dem
Abzug der Hirsauer sah sich Abt Wigbert vor die schwierige Aufgabe
gestellt, das Kloster aus einer schweren „inneren und äußeren Krise"
herauszuführen. Diesem Ziel, vor allem also der Sicherung des Hasunger
Besitzstandes, sollten die Ende der achtziger Jahre entstandenen Ur-
kundenfälschungen dienen". Wenn sich Ekkeberts Einfluß auf das Ha-

referente patre meo, quae se olim audisse commemorat ab eiusdem servi Dei
ministro, partim ipsis auctoribus, quorum adhuc superstes fovebatur hospicio,
humanitate et obsequio. — Als Gewährsleute nennt Ekkebert ferner die Kle-
riker von Warburg (c. 15, S. 603,34), den miles Roding und dessen Begleiter
(c. 32, S. 606,45) und zwei Brüder des Klosters Hasungen (c. 38, S. 607).
E. A u s f e 1 d , Lampert von Hersfeld und der Zehntstreit zwischen Mainz,
Hersfeld und Thüringen (Diss. Marburg 1879); F. P h i l i p p i , Zehnten und
Zehntstreitigkeiten, MIÖG 33 (1912) S. 393—431, bes. 407 £f.; E. H ö l k ,
Zehnten und Zehntkämpfe der Reichsabtei Hersfeld im frühen Mittelalter
(Marburger Studien zur älteren deutschen Gesdiicite 11,4, 1933); vgl. auch
H o l d e r - E g g e r , N A 19 (1894) S. 185ff.; G. M e y e r von K n o n a u , Jahr-
bücher 11 (1894) S. 658 ff. Über Hersfelds Stellung im Zehntstreit und seine
Beurteilung durch Lampert jetzt zusammenfassend S t r u v e , Hess. Jb. 19.
" S t r u v e , Hess. Jb. 19.
" Ann. 1072, S. 139.
" S t e n g e l , Lampert von Hersfeld der erste Abt von Hasungen (wie
Anm. 4) S. 257 u. Anm. 100; vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 19.
" H e i n e m e y e r , Urkundenfälschungen, S. 255f. — Gegen H e i n e -
m e y e r , S. 260 f. ist jedoch zu betonen, daß der Archetyp der Hasunger
Gründungsurkunde (XA) wegen des Gebrauchs der für Udalrich von Cluny
charakteristischen legitimum-sempiternum-YoTmA nicht schon 1081, sondern
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 213

sunger Urkundenwesen audi nicht eindeutig nachweisen läßt, so tritt


andererseits der Einfluß einer Hasunger Urkunde auf die Vita Haimeradi
klar zutage. Die Anspielung auf Maria und Martha in c. 6 und c. 21
der Vita, mit denen Haimerad und sein Diener verglichen werden,
stammt aus der Siegfried-Urkunde von 1082". Aus der gleichen Ur-
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kunde stammt auch die Vorstellung, die Ekkebert in der Vita (c. 39) als
„fromme Meinung des Volkes" bezeichnete, daß nämlich die Apostel
Petrus und Paulus als „Gehilfen" Heimerads bei dessen Heilungswun-
dern fungierten, da ihnen die Hasunger Kirche geweiht sei und die
göttliche Kraft ihres Verdienstes wegen solche Wunder zeige". Auch
der folgende Gedanke: man müsse jene um so eifriger verehren, die
schon mit Gott im Himmel regieren — nämlich die Heiligen, da ihre
Hilfe um so näher sein werde, je größer die Verehrung, die man ihnen
entgegengebracht, — ist zumindest der Konstruktion nach der Urkunde
entnommen". Da die benutzte Siegfried-Urkunde nach Heinemeyer''
nicht in den Fälschungsprozeß hineingehört und demnach wohl schon
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frühestens 1083/84 entstanden sein kann (vgl. H a l l i n g e r , Hasungen, S. 227,


267).
" V . H . c. 6 S. 600,25: socius itineris sui, functus ipse ministerio
Marthae, dum ille fungeretur Mariae, ... diceret-, c. 21 S. 605,9: et
ac si Dominum non in suis memhris sed in se ipso excepissent, altera
Martha circa frequens ministerium satageret, ceperunt ab eo
humiliter exposcere rationem; vgl. MUB 362 S. 262,28 f.: etsi Martha
circafrequens ministerium domini satagebat, Maria tarnen
optimam partem elegit.
" V. H. c. 39 S. 607,48 ff.: Est autem vulgi pia et non contempnanda,
immo fidelis opinio, quod sancti apostoli Petrus et Paulus in vir-
tutibus cooperatores existant beato Haimerado, sive quod eorum vigilia maxime
in his operibus se prodat vir tu s divina, sive quod eorum honori et
patrociniis sit consecrata eins loci ecclesia; vgl. MUB 362 S. 262,17 f.: con-
gregationem ad honorem dei patris et filii et spiritus sancti et sanct^
Mari^ ... nec non apostolorum Petri et Pauli omniumque electorum
dei inc^peram ordinäre; S. 262, 22 ff.: quoniam innumerabilia miraculorum
insignia in sanandis corporibus ob meritum beati Petri apostoli sanctique
Heimeradi presbyteri divina virtus ostendit.
" V. H. c. 39 S. 607,51 ff.: Cum taliter soleat Dominus beare amicos, facilis
coniectura est, quantam Ulis gloriam contulerit iam in coelo regnantibus
secum. Unde oportet, ut tanto impensius Studium circa illorum obse-
quia exhibeamus, ... Nec est ambigendum, quin tanto vicinius, tanto
familiarius quisque illorum et in presenti beneficio et in futuro perfruatur
consortio, ... quanto plus Ulis reverentiae, quanto plus exhibere studuerit
honoris, quanto maiorem operam in illorum expenderit famulatu; vgl. MUB 362
S. 262,26: salus animarum, qu^ immortaliter cum domino r e gnatur ^ sunt;
S. 262,38: Q an tum vero huius vit? propositum per contemplationem deo est
vicinius, tanto magis ab omni sollicitudine secularium necessitatum ...
debet esse remotius. Unde oportet, ut circa eos, qui omnia relinquunt
et sequntur dominum, corda dilatentur ... (hier auf die Möndie und die Ver-
pfliditung, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, bezogen).
" Urkundenfälsdiungen, S. 249.
214 Tilman Struve

1082 entstanden ist, fand sie Ekkebert bei seiner Ankunft in Hasungen
bereits vor. Er lernte sie kennen, als er, auf der Sudie nadh Zeugnissen
über Haimerad, in den Hasunger Fälsdiungsprozeß hineingezogen wurde.
Ekkeberts Beziehung zum Hasunger Urkundenwesen gibt nun auch für
die Datierung der Vita Haimeradi einen Anhaltspunkt: sie kann erst
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während oder nach dem Hasunger Fälsdiungsprozeß entstanden sein.


Gegen Keller, der zudem die Folgen des thüringischen Zehntstreites für
das Verhältnis zwischen Hersfeld und dem Mainzer Erzbischof nidit rich-
tig einschätzte, — immerhin ist es merkwürdig, daß die Gründung des
Hasunger Stifts durdi Siegfried in der Vita nidit erwähnt wird —, ist
an der von Oswald Holder-Egger" vorgeschlagenen Datierung zwischen
1085 und 1090 festzuhalten®».
Keller sieht in den von ihm beobachteten Abweichungen der Vita vom
bisher gültigen Heiligenideal etwas Neues sidi ankündigen: ein Be-
kenntnis zur christlichen Armut und zum apostolischen Leben, wie es im
12. Jahrhundert die Wanderprediger propagierten und die pauperes
Christi in ihrem Lebenswandel zu verwirklichen suchten. Haimerads Ziel
sei es gewesen, „die vita evangelica in reiner Form zu leben: das Kreuz
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Christi tragen, alle Habe verschenken, ganz pauper Christi und peregrinus
sein, durch die Predigt andere zum wahrhaft christlichen Leben führen"
Besonders bemerkenswert erscheinen Keller Haimerads nichtadelige Her-
kunft, seine Pilgerfahrten wie überhaupt sein unstetes Wanderleben, sein
Bekenntnis zur christlichen Armut und seine Verbindung zu häretischen
Kreisen. Ekkebert habe mit der Vita Haimeradi Kritik ,am Mönchtum
seiner Zeit, an der ,Adelskir(he' und an der ihr zugeordneten Vorstel-
lungswelt" üben wollen®'. Diese These kann historischer Kritik jedoch
nur dann standhalten, wenn die von Keller hervorgehobenen Merkmale
tatsächlich einmalig und neu sind, d.h. sich nicht auch in der gleich-
zeitigen Literatur nachweisen lassen.
Haimerads nichtadelige Herkunft ist für einen Heiligen des II. Jahr-
hunderts zwar ungewöhnlich; die Tatsache, daß Ekkebert diesen äußeren
Mangel durch Haimerads Seelenadel auszugleichen suchte beweist

N A 19, S. 572 f.
K e l l e r , S. 307 f. widerspridit sich insofern, als er den Zusammenhang
zwischen Entstehung der Vita und der Neuformung Hasungens zwar erkennt,
andererseits aber ihren Abschluß in die ersten Jahre des Abtes Hartwig
(1072—90) verlegen möchte. Es gibt auch keinen Anhalt für seine Vermutung,
die Kapitel 32—38 der Vita seien erst später nachgetragen worden.
" K e l l e r , S. 310.
" Ebd. S. 308.
V. H. c. 2, S. 599: Hic de Suevia oriundus exstitit de loco qui dicitur
Messankirche, de cuius conditione supervacuum visum est scribere, cum eum
Dominus cottidie illustret virtutum et signorum nobilitate.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 215

jedoch, daß er den Typus des „Adelsheiligen" " grundsätzlich anerkannte.


Es mag sein, daß Ekkebert Anlaß hatte, Haimerads niedere Geburt zu
entschuldigen; wissen wir doch beispielsweise durch Lampert, wie sehr
gerade in den Reichsklöstern Standesunterschiede beachtet wurden®'.
Deshalb gebrauchte er unter Berufung auf den Apostel Paulus und die
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Regel Benedikts das kühne Bild, Haimerad sei als Bruder des Kaisers,
nämlidi Christi, den Hersfelder Mönchen an Adel ebenbürtig^'. Da
Haimerad schon Priester war, als er seine Dienstherrin bat, ihm die
Freiheit zu schenken andererseits aber nach kanonischem Recht nur
ein Freier die Priesterweihe empfangen durfte, kann er zumindest kein
Unfreier gewesen sein. Wie an anderer Stelle gesagt wird, war er auch
in den Wissenschaften gebildet^'; ein Merkmal, das in besonderer Weise
den Adelsheiligen auszeichnete. Gleich Haimerad stammte auch Anno
von Köln aus Schwaben^", audi er war nur von „mittlerem Stand".
Lampert gebrauchte zu seiner Charakterisierung die Klimax: nicht weil
ihn seine Herkunft empfahl, sondern allein durch den Rang seiner Weis-
heit und Tugend sei er Kaiser Heinrich III. aufgefallen'". Der standes-
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bewußte Lampert nahm keinen Anstoß daran, daß der von ihm sehr
verehrte Bischof keine hochadeligen Vorfahren aufweisen konnte, und sah
darin keine Minderung seiner Heiligkeit. — Wenn man bedenkt, daß
hier zwei Heilige im lO./ll. Jahrhundert, die abweichend vom Maßstab
ihrer Zeit den unteren bzw. mittleren sozialen Schichten angehörten, aus
Schwaben stammten, und andererseits hört, daß ein bedeutender Teil der
königlichen Ministerialen sich aus Schwaben rekrutierte — ja für Lam-

" Vgl. K. B o s l , Der „Adelsheilige", in: Speculum Historiale, Festschr.


J. Spörl (1965) S. 167—187; vgl. audi K. H a u c k , Geblütsheiligkeit, in: Liber
Floridus, Festsdir. P. Lehmann (1950) S. 187 £f.; H. M i t t e i s , Formen der
Adelsherrsdiaft im Mittelalter, in: Festsdir. F. Sdiulz (1951) S. 226 ff.
" Lamp. Ann. 1063, S. 67.
V. H. c. 7, S. 600: non recte se nec satis honorißce pro natalibus suis
tractatum fuisse a monadiis atque ah abbate, latuisse illos generis sui nobili-
tatum, imperatoris fratrem se esse. Es folgt die Begründung (S. 601): Denique,
apostolo teste, sive servus sive liber, omnes in Christo- unum
sumus, et ipsius Domini testimonio unum patr em in coelis omnes
hab emus, ideoque ab ipso domino nostro Ihesu Christo unum fraternitatis
vocabulum omnes in evangelio sortiti sumus; vgl. Gal. 3,28; Ephes. 6,8; 1. Cor.
12,13; Reg. Bened. c. 2,20 (CSEL 75); Matth. 23,9.
" V . H . c. 2, S. 599; presbiter wird er audi c. 10, S. 601 und in der Urkunde
Siegfrieds von Mainz (MUB 362 S. 262, 23 — vgl. oben Anm. 16) genannt.
V. H. c. 12, S. 602: utpote in litterarum studiis satis exercitatum.
2» V. Annonis c. 1 (ed. R. K o e p k e , MG. SS. 11) S. 467; vgl. F. W .
O e d i g e r, Die Regesten der Erzbisdiöfe von Köln im Mittelalter, I (1954—
1961) S. 243.
Lamp. Ann. 1075, S. 242: nulla commendatione maiorum — erat quippe
loco mediocri natus — sed sola sapientiae ac virtutis suae prerogativa imperatori
Heinrico innotuit.
3 Archiv für Kulturgesdiidite 51/2
216 Tilman Struve

pert sind Sdbtwaben und Ministerialen geradezu miteinander identisch",


dann bereditigt diese Tatsadie zu Rücksdilüssen auf die soziale Struktur
des Landes. Offenbar gab es hier eine verhältnismäßig breite Sdiidit
unfreier und halbfreier Bevölkerung, aus der das Königtum vornehmlich
seine Dienstmannen heranzog.
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Für Haimerads Abschied von Familie und Heimat'®, f ü r seine Pilger-


fahrten nach Rom und J e r u s a l e m " lassen sich ebenfalls Parallelen nach-
weisen. Denn auch Lampert gab infolge einer persönlichen Entscheidung
die Sorge um weltlichen Besitz auf und trat als Mönch in das Kloster
Hersfeld ein. Kaum hatte er jedoch die Priesterweihe empfangen, trat er,
ohne Erlaubnis seines Abtes, eine Pilgerfahrt nach Jerusalem an Welch
starke Anziehungskraft das Heilige Land auf die religiösen Gemüter
der Zeitgenossen ausübte, illustriert die Erzählung Hermanns von Reiche-
nau, sein Bruder habe sich zusammen mit einem anderen Mönch heimlich
auf eine Pilgerfahrt begeben und den Abt in einem zurückgelassenen Brief
um dessen Zustimmung gebeten'®.
Das Bekenntnis zur christlichen Armut wurde von Haimerad konse-
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quent durchgehalten, indem er sich selbst als pauper bezeichnete und alle
frommen Gaben sofort an die Armen austeilte". Bei seinen Zeitgenossen
erregte er damit Bewunderung und zog sich den Ruf der Heiligkeit zu.
Auch Ekkebert beschrieb diese Haltung als vorbildlich; doch ließ er
nirgends durchblicken, daß seine Darstellung etwa als Kritik am Besitz
der Kirche aufzufassen sei. Das Bekenntnis zur christlichen A r m u t "
gehörte vielmehr — wie Lampert bezeugt — zu den Grundsätzen mön-
chischen Lebens", wenn auch infolge der Verweltlichung der Kirche
vielfach dagegen verstoßen wurde. In der Gründungsurkunde f ü r das
Chorherrenstift Ravengiersburg (1074) bekannte sich Erzbischof Siegfried
von Mainz nachdrücklich zur Armut der Urkirche'"; ebenso sprach er in

" Lamp. Ann. 1073, S. 147 f.; vgl. hierzu im zweiten Teil meiner Disser-
tation über Lampert von Hersfeld, der im Hess. Jb. 20 (1970) erscheinen wird:
Die Betrachtung der Gesellschaft vom Adelsstandpunkt.
'2 V. H. c. 2, S. 599. " V. H. c. 4, S. 599 f.
" Lamp. Ann. 1058, S. 73 und 1059, S. 74 f.
" Chron. 1053 (SS. 5) S. 133: Werinharius, frater meus, Augiensis monadius,
admodum doctus et religioni vere deditus iuvenis, cum alio monadio Liuthario,
studio vitae perfectioris flagrans, peregrinationem dam pro
Christo adgreditur, literis tamen remissis licentiam abbatis postulans et im-
petrans.
V. H. c. 5, 6 S. 600; c. 16, S. 603.
" Vgl. M. v. D m i t r e w s k i , Die christliche freiwillige Armut vom Ur-
sprung der Kirche bis zum 12. Jahrh. (Diss. Freiburg 1913).
" Lamp. Ann. 1071, S. 133: eos potissimum homines, qui crucis scandalum
et paup er tatis titulum preferrent et preter simplicem victum et vestitum
nihil rei familiaris habere se mentirentur.
" MUB 341, S. 237: canonicum ordinaremus, in qua fratres Uli communiter
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 217

der Hasunger Gründungsurkunde von einem gemeinsamen Leben in


Armut Die Bewunderung für Haimerads Armut und Askese wird wohl
auf Siegfried von Mainz selbst zurückgehen, von dem bekannt ist, daß
er sidi am liebsten ganz aus der Welt zurückgezogen hätte, imi im Kloster
Cluny ein Leben in freiwilliger Armut zu führen*'. Das Armutsideal
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wurde also durchgehend von den Zeitgenossen akzeptiert und in seiner


Beispielhaftigkeit gerühmt; doch war es bereits in der patristischen Lite-
ratur in umfassender Weise formuliert worden, so daß alle folgenden
Jahrhunderte darauf zurückgriffen Es ist daher nicht ungewöhnlich,
wenn das Armutsideal audi in Ekkeberts Vita Haimeradi eine Rolle
spielte*'. Keller hat zudem nicht beachtet, daß die mit dem IL Jahr-
hundert einsetzende religiöse Armutsbewegung gerade von den reichen
Oberschichten getragen wurde, von denjenigen also, die „realiter weder
pauperes noch humiles" waren und für die daher das Bekenntnis zur
paupertas und humilitas einen Sinn hatte**. Haimerad dagegen gehörte
von Anfang an zu den Armen. Es ist demnach verfehlt, ihn als Vorläufer
dieser Armutsbewegung zu betrachten. Unter Haimerads Anhängern aber
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befanden sich nidit nur Angehörige der untersten sozialen Schichten,


die seine Almosen entgegennahmen, sondern, wie der Schenkungskatalog
der Hasunger Gründungsurkunde zeigt*', auch viele begüterte Kleriker
und Laien.

viverent et religiöse deo seruirent ad exemplum eorum, qui in primitiva


ecclesia, sicut in actis apostolorum legitur, nidiil suum esse dicebant, set
erant Ulis omnia communia.
*® MUB 358, S. 254: Quibus cum proprietates privatas respuerent et com-
munis vit^ paupertate contenti essent; S. 256: sub eisdem quoque
disciplinis communis vit^ paupertati subdiderunt.
Lamp. Ann. 1072, S. 139: statuit ibi deinceps privatus aetatem agere
atque ab omni secularium negociorum strepitu sub voluntariae p au per-
tatis titulo inperpetuum feriari; vgl. dazu M e y e r von K n o n a u ,
Jbb. II, S. 170 Anm. 102. Über paupertas als Persönlichkeitsideal bei Lampert
von Hersfeld vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 20 (1970): Die Beurteilung der handeln-
den Persönlicikeit.
D m i t r e w s k i , Die diristlidie freiwillige Armut, S. 54ff., bes. S. 67.
K e l l e r hat freilich die Bedeutung der paupertas in der Vita übertrieben,
da das Wort im ganzen nur dreimal (vgl. oben Anm. 36) vorkommt und
Haimerad selbst nirgends als pauper Christi bezeichnet wird. Es ist auch
nirgends von einer vita apostolica oder vita evangelica die Rede; vgl. hierzu
H. G r u n d m a n n , Neue Beiträge zur Geschichte der religiösen Bewegungen
im Mittelalter, AKG 37 (1955) S. 131—182: „Vita apostolica" und Wander-
predigt (S. 147 ff.).
** K. B o s 1, Polens und Pauper, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft,
Festschr. O. B r u n n e r (1963) S. 76. Den Anteil des Adels an der Hirsauer
Reform sdiildert eindrucksvoll Bernold, Chron. 1083 (SS. 5) S. 439; vgl. dazu
J a k o b s , Die Hirsauer (s. o. Anm. 4) S. 189.
*' MUB 358, S. 254—257. Einige der in den Wunderberichten der V. Hai-
meradi namentlich bezeichneten Personen begegnen auch im Schenkungskatalog:
3*
218 Tilman Struve

Gegen Kellers " Versuch, Haimerad mit ketzerisdien Gruppen um Mainz


und Goslar in Zusammenhang zu bringen, spricht die Tatsache, daß inner-
halb der häretischen Kreise vor dem Investiturstreit „im Bereich der römi-
schen Kirche nirgends die Forderung der freiwilligen Armut oder der apo-
stolischen Nachfolge" erhoben wurde". Wenn Haimerad einerseits auch
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bei den kirchlichen Autoritäten Anstoß erregte und von seinen Gegnern als
„Heuchler", als „Wahnsinniger und Abtrünniger" geschmäht wurde",
so wurde andererseits doch nie der Vorwurf der Häresie gegen ihn er-
hoben. Ekkebert ließ an keiner Stelle durchblicken, daß Haimerad etwa
als Manichäer — wie man im 11. Jahrhundert jeden Ketzer n a n n t e " —
bezeichnet wurde; er unternahm auch keinen Versuch, ihn vor einem
solchen Verdacht zu schützen. Die Tatsache, daß Haimerad — wie viele
andere — in Jerusalem war, liefert allein noch keinen Beweis für die
von Keller'" vermutete Verbindung zu östlichen Irrlehren. Nichts in der
Vita läßt darauf schließen, daß Haimerad wie in Ketzerkreisen üblich",
die kirchlichen Sakramente und Gebräuche (Taufe, Abendmahl, Beichte,
Kreuzverehrung) abgelehnt oder etwa Handauflegungen vorgenommen
hätte, was immerhin für eine Übernahme häretischen Gedankengutes
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sprechen würde. Also war es auch nicht Häresie, womit Haimerad Anstoß
erregte, sondern vielmehr sein ungebärdiges und wohl auch ungepflegtes
Auftreten außerhalb jeder kirchlichen Disziplin. Die Bischöfe und Äbte
dagegen betrachteten es als ihre Pflicht, die Kirche von solchen die
Kirchenzucht gefährdenden Elementen freizuhalten''. Ebensowenig kann
aber aus der Vita eine Sympathie Ekkeberts mit der Ketzerbewegung
herausgelesen werden, denn gerade die Heiligenverehrung wurde von den
Ketzern abgelehnt". Zudem spielte die Ketzerbewegung in der zweiten

S. 255,5 domna Bertha (V.H. c. 29, S. 606); S. 255,22 Meginfridus (c. 32,
S. 606); S. 256,2 Mathilth (c. 27, S. 606); S. 256,4 Ruothingus, Sigebraht
(c. 32, S. 606 Ruoding, Sigebertus?). Die Identität der genannten Personen ist
möglidi, kann jedoch nicht in jedem Falle mit Sidierheit behauptet werden.
« K e l l e r , S.311f.
" H. G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen im Mittelalter (2. Aufl. 1961)
S. 15.
' ' V . H . c. 3, S. 599: non vera cum niti via ad virtutem, ypocritam
esse ... existimabant; c. 15, S. 603: Cepitque ... beatum virum iniuriare,
eumque delirum et apostatam appellare.
** G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen, S. 476f.; ders., Ketzergeschichte
des Mittelalters, in: Die Kirdie in ihrer Gesdiidite II G (1963) S. 8.
»» K e l l e r , S. 312.
" G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen, S. 479; Ketzergesdiichte, S. 9 ff.
" Bei der Reformierung der schwäbischen Klöster werden die in c. 1 der
Benedikt-Regel verurteilten Sarabaiten und Gyrovagen vertrieben (vgl. Berthold,
Zwifaltensis Chron. c. 9, SS. 10, S. 102): eiectisque ex his monasteriis Gyro-
vagis et Sarabaitis alias ex Cluniacensibus instructos illuc substituerunt mo-
naihos.
" G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen, S. 23.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 219

Hälfte des 11. Jahrhunderts kaum mehr eine Rolle, da jene Kräfte, die
ihr noch in der ersten Jahrhunderthälfte zufielen, zunächst von der kirdi-
lidien Reformbewegung aufgefangen wurden'*. Simonie und Priesterehe
wurden nun als sdilimmste Formen der Ketzerei bekämpft. Ekkebert
propagierte aber auch nicht das Ideal des — Irrlehren verbreitenden —
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Wanderpredigers, sondern hielt durchaus, wie das Beispiel des geheilten


Hasunger fraters^^ zeigt, an der stabilitas loci des Klosterlebens fest.
Da die Worte, mit denen Ekkebert Haimerads Kasteiungen und Fasten-
übungen sdiilderte, aus Lamperts Vita Lulli und aus dessen Lebensbeschrei-
bung Annos von Köln in den Annalen entlehnt wurden", ist ersiditlich,
daß er sidi grundsätzlidi zu demselben Heiligenideal wie Lampert" be-
kannte. Darüber hinaus ist jedoch zu beaditen, daß besonders durch die
von Gorze ausgehende lothringische Reformbewegung eine asketische
Richtung im Mönchtum gefördert wurde®®, die geradezu in der Nach-
ahmung der paupertas Christi gipfelte'®. Nun war aber, wie Hallinger
gezeigt hat, die Gorzer Bewegung gerade im außermonastischen Raum
entstanden; sie wurzelte in der „unbestimmten Sehnsucht religiöser Men-
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schen nach Einsamkeit, nach dem östlichen Wunschbild der Eremos".


Diese Tatsache mag zu ihrer raschen Verbreitung beigetragen haben.
Jedenfalls war die starke Betonung der Askese, die für die Gorzer
Bewegung charakteristisch ist, ausgesprochen volkstümlich''. Die Ver-
bindung von Armut, Weltabkehr und Askese begegnet also nicht erst bei

" G r u n d m a n n , ebd., S. 483; Ketzergesdiidite, S. 12ff.


" Aus dem weltlichen Leben der Stadt Worms wieder ins Kloster zurück-
gekehrt, gelobte er am Grabe Haimerads (V. H. c. 37, S. 607): se deinceps
stabiliter in eodem loco permansurum, et nunquam ulterius ad seculum
rediturum.
" V . H . c. 12 S. 602, 43 £f.: quam er eher in oratione, ... quomodo cor-
pus suum ieiuniis et vigiliis maceravit, qualiter carnem suam...
crucifixerit; vgl. c. 10 S. 601, 33: propter crebra ieiunia; c. 16 S. 603, 55:
nie corpus inedia mac er atum reficere cepisset; Lamp. V. Lulli c. 1 S.
307,17 f.: Corpus suum quottidianis pene ieiuniis in servitutem redigebat,
atque, ut naturalem carnis fervorem restringeret...; Ann. S. 243,23 f.:
Crebris ieiuniis corpus suum macerabat et in servitutem redigebat;
Ann. S. 95,11: inedia atque lassitudine conficere. Auch das folgende Bild ist
aus Lamperts Nachruf auf Anno von Köln entlehnt: V. H. c. 7 S. 600,30 f.
satis iam in Camino fatigationis, sicut aurum in fornace, excoctus; S.
601,2 neque enim hoc fas est vasis electionis; Lamp. Ann. S. 242,15ff:
qui post longam egrotationem, qua Dominus vas electionis suae in cami-
n o tribulationis transitoriae purius auro, purgatius mundo obrizo deco xerat.
" Vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 20 (1970).
Vgl. A. H a u c k , Kirdiengesdiidite Deutsdilands 3 {»/M906) S. 357; H a l -
l i n g e r , Gorze-Kluny I, S. 52 f., 57.
»» D m i t r e w s k i , Die diristlidie freiwillige Armut, S. 70.
«» Gorze-Kluny I, S. 57.
" H a u c k , S. 357; zum Unterschied zwischen Gorzer und Cluniazensischer
Bewegung vgl. H a 11 i n g e r I, S. 57 f. u. Anm. 19.
220 Tilman Struve

Haimerad, sondern bereits in der lothringischen Reformbewegung. Armut,


Weltabkehr und Askese galten jedodi audi der italienischen Eremiten-
bewegung'^ als erstrebenswerte Ideale. Von Romuald, dem strengen
Asketen von Ravenna, wird beriditet, er habe des öfteren, vom Heiligen
Geist erfüllt, seine Predigt unterbrochen und sei wie von Sinnen davon-
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gelaufen". Auch Haimerad — so überliefert seine Vita — unterbrach


die Lesung der Messe, wenn er, von Ekstase ergriffen, sich mit dem
Heiligen Geist unmittelbar vereinigt fühlte«'. Die Eremitengemeinschaft
um den hl. Romuald, unter dessen Einfluß Otto III. gelobte, der Herr-
schaft zu entsagen und künftig als Einsiedler zu leben", stand jedoch nie
im Verdacht der Ketzerei. Haimerads Erscheinung darf also nicht isoliert
betrachtet werden. Das Ideal der Weltabkehr und Askese, das Haimerad
radikal in die Wirklichkeit seines Lebens umsetzte, gehörte zum Gedan-
kengut seiner Zeit. Ein direkter Einfluß der italienischen Eremiten-
bewegung läßt sich schwer nachweisen, ist aber auch nicht ganz auszu-
schließen, da Haimerad immerhin bei seiner Pilgerfahrt nach Rom mit
dieser Strömung in Berührung gekommen sein könnte. Das Ungewöhn-
liche, ja beinahe Ungeheuerliche seines Auftretens, sein auf Unabhängig-
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keit von allen irdischen Bindungen begründetes Streben nach persönlicher


Vollkommenheit würde in dieser Tradition erst recht verständlich. Aber
auch vor dem Hintergrund der lothringischen Reformbewegung erfahren

W . F r a n k e , Romuald von Camaldoli und seine Reformtätigkeit zur Zeit


Ottos III. (Histor. Studien 107, 1913); D. A. P a g n a n i , Storia dei Benedettini
Camaldolesi cenobiti, eremiti, monaciie ed oblati (Sassoferrato 1949); G. T a -
b a c c o , Romualde di Ravenna e gli inizi dell'eremitismo camaldolense, in:
L'Eremitismo in Occidente nei secoli X I e X I I ( = Miscellanea de Centro di
Studi Medioevali 4, 1965) S. 73—121; F. D r e s s l e r , Petrus Damiani. Leben
und Werk, in: Studia Anselmiana 34 (Rom 1954); H. L ö w e , Petrus Damiani.
Ein italienischer Reformer am Vorabend des Investiturstreites, Gesch. in Wissen-
sdi. und Unterridit 6 (1955) S. 65—79; A. N i t s c h k e , Die Wirksamkeit Gottes
in der Welt Gregors VIL, in: Studi Gregoriani 5 (Rom 1956) S. 115 ff., bes.
S. 120—135; J. L e c l e r c q , S. Pierre Damien, ermite et homme d'dglise (Rom
1960).
" Petrus Damiani, Vita beati Romualdi c. 35 (ed. G. T a b a c c o , Fonti per
la storia d'Italia 94, 1957) S. 75: Sepe namqm, dum predicationis verba profer-
ret, tanta illum compunctio in lacrimas excitabat, ut subito interruptum sermo-
nem relinquens, aliquorsum repentino impetu velut demens aufugeret; vgl.
N i t s c h k e , Die Wirksamkeit Gottes, S. 127.
V. H. c. 21, S. 604 f.: Cum... divinis ministeriis insisteret, et his, quae
praecedere solent, finitis, euangelium legi rationis ordo deposceret, dum tenacius
inhereret Deo, subito raptus in extasi, unus quoque spiritus ... effectus est cum
ipso. (...) Cum vero iam inclinata esset ad vesperam dies, ad se reversus,
quod reliquum fuerat missae percelebravit.
" P. E. S c h r a m m , Kaiser Rom und Renovatio. Studien zur Geschichte des
römischen Erneuerungsgedankens vom Ende des Karolingischen Reiches bis zum
Investiturstreit, = Studien der Eibl. Warburg 17,1 1929), (Sonderausgabe,
Darmstadt 1962) S. 180 f.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 221

Haimerads asketisdies Leben wie Ekkeberts religiöses Anliegen in der


Vita eine hinreidiende Erklärung. Als Godehard von Niederaltaidi Abt
in Hersfeld (1005—1012) wurde, kam auch das Reidiskloster unter den
Einfluß der lothringischen Reform". Es ist bezeidinend, dciß Godehard
die Reformierung Hersfelds damit begann, von den Möndien die Auf-
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gabe ihres Privateigentums zu verlangen und alle überflüssigen Reich-


tümer den Armen zu schenken". Die der Lebensführung Haimerads
zugrundeliegenden religiösen Vorstellungen lassen sich durchaus auf
Gedankengut der lothringischen Reform zurückführen; sie gehören keines-
falls in den Vorraum der Ketzerbewegung des 12. Jahrhunderts. Denn
darüber freilich ist nichts bekannt, daß sich die späteren Ketzer wie
Haimerad freiwillig hätten verprügeln oder von Hunden zerreißen
lassen
Daß Haimerad dennoch vor Abt Arnold von Hersfeld keine An-
erkennimg fand, hatte einen anderen Grund. Die durch übertriebene
Askese erreichte Kommunikation mit übersinnlichen Bezirken, wie sie von
Haimerad berichtet wird", barg die Gefahr des Abgleitens in rational
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nicht mehr kontrollierbare Bereiche in sich. Anstelle der Askese rückte


die für das abendländische Mönchtum gültige Regel Benedikts deshalb
das Ideal tätiger Frömmigkeit in den Vordergrund. Zwar galt auch ihr
das Klosterleben nicht als einzige gute und zulässige Form des Mönch-
tums; doch stellte es die „unentbehrliche Vorstufe" für jeden Grad
religiöser Vervollkomiraiung dar. Nach Kapitel 1 der Benediktinerregel
sollten Eremiten daher erst nach langer Bewährung und Vorbereitung
im Kloster in die Einsamkeit gehen'". Das Eremitentum galt auch weiten
Kreisen noch im Mittelalter als „höchste Form und Stufe religiösen Le-
bens"; doch sollte es sich nicht außerhalb des kirchlichen Raumes bewegen.
Dies aber war der Grund, weshalb Abt Arnold den in Hessen um-
herziehenden Haimerad ins Kloster Hersfeld brachte: dort sollte er erst
einmal das mönchische Leben kennenlernen''. Als Schüler Godehards

•• H a 11 i n g e r , Gorze-Kluny I, S. 649 ff.


" Lamp. Inst. S. 349: Tunc destructis cellis proprietariis, intravit reformare
melius. Regnum se accepisse dixit, non monasterium; ideoque plurima preciosa
dedit pauperibus. Stolas aureas ducentes conflamt per ignem, aurum pauperibus
distribuit. Vgl. Wolfher, V. Godehardi post. c. 7 (SS. 11) S. 200 f. Zu Gode-
hards Wirksamkeit in Hersfeld vgl. H a 11 i n g e r I, S. 650 ff.
«8 V. H. c. 6, S. 600.
•» V. H. c. 21, S. 604 (s. o. Anm. 64).
Reg. Bened. c. 1,3—5 (CSEL 75); vgl. H. G r u n d m a n n , Deutsche
Eremiten, Einsiedler und Klausner im Hodunittelalter, AKG 45 (1963) S. 65;
ferner: L'Eremitismo in Occidente nei secoli X I e XII (Miscellanea de Centro
di Studi Medioevali 4, 1965).
V. H. c. 7, S. 600: Hersveldiam eum ante se premisit, ...ei sanctae con-
versationis habitum tradere voluit.
222 Tilman Struve

sorgte er hier, von Lampert als districtae severitatis vir b e z e i d i n e t f ü r


strenge Klosterzucht und hatte demzufolge wenig Verständnis für Haime-
rads .heilige Narrheit'". Als Haimerad jedodi hartnäckig blieb und er-
klärte, er könne dort sein Seelenheil nicht seinem Gelübde entsprechend
erlangen, warf ihn Abt Arnold mit Schande aus dem Kloster. Da aber
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Arnold selbst bald darauf (1031) als Opfer einer Hofintrige abgesetzt
wurde, schien seine Schuld offenbar: quod pro iniuria, quam viro Dei
ingesserat, deponi meruissef*. Dennoch entschuldigte Ekkebert — das
ist gegen Keller zu betonen — die Handlung des Abtes, denn jener
konnte Haimerads Lauterkeit ja gar nicJit erkennen, „da die Leuchte
imter dem Scheffel verborgen war und der Glanz der Verdienste des
Gottesmannes noch nicht erstrahlte" Arnold sei deshalb nicht mit dieser
Welt zu verurteilen, sondern werde allein von Gott gerichtet; doch werde
Johannes der Täufer, dem zu Ehren er eine Propstei" gegründet hatte,
sicherlich Fürsprache für ihn einlegen. Auch für den Klosterbrand des
Jahres 1038 machte Ekkebert nicht ausschließlich Arnolds Versagen ver-
antwortlich Damit ist aber erwiesen, daß Ekkebert keine Kritik an den
Hersfelder Zuständen üben wollte.
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Daß aber auch in Hersfeld Eremiten anerkannt wurden, beweist die


Erwähnung des Eremiten Gunther in Lamperts Annalen™. Sein Leben,
das in einigen Zügen eine Parallele zu demjenigen Haimerads bietet,
macht andererseits deutlich, warum gerade Haimerad in Gegensatz zu
den kirchlichen Autoritäten geraten mußte. In der Mitte seiner Jahre
wandte Gunther, der aus thüringischem Adel stammte, sich vom welt-
lichen Leben ab, schenkte seine Erbgüter den Klöstern Hersfeld und
Göllingen und beschloß in Hersfeld, Mönch zu werden^'. Abt Godehard
schickte ihn darauf ins Kloster Altaich, erlaubte ihm jedoch, bevor er dort
Mönch wurde, eine Wallfahrt nach Jerusalem zu unternehmen. Nach
seiner Rückkehr hielt es ihn nicht lange im Kloster; denn schon nach
zwei Jahren zog er sich als Einsiedler in den Bayrischen Wald zurück.

" Inst. S. 350; vgl. H a 11 i n g e r , Gorze-Kluny I, S. 652.


'» Vgl. St. H i l p i s c h , Zeitsdlr. f. Aszese und Mystik 6 (1931) S. 121—131;
H a l l i n g e r I, S. 652 Anm. 26.
" V. H. c. 11, S. 602.
" V. H. c. 11, S. 602: ideo abbas videre non poterat, quia lucerna sub modio
latehat, quia nullus adhuc meritorum viri Dei splendor emicuerat.
" Johannisberg bei Hersfeld (1024/26), vgl. H a 1 I i n g e r I, S. 173.
" Lan^. Inst. S. 350, vgl. Ann. S. 54. V. H. c. 11, S. 602: . ..sive ob iniuriam
hominis Dei, sive aliis etiam culpis exigentibus.
" 1006, S. 50; 1047, S. 61. Vgl. Vita Guntheri eremitae, MG. SS. 11 (1854)
S. 276ff.; über ihn zusammenfassend G r u n d m a n n , Eremiten, S. 73—77.
'» Lamp. Ann. 1006, S. 50; vgl. V. Guntheri c. 2, S. 276 f. = V. Godehardi
post. c. 8, S. 201 f.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 223

Im Unterschied zu Haimerads Leben ist es von entscheidender Bedeutung,


daß Gunther auch fortan mit dem Kloster Altaidi in Verbindung blieb.
Einsiedler, die sich ihm anschlössen, schickte er, sofern sie nicht schon
vorher dort Möndie waren, zur Ausbildung nach Altaidi'". Denn auch
die Eremiten-Gemeinschaft in Rinchnach lebte nach der Benediktiner-
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regel". Nach seinem Tode (1045) wurde Gunther hier als Heiliger ver-
ehrt, die Eremiten-Gemeinschaft aber in ein Priorat des Klosters Nieder-
altaich umgewandelt. Dort wurde schließlich auch seine Vita für den
liturgischen Gebrauch aufgezeichnet". Die Parallele und zugleich der
Unterschied zur Vita Haimeradi und zur Geschichte Hasimgens dürften
damit deutlich geworden sein. Auf der einen Seite steht Haimerad, der
dem Klosterleben entfloh, um frei, ohne Bindung an eine Regel, ohne
Zwang zur Unterordnung unter irgendeine kirchliche Instanz, nur der
Erfüllung seines Gelübdes zu leben; auf der anderen Seite Gunther, der
sich im Kloster auf sein späteres Eremitenleben vorbereitete und diese
Verbindung zum Kloster niemals abreißen ließ. Während Haimerad
jedoch weitgehend passiv blieb und im Ertragen von Schmähungen und
körperlichen Qualen sein Seelenheil zu erlangen suchte, wirkte Gunther
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aktiv für eine Gemeinschaft bei Rodung und Wegebau, zog als Missionar
zu den heidnischen Liutizen und Tschechen und kam in diplomatischem
Dienst sogar bis an den ungarischen Hof An Haimerads wie an Gunthers
Grabe entstand eine monastische Gemeinschaft, aus der in Hasungen
schließlich ein Kloster hervorging. Zur liturgischen Grundlage der
Heiligenverehrung wurde für Haimerad wie für Gunther eine Vita ver-
faßt. Folgender Stufengang kann demnach für den Weg eines Eremiten
und seiner Verehrung abgeleitet werden: 1. Abschied von Familie und
Heimat, verbunden mit der Aufgabe alles weltlichen Besitzes — 2. Pilger-
fahrt (Rom, Jerusalem) — 3. Einsiedlerleben (nach vorheriger Unter-
weisung in einem Kloster) — 4. Heiligenverehrung nach dem Tode —
5. Entstehung einer monastischen Gemeinschaft am Grabe des Heiligen,
die zur Gründung eines Klosters führen kann — 6. Aufzeichnung einer
Heiligenvita. Es ist sehr wahrscheinlich, daß nach Haimerads Tod (1019)
auch in Hasungen eine religiöse Gemeinschaft von Klerikern und Laien
bestand, bevor ihr Siegfried von Mainz (1047) eine festere Form gab,
indem er hier ein Kanonikerstift einrichtete

G r u n d m a n n , Eremiten, S. 75.
81 MG. DH. III. Nr. 25 (1040 Januar 17) S. 32: fratres regulam s. Benedicti
observantes (G r u n d m a n n , S. 75 Anm. 40).
^ G r u n d m a n n , Eremiten, S. 76f.
8» Ebd. S. 76 f.
Es ist jedoch verfehlt, mit K e l l e r (S. 312 Anm. 34) anzunehmen, Sieg-
fried habe bereits fertige Klostergebäude in Hasungen vorgefunden. Erzbischof
Aribo von Mainz wird 1021 hier zunächst eine Kirche errichtet haben: super
224 Tilman Struve

Was sich für Keller an der Vita Haimeradi so neuartig darzubieten


sdiien, läßt sidi, wie unser vergleichender Überblick gezeigt hat, sehr
wohl mit dem überlieferten Heiligenideal vereinbaren. Die Züge von
Weltabkehr, Leben in Armut, Fasten und Askese sind nicht grund-
sätzlich neu, sondern lassen sich auf Formen der traditionellen Fröm-
migkeit zurückführen. Sie sind deshalb nicht als Vorläufer der religiösen
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Bewegungen des 12./13. Jahrhunderts zu interpretieren. Das eigentliche


Anliegen der Vita Haimeradi kann erst dann recht verstanden werden,
wenn man sie vor dem zeitlichen Hintergrund des Investiturstreites,
im Rahmen der Hersfelder Auseinandersetzungen um die Reform und
der Hasunger Bestrebimgen um eine Konsolidierung des Klosters be-
trachtet.
Gleich das erste Kapitel der Vita Haimeradi führt in die durch den
Investiturstreit ausgelöste Situation eines geistigen und religiösen Um-
bruchs hinein. Unter Verwendung eines Sallust-Zitats beschwor Ekkebert
in seiner Vita wie Lampert in den Annalen ein apokalyptisches Bild:
divina et humana promiscue habentes, sacra profanis miscentes^. Durch
das Erlebnis des Investiturstreits wurde Ekkeberts Zeitauffassung be-
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stimmt: die Gegenwart, die er als modernum tempus^' bezeichnete und


damit von einer vorbildhaften Vergangenheit abhob, erlebte er unter
eschatologischen Vorzeichen als Endzeit, als finis saeculi. Diese Endzeit
wird dadurch charakterisiert, daß die Wunderkraft der Heiligen für die
Welt schwindet. In einer doppelten dialektischen Bewegung führte Ekke-
bert das Verblassen des Glanzes ,dieser Leuchten des Himmels' auf die
Nachbarschaft zur Sonne Christi und auf die wachsende Bosheit unter den
Menschen zurück. Denn in dem Maße, wie die Sonne Christi mit dem
bevorstehenden Weltende naht, nimmt die menschliche Bosheit auf der
Erde zu und verdunkelt damit ,diese Gestirne des Himmels'". Anderer-

montem, qui dicitur Hasungun, in honore sanctorum apostolorum Petri et


Pauli et in commemoTatione beati Heimeradi supradicti monasterium construxit
(V. Meinwerci c. 177, ed. F. T e n c k h o f f , MG. SS. rer. Germ. [1921] S. 95).
Zur Bedeutung des Wortes monasterium vgl. G r u n d m a n n , Eremiten, S. 78
Anm. 50.
V. H. c. 1 S. 599,13 (Sali. Cat. 8); vgl. Lamp. Ann. S. 246,30: divina
atque humana omnia absque discrimine permiscentem; S. 278, 17 f.:
ita unius hominis temeritate sacra et prophana, divina et humana ...
confusa esse; vgl. audi V. Lulli c. 18 S. 331,32.
" Vgl. W. F r e u n d , Modernus und andere Zeitbegriffe des Mittelalters
(Neue MünstersAe Beiträge zur Gesdiichtsforschung 4, 1957); zum Gebrauch
bei Lampert vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 20 (1970): Die Abneigung gegen das Neue.
" V. H. c. 1, S. 599: Nam quanto finis seculi appropinquat, quanto veri solis
adventus vicinius imminet, tanto splendor herum celi luminarium mundo
subducitur, ut iam pene nullus electorum superesse credatur, cui gratia sanitatum
et miraculorum distrihuta sit per dividentem singulis, prout vult, spiritum.
Absit autem, ut hanc causam vero sali, Christo videlicet, Domino nostro.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 225

seits fehlte den Zeitgenossen nadi Ekkeberts Meinung der Glaube, ,wenn
Gott durdi seine Diener in der Gegenwart alte Wunder wiederhole',
so daß soldie Zeugen nidit nur des Trugs beschuldigt, sondern audi be-
leidigt und gesdimäht würden®®. Gleidiisam als Entschuldigung fügte
Ekkebert jedoch hinzu, die Taten der Heiligen könnten deshalb nicht mehr
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offen zutage treten, ,da ihre Lichter nicht auf den Leuchter gestellt
waren', oder wie es an anderer Stelle heißt, ,da das Licht unter dem
Scheffel verborgen war'
Für die Gegenwart bestand daher die Aufgabe, den Unglauben zu
überwinden, — und diesem Zweck sollte die Vita Haimeradi dienen.
Ekkebert sprach dies deutlich aus: der Glaube bildete erst die Voraus-
setzung für die am Grabe Haimerads geschehenen Wunder'". In den
Wundern aber offenbarte sich die göttliche Kraft, indem sie die Heilung
von Seele und Körper bewirkte. J e intensiver nun die Verehrung der
Heiligen geschah, ,desto näher würde man gegenwärtig ihre Wohltat,
künftig aber ihren Beistand genießen, desto leichter und schneller würde
man, wenn nur der Glaube nicht schwanke, die göttliche Barmherzigkeit
erlangen, wenn der Zeitpunkt der Not — d.h. das Jüngste Gericht —
For personal use only.

b e v o r s t e h t ' W e r dagegen die Heiligen vernachlässige, der errege Gottes


Zorn. Dies also war das didaktische Ziel der Vita, — doch selten findet
man es so klar formuliert: die Menschen sollten zur Wallfahrt nach
Hasungen aufgefordert und die dort versammelten Gläubigen in ihrer
Verehrung für den Heiligen bestärkt werden. Als Lokalheiliger bean-
spruchte er sogar Vorrang selbst vor einer Pilgerfahrt nach Jerusalem'^.
Im Zentrum der Vita Haimeradi steht der Heilige als homo bonus —
nicht im Sinne der Ketzer, sondern in ethischer Hinsicht: denn die von

ascrihamus, quasi vasa electionis ex vicinitate adventus eius incipiant minoris


esse virtutis ... quin pocius nobis, adversum quos iam finis seculi evigilavit,
... obtenebrantur etiam hae stellae cell caligine maliciae nostrae.
®® V. H. c. 1, S. 599: Preterea, cum per tales servos suos Dominum
moderno tempore antiqua miracula renovare audierimus, dedi-
gnamur fidem accomodare, taliumque auctores non solum mendacii arguimus,
sed et iniuriis et contumeliis afficimus.
8» V.H. c. 1, S. 599; c. 11, S. 602 (vgl. oben Anm. 75).
V.H. c. 27, S. 605 f.: Tandem post exclusas pestes animarum, post
eliminata infidelitatis impedimenta, via facta est fidei ad excludendas et
eliminandas quoque egritudines corporum.
" V.H. c. 39, S. 607: Nec est ambigendum, quin tanto vicinius, tanto
familiarius quisque illorum et in presenti beneficio et in futuro perfruatur
consortio, tanto facilius et celerius, si fides non titubaverit, divinam impetret
misericordiam, urgente necessitatis articulo, quanto plus Ulis reverentiae, quanto
plus exhibere studuerit honoris, quanto maiorem operam in illorum expenderit
famulatu; vgl. oben Anm. 17.
»» V. H. c. 32, S. 606.
V. H. c. 14, S. 603.
226 Tilman Struve

ihm gelehrten Ideale stimmten mit seinem Lebenswandel vollkommen


überein — doctrina concordabat cum vita. Ekkebert bediente sidi hier
derselben Worte, mit denen Lampert einst den Hersfelder Abt Meginher
als leuchtendes Beispiel wahren möndiisdien Lebens gepriesen hatte
Damit stellte er sich aber mitten hinein in die Hersfelder Auseinander-
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setzungen um die Notwendigkeit einer Kirdien- und Klosterreform. Es


kennzeidinet die Aufwertung, die Haimerad inzwischen von kirdilidier
Seite erfahren haben mußte, wenn er hier als Vorbild diristlidien Lebens
vorgestellt wurde.
In der für die Reidisklöster zentralen Frage der Klosterreform gingen
Lampert und Ekkebert also zusammen. Beide kämpften gegen die Ver-
weltlidiung der Kirche und besonders des Mönditums, wobei Lampert
seine Kritik an Mißständen nodi in weit sdiärferer Tonart vortrug".
Nirgends bei Ekkebert läßt sich jedoch — wie Keller vermutete — eine
Kritik speziell an Hersfelder Zuständen herauslesen. Mit den servi
inutiles et pigri und den falsi fratres'", die Haimerad verprügelten
und verhöhnten, sind nicht die Hersfelder Mönche gemeint, sondern all
jene, denen in der Vita die Rolle der Gegenspieler zufiel und von deren
For personal use only.

dunkler Folie sich die Reinheit des Heiligen um so deutlicher abheben


sollte. So sollten auch die am Grabe Annos von Köln gesdiehenen Wun-
der, wie Lampert sagt, die Unverschämtheit seiner Widersacher zurück-
weisen". Wie bereits gezeigt wurde, besteht auch kein Anlaß, an der
Integrität des Abtes Arnold von Hersfeld zu zweifeln. Ebensowenig wie
Lampert rüttelte Ekkebert an den Grundlagen des benediktinischen
Rei(3ismönchtums.
Lampert und der unbekannte Hersfelder Verfasser des ,Liber de unitate
ecclesiae conservanda' hielten aus konservativer Gesinnung an den tradi-
tionellen Formen der Frömmigkeit fest, sofern sie nur im Einklang mit
der Regel Benedikts und dem Brauch der Väter standen". In Hersfeld,
das in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts den Standpunkt des
benediktinischen Reichsmönchtums gegenüber den verschiedenen Rich-
tungen der Reform vertrat", wollte man die Mönche nicht in Engel ver-

Lamp. Inst. S. 350; vgl. Ann. 1059, S. 75; hierüber S t r u v e , Hess. Jb. 20
(1970).
" Vgl. hierzu und im folgenden ebd.: Lamperts Religiosität und seine Stel-
lung zur Reformbewegung.
•» V . H . c. 3, S. 599; c. 10, S. 601.
Ann. 1075, S. 242: ad confutandam impudentiam eorum, qui paulo ante
xiitam eins sanctissimam atque ab omni huius mundi labe quantum ad hominem
integerrimam livido dente carpebant et preciosam margaritam, iam olim caelestis
regis diademati destinatam, falsis rumorihus obfuscare conabantur.
Lamp. Ann. 1071, S. 133; Liber de unitate ecclesiae conservanda II, 41
(ed. W. S c h w e n k e n b e c h e r , MG. Lib. de lite 2, 1892) S. 271.
»• Vgl. H a 11 i n g e r , Gorze-Kluny I, S. 657 f.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 227

wandeln, lehnte man alles ab, was über das mensdienmöglidie Maß
h i n a u s g i n g M i t Erbitterung sprach Lampert davon, daß die neuen
Möndie mehr Anklang fänden als das alte benediktinische Mönditum.
Wenn Ekkebert nun Haimerad infolge seiner bewunderungswürdigen
Heiligkeit sdion bei Lebzeiten unter die Engel versetzte"', dann brachte
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er damit einen neuen Ton in die Auseinandersetzung. Aus persönlicher


Verehrung für Haimerad neigte er dem volkstümlichen, von den Refor-
mern vertretenen asketischen Ideal zu.
Die Verehrung des hl. Haimerad in Hasungen wurde durci Erzbischof
Siegfried von Mainz entscheidend gefördert, dessen asketisdie Neigungen,
dessen Vorliebe für Gluny und seine Vorstellungswelt bekannt sind. Er
versuchte als erster im Bereich der Mainzer Kirche „die unter dem Ein-
fluß Clunys neu heraufgekommenen monastischen Formen" durchzu-
setzen"". So führt auch Ekkeberts Vergleich der Lebensführung Haime-
rads mit der Dienerschaft Marthas, wie der Wortlaut der Hasunger
Urkunde von 1082 beweist, auf Siegfrieds religiöse Vorstellungen zu-
rück"'. Siegfried von Mainz verband demnach seine Verehrung Haime-
For personal use only.

rads mit der Übernahme religiöser Ideale aus dem Umkreis Clunys und
Hirsaus. Solche neuartigen Formen der Frömmigkeit konnten jedoch nicht
vor dem Eintreffen der Hirsauer (1081) in Hasungen heimisch geworden
sein; denn vorher wirkte hier der konservativ eingestellte Lampert als
Abt. Die Vermittlung Hirsauischen Gedankenguts wurde erst unter
Lamperts Nachfolger Giselbert möglich; erst zu diesem Zeitpunkt wur-
den auf Siegfrieds Initiative die Hirsauer Gewohnheiten in Hasungen
eingeführt"*. Dem entspricht, daß die bezeichnete Hasunger Urkimde
tatsächlich erst 1082 ausgestellt worden ist. Bei seinem Aufenthalt in
Hasungen kam Ekkebert auch mit den religiösen Vorstellungen der
Hirsauer in Berührung.
Da Ekkebert jedoch die Vita Haimeradi im Auftrage Abt Hartwigs
von Hersfeld schrieb, dürfte er sidi in Fragen der Klosterreform nicht
allzuweit vom offiziellen Hersfelder Standpunkt, wie er von Lampert
und dem Verfasser des ,Liber de unitate ecclesiae' formuliert wurde, ent-
fernt haben. Kellers Versuch"', in der Vita Haimeradi den Beweis für

"» Lamp. Ann. S. 132.


V. H. c. 21, S. 605: O admirandae sanctitatis virum! Licet adhuc cor-
poraliter cum hominibm conversantem, iam tarnen inter illos coelestes spiritus
superne deputatum, quos cum domino libuerit, psalmista testante (Ps. 103,4),
angelos facit.
H a l l i n g e r , Gorze-Kluny I, S. 259f.; B ü t t n e r , Das Erzstift Mainz
(s. o. Anm. 4) S. 50 ff., 60 f.
"» Vgl. oben Anm. 15.
MUB 362, S. 262; vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 19 (s. o. Anm. 4).
"» K e l l e r , S. 319.
228 Tilman Struve

einen sidi anbahnenden Gesinnungswandel in Hersfeld zu sehen, schei-


tert an der klaren Aussage zweier so gegensätzlidie politisAe Positionen
vertretender Zeugen, Lzimperts und des Verfassers des ,Liber de unitate
ecclesiae', die bezeidinenderweise in der ablehnenden Beurteilung der
Refonnbewegung miteinander übereinstimmten. Für die von Keller an-
gedeuteten Ansdiauungen gab es demnadi gegen Ende des 11. Jahr-
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hunderts in Hersfeld keinen Raum.


Ekkeberts Hinweise auf das tempus modernum und auf das Welt-
ende {finis saeculi) zeigen, daß er den Investiturstreit als Zeit des Um-
bruchs erlebte. Der innere Anlaß zur Vita Haimeradi bestand für ihn in
einer religiösen Neubesinnung vor dem nahenden Weltende. Wie seine
Anspielung auf die antiqua miracula beweist, verfolgte er kein grund-
sätzlich neues Frömmigkeitsideal, sondern erstrebte nur die Intensivierung
der althergebrachten Formen im Siime einer renovatio. In Fragen der
Klosterreform stand Ekkebert auf dem Boden der von Hersfeld aner-
kannten Grundsätze; persönlich vertrat er jedoch ein Frömmigkeitsideal,
das den Anschauungen der Reformkreise nahestcind. Hierin ist jedoch
lediglich ein gradueller Unterschied zu erkennen, der sich allein aus Ekke-
For personal use only.

berts Verehrung für Haimerad und aus den besonderen Hasunger Ver-
hältnissen erklären läßt.
Bei der offiziellen Verehrung Haimerads, die in der Umwandlung des
Hasunger Stifts in ein Kloster imd in der Konzeption einer Vita gipfelte,
mag das Bestreben mitgewirkt haben, den Kult dieses wunderlichen
Mannes, der zu Lebzeiten mehrfach bei den kirchlichen Autoritäten An-
stoß erregt hatte, in Bahnen zu lenken, die von der Kirche gebilligt
werden konnten. Da Haimerad — etwa im Unterschied zum Eremiten
Gunther — das Klosterleben verwarf und keine kirchliche Instanz über
sich anerkannte, mußte die Kirche bestrebt sein, ihn wenigstens nach
seinem Tode in ihren Kult zu integrieren. Ausschlaggebend für seine
Verehrung in Hersfeld und Hasungen war dies Motiv allerdings nicht.
Haimerads einst ungebärdige Wesenszüge waren von der Nachwelt
schon längst in Tugenden eines Heiligen transformiert worden. Von den
einstigen Vorbehalten gegenüber seiner Person und seiner Lebensführung
war keine Spur zurückgeblieben. In Hersfeld genoß Haimerad schon seit
geraumer Zeit den Ruf eines Heiligen; dafür spricht nicht allein Lamperts
Nachricht aus dem Jahre 1072, sondern deutlicher noch Haimerads Auf-
nahme in das Hersfelder Nekrolog"'. Vom gläubigen Volk wurde Hai-
merad als „Vorbild echter spontaner Frömmigkeit" geschätzt und als

Necrologia Hersfeldensia Bibliothecae Cassellanae, Abschrift von G. K o e n -


n e c k e , Staatsarchiv Marburg (H. 295) zum 28. Juni: Heimo Hasung. pr.:
vgl. S t r u v e , Hess. Jb. 19.
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 229

Lokalheiliger besonders in der Umgebung Hasungens verehrt; doch drang


sein Ruf weit über die hessischen Grenzen hinaus. Niemals ist jedodi,
wie Grundmann"' bestätigt, gegen jene Einsiedler außerhalb der Klöster
und Orden „der Verdacht oder Vorwurf der Häresie" erhoben worden.
Die Vita Haimeradi ist zugleich ein Beispiel für die verschiedenen
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Möglichkeiten religiösen Lebens im 11. Jahrhundert. Das Spektrum


reicht von der Lebensform der Einsiedler und Eremiten über das an der
Benedikt-Regel festhaltende Reidismönchtum bis zu den verschiedenen
Gruppienmgen der Reformbewegung. In Hersfeld verfochten Lampert
und nach ihm der Verfasser des ,Liber de unitate ecclesiae' den Stand-
punkt des Reichsmönchtums. Mit seiner Betonung des asketisdien Ideals
der Eremiten, das besonders im Volk Anklang fand, schlug der Hers-
felder Mönch Ekkebert eine Brücke zu den Reformkreisen. Damit fallen
die in der Vita Haimeradi vertretenen religiösen Vorstellungen jedoch
nidit aus dem Rahmen der Zeit heraus.
Durdi Kellers methodisch fragwürdige Interpretation der Vita Haime-
radi mußten Ekkebert und der hl. Haimerad zwangsläufig in falschem
For personal use only.

Licht ersdieinen, dagegen konnte die Funktion der Vita nicht erhellt
werden. Denn Keller unterließ es, die Vita aus ihrem historischen
Zusammenhang zu erklären; stattdessen trug er eigene Vorstellungen in
sie hinein, für die er vielfach den Beweis schuldig blieb. Sein Verfahren,
das die zeitgesdiichtliche Konstellation wie die gleichzeitigen Quellen
nahezu unberücksichtigt läßt, wirkt da besonders bedenklich, wo er sich
mit seinen Ergebnissen auch im Widerspruch zu der von ihm herangezo-
genen Literatur befindet. Haimerads radikales Bekenntnis zu diristlidier
Armut und Askese ist durchaus in Zusammenhang mit bestimmten reli-
giösen Strömungen seiner Zeit zu sehen; es kann daher nicht als Ankün-
digung der Ketzerbewegungen des 12. Jahrhunderts gedeutet werden. Die
Vita Haimeradi war aber auch nicht als Kritik am bestehenden Mönchtum
und der Kirche angelegt. Sie hatte vielmehr einer ganz anderen Aufgabe
zu dienen. Zunächst verfolgte Ekkebert mit ihr ein inneres Anliegen: er
wollte in einer Zeit der Not, in Erwartung des Weltendes, zur vertieften
Verehrung des Heiligen aufrufen. Wie Lampert in der Vita Lulli ver-
fodit er jedoch, auch hierin seinem Vorbild folgend, zusätzlich ein
aktuelles politisdies Ziel: die Befreiung des Klosters Hasungen aus
drückender innerer und äußerer Not.
Die Vita Haimeradi ist demnach in engstem Zusammenhang mit den
Bestrebungen des Abtes Wigbert nadi dem Abzug der Hirsauer (1085)
zu betrachten. Sie hatte wie die Hasunger Urkundenfälschungen dem
einen Ziel zu dienen, die Existenz des Klosters für die Zukunft zu sichern.

Eremiten, S. 90.
230 Tilman Struve

Während durch die Urkundenfälsdiungen, insbesondere durch die inter-


polierten Sdienkungskataloge, der Hasunger Besitz abgerundet und ge-
festigt werden sollte, so sollte andererseits die Vita den Zustrom der
Pilger beleben. Wie die Eingangsworte der Vita vermuten lassen,
waren infolge der inneren Krise des Klosters die Wallfahrten zu Hai-
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merads Grab merklich zurückgegangen. Damit waren aber audi die für
die Existenz des Klosters so wichtigen Opfergaben und Schenkungen
ausgeblieben. Die innere, auf religiösen und politischen Differenzen
beruhende Krise hatte eine äußere, wirtschaftlidie Krise nach sidi gezogen.
Gerade in dieser Zeit der wirtschaftlichen Not aber war das Kloster mehr
als zuvor auf die Opfergaben der nadi Hasungen ziehenden Pilger und
auf die Schenkungen frommer Männer und Frauen angewiesen. Nicht
umsonst wurden daher in der Vita"" die Jerusalemfahrer ermahnt,
den hl. Haimerad nicht zu vergessen. Diese sollten, das war die unaus-
gesprochene Absicht der Vita, ihr Gut nicht für die Fahrt ins Heilige
Land ausgeben, sondern zu Ehren des Heiligen dem Kloster Hasungen
übertragen. Damit waren wohl besonders die in der Nachbarschaft an-
sässigen begüterten Kleriker und Laien gemeint. Tatsächlich finden wir
For personal use only.

den Magdeburger Präfekten Meginfridus und zwei seiner Begleiter aus


dem Wunderbericht c. 32 auch unter den Wohltätern im Schenkungs-
katalog der Gründungsurkunde"". Die Vita gab somit in seltener Kühn-
heit der Pilgerfahrt nadi Hasungen den gleichen Wert und wohl auch
den gleichen Lohn wie einer Pilgerfahrt nach Jerusalem.
Die Aufgabe der Vita Haimeradi bestand also darin, durch eine Be-
lebung der Heiligenverehrung den Zustrom der Pilger nach Hasungen
zu fördern und die Zahl der Schenkungen zu vermehren. Sehr wahr-
scheinlich sollten auch fromme Menschen zum Eintritt in das Kloster ver-
anlaßt werden, um so die stark dezimierte Zahl der Mönche allmählich
wieder zu ergänzen. Aus der Übereinstimmung der Ziele der Hasunger
Urkundenfälschungen mit denen der Vita Haimeradi ist schließlich er-
sichtlich, daß die Vita nur in derselben Zeitspanne wie die Urkunden-
fälschungen entstanden sein kann: also, wie oben bereits ausgeführt,
zwischen 1085 und 1090.
Der soeben geschilderte Vorgang steht in der Geschichte der mittel-
alterlichen Klöster keineswegs vereinzelt da""; er findet eine Parallele
'»« V. H. c. 32, S. 606.
109 Y g j Qbejj A n m . 45.
110 Weitere Beispiele nennt M. S c h w a r z , Heiligsprechungen im 12. Jahrh.
(s. o. Anm. 1); das von ihr hervorgehobene Motiv der utilitas (S. 49) war jedoch
nicht erst bei der Heiligsprediung, sondern — wie die V. Haimeradi beweist —
schon bei der Konzeption einer Heiligenvita wirksam. Wie hoch die wirtsdiaft-
lichen Auswirkungen der Heiligenverehrung bewertet wurden, zeigt sehr an-
sdiaulidi die ablehnende Haltung des Priors Peter gegenüber Wundern am
Hersfeld, Hasungen und die Vita Haimeradi 231

in den Bestrebungen des Abtes Ludwig von Hersfeld (1324—1343) in


der ersten H ä l f t e des 14. Jahrhunderts, durdi die Kanonisation Albuins
das Kloster aus einer wirtschaftlichen Notlage zu befreien Albuin, der
Bischof von Büraburg, war einst auf Luis Geheiß in Hersfeld bestattet
w o r d e n " ^ . Die an seinem G r a b geschehenen Heilungen und W u n d e r
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dienten Abt Ludwig jetzt zur Rechtfertigung der von ihm angestrebten
Elevation und Kanonisation. „Denn niemand entzündet eine Lampe und
stellt sie unter den Scheffel; m a n stellt sie vielmehr zum gemeinsamen
Nutzen hoch auf einen Leuchter, damit alle, die eintreten und seiner be-
dürfen, ein solches Licht sehen." So sollte das Licht des hl. Albuin sich
allen Völkern zeigen, damit ein jeder, der nach Heilung dürstet, eilends
herbeikommen könne Die Heiligsprechung Albuins wurde sehr bewußt
mit der Absicht betrieben, das Kloster Hersfeld wirtschaftlich zu sanieren;
Heiligsprechung Albuins und ^reformatio' des Klosters waren von A n f a n g
an aufs engste miteinander verbunden"*. D e n n von den in Hersfeld
W u n d e r und Heilung suchenden Pilgern erwartete man nicht nur eine
kräftige Belebung der Wirtschaft des Klosters, sondern auch reiche Opfer-
gaben und Schenkungen. Die Kanonisation Albuins sollte deshalb dem
For personal use only.

Kloster Hersfeld auch f ü r die Z u k u n f t einen nicht abreißenden Zustrom


von Pilgern sichern. Sehr geschickt wurde hier die Anziehungskraft
des Heiligen in den Dienst vorwiegend weltlicher Interessen gestellt.
Das Beispiel der Hasunger Urkundenfälsdiungen und der Vita Haime-
radi wie auch der Hersfelder Bemühungen um die Kanonisation Albuins
gestattet einen xmerwarteten Einblick in die Praxis mittelalterlichen
Klosterlebens, der bislang noch nicht genügend gewürdigt worden ist.
W i r erleben, wie die Klöster imgeachtet ihrer religiösen und kulturellen
Bestimmung mit H i l f e des Heiligenkults auch ihre wirtschaftlichen und
politisdien Interessen durchzusetzen suAten. Lamperts Vita Lulli bezeugt,
wie erbittert das Kloster Hersfeld, das eben auch eine bedeutende W i r t -
schaftseinheit darstellte, um die seit alters beanspruchten thüringischen

Grabe des hl. Stephan von Thiers (Grammont), da er wohl wußte, „daß ein
eigener Klosterheiliger die Armut und Abgeschiedenheit des Klosters durdi
lebhaften Verkehr und wirtsdiaftlidien AufsAwung verniditet hätte" (S. 49 f.).
Urkunde Abt Ludwigs von Hersfeld, 14. Januar 1341 (Original im
Staatsardiiv Marburg): Heinridi von Reidienbach, der Propst des Klosters
Johannisberg, wird zum Prokurator des Leibes des hl. Bisdiofs Albuin be-
stellt; vgl. audi S t r u V e , Hess. Jb. 19.
V. Lulli c. 21, S. 334 f.
Urkunde Abt Ludwigs von Hersfeld: ut tale lumen, uidelicet Beatus
Albuinus ... in altum eleuetur et canonizetur, ut per ipsum funditus illuminen-
tUT abscondita tenebrarum et graciose se manifestet ad omnes gentes, ut qui-
cumque graciam remedium uel sanacionem ab ipso sitiant, cum in manifesto
stet, ueniant festinanter (...).
Ebd.: ad reformandum ueterancialem ecclesie nostre structuram necnon
ipsum beatum Albuinum sanctificandum.
4 Archiv für Kulturgesdiidite il/2
232 Tilman Struve

Zehnten kämpfte"''. Der heutige Betrachter hat sidi allerdings vor der
einseitig rationalistisdien Erklärung zu hüten, die Kirche habe dem
gläubigen Volk um ihrer wirtschaftlidien und poltisdien Vorteile willen
nur etwas vorgegaukelt. Die Heiligenverehrung war vielmehr fest im
Bewußtsein der Menschen verankert; sie gehörte, wie die Beschwörung
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des Weltendes im Prolog der Vita Haimeradi beweist, zur Realität des
mittelalterlidien Lebens. Nur deshalb vermochte audi die Kirche, den
Heiligenkult für ihre Zwecke dienstbar zu machen.
In solchem Licht betrachtet, erhält die Vita Haimeradi einen bisher
nicht erkannten zeitgeschichtlichen Akzent. Gelöst aus dem Schema distan-
zierender hagiographischer Darstellung, ist sie xmmittelbar in das histo-
rische Geschehen ihrer Entstehungszeit einzubeziehen. Allgemein darf
festgestellt werden, daß viele der mittelalterlichen Heiligenviten nicht nur
Ausdrude verschiedengearteter Formen der Frömmigkeit und volksnahen
Wunderglaubens zum Zwecke religiöser Erbauung sind, sondern ebenso
Ausdruck höchst konkreter wirtschaftlicher und politischer Bestrebungen
bestimmter Personen oder Institutionen. In ihrer Beziehung auf die
Wirklichkeit, auf den mittelalterlichen Alltag, stehen sie den Urkunden
For personal use only.

nahe und zeugen gleich diesen als „Überrest" von den Vorstellungen
und Wünschen ihrer Verfasser und Auftraggeber. So finden wir in
mancher Vita die Verehrung eines Heiligen mit bestimmten politischen
Zielsetzungen verbunden. Sofern die Vita wirklich Lebensbeschreibung
bietet, ist sie „Tradition"; wo sie dagegen eine Tendenz verfolgt, ist sie
„Überrest". Hierbei ist es nicht nur eine Frage der Überlieferung, welcher
Teil von beiden in einer Vita überwiegt. Für Lamperts Vita Lulli wie
für Ekkeberts Vita Haimeradi konnte eindeutig nachgewiesen werden,
daß beide aus einer bestimmten historischen Situation heraus, in einer
bestimmten Absicht und zur Erfüllung eines bestimmten politischen
Zwecks geschrieben wurden. In diesem Zusammenhang ist auf die regionale
Gebundenheit der Vita zu verweisen, da der Heilige in einem begrenzten
geographischen Raum wirkte und hier — von seinem Grabe ausgehend,
an das sich eine Kirche bzw. ein Kloster anschloß — als Lokalheiliger
verehrt wurde. Deshalb steht die Heiligenverehrung meist in enger Be-
rührung mit der Lokaltradition und durch diese bedingt wiederum mit
politischen Interessen.
Sofern man sich bemüht, eine Heiligenvita nicht mehr nur im her-
kömmlichen Sinne als „Quelle", sondern auch ihrer Struktur und Funk-
tion nach zu betrachten, vermag man ihr in der Tat mehr als nur einige
„wichtige" Nachrichten zu entlocken. Denn stets ist sie ihrer Entstehung

" » V g l . S t r u v e , Hess. Jb. 19: Die Hersfelder Karls-Tradition und der


thüringische Zehntstreit.
Hersfcld, Hasungen und die Vita Haimeradi 233

und Zielsetzung nadi als kompositorisdie Einheit zu interpretieren. Als


Ergebnis der Gesdiidite durdi diese bedingt und wiederum auf sie ein-
wirkend, spiegelt sie einen historisdien Prozeß. Im Verlaufe dieses Pro-
zesses diente sie Kirdien imd Klöstern als politisdies Instrument zur
Durchsetzung ihrer vielfach begründeten Interessen.
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Die Beschäftigung mit der Vita Haimeradi hat gezeigt, daß sie, seit
Holder-Egger sein vernichtendes Urteil über sie fällte, sehr zu Unrecht
von der Forschung vernachlässigt wurde. Denn sie gibt — wie wir nach-
weisen konnten — auch über ihre stilistische Abhängigkeit von Lampert
hinaus wichtige Aufschlüsse über die Verfassung des Klosters Hasungen
im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts. Die Erkenntnisse, die sie über
die Funktion der Heiligenviten des hohen Mittelalters vermittelt, reichen
in ihrer allgemeinen Bedeutung weit über den speziellen Hasunger Be-
reich hinaus. Wenn auch Ekkeberts schriftstellerische Leistung gemessen
an Lampert geringer einzuschätzen ist, so muß seine Vita doch als eine
durchaus eigenständige Schöpfung bewertet werden, die als Zeitdokument
unser Interesse beanspruchen darf.
For personal use only.

4*
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem H.Jahrhundert
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von Gabriel Silagi

Die Handschrift Clm 22 300 der Bayerischen Staatsbibliothek Mündien


enthält hinter medizinischen und naturwissensdiaftlidien Abhandlungen
auf Folio n^—86^ ein Liebesbriefmuster mit dem Titel Liber et die tarnen
ad dilectam sibi, das hier bekannt gemadit werden soll*.
Die zwanzig Seiten sind als ein einziger durchgehender Brief angelegt
an die Art von Briefsteilem erinnert nur die Beseitigung der Namen
von Absender: C. dictus de tali loco und Empfängerin: Serenissime ac
precordialissime domine /.', sowie eine Stelle, wo für die jeweils herr-
schende Jahreszeit ein Attribut vorgesdilagen wird und die passende Zeit
ausgewählt werden muß*. Wohl nidit zur Auswahl gestellt, sondern zur
For personal use only.

vollständigen Anführung empfohlen werden dagegen die Häufungen von


Vergleichen, Adverbien und Definitionen®, die als rhetorisches Mittel zur
emphatischen Betonung dienen. Erwartungsgemäß finden sich in dem lan-
gen Brief auch andere rhetorische Topoi, wie die Unfähigkeitsbeteuerung
A d y n a t a ' und die zur Liebesbrieftechnik gehörige Versicherung, man

' Ich verdanke den Hinweis auf die Handschrift Prof. Bernhard B i s c h o f f .
Sie ist um die Mitte des 14. Jahrhunderts geschrieben und stammt aus dem Prä-
monstratenserstift Windberg. Auf den Brief folgen u. a. Sentenzen aus Seneca,
politisdie Briefformeln und der medizinische Traktat De stomadio des Constan-
tinus Africanus. Vgl. Catalogus codicum manu scriptorum bibliothecae regiae
Monacensis 4,4 (1881) S. 40.
* Anders als etwa Magister Boncompagnos Rota Veneris, hg. F. B a e t h g e n ,
Texte zur Kulturgesdiidite des Mittelalters 2 (1927), wo die Abfassung des Brief-
stellers durch eine Traumerscheinung der Göttin Venus begründet wird und
verschiedene Briefvorschläge für wechselnde Situationen gegeben werden. Solche
Beispiele bietet auch das erste Buch von De amore des Andreas Capellanus
(hg. E. T r o j e l 1892, Neudrude München 1964), und Vorbilder für Liebes-
briefe (Ad mulieres ante factum und post factum) finden sich auch in Brief-
stellern wie der Summa dictaminis des Guido Faba (hg. A. G a u d e n z i , Pro-
pugnatore 23, 1890, S. 287 ff. und 345 ff.).
» Absatz 1.
< Abs. 41.
» Abs. 2; Abs. 35 f.; Abs. 31; Abs. 43.
• Abs. 24, 47; vgl. E. R. C u r t i u s , Europäische Literatur und lateinisches
Mittelalter, 5. Aufl. (1965) S. 413 f.
^ Abs. 22; zum Topos der „Anführung unmöglicher Dinge" vgl. C u r t i u s ,
a.a.O. S. 105 ff. Die Stelle hier beruht wohl auf einem Mißverständnis von
2. Kg. 1,21. Um ganz sicher zu gehen, daß sein Adynaton verstanden wird,
setzt der Verfasser deshalb quod est inpossibile hinzu.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 235

könne ohne die Geliebte nidit leben'. Die auffälligste Eigenheit dieses
Dictamens aber ist das Prunken des Verfassers mit seiner Bildung, die
pedantisdie Bemühung, jedem erwähnten Begriff eine philosophische
Definition oder wenigstens eine Etymologie beizugeben, und zur Unter-
streichung oder Erläuterung aller Aussagen Autoritäten in großer Zahl
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anzuführen, so daß stellenweise der Liebesbrief zum Lehrbrief wird.


Genannt und zitiert werden: Äsop, Albert der Große, Aristoteles, Boe-
thius, Cicero, Galfred von Vinosalvo, Horaz, Ludolf von Lukau (als
Verfasser der Flores grammaticales), Matthäus von Vendome (als Ver-
fasser des Tobias), Ovid, Petrus Hispanus (die Summulae Logicales als
Loycalia), Priscian, das Kanonische Recht, der Pamphilus und natürlich
die Bibel. Daneben finden sich Zitate ohne Neimung des Verfassers,
darunter zahlreiche Verse, die zum Teil mit unde versus eingeleitet
werden, zum Teil in den fortlaufenden Text eingeflochten sind, und
auf die oft am Rand mit ver(sus) hingewiesen ist. Zwei Gediditfrag-
mente erscheinen bemerkenswert, die wie Prosa angeführt sind und
leicht übersehen werden können, nämlidi Carmen Buranum 119,4, 1—3,
For personal use only.

weldies Vergleiche für die Vielzahl der guten Wünsche des Absenders
einleitet', und Carmen Buranum 62,8". Bei so freier Verwendung von
Gedichtstücken läßt sidi an manchen Stellen kaum entscheiden, ob Reim-
prosa oder ein Teil eines Gedichtes vorliegt, wie bei: üenias, / lenias /
cor amantis / graviter egrotantis / plurimumque pensantis / de tantis /
multimodis suis malis...
Vielfältig wie die angeführten Autoritäten sind auch die Sprach-
ebenen, deren sich der BriefSchreiber bedient: Die Bitte tibi supplico per
presentes, ut per vicissitudinem debite recompensacionis equaliter a te
diligar " klingt nach Urkundensprache, die Formel quod nobis permissive
prestare dignetur" nach Liturgie, und neben philosophischen Ausfüh-

8 Abs. 14, 42.


' Abs. 2; Carmina Burana, hg. A. H i l k a und 0 . S c h u m a n n 1,2 (1941)
S. 196; vgl. die ähnlichen Formulierungen bei Boncompagno, Rota Veneris,
S. 10 f.; Guido Faba, Summa dictaminis, S. 312; Liebesbrief aus Glm 19411 bei
P. D r o n k e , Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric (^1968)
S. 476; allgemein dazu: H. W a l t h e r , Quot — tot, Mittelalterlidie Liebesgrüße
und Verwandtes, ZfdA 65 (1928) S. 257 ff.
" Abs. 4; Carmina Burana L2, S. 21; S c h u m a n n gibt von diesem Gedicht
nur die Überlieferung im Codex Buranus an und verweist die Strophen 5—8,
also auch das hier zitierte Stück, als später hinzugefügt in den Apparat. Dagegen
hat zuletzt D r o n k e , a.a.O. S. 306 ff. die Zusammengehörigkeit aller acht Stro-
phen vertreten.
'' Abs. 14; ähnlich auffällig ist folgende Stelle: nam numquam indomiti
cordis mei curantur desideria, / nec sedantur, / nisi medentur / per tui amoris
colloquia / et per tui amoris antidota / dulcorata (Abs. 32).
« Abs. 11. » Abs. 39.
236 Gabriel Silagi

Hingen in der Spradie Alberts des Großen stößt man auf die Wörter
vigella (Geige) und stupa ( S t u b e ) w o d u r d i sidi eigentümliche Kontraste
ergeben.
Über den Absender des Briefes läßt sidi feststellen, daß er Kleriker
ist: Si non religionis habitus prepediret würde er in den Krieg ziehen
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und für die Geliebte mit Freuden sein Blut vergießen". Die Vision der
Geliebten erscheint ihm, als er im Kloster, dem er angehört, spazieren
geht". Um die Geliebte nidit zu verlieren wäre er auch bereit, wilde
Tiere furditlos zu erlegen, Fabeltiere zu bekämpfen und unmöglich
Scheinendes zu vollbringen". Die Dame soll den Brief geheimhalten,
der Verfasser scheint sich die Veröffentlichung allerdings schon vor-
behalten zu wollen, denn sie soll ihn wöchentlich, mindestens aber einmal
im Monat aufmerksam lesen, dabei immer gut auf ihn aufpassen und
schließlich — auf die Dauer könnte sie ihn nämlich nicht sorgfältig auf-
bewahren — unbeschädigt zurückgeben". Über die Empfängerin ergibt
sich aus dem Brief, daß sie in Dinkelsbühl Verwandte hat, auf die sie
aber nicht hören soll, wie sie auch einem Hiltebrandus kein Zeichen ihrer
For personal use only.

Zuneigung gewähren soll, weil er erstens keine Hosen trage und daher
weibisch sei und zweitens ohnehin eine andere Frau liebe'*. Diese
Angaben deuten auf eine konkrete Person, für die der Brief ursprünglici
bestimmt war; die Verwendung als Briefmuster war demnaci sekundär.
Die anderen Aussagen sind allgemeiner gehalten und lassen kaum
bestimmte Schlüsse auf die Empfängerin zu: Ihr hoher Stand mache es
dem Absender unmöglich, würdige Geschenke zu übersenden'®, sie sei
gebildeter als alle, aber sie solle keine Angst haben, wenn jemand
gebildeter sei als sie, denn jeder Mensch könne noch l e r n e n J e d e n f a l l s

" Abs. 36 und 49.


" Abs. 10.
" nostro cenobio, Abs. 49.
" Abs. 41.
Abs. 33 f.; der Wunsdi nadi Geheimhaltung audi in einem Liebesbrief bei
D r o n k e , a.a.O. S. 475.
Abs. 21; in eine ganz andere Richtung gingen die Vorwürfe, die den
Zisterziensern gemadit wurden, weil sie keine Hosen trugen und deswegen
um so mehr zur Unzucht bereit seien, vgl. H. W a l t h e r , Das Streitgedicht in
der lateinisdien Literatur des Mittelalters (1920) S. 162—164. Da die Prämon-
stratenser Hosen tragen durften (vgl. Les premiers statuts de l'ordre de Pre-
montr6, hg. R. van W a e f e l g h e m , Analectes de l'ordre de Pr6montr6 9,
1913, S. 73) spricht der hier ausgedrückte Vorwurf nicht gegen eine Entstehung
des Briefes in Windberg selbst.
»» Abs. 23.
Abs. 16 und 39f.; aus der Formulierung, daß aliqua dominarum vel aliquis
capellanus ihr Stellen aus dem Brief erklären könne (Abs. 39) und aus dem
Bedauern über den Umstand, daß sie wohlbehütet immer in einem Zimmer sei
— in conclavi domus quasi in cella sis assidue includenda (Abs. 48) — darf
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 237

setzt der Absender bei der Empfängerin einiges an Bildung voraus,


wenn sie den Brief verstehen soll. Immerhin gesteht er ihr zu — obwohl
sein Brief eigentlich ganz einfach sei — sich ungewöhnliche Ausdrücke
erklären zu lassen. Weil aber der Inhalt des Briefes doch geheim bleiben
muß, darf sie immer nur nadi einzelnen Redensarten separatim ac pre-
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cise fragen.
Die überschwengliciien Wiederholungen der Liebesbeteuerungen lassen
den Brief trotz des gelehrten Apparates stellenweise ganz spontan wirken.
Keinesfalls handelt es sich bei den Gefühlen des Schreibers um geist-
lidie Liebe, j a er lehnt die allegorische Ausdeutung seiner Hohelied-
Zitate ausdrücklich ab und verweist das Mäddien auf den Litteralsinn.
Es sei versucht, den Inhalt ohne die gelehrten Zitate und Definitionen
zu paraphrasieren:
(1) Meiner erhabenen und geliebten Herrin alles erdenkliche Gute,
was ich für Dich leisten oder im folgenden schreiben kann. (2) Soviel
Sdiönes soll Didi Gott genießen lassen wie Sand am Meer. W a h r e Liebe
kaim durdi keine Trennung erschüttert werden. (3—4) Ich freue mich,
For personal use only.

wenn es Dir gut geht, aber um Deiner Liebe willen leide ich tausend
Qualen. Furcht madit mich unsicher und bringt mich dazu, am erwünschten
Glück zu verzweifeln. (5) U m bei Dir zu sein, ergebe ich mich freiwillig
in Deinen Besitz und schreibe zu Deinem Lob dieses Brieflein, die Du
alle Frauen an Schönheit und Tugend überragst. (6—7) Mein einziger
Trost ist nur ein kleiner Funke Hoffnung; trotzdem kann man mir
Anzeichen von Zwiespalt und Verzweiflung anmerken, denn mein Herz
brennt und mein Siim dürstet danach, daß Dein steinhartes Herz mich
nicht mehr quäle, sondern sich ändere und energisch meine Seele besänf-
tige. (8) Wie leide ich unter der Liebe zu Dir! Dein Körper ist mit allen
Vorzügen ausgezeichnet, das Kennzeichen der Vollkommenheit erhöht
Dich. (9) Mit Freude wollte ich Deine körperliche Schönheit verherrlichen
und rühmen, der dauernde Sdimerz in meinem Herzen, der Sturm meiner
Sorgen und deren Ursache, die Liebe zu Dir, hindern mich; ich muß
seufzen, und nur ganz heimlich überkommt mich kurze Freude über
Deine Gegenliebe aus der Süße der Erinnerung an Dich. Aber sofort
flammen die Sehnsucht nach Deiner Liebe und der kummervolle Schmerz
wieder auf und löschen die kurzen Freuden ganz aus. (10) W ü r d e mich
nicht mein religiöser Stand hindern, so wäre meine Freiheit ein Ansporn,
für Dich in den Kampf zu ziehen. (II, 12, 13) Und nun bitte ich Dich

man vielleidit auf ihre Zugehörigkeit zu einem Damenstift schließen. Anderer-


seits war an die Windberger Abteikirdie ein Frauenkloster mit Konversinnen
angebaut, vgl. N. B a c k m u n d , Die Chorherrenorden und ihre Stifte in Bayern
(1966) S. 211.
238 Gabriel Silagi

demütig durch vorliegendes Schreiben, daß idi — wie es dem edlen


Wesen Deiner aufrichtigen Liebe entspricht — gleichermaßen nach
pflichtgemäßem Ausgleich von Dir geliebt werde, und daß mir Deine
glänzenden und sternklaren Augen wohlwollend strahlen, Deine schwär-
zen Augenbrauen und leuchtenden Wangen mich erfreuen, Dein roter,
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honigsüßer und begehrenswerter Mund mir freudig zulächelt und mir


tausende von Küssen gibt, und daß Du mir Deinen Wohlgeruch zuteil
werden läßt und es nicht hinauszögerst, mir Dein engelsgleicjies Antlitz
zu zeigen. (14) Und ich bitte, in Deinen Armen — weiß wie Milch und
Schnee und Lilien — bei Dir sein zu dürfen. Komm und laß mich nicht
allein! Zweifache reine Liebe kann eine Wohltat verdoppeln, und des-
halb eile ich in den Schutz Deines Mitleides. Weil ich aber im innersten
Herzen nur noch halb lebendig bin, das Gift der Liebe und die Pfeile
der Begierde mir den Tod drohen, verzweifle ich am Überleben, wenn
nicht Dein zarter Körper meinem heilend zu Hilfe kommt, wenn ich nicht
zur Vereinigung imserer Körper in freudevollen Umarmungen von Dir
besucht werde, und Du mir mit mitleidigem Sinn zu Hilfe eilst. (16) Du
For personal use only.

bist von allen Geschöpfen durchaus gebildet, und Du bist natürlich aus
Erfahrung, ziehst alle Schlüsse mit Überlegung und hast von allen Tu-
genden eine hohe moralische Auffassung. Werde nicht hochmütig, indem
Du mich. Deinen Freund, gleichsam verächtlich wegwirfst. (18—19) Da
ich Dich zu meiner Herrin bestimmt habe, ziemt es sich, daß Du mich
Niedrigen xmd Armen nun erhöhest und mir in Deinem Sinn und im
Anteil an Deinem Herzen und Deinem Körper einen Primat einräumst.
(20—21) Desgleichen bitte ich, daß Du Deine Verwandtschaft in Din-
kelsbühl gänzlich verachtest. Durch die glaubwürdige Auskunft von den
Eltern eines Klerikers dort habe ich nämlich erfahren, daß sie nichts wert
und eitel ist. Ebenso sollst Du den Hiltebrandus verachten, der keine
Hosen hat und mehr für ein Weib als für einen Mann gehalten werden
muß. Außerdem weiß ich, daß ihn die Liebe zu einer anderen Frau
gepadct hat. Du hast um meiner ewigen Liebe willen geschworen, ihn
immer zu meiden und ihm auch kein Zeichen der Zuneigung mehr zukom-
men zu lassen. (22) Wenn wir aber das Glück haben sollten, irgendeinmal
zusammenzukommen, dann bitte ich Dich darum, daß Du durch Beneh-
men, Worte und Taten mir gegenüber nicht mehr so spröde bist, wie in
der Vergangenheit, weil alles an Deinem Körper mir immer gefallen
wird, und ich Dich nie verlassen werde. (23) Verzeih mir, daß ich keine
würdigen Geschenke schicken kann, aber Dein kluges Wesen soll den
guten Willen, nicht Deinen Gewinn erwägen. (24—25) Nimm mir nicht
übel, wenn ich zu viel schreibe, es ist der Befehl meiner Liebe. Die über-
flüssigen Ausführungen und verwirrten, unpassenden Wiederholungen
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 239

sollst Du übersehen. (26—27) Meine Liebe bringt midi zu Raserei. All


dies erdulde ich wegen Deiner Abwesenheit. Deshalb sollst Du kein
hartes und verstodites Herz haben und midi nidit täusdien. (28) Du mußt
staunen, daß idi nodi lebe, denn idi bin aus Liebe todkrank. (29) Da Dir
jetzt zwingend bewiesen ist, daß Du mir durdi Beistand der Liebe ver-
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bunden bist, räume mir einen angemessenen Platz in Deinem Herzen ein.
(30) Wenn Dir, meine Herrin, gefällt, daß wir formaljuristisdi vorgehen
und unsere Situation wie ein Streit vor ein Sdiiedsgeridit gebradit wird,
daß Venus und Amor den Fall entsdieiden, dann würden wir nidit wie
vor Geridit streiten, denn Du würdest mit Amor stimmen, weil idi Didi
zum Anwalt unserer Sadie bestimme, und so würdest Du mit Amor
unsere Liebe gestalten. (31) Deshalb flehe idi zu Dir um ein Zeidien
unserer Liebe in Briefen, Worten oder Taten, weil idi Didi so ehrlidi und
vollkommen liebe, daß idi Didi zu den hödisten Ehren meines Reidies
erheben wollte, wenn idi alle Königreidie beherrsdite. (32) Stille meinen
Sdimerz und madie midi zu Deinem Vertrauten. Deine Liebe ziehe idi
allem vor, trotzdem ist es nidits Unerhörtes, wenn idi so sagen darf, daß
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sie mir zukommt, denn Deine Liebe ist eine herrlidie Gabe, die weder
durdi Teilung nodi durdi Versdienken gemindert wird. (33—34) Halte
diesen Brief geheim, lies ihn regelmäßig und sdiidce ihn mir wieder zu-
rüdc. (35) Meine Hohelied-Zitate mußt Du ganz wörtlidi, nidit allegorisdi
verstehen. (36) Idi liebe Didi über alles in der Welt, was nidit verwun-
derlidi ist, denn an Dir ist kein Makel. (37) Viele weise Männer handeln
töridit, indem sie treulose und häßlidie Frauen rühmen, weldie idi nie
lieben oder rühmen könnte, und soldie Frauen begreife idi in mein Lob
nidit ein. (38) Du allein bist rühmenswert, und mein Herz und meine
Worte weidien nie aus Deinem Dienst nodi von Deinem Gedenken, weder
aus Liebe zu jemand anderem, nodi durdi Vergessen. Denn die Last und
die Glut der Liebe zu Dir quälen midi unaufhörlidi, und idi bitte Didi,
daß Dein Mitleid wie ein Sturzbadi midi Dürstenden durdi die Liebe
erfreue. Es wäre eine furditbare Enttäusdiung, wenn Du mir keinen festen
Platz in Deinem Herzen zuweisen wolltest, und idi müßte die Sdiredcen
der Unterwelt fürditen. Aber idi hoffe, daß Du den Liebenden erhörst.
(39—40) Wenn Du etwas in dem Brief nidit verstehst, lasse es Dir ruhig
von jemand erklären. (41) Du übertriffst alle Frauen, und idi liebe Didi
über alles. Um Deiner Liebe willen würde idi Heldentaten vollbringen
und wollte sehr mutig sein. (42) Wenn Du midi nidit in Deiner Güte
tröstest, muß idi wahnsinnig werden, und Du mußt wegen meines Todes
vor Gott Rediensdiaft ablegen. (44) Die Liebe zu Dir quält midi ununter-
brodien, idi weiß nidit, wie idi diese Qualen überleben kann. (45) Eine
Frau, die rühmenswerter ist als Du, kenne idi nidit, ja kann idi mir nidit
240 Gabriel Silagi

einmal denken. (46) In Dir leuchtet, was wir unter honestum verstehen.
(47) Wenn ich irgendwo in diesem Brief die rechte Form nidit gewahrt
habe und Du eine Unregelmäßigkeit findest, dann mußt Du wissen, daß
ich ihn sehr schnell und heimlich schreiben mußte, und Du sollst mir dafür
verzeihen. (49) Auch wenn die modernen Autoren sich gerne kurz fassen,
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muß ich Dir jetzt noch einen wunderbaren Vorfall berichten, dessen
Wahrheit ich beschwören kann. Als ich eines Tages im Kloster spazieren-
ging und voll Sehnsucht und Liebe an Deine Schönheit dachte, wie ich es
Tag und Nacht tue, hörte ich aus einem Gebäude eine wunderschöne
weibliche Stimme. Ich fragte einige Leute, die dort in der Stube waren,
nach der Stimme, aber sie schworen nichts gehört zu haben. Ich gab mich
damit nicht zufrieden und suchte in allen Räumen und schaute schließlich
auf den Söller, und dort fand ich ein Ebenbild der Frau, die ich immer-
fort mit allen Sinnen begehre, nämlich eine schöne, edle, gefällige und
vornehme Erscheinung von Deinem Aussehen, und sie stand auf, lächelte
und sprach mich freundlich an: „Mein geliebter Herr, wie lange erwarte
ich Euch schon hier!" Und ich brach beim Eintreten in die Worte aus:
„Ach, im Namen des Erlösers, ohne daß ich es weiß, seid Ihr persönlich
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da!" Aber als ich zu ihr trat und sie in den Armen zu halten schien und
hochzuheben glaubte, da konnte ich dennoch nichts fühlen, sondern die
Erscheinung löste sich in meinen Armen langsam auf und verschwand.
Daß dies aber keine bösartige Erscheinung war, ging daraus offenkundig
hervor, daß bei ihrem Verschwinden der ganze Raum mit Wohlgerüchen
erfüllt war. (50) Da ich nun durch die Abwesenheit Deines Körpers und
Deiner Liebe solches erlebe und vielleicht noch Bedeutsameres durch Deine
Anwesenheit erleben köimte, so würde mich schon Deine Treue zu mir
trösten. Deshalb komme zu mir, der ich Dir immer treu bin, denn wenn
ich Dich verlasse, will ich nicht länger leben. Ich bin nämlich in der Liebe
zu Dir verstrickt und gefangen. Deshalb appelliere ich an Dein Mitleid,
daß Du mich mit der Fülle Deiner Tröstungen in Liebe erfreuen mögest.
(51) Mein Herz schlägt mit Dir, denn Du bist mein höchster Schatz. (52) Die
Liebe des Mannes zur Frau kann ich seit Adam nachweisen. (53) Ich bitte
Dich, mir Deine Anwesenheit in Kürze zuteil werden zu lassen, aber mich
vorher über Ort und Zeit des heimlichen und liebevollen Treffens zu
unterrichten. (54) Solange ich lebe, werde ich alles mir Mögliche zu
Deinem Vorteil tun und meine Versprechen wie Schwüre halten. Lebe
wohl, meine Geliebte.
Am Schluß des Briefes, also noch mitten in der Handschrift, steht der
Schreibervers: Qui me scribebat Chunr(adus) nomen habebat. Es ist nicht
auszuschließen, daß es sich bei Chunradus nicht um den Schreiber von
Clm 22300, sondern um den Verfasser C. des Briefes handelt. Der Ab-
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 241

Schreiber hätte dann den Vers ohne viel nachzudenken vom Original mit
übernommen.
Bei der Abschrift sind dem Schreiber eine Reihe von Fehlern unter-
laufen, wie viridis statt viridia, tm statt tn für tamen, per- statt pre- in
Zusammensetzungen, Auslassung von Silben und Dittographien, was die
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Vornahme leichter Emendationen berechtigt erscheinen läßt.


Ein Teil der unbekannt gebliebenen Zitate hätte sich mit etwas Glüdc
vielleicht noch identifizieren lassen, doch soll für alle Zitate betont wer-
den, daß der Verfasser den Großteil seiner Kenntnisse aus Florilegien
und Sentenzensammlungen bezog und seltener die Werke der Autoren
selbst gekannt haben wird. Daher empfahl es sich, bei den zahlreichen
sprichwörtlich gewordenen Versen die Nummer in der Sprichwörtersamm-
lung von Hans Walther mit anzugeben*^. Auch die Verse, deren Autoren
im Brief genannt werden, sind zumeist aus Florilegien entnommen, wofür
ganz besonders die zahlreichen unrichtigen Herkunftsangaben sprechen^'.
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INGIPIT LIBER ET DICTAMEN AD DILECTAM SIBI etc.

[1] Serenissime«' ac precordialissime domine I. divinam permissionem


tocius cordis et corporis mei; imperatrici nobili et preclare C. dictus de
tali loco quidquid ministerialis auti» proprius cliens fidelitatis obediencia
et honore ac proprii corporis laboribus tibi poterit famulari, immo quic-
quid boni tibi verbis multimodis in subsequentibus potuerit adoptare.
[2] Quote sunt flores in Yble vallibus et quot Dodona^ nemus vestitur
frondibus et quot pisces natant equoribus" et quot prata viridia® rident
graminibus et quot härene marinis in litoribus et quot gutte in omnibus
aquarum fluctibus et quot margarite in omnibus Yndie partibus et quot
littere in omnibus scripture voluminibus et quot sidera fulgent noctibus
et quot garritus avium resonant in nemoribus et quot animi amoris
vexantur doloribus, tot faciat te deus perfrui prosperitatibus In Ysa-

^ H. W a l t h e r , Carmina medii aevi posterioris Latina II, Proverbia sen-


tentiaeque Latinitatis medii aevi, Bde. 1—5. (1963—1967).
Da ein Teil der Zitate, die sich nicht ermitteln ließen, ausgesprodien banale
Gemeinplätze enthält, muß audi die Möglichkeit in Betradit gezogen werden,
daÄ der Verfasser zu eigenen Sätzen eine Autorität hinzuerfunden hat.
" Carmina Burana I, 2, S. 196, Nr. 119, 4, 1—3: Quot sunt flores (B) in Myhle
vallibus, / quot vestitur Dodona frondibus / et quot natant pisces equoribus, /
(tot abundat amor doloribus). Zu Hybla und Dodona vgl. P a u l y - W i s s o w a ,
Realencyclopädie Bd. 9,28 und Bd. 5,1258 ff.
Vgl. o. Anm. 9.
242 Gabriel Silagi

gogis amiciciarum et per verba introductoria P o r p h i r i i T u l l i u s in


libro De amicicia sie fatetur®": Talis dilectio dicitur vera esse, ubi nec
distancia locorum nec temporis intervallum nec frequencia aliorum
pseudo-amicorum nec disparitas morum congruencium nec varietas vo-
luntatum nec subtractio rememoracionum amicicie generat divorcium:
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fidus enim amor cogit dilecti sepius reminisci.


[3] 0 puella bone indolis, gaudeo supra modum, si sospitate consueta
et valida iam potiris. Sed aliud est, quod secreta mentis mee per tui
amoris iacula contristavit et vulnerando permaxime penetravit et pro
tui amoris habendo beneficio tot incomoda et inquietudines me perturbant,
quot per figuras et divisiones Algorismi^' omnes [fol. 77"] computiste
nulla possent sue artis pericia enarrare.
[4] 0 in quantis amantis facillantis animus variatur, ut fluctuans per
equora, dum caret andiora, vaga ratis. Sic Veneris dubia milicia inter
spem et metum^® acriter occupata, unde per consequens in agitacione ac
fluctuacione languentis cordis mei metus dubie salutis amoris me deiecit
per pressuram. Et sie in consequenda tui amoris dulcedine, virgo speciosa,
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metus mihi dubium sepe reddit et miserabiliter nunc affligit et quasi in


desperacionem felicitatis preoptate diebus ac noctibus me ducere non
desistit; nec inmerito, quia^ ut testatur A r i s t o t i l e s in Topicis: de
futuris et contigentibus non est veritas determinata
[5] Sed nunc ob adipiscendam tue melliflue societatis iocunditatem
iure proprietatis me more spontaneo tibi subdo, et ob puldiritudinem et
laudem tue floride iuventutis hanc cartulam tibi scribo, que ex natura
propria super omnes mulieres plus diceris colorata et virtutibus es emi-
nencior adornata, et ideo digne vocaberis omnium oculis gratiosa opidos
esque agna tenera et quasi omnibus alimentis regalibus plus ceteris deli-
cata.
[6] Cum igitur tocius mihi sis salus et speculum nunc fortune, nidbil
tamenii fungor solaminis in presenti excepta solius spei tenuissima iam
scintilla, que nectaris dulcissime gratie tue me recreat prestolando, et
ideo fiducia spei videor animatus, nam per diffinicionem ipsius spes est
appetitus excellentis boni cum fiducia obtinendi, unde versus:
Hier soll die Empfängerin durd» die Nennung der Isagoge des Porphyrius
und Ciceros De amicitia beeindrudct werden; das Zitat stammt jedodi aus
keinem der beiden Werke. Die Definition erinnert an die Proverbia Senecae:
dilectio ... nec locorum nec temporum solvitur intervallo (Clm 22297, fol. 86*).
'' Algorismus ist die geläufige Bezeidinung für die Arithmetik und ihre L«hr-
büdier.
Carmina Burana 1,2, S. 21, Nr. 62, 8: 0 in quantis / animus amantis /
variatur vacillantis! / ut vaga ratis per equora, / dum caret ancora, / fluctuat
inter spem metumque dubia / sie Veneris militia.
2» Vgl. Boethius in Migne, PL 64, 329 und 495.
Ein pedantisAer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 243

Do sperare bona, sed non statim dabo dona,


et multis scripturarum exhortacionibus instruimur nullatenus desperare,
sicut per quendam dicitur sapientem: quicquid fieri potest quasi futurum
estimemus.
[7] Item B o e c i u s in libro De consolacione'": Nemo desperans salute
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fruitur, presertim inter ista; tamen dubietatis et angustiarum ascribitur


mihi nota, nam et gliscit cor meum et animus sicienter, ut asperitas tui
cordis duri et ferrei cicius me desinat fastidire nec velit in me amodo sie
sevire, sed illud velit quantocius inmutare et animum meum forti con-
amine dignetur dulciter plus lenire.
[8] Heu, qualis est afQictio hec amantis, quam de te pacior, virgo
decora, que inestimabili corporis amenitate ac virtutum es et magnifi-
dencie flosculis redimita, quam et honoris et perfeccionis tytulus exalta-
vit, et cum illud per ipsius diffinicionem sit perfectum, cui possibilis
[fol. 78r] est fiero adiectio'».
[9] Adhuc singulorum membrorum tuorum decorem et amabilem ac
venustam egregie'»' forme tue claritatem commendabilemque existenciam
For personal use only.

magnificare ac magis explicare plurimum delectarer, si non dolor assiduus


cordis mei et curarum tempestas efficiensque causa tui amoris per longa
suspiria impedirent; sicque protinus illud breve gaudium tue mutue dilec-
cionis ex dulcedine tue recordacionis surrepit satis latenter ac subtiliter
corpus meum. Sed mox ferventi desiderio tui amoris ac fulmine geme-
bundi iam doloris illud breve ac dulce gaudium medullitus exstirpatur.
Unde O v i d i u s in Remediis:
Hei mihi, quod nullis amor est medicabilis herbis
[10] Presertim si non religionis habitus prepediret, exigentei mei über-
täte ob honoris et nominis tui excellenciam venerandam hereditarium
ducerem clypeum appendentem meo latere a sinistro, in hastiludio lancea
crudeliter perforatum, victorialeque Signum in tomeamento ruptum ac
mirabiliter tunc destructum per magnitudinem sie plagarum ac per
ineptitudinem reverberancium gladiorum; sie tibi famulando in hastilu-
diis et torneamentis meum sanguinem et sudorem pro te sie fundere
delectarer.
[11] Et nunc, quemadmodum tue sincere dileccionis condecet boni-

Nidit in De consolatione philosophiae.


Vgl. Isidor, Etymologiae 10, 202: perfectus, cui nihil iam adici potest. Die
fehlende Negation könnte aus einer Verwedislung mit der Definition: finitum
est, cui potest fieri additio, herrühren, die aus den weit verbreiteten Sententiae
philosophicae ex Aristotele collectae stammt (Migne, PL 90, 990); vgl. dazu
M. G r a b m a n n , Methoden und Hilfsmittel des Aristotelesstudiums im Mittel-
alter (SB Mündien, phil.-hist. Abt. 1939) S. 177 ff.
Nidit in Ovids Remedia amoris, sondern Epistulae 5,149.
244 Gabriel Silagi

tatem, tibi supplico per presentes, ut per vicissitudinemJ debite recompen-


sacionis equaliter a te diligar igniti cordis strennue cum fervore, quia:
N o n valuit, non esse valet, non esse valebit
Ignis'' solus'' amor absque calore suo.
Cum vero secundum T u l l i u m amicorum sit idem velle, idem n o l l e " ,
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et secundum illud quasi pro voluntate amici propria in persona registro


tui magisterii voluntarie Semper regar, immo, cum tibi leto cordis animo
sim subiectus, tue inclyte benignitatis principalem clemenciam nunc
exoro, quatenus in tue amore irretiti cordis mei nobile desiderium sit
concupiscibile ac inmutabile velle totum.
[12] Et ut mihi ad instar carbunculi ac velud sydus nobilissimum tuo-
rum benivole resplendeat claritas oculorum, cum per eorum claritatem
O v i d i o attestante in Remediis iudicer esse lesus, scilicet:
D u m spectant oculi lesos, leduntur et ipsi
Multaque corporibus transicione nocent
[13] Et ut nigra tua supercilia mihi gaudia subinducant, et ut tue me
maxille letificent radiantes, osque tuum rubeum, mellifluum et incentivum
For personal use only.

dulciter mihi congaudeat aridendo et basia suavia milia decies tunc


centena mihi ponat, porrigat et reponat, ach, et odorem tui spiraminis,
vincens bal [fol. 78^] S£imimi redolendo cum totus sit aromaticus suavitate,
ne dedigneris' mihi desiderabiliter impertire, et hylari ac angelico tuo™
vultu ne differas mihi ostendere florem gratum inmutabilem ac placatum
tue gratissime iuventutis.
[14] Et ut inter bradiia tua Candida, nivea, lactea et alba velud lylia
salva reverencia et gratia per pugnam Medee ac D i d o n i s " " et per p a -
lestram® Veneris tibi merear conpausare! Preterea, cum mihi omnium
gemmarum istius mundi sis nobilissima margarita et per excellenciam
antonomasye mihi sis puella puellarum ac domina dominarum atque tu
Sunamitis, id est tu sola estimaberis mihi mitis, et o tu meum dilectissi-
mum G l y c e r i u m " adoptivum: Venias, lenias cor amantis graviter egro-

" Seit Sallust (nidit Cicero) spridiwörtlidi, vgl. A. O t t o , Die Sprichwörter


und spridiwörtlidien Redensarten der Römer (1890, Nadidr. 1962) S. 19; zitiert
audi im Moralium dogma philosophcnim, hg. J. H o l m b e r g , Das Moralium
dogma philosophorum des Guillaume de Condies (1929) S. 26; vgl. Ph. D e l -
h a y e , Gauthier de Chätillon est-il l'auteur du Moralium dogma? (Analecta
Medievalia Namurcensia 3, 1953). Die irrtümlidie Zusdireibung des Spridi-
wortes an Cicero findet sidi audi im Kommentar des Remigius von Auxerre zu
den Distidia Catonis, hg. M. B o a s (1952) S. 76 " Ovid, Remedia amoris 615 f.
" Die beiden von ihren Liebhabern verlassenen mythologisdien Frauengestal-
ten sdieinen nidit redit in den Zusammenhang zu passen.
" Vgl. Johannes Balbi von Genua, Catholicon: Glicerium ... proprium
nomen mulieris causa adulationis et blandimenti. Dagegen lautete die geläufige
Etymologie von Sunamitis: captiva vel despecta (ebda.), und bezog sidi auf die
zum Wärmen von König David bestimmte Abisag aus 3. Reg. 1.
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 245

tantis plurimumque pensantis de tantis multimodis suis malis^^, et non


relinquas me solum, quia scriptum est: Ve soli, quia non habet, cum
ceciderit, s u b l e v a n t e m V e r u n t a m e n ex bina dilectione carens feile
omnis doli unum solum bonum conficitur duplicatum, quare tuum, virgo
splendida, pietatis curro celeriter ad asilum. Ceterum vero quia, proh
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dolor, intima cordis mei iam languescunt et debilitantur acriter semi-


vivaP", que letali amoris veneficio ac telo cupidinis existunt crudeliter
sauciata et plus mortis minantur ruinam quam vite incolomitatem salu-
briter iam solent, et ergo nisi delicati corporis tui per exibicionem
corpori meo medendo celeriter suffragetur, non spero resurgere fortunate,
ac nisi mutua necnon benigna tui corporis coniunctione, puella virginalis
ac Stella nitidior, a te visiter delectabiliter per amplexus, ac nisi fidi
cordis tui mihi subvenias spiritu compassivo, non ero gaudens deinceps
animo redivivo.
[15] Cum autem indignius propter magis dignum sit, ut legitur, pro-
creatum, respectu tue perfectionis gratia, nisi tue super me dispenset
auctoritas iam virtutis, me tue equiperacionis i et excellencie minus iudico
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fore dignum, cum tamen per naturam merito simus unum, ut in volumine
Sex principiorum A r i s t o t i l e sie dicente: Ubi unum propter alterum,
ibi utrobique tantum unum^". Ergo sequitur, ut secundum discemam me
propter te factum, quamvis tamen nidiilominus per sentenciam A r i s t o -
t i l i s simus unum.
[16] En de te fari non ambigo mihi dulce, et nisi mater fastidii
prolixitas^' evitetur, vix finis dabitur tue laudi. Nam tota phylosophica'
tu probaris creaturarum, es per experigenciam naturalis, concludisque
<in> Omnibus racione, consuetudinaliumque virtutum habes noticiam per-
moralem; cum ergo cunctos scientia et virtutibus precellere» videaris, ne
in superbiam eleveris, sed humanitatem [fol. 79''] tuam valide recognos-
cas, quod es homo per naturam, homo per vetustatis culpam, homo per
infirmitatem, ideo ne me humilem amicum tuum quasi in despectu abicias
subito ac repente, quia B o e c i o attestante omne
quod precipiti via
certum deserit ordinem
letos non habet exitus

Vgl. o. S. 235. »8 Eccl. 4,10.


" Ähnlidi die Klage im Liebesbrief bei H. W a 11 h e r , Miscellen aus Cod.
Mündien UB 4« 810, ZfdA 95 (1966) S. 239.
Nidit im Liber sex principiorum, hg. L. M i n i o - P a l u e l l o , Aristoteles
Latinus I, 6—7 (1966) S. 33 f.
" Vgl. Matthäus von Vendome, Ars versificatoria, hg. E. F a r a I, Les arts
po6tiques du X l l e et du XIII« si^cle (1924) S. 151: prolixitas, fastidii puerpera.
Boethius, De consolatione philosophiae 1 M. 6, 20—23.
246 Gabriel Silagi

Ergo ne gaudeas nec festines in nostra disiunctione, cum per S a l o -


m o n e m dicatur: Amico nulla est comparacio
[17] Equidem amicus amico tria facit: Premunit eum de futuris damp-
nis cavendis, assistit ei in tribulacionibus et ponit pro eo res et corpus.
[18] Item disputator probat, quod beatitudo non consistat in vita soli-
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taria sed in vita sociaria. Item B o e c i u s : Nullum bonum iocundum sine


socio. Preterea cum te imperatricem, ut imperes et regnes tocius cordis,
corporis et voluntatis mee pre cunctis in terra viventibus, constituerim
condecenter, tui ceptri regalem condecet maiestatem, ut me humilem et
pauperem nunc exaltes, et ut in triclinio tue mentis et in medietate tui
cordis et corporis pre cunctis sub celo viventibus mihi nobilem conferas
principatum, quia secundum, ut dicit philosophus, tale quid medietatis
adopto: Medium est illud, quod ab extremis non videbitur discrepare.
Item scriptura: Medium tenuere beati^^.
[19] Eya ergo te invoco, dilectissima feminarum, hac suppliciter rogo,
ut istius sepedicte medietatis non me facias exheredem.
[20] Item rogo, ut cognacionem tuam in Dinkelsbuhel, quam experi-
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encia veridica ipsius ibidem clerici a parentibus interim didici esse


nullam per omnia et inanem, hanc rogo ut ex integro vilipendas.
[21] Item Hiltebrandum sine braciis, qui ex tali habitu nefario magis
estimabitur femineus quam virilis, et quem ob alterius mulieris dilec-
tionem cognovimus vulneratum, eundem mee perpetue dileccionis ob
respectum et quasi vice sacramenti perpetualiter promiseras evitare,
videlicet ut nullam ei amoris notam dileccionis gratia* de cetero" velles
aliqualiter impertire. Sic etiam huiusmodi talia, que cordi meo non pos-
sunt esse cognita, si sunt, quod absit, tibi supplico ut evellas et destruas,
immo talia cuncta societati nostre nociva velis funditus excreare, neque
sie hospitalitatem tui cordis in recepcione pluralitatis; ibi nulla amicicia
singularitatis nec solus sie dinoscitur adamari, et tales pseudo-amice in
curiositatis et anathematis vinculo sunt astricte.
[22] Preterea cum sola inter omnes istius mundi ymagines muliebres
tua ymago venerea, Serena omnibus sensibus meis plus ceteris dominetur,
dileccionis tue constanciam nunc imploro, ut si sors [fol. 79"] fortune sie
iocose ac prospere nobis arriserit in futuro, quod locum nobis nostris
confabulacionibus vel mutuis societatibus obtulerit oportunum, non sie
moribus, verbis et factis contra me, fidelissimum amicum tuum, tantum
amodo verecunderis, ut fecisti hactenus in premissis, quia revera omnia
corpori tuo pertinencia in tantum apud me habentur grata, quod non

" Eccli. 6,15.


" W a l t h e r Nr. 14571.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 247

possunt, quod inopinabile est, visibus nec sensibus meis aliquando displi-
cere, immo numquam in pondere solius faville mihi fieri odiosa, quia
pocius crederem rorem ac pluviam descendere super montes Gelboe^®
— quod est inpossibile — quam te deserere, vel aliqua per me corpori
tuo attinencia distare.
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[23] Item volo, ut discretionis tue industria recognoscat^ et mihi velit


condescendere copiose, quod secundum honoris tui magnificenciam non
habeo tibi mittere xenia iam condigna, sed in hoc me prudenter tue
virtutis Providentia nunc supportet et plus p e n s e f affectum quam effec-
tum, scilicet plus dantis animum quam muneris pro te* lucrum.
[24] Igitur discrecionis tue invoco bonitatem, igitur bonitatis tue invoco
discrecionem, ut non tue litterature nobilis possessio ac ingenii tui sub-
tilitas commendanda, que potest dici forma seiende, in hoc me vicio,
quod est voluntatis vel ignorancie vel negligencie turpitudo, redarguendo
contemptibiliter reprehendat, quod nimis diffuse prolixitatem fecerim
superflui iam sermonis ac dispendium tediosum, cum pre multitudine
cogitacionum, que per amoris imperium die noctuque sollicitant corpus
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meum, non possim tocius cordis mei affectum effectumque ac defectumy


sub unius sermonis efficacia recitando integraliter diffinire.
[25] Licet lex dicat: Melius est pauca ydonea effundere quam multis
inutilibus pregravari, ceterum vero hoc flagito, ut superfluitatem preno-
tatam omatumque artis gramatice hic debilem et confusum rithmorumque
inportunitatem et materiarum replicacionem, que habundanciori cordis
provenit ex affectu, necnon indebiti stili variacionem ac omnem conti-
nuacionem — quam auctor G a n f r e d u s in Poetria Novella per colorem
rethoricum sie diffinit: Continuacio est priora resumere, posteriora eis
addere " — item et tocius mei sermonis incongruitatem supersidere velis
ac defendere curiose; quamvis tamen meo iudicio minus recto tantam
sermonis congeriem me per compendium estimaverim compilasse, tamen
ob illud dictum 0 v i d i i mihi fore censeo ignoscendum:
Quid deceat, quid non, non videt ullus amans
Igneus ille furor nescit habere modum. Item puella in O v i d i o P u e l -
1 a r u m : [ f o l . SOr]
Nescio quid sit amor, nec amoris sencio nodum'',
Sed scio, si quis amat, nescit habere modum
[26] Sic similitudine sensus amoris erronei effecerunt, quod nec sum
« Vgl. o. Anm. 7.
** Nidit bei Galfred von Vinosalvo, Poetria nova, hg. E. F a r a 1, Les arts
po^tiques, S. 194 ff.
" Ovid, Epistulae 4,154; Walther Nr. 25 000.
" W a l t h e r Nr. 16532; niAt in De nuntio sagaci, hg. R. J a h n k e . Co-
moediae Horatianae tres (1891) S. 69 ff.
5 Archiv für Kulturgeschichte 51/2
248 Gabriel Silagi

nec nuncupor compos mei. Preterea multociens tui amoris cupidine


operante a recto tramite deviando, velud in exthasi et in excessu mentis
positus, insensibiliter omnes sensus corporis mei sub secreto tarnen
velamine sepius paciuntur quasi frenesim vel aliquid furibundum. At-
tamen ista permaxime sustineo propter persone tue absenciam elegantis.
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Unde l a c o b u s phylosophus, per cuius dictum A r i s t o t i l e s exemplo


tamquam a minori sie testatur: Canes furiis agitantur, cum presencie
hominum excluduntur.
[27] Hinc est, quod diu desideratum pignus tui amoris cum 0 v i d i o
E p i s t u l a r u m scribere me coegit:
Dicere quod puduit, scribere iussit amor^".
Quare tuam, virgo nobilis, non decet eximiam benignitatem, ut contra
meam ardentissimam fidelitatem cor habeas duricie stimulis obstinatum,
quia magis spero emolumentum mihi a te fieri pietatis, sed nec agas in
contrarium, ut per decepcionis notam ac per verisimile utaris paralogys-
mo, quia sie multorum corda simplicium paraloyzantur quod absit
inter nos, cum mei fidi cordis firmitate perseverancia Parydis et Helene,
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Pyrami et Thisbe non posset aliquo modo coequari, ne me ex parte tante


fidei sinceritatis, qui unum par dicimur amicicie, per fictam dileccionem
partis alterius effellatur.
[28] Considerandum denique ac mirandum tibi est, quod inter tot
incomoda et varietatis dubia omnia corporis mei membra non subito
dissolvuntur, quia per spem habende salutis a gravi ac mortifero amoris
languore sepissime videor cruciari'', sed protinus quasi vicio insperate
salutis ac amoris febricitante morbo videor denuo recidivare ac per
languorem pristinum forcius egrotare. Sic sum exhaustus me omni sani-
tate ac viribus et salute, et sie quodam modo inprovise in amoris preci-
picium sepe cado, quia, proh dolor, nusquam subterfugium evadendi
valeo invenire; nam tamquam mortis exterminio erumpnarum laboribus
ac angustiis incuratis inopinatum me periculum intolerabiliter coangustat,
quia malum volens cavere videor ruere tunc in peius, secundum illud
auctoris sie dicentis:
Incidit in Cillam cupiens vitare Carybdim
Preterea licet pacienti pacienter pati passio non sit dici, attamen pas-
sionis diuturna tolerancia amaritudinis vita dicitur tediosa, et ut testantur
L o y c a l i a ' ^ per ipsius diffinicionem: Passio est effectus vel illacio
" Ovid, Epistulae 4, 10; Walther Nr. 5591.
Paralogismus, paralogizare: Täusdiung, täusdien. Im folgenden stimmt der
Satzbau nidit ganz, dodi ist der Sinn klar.
" Walter von Chätillon, Alexandreis 5, 301; W a 11 h e r Nr. 12 190.
" Petrus Hispanus, Summulae logicales 3, 6 hg. I. M. B o c h e n s k i (1947)
S. 32 f.
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 249

actionis, ut inficitur calefieri et infertur calefacere. [fol.80^] Ad idem


proprium passionis est primo inferri in actione*^. Item passio non est in
agente sed paciente. Et quidem proprium actionis est ex se inferre pas-
sionem, recipit autem contrarietatem facere atque p a t i " . Et ergo tu
probaris efficiens causa mei doloris sive actio mihi inferens calorem et
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vim gelide ac misere passionis, et taliter ad metam redargucionis per-


ducta es non fallaciter sed veraciter convincendo.
[29] Cumque racioni naturali satis lucide sis edocta, quod fide ac
aminiculo amatorio mihi sis ex debito nunc astricta, sie ergo mihi soli
conversum — ut ego tibi — exhibeas talem locum meo desiderio compe-
tentem et in secretario tui cordis delectabilem atque gratum; ne mihi
propter inestimabilem tue puldiritudinis speciositatem te demonstres<i
nimium cervicosam, quia deonim dearumque consanguinea ex prosapia
nobili tu probaris, quia tota maneries " Veneris in te regnat esque Amoris
Venerisque filia: Veneris, quia facie omnibusque membris tuis tota
Venerea® nunc appares, Amoris, quia regali ceptrigeraque imperas
potestate', nidiilominus gaudeas equitate.
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[30] 0 mi domina equonomica ac venerabilis dispensatrix, si tibi


nunc placuerit consequenter, ut per quandamS iuris formam modo debito
procedamus, ut et omnis iurisdiccio nostre esse et litis, si tibi convenit,
sit in arbitros compromissa, videlicet ut discematur per arbitrium Veneris
et Amoris, si sunt iusticie sectatores, sicut causidici tueantur nostram
causam sane veridice ac sincere, sie fideliter nunc defendant, non quasi
in foro iudiciali per iuris exigenciam contendere nos contingat, et ut
duellum nostre litis, si videntur arbitri dissentire, ad unam partem decli-
nando, virgo, Amori coopereris, quia nostre cause mediatricem te con-
stitui et elegi. Ergo restat, ut cum Amore^» pro me agas, et per te ac per
Amorem amoris fiat composicio, et sie Iis nostra, videlicet controversia
affirmativa et negativa, fideliter componatur, et inter nos amodo, ne
litis horror insonet ac prevaleat, amicabiliter decidatur.
[31] Hinc est, puella splendida, quod tuam obnixe inploro clemenciam,
uti dileccionis tue signa non deseras sed pocius velis plenius augmentare,
necnon aliqua inter signa sive indicia litteris aut verbis vel operibus,
que sint dileccionis argumenta, mihi velis cicius exhibere, quia scrutator
cordium" novit deus, quod te intimi cordis affectu sincere diligo ac
perfecte, ita ut sicut te de voluntate pre onmibus — sie me fortuna
adiuvet — non yronice sed delectabiliter et iocunde per electionem
imperatricem te constitui cordis mei, sie et de facto, si culmina tenerem
[fol. 81^] regnorum omnium terrenorum, pre omnibus eorundem regno-

5» Maneries: die Art. " Vgl. Sap. 1,6.


5«-
250 Gabriel Silagi

rum regalis dignitatis te ad apicem sublimarem; nec inmerito, cum


deoriim dearumque omniumque hominum nunc vivencium prerogativam
possides absolute, videlicet sagacitatis, diviciarum, potestatis, puldiritu-
dinis ac virtutis, quam ob rem meis doloribus subvenias gratiose necnon
desiderabiliter, perseveranter, dulciter ac sapienter, equanimiter, fideliter,
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utiliter ac potenter, amabiliter, amicabiliter, subtiliter ac ferventer, velo-


citer, compacienter, inviolabiliter ac frequenter, fiducialiter, congruenter,
habiliter ac silenter, non enormiter sed simpliciter et curialiter; conle-
tanter etenim illa perducere studeas ad effectum, quia non possum absque
tua consolacione modum ponere in lamentis, sed quamvis per magna
obsequia bonum opere apud te non merui, nidiilominus voluntate attamen
tue benignitatis clemenciam nunc inploro, ut secreti conscium sive tui
secretarii officialem et ydoneum preficias symistam, quia si dixero libenti
animo fidelitatem tibi, postmodum probabiliter operibus declarabo.
[32] Hei utinam tuus etiam si dicerer et essem confabulator ore ad
OS absque amocionis inpedimento dilectus, assiduus et perfectus; nam
numquam indomiti cordis mei curantur desideria nec sedantur, nisi
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medentur per tui amoris colloquia et per tui amoris antidota dulcorata
Et licet amorem tuum omnium meorum sensuum per sententiam omni
thesauro precioso et cunctis deliciis nunc terrenis dileccione, laude ac
dignitate sufficienter te pretulerim et honestate, quamvis etiam apud me
magnum et quasi bonum incomparabile videatur, videlicet meam personam
hanc donacione, id est tui amoris titulo, investiri, non tarnen magnum
apud te — salva reverencia et gratia — mihi hanc donacionem a te fieri
iudicatur. Quare? Quia non inpossibiliter hec libere ac potenter has
divicias et huiusmodi delectabilium facultates possides habundanter. Si
tamen per amoris dileccionem bone voluntatis tibi aderit plenitudo, tunc
petens non admittitur difficulter, nec obstaculum mihi erit repulsio
negativa, sed erit merces amodo lucrativa, et tunc facile conceditur, si
iuste perpenditur, quod prius per dilacionem nimiam negabatur, quia
substancia nobilis, que dividendo nec largiendo noni minuitur, possidens
eam si non pluribus saltem soli speciali amico merito tenetur hylariter
absque numero, pondere ac mensura veluti regis ditissimum donativum
habundancius impertire, unde versus:
Non peto grandia donaque dicia, quero modesta.
Quod [/oZ. Si®] tibi sufficit et mihi deficit, hoc mihi presta".
Qua re tuam inclitam condecet honestatem, ut tuo ex genere et tuis a
progenitoribus patrisset nobiliter virtus tua, ita ut larga non solum

« S. o. Anm. 11.
" W a l t h e r Nr. 18223.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 251

donacione muneris non minuerisi', sed contra amicum tuum cogitacione,


verbo et opere tua largitas comprobetur.
[33] Item rogo, ut paginule codicem diligenter ab universis et singulis
custodias ut secretum ac ipsius cartule omnia prelibata propter me, qui
circa tua comoda sigillum sum fidelitatis certissimum, simul affectuose
velis effectui mancipare et in omni ebdomada causa mei ad minus semel
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perlegere non differas cum effectu; quod si singulis ebdomadibus non


potueris perficere, tunc ad plenum saltem semel in mense omni post-
posita negligencia sub custodia perlegere non obmittas. Nam expressum
est in iure: Habundans'' cautela non oberit.
[34] Item:
Omni spiritui non credas! Nam latet anguis.
In verbis, quo decipitur simplex cito sanguis
Item:
Fella latent, dum mella patent ridentis in ore.
Ergo cave, dum dicit ave lüde tibi ™ more
Item: lam rara fides ac multorum sermones molliti sunt super oleum,
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et ipsi sunt iacula". Preterea cunctis ac singulis bene perlectis et cordi


tuo efficaciter annotatis ipsum volumen et omnia ipsius scripta non
incisione nec rasura necnon aqua nec aliquo maleficio nec custodia
insufficienti aliquo modo sie extinguas, sed pocius, ut tibi confido, cum
omnia bene tibi incorporaveris cum omni diligencia, mihi incolomem et
sine defectu, quia longo tempore secure non poteris custodire, cum se
obtulerit locus, mihi reddere non obmittas.
[35] Item rogo, cum divinam scripturam adulterare non conveniat
sapienti, ut hec sequencia per texti litteram intelligas et non per alle-
goriam, quia miserabiliter ex amoris cantico assidue ad te clamo: Pone
me sicut signaculum super cor tuum et super bradiium tuum, quia fortis
est ut mors dilectio; nam et facies tua tota decora et lingua tua diserta
et sicut vitta coccinea labia tua et eloquium tuum dulce'". Et cum hec
etenim quasi excellenciora tue prerogative nominentur, talium non inme-
rito iam recordor.
[36] Nam te diligo super aurum et argentum et super omnes vestes
tocius varietatis preciosas et super omnes herbas et gemmas nobilissimas
et super omnem in hoc mundo humani generis speciositatem et super

" W a l t h e r Nr. 19 944.


»8 W a 11 h e r Nr. 7900 a (Nur Vers 1).
Molliti super oleum ist komparativisdi zu verstehen: „vor Liebenswürdig-
keit mehr triefend als ö l " . Der Anfang erinnert an W a 11 h e r Nr. 26 266, die
Verse sdieinen in Unordnung geraten.
Canticum 8 , 6 und 2 , 1 4 und 4 , 3 .
252 Gabriel Silagi

aurum et topazion" et super omnem istius mundi delectacionem mihi


dulciter titylantem et concupiscibiliter affluentem, et vocem tuam beni-
volam et dulcisonam diligo, si deponit amodo negativam et si affirmat,
quod affinno [fol. 82 ""J. Item te diligo super omnia musicalia instru-
menta et super omne terrenum, quod visu puldirum est, et super rosarum
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et liliorum ac omnium aromatum odorem mihi dulciter saporantem et


super omnem istius seculi dulcedinem mihi suaviter astilantem et super
omnes alias tocius corporalis essencie delicias nunc mundanas. Item te
diligo super murmura fluminum ac rivorum et super voces avium suaviter
resonancium ac iocunde et super viriditatem " vallium ac moncium, nemo-
rum et camporum, te diligo super varietatem colorum omnium atque
florum humanis visibus ammirandam, te diligo super omnem iocundi-
tatem corizancium cervicosam et super dapes regum ac epulas privatorum
et super omnem dulcedinem bene sonancium vigellarum, te diligo super
omnem terrestrium artis musice dulcem sonum, te diligo super omnem
societatem ac speciositatem aliarum omnium mulierum.
[37] Nec mirum, si specialis amici'^ laudibus exaltatur — in quo
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nihil est, ut spero, fidum — nec ei dominatur contra amicum perfidia


falsitatis, sed Semper in ea regnat amicicia veritatis, nec corpori eius
inest ruga neque per ipsius totum corpus mende macula invenitur, nec
defectum quis speciositatis, bonitatis, fidelitatis, bone complexionis, natu-
ralis dileccionis, puldiritudinis ac virtutis, pietatis, humilitatis et con-
stancie in ea poterit reperire. Non apud ipsam perfectio microcosmi
decrescere opinatur, nec apud eam erit valitudinis ipsius plenilunii
variacio sive lunacio defectiva; sane cum tamen multorum corda si
desipere videantur et stultizent permaxime sapientum, quod aliquarum
mulierum perhdiam non estimant, falsitatem et inconstanciam non pen-
sant, deformitatem corporum non dedignantur nec abhorrent, sed sie
ab ipsisP mulieribus nullam formam speciositatis vel virtutum aut digni-
tatum habentibus seducuntur in tantum, ut apertis et claris oculis non
videant vel ceci fiant et eas diiudicare nesciant et ipsas suis laudibus
Semper videantur quam plurimum commendare, quemadmodum deserere
numquam sciunt, quia mulier dicitur mollis aer, vel mulier dicitur
mulcens h e r u m " , quod etiam per dictum cuiusdam sapientis sie probatur:

«I Nadi Psalm 118, 127 spridiwörtlidi geworden; vgl. im gleidien Zusammen-


hang Boncompagno, Rota Veneris S. 10, und Guido Faha, Summa dictaminis
S. 312. Hier sdieint von einem Nebenbuhler die Rede zu sein.
" Gewöhnlidi wurde mulier von mollities abgeleitet, so Isidor, Etymologiae
11, 2, 18. Die Etymologie mulier quasi mollis aer wird angeführt von dem
Drudcer und Gräzisten Heinridi S t e p h a n u s ( E s t i e n n e ) , Apologie pour
Herodote ou traitd de la conformit^ des merveilles anciennes avec les modernes,
2. Aufl. (1735) Bd. 3, S. 193, und soll dort neben anderen Beispielen die Igno-
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 253

Si quis amat ranam, ranam putat esse Dianam


et alibi:
Femina, tu leporem facis aprum propter amorem,
Femina, te flante mox cera fit ex adamante
Et auctor in Thobia:
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Omnis amor cecus, non est amor arbiter equus.


N a m deforme pecus iudicat esse decus
Quod absit a me, ut tales umquam corde diligam vel aspectu vel per
mea dictamina, quamvis sint vilia quodam modo atque nulla, eas velim
verborum honoribus exaltare, nec eas sub amenis laudibus commen-
dabiliter comprehendo.
[38] Quo modo ad [fol. 52®] propositum nunc revertar et ad eam, ad
quam per amoris dileccionem missum est cor meum, et in cuius dilec-
cione omnes sensus corporis mei sunt incessanter ac miserabiliter occu-
pati. Quo modo cum tu sola sis laude ac honoribus Semper digna, et sicut
cor meum et lingua mea numquam tuo a servicio et a tua memoria non
cessabit, sie etiam nomen meum et persona in memoria tue recordacionis
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similiter numquam propter alterius persone dileccionem, fortuna, quod


absit, nec per oblivionis tyneam deleatur. Nam labores noctium dierum-
que, pondus ac estus exigente tui amoris potencia me aflligit et propter te
sustineo incessanter. Quam ob rem tue benignitatis graciam nunc exspecto,
ut torrens inundans tue pietatis in tuo amore ubertim me letificet siti-
bundum; nam magnam fidem misere perdidi ac ea nimium defraudabor,
si in cordis tui centro quasi fidus amicus non ero a te firmiter ac fideliter
stabilitus. Demum in procinctu et in via mei laboris inauditam iam cogor
multitudinem formidare, scilicet Plutonem deum infernalem cum sua
Proserpina, quam quondam rapuit violenter, que iure dicitur dea livida
infernalis, qui progenitores mendadi, odii et invidie, iniquitatis, discordie
et perfidie affirmantur. Horum omnium contraversiam, guerram et acces-
sum troni ac sedis dubie iam fortune conpellor non modicum abhorrere,
ut coram omnipotencia ipsius dubie ac secularis iam fortune, que ob
varietatem inconstancie monocula et claudicans d e s c r i b i t u r m a n i f e s t e

ranz des katholischen Klerus aufzeigen. Die Etymologie quod mulceat virum
findet sidi in Osberns Panormia, hg. A. M a i , Class. Auct. 8 (1836) S. 345. Hier
ist sie wohl dem Catholicon des Johannes von Genua entnommen (s. v. mulier).
" W a l t h e r Nr. 28 967; vgl. Andreas Capellanus S. 23: amor deformem
quoque mulierem tanquam valde formosam representat amanti.
W a 11 h e r Nr. 9266 und 9253.
«« Matthaei Vindocinensis Tobias, hg. F. M u e l d e n e r (1855) nadi Vers 884
im Apparat; W a 11 h e r Nr. 20 188.
Zur Darstellung der Fortuna im Mittelalter vgl. H. P a t c h , The Goddess
Fortuna in Mediaeval Literature (1967) S. 42—57. Die Schilderung als einäugig
und hinkend ist ungewöhnlich.
254 Gabriel Silagi

non una per discordie et perfidie guerram extra spem sperate salutis quasi
per maledictam negativam constituar exulandoP', quod absit, quia mors
mihi foret, aut etiam quod invidie ac odii fomitu dilacionem mihi
nimiam salutis impediant accepture. P e r hoc siquidem corpus meum
erit quasi ad nichilum tunc redactum, et corporis mei membra omnia
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consummuntur. Sed adhuc de ipsius virginis fidi cordis gratia et ipsius


amoris aminiculo resurgere spero, et in hoc nullo modo iam diffido, ut
auxilio illum non deserat, qui obsequii sui laboribus iam decertat, ut
per quandam ipsius diffinicionem taliter edocetur:
Est amor ordo vagus, dulcedo fellea, pena
Dulcis, acetosum nectar, amena'J lues,
Lex exlex, ius iniustum, modus inmoderatus,
P a x sine pace, fides perfida', fixa f u g a " .
[39] Attamen illa diffinicio pro parte intelligenda de perfido iam
amore, ac non de fido, sed fidi nostri amoris diffinicio talis est: A m o r
est vinculum dileccionis, et amor est quasi vitta coccinea, que duo ligat
scilicet amantem et id quod amatur, quod nobis permissive [fol. 83^]
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prestare dignetur, qui plus dat, quam sibi detur, ut et persecucionis


nostre seva amoris tempestas quantocius evanescat, et vinculum sive liga-
tura nostre dileccionis mutue ac vitta nostre colligacionis coccinea,
scilicet amor, cooperante ipsius amoris potencia et virtute numquam de
cetero dissolvatur. Quo modo cum hic non sint problemata nec enigmata
nec conscripta, neque obscura hic sit brevitas oracionibus intrita, tamen
si hic inpropere positas vel inusitatas reperires® dicciones, et si penes
te aliqua dominarum vel aliquis capellanus te pericior invenitur, quod
autumo, exposicionem earundem diccionum — quod ad edifficacionem
— querere ad profectum nullo modo verearis, secundum illud:
Scire aliquid laus est, pudor est nil discere velle
[40] Item A u g u s t i n u s , fere peritissimus clericorum, taliter fate-
batur: Qui licet veteranus sim et in pontificali culmine constitutus, a
duodenni puerulo discere non erubesco".
Item versificator:

W a 11 h e r Nr. 7270.
" Vgl. Canticum 4,3; die Definition erinnert an die von dilectio: dilectio
interpretatur, quod duos in se liget, bei Isidor, Etymologiae 8, 2, 6, von dort im
Lexikon des Papias und im Catholicon des Johannes von Genua s. v. dilectio.
Distidia Catonis 4, 29, 2 hg. M. B o a s (1952) S. 229; W a l t h e r Nr. 27613.
" Eine Anspielung auf die bekannte Legende von der Begegnung Augustins
mit dem Knaben am Meeresstrand, vgl. H.-I. M a r r o u , Saint Augustin et la
legende de l'ange, Bulletin de la soci6te nationale des Antiquaires de France
1954/55, S. 131 ff. Duodennis wird bei Augustin, Enarr. in Ps. 101,1 für zwölf-
jährig gebraucht.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 255

Stilla pluit, post unda fluit, sie flumina crescunt:


Paucula scis, si discere vis, tibi plura patescunt
Item:
Vive carens vicio, quasi vita eras eariturus;
Disce vacans studio, quasi numquam sis moriturus
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Item super illud dictum A r i s t o t i l i s : De singulis dubitare non est


inutile^^, M a g n u s A l b e r t u s dicit: Magna enim nobis ex dubitacione
provenit utilitas; dubitando enim inquirimus, inquirendo discernimus,
discernendo viam veritatis i n v e n i m u s E t quamvis A r i s t o t i l e s dicat:
Ad trunccatas oraciones nequaquam respondeatis, tamen, ut predictum
est, si de aliqua te nunc contingat querere diccione, pro tenore istius
materie abscondendo <non> nisi Semper de unica diccione debes separa-
tim querere ac precise. Item quamvis a u c t o r i n F i o r i b u s G r a m a -
t i c a l i b u s illud dicat:
Nullum vita sinit, perfectus clericus ut sit,
Ars crescit, vita decrescit, labitur h o r a " ,
et ars est de bono et de difficili: de bono, quia in se bona, de difficili,
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quia non facile addiscitur, et per ipsius diffinicionem ars est collectio
multorum preceptorum ad unum finem t e n d e n c i u m A d idem: ars est
infinitatis compendium, et licet homo sit ingeniosus et capax, attamen
non proficit ad e£fectum, nisi per Studium continue usitatum. Unde
O r a c i u s in Epistula:
Ingenium, nisi sit Studium, flos est sine fructu,
Hec coniuncta simul fructificare s o l e n f .
[41] Preterea sufficiant ad presens hec pauca de talibus annotata, et
predicte virginis puldiritudinem commendabiliter exaltemus. Cum tamen
O r a c i u s in Poetria per quandam intimantem* regulam hoc affirmat,
quod natura in genere omnes mulieres plus ditavit quam viros per
puldiritudinis colorem^', sed tum tu omnes mulieres videaris precellere per
amenitatis videlicet colorem. Et nunc post expressam regule diffinicionem,
que talis est: regula est [fol. 55"] commune artis preceptum, et hec regula

" W a l t h e r Nr. 20 883a (Vers 2). " W a l t h e r Nr. 5890.


" Aus den Sententiae philosophicae ex Aristotele collectae, Migne, PL 90,990.
Zu diesem und dem folgenden nidit ermittelten Zitat vgl. o. Anm. 23.
Die Flores Grammatieales stammen von Ludolf von Lukau; der einzige
mir bekannte Drude 'Florista cum commento' o. J. u. 0 . hat in der Bayerischen
Staatsbibliothek Mündien die Signatur 4° L. lat. 195. Unsere Verse finden sidi
auf Folio 5''. Sie sind außerdem gedrudct bei F. B r u n h ö 1 z 1, Florilegium
Treverense II, Mittellateinisdies Jahrbudi 3 (1966) S. 184, 1545 f.
" Vgl. Albertus Magnus, Ethica 1, 3, 2 hg. A. B o r g n e t , Bd. 7, S. 32. Die-
selbe Definition in Clm 22 297, fol. 124r, 2. Spalte, wo sie Cicero zugesdirie-
ben ist.
w a 11 h e r Nr. 12 376; nidit bei Horaz, vgl. aber Tobias 896, 900 ff.
Nicht bei Horaz, Ars poetica.
256 Gabriel Silagi

mea est, ut te diligam super amenitatem istius temporis nunc vernalem,


et te diligam super claritatem istius temporis estivalem, et te diligam
super habundanciam istius temporis autumpnalem, et te diligam super
omnem securitatem divitum hyemalem Insuper te diligo super omnia
electuaria®' que rebus ex nobilibus sunt confecta; te diligo super omne,
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quod hic visu puldirum, quod odoratu suave est, quod gustu dulce est,
quod omatu elegancie nunc prefulget, quod auditu iocundum est, quod
tactu per sensualitatem aptum est, quod gressu per liberum arbitrium
lascivum'' est, quod cordi concupiscibile" est, ac super omne, quod super-
bum vel pomposum est, et iureiurando veraciter^ hoc contestor, quod te
amando super me ipsum diligo et super omne, quod in hoc mundo
sensibus meis^ delectabile comprobatur; etenim sie tui amoris me potencia
superavit et intantum me sibimet subiugavit, quod non possum nec valeo
nec debeo quicquam velle, nisi quod tibi placuerit nunc et Semper et
quod tue benignitatis precepta mihi non dedignantur indicere per edic-
tum. Attamen, o dulcissima mi puella, ut tui nullo modo expers fiam,
sive sint grandia necnon aspera intolerabilia inperficibilia, sive dura,
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immo licet me quasi ad temporalis exterminium ducant mortis, et quem-


admodimi amoris tui gratia singulare certamen ut inirem conflictumque
facerem per congressum bestiasque sie occiderem sevissimas et agrestes,
scilicet aprum inperterritum ursumque validum, leonem denique animo-
sum, rinocerotem ira plenum, leopardumque velocem et horribilem, tunc
draconem grandem Enadiym de Stirpe mallem invadere, tunc Gygantem:
in hiis, si non deficerent mihi vires, non esset trepidum corpus meum.
Sic amor tuus me confortaret, quod propter te mihi fortitudo protinus
inesset scilicet Hannibalis et Hectoris ac Herculis et Sampsonis, scilicet
aspidem extinguendi^ delendique penitus basiliscum? subtilitas et auda-
cia tuum statim me regerent per amorem, tandem vellem mandragoram
effodere subtiliter indefesse propter te, mi domina, quod quamvis quasi
inpossibile videatur et corpori ac anime formidandum, non formido,
cum tui amoris potencia mihi animositatis plenitudinem amministret.
Post hec me tecum fore Semper exulem nullo modo contristarer.
[42] Preterea^ si tue benignitatis mihi non subvenit consolacio preop-
tata, ita ut si tui amoris karactere ac sigillo in brevi non ero amicabiliter
atque dulciter confirmatus, mortis periculum evadere iam nequibo, et
tunc pro me omnipotenti deo, si non stabilis ac bona obstiterit iam
8« Vgl. o. S. 234.
" Electuarium, die Latwerge. Vielleicht kannte der Verfasser das Wort nur
aus dem Catholicon: Electuarium ah electione rerum, quibus conficitur, dictum,
und wußte nidit, daß darunter eine Art Brei zu verstehen ist.
Vgl. B ä c h t o l d - S t ä u b l i , Handwörterbudi des deutschen Aberglau-
bens Bd. 1 (1927) Sp. 935 ff. und 312 ff.
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 257

fortuna, quasi pro homicidio [fol. 84'^] hominis racionem eris penitus
redditura. Nam quasi almipotencie per virtutem ero sepissime velud
mentis in extasi positus et raptus et hoc quodamodo inprovise ac sie
amens et impotens ero corporis mei et sensuum omnium tunc meorum. Eia
ergo te invoco, bona et non mobilis sed stabilis nunc fortuna, ut mihi
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auxilieris, quamvis dicatur de perfida sie fortuna:


Cui semel intulerit fortuna noverca dolorem,
Non dolor unus erit, ferit altera plaga priorem
Item:
Est rota fortune variabilis ut rota lune
Sed de bona fortuna:
Cum tua fortuna tibi sub vice riserit una,
Non ibi cessabit, sed gaudia plura parabit.
[43] Sic tua virtus et tue curialitas iuventutis allicit me frequenter,
ut P a m p h i l u s iam testatur:
Gaudia Semper amat et ludicra verba iuventus".
Item A r i s t o t i l e s in tercio Topicorum: luvenes enim non sinit animus
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esse quietos, qui Semper curialitate et moribus precellant" senectutem".


luvenes enim sua potestate ad quodlibet prompti sunf», sed diffinicio
virtutis talis est: Virtus est habitus animi in modum nature consentaneus
racioni". Ad idem: Virtus est vivere virtuose pro tempore et® natura.
Item pro exaggeracione: Virtus enim in sua operacione multiplicat
bonum, multiplicando retinet, retinendo conservat, conservando ample-
xatur, amplexando mite utitur. Cum enim tu sola virtutibus eminencior
pre ceteris sis adornata natura, et si fidus amor circa me cogit, tunc per
sentenciam, ut vulgare proverbium sonat, celeriter mihi opere demon-
strabis, scilicet probacio dileccionis exhibicio est operis. Diffinicionem
proverbii puldire diffinit a u c t o r N o v e l l e P o e t r i e per colorem
rethoricum sie dicendo: Proverbium est generalis sentencia inducta ex
materia, ex cuius evidencia tocius materie veritas elucescit".
[44] Ceterum rogo, ne nostra, ut estimo, societas illibata sit quasi
parenthesis intermixta, et cum plerumque nunc fere innumerabilium iam
laborum exaggeracio me faciat onerosum seviente in me innocentem®' tui

8» W a i t h e r Nr. 3917.
W a i t h e r Nr. 7874. Die zwei folgenden Verse habe idi nidit ermittelt.
Zu Fortuna vgl. o. Anm. 67.
Pamphilus, hg. G. C o h e n , La ,comedie' latine en France au XII®
si^cle 2 (1931) 192 ff., Vers 101; W a 11 h e r Nr. 10 236.
N i A t im 3. Budi der Topica des Aristoteles.
" Aus Cicero, D e inventione, im Mittelalter häufig zitiert, hier wohl aus dem
Moralium dogma philosophorum, S. 7.
Nidit bei Galfred von Vinosalvo, Poetria Nova, dagegen ähnlidi bei
Matthäus von Vendöme, Ars Versificatoria S. 115.
258 Gabriel Silagi

amoris rabida iam vindicta, scilicet incomoda nimia iam caloris iam
algoris, iam corporis debilitas coangustat, meque iam debilitat meorum
sensuum hebitudo, iam die noctuque vigiliarum instancia sine sompno,
iam cibi et potus parsimonia diuturna, iam tactus dolore cordis mei
intrinsecus offendendo intantum, ut conglomeracio iam malorum quasi
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per epylogacionem, ut nullius momenti interposito intervallo ac sine


intermissione me ledere non quiescat. U n d e miror, quomodo in vita tantis
pregravacionibus ac doloribus nunc subsistam, quod probatur per istius
dictum:
0 deus, in quantis animus versatur a m a n t i s " ,
et ad illa etiam respondet a u c t o r T h o b i e : K[fol. 84^]matores pro-
bantur consolando,
Anxietas in amore sapit, dulcescit amarum,
Vernat yemps, sudant frigora, morbus d alit
Preterea, o dulcissima feminarum, ut examines meam fidem et erga me
cum diligencia probes attencius sensus meos, quia secundum illud E s o p i
Semper tibi sum fidus, scilicet
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Qui satis est fidus, cunctos confidit, et omnes


Estimat infidos, qui caret ipse fide
[45] Sic ego nec demonstracione meorum sensuum laudabiliorem te,
o mi dilecta domina, non sencio iam per prope, nec relacionis intellectu
in honestate ac virtute, mi dilecta, aliquam te precellentem in fide® meus
intellectus non discernit sed deficit de remotis. Sed ut illa de demon-
stracione ac relacione, de sensu et intellectu, de honestate ac ipsius
divisionibus ut lucidius senciamus, non dedignando P r i s c i a n u m super
hoc subtiliter audiamus, ubi speciales determinat pronominis proprie-
tates, post determinat de absolucione ac discrecione, scilicet quid sit
absolutum et discretum, demum de demonstracione ac relacione, ut patet
ordo, sie declarat:'^ Est enim omne pronomen absolutum et discretum,
sed non omne pronomen est demonstrativum et relativum; et propter hoc
universalius debentur pronomini absolucio et discrecio quam demonstracio
et relacio; et propter hoc sicut maius universale ante minus universale, sie
istius patet ordo: Demonstracio habet se via sentiva, relacio via intellec-
tiva, et demonstracio ad presencia <se> habet et relacio ad presencia et
ad absencia, et ego firmior esse probatur intellectus quam sensus. Sensus
est virtus corporea receptiva specierum in materia sub proporcionabili
distancia; et propter hoc demonstracio ad sensum diversificatur per prope
et remote positum. Sed intellectus est virtus incorporea, et propter hoc
eius apprehensio non diversificatur per prope et remote positum, et sicut
Pamphilus 619; W a l t h e r 19 445. «» Tobias 889f.; Walther Nr. 1204.
" W a l t h e r Nr. 24 646. Vgl. Priscian, Institutiones 12,3 und 13,32.
Ein pedantisdier Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 259

sensus presencia sentit, sie intelleetus preseneia et absencia discernit.


Sic tue operacio iam virtutis omnia mea mala, sicut de hoc confido,
quasi presencialiter mecum sentit et omnia mea incomoda ipsius virtute
dispensante a remotis intellectualiter non discernit, et quia honestatis
ac virtutis floribus es fulcita, quod re vera gaudeo, si etiam debilitaris
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ex amoris ferventi desiderio iam languore.


[46] Sed nunc videamus per ipsius diffinicionem, quid sit, quod in te
fulget et quod dicitur nunc honestum: Honestum est, quod sua virtute
nostra agit et sua' dignitate nos allicit. Sed in quattuor virtutes dividitur
cardinales, scilicet in prudenciam, iusticiam, temperanciam et fortitu-
dinem. Prudencia est rerum bonanmi et malarum utrarumque discrecio.
lusticia est suum quidlibet conferens". Ad idem: lusticia est virtus
conservatrix humane societatis et communitatis vite. Temper[/oZ. 85']-
ancia est virtus cohibens motus suasu prosperitatis in nos impetum
facientes. Fortitudo est considerata periculorum suscepcio et malorum
p e r p e s s i o H i i s etenim virtutibus tota polles, et propterea si tui longa-
nimiter nons fraudabor, ero similis regi magno, quia si mihi deerit
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substancia magna, tamen teneo quod cupivi, quia avaricie non appeto
iam thesaurum, sed quod pro utilitate amborum, scilicet ipsius puelle et
mea, sustentabiliter videbitur expedire, et quamvis ei magne nunc divicie
competerent et honores, pro me tamen cum O r a c i o sie allego:
Magnos magna decent et parvos parva, secundum
Quod pollet meritis ille vel ille suis
Quod dictum O r a c i i etiam nunc allego, sed pro nobis ambobus cum
0 r a c i 0 in Epistulis illud nos instruere non obmitto:
Si ventre bene, si latere bene, si pedibus, nil
Maius divicie regales addere possunt
[47] Ceterum autem si in hoc opusculo cursum alicubi debitum non
servavi et si hic varietatem sive diversitatem littere reperires, scire debes,
quod ex nimia celeritate scribendi in oculto taliter excedere sum coactus,
sed illa mihi tua virtus gloriosa tenetur ignoscere virtuose.
[48] 0 dulcissima mi puella et mea karissima domicella, horum voca-
bulorum proprietatem nimiam possides, o dilecta, quia puella dicta es a
disciplina continua et pudore, sed domicella dicta es a domo et cella,
id est quia in conclavi domus quasi in cella sis assidue includenda'»; que
proprietates nimium in te vernant, et hoc mihi in dampnum et in preiudi-
cium fieri existimo evidenter, et hoc idem doleo satis pure. Attamen si

Honestum — conferens und Temperancia — perpessio aus Moralium


dogma philosophorum S. 7. " Nidit bei Horaz; vgl. W a I t h e r Nr. 14242.
"s Horaz, Epistulae 1,12,5 f.; W a l t h e r Nr. 29 353. Zitiert audi im Mora-
lium dogma philosophorum S. 62. Hier etwas in Unordnung geraten.
260 Gabriel Silagi

ipsius erga me bonam experior voluntatem, quamvis pudore ac nimia


custodia sit retenta, consolabitur vita mea quodam m o d o ' sie pro parte,
ut O r a c i u s in Epistulis de talibus nos informat:
Si nequeas oculo tantum contendere Linceus'',
Non tarnen idcirco contempnas lippus inungi
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[49] Licet nunc moderni gaudeant brevitate, presertim illud non pre-
termittendum silencio iam decrevi, quod est eventus satis mirabilis atque
rarus, et non credas esse falsigrafiam compositam atque mendosam, sed
meram absque omni ambiguo veritatem, quod etiam si deberem vice
sacramenti iuramento possem veridice comprobare, quod non oportet,
quia Novum precipit Testamentum: Sit sermo vester: est, est, non,
non; quod amplius est, a malo e s t " , et super hoc D e c r e t a l i s dicit:
A malo est, scilicet non iurantis sed non credentis", et hec duplex
repeticioi, scilicet est, est, non, non, amen, amen, est sola et sufficiens
confirmacio. Cum autem, u f ^ predictum est, quadam die pre maximo
desiderio te videndi, virgo decora, infra septa [fol.85'"] claustri deam-
bularem et tuam speciositatem et dileccionem meditans in corde meo,
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sicut est mea die noctuque continua consuetudo, et sie in nostro cenobio
quandam precederem officinam, audivi humanam ac femineam vocem
cantando clare ac dulciter iam sonantem, et quasi omnium humanarum
vocum dulcorem suavitate ac dulcedine precellentem. Ammirans steti
auscultando, sed finita voce et intravi celeriter et quesivi de voce, si
quid audierint, a quibusdam manentibus iam in stupa, qui nichil se
audivisse cum iuramento probabiliter affirmabant incontinenti; etiam in
cubilibus omnibus sie quesivi, sed adhuc nidiil inveni, et tunc ad su-
periorem partem domus ascendi et Solarium introspexi, et ibi sedentem
et mihi assurgentem similitudinem illius vidi, quam Semper desiderant
sensus mei, videlicet sub habitu et ymagine tua quandam speciosam,
curialem, habilem ac nobilem fantasiam, que sie arridendo iocunde et
amicabiliter me vocabat, scilicet sie dicendo: ' 0 mi dilecte domine, vos
quam diu hic exspecto!' Tunc in ingressu meo, priusquam ei appropin-
quarem, pre gaudio ammirando in hec verba prorapi: 'Ach, nomen sal-
vatoris domini nostri Jesu Christi, mi dilectissima domina, me ignorante
personaliter iam adestis?' Et hiis dictis cum accessissem ipsum corpus
et staturam tue delectabilis ymaginacionis parte reverenter ac benivole,
tunc suscepi tarnen delectabiliter per amplexus, et cum eam sie quasi
tenerem et adhuc cum ipsam elevare viderer', tamen palpabile™ nidiil
sensi, sed inter brachia mihi decrescendo evanuit, sed paulatim. Ex hoc

Horaz, Epistulae 1,1, 28 f. " Matth. 5,37.


»8 Nidit in den Dekretalen sondern im Decretum Gratiani 2, 22,1, 2 ( F r i e d -
b e r g Sp. 738).
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 261

malicie nidiil sensi nisi quod illius presenciam perdidi caro iocundam.
De hoc quasi exanimis fui factus et omnibus mei corporis viribus destitu-
tus. Illud satis diu cepi dolere et adhuc Semper doleo, quia vix vel num-
quam amodo recuperare valebo. Illud autem horribilem aut malignam
non possum credere fanthasiam, sed pocius illud credo et adhibeo fidem
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factis dignam tuo servicio, et eam mei ipsam Venerem deam sacram
credo venisse miserearum mearum pressuram et me ipsum quemadmodum
sua visitacione ac suis virtutibus consolandum, quod in eius recessu appa-
ruit evidenter, quia totus locus in solario tunc fraglabat, et remansit odor
suavissimus sie diffusus, quod ipsius aromatice suavitatis sapor me quam
plurimum viribus recreavit.
[50] Et cum sie exigente tui amoris et corporis absencia tsi[fol. 86'']lia
tunc sum passus et hiis paciar iam maiora et asperiora forsitan sim pas-
surus consequenter per tui corporis et amoris presenciam, virgo decens
ac mi dilecta, quod si fides in te foret, quod non despero, re vera merito
consolarer, quam ob rem sucurre mihi famulo tuo tibi quam plurimum
Semper fido et iam diu propter te in perplexitate valido constituto, quia
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si te desero, diucius tunc non vivo. Si autem in inceptis perseveranter et


quasi indeficienti animo et corpore absque tuo auxilio fortiter ac viriliter
laborabo, quod tarnen irrevocabile scio, et quamvis etiam vulgare illud
proverbium hoc affirmet:
Labor improbus omnia vincit
nichilominus tui amoris vinculis et innumerabilium miserearum pressuris
validius innodabor. Quod si etiam lucidius scire cupis, quid sit perplexi-
tas vel perplexum, utaris exemplo, quod de ansa positum est in iure: Ansa
est quedam subtilis ac difficilis ligatura, cui etiam nodus fere quasi unum
artificialiter sie adheret; unde dictum est, scilicet in capitulo ' T a l i
o l i m ' : Dum enim ansam solvimus, nodum videmur forcius ligavisse"";
unde versus:
Cum sim perplexus interque duo mala nexus,
Ut vitem peius, positivum labor in eius
Sic etiam tui amoris perplexitate ac laqueo et nodo et ansa tue dilec-
cionis quasi in laborinto laborans videor irretitus, quod nunc ex intimis
visceribus, virgo decens ac dulcissima feminarum, super me misericorditer
tuam peto ut moneat pietatem, quia tui amoris gratia dolorum sarcinis
angariatus graviter nunc subsisto et laborum oneribus infinitis. Ideo tu
»» Kaum aus Vergils Georgica, eher Pamphilus 71; W a l t h e r Nr. 13 363.
"" Dekretalen Gregors 5,40,24 ( F r i e d b e r g Sp. 921); das Zitat stammt
ursprünglidi aus dem 2. Buch von Gregors d. Gr. Moralia in lob (Migne, PL 75,
556) und wird audi bei Johannes von Genua, Catholicon, s. v. ansa angeführt.
Das Initium des Kapitels in den Dekretalen lautet riditig: Cum olim.
W a i t h e r Nr. 4423.
262 Gabriel Silagi

pia super me doleas nunc materne ac tue consolacionis uberibus me


letifices adamando, et tue benignitatis gremio, amantissima mi matrona,
cum festinancia virtuose me confove ac cum gaudio amorose
[51] Sane cum etiam tu sis meus preciosissimus iam thesaurus, ideo
cor meum non incongruumo tecum manet.
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[52] Ceterum vero cum prothoplastus homo Adam considerando plu-


rimum miraretur prime mulieris puldiritudinem ac sue socie venustatem
necnon in eius corpore specioso amatoris palacium, quasi omnibus con-
gaudendo dixit, dum cerneret, prophetando: Propter hoc relinquet homo
patrem et matrem et adherebit concubine sue et erunt duo in came
una etc. Item P a u l u s : Unusquisque suam habeat propter fornica-
cionis i n m u n d i c i a m I t e m P a u l u s : Melius est nubere quam uri
Item Paulus in Grecia sacerdotibus singulis ac universis concessit habere
unicuique suam scilicet specialem Item P a u l u s : Humanum [fol. 86^]
dico propter infirmitatem c a m i s I t e m S c r i p t u r a : Quod deus
coniunxit, homo non separet'". Ad idem O v i d i u s in libro De arte
amandi:
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Ales habet, quod amet; cum quo sua gaudia iungat,


Cerva parem sequitur, serpens serpente tenetur
Item a r t i s t a i n l o y c a : Tali additum tale magis fit t a l e U n d e
a u c t o r in T h o b i a :
Consonat et redolet melius iunctura bonorum,
Gracior est flos cum flore, colore color"".
Hiis denique dictis te rogo ut gaudeas, quia
Spiritus exultans facit, ut tua floreat etas,
Turbidus et tristis ad mortis currere metas
[53] Item te rogo, feminarum dilectissima, quia femina a fernen est
dicta'^', quod est mollicies femoris, ut presenciam tue gloriose ac ele-
gantis persone in brevi mihi ne differas amicabiliter demonstrare. Item,
virgo speciosa, tibi supplico, ut de tuo adventu desiderabili, ubicumque
locorum possumus d a m et amicabiliter convenire, mihi aliqua iocunda
scriptis vel dictis demandare studeas.
[54] Quod si illa effectui per te studiose fuerint mancipata, omnis circa
te sollicitudo et cura necnon omnis promocionis tue causa, quamdiu hic
humana fungor vita, per me nullatenus argumentosa fide pro tota possibi-

Gen. 2,24. 1. Cor. 7,2. 1. Cor. 7,9.


Vgl. 1. Tim. 7,12. »»• Rom. 6,19. Matth. 19,6.
Ovid, Ars amandi 2,481 und 483.
Sententiae philosophicae ex Aristotele collectae, Migne, PL 90, 1050.
"» Tobias 127 f.; W a l t h e r Nr. 3199.
W a l t h e r Nr. 30 235 (Vers. 2: Triste cor ad mortis te cogit currere
metas). Vgl. Papias s. v. femina.
Ein pedantischer Liebesbrief aus dem 14. Jahrhundert 263

litate mea, sicut ijpse novit deus, et per intencionis mee integritatem, quia:
Quidquid agunt homines, intencio iudicat omnes
revera et ut premissum est secundum fidei mee argumentum, omne, quod
tibi promisi vel promitto, iurata certitudine non peribit. Vale, vale, vale,
mi dilectissimaP.
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W a i t h e r Nr. 25260.

Apparat

Clm 22 300, fol. 77^ In 2 Spalten geschrieben, über der 2. Spalte von neuzeit-
licher Hand: Priamel. Die zahlreichen Unterstreichungen, ebenfalls von jüngerer
Hand, sind nidit berüdisiditigt. Die ^-Zeichen der Hs. wurden durdt fortlau-
fende Zählung der Absätze ersetzt. Die Orthographie der Hs. ist beibehalten,
nur die Schreibung von u, v und w normalisiert. Die — in der Hs. unregelmäßig
gesetzten — Hinweise ver(sus) wurden weggelassen, stattdessen die Verse durA
Einrückung hervorgehoben.
For personal use only.

.
a Initiale S über zwei Zeilen b korr. aus at, u übergesdir. Hs. c hier
und im folgenden quod Hs. d korr. aus dona, do übergesdir. Hs. e viridis
Hs. f eingefügt g opido Hs. h tm statt tn gekürzt h' e grege Hs. i exi-
giente Hs. j vicissitudine Hs. k Jignis solet Hs. Verlesung einer -us
Endung: (9) zu -et: (3)? Oder ist signis solis zu lesen? 1 korr. aus digneris,
de übergesihr. Hs. m tuo tuo Hs. n Tydonis Hs. o palestia Hs. Ist
palatia gemeint? p semivilia Hs. q equiperacionem Hs. r physophica
Hs. s percellere Hs. t gratiam Hs. . u korr. aus ctero, e übergesdir.
Hs. • V recognoscant, Haken über erstem^o Hs. w pensent Hs. x per
te {oder parte) Hs. y über defCm nodi^ein e geschr. Hs. z modum Hs.
[26-42]
a absencia Hs. b cruciare Hs. c in al actione Hs. d demonstras
Hs. e venea Hs. f potestatem Hs. g quendam Hs. h amori Hs. i sed
Hs. j über geschr. j ' mineris Hs. k habundas Hs. 1 sangis, Haken über
dem i Hs. m hinter tibi nodi radiertes cave erkennbar n mare Hs. o viri-
tatem Hs. p ipsius Hs. p' exultando Hs. q hinter amena durdi Unter-
pungieren und Durdistreidien lux getilgt r perfidia Hs. s inusitas repe-
riris Hs. t intimarem Hs. f lascivium Hs. u concupiscibili Hs. v am
Rand Nota-Zeicfeera w me Hs. x extinguenda Hs. y korr. aus basili-
cum, s übergesdir. Hs. z am Rand Nota-Zeidien
\43—54\
a precellat Hs. b in sua potestate wiederholt Hs. c nature durdi Unter-
iungieren getilgt c' innocenter Hs. d am Rand "Nota-Zeichen e fidos
.1s. f am Rand Nota-Zeidien g ttiam-Zeichen Hs. h sit includendus
Hs. i ^deamodo Hs.; möglicherweise ist ergo de amodo zu lesen i' nach
Linceus: pro lincis, (Glosse) Hs. j repecio Hs. k am Rand Nota-Z«-
dien 1 viderem Hs. m palpale Hs. n amarose Hs. o incongruem
Hs. p Explicit liber ad dilectam. / Fides est sperandarum substancia rerum.
{Hebr. 11,1) / Qui me scribebat, Chunr(adus) nomen habebat. / Finivi librum
totum sine manibus istum. (FgZ. W. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittel-
alter, »1896, Nadidr. 1958, S. 509)
fi Ardiiv für Kulturgesctidite 51/2
Agrippa von Nettesheim in den neueren kritischen
Studien und in den Handschriften
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von Paola Zamb elli

Daß das Werk des Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim


(1486—1535) ohne Zögern in den Themenbereidi des Arbeitskreises für
Humanismusforsdiungen einbezogen wird', ist für den Forscher, der sich
seit geraumer Zeit mit diesem Werk beschäftigt, interessant und auf-
schlußreich zugleich. Einerseits lassen sich daran die Aktualität und das
Interesse ablesen, das dieser Denker der Lutherzeit in den letzten Jahren
gefunden hat, und andererseits kommt darin die Tendenz zum Ausdruck,
eine bejahende Antwort auf eine kritische Frage zu geben, die bei den
neueren Interpreten Agrippas (oder anderer „mutmaßlicher Humanisten",
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wie etwa Coluccio Salutati oder Giovanni Pico) lebhaft umstritten scheint.
Was die Aktualität des neuerlich für Agrippa erwachten Interesses an-
geht, mag der Hinweis genügen, daß man noch bis vor fünf Jahren
hätte feststellen müssen, daß nach der Biographie Joseph Morleys und
der als Dokumentation zwar soliden, unter kritischem Aspekt inzwischen
jedoch veralteten Monographie von Auguste Prost ^ nur wenige Einzel-
untersuchungen erschienen waren. Noch 1964 nahm George H. Daniels
Jr., der dem bekannten Problem „Knowledge and Faith in the Thought
of Cornelius Agrippa" einen Aufsatz gewidmet hatte®, unvorsichtiger-
weise an, er könnte sich auf die romanhafte Rekonstruktion Morleys
stützen. Gleichwohl kannte und zitierte er bereits einen der Aufsätze^,

' Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der auf der Tagung des
Arbeitskreises für Humanismusforschungen am 11./12. März 1969 im Germani-
schen Nationalmuseum gehalten wurde. Für die Übertragung ins Deutsche möchte
ich an dieser Stelle Herrn Dr. Willi Hirdt danken.
^ Henry M o r 1 e y , Cornelius Agrippa: The Life of Henry Cornelius Agrippa
von Nettesheim, Doctor and Knight, Commonly known as a Magician (London
1856, 2 Bde.); Auguste P r o s t , Les sciences et les arts occultes au XVI« si^cle.
Corneille Agrippa, sa vie et ses oeuvres (2 Bde., Paris 1881/82; Nachdruck B.
De Graaf, Nieuwkoop 1965).
3 Bibliothique d'Humanisme et Renaissance 26 (1964), S. 326—340; vgl. be-
sonders S. 328, Anm. 1. — Vgl. auch H. B u l l o t t a B a r r a c c o , Saggio bio-
hibliografico su E. C. Agrippa di Nettesheim, Rassegna di iilosofia 6 (1957),
S. 222—248.
* Magic and Scepticism in Agrippa's Thought, Journal of the History of
Ideas 18 (1957), S. 161—182. Dann: Agrippa in Renaissance Italy: the Esoteric
Tradition, Studies in the Renaissance 6 (1959), S. 195—222. Dieser Aufsatz
Agrippa von Nettesheim 265

die sein amerikanisdier Landsmann Charles G. Nauert seinem dann


Ende 1965 publizierten Budi voraussdiidcte, das die erwähnten Mono-
graphien zu ersetzen bestrebt ist. Neben dem neuen, eine Gesamtsdiau
vermittelnden Budi Nauerts, „Agrippa and the Crisis of Renaissance
T h o u g h t " s i n d eine Reihe weiterer Beiträge zu nennen: einige sehr
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speziell, aber ausgezeichnet wie der Aufsatz K. G. Fellerers über „Agrippa


von Nettesheim und die Musik" andere eher kurios und der zur Debatte
stehenden historischen Problematik weitgehend fremd, wie der Aufsatz
von Francis R. le P. Warner, „Das Gedankengebäude des Agrippa von
N e t t e s h e i m " u n d die Anthologie, die W . Sdirödter 1967 mit einer Ein-
führung und einem Kommentar herausbrachte, die von „okkultistischen"
Kriterien inspiriert s i n d M i t t l e r w e i l e ist Agrippa ein Thema geworden,
das sowohl auf medizin-geschiditlidien Kongressen als audi den ,Stages'
auftauAt, die das Centre d'Etudes Superieures de la Renaissance (in
Tours) über die Ursprünge der modernen Wissenschaft veranstaltet'.
Wert schließlich, Gegenstand eingehender Erörterung zu sein, sind neben
dem erwähnten Budi Nauerts und über einige Seiten L. Thomdikes,
E. Garins, F. Yates', D. P. Walkers sowie F. Secrets hinaus" die kleine
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benutzt und erörtert meine Ausgabe und Studie des unveröffentliditen 'Dialogus
de homine' von Agrippa; vgl. in Rivista critica di storia della filosofia 13 (1958),
S. 47—71.
® Charles G. N a u e r t Jr., Agrippa and the Crisis of Renaissance Thought
(University of Illinois Press, Urbana 1965; Illinois Studies in the Social Sciences
55), S. VI, 374. Dieses Buch übernimmt fast ohne Veränderung in den Kapiteln
VIII und II die beiden oben erwähnten Aufsätze.
' Ardiiv für Musikwisssensdiaft 16 (1959), S. 77—86.
^ Antaios 5 (1963), hrsg. von M. E1 i a d e und E. J u n g e r.
' Agrippa von Nettesheim, De occulta philosophia. Auswahl mit Einführung
und Kommentar von Willy S c h r ö d t e r (Remagen 1967), S. 168.
• Vgl. G. R u d o l p h , De incertitudine et vanitate scientiarum. Das Urteil
über die Zuverlässigkeit der Wissensdiaften, von Agrippa von Nettesheim bis
zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: XIX. Internationaler Kongreß der Ge-
sdiidite der Medizin (Basel-New York 1964), S. 573—580. Auf einer kürzlidi
abgehaltenen Veranstaltung des CESR in Tours (1965) hat der Marburger Uni-
versitätslehrer S c h m i t z zwei Vorträge über Agrippa in der Geschichte der
Pharmazeutik gehalten, die nodi nicht veröffentlidit sind. — Vgl. darüber hin-
aus — auf eher anekdotischem Niveau — M. S e n d r a i l , Le mage errant,
Corneille Agrippa, in: Table ronde, n. 224 (1966), S. 18—37.
" L. T h o r n d i k e , History of Magic and experimental Science 5 (Columbia
U.P., New York 1941), S. 127—138; E. G a r i n , Medioevo e Rinascimento
(Bari 1954), S. 150—191; D. P. W a l k e r , Spiritual and Demonic Magic from
Ficino to Campanella (London 1958), S. 90—96 et passim; F. Y a t e s , Giordano
Bruno and the Hermetic Tradition (London 1964), S. 130—143 et passim; D e r s . ,
The Art of Memory (London 1966), S. 157 f., 206 f., 214 f.; F. S e c r e t , Les Kab-
balistes dirdtiens de la Renaissance (Paris 1964), S. 157. Für die Neubetonung der
Problematik Magie-Religiosität im Falle Agrippas und der Luther-Epoche ganz
allgemein waren besonders wichtig die Büdier von D. P. W a l k e r und F.
Y a t e s . Nauert folgt dem Ansatz des ersteren, dessen Standpunkt auch ich teile;

266 Paola Zambelli

Abhandlung von H. F. W . Kuhlow und der gewidbtige, höchst kostbare


Band der von K. A. Nowotny besorgten Ausgabe des definitiven Textes
(1533) von ,De occulta philosophia'
Idi will diesen Vortrag nidit mit einem Exkurs beginnen, der Sie be-
fürchten ließe, einer „bibliographischen Übersciau" beiwohnen zu müs-
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sen, die eine Vorausbilanz meiner eigenen Untersuchungen ersetzen soll.


Ein solcher Exkurs erübrigt sich auch deswegen, weil die Themen
Agrippas selbst unser roter Faden sein und uns hin imd wieder die kri-
tischen Thesen der verschiedenen Forscher vor Augen führen werden.
Im Augenblick möchte ich nur — scherzhaft — feststellen, daß Sie zu-
mindest in einer Hinsicht die richtige Wahl trafen, als Sie anstatt Ch.
Nauert mich einluden: Denn tatsächlich hätte er nicht in gutem Glauben
akzeptieren können, Agrippa unter dem Aspekt der Humanismus-
forschung zu betrachten; hat er doch nachdrücklichst erklärt, Agrippa stehe
für ihn außerhalb einer solchen Strömung und Konzeption. Indem er eines
der Leitmotive seiner Interpretation aufgreift, die die „skeptische" Aus-
richtung der berühmten ,De vanitate scientiarum declamatio invectiva'
als eine Form von „intellektueller Anarchie" zu definieren sucht, hebt
For personal use only.

Nauert in der Tat hervor'', daß „Agrippa trotz seiner umfassenden,


allgemeinen Vertrautheit mit der klassischen Literatur und den Schriften
so moderner Autoren wie Petrarca, Valla, Ficino und Pico kein Humanist
war, auch nicht im weitesten Sinne des Wortes. [Agrippa] war der Auf-
fassung, daß das Römische Recht von mittelalterlichen Zuwüchsen ge-
säubert werden sollte, und spornte seine Schüler zum Studium der antiken
Literatur an; weiter pries er das Studium der Sprachen und kritisierte
die terminologischen Barbarismen der scholastischen Philosophen. Jedoch
wies ihm keiner dieser humanistischen Züge einen Ausweg aus der in-
tellektuellen Anarchie, die er geschaffen hatte. Wenn er die Idee einer
dreisprachigen Bildung — nämlich Latein, Griechisch, Hebräisch —

er hat jedoch nicht die Bücher und vorhergehenden Aufsätze von F. Y a t e s


herangezogen.
'' H. F. W. K u h l o w , Die Imitatio Christi und ihre kosmologisihe Über-
fremdung. Die theologischen Grundgedanken des Agrippa von Nettesheim
(Berlin u. Hamburg 1967), S. III.
H. Cornelius Agrippa ab Nettesheim, De occulta philosophia, hrsg. u.
erl. von Karl Anton N o w o t n y (Graz 1967), S. 914. Es handelt sidi hierbei
um die anastatisdie Wiedergabe der ersten vollständigen, vom Autor besorgten
Ausgabe, o.O. [Köln] 1533, mit Einleitung (S. 387—413), Erläuterungen (S.
415—458), Bibliographie (S. 460—466) und 29 Appendices (S. 519-914),_ die
aus Bildmaterial, Quellen oder parallelen Dokumenten bestehen, welche häufig
photographisch reproduziert sind. Die Methode, die N o w o t n y in seiner überaus
reichen Sammlung anwendet, ist anthropologisch orientiert; die Ergebnisse jedoch
sind oft auch aus historischer Sicht sehr wertvoll.
N a u e r t , Agrippa and the Crisis (s. Anm. 5), S. 304.
Agrippa von Nettesheim 267

hodihielt, so bezog sidi das aussdiließlidi auf den Zwedc des Bibel-
studiums. Wenn er das Studium antiker Autoren empfahl, so nidit aus
der Überzeugung heraus, daß irgendeine antike Philosophensdiule im-
stande wäre, ein System von großem Wert zu liefern, und fast immer
gesdiah es mit dem mahnenden Hinweis auf den größeren Wert des
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Studiums der Heiligen Sdirift. Wenn er selbst begierig die alten Texte
studierte, so tat er das in dem Glauben, daß sie eine geheime Offen-
barung Gottes für den Menschen bargen. Darüber hinaus hielt der ältere
Agrippa — zusätzlich zu seiner wachsenden Enttäuschung in bezug auf
hermetische und kabbalistische Schriften als Quellen göttlicher Offen-
barung — die schärfsten Pfeile für diejenigen bereit, die den Wert
schöngeistiger Literatur vertraten. Er klagte einige hochmütige Gelehrte
an, die Bibel wegen ihres Mangels an literarischer Ornamentik zu miß-
achten. Der Grammatik stritt er jegliche Gültigkeit ab, da sie mehr auf
gewohnheitsmäßigem Gebrauch denn auf Vernunft gründe; und er ver-
wies auf die Tendenz aller Grammatiker zur Überkritik." Und führte
er in diesem wie in anderen Kapiteln von ,De vanitate' über die
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Predigtkünste „nicht ebenso harte Schläge gegen die Humanisten wie


gegen die Scholastiker? Er konzentrierte sich mehr auf letztere, weil
er in ihnen die dringlichere Gefahr sah, ließ die humanistischen Studien
und ihre Vertreter jedoch keinesfalls unangefochten."
Diese Interpretationshypothese durchzieht das Buch Nauerts. Der
Autor sieht in den überreichen und wichtigen Studien- und Reise-
Erfahrungen Agrippas „nur die Anfänge eines ständig bewegten Lebens,
das von der Suche nach reichen und mächtigen Mäzenen bestimmt i s t " ! "
Und dies angesichts der Tatsache, daß Agrippa seine Erfahrungen auf
Reisen gewann, die ihn — gewiß nicht zufällig — in die größten Kultur-
zentren seiner Zeit führten, besonders in jene Städte, wo die humanisti-
sche Kultur blühte— das Paris eines J. Lefevre d'Etaples und Charles de
Bouelles, das London eines John Colet, das „lullianiscäie" und vom
Kardinal Cisneros reformierte Spanien, das in vielen Jahren vollständig
bereiste und unter vielen Aspekten erlebte Italien, den französischen Hof
zu Lyon in der Zeit Margueritas von Navarra, Burgund und dann
Brüssel, Antwerpen und Mechelen unter der Herrschaft der großen
Margarethe von Österreich. Um die Kenntnis zu erklären, die Agrippa
bereits 1510 bezüglich einer Reihe neuplatonischer Themen und Texte
aufweist, äußert Nauert andererseits die Vermutung, Agrippa habe sie
aus zweiter Hand erworben, und zwar vermittels des Zeugnisses und
der Erörterungen patristischer (besonders Augustinus) und scholastischer
Autoren (Albertus, Thomas und Duns Scotus). Nur so „könne sein Ver-
" Ebenda S. 33.
268 Paola Zambelli

trautsein mit den Neuplatonikern einen so frühzeitigen Beginn gefunden


h a b e n " D e r Italienaufenthalt im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahr-
hunderts habe Agrippa dann gestattet, mit den Übersetzungen und
Kommentaren Marsilio Ficinos und der Philosophie Picos in Berührung
zu kommen. Ergebnis dieser Vertiefung der spekulativen und mystischen
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Erfahrung des Hermetismus und Neuplatonismus sei (unter dem Einfluß,


wie fast bis zum Überdruß betont wird, der Reformation und mehr nodi
der persönlidien Enttäuschung am Hof) in ,De vanitate' „der bemerkens-
werte Ausdruck der antirationalistischen und antihumanistischen Strö-
mung", die der von Nauert übernommenen historiographischen These
H. Haydns zufolge ein so entscheidendes Gewicht im Denken dieser
Zeit gehabt haben soll. Wollte man weiter der Annäherung folgen, die
Nauert nachdrücklich zwischen ,De vanitate' und der Schrift ,De vera
philosophia' des Kardinals Adriano Castellesi da Corneto vornimmt —
beides Dokumente „einer allgemein feindlichen Haltung der mensch-
lichen Wissenschaft gegenüber" " —, so ginge das Werk Agrippas der
humanistischen Erfahrung gewissermaßen voraus und wäre ihr fremd.
Ich möchte nicht länger bei den einzelnen Thesen dieser Monographie
For personal use only.

verweilen, über die Otto Herding umfassend berichtet und ein ab-
gewogenes Urteil gefällt hat^'. Die Ausführungen Nauerts dienen mir
nur als Anlaß für die Erklärung, daß ich, im Gegensatz zu ihm, Agrippa
in jeder Hinsicht als einen Humanisten ansehe. Es versteht sich, daß weder
hier noch in Nauerts Buch (wenngleich es von den Auffassungen Bowsmas
imd Kristellers inspiriert ist) die enge Definition angenommen wird,
die letzterer und A. Campana für den Humanisten als „Grammatiker und
Spezialist im Studium klassischer Manuskripte und Texte" vorschlagen".
Diese Definition, die einer technizistischen (logisch-metaphysischen) Kon-
zeption der Philosophie entspricht, würde offensichtlidi die Mehrzahl der
bedeutendsten Vertreter des Humanismus nicht mit einbeziehen. Akzep-
tiert man hingegen die weiter gefaßte Begriffsbestimmung, auf die auch
Nauert sich bezieht, so gibt es zahlreiche biographische und kulturelle
Züge, die gestatten, Agrippa mit einzuschließen. Typisch für viele dem

" Ebenda S. 121; vgl. audi S. 137.


" Ebenda S. 148; vgl. H. H a y d n , The Counter-Renaissance (New York
1950), Kap. II.
" O. H e r d i n g , Zeitsdirift für deutsdie Altertum 105 (1966), S. 132—135;
vgl. auch die Besprechungen von F. Y a t e s in The New York Review of Books
(3. März 1966), L. S p i t z , Journal of the History of Ideas 27 (1966), S. 464—
469 und G. S c h m i t t , Journal of the History of Philosophy 5 (1967), S. 86—88.
" F. 0 . K r i s t e l l e r , Humanism and Scolasticism in Italian Renaissance,
Byzantion 17 (1944/45), S. 346—374; wieder abgedrudct in seinen Studies in
Renaissance Thought and Letters (Rom 1956), S. 553—583. — A. G a m p a n a ,
The Origin of the Word 'Humanist', Journal of the Warburg and Gourtauld
Institute 9 (1946), S. 60—73.
Agrippa von Nettesheim 269

Neuen gegenüber aufgeschlossene Intellektuelle sind in erster Linie die


Reisen, die bezeidinenderweise den bedeutenden Stätten des Humanis-
mus gelten, sowie die Bemühung um eine bestimmte Art von Ämtern —
so Beamter und (über den Soldaten hinaus) Diplomat zur Verfügung
Kaiser Maximillians, syndacus et orator der Stadt Metz, Höfling bei
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Luise von Savoyen, Gesdiiditssdireiber und Kaiserlicher Rat der Mar-


gerethe von österreidi. Um dem Möndisgelübde und einer Laufbahn in
den traditionellen Universitäten zu entgehen und audi um die übliche
peregrinatio studiorum mittelalterlicher Kleriker zu vermeiden, die noch
zu Ausgang des 15. Jahrhunderts praktiziert wurde, erstrebten diese
Intellektuellen eine moderne soziale Rolle entweder als „Syndacus"
oder Kanzler — wie etwa die Florentiner Humanisten — bzw. als Pro-
pagandisten und Gelehrte der Höfe. Im übrigen war die Kultur Agrippas
seit seiner frühen Jugend die eines Humanisten, dessen Bildung sich auf
der Grundlage der klassischen Poesie und Prosa vollzogen hat. Die erste
Niederschrift von ,De occulta philosophia', die er im Alter von vierund-
zwanzig Jahren vollendete, stellt seine Beherrschung solcher Texte unter
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Beweis und zeigt sein Interesse für sie, wie auch Nauert zugesteht".
Auf welche Weise es für einen Jüngling, der mit Repräsentanten der
neuen deutschen Humanistenkultur in Verbindung trat, möglich war,
vor diesem Zeitpunkt in Köln zu einer solchen Bildung heranzureifen,
ist übrigens offenkundig: Agrippa ist Schüler von Andrea und Jacobus
Ganter, deren vielschichtige und interessante Persönlichkeiten Nauert
(und andere Historiker) nicht analysieren. Andrea war in Köln als Er-
neuerer der lateinischen Sprache und als Lullianer bekannt; Jacobus gab
das ,Secretum' Petrarcas sowie die ,Astronomie' von Guido Bonatti heraus
und verfaßte einen humanistischen, evangelischen Kommentar zu Texten
der Virgil-Tradition, aber seine Leidenschaft war die Lullianische Kom-
binatorik ^^ Agrippa ist Freund des Hermann von Neuenahr, des Johan-

'' Diese Beobachtung hatte idi in der Einleitung zum 'Dialogus de homine'
(vgl. Anm. 4) auf S. 55 dargelegt; N a u e r t erörtert sie in Agrippa and the
Crisis . . . , Kap. VI.
Agrippa erwähnt die Gebrüder Ganter in der Epistola Joanni Laurentino
Lugdunensi, die den Commentaria in R. Lullum vorangestellt ist: Opera (Lyon
s. a.), II, S. 333 f., 415. Zu den Werken der Ganters (Johannes, geb. 1440, Vater
mehrerer berühmter Gelehrter, unter denen Andrea, geb. 1463, und Jacobus, geb.
etwa 1471, eine besondere Stellung einnehmen) vgl. H. D e V o c h t , History of
the Gollegium Trilingue Lovaniense (Louvain 1951—55), I, S. 131, 135 und die
dort aufgeführte Bibliographie. Über die Unterrichtsform des Lateinischen, die
in Köln nadi 1487 von Andrea durchgeführt wurde, vgl. J. J a n s e n n , L'Alle-
magne ä la fin du Moyen Age (Paris 1887), S. 77, und G. K r a f f t , Mittheilungen
aus der Matrikel, Zeitsdirift für Preußische Gesdiichte 5 (1868), S. 468 f. — Zu
Jacobus vgl. einen Beleg (Ubbo Emmius), den B. R y b a in der Einführung zu
seiner Ausgabe des "Rosa Rosensis' von Jacobus bringt: Homo notae impietatis
atque omnis religionis derisor, evangelium de Christo, vitam alteram, corporum
270 Paola Zambelli

nes Caesarius und einer Reihe anderer Humanisten, die er 1520 und
1533 bewundernd zitiert und dem verkalkten, nunmehr gemiedenen
Lehrbetrieb der Universitätsfakultäten entgegenhält''. Es ist nidit not-
ressurrectionem in anilibus fabulis habens, eorum, qui secus crederent stultitiam
scommatis insectans, denique etiam nunc eruditarum litterarum quam bonorum
ac honestorum morum fama apud posteros notior. Die von Jacobus Ganter
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gedrudcten Werke zeigen diesen Zug zur Irreligiosität nidit. Vgl. das Opusculum
vitae et passionis Christi eiusque genitricis Mariae ex revelationibus beatae Bri-
gittae compilatum, et compendiosa legenda eiusdem (Antverpiae 1489), Bl. Iv:
Legant alii sive litteras saeculares, alii sybillas cumanas aut erythraeam laudent.
Tu, Birgittam hanc sybillam haheto atque eius revelationes sedula legito...
Andererseits erblidcte er in Petrarca nicht nur ein stilistisdies, sondern audi ein
moralisdies Vorbild: F. Petrardia, De secreto conflictu curarum suarum (Daven-
triae 1498), Bl. Iv: Est namque in eis quod ad vitam prosit, est etiam quod ad
orationem... ei plurima gratia dehetur qui rem ad ima prope fundamenta
collapsam diligentia sua instauravit. Jacobus Canter war ebenso mit K. Celtis
befreundet (vgl. C e l t i s , Briefwedisel, hrsg. H. R u p p r i c h , Mündien 1934,
S. 79, 309) wie sein Vater Johann mit Trithemius verbunden war. Das Vorwort
zum Werk Bonattis bezeugt Jacobus Glauben an die zukunftsdeutende Fähig-
keit der Astrologie.
" A g r i p p a (Epistolae, II, 60) an Johannes Caesarius aus Köln, 1520 (in
Opera..., II, S. 778 f.): Intellexi hoc mane, colendissime Caesar, quam nequiter
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a Coloniensibus magistris nostris traductus fueris... Quid enim potuit tibi


contingere illustrius, quam ab Ulis vituperari, a quibus non nisi optimi et
doctissimi quique semper odio habiti sunt? quorum calculo te adnumerari profecto
non mediocris gloria. Quis enim ignorat, hos esse illos magistros, qui Joannem
Campanum, insigni doctrina et virtute virum, sdiolis secluserunt? qui Petrum
Ravennatem, celeberrimum juris doctorem, urbe exegerunt? qui Hermannum
comitem Nuenarium, eruditissimum virum, nequissimis calumniis in tergo
prosciderunt? qui Erasmum Roterdamum, virum et vita et doctrina omnium
exceptione maiorem, qui Jacobum Fabrum Stapulensem, unicum peripateticae
philosophiae reparatorem, insuper mathematicarum humanarumque quarum-
cunque et divinarum litterarum eruditissimum, suis sordibus asperserunt? Sed
adversum Joannem Capnionem Phorcensem, iurisconsultum clarissimum et
arcanarum litterarum variarumque linguarum peritissimum, tam pertinacissime
pugnarunt, donec omnis eorum doctrina, fides, fama, autoritas simul perpetuum
naufragium fecerunt, cum vulgatissima per universum orbem eorum inscitiae,
ignominiae, perfidiae, falsitatisque infamia facta est. Vgl. audi Epistola, VII,
26, Coloniae Senatoribus et consulibus, ex Bonna, undecimo Januarii, anno 1531
(in Opera... II, S. 1034 f.) sowie Apologia (ib. S. 278), Quaerela (ib. S. 453 f.)
und De beatissimae Annae monogamia (ib.). Die Wichtigkeit der von Agrippa
erwähnten Polemiken, die im Streit über die hebräisdien Büdier gipfeln, wird
von Reudilin selber bestätigt, zumindest im Falle des Pietro di Ravenna (über
den Aufenthalt Pietros in Köln im Jahre 1507 vgl. K r a f f t - G r e c e l i u s ,
Zeitschrift für den Bergisdien Gesdiiditsverein 7 (1871), S. 253): Vgl. die
Epistola Joannis Reuchlini Phorcensis LL. Doctoris Jacobo Fabro Stapulensi,
ex Stutgardia Sueviae, ad circiter pridie Kai. Sept. A. 1513, i n H e r m i n j a r d ,
Correspondence des r^formateurs (Genf u. Paris 1866), I, S. 11 f.: Ea contagio
coepit in Agrippina Colonia, ubi est quaedam hominum species inhumanissi-
morum: Theologi vocantur. Neminem doctum extra se putant, et Ecclesiae sibi
videntur columnae esse. Ab his cum multi ante haec tempora, tum proximis annis
lumen quoddam juris Petrus Ravennas, ignavissime taxatus est; lacessiti sunt
deinde ab eius ordinis quibusdam jurisconsulti quamplures, et tum omnes
poetae. Demum ad me ventum est, prorsus innocentem hominem, ut nomini meo
et bonae famae sordes aspergerent.
Agrippa von Nettesheim 271

wendig, stärker zu betonen, wie verbreitet in diesem Umkreis die Werke


Picos und Ficinos zirkulierten: Audi im traditionsgebundensten Bereidi
der Beziehungen des jungen Agrippa, d. h. jenes monastisdien Humanis-
mus, dem Johannes Trithemius und sein Bewunderer Johannes Butzbach
angehören, ist in jenen Jahren den Zitaten der beiden Florentiner
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Philosophen freier Lauf gelassen ^^ Überflüssig auch, an die seit geraumer

' ' Idi hoffe, demnädist eine Untersudiung über die „okkulte Philosophie" des
Trithemius vorlegen zu können, über seine Kenntnis gewisser Themen des
Florentinisdien Piatonismus und der französischen Vorreformation sowie über
seine persönlichen Verbindungen mit Germain de Ganay und Charles de Bouel-
les; trotz der verlodcenden Verfügbarkeit von Dokumenten sdieint eine soldie
Studie noch nidit unternommen worden zu sein. Einige Hinweise finden sich bei
L. W. S p i t z , The Religious Renaissance of the German Humanists (Cam-
bridge Mass. 1963), S. 13, 93 f., 163 und The "theologia platonica' in the
Religious Thought of the German Humanists, in: Middle Ages — Renaissance
Volkskunde. Festsdirift J. G. Kunstmann (University of North Carolina Studics
in the Germanic Languages, no. 26, 1959), S. 118—133. Bisher scheinen die
Historiker von einer solchen Untersudiung durch die Schwierigkeit abgehalten
worden zu sein, die die Würdigung seiner magischen Werke bietet, welche we-
niger bekannt sind als seine religiösen und historisdi-gelehrten Werke: neben
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dem 1508 für Kaiser Maximilian geschriebenen "De Septem secundeis', dem
'Liber VIII Quaestionum', dem 'Antipalus Maleficiorum', der 'Polygraphia' und
der 'Steganographia' (die ihm durch Bouelles den Vorwurf der Seiwarzkunst
einbrachte) sind für das Verständnis seines Denkens die magischen Manuskripte
seines Lehrers Libanius Gallus nützlich, der angeblich Schüler eines auf Mallorca
lebenden Einsiedlers angelsädisischer Herkunft war, eines gewissen Pelagio (in
diesem Zusammenhang danke ich F. Secret für einige wertvolle Hinweise, die
ich bei meiner Untersuchung dieses Materials verwenden werde). Sehr nützlich
sind auch die Apologien, die Butzbach zur Verteidigung des Trithemius sdirieb,
nachdem dieser auf die Beschuldigungen hin die Abtei von Sponheim verloren
hatte; aus diesen Sdiriften des höchst bescheidenen Mönchs geht die Kenntnis
etwa der Werke Picos hervor. Bereits H. F e r t i g , Neues aus dem literarischen
Nachlaß des Humanisten J. Butzbadi (Würzburg 1907), S. 70, hatte als stilistische
Vorbilder der 'Apologia ad Johannem Tritemium de lucubratiunculis suis"
(208r und 218^-*), die von ihm veröffentlicht wurde, den Brief Giovanni Picos
an Cortesi und einen Brief von Gianfrancesco sowie Beroaldo, A. Campano und
Battista Mantovano angegeben. Bedeutsamer scheint mir der Bezug, den Butzbach
im 'Macrostroma de laudibus Trithemianis et commendatione philosophica
adversus zoilos et Trithemiomastigas 11. XVP (Ms. Bonn S. 357, f. 91'—92-»^,
93r; S. 358, f. 4"') auf die 'Apologia' und auch die 'Disputationes adversus Astro-
logos' von Pico nimmt. Diese Hinweise auf Pico sind einbezogen, um mit
Nachdruck das gewohnte apologetische Thema der Unterscheidung zwischen
natürlicher und dämonischer Magie zu behandeln, und zwar im Hinblick auf die
Zensoren non intelligentes, nec intelligere volentes eum [Trithemium] de naturali
magia ibi agere, quam non parva intersticio, sicut et doctissimus ille Picus
dudum ab impia et scelesta differre, separari fortissimis rationibus et multorum
testimonio elegantissime edocet. Kam duplicem esse magiam nemo qui ipsius
Pici Apologiam legerit inficiabitur (f. 91'). — Was die platonisdi-florentischen
Lektüren des Trithemius anbelangt, vgl. seine Epistolae (Hagenau 1536), I, 47,
S. 117, wo 1505 Jamblich, Proklos, Porphyrio und Sinesius Erwähnung finden;
cf. au(h I, 48, S. 118 — aus dem Jahre 1505 — wo er Jamblich an Proklos und
den Pseudo-Dionysos annähert (lamblidium... dum lege una cum Proclo suo
conphilosopho profundiusque intueor, non eos sed Ariopagitam Dionysium me
272 Paola Zambelli

Zeit von der Forschung registrierten Italienerfahrungen Rudolf Agri-


colas und an Picos Einfluß auf den jungen Erasmus und Zwingli zu er-
innern". All dies madit die Annahme Nauerts abwegig, daß das Vor-
handensein neuplatonisdier und hermetischer Texte — das in vielen
anderen Fällen als sidieres Indiz für das Interesse am florentinisdien
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Piatonismus gilt — im Falle Agrippas eine späte Wiederholung des mit-


telalterlidien Hermetismus darstelle. Eine aufmerksame Betrachtung
der in der ersten Niederschrift von ,De occulta philosophia' zitierten
Texte würde sehr augenfällig zeigen, daß diese „Wiederholung" nicht
hinreichend wäre, um über den größten Teil der Texte Rechenschaft zu
geben. Im übrigen zeigen bereits die ersten Kapitel des Textes von
1510 die Präsenz, ja die beispielgebende Wirkung eines originellen
Werkes von Marsilio Ficino, und zwar ,De vita triplici'. Dieser Umstand
wird ausführlicher im weiteren Verlauf der Betrachtung zur Sprache kom-
men; vorderhand genüge die Feststellung, daß sich die „antihumanisti-
schen" Argumente Nauerts fast stets gegen seine eigene These wenden.
In der Tat hoben Erasmus und die anderen unbestreitbaren Verfechter
der „dreisprachigen Kultur' insbesondere deren Vorteile für das Studium
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der Bibel unter philologisdiem und historischem Aspekt hervor; das


Interesse für die antiken Philosophien ist bei allen Humanisten, denen
Nauert an anderer Stelle eben Synkretismus vorwirft, von dem Anspruch
frei, dort ein definitives System aufzuspüren. Vielmehr lassen sie sich
von einem antisystematischen Bemühen leiten, das von der Revolte gegen
die aristotelisch-scholastischen Schemata getragen ist, und sind häufig —
angefangen bei Ficino tmd Pico bis hin zu Lefevre, Colet und Reuchlin —
vom Ideal der pia philosophia inspiriert, eben jener Kontinuität „einer
heimlichen Offenbarung Gottes für den Menschen". Nicht zufällig in-
spirierte sich Agrippa gerade in dem Augenblick an klassisch-heidnischen
Texten und dem „heidnischen", getadelten Werk Ficinos, da er sich
anschickte, zum ersten Mal seine Synthese der occulta philosophia
niederzuschreiben. In ihr gedachte er das neue System einer Natur-
philosophie vorzulegen, das frei auf der Wiedergeburt heidnischer
Mythen und Ideen fußte, wie schon Aby Warburg bezüglich vieler

legere plerumque invenio); erwähnenswert ist weiter ein Hinweis auf die
translationem nostram Mysticae Theologiae Dionysii cum graeco exemplari,
ibid., I, 14, S. 32. Vgl. darüber hinaus die 'epistola' an Wilhelm Veldicus, zit.
bei P. L e h m a n n , Merkwürdigkeiten des Abtes J. Trithemius, Sitzungsberichte
der Bayer. Akademie der Wissenschaften, Philos.-Histor. Klasse, Jahrgang 1961,
Heft 2 (München 1961), S. 25: Ficini varias translationes nuper vidi latinas,
Pici Mirandulani excellentissimi viri multa Volumina fulgentissima perlegi.
I. P u s i n o , Ficinos und Picos religiös-philosophische Anschauungen,
Zeitschrift für Kirchengeschichte 44 (1925); ders.. Der Einfluß Picos auf Erasmus,
ebd. 46 (1928); vgl. auch die in Anm. 22 genannten Arbeiten von L. W. S p i t z .
Agrippa von Nettesheim 273

Aspekte der Lutherzeit treffend aufgezeigt hat. Was die Polemiken


des reifen Agrippa gegen die Grammatiker und Verderber evangelisdier
simplicitas anbetrifft, so lassen gewisse (im folgenden zitierte) Bemer-
kungen Zweifel daran aufkommen, daß sie in Unkenntnis der anti-
ciceronianisdien Polemiken eines Erasmus niedergeschrieben wurden.
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Ebenso zweifelhaft ist, ob sie ohne Vertrautsein mit der Preisung von
littera und simplicitas des Neuen Testaments bei Erasmus und Lef^vre
verfaßt wurden, der letzterer die auf Cusanus zurüdcgehende Verherr-
lidiung des Idiota und der docta ignorantia hinzufügt. Was die generelle
Interpretation der Schrift 'De vanitate' als Ausdrude der Anti-Renaissance
angeht, die Nauert begeistert von Haydn sdion in seinem ersten Aufsatz
von 1957 übernimmt (nicht ohne diesen unbefangen mit widersprüchli-
chen Anleihen bei den Thesen Garins zu durchsetzen"), so ist hier nicht
der Ort für eine Erörterung der prinzipiellen Frage, die unter den For-
schern viel Ratlosigkeit ausgelöst hat. Will man jedoch — und zwar mit
dem Text in der Hand — einen wirklich nützlichen Vergleich zwischen
dieser Art Anti-Enzyklopädie oder skeptisch eingefärbten, mit religiösen
Einschlägen versehenen Globalüberschau über Wissenschaften und Künste,
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die 'De vanitate' ja ist, mit anderen zeitgenössischen Texten vornehmen,


so ist es angebrachter, den g a n z e n Text von Polidoro Virgilio 'De rerum
inventoribus' oder von 'De causis corruptarum artium' heranzuziehen^'.
Wenn es gestattet ist, „a posteriori" ein Argument aus der Aufnahme
abzuleiten, die das Werk Agrippas fand, mag der Hinweis auf die Elogen
eines Vives, das Interesse eines Thomas More und die spontanen Be-
kundungen der Wertschätzung eines Erasmus genügen, mit denen ich mich
vor einigen Jahren in einem Aufsatz auseinandergesetzt habe
Ich möchte mich hier auf einige Bemerkimgen zum 'Dialogus de vani-
tate scientiarum et ruina christianae religionis' beschränken, den ich nach
einer vergessenen Flugschrift ediert und Agrippa wieder zugeordnet
habe Es ist ein seltsamer Text, in einem Stil verfaßt, der an Satire und
^ C. G. N a u e r t , Agrippa and the Crisis (s. Anm. 5) S. 2 und bes. S. 200,
eine Stelle, die im Hinbliclc auf die Erstveröffentlichung dieses Kapitels in
Journal of the History of Ideas 18 (1957) einen Zusatz darstellt; aus der Erst-
veröffentlichung wiederum wird ein Absatz (S. 180 f.) geopfert.
" So verfährt N a u e r t , Agrippa and the Crisis S. 147 f.
P. Z a m b e 1 H , 'Humanae literae, verbum divinum, docta ignorantia' negli
Ultimi scritti di E. G. Agrippa, Giornale critico della filosofia italiana 46 (1966).
Auf dieses Thema bin ich anläßlich des 'Stage' zurückgekommen, den das CESR
im Juli 1969 Erasmus gewidmet hatte; das Referat wird im Band der Akten
veröffentlicht.
" Vgl. C. Agrippa. Scritti inediti e dispersi, veröffentlicht und erläutert von
F. Z a m b e l l i , Rinascimento 16 (1965), S. 195—312. In der Einführung zu
diesen Texten ist ungekürzt mein Aufsatz abgedruckt, der bereits unter dem
Titel: Di un'opera sconosciuta di C. Agrippa. II Dialogus de vanitate scientiarum
et ruina christianae religionis (Castrocaro Terme 1965) erschienen war. In dieser
274 Paola Zambelli

Jargon gemahnen will, wie sie die Pamphlete Huttens, den 'Henno rusti-
cus' des Sobius und die 'Epistolae obscurorum virorum' kennzeichnen.
Diese Polemiken hatte der junge Agrippa, wie einigen seiner Briefe zu
entnehmen ist, geschätzt. Zur Verteidigung seines Werkes und seiner
Einstellung gegenüber den Angriffen der Kölner Theologen, die darin
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ihren Kollegen aus Löwen und Paris folgten, hatte Agrippa eine "Quae-
rela' und dann eine 'Apologia' verfaßt, die er zusammen 1533 — sine
loco, jedodi in Köln — veröffentlidite. Darüber hinaus hatte er den
'Dialogus' geschrieben, der anonym gedruckt wurde und ohne typo-
graphische Angaben 1534 herauskam. Wir brauchen uns nicht bei der
höchst sonderbaren und gekünstelten Sprache dieses Textes aufzuhalten,
die von der üblichen Ausdrucisweise der Humanisten und Agrippas
ziemlich weit abweicht: Zu Ausdrücken von Vaganten und pseudo-
scholastischen Wendungen gesellen sich fremdartige Wörter und unge-
wohnte Gräzismen. Die Schreibweise ist gewollt „barbarisch", für viele
der dunkelsten Ausdrüdce jedoch findet sidb der Schlüssel in den 'Adagia'
des Erasmus. Die polemische Verteidigung selbst der humanae litterae
sowie der religiösen Freiheit, die das zentrale Thema des kleinen Dialogs
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ist, beruht sogar auf Texten und Themen der 'Antibarbari', jenes Wer-
kes, in dem Erasmus der Philosophie der Florentiner Humanisten viel-
leicht am nächsten steht.
Nauert, dessen Buch gleichzeitig mit meiner Edition erschien, hat die-
sen Text leider übersehen. Befremdlicherweise hat auch Kuhlow in seiner
zwei Jahre später veröffentlichten Arbeit keinen Bezug auf dieses Doku-
ment genommen, das für seinen Gegenstand von wesentlicher Bedeutung
gewesen wäre. Auf diese Weise wird eine Schrift vernachlässigt, die in
der Liste der Werke Agrippas nicht nur eine abschließende Position ein-
nimmt — sie liegt später als alle seine bekannten Werke und geht
seiner tragischen Flucht und dem Tod im Exil nur um ein Jahr voraus —,
sondern die meines Erachtens auch sehr wichtig für die ausdrücklichen
Überlegungen ist, die die Verteidigung der Magie [naturalis philosophiae
absoluta consummatio, gemäß der klassischen, von Pico übernommenen
Definition) und der Kabbala (für die er sich an die Erfahrung und das
Streitgespräch Reuchlins hält, ihr jedoch, mit Termini der göttlichen
Gnade, eine deutlich religiöse Auslegung gibt) mit der methodologischen
Kritik an den eitlen und hoffärtigen Wissenschaften und Künsten ver-
binden, die vom religiösen Bewußtsein seiner selbst und von der docta

Einführung sowie in dem Aufsatz Humanae literae... (s. Anm. 26) finden sich
die Angaben bezüglich dessen, was auf den folgenden Seiten ausgeführt wird. —
In seiner Rezension hat J. P o I I e t die Zuordnung des 'Dialogus de vanitate'
als vertretbar bezeichnet: Bibliothique d'Humanisme et Renaissance 30 (1969),
S. 414—416.
Agrippa von Nettesheim 275

ignorantia losgelöst sind. Der "Dialogus' erklärt, daß sich in 'De vanitate
declamatio invectiva' nihil in suggillationem bene doctorum procusum
findet. In ihr könne man nur monitionem suadentem et discernentem
erblicken, videlicet ut vere sapiens quisque praeferat scientiam dolentem
et contristantem (qualis ostensa iustis est) sanctorum vane tumenti seu
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inaniter inflanti, qualis est omnium prophanorum extra deum entium^^.


Das religiöse und philosophische Prinzip der docta ignorantia, das bereits
in den Sdilußkapiteln von 'De vanitate' und in der 'Apologia' siditbar
hervortritt, wird wieder aufgenommen und in seinen Bezügen zur huma-
nistischen Kultur formuliert: Qui se putat aliquid scire, nondum seit,
quomodo oporteat eum scire. Vides quomodo [Agrippa] non probet multa
scientem, si sciendi modum nescierit. Nam fructum et utilitatem scientiae
in modo sciendi constituit. Quid enim vocat modum sciendi, nisi ut scias
quo ordine, quo studio, quo fine quaeque nosse oporteat? Hier aber —
gleichsam wie um einem unangebrachten Vergleich mit den methodolo-
gischen Forderungen der neuen Wissenschaft zuvorzukommen, wie ihn
Daniels unternahm, der in Agrippa einen Vorläufer der Baconschen
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Methode sieht, und zwar besonders in den minderwertigen Aspekten, die


sie von der Kartesianischen Methode abheben, — fährt der 'Dialogus'
fort, indem er seine eschatologischen (nicht methodischen) Absichten
unterstreicht: Quo ordine, ut id prius quod maturius ad salutem; quo
studio, ut id ardentius quod vehementius ad amorem; quo fine, ut non
ad inanem gloriam aut curiositatem aut aliquid simile, sed tantum ad
aedificationem tuam vel proximi^. Daß die Polemik von 'De vanitate'
nicht, wie auch E. Cassirer meinte", eine Reaktion auf das humanistische
und weltliche Erziehungsideal darstellte, das Agrippa vor sich entstehen
sah, ist deutlich, trotz der drüdcenden religiösen und soteriologischen Be-
sorgnisse, die sich bei ihm wie bei den meisten zeitgenössischen Huma-
nisten mit dem Fortschreiten der protestantischen Krise verstärken.
Erasmus, ein weder leichtfertiger noch der Verteidigung der humani-
stischen Kultur gegenüber indifferenter Kritiker, hatte das wohl bemerkt:
De viro ... magnificentius censeo quam de eius ingenio censuram ferre
possim, deprehendi hominem esse ardentis ingenii, variae lectionis et
multae memoriae, alicubi tarnen maiore copia quam delectu ac dictione
tumultuosa verius quam composita. In omni genere rerum vituperat mala,
laudat bona..Liest man den wiedergefundenen Text des 'Dialogus'

^^ Dialogus de vanitate, Bl. Diiiv, in Scritti inediti (s. Anm. 27) S. 283.
Ibid., Bl. Diiiiv, S. 284 f.
" E. C a s s i r e r , Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen-
sdiaft der neueren Zeit (Berlin 1911), S. 192—194.
Opus Epistolarum Erasmi, ed. P. S. Allen 10 (Oxford 1941), Brief 2800,
S. 209—211.
276 Paola Zambelli

zusammen mit anderen Agrippa-Dokumenten der letzten Kölner Zeit, die


den Autor damit befaßt sieht, dem Drude und damit der Nadiwelt seine
sämtlidien Werke zu übergeben, die teilweise von Inquisitoren heftig
befeindet wurden, so gestattet die Lektüre des 'Dialogus', den Kreis der
intellektuellen Erfahrung Agrippas zu schließen. Nicht zufällig erinnert
er durch den Mund des Mönchs, Sprecher des Autors, daran, wie unge-
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mein aufgeschlossen dieser dem 'Augenspiegel' Reuchlins gegenüber-


gestanden und wie er seinen 'De verbo mirifico' mit aliquot sdioliis illu-
striert habe'^. Dieser Text, der 1509 das Lob Lefivres fand, gehört
bereits zu den Hauptquellen der ersten Niederschrift von 'De occulta
philosophia' und wird von Agrippa als Thema einer freien Vorlesungs-
reihe an der Universität Dole ausgesucht. Das stellt 1510 offensichtlich
keine zufallsbedingte Wahl dar: Wir besitzen nur wenige Dokumente
über diese Zeit des jungen Agrippa; ihre aufmerksame und kritische
Analyse gestattet jedoch, in dieser Wahl eine polemische Parteinahme
zu erblicken, zu einem Zeitpunkt, da Pfefferkorn, Ortuinus Gratius und
Arnold von Tongern gegen die Meinung Reuchlins über die mystisch-
hebräisdien Bücher ins Feld ziehen. Nauert vertritt die Auffassung, daß
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das sehr starke Hervortreten kabbalistischer Interessen das Hauptmerkmal


der neueren Niederschrift von 'De occulta philosophia' sei, und meint,
daß die Koinzidenz zwischen der Vorlesung von Dole, die von dem
franziskanischen Inquisitor Catilinet unterbrochen und zensiert wurde,
und der rheinischen Polemik um Reuchlin rein zufälliger Natur sei".
Mir dagegen scheint vielmehr, daß die 'Expostulatio' Agrippas — 1510
von London aus geschrieben, wo die Datierung im Stile der Inkarnation
gebräuchlich war, so daß das Dokument bis zum 24. März 1511 hin
angesetzt werden kann — einen ausdrücklichen und unwiderlegbaren
Bezug auf die Kampagne enthält, die gegen die Kabbala entfesselt wurde:
Vocasti me haereticum judaizantem, qui in Christianas sdiolas induxerim
scelestissimam, damnatam ac prohibitam cabalae artem, qui contemptis
sanctis patribus et catholicis doctoribus praeferam rabinos ludaeorum et
contorqueam Sacras literas ad artes haereticas et Talmuth ludaeorum..
Diese erste Apologie, zu der sich der ganz junge Agrippa ge-
zwungen sah, weil er sich in einer Lehre versucht hatte, die in den
Fakultäten ohne Vorbild war, ist ein Text, der knapp nach der ersten
Abfassung von 'De occulta philosophia' anzusetzen ist und zusammen mit
Dialogus de vanitate (Scritti inediti wie Anm. 27) S. 253 f.
" CK. G. N a u e r t , Agrippa and the Crisis S. 28: " . . . j u s t a year before the
outbreak of the Pfefferkorn-Reuchlin controversy."
Agrippa, Expostulatio cum Joanne Catilineto, Theologiae doctore, super
expositione sua in librum loannis Capnionis de verbo mirifico, in Opera II,
S. 510. — Vgl. hierzu die diesbezüglichen Überlegungen in Scritti inediti
S. 203 u. 227—230.
Agrippa von Nettesheim 277

anderen Briefdokumenten gelesen werden muß. Auch Nauert benutzt


diese Dokumente und breitet sie in gewinnbringender Weise im bio-
graphisdien Teil aus, der der nützlidiste seines ganzen Budies ist. Er
unterwirft sie jedodi keiner kritisdien Sichtung und verzichtet insbe-
sondere auf eine Überprüfung der Daten: Letzteres ein überaus widitiges
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(sdion von Prost beachtetes) Problem bei einem Autor, der häufig zeigt
und erklärt, daß er die Art der Datierung je nach den vielen Orten
ändert, von wo aus er zufällig an seine Korrespondenten schreibt.
Der gesamte Briefwechsel Agrippas ist eine ungewöhnlich reiche Hinter-
lassenschaft, erweist sidi jedoch teilweise als rätselvoll, und zwar nicht
nur — natürlich nicht — aufgrund bloßer Datierungsfragen. Der Autor
selbst hat ofiFensiclitlicii Hunderte von Briefen gesammelt, die von den
Erben oder Anhängern in sieben Büchern geordnet und, organisch ge-
gliedert, bis zur ersten Ausgabe weitergereicht wurden, die man fünf-
undvierzig Jahre nach seinem Tod besorgte und die für uns leider immer
noch die einzig sachdienlidie Basis bleibt, da, von glücklichen Wieder-
funden abgesehen, das Corpus der Originalbriefe und alle Manuskript-
For personal use only.

exemplare verloren sind. Nur für eine geringe Anzahl von Briefen be-
sitzen wir die vom Autor selbst betreute Ausgabe, zusammen mit einigen
seiner weniger bedeutenden kleinen Abhandlungen. Bei sehr wenigen
weiteren Briefen verfügen wir über die Abschrift in einem Lyoner Kodex,
der offensichtlich von Agrippa in der Zeit seines Frankreich-Aufenthaltes
vorbereitet wurde und einige seiner Texte enthält, darunter den nicht
edierten 'Dialogus de homine'. In zwei weiteren Fällen schließlich sind
in der Breslauer Bibliothek und dem Archiv von Lille die Originale von
zweien seiner Briefe erhalten. Der eine ist an Erasmus gerichtet und viel-
fach abgedruckt worden; der andere, bis 1965 noch vergessen, ist eine
interessante Denkschrift, die am 22. Februar 1532 von Köln aus an den
Kaiserlichen Grand Conseil von Mecheln gerichtet wurde.
Die Umstände der Bewahrung und Überlieferung dieses Brief-Corpus
sind von der Forschung bisher kaum berührt worden, und nur ein glück-
licher Neufund würde erlauben, hier bis auf den Grund vorzustoßen. Mit
Sicherheit wäre eine kritische Ausgabe der Briefsammlung, die Briefe
an und von Agrippa enthält (meist ohne namentliche Erwähnung der
Korrespondenten, vielleidit, weil der Herausgeber nicht mehr imstande
war, diese anzugeben), in Anbetracht dessen, daß in vielen Fällen man-
cher nicht aus dem Brief-Corpus gestrichene Hinweis erlaubt, sie dennoch
mit Namen zu erschließen, ein äußerst nützliches Instrument, und zwar
nicht nur für die Kenntnis des Werkes und geistigen Weges des Huma-
nisten, sondern auch einer Reihe anderer Personen, die ihm verbunden
waren.
278 Paola Zambelli

Ich gebe die Hoffnung nidit auf, späterhin mit diesem schwierigen, aber
verlockenden Unterfangen zum Ziele zu gelangen: Für den Augenblick
haben mir eine Reihe von Wiederherstellungen der Briefköpfe Material
für das Studium der literarischen und philosophischen Schriften gelie-
f e r t " . Die Briefsammlung ist mit historisch sehr aufschlußreichen Seiten
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gespickt, die im Verein mit den von der jüngsten Geschichtsschreibung


ans Licht gebrachten Daten eine hochinteressante Rekonstruktion ge-
statten. Begnügen wir uns hier damit, aus einem berühmten offenen Brief
an den Senat der Stadt Köln, den der Reformator Theodor Fabritius
1535 in Straßburg aus Protest gegen die Verfolgungen publizierte, denen
der Dominikaner Konrad Koellin von Ulm ihn aussetzte, eine Stelle zu
entnehmen, die dazu beiträgt, das eingangs über die humanistische Bil-
dung Gesagte abzurunden und zu bekräftigen, derer Agrippa in seiner
Geburtsstadt teilhaftig werden konnte und die er als Grundlage von
'De occulta philosophia' bezeichnet: Meus autem Uber Ethnicorum placita,
atque illa antiquitatis antiquissima tractat, paucis etiam eruditissimis
viris hactenus cognita ... Sed offendit istos delicatos asinos non phi-
losophiae, sed Magiae et Cabalae suspiciosum nomen. At si meminerunt,
For personal use only.

Picus Mirandolanus et Capnion Phorcensis jam convicerunt nullas esse


scientias quae nos de rebus cum naturalibus, tum caelestibus atque divinis,
etiam de Christi divinitate magis certificent quam Magia et Cabala.
Nonne satis erat asinos istos semel atque iterum ad hunc lapidem
lapsos esse, nisi rursus atque iterum in eundem impingere conentur?^^
Nachdem er an die berühmten Inquisitionsverdammungen Picos
und Reuchlins erinnert hat, führt Agrippa eine Reihe weniger be-
deutender Fälle auf, in denen die sophistae Colonienses bewiesen hätten,
ad perniciem omnium bonarum literarum geboren zu sein. So sei es ge-
schehen, daß sie bei der zufälligen Entdeckung der 'Polygraphia', einem

Zu den Angaben und Bescireibungen der Codices und der erwähnten


Dokumente s. Scritti inediti S. 294 f. u. 305—310. — In diesem Zusammenhang
möchte ich eine Mitteilung vorausschicken, die ich an anderer Stelle näher aus-
führen werde. Sie scheint geeignet, nicht nur die Rekonstruktion von Schicksal
und Verbreitung der Agrippa-Ausgaben des 16. Jahrhunderts zu erleichtern
(hierzu haben F e r g u s o n und N o w o t n y Daten vorgelegt), sondern auch die
der Übermittlung des Brief-Corpus; die Erstausgabe in der ältesten, kursiven
Druckweise der Opera ist mit Sicherheit dank einer Zeitangabe datierbar ge-
worden, die in den Einband des von der Aachener Bibliothek bewahrten
Exemplars graviert ist: 1580. Ich verdanke es der wertvollen Hilfe von Herrn
Dr. Leandro Perini, daß ich diesen Druck auf die Arbeitsweise des Tommaso
Guarino habe zurückführen können, der zu jener Zeit in Basel die von Isingrinus
zurückgelassenen Drucklettern verwendete.
" Vgl. den Text des Briefes (eine Seltenheit in dem lateinischen Heft von
Straßburg 1535, das die Biblioth. Royale von Brüssel aufbewahrt) in Opera II,
1034 (Epist. VII, 26). Audi N o w o t n y (s. Anm. 12, S. 402, 406, Anm. 103)
erwähnt die volkssprachige Übersetzung des aus Köln vertriebenen Protestanten
T . Fabritius, die 1535 bei demselben Buchdrucker herauskam.
Agrippa von Nettesheim 279

unverfänglichen Handbuch der Geheimschrift, im Hause des reichen Mit-


bürgers Johannes Rinck mox contractis superciliis ac concrispatis naribus,
kaereses, scandala, daemonia, larvas, terriculamenta phantasticabantur
iatnque conveniendum inquisitorem pensitabant, grandem concitaturi
tragoediam inter caetera, ob inventam ibi Ardiimedes angeliophoram
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aviculam. In diesem Fall wurden sie nodi rechtzeitig des Irrtums gewahr,
zu dem sie ihre Unkenntnis dieses berühmten antiken „Automaten" und
überdies die schweren Vorurteile verführt hatten, die sie seit längerem
gegen Trithemius hegten, der anläßlich eines ähnlichen Werkes, der
'Steganographia', bereits aus der Abtei von Sponheim entlassen worden
war, da er unter der Anklage der Magie stand. Bei anderen Gelegen-
heiten jedoch führte der Irrtum zu allen seinen Konsequenzen: decennale
illud bellum contra Capnionem gesserunt, in quo omnis illorum doctrina,
robur, vires, honor, fama simul pariterque occiderunt; deinde qua in-
foelicitate Erasmum Roterdamum, orbis diristiani lumen, sorditie eorum
commaculare aggressi sunt, et qua nequitia Hermannum comitem Nue-
narium, illustrem et doctissimum virum, persecuti sunt, et qua Univer-
sitatis vestrae iactura Petrum Ravennatem, celeberrimum utriusque iuris
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doctorem atque lectorem splendidissimum, pepulerunt, vos non puto oblitos;


quin et iamdiu antea quendam loannem Aesticampanum, virum doctrina
et moribus insignem, qui in vestra civitate Plinium cum utilissimam, tum
necessariam lectionem profitebatur, non solum sdiolis publicis secluserunt,
sed et tanta invidentiae rabie persecuti sunt, donec civitatem ipsam
relinquere adegerint, adeo Semper optimis literis infensi et doctissimos
quosque viros perosi
Dies ist eine deutliche Evokation des kurzen, unseligen Aufenthaltes
des Erasmus an der Universität Köln im Jahre 1496, des Auftritts
des Reciitsgelehrten und Lehrers der Gedächtniskunst Pietro da Ravenna
von 1507, der Belästigungen, denen auch der mächtige Hermann von
Neuenahr ausgesetzt war, sowie des Plinius-Unterrichts durch Aesti-
campianus, dem Agrippa vor der gewaltsamen Unterbrechung sicherlich
beiwohnte und der zur Quelle zahlreicher Plinius-Passagen werden
konnte, die sich in 'De occulta philosophia' von 1510 finden. Diese letzte
Polemik Agrippas jedoch — sie entstammt dem Jahr 1535: dies, um den
Thesen vieler Forscher entgegenzutreten, die die okkultistischen Inter-
essen Agrippas auf eine Jugendleidenschaft oder einen „von der Ver-
nunft lancierten Appell" reduzieren wollen, „die ihr eigenes Versagen
proklamiere" Interessen jedenfalls, die im Alter von einer religiösen
und skeptischen Einstellung überwunden worden seien, — insistiert be-

" Ebd. S. 1035 f.


Vgl. N a u e r t , Agrippa and the Crisis, S. 201 et passim.
7 Archiv für Kulturgesdiiditc 51/2
280 Paola Zambelli

harrlidi auf der Verteidigung der Reudilinsdien Kabbala sowie der


Magie, Astrologie und der „anderen m a t h e m a t i s c h e n Disziplinen".
Auf die Kabbala und die jugendlidbe Anteilneihme Agrippas an ihrem
Studium und ihrer Verteidigung wurde bereits hingewiesen: Es soll ge-
nügen, hinzuzufügen, daß sidi 1484 in Köln auch der Übersetzer und
Lehrer Giovanni Picos, Flavio Mitridate, aufgehalten hatte, von dem
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Reudilin bekennt, er sei sein Lehrer gewesen"; und sdiließlidi, daß


Agrippa eine der Personen war, die von den „Dunkelmännern" in der
berühmten Polemik angegriffen wurden, zu der er sidierlidi einen
größeren Beitrag geleistet hat, als wir zu rekonstruieren imstande sind.
Die 'Lamentationes obscurorum virorum' verwenden einige Briefe auf
die Kritik des Agrippa Stygianus, dessen magisdies Werk zu kennen,
sie schon mit diesem Epitheton unter Beweis stellen
Den Abschluß sollen einige Fakten und Bemerkungen allgemeinerer
Art über eine Arbeit bilden, der ich mich seit einiger Zeit widme, eine
Arbeit, die, wie 0 . Herding formuliert, „eines der reizvollsten Kapitel
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Über den Aufenthalt Mitridates (Guglielmo Raimondo Moncada) an der


Universität Köln im Oktober 1484 und das wiedererwachte Interesse für die
hebräische und griechische Sprache zu jener Zeit im Rheinland s. C. K r ä f f t
Mittheilungen aus der Matrikel (s. Anm. 20) S. 467 f. — Zur Persönlichkeit und
Bildung Mitridates vgl. F. S e c r e t , Les Kabbalistes chr6tiens (s. Anm. 10)
S. 24—27.
^^ Epistolae obscurorum virorum (Quentel, Köln 1518); vgl. B o e c k i n g ,
Hutteni operum supplementum, II, 1 (Lipsiae 1869), S. 101, 390 f. Der erste
Brief ist überschrieben: 'Georgius Subbunculator Agrippae Stygiano S.P.D.' —
O ridiculum caput, vix tribus anticyris sanabile, quid mihi de inferorum
regnof quid de campis Elysiis, de praepotente Plutonis manu, lange lateque in
terrae visceribus dominante, tuis ad me litteris disseruisti? Falsa sunt quae de
inferis garrire soles. Nam Servius in sexto Vergilii inferos negat propter eius
soliditatem in centro terrae contineri passe. Lucretius etiam nullos esse inferos
cecinit hoc modo: 'qui neque sunt usquam, neque possunt esse profecto'. Sic
Pythagoras apud Ovidium inquit: 'quid Styga, quid tenebras et nomina vana
timetis, materiem vatumV Quin etiam Marcus Tullius in oratione pro Cluentio,
falsa esse quae de inferis traduntur, indubitanter affirmat. Stultum est ergo,
0 Stulle, incerta pro certis habere, ac falsa pro veris. 'Qualibus in tenebris vitae,
quantisque periclis, / degitur hac aevum quodcunque est? Si non sunt inferi,
si non sunt regna Plutonis, si Elysium ac Chymeras juxta habemus, quid obsecro
nobis erit, qui Rege coeli contempto et virtutibus denique omnibus in exilium
missis, inter saxum et sacra perpetuo lamentabimur? Vale. Und hierauf die
Antwort 'Agrippa Stygianus Subbunculatori suo S.P.D.': Tace bestia, tace,
inquam, bestia, qui corpus es sine pectore et nodum in scyrpo quaeris. Noli
metuere ne non regna sint inferorum. Faciam Georgi, ut ei perpetuo memineris,
neve in te docendo operas lusisse videar tres inter dies mecum cum Plutone
cenitabis. Ibi enim de Cocyto, Adieronte, Letheo amne, Stygia palude, Phlege-
tonte, Furiis infernalibus, Tantalo etiam ac Sysipho certum Judicium dabis.
Te quoque per Deos immortales, per Caput, per fidem perque inferos omnes
obtestor, ut epistolam ad me tuam flammis confestim tradas, ne Theologi illam
legentes, te poetarum figmentis correptum dicant omnemque ex Ulis errorum
sentinam hauriri. Vale.
Agrippa von Nettesheim 281

in der Agrippa-Forsdiung" zu sein sdieint. Idi meine das Text-Studium


seines magisdien Hauptwerks 'De occulta philosophia', von dem wir
zwei Niedersdiriften kennen. Die erste Abfassung, die bereits zu einem
bemerkenswerten Grad an Vollständigkeit geführt worden war und 1510
Trithemius vorgelegt wurde, liegt in einem Manuskript vor, das uns in
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der Würzburger Universitätsbibliothek erhalten geblieben ist; daim gibt


es die Neubearbeitung, die Agrippa nadi zwanzigjähriger Lektüre und
(für mandie eindeutig widersprüchlichen) Meditationen über ähnlidie Pro-
bleme 1531 — auf das erste Buch beschränkt — und 1533 dann integral
publizierte. Das Würzburger Manuskript ist 1937 in einer sehr sorg-
fältigen Notiz von J. Bielmann angezeigt worden und kurze Zeit später
unternahm der erste Bibliothekar des Warburg-Instituts, Hans Meyer,
eine Transkription, die nicht mit der gedruckten Ausgabe verglichen
wurde, aber dennoch sehr nützlich ist, weil sie einige, insbesondere
klassische, Quellen zu identifizieren vermochte. Diese Arbeit wurde un-
glücklicherweise durch den Tod des verdienstvollen Herausgebers unter-
brochen — er wurde ein Opfer des Weltkrieges. Seine Mühen sind je-
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doch nicht vergebens gewesen, denn die Druckfahnen sind im Warburg-


Institut zu London erhalten, einem Anziehungspunkt für jeden Histo-
riker der Renaissance-Magie. Es nimmt wunder, daß sich niemand der
jüngeren Agrippa-Forscher dieser xmterbrochenen Arbeit H. Meyers
bedient hat, die nicht nur wegen der Transkription des übersichtlichen

Diese erste Teilausgabe (loannes Grapheus excudebat Antverpiae..


Anno M D X X X I , mense Februario) ist als Zeugnis für die ständigen Über-
arbeitungen und die Zusätze anzusehen, die der Autor seinem Werk beigab.
Bereits das Kapitelverzeiciinis der zwei fehlenden Bücher zeigt kleine Unter-
schiede im Vergleidi zur Ausgabe von 1533. Interessant für die Biographie
Agrippas ist das Vorwort: Lectori. Candide lector, huius divinissimi operis
author in lucem daturus erat et secundum et tertium librum, quod in operis
etiam initio Lectoribus pollicetur: sed repente ferme et ex inopinato aivae
Margaretae ohitus, tum et aliae curae illum alio diverterunt, et ab incoepto
desistere cogerunt. Sed nihil ambigendum, quin cum hunc libellum non asperna-
tum et doctis non omnino ingratum esse intellexerit, et alias duos aediturus sit.
lam hunc cape, et occultissima mysteria et divinissimarum rerum ardiana, quae
in eo sunt, bona animo complectere. Vale.
J. B i e 1 m a n n , Zu einer Handsdirift der 'occulta philosophia' des Agrippa
von Nettesheim, Ardiiv für Kulturgesdiidite 27 (1937), S. 318—324. Das Würz-
burger Manuskript hat die Signatur M. Gh. q. 50 und ist als Faksimile in die
erwähnte, von N o w o t n y besorgte Ausgabe der 'De occulta philosophia' auf-
genommen worden. Anläßlich eines Besuches der Würzburger Bibliothek, zu
dem mir der Vortrag in Nürnberg Gelegenheit gab, war es mir zum ersten Mal
vergönnt, das Original zu betrachten. Es hat einen charakteristisdien Einband, den
Trithemius hatte ausführen lassen, als das Würzburger Sdiottenkloster unter seiner
Leitung stand (idi berufe midi hier auf die freundlidien Auskünfte des Biblio-
thekars, Herrn Dr. Thum). Auch das Papier und die Schrift bestätigen bei einer
direkten Oberprüfung, daß es sich tatsächlich um das Original handelt, das
Agrippa Trithemius übergab.

282 Paola Zambelli

und klaren Kodex von Interesse ist, sondern audi der Fußnoten wegen,
die z.B. Nauert die Bemerkung hätten ersparen können, daß Agrippa
erst in den Italien-Jahren (1511—1518) zu dem originellen Werk und
den Übersetzungen Ficinos Kontakt fand. Bereits in den ersten Kapiteln
der ersten Niedersdirift des Eingangsbudiies ist die Vorlage klar: Die
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sogar textliche Abhängigkeit von Ficinos 'De vita' ist unbestreitbar. Sdion
H. Meyer hatte in seinen mit Bleistift geschriebenen Randbemerkungen
auf dieses Faktum hingewiesen, das für jeden mit den Texten des
Florentinisdien Piatonismus etwas vertrauten Gelehrten kaum zu über-
sehen ist^'. Daß Nauert kein vertieftes Studium der beiden Niedersdbrif-
ten von 'De occulta philosophia' betrieben hat, verführte ihn dazu, das
Problem der notwendigen Historisierung und inneren Analysen der Texte
zu unterschätzen, die so oft von einem so gewissenhaften Autor wie
Agrippa überarbeitet wurden. Als seine beiden einzigen Dialogsdiriften
wieder ans Tageslicht kamen — ein weiteres Beispiel seiner Sympathie
für ein humanistisches Literatur-Genus —, wurde ersichtlidi, daß sich
Agrippa in dem am Vorabend seines Todes geschriebenen 'Dialogus de
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" Obwohl Nauert auf eine systematisdie Untersuchung verziditet, erklärt


er, das Würzburger Manuskript zur Hand zu haben, das er zuweilen in seinen
Fußnoten benutzt: Sein Mißverständnis ist also nicht darauf zurückzuführen,
daß er den Text nicht geprüft, sondern daß er die Quellen nicht erkannt hat.
Diese Vermutung ist gleichzeitig von zwei anerkannten Rezensenten seines Bu-
ches, Frances Yates und Lewis W. Spitz, geäußert worden. In vielen Fällen —
und nicht nur was die hermetische Literatur anbetrifft, die Frances Yates am
Herzen liegt, deren 1964 erschienenes Buch über G. Bruno der amerikanische
Gelehrte leider unbeachtet läßt: leider, weil er dort eine grundsätzliche Neu-
formulierung der Problematik hätte vorfinden können —, in vielen Fällen also
erwecken die Vergleiche, die Nauert zwischen Agrippa und den zeitgenössischen
Denkern anstellt, den Eindruck, als basierten sie mehr auf der Sekundärliteratur
denn auf den Texten selber; und dies erweist sich als sehr gefährlich in einem
Bereich, der — wie jener der Theorie der okkulten Wissenschaften — von
Philologen und Kulturhistorikern bislang kaum erforscht ist. Vgl. die oben
(Anm. 17) erwähnte Rezension von F. Y a t e s : "it is Pico's conception of the
Dignity of Man as Magus which Agrippa sets out to codify; and it is from
Ficino's 'De vita coelitus comparanda', with its veiled allusion to the Hermetic
'Asclepius', that he constantly quotes... Where Nauert is defective is in the
vagueness of his allusions to Agrippa's sources... In fact he gives the curious
Impression of not having really studied the Hermetic literature, nor thought
about its Problems and its history"; L. S p i t z , Renaissance Occultism and
Despair of Reason, Journal of the History of Ideas 27 (1966), S. 466, Anm. 4:
"Nauert could profitably explore further the relation between Agrippa and the
German Humanists. His contact with the thought of such humanists as Conrad
Celtis is evident, from his criticism of his etymologies in chapter V of the
'De incertitudine'. This is the same humanist who published with his Carmen
saeculare Cusanus' De Ii non aliud, which suggests yet other areas of intellectual
affinities". (Solche Affinitäten erscheinen auÄ mir beachtenswert, wenn man an
die zweideutige Haltung von Celtis gegenüber der Astrologie und an seinen
Hang zum pythagoreischen Zahlenmystizismus denkt — von seinen Polemiken
gegen die SAolastiker gar nidit zu reden.)
Agrippa von Nettesheim 283

vanitate' alle grundsätzlidien Probleme wieder stellt, die er in seinen


vorhergehenden Werken schon behandelt hatte, während der 'Dialogus
de homine', typisches Produkt seiner Italien-Erfahrungen und durdi-
daditen Lektüre Giovanni Picos, nur ein Durchgangsstadium zwischen den
beiden Abfassungen von 'De occulta philosophia' darstellt. In der Tat
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macht sidi die endgültige Niederschrift die beiden Seiten des 'Dialogus'
in einem der Zusatzkapitel zunutze, genauer gesagt im 36. des Budhes
III, De homine quomodo creatus ad imaginem Dei
Diese Tatsache verdient unter zwei Gesichtspunkten eingehendere Be-
trachtung. Ganz allgemein beweist sie, daß bei einem gebildeten und
stärkstens an der Bearbeitung und Bereidierung seiner Schriften inter-
essierten Autor die Vermutung unangebracht ist, ein Werk, über das
bei vierjähriger Distanz von der Veröffentlidiung im Briefwedisel ge-
sprochen wird, sei talis qualis zum Druck gelangt, wie es der Feder des
Autors im Verlauf der ersten Niederschrift entfloß — einer Niedersdirift,
die Nauert von der Enttäuschung und Wut über die Entlassung beein-
flußt sieht, die Agrippa am Hofe von Lyon traf. Allerdings sieht sich
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derselbe Gelehrte, der (in bezug auf 'De vanitate') die Hypothese einer in
einem Zug niedergeschriebenen, im ganzen unmodifizierten Abfassung
vertritt, gezwungen, in den Anspielungen auf die Scheidung Heinrichs
VIII. einen später als 1526 liegenden Einschub a n z u e r k e n n e n E i n e
solche Beobachtung veranlaßt ihn jedoch nicht, die Hypothese zu akzep-
tieren — die freilich nur im Falle der Wiederauffindung von Manu-
skripten beweisbar wäre —, daß der Text Überarbeitungen und Erwei-
terungen erfahren haben kann, die eben wegen des Kompilations-Charak-

** Vgl. Dialogus de homine, hrsg. von P. Z a m b e 11 i , Rivista critica di


storia della filosofia 13 (1958), S. 52—57.
" Vgl. N a u e r t , Agrippa and the Crisis S. 98: "Out of this period of most
profound despair came two of the most important of Agrippa's works [Dehor-
tatio gentilis theologiae und De vanitate] . . . Quite probably the depression
of his fortunes during the period of composition influenced the mood which
this book reflects"; und S. 108, Anm. 11 heißt es: "The reference to Henry VIII's
divorce, incidentally, is clear proof that Agrippa continued to revise the text
of the book after he c o m p l e t e d the basic text in 1526." — Was das Ein-
greifen Agrippas zugunsten von Katherina von Aragon anbelangt, so gedieh es
niemals über die Phase vager Pläne und der Verhandlungen mit seinem Diplo-
matenfreund E. Chapuys hinaus; dennoch schrieb ihm die öffentliche Meinung
die Abhandlung zu, die anonym mit dem gleichen Ziel von Juan Vives ver-
öffentlicht wurde: Non esse neque divino, neque naturae iure prohibitum quin
Summus Pontifex dispensare possit ut frater demortui sine liberis fratris
uxorem legitimo matrimonio sibi possit adiungere (Luneburgae, a. M D X X X I I I
mense septembris). Vgl. H. D e V o c h t , John Dantiscus and his Netherlandish
friends, as revealed by their correspondence, 1522—1546 (Humanistica lovanien-
sia 16: Löwen 1961), S. 81 f., 213, 331 f. Die Tatsache, daß die zeitgenössisdien
Leser Agrippa eine Schrift von Vives zuschreiben konnten, erscheint mir als
Bestätigung der humanistischen Ausriditung, die ihm fraglos zuerkannt wurde.
284 Paola Zambelli

ters eines Gutteils dieser Überschau über Wissensdiaften und Künste sehr
wahrsdieinlidi sind. Der lebhaft-brillante Ton in "De vanitate', der
Nowotny dazu veranlaßte, eine Interpretation zu geben, die in ihr ein
„Fastnaditspiel" sieht, das ganz um ein bukolisdies Ideal zentriert ist,
dem gegenüber alle komplexeren Leistungen der Bildung abgewertet
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werden^', scheint mir umgekehrt ein deutliches Zeichen für die unge-
zwungene Meisterschaft, die Agrippa im humanistischen Genus der

" De occulta philosophia, hrsg. N o w o t n y , S. 388, 395, 405, 416. Nowotny


vertritt die Auffassung, daß das Bildungsideal Agrippas als bukolisch angesehen
werden kann, da die einzigen Lobkapitel in 'De vanitate' der Agrikultur
(LXXIV) und dem Hirtenleben (LXXV) gewidmet seien; er erkennt jedoch an,
daß diese Hinweise auf eine Scfaäfermode an den Höfen der damaligen Zeit
zurückgehen. Mir will scheinen, daß die betreffenden Kapitel zu einem großen
Teil etymologische Abschweifungen sind, die auf eine ironische und polemische
Gegenüberstellung der Einfachheit des Goldenen Zeitalters und der damaligen
Korruption abzielen. Was den volkstümlichen Charakter von 'De vanitate' betrifft,
so scheint Nowotny in dem freien, improvisierten Genus des Fastnachtsspiels
ein Gegenstück zur humanistischen declamatio zu sehen (in diesem Fall gäbe es
keinen Grund, nicht mit ihm übereinzustimmen; dies wäre im Gegenteil eine
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sehr feine Beobachtung). Es ist richtig, daß sich die Übersetzungen in die Volks-
sprache und in eine volkstümliche Form, die S. Franck von 'De vanitate' und
dem 'Encomion morias' vornahm, dieses Kunstgriffs bedienen; ebenso sicher ist
aber auch, daß sich ein so interessanter Übersetzer in religiösem Bereich nicht
ausschließlich von spielerisch-heiteren Absichten leiten läßt. Weder für Franck
noch für Agrippa gibt die Form des Fastnachtsspiels (und natürlich auch die der
declamatio nicht, auf die ich mich eher beziehen möchte) erschöpfend den Inhalt
und die Ideologie wieder. So scheint die Schlußfolgerung Nowotnys zu weit zu
gehen, wenn er sagt (S. 416): „Über einen Skeptizismus bei Agrippa zu reden,
erübrigt sich durch die Erkenntnis, daß De vanitate ein Fastnachtspiel ist." In
der ausgezeichneten Einleitung Nowotnys, die eine generelle Interpretation
Agrippas vorschlägt, kommt eine gewisse Tendenz zur abwertenden Beurteilung
der Sdirift 'De vanitate' zum Ausdruck, und hier liegt m. E. der Grund für ab-
weichende Auffassungen: 1. Er sieht in ihr eine getreue Anlehnung an die
traditionelle Struktur der sieben freien Künste (S. 394); dies scheint mir jedoch
vielmehr auf die historische Kontinuität der Studienpläne der Universitäten
zurückzuführen zu sein, wohingegen die Originalität Agrippas eher in den vielen
Kapiteln liegt, die über diese Tradition hinausgehen und entweder von der
magischen Kultur oder seinem antikonformistischen Studium der Erscheinungen
in Politik, Religion und Gebräuchen geprägt sind; 2. Er vermutet, daß die
Kapitel gegen die Astrologie und vor allem gegen die Magie aus einer „Vor-
sichtsmaßnahme" heraus geschrieben worden seien (S. 394 f.). Mit dieser Hypo-
these steht Nowotny in der Nähe von F. Yates, und dies ist gewiß auch das
schwierigste Problem, das einer Lösung bedarf, wenn man den so häufig er-
örterten Widerspruch zwischen diesen beiden Werken Agrippas beseitigen will.
Ich würde jedoch zögern, eine so „opportunistisch-vorsichtige" Auslegung der
grundlegencien Kapitel von 'De vanitate' zu akzeptieren, weil mich die Ent-
wicklung der magischen Konzeptionen, wie sie das Werk 'De occulta philosophia'
in seinen Niederschriften erkennen läßt, eher geneigt macht, im gesamten Werk
Agrippas die Koexistenz von nicht eindeutigen Positionen zu sehen. Schon die
in der Erstfassung von 'De occ. phil.' formulierte Konzeption ist nicht frei von
Vorbehalten und Doppeldeutigkeiten; vgl. Buch II, Kap. 58 (dann I, 59), Ms.
Würzburg cit., Bl. 82^—83', das die Astrologie und Traumdeutung kritisiert.
Agrippa von Nettesheim 285

declamatio invectiva erlangt hat, und ist nidit als Frudit einer roman-
tisdi-spontanen, reulosen Niedersdirift zu werten. Daß dem Schreiber
Agrippa eine ganz entgegengesetzte Verfjihrensweise eignet, bekräftigen
die Autorenvarianten, die sich audi in jenen Briefen finden, deren
Manuskripte wir kennen, und die so einen Vergleidi mit der posthimi
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publizierten Sammlung erlauben. Im Falle von 'De occulta philosophia*


sdiließlidi sind die Änderungen fast nie nur stilistische Varianten (was
Erasmus richtig mit seiner oben zitierten Bemerkung gesehen hatte, in
der er alicubi tarnen maiorem copiam quam delectum kritisierte)"; es
handelt sich hingegen fast durciiweg um neue Fakten oder Argumente,
die der eigenen Beweisführung hinzugefügt werden, bzw. um einge-
flochtene philosophische Themen und häufig regelredite Veränderimgen
der Werkstruktur, die grundlegenden Gesichtspunkten entsprechen,
welche neuer oder wiederholter Lektüre philosophischer Arbeiten ent-
nommen werden.
Unter dem zweiten Gesichtspunkt gilt es, den Fall des erwähnten
Kapitels III, 36 xmd die Pico-Lektüren zu betrachten, die die Italien-Zeit
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Agrippas entscheidend prägten. Ohne den Text nochmals im einzelnen


durchgehen zu wollen*', möchte idi festhalten, daß ich den Topos des
„nach dem Ebenbilde Gottes geschaffenen" Menschen keineswegs als
Neuheit im Denken Agrippas ansehe und auch nicht annehmen kemn,
er habe die Texte des Mirandolaners vor 1516 niemals erwähnen hören
oder nie unmittelbaren Kontakt zu ihnen gehabt. Es ist deutlich, daß er
sich sowohl im deutschen Humanistenbereich (besonders bei Reuchlin)
als auch in Paris, wo er vor der Abfassung von 'De occulta philosophia*
von 1510 geweilt imd wichtige kulturelle Beziehungen geknüpft hatte,
darüber Rechenschaft ablegen mußte, wie wichtig Giovanni Pico für
denjenigen war, der sich mit jenen Problemen zu befassen gedachte, die
ihn eben beschäftigten. Die Lektüre und tiefergreifende Betrachtung der
grundlegenden Texte Picos, vor allem seines 'Heptaplus', scheint bei
Agrippa eine Erfahrung und gewissermaßen die Wiedergeburt der
Italienjähre zu sein. Nach der Zeit in Pavia und seiner Flucht von dort
im Jahre 1515 beginnt er in der Tat die commentaria indigesta zu er-
wähnen, die er für sein Werk 'De occulta philosophia' vorbereitet hatte
und die im Gedränge der Kriegsgeschehnisse verloren gegangen waren.
Sämtliche Schriften aus dieser Zeit — weit vor 1524, dem Jahr, auf das
Nauert seine Periodisierung stützt" — bekunden vertiefte und drama-

" Vgl. Anm. 31.


Der Text findet sidi, an einigen Stellen verbessert, in den Scritti inediti
(s. Anm. 27); in bezug auf die Quellen verweise idi auf die erwähnte Erst-
ausgabe (s. Anm. 4).
« N a u e r t , Agrippa and the Crisis Kap. VIII—IX.
286 Paola Zambelli

tische Besorgnisse religiöser und philosophischer Art. Audi der offene


Widerspruch der 'Dehortatio gentilis theologiae' (die mit ihrer Ablehnung
der ficinianisdien, dem evangelischen Text gegenüber abgewerteten pia
philosophia unzweifelhaft die Schrift ist, die sich als erste der religiösen
Inspiration und „cusanischen" Schlußfolgerung der 'De vanitate', 'Apolo-
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gia' und des "Dialogus de vanitate' nähert"), löst sich auf, wenn man
überlegt, daß, im Unterschied zu Ficino, in Picos Entwicklung auf das
jugendliche Bekenntnis zur Naturmagie, das nach dem Zeugnis des
Neffen im Alter widerrufen wurde, nicht nur die Distanzierung von der
Astrologie in den 'Disputationes' folgte sondern vor allem das leiden-
schaftlich religiöse Savonarola-Erlebnis, das dank der Biographie Gianfran-
cescos allen bekannt war Ich möchte nicht weiter auf die Einwände einge-
hen, mit denen mir kürzlich ein Kenner des zweiten Pico, Gh. B. Schmitt,
begegnet ist", bin jedoch weiterhin überzeugt, daß Agrippa auch dessen
Werk kannte. Wiewohl er ihn nicht nennt — gemäß dem damals ge-
läufigen, bei Agrippa systematischen Gebrauch bei Zitaten aus Texten
von Zeitgenossen " —, hat der Kölner Humanist als vorbildlicher Schüler
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Ich möchte hier auf die Bemerkungen zur 'Dehortatio' und zu 'De triplici
ratione cognoscendi Daum' (1518) im Ardiivio di filosofia verweisen, wo das
letztgenannte Werk teilweise ediert und kommentiert ist: Testi umanistici sull'
ermetismo (1955), S. 113—115, Anm. 8; s. auch in Rivista critica di storia della
filosofia 15 (1960), S. 176 f.
" Wir haben bereits gesehen, daß Butzbach im Jahre 1507 die Disputationes
kannte, die in vielen deutschen Bibliotheken jener Zeit vorhanden sind und sehr
großes Interesse hervorrufen. Vgl. darüber hinaus einen Brief des Kölner Weih-
bischofs Theodoricus Wichwaels an Agrippa (1509), in dem er ihn um sein
Urteil über dieses Werk und die Antwort von Lucio Bellanti bittet (Ep. I, 21,
in Opera II, S. 700 f.).
Neben der bekannten Verbreitung der Vita — die für den englischen Be-
reich von S. E. L e h e m b e r g , Sir Thomas More's Life of Pico della Mirandola,
Studies in the Renaissance 3 (l956), S. 61—74, untersucht worden ist, der aber
auch den deutschen Bereich mit erfaßt — kann ein weiterer Vermittler, der die
Aufmerksamkeit auf die letzte religiöse und kritische Erfahrung Giovanni Picos
lenkte, das 'De rerum praenotione' des Neffen gewesen sein, auch er ein Savona-
rolianer. Dieses Werk Gianfrancescos war in der Absicht geschrieben worden,
einen Ersatz für das Buch 'adversus superstitiones' zu schaffen, das vom Onkel
geplant, durch seinen Tod aber unterbrochen worden war: s. De rerum praeno-
tione, 1. IV, Kap. 3; vgl. ibidem, 1. VII, Kap. 2: De multiplici magia et eins
inventoribus, et quid de magia naturali Joannes Picus ad ultimum senserit
.. .in hanc ipsum [loannem Picum] sententiam, naturalem haue esse magiam et
tantopere celebrandam, ad ultimum vitae non perstitisse, in Opera (Basel 1601),
II, S. 314 f., 416—19.
" C. B. S c h m i t t , Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469—1533) and
his critique of Aristotle (The Hague 1967), S. 237—242, Appendix C.
" Vgl. J. B i e l m a n n (s. Anm. 42) S. 319 f.; N o w o t n y , ed., De occulta
philosophia S. 391 schreibt dazu: „Mit der Zitierung von Zeitgenossen war man
damals äußerst vorsichtig und zurückhaltend. Agrippa zitiert bekanntlich Ficino
nicht und Pico sehr selten, auch Reuchlin... erwähnt er nie. Erasmus von Rotter-
dam bat Agrippa in seinen Briefen dringend, ihn um jeden Preis aus dem Spiel
Agrippa von Nettesheim 287

Giovanni Picos sicherlidi nidit darauf verzichtet, dessen Fortführung im


Werk des Neffen zu suchen, der sich offenkundig der Bibliothek und
Aufzeichnungen des großen Mirandolaners bediente.
U m kurz die vielfältigen Aspekte zu kennzeichnen, die die Lektüre des
Werkes von Pico bei Agrippa ergaben, genügt es einerseits, 'De vanitate'
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zu betrachten, wo die epistemologisch interessantesten Kapitel diejenigen


sind, die mit den Argumenten der 'Disputationes' die Widersprüche von
Astronomie und Astrologie diskutieren und andererseits, die Varianten
der beiden Fassungen von 'De occulta philosophia' durchzugehen. In
diesem Werk sind es gerade die Strukturänderungen, die den durch die
Lektüre des 'Heptaplus' ausgeübten Einfluß beweisen.
Nach dem Vorbild von Ficinos 'De vita' und Reuchlins 'De verbo
mirifico' war die erste Niederschrift in drei Bücher gegliedert. In dem
ursprünglichen Widmungsschreiben an ein weiteres wichtiges Vorbild,
nämlich an Trithemius, der seinerseits als eigenen „Meister" in grie-
chischer Kultur neben Conrad Celtis Reuchlin angab versichert Agrippa,
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zu lassen." — Im Sdilußteil dieser Arbeit werden die bedeutsamen Anleihen auf-


gezeigt, die Agrippa bei Ficino, Coelius Rodiginus und auch bei Pomponazzi
madite, ohne darauf hinzuweisen: Das argumentum e silentio scheint in Texten
jener Zeit besonders schwach zu sein.
" De vanitate, Kap. 30—31; s. oben Anm. 46.
" T r i t h e m i u s , Chronicon Spanheimense, in Opera historica (Francofurti
1601), I, S. 401: Trithemius habuit autem duos in literis graecis Praeceptores,
sibi invicem succedentes, quorum primus fuit Conradus Celtis Protucius, natione
francus, Orator et Poeta laureatus, a quo Grammatices et primae Graecanicae
institutionis rudimenta percepit; secundus fuit Johannes Capnion (alias Reidi-
lin), — Zu den Beziehungen mit Celtis vgl. als weiteres Zeugnis einen aus
Würzburg an ihn geriditeten Brief vom 1. Juli 1507, in Trithemius, Epistolae
(Hagenau 1536), S. 276: Brief 11,33; in derselben Briefsammlung kann man sich
informieren über die Verbindungen des Trithemius mit Celtis, Peutinger und
Pirdcheimer (S. 279—282), mit Wimpfeling (S. 289 f.), mit Conradus Mutianus
(S. 208), mit Hermann Buschius, den audi Butzbadi loben wird (S. 129—131),
mit Sebastian Brandt und nochmals Wimpfeling, gegen den Butzbach umge-
kehrt in seinem 'Clypeus' polemisierte (S. 298—301), sowie über die Beziehungen
zu Johannes Canter (S. 68—71, 88—90, 223). Über letzteren vgl. H. F e r t i g ,
Neues aus dem literarischen Nachlaß des Humanisten J. Butzbadi (s. Anm. 22),
S. 52 f. (Butzbadi weist audi auf die sehr gelehrten Söhne von Johannes hin,
die nach dessen Tod mox inconstantiae levitati quae plerumque doctis, ut aiunt,
adhaerere consuevit, sese dedere). — Zu den Beziehungen zwischen 'Trithemius
und Wimpfeling s. als weiteren Beleg auch den handschriftlichen Brief des
ersteren, im Ms. Bruxelles 2323, cc. 282—283. Über die Griediisch-Lektüren
des Abtes vgl. Brief 1,4 (ed. cit., S. 6): Mitte ad nos ... Dictionarium in
primis graecum ab Aldo impresso ... Psalterium ab eodem formis excusum
Venetiis. Item epistolas graecas manu nostra descriptas. Zenobium quoque, et ea
quae nos de Homero latina fecimus poemata. Eine weitere Bestätigung der
humanistischen Verbindungen (les Trithemius und seines Bewunderers findet sich
in einem Kölner Manuskript (Historisdies Ardiiv, W 8° 352, Bl. 166v—167),
einer unedierten 'Epistola sive tractatus de differentia et qualitate stili' von
Butzbach, worin Erasmus, Trithemius, Picus, H. Barbarus, Lef^vre, Reudilin, Cu-
288 Paola Zambelli

daß er nadi reiflicher Überlegung der Probleme, die sidi ihm erst nadi
den wenigen Tagen der Diskussion mit Trithemius in Würzburg erhellt
hätten, libellum presentem triplici tractatu iuxta tres facultates, quas
magia ipsa complectitur, compendiose perstrictum composuiIn Kap. 1,2
des Würzburger Manuskriptes erklärt er in eher sdiolastisdiem Ton, daß
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wie die gesamte spekulative Philosophie audi die Magie in Physik,


Mathematik und Theologie untersdiieden sei®'. Diese Unterteilung ist.

sanus, Hermann Busdiius, Wimpfeling und Rudolph Agricola (dessen


Sdiüler Trithemius gewesen war) sowie andere Humanisten gelobt werden. Im
Augenblidc befasse idi midi mit einem Ms. Vat. palat. lat. 730 der zitierten
Trithemius-Briefsammlung (besdiränkt auf die Jahre 1505—1507).
" Ms. Würzburg m. di. q. 50, Kap. Iv. — In der definitiven Drudeausgabe ist
audi der Widmungsbrief modifiziert und erweitert.
" Ms. Würzburg, Kap. 3r: Nam cum omnis philosophia speculativa divisa
sit in physicam, mathematicam et theologiam, phisica doceat naturam eorum
quae sunt in mundo, illorumque causas, effectus, tempora, loca, modos, eventa,
integritates et partes investigat atque rimatur (quot sunt, que rerum species
elementa vocantur, quid calor efficiat, quid terra, quid humidus aer, quid
generent, unde magni primordia celi, unde maris fluxus, variis e coloribus iris,
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reddere quid faciat clamosa tonitrua nubes, unde vel etherea fulmen iaculetur
ab aula, que secreta faces noctu, que causa cometas proferat et tumidas, que
ceca potencia terras concutiat, que sunt auri, que semina ferri totaque nature
vis ingeniosa latentis. Hoc anima naturarum speculatrix phisica complectitur)
et que canit Vergilius:
Unde hominum genus et pecudum, simul imber et ignes [Aen. I, 743]
Unde tremor terris, qua vi maria alta tumescant
Obicibus ruptis rursusque in se ipsa residant [Georg. II, 479—80]
Mathematica vero docet nos planam et in tres porrectam dimensiones naturam
cognoscere motumque ac celestium progressus suspicere, scilicet
Aurea quo celeri rapiantur sidera motu
Quid caligantem modo cogat hebescere lunam
defectusque pati dimisso lumine solem.
Et ut canit Vergilius: Quo circa certis dimensum partibus orbem
per duodena regat mundi sol aureus astra
[Georg. I, 231—32; dann 477—78, 252—56]
... Theologia autem quid Deus ipsa docet, quid mens, quid denique demon,
quid anima, quid religio, quae sacra instituta, ritus, phana, observationes sacra-
que misteria. Instruit quoque de fide, de miraculis, de virtute verborum et
figurarum, de arcanis operationibus et misteriis signaculorum et, ut inquit
Apuleius [Apologia, 25], docet nos rite scire atque callere leges ceremoniarum,
fas sacrorum atque ius religionum. Sed redeam unde digressus sum: has
tres imperiosissimas facultates magia ipsa complectitur, unit atque actuat,
merito ergo ab antiquis summa sanctissimaque sciencia habita est. — Dieser
Absdinitt wird größtenteils in der Endfassung übernommen (s. De occ. phil.,
1,2, in Opera, I, S. 2 f.); beriditigt wird nur philosophia speculativa in philo-
sophia regulativa und doceat in docet-, ausgelassen wird ein Gutteil der Be-
schreibung des Feldes der Physik {quot sunt que rerum — complectitur), die
ja nur die traditionellsten und sdiolastisdisten Fragen dieses Bereidies auf-
zeigte, weldie nidit einmal in der ersten Niedersdirift behandelt worden waren.
Neben dem Verzidit auf eine angemessene Erörterung der Elemententheorie
(die nur unter dem Aspekt der virtutes mirabiles et occultae betraditet wird)
und dem Verzidit auf selbst die Erwähnung der gewohnten Probleme in bezug
Agrippa von Nettesheim 289

wie Nowotny bemerkt, nidit immer eingehalten worden, da einige ins


dritte Budi gehörende Fragen sdion ins erste Buch vorgezogen worden
sind, das in der Endfassung sogar eine eigene innere Dreiteilung auf-
weist". Insgesamt gesehen jedodi wird eine solche Struktur durch die
Umstellungen und in die Druckausgabe eingeschobenen Zusätze verstärkt;
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die Druckausgabe führt übrigens eine Reihe neuer Kapitel mit einer
wesentlichen Neuaufteilung der Naturmagie ein. Selbst das Incipit des
Werkes in der endgültigen Fassung {Cum triplex sit mundus, elementalis,
coelestis et intellectualis, et quisque inferior a superiori regatur ac suarum
virium suscipiat influxum...) läßt die Formulierung der Kosmologie
des 'Heptaplus' durchklingen Das zweite Kapitel, das in beiden Fas-
sungen in der Substanz ähnlich ist, zeigt bereits 1510 die Kenntnis einer
diarakteristischen Definition aus 'De daemonibus' von Psellos, das von
Ficino übersetzt und von allen Renaissancemagiem benutzt wurde

auf den Ursprung von Welt und Himmel, bezüglidi Gezeiten und Regenbogen,
Donner und Blitz, Kometen und Erdbeben sowie die semina von Gold und
Eisen ist erwähnenswert, daß sidi das Werk audi in der Endfassung nidit
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streng an eine soldi dreiteilige Struktur und die traditionelle Auffassung der
drei Disziplinen halten wird. Ebenso wird auch die Mathematik die Flächen-
und Festkörpergeometrie, die Gesetze der Bewegung und Himmelsbahnen kaum
berühren und sich in einer Zahlemnystik auflösen (unter Auswertung neuer
kabbalistischer Texte); Einstatt das Wesen Gottes, der Seele und des Geistes zu
diskutieren, wird die Theologie von einem ganz besonderen Gesichtspunkt aus
„Riten, heilige Einrichtungen, Mysterien, Glaube und Wunder" betrachten,
und zwar indem sie sie mit der „Kraft der Worte und Figuren, mit den ge-
heimnisvollen Operationen und den Geheimnissen der Zeichen" identifiziert.
Wenngleich grundsätzlich die dreiteilige Struktur beibehalten wird, so be-
gründet das Werk 'De occulta philosophia' von 1533 sie dodi von neuem und
in kohärenterer Weise, wobei jeglidier Versuch einer Übereinkunft mit der
scholastischen Problematik aufgegeben wird.
A g r i p p a , De occulta philosophia, hrsg. Nowotny (s. Anm. 12) S. 423 f.,
903. — Auch N a u e r t , Agrippa and the Crisis S. 264, Anm. 11, erwähnt die
ursprüngliche Einteilung der Magie gemäß den drei Disziplinen (Physik,
Mathematik, Theologie), führt sie allerdings auf Aristoteles zurück, während
doch diese Anordnung, die der Mathematik so viel Raum zugesteht, allenfalls
auf eine neuplatonische Anregung zurückgeführt werden kann; mit Recht hebt er
hervor (vgl. S. 264), daß die angekündigte Struktur in 'De occulta philosophia'
nicht streng befolgt wird, er übertreibt m. E. jedoch mit der Behauptung (S. 263,
Anm. 7), daß das Werk "never particularly tightly organized became more and
more a loose conglomeration as the years went by. The final revision made only
a few half-hearted attempts to correct this structural weakness". Nauert unter-
schätzt die Wichtigkeit dieser strukturellen Veränderungen (im Kap. I, 1 der
Endfassung), da ihm die auf Pico zurückgehende philosophische Bedeutung solcher
Zusätze nicht gegenwärtig ist: Cum triplex sit mundus, elementalis, coelestis et
intellectualis, et quisque inferior a superiori regatur, ac suarum virium suscipiat
influxum..., De occ. phil I, 1, hrsg. Nowotny, S. 1/13. Diese Dreiteilung wendet
Agrippa erstmals im 'Dialogus de homine' an; vgl. Z a m b e 11 i , Rivista critica
13 (s. Anm. 4), S. 60 f.
Vgl. P i c o , Heptaplus, Buch V, Kap. 6—7, in De hominis dignitate,
Heptaplus, De ente et uno, hrsg. E. G a r i n (Florenz 1942), S. 300 f.
290 Paola Zambelli

{Magia vero facultas quaedam . . . potestatis plurimae compos . . .


perscrutatur uniuscuiusque rei sub luna genitae naturam, potentiam,
qualitatem elementorum, inquam eorum partium, animalium omnium,
plantarum et seminum et pomorum, item lapidum, herbarumque ac
summatim uniuscuiusque rei substantiam et virtutem) ; es zeigt weiter
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die Verwendung der 'Apologia de magia' des Apuleius" und eben


jenes berühmten Textes über die Gründer der Magie, den sdion Pico
in die 'Oratio de dignitate hominis' sowie in die 'Apologia'" und
Reudilin in 'De verbo mirifico'" aufgenommen hatten. Es folgen einige
angehängte Kapitel über die vier Elemente und ihre natürlichen und
okkulten Eigensdiaften, deren Quelle eher als in den von Nowotny
erwähnten Texten des 12. Jahrhunderts in der platonisdien Literatur
des 15. Jahrhunderts und in der lullianisdien Elementen-Theorie ge-
sucht werden sollte
U m in bezug auf die wichtigsten Charakteristika der Originalfassung
zum Schluß zu kommen, wollen wir nicht so sehr bei den eigentlich
„magischen" Quellen verweilen, für deren Kenntnis Nowotny — wenn-
gleich mit eher anthropologisdi-struktureller als historisch-philologischer
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Methode — durch seine kürzliche Ausgabe einen wesentlichen Beitrag


geleistet hat. Unter anderem hat er eine Reihe von Absätzen genau
festgelegt, welche bereits 1510 auf eine Quelle zurückgehen, die schon
vorher angezeigt worden war und kürzlich von E. Garin neu untersucht
worden ist. Gemeint ist das arabische Handbuch hellenistischer Magie,
das seit dem 13. Jahrhundert in Latein unter dem Titel 'Picatrix' im
Umlauf war". Nowotny beobachtet gut, daß in den Text von 1533

" Ms. Würzburg, c. 2^—3r.


Ms. Würzburg, c. 3r (s. oben Anm. 58; es wird jedoch nicht das ganze Zitat
wiedergegeben: aus A p u 1 e i u s, Apologia, 90).
" Vgl. P i c o , De hominis dignitate cit., S. 150, und Apologia (Basileae
1601), S. 80.
" J. R e u c h 1 i n , De verbo mirifico (Lyon 1551), S. 90 f.
" A g r i p p a , De occ. phil., hrsg. Nowotny, S. 423 f.: Erwähnt wird über
Beda 'De natura rerum' hinaus die 'Philosophia mundi' von Honorius Augusto-
dunensis. In diesem Sinne könnte auch das Beda zugeschriebene Werk 'De
constitutione mundi' herangezogen werden, das in Wahrheit jedodi anhand von
Texten Wilhelms von Conches zusammengestellt ist; obgleich Nowotny es ver-
meidet, die Auffassungen Agrippas über die Elemente auf so alte Texte zurück-
zuführen (wozu hingegen Nauert zuweilen neigt, s. oben Anm. 15), sollte immer-
hin die Kontinuität und Neubearbeitung dieser Motive in allen traditionellen
magischen Sdiriften und auch in der Tradition lullianischer Philosophie erwähnt
werden, Erbin der neuplatonischen Kosmologie. Vgl. F. Y a t e s, The Art of
Ramon Lull. An Approach to it through Lull's Theory of the Elements, Journal
of the Warburg and Courtauld Institute 17 (1954), S. 173 f.
" A g r i p p a , De occulta philosophia, hrsg. Nowotny S. 419; E. G a r i n ,
L'etä nuova (Neapel 1969), S. 387—419. Daß Agrippa bereits 1510 das Werk
'Picatrix' verwendet, ist eine weitere Bekräftigung dessen, was Garin über die
Agrippa von Nettesheim 291

Rezepte und Wunder aufgenommen sind, die mittelalterlidien Schriften


über Magie entstammen, — eine Tatsache, die ein solides Argument für
die Zurückweisung der traditionellen These bietet, daß der alte Agrippa
sich von soldien Texten abgestoßen gefühlt und keinerlei Interesse für
sie gezeigt habe. Einen kurzen Hinweis verdient hingegen die Reich-
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haltigkeit klassisdier, vor allem dichterischer Zitate, die bereits im


Manuskript auffällt. Gerade dieser Reichtum hat Nauert dazu geführt,
meine Kennzeichnung des Würzburger Manuskripts als humanistische
Rimdschau klassischer Texte über Magie zu akzeptieren, die sich um
einen mittelalterlichen Kern ('Picatrix') und einen Kern des Quattrocento
(Ficino, Reuchlin und Trithemius) scharten". Nun ist eine solche Reich-
haltigkeit und Vielfalt poetischer Zitate gewiß auf Jugendlektüren
Agrippas zurückzuführen; man darf jedoch nicht an dem Umstand vor-
übergehen, daß einige der charakteristischsten zitierten Texte talis
qualis in den zwei modernen Abhandlungen auftaudien, die er geöffnet
vor sich auf der Sdireibtafel liegen hatte: Es handelt sich vor allem um
'De verbo mirifico', aber auch um Ficinos 'De vita'. Ein Beispiel für
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viele mag uns davon überzeugen. Die Kapitel 1,7 und 1 1 " (dieses
W. 1,5 entsprechend) zitieren die so berühmten Virgilverse: Igneus est
Ollis vigor et coelestis origo / Seminibus, quantum non noxia corpora
tardant. Diese Verse erfreuten sidi besonderer Beliebtheit im 12. Jahr-
hundert, das in ihnen die Idee der anima mundi erkannte bzw. „die
Natur selbst als dynamisches Prinzip, das das Ganze organisch be-
herrscht" Zur Zeit Agrippas waren sie von Reuchlin selbst in einen
sehr bezeichnenden Kontext von "De verbo mirifico' aufgenommen

wichtige Rolle dieses Textes in der natürlichen Magie der Renaissance ausführt.
Allerdings muß idi Nowotny (S. 419) in einem unwesentlichen Punkt berichtigen.
Er glaubt, daß zwei Zitate aus 'Picatrix', die 1510 vorhanden sind, in der Fas-
sung von 1533 nicht erscheinen: Das Kap. II, 10 De imaginibus Veneris (vgl. Ms.
Würzburg, Bl. ir v) wird im Jahre 1533 das Kap. II, 42, und das Kap. III, 1
Prologus docens utilitatem et virtutem religionis (Ms. Bl. 84'-^) bleibt im Kap.
III, 1 von 1533 unverändert.
S. oben Anm. 19.
" Das Kap. I, 11 der Endfassung entspricht dem Kap. I, 5 des Würzburger
Manuskripts (Bl. 7'), während das Kap. I, 7 in der Ausgabe von 1531/1533 ein
Zusatz ist.
«» V e r g i l i u s , Aeneis VI, 730—31. Über das Sdiidtsal dieses Topos im 12.
Jahrhundert vgl. T. G r e g o r y , L'idea della natura, in: La filosofia della natura
nel Medioevo Atti del III Congresso Internazionale di Filosofia medievale (Mai-
land 1966), S. 18, Anm. 55 und die umfangreidie dort angegebene Biblio-
graphie; s. audi d e r s . , Anima mundi (Florenz 1956), Kap. II. Zur Verbreitung
dieser und der unmittelbar vorangehenden Verse vgl. D. P. W a 1 k e r (s. o.
Anm. 10), S. 13 (Ficino betreffend), F. Y a t e s , G. Bruno (s. ebd.), S. 69
(Giordano Bruno betreffend) und R. M o n d o l f o , Filosofi tedeschi (Bologna
1958), S. 32 (ebenfalls zu G. Bruno).
292 Paola Zambelli

worden'". Zusammen mit diesen werden die anderen bekannten Verse


der 'Aenaidos', die den zitierten v o r a n g e h e n i m Kapitel II, 55 wieder-
gegeben, in dem eben De anima mundi et coelestium iuxta traditionem
poetarum et philosophorum die Rede ist"; das Thema spiritus intus alit
hatte aber bereits Ficino in 'De vita' wieder aufgegriffen".
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Abschließend möchte ich noch einige Kapitel von 'De occulta philoso-
phia' (1,63—65) imd die interessante Kontamination zeitgenössischer
Quellen betrachten, die in ihnen zu beobaditen ist. Es handelt sich um
eine Gruppe von Kapiteln, die die physischen Effekte der Leiden-
schaften erörtern". Diese Kapitel finden im Text der ersten Abfassung
(1,39—42) teilweise Entsprechung, sind jedoch alle mit neuen Beispielen
und philosophischen Überlegungen angereichert, die ihren Sinn ändern
und vertiefen. Sie werden uns behilflich sein, eine Art historisches Ex-
periment in bezug auf den Gebrauch durchzuführen, den Agrippa von
Werken zeitgenössischer Autoren machte (sei es, daß er sie zitierte oder
ohne Angabe der Abhängigkeit ein Plagiat vornahm), ein Experiment
gleichzeitig auch in bezug auf Agrippas Aufmerksamkeit für die ent-
gegengesetzten Lösungen, die zwei Philosophen (Ficino und Pomponazzi)
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für die Probleme der natürlichen und geistigen Magie vorschlugen. Der
Name Pomponazzi wird in der Diskussion über die Renaissance-Magie
zumeist vernachlässigt, weil von den Werken dieses Außenseiters unter
den Padovanischen Aristotelikern das 'De naturalium effectuum admiran-
dorum causis et de incantationibus' am wenigsten untersucht worden ist.
Erst Henri Busson hat den Text wieder ins Blickfeld gerückt, und zwar

™ J. R e u c h 1 i n , De verbo mirifico (Lyon 1551), II, 21, S. 218 f. u. II, 10, S. 141.
' ' Aeneis VI, 725—32 (vgl. audi oben Anm. 69) :
Principio caelum ac terras camposque liquentis
lucentemque globum lunae Titaniaque astra
spiritus intus alit totamque infusa per artus
mens agitat molem et magno se corpore miscet.
Inde hominum pecudumque genus vitaeque volantum
et quae marmoreo fert monstra sub aequore pontus.
Igneus est ollis vigor et caelestis origo
seminibus, quantum non noxia corpora tardant
terrenique hebetant artus moribundaque membra.
Die Verse werden in De occ. phil., II, 55 zitiert, eine Stelle, die schon im Ms.
Würzburg dem Kap. III. 18, BI. 96'-^ entspridit.
« Dieses Kapitel entspridit Kap. III, 18 des Ms. Würzburg, Bl. 96r-v.
" M. F i c i n o , De vita, III, 3, in Opera (Basileae 1576), S. 535; vgl. ibidem,
S. 128 f., 612.
" In der Endfassung sind es die Kapitel 1,62: Quomodo passiones animi mutant
corpus proprium, permutando accidentia et movendo spiritum, I, 63: Quomodo
passiones animi immutant corpus per modum imitationis a similitudine. Item de
transformatione ac translatione hominum et quas vires vis imaginativa non
solum in corpus, sed etiam in animam obtineat, sowie I, 65: Quomodo passione
animi etiam operentur extra se in corpus alienum. Im Ms. Würzburg, Kap. I,
39—42, Bl. 30f—33f.
Agrippa von Nettesheim 293

unter dem Gesichtspunkt der Ursprünge von Rationalismus und „Liber-


tinismus" Er verdient jedoch nicht nur wegen seiner Auswirkungen
auf das 17. Jahrhundert Beachtung, sondern auch als (ebenfalls Walker
und Yates entgangenes) Dokument der Diskussion — aus aristotelischer
Sicht — über die Interpretation der Magie, die am Ende des 15. Jahr-
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hunderts Ficino vorschlug. Auch die Analyse des sdiiditartigen Aufbaus


besagter Kapitel von 'De occulta philosophia' liefert uns einen Beweis
dafür, weldi ein Gewidit die Debatte über Themen der Magie in den
ersten Jahrzehnten des Cinquecento besaß (wie dann audi zur Zeit
Telesios, Patrizis, Brunos und Campanellas). Das konnte einem aufmerk-
samen und philosophisch wadien Beobachter wie Agrippa nicht entgehen.
Die Lektüre der schon im Würzburger Manuskript vorhandenen Ab-
schnitte zeigt uns die Treue und das Interesse Agrippas einem anderen
originellen Werk Ficinos gegenüber, das er bereits vor 1510 kannte und
mit geschickter Montagetechnik in diesen Kapiteln verwandte: Sie gehen
tatsächlich gänzlich auf die Theologia platonica zurück". Dieses Ficino-
Kapitel ist für die nachfolgende philosophische Literatur von großer
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Wichtigkeit gewesen, wie H. Busson bemerkt, der dafür aufschlußreiche


Zeugnisse im erwähnten Werk Pomponazzis (1520), in den 'Antiquarum
lectionum libri' des Coelius Rhodiginus (1516) sowie bei Vulgarisatoren
wie Pedro Mexia und Pierre de la Primaudaye findet. Busson, der ver-
schiedene Affinitäten und einige gemeinsame Beispiele zwisdien Pom-
ponazzi ('De incantationibus') und Cornelius Agrippa festgestellt hat,
wirft auch für dieses Kapitel das Problem einer eventuellen Abhängigkeit
des letzteren vom ersten auf; da er jedoch das Würzburger Manuskript
noch nicht kennt, vermag er die Frage der Chronologie nicht zu lösen
und muß das so interessante Problem offenlassen. Er äußert sogar die
Vermutung, daß sich Agrippa ganz darauf beschränkt habe, Coelius
Rhodiginus zu benutzen. Unter den hinzugefügten Beispielen der end-
gültigen Fassung des Kapitels 1,64 hängen das Avicennische Beispiel, das
die freiwillige Lähmung betrifft, und andere Beispiele von ungewöhnlichen
physischen Effekten, Fälle, die auf der Grundlage eines augustinischen
Textes referiert werden", tatsächlich von den 'Antiquarum lectionum

" Vgl. P o m p o n a z z i , Les endiantements, dioix, trad. et notes par H. Bus-


son (Paris 1930), S. 65—67; zu weiteren parallelen Stellen bei Pomponazzi und
Agrippa (die sidi häufig mit gemeinsamen Quellen erklären lassen) vgl. S. 121,
122, 123 f., 136 f., 139, 157 f., 205.
" M. F i c i n o , Theologia platonica de immortalitate animorum, Budj XIII,
Kap. 1, in Opera S. 284—86. Diese Beispiele und Argumente Ficinos werden von
Agrippa bereits in De occ. phil., I, 39—41 übernommen (Ms. Würzburg, Bl.
30r—32v).
" De civitate Dei, XIV, 24.
294 Paola Zambelli

libri' ab", einem Werk, das auch Pomponazzi benutzt hatte", das in
umfassenderer Weise von Agrippa jedoch dem Text des Rhodiginus
selbst entnommen wurde. In eben diesem Kapitel 1,64 fügt Agrippa
aber (neben einem humanistischen Zitat aus Pontanus) einige Sätze
unzweifelhaft pomponazzianisdier Herkunft hinzu. Wir wollen dabei
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nicht auf die Bemerkung eingehen, daß viele Zeitgenossen avium,


pecorum, canum, hominumque quorumque voces sie imitantur exprimunt-
que, ut discerni omnino non possintsondern auf die sozusagen
rationalistische Interpretation eines Wunders, das im Mittelpunkt der
Demut des Volkes stand: Die Wundmale des Heiligen Franziskus. Pom-
ponazzi, der einen Großteil seiner Abhandlung darauf verwendet, die
Mirakel und Prophezeiungen auf natürliche Weise zu erklären, und den
Rückgriff auf jegliche Art geistiger Mächte verschmäht, vermutet auch
in diesem Fall die Wirkung der heftigen Leidenschaften als Effekte
physischer Kräfte, die sich materialisieren". Agrippa zitiert Pomponazzi
in diesem Fall weder genau, noch nennt er ihn. Die Bezugnahme auf die
These des Italieners ist jedoch leicht auszumachen. Vehemens enim cogi-
tatio dum species vehementer movet, in Ulis rei cogitatae figuram depingit,
For personal use only.

" C. R h o d i g i n u s [ R i c c h i e r i ] , Antiquarum lectionum über XX, Kap.


XV (Basileae 1542), S. 776 f., zit. bei Busson; die mit Pomponazzi und Agrippa
zu vergleichenden Abschnitte finden sich schon in Buch IX, Kap. XV der Vene-
zianischen Ausgabe von 1516: Quam late pateat Animae rationalis imperium in
corpus. Unde sit gravidarum mollicies et Appetitus absurditas. Vgl. audi Kap.
XVI: Exempla historica ad idipsum und Kap. XVII: Quid sit imaginatio sive
Phantasia. An cum opinione coniungatur.
" P. P o m p o n a z z i , Opera. De naturalium effectuum admirandorum causis,
Item de f a t o . . . (Basileae 1567), Kap. IV, S. 38 f.; übers. Busson (wie Anm. 75)
S. 136 f. — vgl. hierzu R h o d i g i n u s , ed. 1516, Kap. XVI, S.564 und A g r i p -
p a , De occ. phil., I, 64 (Zusatz in der Ausgabe von 1533).
A g r i p p a , De occ. phil., hrsg. Nowotny S. LXXXV/97, P o m p o n a z z i
(wie Anm. 75), Kap. IV, R h o d i g i n u s (wie Anm. 78) Kap. XVI.
" P o m p o n a z z i Kap. V, S. 67 f. (Übers. Busson, S. 149): Octava dubitatio
est quoniam secundum istos tres modos naturaliter passio Domini nostri Salva-
toris possit figurari in cordibus humanis, et sie que dicuntur de Sancta Catharina
Senensi, et de quibusdam aliis sanctis mulieribus, non esset ex divino miraculo.
Et consequenter secundum istum modum dici passet beatum Franciscum ex
miraculo non habuisse (si modo hahuit) Stigmata Salvatoris nostri: quoniam si
ex fixa mulieris imaginatione coeuntis, foetus secundum Stigmata possit assimi-
lari realiter rei imaginatae, et ex mutiere praegnante imaginante, exempli
gratia, malum granatum, foetus habet Stigmata mali granati, et ex imaginatione
leprae innascitur lepra, cur igitur et in corde et in reliquis membris talia
Stigmata fingi non possent? certe non dispar videtur ratio. Die weite Verbreitung
dieser rationalistischen Erklärung des berühmten Wunders wird bezeugt von
T. C a m p a n e l l a , De rerum natura. Buch IV, Kap. II (Ausgabe von 1637),
S. 156 — vgl. dazu B l a n c h e t , Campanella (Paris 1920), S. 218 — sowie von
G. C. V a n i n i , De admirandis Naturae reginae deaeque mortalium arcanis, ein
Werk, das in den Dialogen die gesamte Argumentation Ficinos, Pomponazzis
und Agrippas bringt.
Agrippa von Nettesheim 295

quam Uli in sanguine effingunt... Huc multi etiam... Francisci Stig-


mata referre volunt, dum... Christi vulnera vehementer contemplatur
Die Darstellung in der indirekten Form, die eine offensichtliche Vor-
sichtsmaßnahme darstellt, verringert nicht die Bedeutung dieser so
diarakteristisdien Nähe zu einem gedanklichen Vorgang bei Pompo-
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nazzi. Man könnte diese Abhängigkeit mit einer Reihe weiterer Ab-
schnitte und anderer Argumentationen unterstreichen, die Agrippa der
endgültigen Fassung hinzufügte. Sie zeigen sowohl die Lektüre von 'De
incantationibus' als auch die Vertiefung der religiösen Konzeptionen
Agrippas in antikonformistischer Richtung. Aus den ersten Kapiteln des
III. Buches von 'De occulta philosophia' (welches ganz der „religiösen"
bzw. zeremoniellen Magie und der Macht des Gebets bzw. der geistigen
Konzentration gewidmet ist) ließen sich sehr ergötzliche Dokumente
liefern: Unter anderem zeigen sie die Entwicklung der religiösen und
philosophischen Schlußfolgerungen dieses magischen Werkes parallel zu
denen von 'De vanitate'. Hier soll nur hervorgehoben werden, daß die
Lektüre und das Interesse für Pomponazzis Philosophie, gerade in ihren
For personal use only.

weniger traditionellen Aspekten im Hinblick auf die Paduanische Scho-


lastik und die Florentiner Platon-Renaissance, erklärbar sind, auch in
bezug auf ein Werk, das wie 'De incantationibus' in Manuskriptform
umlief. Sie erklären sich nämlich dank des Umstandes, daß ein Freund
und Kollege Agrippas während seines Aufenthaltes an der Universität
von Pavia und auch noch danach Paolo Ricci war, ein jüdischer Konvertit,
Ausleger der Kabbala sowie des Evangeliums iuxta Peripateticorum
dogma und zudem ein Schüler Pomponazzis". Die Demonstration dieses
Interesses bekräftigen Reichtum und Vertiefung der philosophischen Er-
fahrung Agrippas selbst auf den reifsten Seiten von 'De occulta
philosophia'.

A g r i p p a , De occ. phil., hrsg. Nowotny, I, 64, S. LXXXV/97.


" Agrippa (Epistola VIT, 26, S. 1038) erwähnt Paulum Ricium Papiensem im
Zusammenhang mit den größten Hebraisten und Kabbalisten. Die Anwesenheit
des Konvertiten Ricci an der Universität von Pavia im Jahre 1515 wird von
den Memorie e documenti dell'Universitä di Pavia (Pavia 1878), I, S. 169, be-
zeugt. Seine Beziehungen zu Pomponazzi kommen in dem Vorwort zum Aus-
druck, das dieser — unicus nostro evo philosophiae moderator — 1514 für
P. R i c i u s geschrieben hatte zu dessen Schrift: In Apostolorum simbolum...
iuxta peripateticorum dogma dialogus perplane et summo ingenii Acumine lu-
mine Gratiae lumen concilians Naturae (Augustae 1514; dann Papiae 1517).
Über die Persönlichkeit Rieds vgl. jetzt F. S e c r e t , Les Kabbalistes dirdtiens
(s. Anm. 10) S. 87—99. Ein weiterer Hinweis findet sidi bei J. R e u c h l i n ,
De arte cabalistica (Hagenau 1517), BI. Lllr., der in bezug auf die einzigen
Versuche, die Kabbala zu übersetzen und den Lateinern zur Kenntnis zu bringen,,
neben Giovanni Pico Paulum Ricium quondam nostrum erwähnt.

8 Archiv für Kulturgcsdiidite 51/2


Enzyklopädie und Jurisprudenz
von ArnoBuschmann
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Enzyklopädien der Reditswissensdiaft sind seit langem aus der juri-


stisdien Literatur nahezu versdiwunden. Das letzte große Werk dieser
Art, die ,Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissensdiaft", deren erste
Teile zu Beginn unseres Jahrhunderts ersdiienen sind, ist längst keine ge-
sdilossene Darstellung mehr, sondern hat sidi in eine Anzahl von Einzel-
darstellungen aufgelöst, die nur nodi durdi den gemeinsamen Serientitel
zusammengehalten werden
Diese Tatsadie ist verständlidi. Der ständig wadisende Umfang der
juristischen Materien und die immer größer werdende Zahl der juri-
stischen Disziplinen haben es mit sich gebracht, daß es kaum noch für mög-
lich gehalten wird, die verschiedenen Bestandteile der Rechtswissenschaft
in einer geschlossenen Darstellung zusammenzufassen. Schon wird es immer
For personal use only.

schwieriger, selbst einzelne Teilgebiete zu überblicken; das schnelle An-


wachsen der gesetzlichen Vorschriften, die Menge der Gerichtsentscheidun-
gen und die Vielfalt der wissenschaftlichen Erörterungen lassen selbst die
Darstellungen solcher Teilgebiete oft zum Zeitpunkt ihrer Veröffent-
lichung veraltet oder nicht mehr auf dem neuesten Stand der Diskussion
erscheinen.
Auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu bestreiten, daß gerade wegen
dieser Schwierigkeiten die Notwendigkeit zusammenfassender Darstel-
lungen immer deutlicher erkennbar wird. Für den ausgebildeten Juristen
ergibt sich diese Notwendigkeit in erster Linie aus dem Gesichtspunkt, der
Gefahr einer übermäßigen Spezialisierung wirksam zu begegnen. In dem
Maße, in dem er durch die Unübersehbarkeit des juristischen Wissens
gezwungen wird, sich auf ein bestimmtes, eng umgrenztes Gebiet zu be-
schränken, wird er genötigt sein, sich nach einer allgemeinen Orientierung
umzusehen und die allgemeinen Grundlagen ins Auge zu fassen, wenn er
nicht in der Enge eines einzelnen Fachgebietes versinken will. Für den
Studierenden dagegen resultiert sie nicht so sehr aus dem Bedürfnis, einer
übermäßigen Spezialisierung entgegenzuwirken, als vielmehr aus dem
Gesichtspunkt, angesichts der zahlreichen Details, die ihn während seines
Studiums beschäftigen, die Beziehungen, die zwischen diesen bestehen, zu
erkennen und nicht aus den Augen zu verlieren.

^ Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, begründet von F. v o n


L i s z t und W. K a s k e I, später herausgegeben von W. K u n k e l , H . P e t e r s ,
E. P r e i s e r u.a. (1923ff.).
Enzyklopädie und Jurisprudenz 297

Am deutlichsten ergibt sidi diese Notwendigkeit jedoch aus dem gegen-


wärtigen Zustand der Rechtswissenschaft selbst. Während auf der einen
Seite die Masse des juristischen Stoffes immer größer wird, läßt auf der
anderen Seite der Zusammenhalt der verschiedenen juristischen Teil-
disziplinen immer stärker nach. Dieses Nachlassen ist so deutlich, daß
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zuweilen die Zugehörigkeit mancher Disziplinen zur Rechtswissenschaft


durchaus zweifelhaft geworden ist.
Die Rechtsphilosophie — als Naturrecht alter Bestandteil der Juris-
prudenz und als juristisch-philosophische Spekulation spätestens seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts fest mit der Rechtswissenschaft verbun-
den — wird heute nur deshalb noch von der Rechtswissenschaft als eine
juristische Disziplin in Anspruch genommen, weil sie durch die jüngste
politische Vergangenheit eine unerwartete juristische Aktualität erlangt
hat Ob dagegen die Rechtsgeschichte ihren traditionellen Ort innerhalb
der Rechtswissenschaft behaupten kann, ist mehr als unsicher. Seit sie auf
die Beschäftigung mit dem rein historischen Recht reduziert ist und den
unmittelbaren Zusammenhang mit der gegenwärtigen juristischen Wirk-
For personal use only.

lichkeit verloren hat, befindet sie sich immer mehr in der Gefahr, von der
allgemeinen Geschichtswissenschaft aufgesogen, mehr von Historikern als
von Juristen bearbeitet zu werden und schließlich gänzlich an die Ge-
schichtswissenschaft verlorenzugehen Für manchen in der Praxis tätigen
Juristen mag der Verlust dieser alten juristischen Disziplin vielleicht zu
verschmerzen sein; ob er über eine Kenntnis des alten Rechts verfügt oder
nicht, wird ihm bei der Ausübung seines Berufes — jedenfalls bei der
täglichen Berufsarbeit — ziemlich gleichgültig sein. Nicht gleichgültig wird
allerdings auch ihm die Kenntnis solcher Fakten sein, die der Rechts-
geschichte angehören, dennoch aber für das Verständnis und die Anwen-
dung geltender Rechtsvorschriften von Bedeutung sind. Man braucht nur
an die großen methodischen und dogmatischen Veränderungen zu denken,
die sich seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts in der Rechtswissenschaft
abgespielt haben, um zu erkennen, wie notwendig es auch für den prak-
tisch tätigen Juristen ist, sich in der Geschichte des Rechts auszukennen.
Daß auf der anderen Seite diese Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte

® Zur gegenwärtigen Lage der Reditsphilosophie bzw. der Diskussion um das


Naturredit vgl. u. a. H. G o i n g , Naturredit als wissenschaftliches Problem
(1964); F. W i e a c k e r , Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion (1965);
ferner die Aufsatzsammlungen: Naturreeht oder Rechtspositivismus?, hrsg. von
W. M a i h o f e r (®1966); Die ontologische Begründung des Rechts, hrsg. von
Arthur K a u f m a n n (1965); sdiließlich die Literaturberichte von H.-U. E v e r s ,
Juristenzeitung 1964, S. 237 ff. und 1967, S. 73 ff.
' Zur Lage der Wissenschaft von der Rechtsgeschichte zuletzt K. A. E c k -
h a r d t i n v . A m i r a - E c k h a r d t , Germanisdies Redit 1 (<1960) S. 186ff.,
problematisch allerdings S. 189—200.

298 Arno Buschmann

der neuesten Zeit nidit dem Historiker überlassen bleiben kann, wird
jedem Juristen ohne weiteres einleuchten. Die Reditsgeschichte dürfte also
auch heute noch — trotz aller Reduktion auf die Beschäftigung mit den
historischen RecJitsformen — nur zum Schaden der Juristen an die Ge-
sdiichtswissenschaft abgegeben werden können.
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Der letzte Nachweis dieser Zugehörigkeit dürfte freilich nicht durch den
Hinweis auf die praktische Verwertbarkeit rechtshistorischer Erkenntnisse
geführt werden können, sondern allein durch eine Besinnung auf den
inneren Zusammenhang der Rechtswissenschaft selbst: durch eine juri-
stische Enzyklopädie. Die juristische Enzyklopädie ist diejenige Darstel-
lungsform der juristischen Literatur, in der die Einheit der Rechtswissen-
schaft demonstriert wird.
Die Aufgabe, der Spezialisierung des Juristen entgegenzuwirken und
den Zusammenhalt der Rechtswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin
zu fördern, führt somit notwendig zu einer erneuten Beschäftigung mit
der traditionellen enzyklopädischen Darstellungsweise der Rechtswissen-
schaft. Tatsächlich hat es in der jüngsten Vergangenheit auch einige ver-
einzelte Ansätze gegeben, diese Darstellungsweise zu erneuern und das
For personal use only.

Ganze der Rechtswissenschaft in einer geschlossenen Darstellung zu behan-


deln. An erster Stelle ist hier das Werk von Georg Dahm zu nennen, das
den Versuch enthält, eine historisch-dogmatische Gesamtübersicht über die
Grundlagen des geltenden Redhts zu b i e t e n A b e r diese Bemühungen
sind — soweit ersichtlich — ohne Nachfolge geblieben. Die Aufgabe, die
Rechtswissenschaft als Ganzes zu erfassen, sämtliche juristischen Gegen-
stände und Disziplinen zu einer geschlossenen Einheit zusammenzufassen,
ist nach wie vor ungelöst.
Der Beitrag, den der Rechtshistoriker zur Lösung dieser Aufgabe lei-
sten kann, ist freilich bescheiden. Für den Rechtshistoriker kann es nicht
darauf ankommen, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gegen-
ständen, mit denen es die Rechtswissenschaft zu tun hat, zu ermitteln, zu
ordnen und in einen geschlossenen Zusammenhang zu bringen. Sein Bei-
trag kann vielmehr nur darin bestehen, die Entstehung und die verschie-
denen Wandlungen zu zeigen, die diese Darstellungsform im Verlauf der
Geschichte der Rechtswissenschaft erfahren hat
Wer sich mit der Entstehung und den Wandlungen enzyklopädischer
Darstellungsweise der Rechtswissenschaft beschäftigen will, wird zunächst
äa G. D a h m , Deutsdies Recht (21963).
* Zur Geschichte der juristisdien Enzyklopädie vgl. vor allem die ältere enzyklo-
pädisdie Literatur: H. O r 11 o f f , Encyclopädie der Reditswissenschaft (1857)
S. 11 ff.; ferner A. F r i e d l ä n d e r , Encyclopädie des Rechts (1847) S. 4ff., so-
wie F. W a l t e r , Juristische Encyclopädie (1856) S. 67 ff., H. A h r e n s , Juri-
stische Encyclopädie (1855) S. 3 ff., vor allem Anm. 2.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 299

erklären müssen, was unter enzyklopädischer Darstellungsweise oder ein-


fadi Enzyklopädie zu verstehen ist. Denn wie bei den meisten Begriffen,
die wir verwenden, wird auch unter dem Begriff der Enzyklopädie ver-
schiedenes verstanden.
Nadi dem heutigen Sprachgebrauch versteht man unter Enzyklopädie
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eine umfassende Darstellung des gesamten menschlichen Wissens oder


wenigstens eines großen, in sidi geschlossenen Wissenschaftsgebietes. Man
unterscheidet jedoch alphabetisch angelegte Enzyklopädien, die herkömm-
lich als Lexika oder Wörterbücher bezeichnet werden, und systematische
Enzyklopädien, d. h. handbuchartige Nachschlage- oder Sammelwerke.
Das Wort selbst stammt aus dem Griechischen und bedeutet dort soviel
wie „kreisförmige Lehre" oder auch „Umkreis der Lehre". Die Griechen
verstanden darunter eine Darstellung sämtlicher Wissenschaften und
Künste, soweit sie zur allgemeinen Bildung gerechnet wurden und ihre
Beherrschung Voraussetzung für die Bekleidung eines öffentlichen Amtes
bildete. Auch die Römer haben eine solche Darstellung gekannt und ver-
wendet. Bekannt ist Quintilians nahezu wörtliche Übersetzung des grie-
For personal use only.

chischen Wortes, nämlich „Orbis doctrinarum omnium" Dem Mittelalter


allerdings war sowohl das Wort Enzyklopädie wie die Bezeichnung eines
„Orbis doctrinarum omnium" fremd. Man operierte stattdessen mit Be-
zeichnungen wie „Speculum", auf deutsch „Spiegel", „Respectaculum" und
vor allem „Summa". Erst im 17. Jahrhundert griff man wieder auf das
alte Wort Enzyklopädie — und damit auf den alten Begriff — zurück;
seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gehört es zum festen Sprachgebrauch,
Darstellungen des gesamten menschlichen Wissens oder einzelner ge-
schlossener Wissenschaftsgebiete als Enzyklopädien zu bezeichnen.
Die ersten Darstellungen, die als Enzyklopädien bezeichnet werden
können, sind freilich nicht schon von den Griechen überliefert. Von ihnen
stammen lediglich Wort und Begriff. Die ersten Enzyklopädien finden
sich vielmehr erst bei den Römern. Die bekannteste und wohl auch be-
deutungsvollste unter ihnen dürfte die berühmte „Historia naturalis" des
älteren Plinius sein, von der uns allerdings nur einige Fragmente erhalten
sind. Eine weitere bedeutende Darstellung der römischen Literatur sind
die „Antiquitates" des Varro, denen insofern eine besondere Bedeutung
zukommt, als ihre Einteilung in die sieben Künste, „artes" oder auch „dis-
ciplinae" genannt, die Grundlage für das mittelalterliche System der
Wissenschaften bildet. Auch im Mittelalter sind immer wieder Versuche
unternommen worden, die Gesamtheit des menschlichen Wissens darzu-
stellen. Die bekanntesten Werke dieser Art sind Isidors „Etymologiae sive
origines" und das berühmte „Speculum maius" bzw. „Quadruplex" des

« Inst. orat. 1,10.


300 Arno Buschmann

Vincenz von Beauvais. Seit der frühen Neuzeit nimmt die Zahl der enzy-
klopädischen Darstellungen ständig zu. Neben die eigentlidbien Gesamt-
darstellungen des mensdilichen Wissens, die in Aufbau und Zusammen-
stellung nodi immer den mittelalterlidien Vorbildern folgen, treten zu-
nächst die „Wörterbücher", d. h. alphabetische Zusammenstellungen von
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Abhandlungen über einzelne Gegenstände des Wissens. Aus den Wer-


ken, die unter diesem Titel erschienen sind, ragt vor allem Pierre Bayles
„Dictionnaire historique et critique" hervor. Höhepunkt und Abschluß
der Versuche, das menschliche Wissen enzyklopädisch zusammenzufassen,
bilden jedoch die großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, allen voran
die große französische Enzyklopädie und die „Encyclopaedia Britannica".
Die ersten juristischen Enzyklopädien tauchen allerdings erst sehr spät
auf. Als erstes Werk wird zumeist Wilhelm Durantis' „Speculum juris"
genannt, das aus dem Ende des 13. Jahrhunderts stammt und eine Über-
sicht über das gesamte damals geltende römische und kanonische Recht
enthält. Ein weiteres frühes Werk der enzyklopädischen Literatur inner-
halb der Jurisprudenz ist Konrad Lagus' berühmte „Iuris utriusque
methodica traditio" aus dem Jahre 1543'. In ihr sind die wichtigsten
For personal use only.

Gegenstände der damaligen Jurisprudenz einschließlich dessen, was wir


heute als Rechtsphilosophie bezeichnen, behandelt. Zu den frühen enzy-
klopädischen Werken der juristischen Literatur kann auch das kleine, aber
sehr verbreitete Werk des Jacobus Gothofredus gerechnet werden, das
den Titel „Manuale juris seu parva juris mysteria" trägt und einen Abriß
der römischen Rechtsgeschidbite, der juristischen Bibliographie, der wich-
tigsten Institutionen und Sätze des römischen Rechts sowie ein Verzeichnis
sämtlicher Titel des Corpus juris civilis enthält^. Enzyklopädischen
Charakter haben auch die meisten Werke der Literatur zur juristischen
Studienreform und Studienmethode, die seit dem Anfang des 16. Jahr-
hunderts in immer größer werdender Zahl verfaßt worden sind. Das
erste Werk, das die Bezeichnung Enzyklopädie auch ausdrücklich im Titel
führt, stammt allerdings erst aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Es
ist Hellfrich Ulrich Hunnius' „Encyclopaedia juris universi" aus dem
Jahre 1638, eine nach dem Tode ihres Verfassers herausgegebene, reich-
lich zufällige Zusammenstellung der gebräuchlichen juristischen Materien
der damaligen Zeit

' R. S t i n t z i n g - E . L a n d s b e r g , Gesdiichte der deutsdien Rechtswissen-


sdiaft, I, 1 (1880) S. 300 ff.
' Hier benutzt Ausgabe Leiden 1676.
' S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , S . 705 £f. Weitere Darstellungen der „Encyclo-
paedia juris" im 17. Jh. stammten von Andreas v. K n i c h e n und Joh. Phil, a
V o r b u r g ; vgl. M. L i p e n i u s , Bibliotheca realis juridica, editio novissima, cura
Fr. Gottl. S t r u v i i (Francofurt. etLips. 1720) S. 179. Über Knidien vgl. S t i n t -
z i n g - L a n d s b e r g , I , 2 (1884) S. 15 Anm. 1.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 301

Der eigentlidie Ursprung der juristisdien Enzyklopädie, d. h. der um-


fassenden systematisdien Gesamtdarstellung des Redits und der Redits-
wissensdiaft, ist jedoch weder in den Werken des Durantis, Lagus oder
Gothofredus nodi in der Enzyklopädie des Hunnius zu suchen*. Er findet
sich vielmehr in einer Schrift, die zunächst keineswegs den Eindruck einer
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Enzyklopädie macht, sondern eher wie eine juristische Methodenschrift


anzusehen ist, nämlich in Leibniz' bekannter Flugschrift „Nova methodus
discendae docendaeque jurisprudentiae ex artis didacticae principiis" aus
dem Jahre 1667. Sie enthält die Grundlage, auf der die gesamte enzy-
klopädische Darstellung der nachfolgenden Zeit beruht: den Entwurf
eines umfassenden rationalen Systems des Rechtsstudiums und der Juris-
prudenz
Freilich wird man diese Schrift und den in ihr enthaltenen Entwurf
kaum richtig verstehen und würdigen können, wenn man die Umstände
außer Betracht läßt, unter denen sie entstanden ist. Nach einer nicht ganz
eindeutigen Überlieferung hat Leibniz die Schrift in hödist flüchtiger
Weise, „in Eile" und „ohne Bücherapparat", wie er später einmal ge-
For personal use only.

schrieben hat, auf einer Reise von Mainz nach Nürnberg verfaßt, um sich
mit ihr dem Kurfürsten von Mainz für dessen geplante Reform des Cor-
pus iuris civilis zu empfehlen. Sie entstand zu einem Zeitpunkt, als Leib-
niz sein juristisches Studium abgeschlossen hatte und an der Universität
von Altdorf zum Doktor beider Rechte promoviert worden war. Zugleich
fällt ihre Entstehung in eine Epoche der Geistesgeschichte, die durch die
Wendung zur streng rationalen Begründung der menschlichen Erkenntnis
in sämtlichen Bereichen des menschlichen Wissens geprägt ist. Beide Um-
stände spielen für das Verständnis der Gedanken, die Leibniz in seiner
„Nova methodus" entwickelt hat, eine nicht zu unterschätzende Rolle
' Über die versdiiedenen Versuche einer systematischen Ordnung innerhalb der
Jurisprudenz vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g I 1, S. 424 £f. Über die huma-
nistischen Versudie einer juristisdien Studienreform ebd. S. 139 ff. Vgl. auch
F. W i e a c k e r , Gründer und Bewahrer (1959) S. 44 ff., S. 58 f.
»» Vgl. dazu S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , III 1 (1898) S. 23 ff., bes. S. 24/25;
ferner G. v. H a r t m a n n , Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph (in: Festgabe
f. R. V. Ihering 1892) S. 16ff., bes. S. 20ff.; E. H e y m a n n , Leibniz als Jurist
(1927); ders. Leibniz' Plan einer juristischen Studienreform vom Jahre 1667;
zuletzt Hans-Peter S c h n e i d e r , Plan einer Jurisprudentia Rationalis bei Leib-
niz, Arch. f. Rechts- und Sozialphilosophie 52 (1966) S. 553 mit weiterer Literatur.
Vgl. auch W. R a b i t z , Einleitung zur Akademieausgabe, VI 1, S. X I X f f . ;
W. D i l t h e y , Gesammelte Sdiriften 3 (2. Aufl. 1959) S. 1 ff., insbesondere
S. 25 ff. sowie H.-P. S c h n e i d e r , Justitia universalis (1967) S. 46 ff.
" S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 1, S. 11 ff. vor allem S. 13 ff; ferner
E. W o l f , Große Reditsdenker der deutschen Geistesgesdiidite (MgeS) S. 311 ff.;
W. S c h ö n f e l d , Grundlegung der Rechtswissensdiaft (1951) S. 313ff.
Benutzt ist im folgenden die Akademieausgabe VI 1, hrsg. von W. R a b i t z .
Ältere Abdrucke der „Nova methodus" bei D u t e n s IV 3, S. 217 ff., ferner eine
Ausgabe von Christian W o l f f (Lips. et Hai. 1748).
302 Arno Busdimann

Während die abenteuerlidie Entstehungsgesdiidite eine hinreichende


Erklärung für die zahlreichen Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten bie-
tet, von denen diese Sdirift gekennzeichnet ist, und die zum Teil heftige
Polemik gegen das juristische Studium und den akademisdien Unterricht
seiner Zeit das Unbehagen erkennen läßt, das Leibniz bei seinen juri-
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stisdien Studien empfunden hatte findet die Beschaffenheit des Systems


allein ihre Erklärung in jener „Mathematisierung" der Erkenntnis, die
sidi in dieser Zeit vollzieht. Bekanntlich hatte schon in der ersten Hälfte
des 17. Jahrhunderts Galilei damit begonnen, mathematische Grundsätze
auf die Naturerkenntnis anzuwenden, Bacon es unternommen, mit Hilfe
dieser Grundsätze eine völlig neue, von der aristotelisdien Tradition
gänzlich losgelöste Methode der Erkenntnis zu entwickeln und schließlidi
Descartes den Versuch gemacht, diese Methode in strenger Konsequenz
audi innerhalb der Philosophie zu handhaben. Im Mittelpunkt aller die-
ser Bemühungen stand freilidi nicht die Absicht, mathematische Ergeb-
nisse in die nichtmathematisdien Wissenschaften einzuführen, sondern
vielmehr das Bestreben, die Methode der mathematischen Beweisführung
auch für die Begründung nidhtmathematischer Erkenntnisse zu verwenden
For personal use only.

und die überlieferte Kunst der Wahrheitsfindung und Wahrheitsbegrün-


dung, die „ars inveniendi" und „ars demonstrandi", auf den Boden
mathematischer Gewißheit zu stellen
In diesem Zusammenhang ist audi Leibniz' Schrift zu sehen. Sie stellt
den Versuch dar, unter Zuhilfenahme dieser neuen methodischen Er-
kenntnisse Studium und System der Jurisprudenz zu reformieren und
einen völlig neuen juristischen Studienplan aufzustellen". Freilich war
der Gedanke, die neuen methodischen Erkenntnisse auch für die Juris-
prudenz dienstbar zu machen, zu Leibniz' Zeiten, vor allem zum Zeitpunkt
des Entstehens seiner Reformschrift, nicht ganz neu. Schon vor Leibniz
hatte der Mathematiker und Jurist Erhard Weigel versucht, die Juris-
prudenz mit Hilfe mathematischer Grundsätze darzustellen, ohne jedoch
mit diesem Versuch nennenswerten Widerhall zu finden Auch Leibniz

" L e i b n i z , Praefatio.
" Vgl. zu diesem Vorgang vor allem S c h ö n f e l d (s. Anm. 11). Über die
philosophisdien Aspekte vgl. H. H e i m s o e t h , Die Methode der Erkenntnis bei
Descartes und Leibniz (1912) I, S. 17 ff., ferner K. J a s p e r s , Descartes und die
Philosophie (1956) S. 32 ff.
'' Über den juristischen Studienplan vgl. vor allem E. H e y m a n n , Leibniz'
Plan einer juristischen Studienreform S. 7 ff.
" Über Weigel vgl. H. T h i e m e , Die Zeit des späten Naturredits, ZRG
Germ. Abt. 56 (1936), S. 222 mit weiteren Nachweisen. Thieme weist darauf hin,
daß Weigels mathematische Methode ihren Ursprung nicht in den Lehren Des-
cartes' hat, sondern letztlich in denen des Euklid und Aristoteles. Diese Tatsadie
dürfte auch entscheidend gewesen sein für den geringen Widerhall, den Weigels
Lehren gefunden haben.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 303

hatte ähnliche Gedanken sdion in einer früheren Schrift erwogen". Das


Bemerkenswerte an Leibniz' „Nova methodus" ist dagegen das — in An-
lehnung an Bacon's Theorie der Wissenschaften entworfene — System
des juristischen Studiums und der Jurisprudenz
Im Gegensatz zu sämtlichen bisherigen Darstellungen der Jurisprudenz
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beginnt Leibniz nicht mit einer Bestimmung des Begriffs des Rechts oder
der Jurisprudenz, sondern des Begriffs des Studiums als solchem. Studium,
sagt Leibniz, ist seinem Wesen nach die Erreichung eines Zustandes der
Vernunft, d. h. die Erlangung des Vermögens, vernunftgemäß zu han-
deln". Das System des Studiums, die Einteilung der verschiedenen Ge-
genstände, auf die sich das Studium bezieht, kann sich demnach für Leib-
niz nicht aus dem traditionellen Schema der sieben freien Künste, der
„artes liberales" ergeben. System und Gegenstände des Studiums er-
geben sich für Leibniz vielmehr allein aus dem Vermögen der Vernunft
selbst^. Das Vermögen der Vernunft ist die Grundlage, auf die sich die
gesamte Materie des Studiums letztlich zurückführen läßt. Allerdings bil-
det es für Leibniz keineswegs eine festgefügte Einheit; es gliedert sich
vielmehr — und hierin folgt Leibniz ganz der Argumentation Bacon's —
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in drei verschiedene Vermögen, die alle zusammen erst das Wesen der
Vernunft ausmachen, nämlich das Erinnerungsvermögen, „memoria" ge-
nannt, das Erfindungsvermögen, als „inventio" bezeichnet, und das Ur-
teilsvermögen, das Leibniz „iudicium" nennt". Für das System des Stu-
diums folgt daraus, daß an der Spitze allen Studiums eine Lehre stehen
muß, deren Ziel die Ausbildung dieser drei Vernunftvermögen bildet.
Als diese Lehre wiederum erkennt Leibniz die traditionelle Didaktik,
deren Inhalt entsprechend den verschiedenen Vermögen der Vernunft aus
drei verschiedenen Teillehren besteht, nämlich der Gedächtnislehre,
„mnemonica", der Erfindungslehre, „topica", und der Urteilslehre, die als
„analytica" bezeichnet wird^^
Auch die weitere Einteilung folgt für Leibniz allein aus dem Vermögen
der Vernunft. Sie ergibt sich allerdings nicht aus den einzelnen Grund-

De casibus perplexibus in jure (1666). Es handelt sich um eine Disputations-


sdirift, die Leibniz im November 1666 in Altdorf verteidigte. Vgl. G. v. H a r t -
m a n n (wie Anm. 10) S. 10.
" Auf die Abhängigkeit von B a c o n ' s methodischen Vorstellungen weisen
bereits G. v. H a r t m a n n S. 20 und S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 1, S. 24
hin. Zu L e i b n i z ' Methode vgl. im übrigen Th. V i e h w e g , Topik und Juris-
prudenz ('1965) S. 51 £f., der mit Recht betont, daß es Leibniz bei seinen metho-
dischen Bemühungen auf eine Konkordanz des mittelalterlichen Denkstils und des
neuen mathematischen Erkenntnisverfahrens ankommt.
" L e i b n i z , Nova methodus, I, § 1, S. 266.
~ Ebd. I § 2, S. 266.
" Ebd. I § 22, S. 277.
" Ebd. I § 22, S. 277; ferner, zur ars didactica, § 16, S. 274.
304 Arno Busdimann

vermögen, aus denen sich das Vernunftvermögen insgesamt zusammen-


setzt. Sie folgt vielmehr aus dessen Natur im Ganzen. Das Vernunftver-
mögen, sagt Leibniz, ist entweder theoretisches oder praktisches Ver-
mögen, je nachdem, ob es sidi auf Vorstellungen oder auf Handlungen
bezieht. Audi das Studium muß daher entweder auf die Ausbildung des
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theoretischen oder des praktischen Vermögens gerichtet sein


Für die Einteilung selbst kommt es freilich nidit so sehr auf das prak-
tische Vermögen an. Entscheidend sind vielmehr die begrifflichen Merk-
male der verschiedenen Elemente des theoretischen Vermögens, genauer
gesagt, der Vorstellungen, mit denen es das theoretische Vermögen zu
tun hat. Leibniz unterscheidet im wesentlichen drei Arten, nämlich Ein-
zelvorstellungen, allgemeine Vorstellungen und notwendig allgemeine
Vorstellungen". Es ergeben sich daher für ihn drei große Gruppen von
theoretischen Disziplinen, solche, die es mit Einzelvorstellungen zu tun
haben, solche, die sich mit allgemeinen Vorstellungen befassen, und
schließlich solche, die sich auf notwendig allgemeine Vorstellungen rich-
ten. Zu den ersteren redbnet Leibniz vor allem die Geschichte, zu der
zweiten Art gehört nach seiner Ansicht die „observatio", worunter er die
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Naturerkenntnis versteht, und zu der letzten Gruppe zählt er die „scien-


tiae", die Wissenschaften im strengen Sinne des Wortes Sämtliche Dis-
ziplinen, die zur Ausbildung des theoretischen Vermögens der Vernunft
dienlich sind, lassen sich daher für Leibniz auf diese drei großen Grup-
pen zurückführen, so daß das Studium insgesamt aus vier verschiedenen
Disziplinen besteht: Didaktik, Geschichte, Erfahrungserkenntnis und
strenge Wissenschaft.
Diese Theorie des Studiums, deren wesentliche Bestandteile Leibniz
Bacon's Darlegungen über die Erweiterungen der menschlichen Wissen-
schaften entlehnt hat, bildet für Leibniz keineswegs nur die Grundlage
einer allgemeinen pädagogischen Theorie, sondern zugleich auch die
Grundlage für das System der Jurisprudenz. Jurisprudenz, bestimmt Leib-
niz, ist ganz allgemein die Wissenschaft vom Recht in vorgestellten oder
tatsächlich vorhandenen Fällen®". Nach der Einteilung, die Leibniz in
seiner Theorie des Studiums vorgenommen hat, bedeutet dies, daß es die
Jurisprudenz mit notwendig allgemeinen Vorstellungen zu tun haben
muß, eine Folgerung, die Leibniz offensichtlich bei seiner Bestimmung
nicht gezogen hat. Denn nach seiner Ansicht gehören auch Geschichte und
andere Disziplinen, die nach seiner allgemeinen Theorie nicht als Wissen-
schaften im strengen Sinne bezeichnet werden können, zur Jurisprudenz.
Ebd. I § 28, S. 281.
" Ebd. I § 32, S. 284, vgl. audi § 31, S. 284.
« Ebd. I § 32, S. 284.
Ebd. II § 1, S. 293.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 305

Für Leibniz gliedert sidi die Jurisprudenz in vier verschiedene Teile:


die didaktische, die historische, die exegetische und die polemische Juris-
prudenz. Jeder dieser Teile behandelt einen besonderen Gegenstand
Gegenstand der didaktischen Jurisprudenz ist — der allgemeinen Be-
stimmung der Didaktik entsprechend — eine allgemeine Übersicht über
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den Inhalt des gesamten positiven Rechts Allerdings liegt das Haupt-
gewicht für Leibniz nicht so sehr auf dem Inhalt, sondern vielmehr auf
der Art und Weise, wie dieser Inhalt vorgetragen wird: auf dem System.
Dieses System der didaktischen Jurisprudenz kann nach seiner Ansicht
nicht das System des römischen Rechts — das Institutionen- oder das
Pandektensystem — sein"". Auch dieses System kann sich vielmehr nur
aus dem Begriff der Jurisprudenz selbst, und das bedeutet letztlich, aus
dem Vermögen der Vernunft selbst e r g e b e n A u s ihm sollen sich daher
nadb Leibniz' Ansicht die Begriffe herleiten, die für die Einteilung des
Rechts überhaupt von grundlegender Bedeutung sind, die Begriffe von
Recht und Pflicht, von Rechtssubjekt xmd Rechtsobjekt, von Rechts-
geschäft, Klage usw.
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Gegenstand der historischen Jurisprudenz ist demgegenüber die Ge-


schichte des positiven Rechts. Leibniz unterscheidet zwei Arten: die innere
und die äußere Rechtsgeschichte — die „historia juris interna" und die
„historia juris externa" Unter der inneren Rechtsgeschichte versteht er
jedoch nicht, wie dies später der Fall ist, die Geschichte der juristischen
Dogmatik. Innere Rechtsgeschichte ist für ihn vielmehr allein die synop-
tisch angelegte Geschichte sämtlidier Rechte der Welt, eine Universal-
geschichte des Rechts Äußere Rechtsgeschichte dagegen begreift Leibniz
als Geschichte der äußeren Bedingungen, von denen das positive Recht
jeweils abhängig ist und deren Verständnis für das Verständnis des posi-
tiven Rechts vorausgesetzt werden muß. Die äußere Rechtsgeschichte ist
von eminent praktisdber Bedeutung für die Jurisprudenz; denn sie hilft
mit, die Vorstellungen zu klären, von denen der Gesetzgeber bei der Ab-
fassung seiner Vorschriften ausgegangen ist. Die innere Rechtsgeschichte
dagegen hat nur theoretischen Zweck: sie dient lediglich dazu, die Kennt-
nis der bestehenden Rechte zu erweitem
Im Gegensatz zu diesen beiden Teilen der Jurisprudenz haben es die
übrigen allein mit der Methode der Rechtserkenntnis zu tun. Gegenstand
" Ebd. II § 2, S. 293. » Ebd. II § 6, S. 295 ff.
" Ebd. II §§ 7 ff., S. 295 ff. »« Ebd. II § 14, S. 302 f.
" Ebd. II § 25, S. 311. Ebd. II § 28, S. 313.
Ebd. II § 29, S. 315. Zu dieser Unterscheidung und ihren Wirkungen vgl.
E. T a r a n o w s k y , Leibniz und die sogen, äußere Rechtsgesdiidite, ZRG Germ.
Abt. 27 (1906) S. 190 ff. Aus der älteren Literatur vor allem H u g o , Civ. Mag. I
(1791)8.31.
^ L e i b n i z , aaO. II § 29, S. 315.
306 Arno Busdimann

der exegetischen Jurisprudenz ist die Methode, mit deren Hilfe die Vor-
stellungen ermittelt werden, die den Vorschriften des geschriebenen Rechts
zugrundeliegen, mit anderen Worten, die traditionelle juristische Aus-
legungskunst, die Hermeneutik". Auch für ihre Einteilung kann es nach
Leibniz' Ansicht nidit auf die traditionellen Gesichtspunkte ankommen,
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sondern allein auf die Aspekte, von denen bereits bei der Einteilung der
übrigen Teildisziplinen ausgegangen worden ist. Ausgangspunkt kann
demnach auch hier nur der Begriff der Auslegung selbst sein. Rein be-
grifflich sind zwei Arten zu unterscheiden: die Exegese und die Inter-
pretation. Die Exegese bezieht sich unmittelbar auf den Text; sie ver-
sucht, die Vorstellungen zu ermitteln, die einer einzelnen Textstelle zu-
grundeliegen. Die Interpretation hingegen hat es nicht nur mit einer
einzelnen Textstelle zu tun, sondern vielmehr mit der Verknüpfung ver-
schiedener Textstellen zu einem einheitlichen Ganzen. Die Exegese ist
demnach für Leibniz juristische Philologie, d. h. die Anwendung der
traditionellen philologischen Disziplinen wie Grammatik, Rhetorik,
Dialektik usw. auf die Bearbeitung einer juristischen Textstelle, die Inter-
pretation dagegen eine systematische Beschäftigung, deren letztes Ziel die
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Zusammenfassung des gesamten Textinhaltes d a r s t e l l t I m Gegensatz


dazu befaßt sich die polemische Jurisprudenz mit der Methode der prak-
tischen Fallentscheidung in den vom geschriebenen Recht nicht entschie-
denen Fällen". Auch hier weicht Leibniz von der überlieferten Form
der Jurisprudenz ab. Während man sich in der überlieferten Jurisprudenz
darauf beschränkt hatte, die verschiedenen Entscheidungen einfach zu-
sammenzustellen, kommt es darauf an, die Grundsätze der Vernunft auf-
zustellen, nach denen in den vom Gesetz nicht erfaßten Fällen entschie-
den werden muß. Gestützt auf diese Grundsätze, meint er, müsse es mög-
lich sein, die wichtigsten Fälle und Entscheidungen übersichtlich zusam-
menzustellen und als eine Art Pandekten des geltenden Rechts zu ver-
wenden
Rein dem tatsächlichen Bestand nach enthält dieses System der Juris-
prudenz nichts für die damalige Zeit Neues. Hinter den verschiedenen
von Leibniz gewählten Bezeichnungen verbergen sich die traditionellen
Gegenstände der zeitgenössisdhen Jurisprudenz, die Leibniz noch während
seines eigenen juristischen Studiums kennengelernt hatte: Institutionen,
Rechtsgeschichte, d. h. „historia juris", Pandekten, Hermeneutik und „ius

Ebd. II § 41. S. 323.


»« Ebd. II § 42 ff., S. 324 ff.
" Ebd. II § 69, S. 341.
Ebd. II § 78, S. 346; vgl. vor allem § 90, S. 355, wo Leibniz davon spridit,
auf diese Weise eine Art Syntagma juris civilis abzufassen — ein Plan, der
später mehrfach in die Tat umgesetzt worden ist.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 307

controversum". Audi der Inhalt der traditionellen Gegenstände kehrt in


Leibniz' Einteilung wieder. Wie die didaktische Jurisprudenz, so enthiel-
ten audi die Institutionen bereits eine aus didaktischen Gründen vor-
genommene Zusammenfassung der Jurisprudenz, freilich mit besonderer
Berüdcsiditigung des römisdien Redits. Ebenso verhält es sich mit der
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Rechtsgesdiidite. Auch hier existierte bereits vor Leibniz eine Art Uni-
versalgeschichte der Rechte, ohne daß allerdings eine Unterscheidung
zwischen innerer und äußerer Geschichte des Rechts gemacht worden wäre.
Selbst die Einteilung in die didaktische, historische, exegetische und pole-
mische Jurisprudenz stammt nicht ursprünglich von Leibniz. Leibniz über-
nahm sie von der zeitgenössischen Theologie, mit der er während seines
Studiums — dem Brauch der Zeit entsprechend, der keine strenge Tren-
nung des Studienganges vorsah — in Berührung gekommen war®®. Ent-
scheidend ist vielmehr nur eines: das umfassende, auf das Vermögen der
Vernunft gegründete System der gesamten juristischen Disziplinen.
Leibniz' Gedanken haben erst verhältnismäßig spät in der Jurisprudenz
Beachtung gefunden. Wie viele seiner Anregungen, so sind auch seine
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Vorstellungen von einem umfassenden rationalen System der Jurisprudenz


erst zur Geltung gekommen, als die methodische Grundlage, auf der sie
beruhten, zum Allgemeingut der Juristen geworden war. Das Verdienst,
Leibniz' Methode in die Jurisprudenz eingeführt und in ihr populär ge-
macht zu haben, gebührt bekanntlich in erster Linie Christian Wolff und
seiner Schule^®.
Schon in seinen frühen Schriften hatte Wolff den Versuch gemacht, die
mathematische Methode für die gesamte praktische Philosophie und damit
auch für das Naturrecht fruchtbar werden zu lassen^'. Vollends sein gro-
ßes, achtbändiges Werk über das Natur- und Völkerrecht machte deutlich,
welches seine methodische Absicht w a r ^ . Wolff kam es darauf an, die
Behandlung naturrechtlicher Probleme und damit des gesamten Natur-
rechts unter mathematische Bedingungen, d. h. unter die Bedingungen der
mathematischen Beweisführung, zu stellen. Diese Absicht freilich wich von
den Gedanken, die Leibniz in seiner Nova methodus" entwickelt hatte.

»» Ebd. II § 2, S. 293.
^ Über W o l f f vgl. vor allem M. W u n d t , Die deutsche Sdiulphilosophie
im Zeitalter der Aufklärung («1964) S. 122ff., ferner H. S c h ö f f l e r , Deutsches
Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung ('1956) S. 184 ff. Die beste
Quelle für die Kenntnis seines Werdegangs ist die von W u 11 k e herausgegebene
Lebensbeschreibung Christian Wolffs, ferner G o t t s c h e d s HistorisÄe Lob-
sdirift (Halle 1755). Über Wolffs Rolle in der Gesdiichte der Rechtswissenschaft
vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 1, S. 198, ferner H. T h i e m e , ZRG Germ.
Abt. 56 (1936) S. 224 mit weiterer Literatur, außerdem S c h ö n f e l d (wie
Anm. 11) S. 344 ff.
" Vgl. vor allem Philosophia practica universalis (Lips. 1738) Praefatio.
" lus naturae et gentium methodo scientifica pertractum (8 Bde. 1740—49).
308 Arno Busdimann

nicht unerheblidi ab. Während es nämlidi Leibnitz in erster Linie darum


gegangen war, mit Hilfe der Mathematik ein völlig neues System der
Jurisprudenz zu finden, handelte es sidi für Wolff vor allem darum, dieses
im Grunde bereits vorausgesetzte rationale System der juristischen Er-
kenntnis auf mathematisch exakte Weise zu demonstrieren. Seine Absicht
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bestand nicht darin. Neues zu sdiaffen, sondern darin, bereits Vorhan-


denes mit mathematischer Gewißheit auszustatten". Allerdings ist von
Wolff eine enzyklopädische Darstellung, in der diese Absicht zum Aus-
drude gekommen wäre, nicht überliefert. Ein solches Werk wurde vielmehr
erst von einem Rechtsgelehrten verfaßt, der als Christian Wolffs bedeu-
tendster juristisdier Schüler gilt, nämlich von Daniel Nettelbladt. Dieses
Werk, das den Titel eines „Systema elementare universae jurisprudentiae
positivae" trägt, erschien im Jahre 1748 — übrigens im gleichen Jahre, in
dem auch ein von Christian Wolff besorgter Neudruck von Leibniz' „Nova
methodus" ersdiien — und dürfte die erste vollständige, auf streng
rationaler Grundlage beruhende enzyklopädische Darstellung der Juris-
prudenz sein".
Wie Leibniz' „Nova Methodus", so sollte freilich auch diese Darstellung
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zunächst der Verbesserung des juristischen Studiums und Unterrichts


dienen. Nadi Nettelbladts eigenen Äußerungen war sie als ein Versuch
gedadit, die Zersplitterung des juristischen Studiums in versdiiedene, von-
einander unabhängige Teile zu verhindern und einen geschlossenen Über-
blick über das ganze Feld der juristischen Arbeit zu ermöglichen*®. Auch
sie besteht somit — entsprechend der methodischen Anknüpfung an die
Lehren Christian Wolffs — nicht darin, ein neues System der Jurisprudenz
zu entwickeln. Nettelbladt kommt es vielmehr darauf an, die gesamte
Jurisprudenz des positiven Rechts in ein umfassendes, exaktes System zu
bringen, ohne sein Fundament neu zu bestimmen. Sein Ausgangspunkt ist
daher auch nicht, wie dies in Leibniz' „Nova methodus" der Fall war, die
Ableitung eines allgemeinen Begriffs und Systems aus dem Vermögen der
Vernunft, sondern vielmehr nur die exakte Abgrenzung des Begriffs der
Jurisprudenz des positiven Rechts von den übrigen positiven Wissen-
schaften. Daß das Vermögen der Vernunft die methodische und syste-
matische Grundlage einer soldben Abgrenzung und überhaupt des Systems
der Jurisprudenz des positiven Rechts sei, wird von ihm vorausgesetzt.
Das entscheidende Kriterium für diese Abgrenzung ist freilich nicht der
jeweilige Inhalt, also die Materie. Entscheidend ist vielmehr auch für

" Vgl. M. W u n d t (wie Anm. 40) S. 148 ff.


** Vollständiger Titel: Systema elementare universae jurisprudentiae positivae
communis Imperii Romani Germanici usui fori. Hier benutzt 2. Ausgabe, Hai.
1762.
« N e t t e l b l a d t , Praefatio.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 309

Nettelbladt allein der Begriff, und zwar der Begriff der Jurisprudenz des
positiven Redits. Jurisprudenz des positiven Redits, sagt Nettelbladt, ist
diejenige positive Wissensdiaft, d. h. diejenige Wissenschaft von gege-
benen Gegenständen, die sidi mit der Erkenntnis der vom Menschen
begründeten Redite und Pfliditen b e f a ß t F ü r die Abgrenzung kommt es
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demnach nicht auf die Beschaffenheit der Wissenschaft als solcher an, nicht
— wie bei Leibniz — auf die Art der Vorstellungen, mit denen sie es zu
tun hat, sondern allein auf die begriffliche Erkenntnis des Gegenstandes,
auf den sie sich bezieht
Der Begriff der vom Menschen begründeten Rechte und Pfliditen bildet
jedoch für Nettelbladt nicht nur das Kriterium der Abgrenzung. Er ist
vielmehr zugleich die Grundlage für die systematische Einteilung^. Alle
Rechte und Pflichten, sagt Nettelbladt, können begrifflich unter zwei
Gesichtspunkten erfaßt werden, einem theoretischen und einem praktischen.
Die gesamte Jurisprudenz des positiven Rechts muß demnach allererst in
zwei Teile eingeteilt werden, einen theoretischen und einen praktischen
Teil. Diese beiden Teile sind jedoch für Nettelbladt keineswegs gleich-
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wertig; der bei weitem wichtigere ist für ihn der theoretische Teil: er
bildet die Grundlage für den praktischen^». Alle Rechte und Pflichten
müssen ferner nach dem logischen Geltungsbereich ihres Begriffs in allge-
meine und besondere eingeteilt werden. Für die Einteilung der Juris-
prudenz ergibt sich daraus, daß sie außer einem theoretischen und einem
praktischen Teil auch noch einen allgemeinen und einen besonderen Teil
enthalten muß. Alle Rechte und Pflichten lassen sidi außerdem unter-
scheiden nach den verschiedenen Beziehungen der Personen, auf die sie
sich jeweils richten, Beziehungen, die durch Gleichordnung, durch Über-
und Unterordnung und Zusammenschluß gekennzeichnet sind. Alle Rechte
und Pflichten müssen daher für Nettelbladt notwendig in private, öffent-
liche und solche der Völker untereinander eingeteilt werden®".
Schließlich setzen alle Rechte und Pflichten, die vom Menschen begründet
sind, noch einen wichtigen Umstand voraus: die Existenz eines Gemein-
wesens, innerhalb dessen diese Rechte und Pflichten gelten. Ein weiterer
Teil der Jurisprudenz ist demnach das Recht des jeweiligen Gemeinwesens.
Die Eigenschaften, die dieses Recht aufzuweisen hat, lassen sich freilich
für Nettelbladt nicht aus rein rationalen Gründen ableiten, also nidit rein
begrifflich bestimmen. Sie beruhen vielmehr allein auf den — logisch
gesehen — willkürlichen Ereignissen der Geschichte. Zur Jurisprudenz des

« Ebd. § 4, S. 4.
« Ebd. § 2, S. 3/4.
« Ebd. § 12, S. 7.
" Ebd. § 11, S. 6/7.
" Ebd. § 12, S. 7.
310 Arno Busdunann

positiven Redits muß daher audi die Erkenntnis der Gesdiidite hinzu-
geredinet werden. Das gilt speziell für die Jurisprudenz des in Deutsch-
land geltenden positiven Rechts. Ohne die Erkenntnis der geschiditlichen
Entwicklung des deutschen Reiches und der in ihm geltenden Rechte und
Pflichten sei, so sagt Nettelbladt, eine wirkliche Erkenntnis aller dort
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bestehenden Rechte und Pflichten nicht möglich®'.


Wie Leibniz' „Nova methodus", so enthält auch Nettelbladts Darstel-
lung im wesentlichen keine neuen Gegenstände. Auch Nettelbladt be-
schränkt sich darauf — getreu dem methodischen Ausgangspunkt, den er
gewählt hat — ein rationales System der vorhandenen Gegenstände,
allerdings in mathematisch exakter Weise, zu deduzieren. Selbst die Ein-
führung eines allgemeinen Teiles der Jurisprudenz des positiven Rechts
ist unter diesen Umständen nidit als neu oder überraschend anzusehen;
denn schon in Leibniz' didaktischer Jurisprudenz waren Anzeichen hierfür
erkennbar. Bemerkenswert hingegen ist die Konsequenz, mit der Nettel-
bladt sich der Wolff'schen Methode bedient und mit der er sie auf die
Darstellung der gesamten Jurisprudenz des positiven Rechts anwendet.
Bemerkenswert ist femer auch der Begriff der Jurisprudenz selbst. Juris-
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prudenz ist nicht mehr die Wissenschaft des Rechts in allen tatsächlichen
und vorgestellten Fällen, sondern allein die Erkenntnis sämtlicher vom
Menschen begründeten Rechte und Pflichten. Das System der Jurisprudenz
ist demnach letztlich auch nicht ein System dieser Rechte und Pflichten als
solcher, sondern ihrer Erkenntnis, ihrer Begriffe®^.
Nettelbladts „Systema" hat zunächst, wie die meisten Werke seines Ver-
fassers, großen Einfluß gehabt. Seine Methode und seine Einteilung ist für
viele ähnliche Darstellungen des 18. Jahrhunderts Vorbild und Maßstab
gewesen. Seine Wirkung reichte freilich nur so lange, wie auch seine
Grundlage, die Lehre Wolff's, allgemein anerkannt war. Mit dem Vor-
dringen des Empirismus, also derjenigen philosophischen Richtung, der-
zufolge alle Erkenntnis nicht auf das bloße Vermögen der Vernunft, son-
dern vielmehr auf die Erfahrung zurückzuführen ist, insbesondere mit der
allmählichen Hinwendung zum Geschichtlichen, mußte auch Nettelbladts
Darstellung an Bedeutung verlieren. Was ehedem ihre besonderen Vor-
züge ausgemacht hatte, war im Licht der neuen Richtung Verirrung und

" Ebd. § 24, S. 12.


Vgl. dazu S t i n t z i n g - L a n d s b e r g l l l 1, S. 292, der m. E. Nettelbladts
Bestrebungen hier nicht gerecht wird. Wenn eine Wissenschaft noch keine metho-
dische Fundierung hat, muß die erste Aufgabe darin bestehen, dieses Fundament
zu schaffen und die vorhandenen Materien auf der Grundlage dieses methodischen
Fundaments darzustellen. In dieser Situation befand sich die Rechtswissenschaft
im 18. Jahrhundert, und in diesem Zusammenhang muß man auch die Bestrebun-
gen Nettelbladts sehen. Daß die Lektüre dieser Werke im übrigen kein Ver-
gnügen ist, darf kein Kriterium der Beurteilung sein.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 311

tatsadienfremde S p e k u l a t i o n S o wurde sie sdiließlidi abgelöst von


einem Werk, das aus der Tradition der sog. Göttinger Historisdien Schule
stammte und stärker auf die Tatsachen der Erfahrung abstellte: von
Johann Stephan Pütter's „Versuch einer juristischen Encyclopädie" aus
dem Jahre 1757 bzw. dessen Neuausgabe „Neuer Versuch einer juristischen
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Encyclopädie und Methologie" aus dem Jahre 1 7 6 7 " " . In ihm findet
sich zum ersten Mal der Entwurf eines rationalen Systems der empirischen
Tatsachen des Rechts und der Jurisprudenz, d. h. der Tatsachen der juristi-
schen Erfahrung.
Wie Leibniz' Schrift und auch Nettelbladts „Systema", so wird man
freilich auch Pütter's Darstellimg kaum richtig verstehen und einordnen
können, wenn man nicht die Umstände betrachtet, unter denen es zustande-
gekommen ist. Nach Pütter's eigenen Angaben ist es aus Vorlesungen
entstanden, die Pütter in Göttingen über die „Lehrart" des juristischen
Studiums gehalten hat — Vorlesungen, die übrigens im Göttingen des
18. Jahrhunderts keineswegs eine Novität darstellten. Zugleich fällt Püt-
ter's Werk in eine Epoche der allgemeinen Geistes- und Wissenschafts-
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geschichte, die vor allem durch das grandiose, alles Wissen der Zeit
erfassen wollende Unternehmen der großen französischen Enzyklopädie
gekeimzeichnet ist. Beides hat in Pütter's Werk deutlich seine Spuren
hinterlassen".
Entsprechend dem Zwedc der Vorlesungen, aus denen diese Enzyklopä-
die hervorgegangen ist, enthält Pütter's „Versuch" zunächst eine Einfüh-
rung in das Studium und die Methode der Jurisprudenz im allgemeinen.
Entscheidend freilich ist nicht dieser pädagogische Teil, sondern allein das
System der Jurisprudenz, vornehmlich der Jurisprudenz des positiven
Rechts, das Pütter entwirft. Als Vorbild dieses Systems dient nicht mehr
das rein rationale System der Wolff'schen Schule, wie es in Nettelbladts
Darstellung verwendet worden war, sondern das System, oder besser, die
systematische Grundkonzeption der französischen Enzyklopädie. Es ist die
Idee, daß alle Wissenschaften, alle wissenschaftlichen Disziplinen und alle
Künste in einem geschlossenen logischen und historischen Zusammenhang
stehen und sidi daher in einer Art „Genealogie", einem „Stammbaum",
^ Vgl. zu dieser Wendung von der deduktiven zur empirischen Methode vor
allem H. T h i e m e , ZRG Germ. Abt. 56 (1936) S. 230ff. mit weiterer Literatur.
" Vgl. zur Göttinger Historischen Schule vor allem W . D i 11 h e y , Gesam-
melte Sdiriften 3 (®1959) S. 261 ff., ferner die zu Unrecht wenig beachtete Schrift
von C. A n t o n i , Der Kampf wider die Vernunft (1951) S. 159ff. Eine eigent-
liche Geschichte der Göttinger Historisdien Schule ist noch nicht geschrieben.
« Vgl. dazu S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , III 1, S. 237, ferner C. A n t o n i
aaO. S. 180 ff. Letzterer vor allem zur Stellung Pütters im Rahmen der Göttinger
Sdiule und den sich daraus ergebenden Folgerungen für die von ihm befolgte
Methode.
®® Über die französische Enzyklopädie vgl. F. S c h a l k , Die Einleitung in die
9 Ardiiv für Kulturgesdiiditc 51/2
312 Arno Buschmann

also einem aus der inneren Verwandtsdiaft selbst folgenden System zu-
sammenhängend darstellen l a s s e n A u s g a n g s p u n k t ist demnach für Pütter
auch nicht der Begriff der Jurisprudenz oder gar der Begriff des Studiums;
Ausgangspunkt ist vielmehr der Begriff eben dieser Enzyklopädie selbst.
Enzyklopädie, sagt Pütter, ist diejenige wissenschaftliche Disziplin, die sidi
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mit den Beziehungen der verschiedenen Wissenschaften und wissenschaft-


lichen Disziplinen untereinander befaßt, also mit dem System der Wissen-
sdiaften als solchem. Pütter unterscheidet allgemeine und besondere Enzy-
klopädien. Unter den besonderen erkennt er als eine der wichtigsten die
sog. „Rechts-Encyclopädie" oder „Juristische Encyclopädie", die „Gene-
alogie" der Gegenstände, mit denen es die Jurisprudenz erfahrungsgemäß
zu tun hat
Gegenstand der Jurisprudenz ist für Pütter — hierin folgt er allerdings
der Tradition der Wolff-Schule — die Gesamtheit aller derjenigen Rechte
und Verbindlichkeiten, deren Erfüllung mit Zwangsmitteln herbeigeführt
werden kann®'. Das System dieser Rechte und Verbindlichkeiten richtet
sich jedoch für Pütter nicht, wie etwa für Nettelbladt, nach rein begriff-
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lichen Merkmalen. Es folgt vielmehr allein aus der Beschaffenheit der tat-
sächlichen Entstehungsgründe, d. h. der Quellen, aus denen diese Rechte
und Verbindlichkeiten hervorgehen.
Widitigste Quelle aller Rechte und Verbindlichkeiten ist für Pütter
zunächst die göttliche Gewalt. Sie ist die Grundlage für den Begriff der
Verbindlichkeit und damit für die allgemeine Unterscheidung zwischen
Recht und Unrecht überhaupt®". Eine weitere Quelle ist die menschliche
Vernunft, die dem Mensdien die Einsicht in die Notwendigkeit des
menschlichen Daseins ermöglicht und vor allem die Erkenntnis der Ab-
hängigkeit von Gott vermittelt'^. Eine Quelle ist auch die göttliche Offen-
barung als sinnfälliger Ausdruck des göttlichen Willens und schließlich,
als die praktisch wichtigste, das auf der menschlichen Willensäußerung,
der „Willkür" beruhende Gesetz
Auch die weitere Einteilung der Jurisprudenz folgt für Pütter nicht aus
rein logischen Gründen, sondern ebenfalls aus der Verschiedenheit der

französische Enzyklopädie (1936); über die politischen und gesellsdiaftlichen


Hintergründe und Folgen dieses grandiosen Unternehmens vgl. R. K o s e l l e c k ,
Kritik und Krise (1959) S. 96 ff.
" Vgl. D ' A I e m b e r t , Discours Pr61iminaire de rEncyclopedie, ed. E. K ö h -
1 e r (1955) S. 13, vgl. audi S. 83, 87. Zur Denkform der Enzyklopädie vgl.
E. C a s s i r e r , Die Philosophie der Aufklärung (1932) passim, insbesondere
S. 263 ff. Vgl. dazu audi W . D i 11 h e y , aaO. S. 223 ff.
P ü t t e r , a a O . § 4 , S. 2/3.
'» Ebd. § 8, S. 6.
•0 Ebd. § 10, S. 7.
8» Ebd. § 1 1 , S. 7/8.
Ebd. § 20, S. 11, ferner § 23, S. 13.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 313

Quellen. Oberste Quelle des Naturredits, um damit zu beginnen, ist der


Mensdi als Individuum, d. h. der Mensch losgelöst von allen Beziehungen
zu andern Mensdien und zur mensdilidien Gesellschaft, worunter Pütter
den Staat v e r s t e h t E i n e weitere Quelle ist das auf den Staat angewen-
dete Naturrecht, d. h. sind die allgemeinen Grundsätze des Rechts unter
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den besonderen Bedingungen des Staates Eine Quelle ist auch der Ge-
sellschaf tsver trag, auf dem für Pütter dieser Staat b e r u h t D i e letzte und
entscheidende Quelle schließlich ist für Pütter das positive Recht aller
Völker, Zeiten und Landschaften, d. h. das positive Recht im universal-
historischen Sinne, insbesondere das positive Recht in Deutschland"'^.
Im Ergebnis besteht Pütter's System der Jurisprudenz daher aus folgen-
der „Genealogie" der juristischen Gegenstände: Göttliches Recht, Natur-
recht, Allgemeines positives Recht, Besonderes positives Redit, ins-
besondere positives Recht in Deutschland — sämtlich aufgegliedert nach
Privatrecht, Staatsrecht und Völkerrecht.
Auch von Pütter's „Versuch" gilt somit, was schon vorher von Leibniz'
Schrift und Nettelbladts Darstellung galt, nämlich daß auch in ihm der
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Bestand an juristischen Disziplinen substantiell nicht erweitert worden ist.


Bemerkenswert ist auch an ihm allein das System und die methodische
Grundlage, auf der dieses System errichtet wird. Pütter bietet nämlich im
Gegensatz zu seinen Vorgängern keine bloße Ordnung von Begriffen,
sondern vielmehr ein auf die tatsächlichen Entstehungsgründe gestütztes,
„pragmatisches" System der juristischen Materien.
Mit diesem „pragmatischen" System steht Pütter's Enzyklopädie am
Anfang einer juristischen Bewegung des ausgehenden 18. und des gesam-
ten 19. Jahrhunderts, die man getrost als enzyklopädische Bewegung be-
zeichnen kann. Es ist eine Bewegung, die durch das Bemühen gekenn-
zeichnet ist, die gesamte Rechtswissenschaft als eine geschlossene wissen-
schaftliche Disziplin zu konstituieren und dies in einer eigenen Literatur-
gattung, eben der juristischen Enzyklopädie, zum Ausdruck zu bringen.
Daß diese Gesamtdarstellung der Rechtswissenschaft auch ihren Platz im
juristischen Studiengang hatte und an die Stelle der alten „Institutionen"

» Ebd. § 14, S. 8/9.


" Ebd. §17, S. 10.
«« Ebd. § 25, S. 14.
•• Ebd. § 43, S. 22/23.
" Ebd. § 44, S. 23. Vgl. dazu auch die methodologischen Überlegungen
§§ 177 ff., S. 66 ff., die späterhin die Grundlage für die Methode der redits-
historischen und überhaupt der juristischen Methode geworden sind. Vgl. zu den
Wirkungen speziell dieses methodischen Programms Hugos Vorrede zur Über-
setzung von Gibbon's Kapitel über die römische Rechtsgeschichte. Vgl. zu diesem
Zusammenhang auch S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , ! ! ! 1, S. 337.
9*
314 Arno Buschmann

getreten war, sei nur am Rande vermerkt". Der methodische Ansatz-


punkt und damit das auf ihm beruhende System war freilich von Enzyklo-
pädie zu Enzyklopädie versdiieden. Einige von ihnen, beileibe nicht alle,
seien im folgenden kurz behandelt.
Eines der ersten bedeutenden Werke dieser enzyklopädisdien Bewegung
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ist Johann Friedrich Reitemeiers „Encyclopädie und Gesdiiclite der Rechte


in Deutschland", die im Jahre 1785 ersdiien. Sein Verfasser, ein Sdiüler
Pütter's, unternahm in ihr den Versuch, im Anschluß an Montesquieus be-
kannte Lehre von der vielfachen Bedingtheit des positiven Rechts durch
die tatsächlichen Gegebenheiten einen umfassenden systematischen Über-
blick, eine „Generalcharte", wie er es nannte, sämtlicher positiven Rechte
zu entwerfen Dieser Überblick beruht freilich nidit so sehr auf der Idee
einer „Genealogie" der Quellen, als vielmehr auf der eines gesetzmäßigen
Zusammenhanges allen positiven Rechts ü b e r h a u p t W i e für Montesquieu
ist auch für Reitemeier das positive Recht — wie immer es auch beschaffen
sein mag — lediglich der Ausdruck der einen, allgemeinen und unteil-
baren Vernunft in der jeweiligen historischen Wirklichkeit. Das System
zeigt infolgedessen eine höchst verwickelte Einteilung von allgemeinen
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Grundsätzen der Vernunft, der Gesetzgebung und der Rechtswissenschaft


und deren Ausformung in den verschiedenen Epochen der Rechtsgeschidite.
Reitemeier greift damit eine Anregung auf, die sdion bei Pütter ausgespro-
chen worden war. Der wichtigste Gesichtspunkt dieser universalhistorischen

Die wichtigsten unter diesen zahlreichen Darstellungen sind: A. F. S c h o t t ,


Entwurf einer juristischen Encyclopädie und Methodologie (1771); J. F. G i 1 d e -
m e i s t e r . Juristische Encyclopädie und Methodologie (1783); J. F. R e i t e -
m e i e r , Encyclopädie und Geschichte der Redite in Deutschland (1785) (dazu s.
Text); W. G. T a f i n g e r , Encyclopädie und Geschidite der Rechte in Deutsch-
land (1789); Th. A. H. S c h m a l z , Encyclopädie des gemeinen Redits (1790);
G. H u g o , Lehrbudi der juristisdien Encyclopädie (1792) (dazu s. Text); J. F.
E i s e n h a r t , Die Reditswissensdiaft nach ihrem Umfange . . . und Hilfs-
wissenschaften, nebst einer juristisdien Methodologie (1797); Chr. F. M ü h -
l e n b r u c h , Lehrbudi der Encyclopädie und Methodologie (1807); K. F. Chr.
W e n c k , Lehrbuch der juristischen Encyclopädie und Methodologie (1810);
N. F a l c k , Juristische Encyclopädie (1821); A. F r i e d l ä n d e r , Juristische
Encyclopädie oder System der Rechtswissenschaft (1847); Ferd. W a l t e r , Juri-
stisÄe Encyclopädie (1856); H. A h r e n s , Juristische Encyclopädie (1855); L.
A r n d t s , Juristische Encyclopädie und Methodologie (1860); A. M e r k e l ,
Juristische Encyclopädie (1885) (dazu s. Text); F. v. H o l t z e n d o r f f , Ency-
clopädie der Rechtswissenschaft (1870ff); K. B i r k m e y e r , Encyclopädie der
Reditswissensdiaft (1901).
•» Vgl. dazu H. T h i e m e , ZRG Germ. Abt. 56 (1936) S. 213 mit weiteren
Nadiweisen, Thieme bestreitet die Behauptung F. Z w i l g m e y e r s , Rechtslehre
Savignys (1929) S. 3, daß P ü t t e r die pragmatisdie Gesdiichtsschreibung der
Rechtsgeschichte als Methode eingeführt habe. Indessen ist jedoch darauf hinzu-
weisen, daß P ü 11 e r in seiner Methodologie §§ 130 ff., S. 75 ff. das Programm
entworfen hat, nach dem R e i t e m e i e r verfahren ist.
" R e i t e m e i e r , aaO. Vorrede S. III/IV, ferner S. XXIII.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 315

Einteilung ist die Verbindung der bis dahin völlig getrennten Materien
der „historia iuris", d. h. der juristischen Quellengesdiidite, und der
„antiquitates", der Rechtsaltertümer, d. h. der systematischen Zusammen-
stellung der historischen Rechtsinstitute in einer einzigen Darstellung".
Auf einem ähnlichen Gedanken beruht auch Gustav Hugos juristische
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Enzyklopädie im Rahmen des „Lehrbuch eines civilistischen Cursus"


Für Hugo kommt es jedoch nicht nur auf die systematische Verbindung
von Quellengeschichte und Rechtsaltertümern an, sondern vor allem auf
die empirisch-kritische Grundlegung der Rechtswissenschaft überhaupt.
Als Prinzipien einer solchen empirisch-kritisdien Rechtswissenschaft er-
kennt Hugo die Antworten auf die drei Grundfragen jeder Beschäftigung
mit dem Recht, nämlich: Was ist rechtens? Ist es vernünftig, daß es rech-
tens ist? und schließlich: Wie ist es rechtens geworden?" Seine Enzyklo-
pädie enthält daher auch nicht ein universalhistorisches System sämtlicher
positiven Rechte, sondern ein System des positiven Rechts, der allgemeinen
Grundsätze des positiven Rechts und der Geschichte des Rechts. Daß
dieses System im übrigen wesentlich auf die Wissenschaft vom römischen
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Recht bezogen, gleichsam als deren einleitender Teil gedacht ist, fällt dem-
gegenüber nicht ins Gewicht.
Mit Hugos Enzyklopädie beginnt diejenige Phase in der enzyklopädi-
schen Bewegung, die durch die Wirkung der Historischen Rechtsschule
gekennzeichnet ist". Von den Häuptern dieser Schule ist uns freilich kein
" Über R e i t e m e i e r s Bedeutung für die Geschichte der Rechtswissenschaft
vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , III 1, S. 498.
« Über Hugo ebd. III 2 (1910) S. 1 ff.; F. E i c h e n g r ü n , Die Reditsphilo-
sophie Gustav Hugos (1935) zuletzt A. B u s c h m a n n , Ursprung und Grund-
lagen der geschichtlichen Rechtswissenschaft (Diss. jur. 1963) und W. E b e l ,
Gustav Hugo, Professor in Göttingen (1966). Über den „Civilistischen Cursus"
vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , S. 25 sowie B u s c h m a n n , S. 154 ff.
™ Lehrbudi eines civilistischen Cursus, Erster Band, Lehrbuch der juristischen
Encyclopädie, hier benutzt in der 7. Aufl. 1820, § 36, S. 45 ff.
S t i n t z i n g - L a n d s b e r g , S. 45, der allerdings betont, daß mit Hugo
nicht eigentlich die Historische Reditsschule beginne, sondern die moderne histo-
risdi-empirische Rechtswissenschaft — so Landsberg — überhaupt. Die These
dürfte zutreffen, wenn auch hervorgehoben werden muß, daß die meisten der
Lehren, die später der Historischen Rechtsschule, insbesondere Savigny, zuge-
schrieben worden sind, bei Hugo bereits vorhanden und ausgesprochen waren.
Was Hugo fehlt, ist der Glanz der Darstellung und das Vermögen, seine Ideen
in den großen und umfassenden Zusammenhang einer Theorie zu bringen. Die
Ansätze, die sich zu Beginn seiner akademischen Laufbahn zeigen, waren zu
schwach. Zu den Lehren der Historisdien Rechtsschule vgl. E. R o t h a c k e r ,
Einleitung in die Geisteswissenschaften (^1932) S. 37 ff., ders. Mensch und Ge-
schichte (1950) S. 9ff. Über Savignys Rolle uncl seine Lehren vgl. S t i n t z i n g -
L a n d s b e r g III 2, S. 186ff., ferner E. W o l f , Große Reditsdenker der deut-
schen Geistesgeschichte ('1963), S. 464 ff. mit Nachweis sämtlicher Literatur sowie
F. W i e a c k e r , Privatreditsgesdiidite der Neuzeit (n967), S. 381 ff. Eine
zusammenfassende Darstellung der Historisdien Rechtsschule ist noch nicht ge-
schrieben.
316 Arno Busdimann

Werk überliefert, das als Enzyklopädie bezeichnet werden kann, wenn


man einmal von Puditas Einleitung zum „Cursus der Institutionen" ab-
sieht. Das bedeutendste Werk ist unter diesen Umständen wohl die „Juri-
stische Encyclopädie" von Leopold August Wamkönig aus dem Jahre
1853. Warnkönig geht in ihm von der Voraussetzung aus, daß ein System
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der Reditswissensdiaft keine bloße Zusammenstellung der juristischen


Tatsachen sein dürfe, sondern auf einer philosophisch-historischen Grund-
lage beruhen müsse". Diese philosophisch-historische Grundlage ist für
ihn nicht — wie für Hugo — die Antwort auf die drei Grundfragen jeder
Rechtswissenschaft, sondern allein Savignys Theorie von der Entstehung
des Rechts aus dem Bewußtsein des Volkes. Sie ist für ihn, wenn man so
will, die geschlossene Antwort auf die von Hugo formulierten Fragen.
Warnkönigs Enzyklopädie enthält daher ein System, an dessen Spitze die
„Urtatsachen" des menschlichen Bewußtseins stehen und an dessen Ende
sich das dogmatische System der Rechte befindet. Dazwischen befinden sich
als besonders wichtige Teile die Entstehung des Rechts, der Begriff des
Rechts, die Quellen des Rechts und schließlich Begrifif und Quellen des
Rechts in Deutschland.
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Wamkönigs Enzyklopädie deutet bereits den Übergang an, der sich in


der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Historischen Rechtsschule
zur Lehre Hegels vollzieht. Hegels Lehre hat unter den Juristen bekannt-
lich eine Anzahl bedeutender Anhänger gefunden, von denen allerdings
kaum jemand den Versuch gewagt hat, die Rechtswissenschaft als Ganzes
auf der Grundlage der Hegel'schen Lehre darzustellen. Eines der wenigen
Werke, das hier genannt werden kann, ist Karl Theodor Pütter's „Inbe-
griff der Rechtswissenschaft oder juristische Encyclopädie und Metho-
dologie" aus dem Jahre 1846". Pütter geht von der These aus, daß die
Erkenntnis des Rechts nur durch Einsicht in das innerste Wesen des Rechts,
d. h. durch Erkenntnis der Ursachen und Gründe seiner Entwicklung, mög-
lich sei''. An der Spitze eines jeden Systems muß daher für ihn die Ent-
wicklung des Rechtsbegriffs stehen™, aus deren Stationen sich die Ein-
teilung des Systems ergibt. Pütter's System besteht danach aus vier Teilen:
der allgemeinen Entwicklung des Begriffs des Rechts, der natürlichen Ent-
wicklung dieses Begriffs in der Wirklichkeit, der allgemeinen Weltrechts-
geschichte als Schauplatz dieser Entwicklung, der Entwicklung des Rechts-
begriffs im Rechtszustand der Gegenwart und schließlich dem Begriff der
Rechtswissenschaft als Einheit des wirklichen Rechts und seines Begriffs

W a r n k ö n i g , aaO. Vorwort.
" Über Pütter vgl. S t i n t z i n g - L a n d s b e r g III 2, S. 648 f.
" P ü 11 e r , aaO. Vorwort S. V passim.
™ Ebd. S. VII.
'» Ebd. S. VIII ff.
Enzyklopädie und Jurisprudenz 317

Audi Pütter's „Inbegriff" steht am Anfang einer neuen Riditung der


allgemeinen Grundlegung der Reditswissensdiaft und damit der juristi-
schen Enzyklopädie, nämlidi des P o s i t i v i s m u s D a s bedeutendste enzyklo-
pädische Werk, das diese Riditung hervorgebracht hat, ist Adolf Merkels
„Juristische Enzyklopädie" aus dem Jahre 1885''. Für Merkel, der ein
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Schüler Rudolph von Jherings war, besteht die Grundlage systematischer


Darstellung der Rechtswissenschaft freilich nicht, wie für K. Th. Fütter,
in dem allgemeinen Begriff des Rechts und der Rechtsentwicklung; im
Anschluß an die Lehre des Positivismus, nadi der bekanntlich alle Er-
scheinungen des Reditslebens lediglich Konsequenzen finaler oder kausaler
Gesetzmäßigkeiten darstellen, ist es vielmehr nur noch die Vorstellung der
verschiedenen Zwecke und Ursachen, auf die sich das Recht zurückführen
läßt. Merkels Enzyklopädie enthält daher auch kein geschlossenes System
mehr, sondern lediglich eine Zusammenstellung der für das Recht maß-
gebenden sozialen und reditlichen Tatsachen

Merkels Werk mag unsere Übersicht über die wichtigsten unter den
For personal use only.

zahlreichen Werken der enzyklopädischen Bewegung beschließen. Denn


mit ihm kündigt sich bereits das Ende dieser Bewegung und der sie
repräsentierenden Literaturgattung an. Nicht nur daß die Vorlesung
über juristische Enzyklopädie durch die juristisdie Studienreform der Jahr-
hundertwende verschwindet und durch eine allgemeine Einführung ersetzt
wird; auch die Darstellung selbst wird nidit mehr gepflegt, denn die Ein-
führungen, die an ihre Stelle treten, verfolgen nur mehr pädagogische
Ziele. Zugleich mit diesem Verschwinden deuten sidi jedoch bereits die
Folgen an, die in einer auf rein positivistischer Grundlage beruhenden
Systematik der Rechtswissenschaft beschlossen liegen: Es ist die Auf-
lösung des Systems und seine Ersetzung durch eine bloße Zusammenstel-
lung der Fakten. Ob freilich eine solche Zusammenstellung auf die Dauer
in der Lage sein wird, das Recht in seinem inneren Zusammenhang zu
erhalten und zu bewahren, mag füglich bezweifelt werden. Wo die äußere
Einheit fehlt, wird auch der innere Zusammenhang nidit lange fort-
bestehen können.

Über den Positivismus in der Reditswissenschaft vgl. K. L a r e n z , Rechts-


und Staatsphilosophie der Gegenwart (1931) S. 13 £f., ferner S t i n t z i n g -
L a n d s b e r g l l l 2, S. 587 ff.
" Vgl. ebd. S. 709 ff., ferner S c h ö n f e 1 d , aaO. S. 511 ff.
A. M e r k e 1 (s. Anm. 68) § 6, S. 6/7, § 41, S. 24/25.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Herder
und Friedrich Schlegel
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von WolffA.vonSchmidt

Die Bewegungen des Sturm und Drang und der Romantik sind Peri-
oden, die in der deutsdien Literaturgesdiidhtssdireibung sdiarf ausein-
andergehalten werden; aber jeder, der sidi genauer mit diesen Strömun-
gen befaßt, ist erstaunt über die vielen Zusammenhänge und ideellen
Gemeinsamkeiten, die zwisdien ihnen bestehen. Eine Untersuchung der
persönlichen Beziehungen zwisdien dem Führer des Sturm und Drang, Jo-
hann Gottfried Herder, und dem Vater der romantischen Literaturtheorie,
Friedridi Schlegel, stellt einen Beitrag dar, der die Verwandtschaft dieser
beiden Epochen noch deutlicher hervorhebt.
Es läßt sich nicht eindeutig feststellen, wann Friedrich Schlegel mit dem
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Herderschen Werke zum ersten Mal bekannt wurde, jedoch gibt das erste
schriftliche Urteil, das der neunzehnjährige Friedrich Schlegel über Herder
ablegt, den Eindrudc, daß dies in der Göttinger Zeit geschah und durch
den Bruder August Wilhelm angeregt wurde, mit dem er auch in den fol-
genden Jahren häufig über Herder korrespondierte. A m 4. Juni 1791
schreibt Friedrich Schlegel an seinen Bruder den folgenden sehr aufschluß-
reichen Kommentar':
— So eben diesen Morgen laß ich eins Deiner Lieblingsbücher. Herders Pla-
stik — ich glaube seinen Charakter itzt mehr zu verstehen wie in Göttingen — es
hat mich vergnügt mich in sein Wesen zu versetzen — und gewiß ist es das
s e i n e s t e seiner Werke um mich eines Ausdrucks von ihm zu bedienen. Sehr
zart und fein ist sein Sinn, aber auch empfindlich und verletzbar durch das
kleinste. Seine Sprache ist wie eine blumenreiche Wiese und wenn sie sich erhebt
wie der Regenbogen. In der Plastik ist sie sehr bilderreich und ich glaube orien-
talisch; es fügt sich in einander wie ein Blumenstrauß. — Es fehlt ihm g a n z an
Kraft zum Wiederstande; seine Klagen quälen mich noch widerlicher wie die des
Rousseau. Aechte Schönheit muß sich als Siegerin über das Schicksal zeigen. —
Aber für das Schöne ist Herder zu zärtlich und das Erhabene gar das würde ihn
niederdrücken. — Eine kleine Stelle für Dich wegen Herabsetzung der Land-
schaften „die Tafel der Schöpfung schildern ist Ihnen unedel; als ob nicht Him-
mel und Erde besser wäre und mehr auf sich hätte, als ein Krüppel, der zwischen
ihnen schleicht, und dessen Konterfeyung mit Gewalt e i n z i g e würdige Mah-
lerey sein soll." Einige seiner Klaglieder sind Dir zu nahe geworden; sie zer-
stören die Ruhe und lähmen den Muth.

' Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, hrsg. von
O. W a l z e l (Berlin 1890), S. 3. Das Zitat ist in J. G. Herder, Sämmtlidie
Werke, hrsg. von B. S u p h a n (Berlin 1877—1913), Bd. 8, S. 17 zu finden.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Herder und Fr. Schlegel 319

Hier ist nidit der Ort, August Wilhelm Schlegels Stellung zur Landschafts-
malerei zu diskutierenFriedrich Schlegels ausführliche Stellungnahme zu
Herders Persönlichkeit und seinem Werk zeigt aber das Verhältnis dieser bei-
den großen Gestalten in klaren Worten auf, und es wird interessant sein,
zu beobachten, daß sich dieses Verhältnis in den folgenden Jahren prin-
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zipiell nidit ändert. Sdion in diesem Brief läßt sidi eine eigenartige Kom-
bination von Bewunderung und Kritik feststellen. Wie es typisch für
Friedrich Schlegel ist, interessiert ihn zuerst der Mensch Herder, dann
sein Werk, deim nur durch den Menschen kaim man das Werk verstehen:
„Es ist etwas Großes, den Menschen nicht nach seinen baren Thaten, son-
dern nach seinem innern Leben wägen zu können; nur der Weise vermag
e s " I n einem Brief vom 20. Mai 1791 scheint es Friedrich Schlegel un-
bewußt gelungen zu sein, das was Herder fehlt, zu beschreiben: „Der
Zweck der Kunst ist die Schönheit des Lebens hervorzubringen, und das
bewirkt sie auch. Wenn aber ein Mann mit sich selbst oder mit der Welt
noch nicht ganz in Übereinstimmung ist, so fehlt es dazu an Kraft, und sie
weckt grade das Gegentheil, die Harmonie eines Augenblickes macht die
beständigen Dissonanzen fühlbarer; man erliegt desto mehr unter der Last
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der Alltäglichkeit"
Jedoch auch Herder hat unbewußt, wie Enders feststellt®, in seinem
Essay „Liebe und Selbstheit" (1785) ein Urteil über Friedrich Schlegel ab-
gelegt, welches dessen Schwäche zeigt: „Die ganze Schöpfung mit Liebe
zu umfassen, klingt schön; aber vom Einzelnen, dem Nächsten fängt man
an: und wer dies nicht tief, irmig, ganz liebet: wie sollte er, was entfernt
ist, was aus einem fremden Gestirn nur schwache Stralen auf ihn herab-
wirft, lieben können? — so, daß es auch nur den Namen der Liebe ver-
diente. Die allgemeinsten Cosmopoliten sind meistens die dürftigsten
Bettler: sie die das ganze Weltall mit Liebe umfassen, lieben meistens
nichts, als ihr enges S e l b s t " W i l h e l m von Humboldt scheint diese ge-
wisse Gefühlskälte Friedrich Schlegels in einem Brief an Jacobi zu be-
stätigen, wenn er nadi dem Erscheinen von Friedrich Schlegels Woldemar-
Rezension feststellt, daß dessen gehässige Art auf der Manier beruhe,
immer den ganzen Menschen zu rezensieren, da es ihm an der nötigen
Ehrfurcht vor dem Objekt mangele

' Siehe A. W. S c h l e g e l , Vorlesungen über Schöne Litteratur und Kunst,


hrsg. von J. M i n o r (Heilbronn 1884), Bd. I, S. 203 ff. und Athenaeum, hrsg.
von August Wilhelm und Friedrich S c h l e g e l , mit Nachwort von E. B e h 1 e r
(Stuttgart, 1960), Bd. II, Stüde I, S. 39 ff.
" Fr. Sdilegels Briefe (wie Anm. 1), S. 128. * Ebd., S. 2.
' Carl E n d e r s , Friedrich Schlegel. Die Quellen seines Wesens und Werdens
(Leipzig 1913), S. 136*. » Suphan, Bd. XV, S. 323.
' Johanna K r ü g e r , Friedrich Schlegels Bekehrung zu Lessing (Weimar 1913),
S. 4.
320 Wolff A. von Sdimidt

Wenn diese zwei Urteile geredit sind, ist es kein Wunder, daß das Ver-
hältnis von Herder und Friedridi Sdilegel nie sehr warm war. Für Fried-
ridi Schlegel war Herder zu „empfindlidi und verletzbar durdi das
kleinste", während für Herder die Gefühlskälte Friedrich Schlegels ab-
stoßend war. Trotzdem hat Friedrich Schlegel schon früh die meisten der
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Herdersdben Werke studiert und aus ihnen gelernt; in den „Ideen" findet
er „viel vortreffliches" ® und seinem Bruder August Wilhelm schlägt er
vor, das von Herder aufgestellte Programm eines „Winckelmannes der
Poesie" in die Tat umzusetzen». Am 4. Juli 1792 spricht Friedridi Schlegel
seine Gedanken über den gerade erschienenen vierten Band der „Zer-
streuten Blätter" von Herder aus und zeigt wiederum große Bewunderung
und Kritik zur gleichen Zeit: Er „enthält persische Sittensprüche, die mir
gleichgültig waren; schöne Gedanken einiger Bramanen, eine gute Ab-
handlung über Sakontala, und über die stille Unsterblichkeit, die durch
Thätigkeit zum Guten, Schönen und Wahren erreicht wird; und einige
herrliche Gedanken über das Schicksal so vieler sich selbst zu überleben.
Herder wandelt dießmal oft oben im Aether; er nimmt allmählig die er-
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habene Ruhe eines Bramanen an. Aber mit dieser erhabenen Geberde sagt
er über große Dinge nicht selten etwas geringfügiges"
Im Juni 1793 klassifiziert Friedrich Schlegel einige große Geister seiner
Zeit: „. . . idb habe den Geist einiger großen Männer, vielleicht nicht ganz
ohne Erfolg, zu ergründen gesucht als Kant, Klopstock, Göthe, Hemster-
huys, Spinosa, Schiller; andrer von weniger Bedeutung nicht zu erwähnen,
Herder, Plattner etc." Wenn auch Herder nur in der zweiten Gruppe
großer Autoren erwähnt wird, ist doch die Tatsache, daß sein Name in
diesem Zusammenhang überhaupt fällt, ein Beweis dafür, daß Friedrich
Schlegel sich in den neunziger Jahren intensiv mit Herder beschäftigt hat
und zu dieser Zeit seine Kenntnisse des Herderschen Werkes erwarb. Ein
halbes Jahr später stellt er, wieder halb bewundernd und halb ablehnend,
über Herders Altertumsforschungen fest: „Herder vereinigt Kentniß und
Sinn; hat aber doch dafür nicht viel gegeben" Ein paar Wochen dar-
auf, am 11. Dezember 1793, erwähnt Friedrich Schlegel ihn wieder in
demselben zweideutigen Licht: „In Herder finde ich großen Geschmack,
aber er scheint mir nur errungen, wiewohl nicht so mühsam wie bey
Moritz" Zu jedem Lob fügt er einen Tadel hinzu, was ein paar Jahre
später, als Herder einmal aufmerksam auf ihn wird, zu einem sehr ge-
spannten Verhältnis führen muß, wie dies auch in der Beziehung zwischen

8 Fr. Sdilegels Briefe, S. 14. • Ebd., S. 19.


'» Ebd., S. 50. " Ebd., S. 91.
" Ebd., S. 141. " Ebd., S. 153.
Die persönlidien Beziehungen zwisdien Herder und Fr. Schlegel 321

Friedridi Sdilegel und Sdiiller — aus ähnlichen Gründen — der Fall


war
Im folgenden Jahre liefert Friedrich Schlegel in der Korrespondenz mit
seinem Bruder August Wilhelm weitere Beweise für seine großen Kennt-
nisse des Herdersdien Werkes. Am 27. Februar 1794 schreibt er in einem
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sehr positiven Urteil: „Unter andern habe ich den gestrigen Tag, da idb
midi sehr übel befand, mich an Herders kritischen Wäldern gelabt. Das
Polemische des Werks ist nicht wiedrig und verleiht der Weichheit seines
Styls mehr Kraft, als sonst irgendwo" Im November schlägt er seinem
Bruder vor, nacli Jena zu ziehen. „Für alle Deine litterariscien Unter-
suchungen wärest Du am rechten Orte; . . . Du findest dort Humbold. Du
hast Weimar ganz in der Nähe, also Herder und G ö t h e " E s mag Zu-
fall sein, daß Herder hier vor Goethe gestellt wird, aber daß beide in
einem Zuge genannt werden, zeugt dafür, daß Friedridi Sdilegel Herder
jetzt höher einschätzt als je zuvor.
Friedridi Schlegel sieht es jetzt sogar gern, daß der Bruder sidi einiges
von Herders Stil aneignet: „Dein Styl war immer frisch und flüßig, iezt
For personal use only.

ist er auch nervös. Du vereinigst beynahe schon vollkommen die reine


Bildung Winkelmanns mit Herders Lebendigkeit und mit Müllers Mann-
heit" obwohl er sidi vorher in demselben Brief über Herders „Kunst-
sprache der Schwärmer" beschwert und sie einen „überflüßigen" und „ge-
schmackwidrigen" „aesthetischen Luxux" nennt'®. Aber nicht nur Herder
Stil findet er nachahmungswert, denn er fährt fort: „ D e i n T a l e n t z u r
B i o g r a p h i e i s t e n t s c h i e d e n . Mit dem ,heiligen Ahndungsver-
mögen' von Herder und Humbold verbindest Du eine weit männlichere
Würdigung des sittlichen Werthes,
Zum Sdiluß dieses langen Briefes bezeichnet Friedrich Sdilegel Herder
sogar als einen der vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands: „Die Hören
sollen an die Stelle der Thalia kommen. Schiller ist Herausgeber; doch
hat Humbold an der Direktion großen Antheil. Göthe ist einer der vor-
züglichsten Mitarbeiter. . . . Der Plan des Journals ist nicht übel — die
vorzüglichsten Schriftsteller Deutschlands sind zu Mitarbeitern eingeladen
ohne Rücksicht auf System und Parthey. Ich nenne Dir nur Herder, Kant,
KlopstocJc, Jakobi, um Dir zu beweisen wie unpartheyisch man wählte"
Daß Friedrich Schlegel hier auch auf verschiedene Systeme und Parteien
hinweist, deutet an, was schon hervorgehoben wurde, daß er sich nicht
unbedingt mit Herder verbunden fühlt.

H. H ü f f e r , Erinnerungen an Schiller mit bisher ungedrudcten Briefen von


Herder, Sdiiller und Goethe, Deutsdie Revue X / 2 (1885) 8. 210.
i® Fr. Sdilegels Briefe, S. 169.
" Ebd., S. 193. " Ebd., S. 201. " Ebd., S. 201.
" Ebd.. S. 203. »» Ebd., S. 207.
322 Wolff A. von Schmidt

Im Jahre 1795 sdireitet die Korrespondenz zwischen Friedrich Schlegel


und seinem Bruder August Wilhelm über Herder fort, ohne daß dieser
irgendwelche Anzeichen gibt, Friedrich Schlegel oder seine Schriften zu
kennen. Mit August Wilhelms Schriften hingegen ist Herder bekannt,
denn in einem Brief Friedrich Schlegels vom 7. April an August Wilhelm
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heißt es: „Ich bitte Dich, sobald als möglich, das übrige vom Inferno an
mich zu schicken, weil Schiller schon mehreremale deshalb gebeten. . . . Her-
hat es in einem Billet an Schiller sehr gelobt, und ersucht, falls Sein Name
etwas bey Dir vermöchte. Dich um die Fortsetzung zu bitten" Natürlich
steht Friedrich Schlegel erst an der Schwelle seiner schriftstellerischen Kar-
riere und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Herder auf ihn aufmerksam
werden muß.
Inzwischen beschäftigt er sich weiter mit dem Herderschen Werk, wie
seine Korrespondenz zeigt. Am 28. April schreibt er: „Von Herder ist im
Meßkatalog eine T e r p s i c h o r e angekündigt auf die ich sehr begierig
bin" und am 31. Juli heißt es in einem Brief: „Im 5ten und 6ten Bande
der Humanität wirst Du sehr vortreffliche Sachen finden über alte Kunst
und altes Publikum" Es handelt sich hier um den 5. und 6. Band von
For personal use only.

Herders „Briefen zur Beförderung der Humanität", die Ostern 1795 er-
schienen und deren 7. und 8. Band von Friedrich Schlegel im folgenden
Jahr rezensiert wurden. Bei diesen letzten Zitaten ist von Wichtigkeit,
daß es nicht mehr August Wilhelm ist, der den Bruder auf Herdersche
Neuerscheinungen aufmerksam macht, sondern daß ein umgekehrtes Ver-
hältnis besteht, woraus wiederum zu schließen ist, daß zu jener Zeit Fried-
rich Schlegels Interesse an den Gedanken Herders sehr groß gewesen ist.
Ein Brief vom 23. Dezember desselben Jahres stellt einen Wendepunkt
dar, denn hier deutet Friedrich Schlegel an, daß er Herder einen Band mit
dem Titel „Grundriß einer Geschichte der Griechischen Poesie", sobald
dieser geschrieben und gedruckt ist, zusenden will". Er fühlt sich jetzt
also sicher genug, dem älteren Meister etwas zur Kritik vorzulegen, stu-
diert aber immer noch alles, was dieser zu sagen hat, um davon zu pro-
fitieren. In den Anmerkungen zu seinem Essay „Vom Wert des Studiums
der Griechen und Römer" (1795—96) bezieht er sich zweimal sehr positiv
auf Herder: „Wie H e r d e r in dem reichhaltigen klassischen Werk
[,Ideen'], auf welches Deutschland stolz sein darf; alle ähnliche Werke, der
Ausländer vornehmlich, erscheinen dagegen wie geringe Vorarbeiten"
An einer anderen Stelle dieses Essays sagt er: „Vortreffliche Gedanken

" Ebd., S. 213; Schiller hat dieses Billett später an A. W. Sdilegel gesdiidtt,
siehe S. 220.
Ebd., S. 215. Ebd., S. 231. «4 Ebd., S. 246.
August Wilhelm und Friedrich Schlegel in Auswahl, hrsg. von 0 . W a 1 z e 1,
Reihe: Deutsdie National-Litteratur (Stuttgart 1892), Bd. 143, S. 255*.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Herder und Fr. Schlegel 323

darüber [Historismus] finden sich in mehreren Stellen des Herderschen


Werks, welches überhaupt vieldurchdachte Erfahrung gegen einseitige
Vernunft aufs schönste in Schutz nimmt" Auch schreibt er begeistert
über ein Herdersches Gedicht „Madera", das er in dem Aushängebogen
des Musenalmanachs gelesen hatte und dessen Autorschaft ihm bekannt
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war, obwohl Herder seine Gedichte darin anonym veröffentlichte


Aber es sollte gerade dieser Musenalmanach (1796) sein, der zu einem
Zerwürfnis mit Schiller und zu einem gespannten Verhältnis mit Herder
führte. Denn Friedrich Schlegel hatte in dem sechsten Monatsheft der
Zeitschrift „Deutschland", dessen Herausgeber J. Fr. Reichardt war, eine
Rezension des Musenalmanachs von 1796 veröffentlicht, welche „voll von
Lob und Bewunderung, aber doch selbst gegen die vornehmsten Mit-
arbeiter, Schiller, Goethe, Herder mit Einschränkungen und Seiten-
blicken" versehen war. Friedrich Schlegels jugendliche Unbesonnenheit
hat durch diese Rezension ein persönlidlies Verhältnis zwischen ihm und
Herder für alle Zeiten unmöglich gemacht.
Obwohl Hans Eichner darlegt, daß die darin erschienenen Gedichte, von
For personal use only.

denen fünfundzwanzig allein von Herder stammen, anonym erschienen


sind und Friedridb Schlegel folglich nicht immer die wirklichen Autoren
gekannt habe scheint der schon zitierte Brief, der wohl Ende Dezember
1795 von ihm geschrieben wurde, zu zeigen, daß Friedrich Schlegel besser
informiert war. Es heißt in diesem Brief sogar: „Merkt Euch, daß alle
Buchstaben von Herder und die Epigramme von Goethe sind"
Nicht alles, was Friedrich Schlegel über Herders Gedichte sagt (sie er-
schienen unter den Sigeln: D., E., F., N., S. P. M. und V . i s t negativ,
aber einiges muß seinen Ärger hervorgerufen haben
Das Vorzüglidiste darunter, .Madera', erreicht durch den einfachen Ausdruck
stolzer Empfindsamkeit, ganz den Ton der schönsten spanischen Romanzen. Das
,Roß aus dem Berge' würde ihm den Preis entreißen, weim die letzte Hälfte dem
vortrefflichen Anfang entspräche. . . . Das ,Lied eines Gefangenen' ist die immer
nodi anziehendste, aber weniger ergreifende Nachbildung eines alten spanischen
Volksliedes . . . Ebenso vollkommen [wie die Schillerschen Epigramme], in einer
durchaus versdiiednen Art, ist ,Das Innre Olympia' ein didaktisches Epigramm,
von allen Gedichten der Ungenannten vielleicht das vollkommenste. Fehlte es
diesen Dichtern nicht fast immer an sinnlidber Stärke, oft an Lebenswärme, selbst
bei glänzender Farbengebung wie in .Parthenope', so könnten sie auf den ersten
Rang Ansprüche machen: denn diese Zartheit des Gefühls, Biegsamkeit des Aus-
drucks und Bildung des Geistes sind des größten Meisters wert.

Ebd., S. 267».
" Fr. Sdilegels Briefe, S. 250.
» H. H ü f f e r (wie Anm. 14), S. 206.
Friedridi S c h l e g e l , Kritisdie Ausgabe [ = FSKA], hrsg. von E. B e h 1 e r
(Paderborn 1958 ff.), Bd. II, S. cvi.
>» Fr. Sdilegels Briefe, S. 250. " FSKA, Bd. II, S. cvi. Ebd., S. 4 f.
324 WolJf A. von Sdunidt

Es ist nicht verwunderlidi, daß Herder am 25. August an Schiller den


folgenden Brief schreibt*®: „Ohne Zweifel haben Sie die Recension des
Musenalmanadis vom 96. im ,Deutschlande' gelesen. Idi wünschte, daß
Herr Friedrich Schlegel mir aus der Wilhelmischen oder Sdiwarzischen
Apothek in Jena durch ein kleines Recept eine gute Dose ,Lebenskraft'
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zukommen ließe; sie käme mir sehr gelegen. Und auch Sie würden sichs
gefallen lassen, wenn er Ihnen gegen Ihre ,in Unordnung gebrachte Ein-
bildungskraft' etwas verschriebe. Leider aber hält er das letzte, wahr-
scheinlich auch das erste Übel für ganz u n h e i l b a r . Und da kann uns
denn auch (allen Musen seys geklagt) seine schöne G r i e c h h e i t nicht hel-
fen." Nicht nur zeigt dieser Brief, daß Friedrich Schlegel aus dem ihm
vielleicht wohlwollenden Lehrer einen ihm gegenüber zynisch-arroganten
Feind gemacht hat, sondern H. Hüffer stellt riditigt fest, daß Herder sehr
wahrscheinlich auch Schiller gegen Friedrich Schlegel mit diesem Brief
beeinflußt habe".
Von diesem Moment an muß Friedrich Schlegel Herder gegenüber nicht
mehr vorsichtig und zurückhaltend sein, er kann jetzt ehrlich sagen, was
er denkt. Es ist daher keine Überraschung, daß er in einer Rezension der
For personal use only.

„Hören" (1796, elftes Stüde) ein Gedicht mit dem Titel „Die Trösterin-
nen", welches anonym von Herder veröffentlicht wurde, als „unklar" ab-
tut Auch hier besteht natürlich die Möglichkeit, daß Friedrich Schlegel
nicht wußte, wer der Autor war, aber er war sich zweifellos bewußt, daß
Herder der Autor sein könne, denn er war, wie schon einige Male gezeigt
wurde, ein großer Kenner des Herderschen Werkes.
In das Jahr 1796 fällt auch Friedrich Schlegels Rezension der Herder-
schen „Briefe zur Beförderung der Humanität" (7. und 8. Sammlung).
Hierzu seien zwei Dinge erwähnt, und zwar zunächst, daß Hans Eichner
sehr überzeugend die Frage der Urheberschaft beantwortet hat, die von
Haym, Minor und Josef Kömer aufgeworfen wurde. Es scheint, wenn
man sich an Eichners Belege hält, „völlig sicher, daß Friedridi Schlegel
die Rezension geschrieben h a t " d e n n es finden sich darin viele Gedan-
ken, die in dessen späteren Schriften wiederkehren. Zweitens erscheint
Kobersteins Behauptung überzeugend", daß Herder sich in der achten
Sammlung hauptsächlich auf Friedrich Schlegel bezieht, wenn er über die

»» H. H ü f f e r , S. 203. « Ebd., S. 208 f. » FSKA, Bd. II, S. 45».


» Ebd., S. cviiff. Siehe audi Rudolf H a y m , Die romantisdie Sdiule (2. Aufl.
Berlin 1906), S. 208*; Friedridi Sdilegel. Seine prosaischen Jugendsdiriften, hrsg.
von J. M i n o r (Wien 1882), Bd. II, S. v; Krisenjahre der Frühromantik. Briefe
aus dem Schlegelkreis, hrsg. von J. K ö r n e r (Brünn-Leipzig-Wien-Bern 1936—
1958), Bd. III, S. 247». Briefe von und an August Wilhelm Sdilegel, hrsg. von
J. K ö r n e r (Wien 1930), Bd. II, S. 40*.
" August K o b e r s t e i n , Grundriß der Gesdiidhte der deutschen National-
literatur (5. Aufl. Leipzig 1872—73), Bd. IV, S. 899.
Die persönlichen Beziehungen zwischen Herder und Fr. Schlegel 325

Kritik nach der Zeit Lessings sagt: „Laß es seyn, daß zuweilen unbärtige
Jünglinge denen, von denen sie gelernt hatten, das Kinn rasiren, um doch
auch an ihnen berühmt zu werden; jeder honette Mann, der da sieht, wie
mit seinem Nachbar gehandelt wird und wer also handelt, wird sich all-
mählich aus diesen anonymischen Becken-Stuben zurückziehen, und so thut
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auch hier die Zeit ihr Werk; sie übt scharfe Kritik an der Kritik der Zei-
ten" »8.
Herders persönliche Bekanntschaft machte Friedrich Schlegel durch C. A.
Böttigers Vermittlung Ende September 1796 in W e i m a r A m 3. Oktober
schreibt Friedrich Schlegel an Böttiger: „Ich kann diesen Brief an Sie,
theuerster Freund, nicht auf die Post geben, ohne Ihnen für alles Gute
und Liebe, was Sie uns in W. erwiesen, herzlich zu danken. H. Pr. Herder
bitte ich mich u. mein[en] Br[uder] aufs angelegentlichste zu empfehlen"
Es ist nichts weiter über dieses Treffen bekannt, aber es hat das Verhältnis
zwischen Herder und Friedrich Schlegel zeitweilig, zumindest an der
Oberfläche, etwas verbessert, was sich aus dem nächsten Brief an Böttiger
vom 21. Oktober zeigt, wo es heißt: „H. Hofr. Wieland bitte ich recht
For personal use only.

bald u. H. Präs. Herder gelegentlich meine tiefe Verehrung zu bezeu-


gen"".
Das Jahr 1797 ist das Geburtsjahr der Frühromantik genannt worden
und es ist wahr, daß für Wackenroder, Tiecjc, Schleiermacher, August Wil-
helm und Friedrich Schlegel dieses Jahr von entscheidender Bedeutung
war. Von Friedrich Schlegel wird 1797 das Buch „Die Griechen und
Römer" veröffentlicht, und er sagt darüber: „Da es mein erster größerer
Versuch ist, so liegt mir allerdings daran daß an recht vielen Orten und
auf recht viele Weise bedeutend davon geredet werde" Er sendet
Dedikationsexmeplare an Karl Morgenstern, Körner, Heyne, Böttiger und
Herder". In einem Brief vom 1. Februar schreibt er an Böttiger: „Bey-
liegenden Brief und Exemplar bitte gehorsamst an Herder zu beför-
dern" Es ist leider nicht mehr festzustellen, was dieser Brief enthielt,
da er verlorengegangen i s t a b e r es scheint fraglos, daß Friedrich Schle-
gel seinen Respekt für Herder, aber auch seine eigene Selbstsicherheit hat
'8 Suphan (s. Anm. 1), Bd. 18, S. 130 f.
ä» Krisenjahre (s. Anm. 36), Bd. III, S. 247.
Briefe von Friedrich Schlegel, in: Archiv für Literaturgeschichte 15 (1887),
S. 416. In Krisenjahren, Bd. III, S. 247, wird dies in einem Druckfehler als
ALZ X V s. 416 f. 423 anstatt als ALG . . angegeben.
« Ebd., S. 417.
Deutsche Literatur, Reihe: Romantik, hrsg. von P. K l u c k h o h n (Stuttgart
1950), Bd. I, S. 9.
" Krisenjahre, Bd. I, S. 4.
" Krisenjahre, Bd. III, S. 11.
« ALG (s. Anm. 40), Bd. XV, S. 418.
« Krisenjahre, Bd. III, S. 247.
326 Wolff A. von Sdimidt

zeigen wollen, wenn er es wagte, Herder, den er sdion einige Male kri-
tisiert hatte, seine erste große Sdirift zur Beurteilung vorzulegen. Er er-
wähnt Herder einmal in dem Essay „Über das Studium der griediisdien
Poesie", und was er hier schreibt, gehört zu dem Sdiönsten, was je über
Herder gesagt worden ist: „Herder . . ., welcher die umfassendste Kennt-
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niß mit dem zartesten Gefühl und der biegsamsten Empfänglichkeit ver-
einigt, und durdi eine besondre Gabe geschichtlicher Divination, tief füh-
lender Charakteristik und künstlerisch auffassender, alles nachdiciitender,
in jeglidie Weise und Form sich hineinempfindender Fantsisie den ersten
Grund gelegt und die Züge vorgezeichnet hat, zu der neuern Art von
Kritik, welche als die eigenthümlichste Frucht der deutschen Geistes-
bildung und Wissenschaft, aus beiden gemeinsam hervorgegangen ist."
Man muß hier allerdings erwähnen, daß der größte Teil dieser Bewer-
tung erst im Jahre 1823 für die „Sämmtlichen Werke" von Friedrich
Schlegel hinzugefügt wurde
Friedrich Schlegel tritt Herder von jetzt ab als Ebenbürtiger gegenüber,
dies zeigt sicäi besonders an einem Brief vom 11. Mai 1797, wiederum an
Böttiger: „In dem ,Lyceum der schönen Künste', welches diese Messe bey
For personal use only.

Unger erscheint, werde ich nun etwas emsthafter in jedem Stück auf-
treten. Im ersten Hefte bitte ich Sie einen Aufsatz über Forster nicht zu
übersehn. Vielleicht liest ihn auch Herder. Es hat midi immer sehr ge-
freut, dass H. ohngeachtet des allgemeinen Bannfluchs, Fs. zuweilen in vol-
len Ehren gedacht hat" Auch im „Lyceum" erschien Friedrich Schlegels
Studie „Über Lessing", in der er sich besonders auf Herders Essay „Les-
sing" (1781) bezieht, wenn er sagt": „Die Nähe einer so glänzenden Er-
scheinung blendet auch sonst starke Augen, selbst bei leidenschaftsloser
Beobachtung. . . . Der erste Eindruck literarischer Erscheinungen aber ist
nicht bloß unbestimmt: er ist auch selten reine Wirkung der Sache selbst,
sondern gemeinschaftliches Resultat vieler mitwirkenden Einflüsse und zu-
sammentreffenden Umstände. Dennoch pflegt man ihn ganz auf die Rech-
nung des Autors zu setzen, wodurch dieser nicht selten in ein durchaus
falsches Licht gestellt wird." Herder ist einer „der achtungswürdigsten
Veteranen der deutschen Literatur, . . . welche gleich im ersten Schmerz
über seinen Verlust schrieben" und daher viele wesentliche Dokumente
entbehren'®. In der zweiten Fassung dieser Lessing-Studie, die allerdings
erst 1801 veröffentlicht wurde, ist Friedrich Schlegel Herder gegenüber
äußerst zynisch; er spricht dort von den „harmonisch Platten, jene wür-

" Friedridi Sdilegel, Sämmtlidie Werke, 2. Originalausgabe (Wien 1846),


Bd. V, S. 160; vgl. mit Prosaisdie Jugendsdiriften (s. Anm. 36), Bd. I, S. 177.
« ALG, Bd. X V , S. 423.
" FSKA, Bd. II, S. 101 f.
» Ebd., S. 100 f.; siehe auch S. xxix'.
Die persönlidien Beziehungen zwisdien Herder und Fr. Schlegel 327

digen Diditer und Kunstriditer, die so unermüdet geschäftig sind, alles


Göttliche und Mensdiliche in den Syrup der Humanität a u f z u l ö s e n " J e -
doch schon die erste Fassung gefiel Herder verständlicherweise nicht. Caro-
line Herder schreibt am 9. November an Jean Paul: „Sie lesen doch auch
das ,Lyceum'. Mein Mann bittet Sie, den Aufsatz über Lessing und die
einzelnen Gedanken von Friedrich Schlegel darin zu lesen. Jetzt wissen
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wir, daß der Zynismus das Höchste ist, wonach man zu streben hat"
Friedrich Schlegel beschäftigt sich auch noch weiter mit der Lyrik Her-
ders, wie die Rezensionen des Musenalmanachs 1797 verraten. Es heißt
dort zum Beispiel über ein von Herder anonym veröffentlichtes Gedicht:
„Es war kaum möglich einige im VIL imd VIIL Bande der Herderschen
,Briefe zur Befördenmg der Humanität' vorgetragene Gedanken über
Reim, Verstand und Dichtkunst sinnreicher und reizender zu dramatisieren,
als in folgendem Gedichte, von V." Oder er sagt über ein anderes ano-
nymes Gedicht von Herder: „Die ,Gefälligkeit', ein reizendes Gedicht von
0., besitzt selbst in hohem Grade die Eigenschaft, von der es benannt
ist"
Es besteht gar kein Zweifel, daß Friedrich Schlegel in dieser Periode
For personal use only.

stark unter dem Einfluß von Herder steht®®, obwohl er immer wieder ver-
sucht, seine eigenen Gedanken von denen Herders zu differenzieren. Wie
ihm dies gelingt, und wie er aber doch immer wieder auf Herder zurück-
kommt, soll hier an Hand einiger Zitate aus dem Jahre 1797 gezeigt wer-
den: „Bei Herder ist der synthetische Klumpen seines Geistes zu Wasser
geworden" — „Herder schrieb anfangs zäh, voll und klümpricht. Aber
er hat sich aus einander geschrieben und mittelst der Auflösung in Was-
ser sich selber v e r d e r b e t " — „ H e r d e r ist der vornehmste aller Volks-
dichter. Er hat bei der nothwendigen Regression der Deutschen auf alle
Elemente der P[oesie] soviel Verdienst um Naturpoesie, wie Klopstodc
um Sprache und deutsche Dichtung überhaupt, Goethe um Kunst, Schiller
um das Ideal"®®. — „ S i n n ist Herders dominirende Eigenheit. Was ist
nun eigentlich das Männliche was ihm fehlt, die Schärfe, das Salz? — Erst
fehlt ihm Philos[ophie] und damit Alles. Aber auch Praxis fehlt ihm
und damit auch P r o d u c t i o n s k r a f t " ® ' . — „Herders Liebe für die
Ebd., S. 107»; siehe auch S. xxix«.
" Jean Paul und Herder, hrsg. von P. S t a p f (Bern und Mündien 1959), S. 27.
FSKA, Bd. II, S. 31.
Ebd., S. 32; siehe audi S. 55.
»® FSKA, Bd. XVIII, S. xxi £f.
Friedridi Sdilegel, Literary Notebooks 1797—1801, hrsg. von H. E i c h n e r
(London 1957), Nr. 59.
®' Ebd. Nr. 133.
" Ebd., Nr. 136.
®» Ebd., Nr. 183; siehe audi Nrn. 148, 157, 626 und 1112; und FSKA,
Bd. XVIII, S. 198 und S. 219 (aus dem Jahr 1798).
10 Ardiiv für Kulturgesdiichte 51/2
328 Wolff A. von Sdimidt

Alten ist wohl mehr Interesse an Cultur überhaupt, sie mag progressiv
oder klassisch oder selbst barbarisch oder auch ganz kindisch seyn. (Uebri-
gens Studium, Glaube, Gewohnheit, etwas Kunstgefühl, aber kein Sinn
fürs Klassische.)"'® — „Polyhistor und Litterator ist noch sehr verschie-
den. Herders Verdienst um Naturpoesie und Naturmensdiheit überhaupt
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das Wichtigste"
Audi Herder, dem die kunsttheoretischen und diditerischen Tendenzen
der Romantik immer mehr widersprachen und dessen Verhältnis zu Goethe
in dieser Zeit sehr gespannt war, kritisiert Friedrich Schlegel jetzt ganz
offen und recht scharf. Am 1. Dezember 1797 schreibt er an Jacobi: „Was
sagst Du, außer der französischen und Kantschen zur dritten großen Re-
volution, der Friedrich SchlegelscJien? Hinfort ist zwar kein Gott mehr,
aber ein Formidol ohn' allen Stoff, ein Mittler zwischen dem Ungott und
den Menschen, der Mensch Wolfgang [Goethe]"
Das Erscheinen des „Athenäums" (1798) führte, wie in so vielen an-
deren Verhältnissen, zu einer grimmigen Feindschaft zwischen Herder
und Friedrich Schlegel, obwohl Herder selbst nirgends von einem der bei-
den Schlegel angegriffen, sondern hauptsächlich (und das erst später) von
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Bemhardi kritisiert wurde, der die „Metakritik" und den Schriftsteller


Herder wenig s c h o n t e H e r d e r s Stimmung läßt sich am besten aus einem
Brief an Gleim ersehen. Herder schreibt am 29. Juni 1798, also nach dem
Erscheinen des ersten Heftes im M a i " : „Haben Sie das ,Lyceum', das
,Athenaeum' gelesen? wie Lessing, wie Jacobi darin behandelt sind, La-
fontaine u. f.? Ein einziger paradiert auf Erden, Apollos Stellvertreter,
der Eindichter. Wir wollen hinunter, hinunter" Dieselbe Verbitterung
zeigt sich auch in einem Brief Caroline Herders an C. A. Böttiger vom
27. Juli 1798: „Ueber die Sehl[egeli] ana sind wir ganz von Wielands
Meinung. Es sind Irrwische. . . . Das soll unser Motto über die Herren
sein" •«. Wieland hatte die Brüder Schlegel als „die beiden Götterbuben"
bezeichnet, was Caroline Schlegel darüber meditieren ließ, „ob er mehr
Akzent auf das Göttliche oder Bübische gelegt", während Böttiger die
Stelle „nach Herrn Heinsens Übersetzung" als „Jupiterbuben . . . Irr-
wische, nicht lucida sidera" auslegte

«» Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie, Logos 17 (1928) S. 54.


Ebd., S. 59. Koberstein, Bd. IV, S. 836«».
Ȋ Ebd., S. 716. " Romantisdie Sdiule (s. Anm. 36), S. 279.
" Von und an Herder. Ungedrudcte Briefe, hrsg. von H. D ü n t z e r (Leipzig
1861—62), Bd. I, S. 244.
" Karl Aug. Böttiger, Literarisdie Zustände und Zeitgenossen. In Schilderun-
gen aus seinem handschriftlidien Nachlasse, hrsg. von K. W. B ö 11 i g e r (Leipzig
1838), Bd. II, S. 196.
" Athenaeum, Nachwort S. 50 f.; siehe hierzu Karl Aug. Böttiger, Bd. I,
S. 180.
Die persönlidien Beziehungen zwisAen Herder und Fr. Schlegel 329

Der wohl gehässigste Brief Herders über Friedrich Sdilegel stammt vom
Dezember 1798. Er ist an Jacobi geriditet und bezieht sidi auf Friedrich
Sdilegels Rezension des „ W o l d e m a r " „ D e n S(h...knedit Friedridi
Schlegel oder Flegel vergiß ganz und gar; warum muß er mit Dir und
Richter [Jean Paul] einen Vornamen führen? Aber eben dieser Vorname
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sage Dir Friede. Vergib ihm; er wusste wahrhaftig nicht, was er that. Man
hat mir gesagt, daß er Deine Werke mit dem größten Entzüdcen gelesen
und sich immer tiefer hineingelesen, bis er Dir zur Dankbarkeit die Re-
cension herausquoll. Du siehst also, er ist am Tage der unschuldigen Kind-
lein geboren; diese und die Narren können nicht sündigen, eben weil sie
Kinder und Narren sind."
Am 18. Januar 1799 schreibt Herder wieder einen verärgerten Brief an
Gleim: „Im ,Athenaeum', ,Lyceum' u. f. kommt ein ander Geschlecht auf.
Wir wollen ihm aber nicht aus dem Wege gehen, sondern uns gerade
hinstellen. So lange wir leben, sind wir auch da"*'. Aber schon drei
Monate später scheint er des Streites müde zu sein und sieht ein, daß eine
neue Zeit gekommen ist. So schreibt er am 18. April an Eschenburg:: „Wir
gehören dünkt mich, nodi zu Einer Zeit, in Eine Welt und Region des
For personal use only.

Geschmacks in der Literatur; die neue Welt ist eine a n d r e " H e r d e r , der
selbst dreißig Jahre früher der Führer einer geistigen Bewegung gewesen
war, erkennt das Heranwachsen der Romantiker an, aber leider nur für
kurze Zeit, dann kämpft er weiter, um seine intellektuelle Führerposition
aufred tzuerhalten. Eigentlich hat Herder bis zu seinem Tode 1803, von
kurzfristigen Ausnahmen abgesehen, den Kampf nie ganz aufgegeben;
immer wieder wollte er zeigen, daß er auch noch etwas zu sagen hatte.
Vom Frühjahr 1799 ab bis zum Herbst 1800 dreht sich in dem Ver-
hältnis zwischen Herder und Friedrich Schlegel alles um die Herdersche
„Metakritik" (1799). Friedrich Schlegel erwähnt sie zuerst in einem Brief
an seinen Bruder August Wilhelm: „Nimm doch Notiz von einem philo-
sophischen Buch von Herder, welches ich im Meßcatalog finde. Das wäre
etwas für die Notizen, . . ." Es sind hier die „Notizen" im „Athenäum"
gemeint, die ja dann auch, von Bemhardi geschrieben, erschienen. Im Mai
erwähnt er die „Metakritik" noch einmal in einem Brief ein seinen Bruder
August Wilhelm und dessen Gattin Caroline: „Was den Herder betrifft,
so wünschte ich nur provisorisch Nachricht von Euch, wie es sey, ob. Ich
dachte, er fiele Euch wohl eher in die Hände. Ich möchte nicht gern kau-
fen, wenn ich nicht vorher weiß, daß es sich der Mühe lohnt" Friedrich
«» Koberstein, Bd. IV, S. 836^® f.
Von und an Herder (s. Anm. 65), Bd. I, S. 251.
„Briefe an EsAenburg«, ALG (1885), Bd. XIII, S. 512.
Friedridi Sdilegels Briefe, S. 417 f.
" Caroline. Briefe aus der Frühromantik, hrsg. von E. S c h m i d t (Leipzig
1913), Bd. I, S. 542.
10»
330 Wolff A. von Sdimidt

Schlegel scheint es der Mühe wert gefunden zu haben, die „Metakritik" zu


lesen, ist aber nidit sehr davon beeindruckt, wenn er sdireibt: „Der Herr
Generalsup[erintendent] Herder hat bisher mit vieler Humanität immer
nur so gleichsam philosophirt; ist das aber endlich müde geworden, und
ist nun muthig entschlossen, in Gemeinschaft mit Wieland, Böttiger und
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Jean Paul in vollem Ernst zu philosophiren; gegen den mächtigen Kant,


eigentlich neben ihm weg, oder wohl noch besser unter ihm hin" An
anderer Stelle, in den „Philosophischen Fragmenten", ist er noch zynischer:
„Herders Metakr[itik] ein Heringssalat von Ontol[ogie] yg [Gram-
matik] . . . "
Es wurde sehr lange darüber verhandelt, wer die Rezension zur „Meta-
kritik" schreiben sollte. Zu Anfang zeigten Schelling, Schleiermacher und
Bemhardi Lust dazu, aber schließlich wurde Herder an Bernhardi „zur
Hinrichtung übergeben, und er zog sich nicht übel aus dem Handel"
Um Hayms Wort „Hinrichtung" zu erklären, soll hier einiges aus Fried-
rich Schlegels Korrespondenz zu diesem Punkt wiedergegeben werden. Am
10. August schreibt er an den Bruder August Wilhelm: „Bernhardi hat
sich auch zur Metakritik erboten, zu der ich schwerlich die Geduld habe"
For personal use only.

Am 16. September teilt er Schleiermacher mit: „Bernhardi's Sarkasm


gegen Herder ist nicht übel, aber bis wir von hier weg, gehts nicht" In
einem anderen Brief an Schleiermacher heißt es: „Wenn derselbe [Bem-
hardi] an H.'s Metakritik ein Haar gefunden, so thut es mir um so weni-
ger leid, da Schelling es auch thun will und in mancher Rüdcsicht besser
k a n n " E s zeigt sich immer klarer, daß Friedrich Schlegel in bezug auf
Herder jegliche Objektivität verloren hat und nur darauf hinauszielt, ihn
zu beleidigen und seine literarische Position zu unterminieren: „Wird das
gegen Herder gut, so ist das auch ein Zeichen mehr, daß wir die Alten
sind"
Natürlich hat auch Herder immer wieder neues ö l aufs Feuer geschüt-
tet. So war zum Beispiel die neue Auflage der Gespräche „Gott" (1800)
für die Romantiker ein Grund der größten Verbitterung, weil Herder
hier gegen Philosophen polemisiert, die Spinozas System mißbrauchten,
um einen neuen transzendentalen Spinozismus zu verkünden'". Friedrich
Schlegel schreibt am 6. Januar 1800 an Schleiermacher'':

FSKA, Bd. II, S. 423.


" FSKA, Bd. XVIII, S. 251; siehe audi S. 246.
» Romantisdie Sdiule, S. 725.
Friedridi Sdilegels Briefe, S. 425.
" Aus Schleiermadiers Leben. In Briefen, hrsg. von L. J o n a s und W.
D i l t h e y (Berlin 1858—63), Bd. III, S. 120.
Ebd., S. 123.
Ebd., S. 137. 8® Suphan, Bd. XVI, S. 405.
" Aus Sdileiermadiers Leben, Bd. III, S. 144 f; siehe audi S. 151 f.
Die persönlidien Beziehungen zwischen Herder und Fr. Sdilegel 331

Wenn Du eine Notiz über Herder geben könntest, das wäre herrlich; grade
am Herder können wir am besten zeigen, daß wir uns nidit fürditen und daß der
Herzog uns nidits verboten hat. — Also sein ,Gott' wird Dir hiermit in noxam
übergeben. Ob eine Kritik seiner diristlidien Sdiriften im Athenäum an ihrem
Ort stehen würde, kannst Du selbst besser beurtheilen als wir. Ist es Dir Ernst
mit Deinem Eifer für den Teufel, so gieb Adit, ob aus Bernhardi's Notiz über die
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Metakritik nodb etwas wird; will es ihm nidit werden, so würdest Du es im


mündlidhen Gespräch leidit dahin lenken können, daß er Dir's noA abtreten
mödite, ohne daß er es übel nehmen dürfte. Es ist Dir freylich ein hartes zuge-
muthet, daß Du die Metakritik nodi lesen sollst, nachdem dieses Ungewitter Dir
schon vorüber gegangen war, aber bedenk' audi, daß es Herder ist, und daß wir
Dich auf die Probe stellen, ob es Dir Emst mit Deiner Anbetung des Teufels ist.
Schon zehn Tage später sdireibt Friedrich Schlegel wieder einen Brief
an Schleiermacher, in dem es heißt: „Herder's ,Gott' ist Dir bestens emp-
fohlen, desgleichen seine Metakritik, wenn Bernhardi sie aufgiebt" Am
5. Mai beendet Friedrich Schlegel die Metakritik-Kontroverse, indem er
Sdileiermacher berichtet: „Bernhardi hat vor einiger Zeit die [Rezension]
über die Metakritik geschickt; hättest Du nicht anfangs so unendlidien
Ekel gehabt, so würde eine bessere zum Vorschein kommen. Indessen ist
For personal use only.

doch diese gut genug, und einiges darin ist sehr gut"
Es ist nicht weiter überraschend, daß Herder und seine Anhänger jetzt
leider auch sehr subjektiv über Friedridi Schlegel und seine Gruppe ur-
teilen. Zum Beispiel schickt Caroline Herder das im Jahre 1799 erschie-
nene Taschenbuch „Diogenes' Laterne", welches unter anderen Friedrich
Schlegel in boshaftester Weise angriff, im April 1800 mit dem folgenden
Kommentar an Jean Paul: „Hier ist die Latern mit dem ausgeblasnen
Licht, das stinkt"'*. Herder selbst antwortet auf die Attacken seiner
Gegner in der „Kalligone" (1800) s®:
Die strengere Ahndung gegen den Misbrauch der Kritik übe die Kritik selbst,
der die Ehre ihrer Kunst Werth ist. Indem sie sich der Mitgenossenschaft mit
Halbkennern und Muthwilligen entzieht und sie als eine unehrbare Gesellschaft
verachtet, fühlend den Verderb, der Jünglingen auf ihre Lebenszeit zuwächst,
wenn sie Kritiker werden, da sie noch lernen sollten, und sich deßhalb oben auf
dem Parnassus wähnen, überlässt sie die, Kraft der kritischen Philosophie, unter
jedem Lehrstuhl ausgebrüteten Nester voll junger Habichte*, die ohn' alle Be-
griffe und Kenntnisse kritisch richten, ihrer eignen Ignoranz und Arroganz und
Insolenz u. f. Scheuend entzieht jeder Edle sich einer Decke, unter welche Namen-
los und Benahmt so manches Unreine sich streckt; und es wird eine Zeit kommen,
da die Nation selbst sich jeder unwissenden, unanständigen. Regellosen Kritik als
eines ihr zugefügten Schimpfs schämet.

Ebd., S. 149. 8» Ebd., S. 176; siehe audi Friedridi Sdilegels Briefe, S. 430.
" Jean Paul und Herder (wie Amn. 52), S. 70.
Suphan, Bd. XXII, S. 223 f.
* There is an aiery of children, little eyases, that cry out on the top of que-
stion, and are most tyrannically clapt for it; these are now the fashion etc.
H a m l e t (11,2).
332 Wolff A. von Sdimidt

Dies ist wohl das erste Mal, daß Herder rücksichtslos und in aller
Öffentlichkeit gegen die Romantiker, und zwar besonders gegen Friedrich
Schlegel vorgeht, was allerdings nach dem Journal „Deutschland", dem
„Lyceum" und dem „Athenäimi" " mit ihren jeweiligen Kritiken an Her-
der und seinen Freunden keine Überraschung ist. Die Romantiker aller-
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dings scheinen wenig beeindruckt, denn August Wilhelm schreibt am


20. August an Schleiermacher: „Könnten Sie nicht etwa Herders ,Kal-
ligone' übernehmen? Ungern würde ich daran gehen. Bernhardi ist es
nicht zuzumuthen, da er sich die Pönitenz mit der ,Metakritik' angethan.
Friedridi wird auch nicht wollen"
Von diesem Zeitpunkt an scheint Herder endgültig des Kcunpfes über-
drüssig und zieht sich beinahe ganz aus dem Streite zurück. Einem Brief
von Knebel an Herders Gattin vom Februar 1802 kann man aber ent-
nehmen, wie groß die Verbitterung Herders gewesen sein muß'*: „Ich
will nichts dazu sagen. Charakterlosigkeit von allen Seiten! Nur so viel:
Da die Schlegels und Gonsorten beinahe die ganze Weimarische Welt und
Böttigem in specie aufs infamste öffentlich und persönlich in ihren Schrif-
ten dargestellt haben, so finde ich dagegen die Rache höchst unbedeutend,
For personal use only.

wenn es auch nur bloße Rache wäre, die Böttiger gegen ein Stück des
Herrn Schlegel, das nach dem Ausspruch aller gesunden Welt verhunzt ist,
hätte nehmen können. . . . Genug hievon! . . . Lasse mjins gehn, wies
geht! Unsere häusliche Ruhe ist nun freilich das Beste." Auch der Roman
„Lucinde" hat bei Herder, wie zu erwarten, nur negative Reaktionen her-
vorgerufen. Caroline Herder schreibt im April 1802 ziemlich entrüstet an
Jean Paul und seine Gattin: „Thieriot wird Ihnen sagen, daß ich mich
über den Lucindianismus gegen ihn herausgelassen habe. Ich behaupte
nämlich, daß durch diese schamlose Lüsternheit die Liebe zernichtet wird,
und wenn uns diese zerstört wird, so hätten wir unser süßestes Glück des
Lebens verloren"
Während Friedridi Schlegel sich bis 1807 kaum noch auf Herder be-
zieht", schreibt dieser noch kurz vor seinem Tode in der „Adrastea"
(5. Band. 1803) sein letztes Wort, ohne jedoch Namen zu nennen: „Unter
Kritik verstand man im Anfcinge des vergangenen Jahrhunderts noch
etwas anders, als zu Ende desselben ein bekannter Haufe darunter ver-
stehen wollte" Herder läßt keinen Zweifel, wo seine Sympathien liegen
und wer mit dem „Haufen" gemeint ist'®:

8« Koberstein, Bd. IV, S. 837.


Aus Sdileiermadiers Leben, Bd. III, S. 221.
88 Von und an Herder, Bd. III, S. 205.
8» Jean Paul und Herder. S. 112.
»0 FSKA, Bd. XVIII, S. 451 und S. 478; siehe audi Krisenjahre, Bd. I, S. 246.
»I Suphan, Bd. X X I V , S. 181. » Ebd.. S. 183.
Die persönlidien Beziehungen zwisdien Herder und Fr. Sdilegel 333

Am Ende des verfloßnen Jahrhunderts sollte es anders werden. Von der neuen
kritisdien Philosophie hatte die ganze Vorwelt nichts gewußt; dies setzte man,
unbekümmert über das, was der oder jener Aeltere denn etwa auch gewußt, ge-
sagt oder gemeinet habe. Vielmehr setzte die neue Kritik, was er gesagt haben
sollte, und zwar in ihrer eignen neuen Sprache: denn jede andre und die ver-
ständlidie Sprache der Alten ward für populär, d. i. für untauglich erkläret. Rein
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schreiben mußte man gar nicht; sondern mystisch, barbarisdi. Die Zeit dieses
Despotismus scholastisdier Unwissenheit ist vorüber; mich dünkt, wir kehren zur
altern Kritik zurück, . . .
Im Juli 1807, also beinahe vier Jahre nadi Herders Tod, erwähnt Fried-
ridi Sdilegel Herder wieder einmal in einem Brief an seinen Bruder
August Wilhelm; er ist jetzt wieder in der Lage, objektiver zu urteilen:
„Bei Gelegenheit der Indischen Arbeit habe ich auch Herders theologisch-
orientalische Sachen wiedergelesen; trotz vieler Schwäche in Kenntniß und
Einsicht ist doch schöne Ahnung darin und mitunter herrlich geschrieben;
das beste gewiß oder vielleicht das einzige Gute was er je gemacht. Aber
auch ein trauriges Beispiel, wie tief der [sidi] selbst überlassene Geist sin-
ken kann, wenn man seine letzten Lebensjahre dagegen h ä l t " F r i e d r i c h
Schlegel meint mit den „theologisch-orientalischen Sadien" die „Älteste
For personal use only.

Urkunde des Menschengeschlechts" (1774—76), „Vom Geist der Ebräisdien


Poesie" (1782—83) und vielleicht auch „Erläuterungen zum Neuen Testa-
ment" (1775)".
Dorothea Schlegel schreibt allerdings im selben Jahre einen äußerst
kritischen Kommentar über Herder an ihren Gatten:
Ich habe Herder's Lied ,Zehn Uhr wars am frühen Morgen, / Als der König
seinem Sdireiber / Rief, und forderte Papier'"®. So sind die Romanzen, ohne
Reim, ohne Assonanzen, ohne schönes Silbenmass — kurzum, Butterküchlein ohne
Butter; was aber müssen das für köstlidie Romanzen sein, die audi so nicht er-
tödtet werden konnten! Hast Du sie spanisch gelesen? besitzest Du sie? Doch
Ehre, dem Ehre gebürt. Der Brief der Ximena und des Königs Antwort sind
ganz naiv und gewiß mit großer Treue wiedergegeben, obgleich keine Spur von
der Romanze. Auch die Reden der Prinzessin an den Cid sind schön; spanisch
müssen sie von großer Sdiönheit sein. Eine rechte Ähnlichkeit fand ich mit ,Alar-
kos' in dem Verhältnis der Ehe und der Liebe, sowie in den Charakteren und im
Begriff der Ehre. — Hast Du aber Herder's ,Legenden' gelesen? Die scheinen mir
sehr schlecht und absichtlidi verkehrt und verdreht. Dante würde ihm ganz gewiß
seinen Platz dafür im Inferno schon angedeutet haben — das bin ich gewiß. Sul-
piz [Boisserde] will sie so einigermaßen in Sdiutz nehmen als verdienstlich für
einen Calviner etc. Das kann ich aber nidit gelten lassen, verkehrt bleibt ver-
kehrt»®.
Über die Herderschen Romanzen hat sich Friedrich Schlegel in der „Ge-
schichte der alten und neuen Literatur" (1814) positiver geäußert als seine
»» Krisenjahre, Bd. I, S. 424.
" Krisenjahre, Bd. III, S. 246 f. Suphan, Bd. XXVIII, S. 436.
•• Dorothea von Schlegel und deren Söhne Johannes und Philipp Veit, Brief-
wedisel, hrsg. von J. M. R a i c h (Mainz 1881), Bd. I, S. 214.
334 Wolff A. von Sdimidt

Gattin. Diese Stellungnahme erfolgte zu einer Zeit, als er Herder seinen


gerediten Platz in der deutschen Literatur anwies: „Die Romanzen, weldie
Herder übersetzt hat, sind ungleich später, aber der Charakter der alten
Dichtung ist treu darin bewahrt, und sie haben in der Ursprache eine ganz
eigentümliche ungekünstelte Anmut, die nur in der etwas nachlässigen
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Übersetzung nidit mehr so fühlbar ist"


Wie sehr Friedridi Schlegel seine Ansichten über Herders Werk nach
dessen Tod im positiven Sinne änderte und wie groß seine Ehrfurcht für
diesen Mann war, der so viele Neuerungen in der deutschen Geistes-
geschichte angeregt hatte, soll hier an Hand einiger Zitate gezeigt werden.
In den „Rezensionen aus den Heidelbergischen Jahrbüchern" (1807) sagt
er: „Ein großes Verdienst erwarb sich daher H e r d e r , als er durch seine
V o l k s l i e d e r den deutschen Sinn aus den mit Schmuck und Zierat
überladenen Kunstgärten der gelehrten oder vornehmen modischen Dicht-
kunst in das Freie zurückführte, und auf die einfache Schönheit und Be-
deutung dieser unscheinbaren Naturgewächse aufmerksam machte; nur
war seine Sammlung, da sie die Blüten so vieler Nationen umfassen sollte,
für das Deutsche viel zu unvollständig" In der Schrift „Über die Sprache
For personal use only.

und Weisheit der Indier" (1808) bemerkt Friedrich Schlegel in einer Fuß-
note im Zusammenhang mit der Geschidite der orientalischen Völker:
„Herrliche Winke darüber finden sich in Herders .ältester Urkunde des
Menschengeschlechts'. Nur daß ich jeden trüben Strom entarteter Mystik
nicht so unmittelbar aus dem reinen Quell göttlicher Offenbarung herleiten
möchte. Sonst aber weht die Fülle des orientalischen Geistes in diesem
Werke, wie in mehren der frühen theologischen Schriften Herders"
Im „österreichischen Beobachter" (1810) nennt er Herder und Lessing
„zwei der vorzüglichsten deutschen Kritiker", die durch Winckelmann ge-
weckt wurden'"®, während er allerdings im Januar 1813 in einem Brief
an den Bruder August Wilhelm behauptet, daß Hamann „ein beßrer Kri-
tiker wie Herder" gewesen wäre. Im „Deutschen Museum" (1812) stellt
er dann kategorisch fest, djiß es Herder war, „der zuerst ein Ganzes der
Fantasie nachfühlend zu fassen, und dieß Gefühl in Worten auszuspre-
chen wußte" Friedrich Schlegels Interesse an Herder ist zu jener Zeit
so groß, daß er unter anderem einige „noch ungedruckte Autographe" von
Herder veröffentlichte

FSKA, Bd. VI, S. 208.


M DNS (s. Anm. 25), Bd. CXLIII, S. 362.
•• FSSW (s. Anm. 47), Bd. VIII, S. 372*.
"" Briefe von und an Friedridi und Dorothea Sdilegel, hrsg. von J. K ö r n e r
(Berlin 1926), S. 458 f.
101 Friedridi Sdilegels Briefe, S. 539.
Deutsdies Museum, hrsg. von Friedridi S c h l e g e l (Wien 1813), Heft IV,
S. 179. Krisenjahre, Bd. III, S. 543.
Die persönlichen Beziehungen zwisdien Herder und Fr. Sdilegel 335

Friedrich Sdilegels letzte ausführliche Stellungnahme zu Herder erfolgt


in der „Geschichte der alten und neuen Literatur", wo er Herder und an-
deren großen Gestalten wegen ihrer genialischen Kraft „für den Auf-
schwung des deutschen Geistes" seine Achtung erweist, obwohl ihnen
manchmal „die strenge Ordnung, das rechte Maß . . . die notwendige
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Sorgfalt für Reinheit und Richtigkeit der Spradbe" fehlte. „Dies gilt selbst
von Herder und Johannes Müller, an umfassender Kenntnis den reichsten,
durch mannigfaltige Übung den gewandtesten jener Epoche" Das Ur-
teil, das Friedrich Schlegel zu jener Zeit über Herder abgibt, ist nicht
mehr von persönlichen Differenzen überschattet und zeigt, was zu Anfang
behauptet wurde, daß nämlich Friedrich Schlegel in seinem Verhältnis zu
Herder eine seltsame Kombination von Bewunderung und Kritik auf-
weist
In der Philosophie der Geschidite ist eben dieser Sinn für das Poetisdie in dem
Charakter der Sage einer Nation, die Gabe sich in ihre individuelle Denk- und
Lebensweise zu versetzen, was Herdern eigentümlich auszeidinet; selbst als Theo-
loge war es die Poesie der Hebräer, die ihn am meisten anzog. Man könnte ihn
den Mythologen unsrer Literatur nennen, wegen dieses allgemeinen Sinnes für
For personal use only.

Poesie, dieser Gabe, die alte Sage zu empfinden, sidi in alle Gestalten und Her-
vorbringungen der Fantasie mitempfindend zu versetzen, die selbst einen hohen
Grad von Fantasie voraussetzt. Nur kritisdie Genauigkeit oder philosophische
und religiöse Tiefe darf man von diesem an Geist, Gefühl und Fantasie reidien,
aber seiner Naturanlage nadi durchaus nur ästhetischen Denker nidit erwarten.
Die Untersuchung der historischen Bezüge zwischen Herder und Fried-
rich Schlegel hat ergeben, daß ihr Verhältnis zu einander durch verschie-
dene Stadien gegangen ist und sich durchaus nicht in ein einseitiges
Schema wechselseitiger Bewunderung oder Ablehnung zwängen läßt. Für
Friedrich Schlegel gilt, daß er sich von einer ersten distanzierten Beschäf-
tigung mit Herder, über ein polemisdies Absetzen von ihm während der
eigentlichen romantischen Periode, bis zu einer objektiven Würdigung
seines großen Anregers durchgerungen hat. Diese Entwicklung erfolgt
neben den erwähnten persönlichen Gründen auch aus Friedrich Schlegels
eigener Wendung einer literarischen Haltung zu, die der romantischen
Literaturauffassung im allgemein europäischen Sinne und somit der Her-
derschen näher steht.

FSKA, Bd. VL S. 381 f.


Ebd., S. 384 f.
Friedrich Gentz gegen Lord Archibald Hamilton
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Ein Beitrag zur Bildung des Zweiten Ministeriums Pitt (1804)

von Alexander von Hase

Z w a r hat Friedridi (v.) Gentz (1764—1832) nodi nicht, w i e Carl J.


Burdchardt meint, bei seiner berühmten Thronanspradie von 1797*
englisdies Geld zur Verfügung gehabt^, dodi floß ikm dieses seit dem
Sommer 1800 regelmäßig zu, w i e er selbst in seinen Tagebüdiern be-
kennt*. So war er, da vornehmlidi auf j e n e n Subventionen sein auf-
wendiger Lebensstil beruhte*, natürlidi stark interessiert, sidi diesen
Zustrom britisdien Geldes zu erhalten. Dabei ist er freilidi nidit dem
Londoner Kabinett in billiger W e i s e dienstbar geworden, w i e etwa seine
scharfe Kritik des Addington-Kurses zeigt, den er ganz ähnlich w i e das
System von Cobenzl verwarf Dennoch legte er es nicht gerade auf einen
Zusammenstoß mit seinen Londoner Gönnern an, vielmehr war er in
For personal use only.

jeder W e i s e bemüht, ihnen seine Nützlichkeit zu erweisen. So trug Gentz

' Das hier gemeinte „Sendschreiben an Friedrich Wilhelm III." ist abgedruckt
in „Schriften von Friedrich von Gentz", ed. G. S c h l e s i e r (5 Bde. Mannheim
1836-1838) II, S. 12—32.
« Carl J. B u r c k h a r d t , Gestalten und Mädite (Mündien 1941) S. 207.
' Aus dem Nachlasse Varnhagens von Ense. Tagebücher von Friedrich von
Gentz, ed. Ludmilla A s s i n g (4 Bde. Leipzig 1873—1874) I, 1: „Durdi Gar-
lidte ein Schreiben von Lord Grenville, nebst einem Geschenk von 500 L.St. —
das erste dieser Art! — erhalten." Eintragung vom 1. Juni 1800.
* Vgl. dazu Gentz' Schreiben an Czartoryski vom 22. Juni 1806, in dem er
bemerkt: «Je n'ai jamais 6te, comme on le croit partout en Europe, pensionne
par le Gouvernement Anglais; je n'ai jamais eu avec ce gouvernement un
engagement quelconque. Mais il est vrai, et j e l'avoue avec plaisir, qu'il m'a
accord6 de temps-en-temps, librement et sans aucune stipulation d'aucun genre,
des gratifications p6cuniaires trfes considirables, qui m'ont et6 pr6cieuses
puisqu'elles m'ont donn6 les moyens de vivre avec une certaine aisance dans les
Premiers cercles de la soci4t6 et de maintenir une quantite de relations, sans
lesquelles je n'aurais jamais pu obtenir les Instructions qu'exigeaient mes
travaux.» Emila K i p e , Fryderyk Gentz a Polska (Krakau und Warschau 1911),
S. 120.
' Vgl. dazu Gentz' bislang unveröffentlichte Betrachtung „Parallele" aus dem
Jahre 1805, wo es im Hinblick auf die Friedensschlüsse von Lüneville (1801)
und Amiens (1802) heißt: Angleterre, isolde, et s6paree par la force des
^v^nements, de tous les Etats du continent de l'Europe, a 6t6 oblig^e de faire
avec la France une paix honteuse et funeste; cette paix par la faiblesse de ceux
qui ont entam6, dirig6, et achev6 les ndgociations est devenue plus mauvaise
encore qu'elle ne l'aurait 6t6 par la nature des choses.»
«VAutridie, isol6e, s6par6e par la force des 6v6nements du reste de l'Alle-
magne, et de toutes les autres cours, et finalement de l'Angleterre, a ete obligee
de faire une paix honteuse et funeste; et cette paix, etc. etc. etc.» (Brt. Mus.,
Add. Mss. 48401.)
Friedrich Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 337

nicht nur widitiges Informationsmaterial für die britische Regierung


zusammen, sondern warb audi in Wien um Verständnis für den Hof von
St. J a m e s E i n Bemühen, das er mit politisdi-publizistisdien Vorsdilägen
im englischen Interesse begleitete, wie etwa ein bislang unveröffentlichtes
Schreiben an Paget vom 6. April 1804 beweist, in dem er den Gedanken
eines „Contre-Manifeste gendral" gegenüber der anti-insularen Aktivität
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des „Moniteur" propagierte'. Mit Pitts „return to office", die in den


Frühsommer 1804 fällt, trat dazu noch der Kampf für den von dem
Chatham-Sohn repräsentierten Kriegs- und Koalitionskurs. Ein Keimpf,
den Gentz, da die hiermit verbundene politische Konzeption ganz seinen
Ideen entsprach®, auch unter Wahrung der persönlichen Belange des sich
langsam verzehrenden Premiers führte.
Was nun das neue Tory-Kabinett betrifft, so sah es sich unmittelbar
nach seinem Zustandekommen auf das schärfste attackiert. Den Angriff
führte ein liberal-progressiver Abgeordneter, Lord Archibald Hamilton
(1770—1827), und zwar in einer Schrift, die den Titel trug: "Thoughts
on the formation of the late and present Administration." Hauptthese
jener Studie war, daß die Regierungsbildungen sowohl von 1801 wie von
1804 — wobei Hamilton freilich vorzüglich sein Augenmerk auf die
letzte richtete — auf Grundsätzen beruhte "fundamentally opposite to
the spirit of the Constitution and of its dearest i n t e r e s t s " D i e s e Behaup-
For personal use only.

tung stützte der schriftstellerische Lord, der sich bereits den modernen
Grundsätzen der demokratischen Regierungsbildung genähert hatte,
durch den Hinweis ab, daß man in beiden Fällen sowohl Parlament wie
öffentliche Meinung übergangen habe. So sei Addington "to the astonish-
ment of the people and the house of commons" ins Amt gelangt", wäh-
rend sich das Zweite Ministerium Pitt durch die „exclusion" von Fox
dem allgemeinen Wunsch einer "general union of weight and talents"
entgegen stelle". Die Schuld dafür liege an zweierlei: 1. an „private
partialities" unter den „responsible ad visers" des Monarchen. (Für diesen
selbst gilt, wie Hamilton betont, der britische Verfassungsgrundsatz: "the

' Daß dieses keine einfache Aufgabe war, ergibt ein bislang unveröffentlichter
Brief an Lord Auckland vom 8. März 1800. Kommt Gentz doch in diesem auf
«r^tendue et la force des pr6jug6s et des erreurs» zu sprechen, «que les
^crivains ineptes ou perfides ont r^pandu parmi mes compatriotes sur l'etat
int^rieur de l'^Angleterre...» (Brt. Mus., Add. Ms. 34455.)
' Brt. Mus., Add. Mss. 48401.
' Lesen wir in einer von mir zur Veröffentlichung vorbereiteten Denkschrift
von Gentz an Lord Harrowby vom 16. November 1804 (P.R.O., London, F.O.
95/8/2): «Je ne puis pas non plus m'empScher de repeter ici, qu'une ligue defen-
sive entre les deux premi^res puissances de l'Allemagne, me paraitrait dans ce
moment-ci non seulement une mesure infiniment precieuse, mais en meme temps
la seule, k laquelle on puisse s'arreter avec l'espoir raisonnable du succfes», —
finden wir bei Pitt knapp zwei Monate nach dem Eingang jenes M6moires im
foreign office in einer für den russischen Hof bestimmten Note vom 19. Januar
1805 folgende Notiz, die nahezu wörtlich dasselbe besagt: "It is of the utmost
importance, if not absolutely indispensable... to secure the vigorous and
effectual co-operation both of Austria and Prussia." Zitiert nach C. K. W e b -
s t e r . British Diplomacy 1813—1815 (London 1921) S. 391.
» Lord Archibald H a m i l t o n , Thoughts on the formation of the late and
present Administration (London 1804) S. 2.
Ebd. S. 5. " Ebd. S. 38.
338 Alexander v. Hase

king can do no w r o n g " ) 2 . — was freilidi nur die Kabinettsbildung


von 1804 betrifft — an der mangelnden Entsdilossenheit von Pitt, die
Zulassung von Fox zu einem Ministeramt zu einer conditio sine qua non
seiner Administration zu madben. Mit dem Hinweis, daß die größte
Sidierheit eines Landes "in a strict adherence to the Constitution" liege
schloß Hamilton seine Darlegungen ab.
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Für Gentz, der die neuerliche Amtsübernahme Pitts als ,1a supreme
direction de l'Empire Britannique" begeistert begrüßt hatte", bot die
hier erörterte Hamilton-Kritik die Möglichkeit, sidi der abermaligen
Tory-Regierung nicht nur als Anwalt ihrer zwischenstaatlichen, sondern
auch ihrer innerstaatlichen Interessenpolitik zu empfehlen. Dabei — und
das erleichtert ihm die Dinge sehr — macht er sich nicht die sdion weit-
gehend parlamentarische Auslegung der britischen Monarchie zu eigen,
wie sie sich in den Hamiltonschen Erörterungen widerspiegelt, sondern
setzt ihr eine strikt konstitutionelle entgegen. Für ihn — wobei er sich
nur von e i n e m der Grundsätze des liberalen Lords leiten läßt — besitzt
der König „le pouvoir illimitd" sich seine Minister zu wählen, zumal nie-
mand „un titre legal quelconque" sein eigen nennt, „pour fixer le choix
de Sa Majest^". Von jenem Recht sei auch der König bei der Bildung
des amtierenden Kabinetts ausgegangen, wobei er die parlamentarische
Mehrheit auf seiner Seite gehabt habe. Habe doch die Legislative, was
theoretisch durchaus möglich gewesen wäre, dem neuen Ministerium
For personal use only.

nirgends die Mithilfe bei der gesetzgeberischen Arbeit verweigert.


Diese verfassungsrechtlichen Gedanken, die in französischer Sprache
souverän formuliert sind, verknüpft Gentz mit einer Reihe von politischen
Ideen. So äußert er sich im Bemühen um die Gunst von Pitt verständnis-
voll für die Haltung derjenigen, die die Geschicke Englands nicht mit
einem Manne verbinden wollen — gemeint ist Fox — „dont la doctrine,
les discours et les demarches pendant une des epoques les plus m6morables
de l'histoire ont 6te en Opposition permanente avec les principes qui con-
stituent la base 6ternelle des empires". (Eine Bemerkung, die auf die
Vergangenheit des großen Whigparlamentariers zielt, der seit eh und je
mit der Französischen Revolution sympathisiert hatte.) Zudem bezweifelt
Gentz auch, ob ein Allparteienkabinett („Minist^ire composd de tous les
partis") möglich sei. Wäre es doch gelähmt durch „les disparitds de
principes et de vues, les divisions, les contradictions, les mecontentements
mutuels, les guerres sourdes, et les explosions publiques". Wir halten
vorzüglich die letztgenannte Stelle für bedeutsam, weil sie uns einen
Hinweis auf das parlamentarische Denken des Publizisten gibt, der sich
sonst kaum zu Fragen der konstitutionellen Regierungsbildung geäußert
hat.
Die vorliegende Studie, die bislang nicht einmal dem Namen nach
bekannt war, liegt in der Handschrift ihres Verfassers im Britischen Mu-
seum (Add. Ms. 48401) in London. Sie ist ein Teil des sog. Paget-Nach-
lasses, der bis vor kurzem noch im Privatbesitz befindlich, lange Zeit hin-

" Ebd. S. 31.


" Ebd. S. 70.
" Alexander von H a s e , Friedrich (v.) Gentz, „Von dem Politischen Zu-
stande von Europa vor und nadi der Französisdien Revolution" (Diss. Er-
langen 1968) S. 130.
Friedridi Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 339

durch als nur schwer zugänglidi g a l t " . Der von uns besorgte Abdruck
hält sich streng an das Original-Manuskript, nur wurden die Unter-
streichungen in Kursivdruck gesetzt. Idi beabsichtige, demnädist aus dem
erwähnten Nachlaß auch die Briefe von Gentz an Paget herauszugeben,
da sie eine Geschichtsquelle von hohem Rang für dtis beginnende 19.
Jahrhundert darstellen.
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Observations sur l'^crit de Lord Ardiibald Hamilton, intitul6:


"Thoughts on the formation of the late and present Administration."
1. II est g6n6ralement reconnu, que le Roi d'Angleterre poss^de en vertu
de la Constitution le pouvoir illimite («subject to no exception or
restraint.» p. 33) de choisir Ses Ministres.
2. De ce principe il r6sulte directement, que personne dans le royaume
ne peut avoir le moindre droit (ant^cedent aux choix de Sa Majest6) ni
la moindre pretension 16gale d ' k r e nommd par le Roi de pr6f6rence ä
un autre, encore moins k tous les autres.
3. Le soi-disant principe d'exclusion, present6 comme un grief contre
le Roi, pour ne pas avoir port6 son choix sur teile ou teile personne dans
la nomination de Ses Ministres, est donc une objection purement imagi-
naire, ou plutot un tenne absolument vide de sens. Gar aucun homme ne
poss6dant un titre l^gal quelconque pour fixer le choix de Sa Majestd, il
For personal use only.

est clair, que personne ne peut se dire bless6 ou compromis, si ce choix


ne tombe pas sur lui; ou, pour Texprimer autrement, qu'ä chaque change-
ment de Ministire, si quelquun pouvait avoir le droit de se plaindre,
tous ceux qui n'ont pas ^td nommds Ministres, c'est-ä-dire la presque
totalit6 des habitants de la Grande Bretagne, l'auraient egalement,
puisqu'ils auront 6t6 egalement exclus.
4. Si les deux chambres du parlement exer9aient dans la nomination
des Ministres, ce que dans certains pays on appelle un droit de Präsen-
tation, c'est-ä-dire la facultd de proposer un certain nombre de sujets,
parmi lesquels l'autorit^ comp^tente choisit pour teile ou teile place,
conservant cependant la liberte de rejeter tous les candidats — si teile
^tait seulement la marche des (hoses en Angleterre, il y aurait, non pas
encore une raison süffisante mais du moins un prdtexte pour se plaindre
de l'exclusion de tel ou tel individu. Mais comme rien de pareil n'a lieu
en Angleterre, il est clair que le prdtendu tort de l'exclusion de qui que
ce soit du Ministire, n'existe que dans l'imagination ou plutot dans la
mauvaise humeur de ceux ou les amis ou partisans de ceux, qui ont cru
avoir des pr6tensions aux places tandis que le Roi en jugeait autrement.
5. Appliquer (comme on le fait dans cet 6crit) le principe de la
responsabiliti des Ministres aux principes pritendus-constitutionels,
d'apris lesquels, dans le systime des m6contents, le Roi doit procider ä
" Dodi war etwa Paul R. S w e e t seine Existenz wohl bekannt. Vgl. Fried-
ridi von Gentz, Defender of the Old Order (MadisonAVisconsin 1941) S. 85
(Anmerkung). Dabei taxierte der amerikanisdie Historiker sehr riditig, daß sidi
unter dem erwähnten Paget-Nadilaß "several memoirs hitherto inaccessible to
students" befinden könnten. Eine Bemerkung, die mich übrigens s. Z. veran-
laßte, die Nadiforsdiungen nadi jenen Papieren aufzunehmen.
Wörtlich heißt es hier S. 32 f.: "On the other hand, it is equally clear, that
the dioice of its own ministers, is the just and constitutionel prerogative of the
Crown, subject to no exception or restraint"
340 Alexander v. Hase

son dioix, c'est appliquer une chim^re ä une autre diim^re. Gar, si mSme
la responsabilite des Ministres embrassait rdellement le dioix d'un nou-
veau Ministere, de sorte qu'on peut Idgalement attaquer, soit par les
anciens Ministres, pour avoir guide le Roi dans la nomination de leurs
successeurs, soit par les nouveaux pour le simple fait d'avoir acceptd
leurs places, si le principe de la responsabilite pouvait mSme 6tre etendu
ä ce cas-lä (ce qui est une question pour le moins douteuse et problemati-
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que) — il n'en serait pas moins absurde de vouloir rendre un Ministre


quelconque responsable «de ce que le Roi n'aurait pas dboisi tel ou tel
individu». L'auteur a produit une supposition, qui, au premier coup d'ceuil
parait d'avoir quelque diose de frappant, ou m6me d'embarassant. II dit
«que, s'il plaisait au Roi de nommer Ministre un de Ses domestiques, il
faudrait qu'il y eut quelqu'un qui fut responsable de cette nomination»''.
Mais si cela 6tait vrai (ce que je suis loin d'accorder) il ne s'ensuivrait
absolument rien contre le prdtendu principe d'exclusion. Je ne sais pas,
et je puis me dispenser de decider, si dans le cas malheureux que l'on
suppose ici, il y aurait moyen d'attaquer constitutionellement qui que ce
soit, pour ne pas avoir empedie ce scandale; mais ce que je crois parfaite-
ment apercevoir, c'est que s'il paraissait un homme, qui r6unit en lui
seul tous les talents militaires de Marlboroughtout le g6nie minist^riel
de Lord Chatham et toute la profondeur et l'dloquence de Burkeet
que, par quelque raison que ce fut, le Roi ne voulait point de cet homme
For personal use only.

pour son Ministere, il n'y aurait personne en Angleterre, qui put etre
constitutionellement responsable de son exclusion. L'opinion contraire
d^truirait de fond en comble le pouvoir illimitd du Roi dans le dioix de
Ses serviteurs.
6. Mais autant qu'il est diimerique de vouloir dtendre la responsabilite
a un objet, qui par la nature m^me doit necessairement lui ediapper,
autant il est vrai, que l'esprit de la Constitution Britannique fournit un
autre moyen de diminuer les diances des mauvaix dioix, et mSme de
favoriser les bons, jusqu'au point ou la diose est possible. Le moyen (dont
l'auteur parle aussi) est le pouvoir du Parlement de refuser au Roi son
concours pour les actes de legislation et de gouvernement jusqu'ä ce
qu'il ait 6cart6 le Ministre que la Majorit^ croit incapable de sa place, ou
meme jusqu'ä ce qu'il ait nomme celui, que cette majorite ou l'opinion du
public parait indiquer comme le plus recommandable. Le moyen est
parfaitement süffisant pour contenir la pr6rogative, en eile mSme illimitee,
du Roi dans des bornes raisonnables et justes. Gar, si jamais, par exemple,
le Roi nommait une personne inadmissible, disons avec Lord A. H. un de
ses domestiques, ä la premi^re place de TAdministration, il est evident,

" Offenbar Anspielung auf Hamilton, S. 34 f.: Würde sidi der König von
England dazu entsdiließen, "to nominate his footman minister, . . . surely some
person must be responsible for the outrage; and there does not appear any
reason why the same responsibility, should not attadi to a capricious exclusion,
as to an unwise appointment."
" John Churdiill, Herzog von Marlborough (1650—1727), britisdier Staats-
mann und Feldherr.
" William Pitt, Barl of Chatham (1708—1778), britisdier Staatsmann.
Edmund Burke (1729—1797), britisdier Staatsmann, Sdiriftsteller und Red-
ner. Die Übersetzung seiner „Reflections on the Revolution in France" (17931
begründete Gentz' literarisdien Ruhm.
Friedrich Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 341

que tous les partis se reuniraient sur-le-diamps pour rdsister ä diaque


demardie, ä diaque proposition d'un Premier Ministre pareil, et qu'il
serait oblig6 de se retirer dans les premiers huit jours de la premiere
s6ance du Parlement. Si au contraire il existait vraiment dans le pays un
homme tel que Tai suppose plus haut, rdunissant toutes les grandes qua-
lites, objet d'admiration et de culte pour tous les partis, et idole de
l'opinion publique eclair6e, il est tres vraisemblable, que le Parlement
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en refusant successivement son assistance ä tout autre Ministre, finirait


par faire choisir celui-lä. Mais tandisque le premier de ces pouvoirs, celui
d'ecarter un Ministre incompatible avec l'honneur ou avec les grands
inter^ts de la nation, doit etre et sera toujours par sa nature aussi illimitd
que le pouvoir du Roi de former son minist^re, le second, celui de forcer
indirectement le Roi ä nommer l'homme favoris6 par le Parlement, ne
peut et ne doit pas etre exerce sans restriction. Car, pour rdpondre ä la
supposition forcee de Lord A. H. par une autre supposition forc6e,
imaginons, que cet homme unique pr6n6 par tous les organes de l'opinion,
et entiirement digne de la faveur publique, ait eu (dans une 6poque
ant6rieure) le malheur de tuer le frere didri du Roi, ou d'insulter
gravement I'^pouse du monarque, ou enfin dans un moment d'^garement
de passion, ou d'ivresse, de porter sa main sur Sa personne sacrde, et
que par cons^quent le Roi se trouvät dans l'impossibilite de vivre et de
travailler avec lui, voudriez-Vous que le Parlement tourmentät le Roi
For personal use only.

jusqu'ä ce qu'il l'ait admis ä ses conseils? ou qu'une Stagnation funeste


paralysät l'administration pendant une 6poque indefinie jusqu'ä ce que
cette difficulte insurmontable füt levee ou otde par quelqu' evenement
imprevu?
En voilä assez pour les principes gdneraux, invoques par l'Auteur.
Quant au cas present, considerons, pour juger ses raisonnements, quelle
a ete la conduite du Parlement, du Roi, et de Mr. Pitt.
1. On voit bien, que, si la majorit6 du Parlement avait 6t6 vivement
p6netr6e de la n6cessit6 de former un Minist^re tel que la nouvelle
coalition le ddsirait, et pleinement convaincue de l'insuffisance de celui
qui vient d'etre form6, eile n'aurait eu qu'ä exercer ce mSme pouvoir
constitutionel de refuser son concours. Si eile ne l'a pas fait, il est clair,
qu'elle n'a pas voulu le faire, et que son opinion n'est pas conforme k
l'opinion des partis coalis^s. Sous ce point de vue constitutionel, les
jerdmiades de Lord A. H. ne sont que des vaines declamations, qui ten-
dent au dernier resultat ä conf6rer ä la minorite du Parlement le droit de
nommer les Ministres et de gouverner le Roi et l'dtat.
2. Le Roi a observd dans cette occasion une conduite, ä laquelle l'exc^s
de l'ingratitude et de l'esprit de parti peut seul refuser ses hommages,
qui sera düment appr6ci6e par tous les hommes justes et eclaires, et qui
devrait lui gagner l'affection et la confiance de son peuple s'il ne les
possedait pas au supreme degr6. Le Roi 6tait personnellement attadie ä
Mr. Addington*' et quelque soit le jugement que la postdrite portera sur
ce Ministre, ceux qui l'ont connu, et qui voudraient bien se rappeler les
circonstances, dans lesquelles il a placd ä la tSte de l'administration,
Henry Addington, Lord Sidmouth (1757—1844), 1801 Premierminister als
Nadifolger Pitts, sdiloß 1802 den Frieden von Amiens. Trat 1804 nadi dem
Wiederbeginn des Kampfes gegen Napoleon unter dem Drude der öffentlidien
Meinung zurüdc.
342 Alexander v. Hase

trouveront cet attadiement tris explicable. C'etait donc de la part du Roi


un grand acte de devouement et de resignation que d'eloigner Mr.
Addington, du moment que l'opinion publique, ou, pour ne dire ici que
ce qui peut strictement Stre prouve, qu'une partie considerable s'etait
declaree contre lui. Les adversaires les plus adiarnes de Mr. Addington
n'ont pas os6 nier, qu'il aurait pu le soutenir plus longtemps s'il avait
voulu braver l'opposition et quoiqu'il en soit, il est toujours incontestable
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que le Roi en lui otant sa place, a sacrifi6 les affections particuli^res, non
pas ä une majorite imposante, non pas ä un cri universel, ou ä une
necessite absolue, mais ä une minorite dans les deux chambres, et ä la
seule apparence d'un mecontentement public. Apr^s en avoir tant fait,
il me semble qu'il ne devrait gu^re s'attendre a ce qu'on lui reprocherait
encore d'avoir use de sa prerogative incontestable pour composer le nou-
veau Minist^re de personnes, qui, jugees depuis longtemps capables des
premieres fonctions de l'Etat, si elles ne pouvaient pas pr^tendre ä cet
attachement et ä cette confiance personnelle qui ne se commandent jamais,
ne lui inspiraient pas du moins une defiance ou une aversion positive et
invincible.
Le Roi n'a exclu — puis qu'on veut absolument que cette expression
inadmissible et absurde soit employe ici — le Roi n'a exclu qu'un seul
individu; tous les autres, que l'opinion publique ou le voeu d'ime partie
For personal use only.

du Parlement ont paru appeler au Minist^re, se sont exclus eux-memes.


Ce serait un singulier pouvoir illimite de dioisir, ou, pour tout dire, ce
serait une Strange Constitution, que celle qui obligerait le Roi ä nommer
Ministres non seulement un certain nombre de personnes que tel ou tel
parti croirait propres aux premieres places, mais encore tous les associes
qu'il aurait plu ä ces personnes de se donner, ces associes fussent-ils meme
des hommes que le Roi regardät comme positivement dangereux ou mal-
faisants. Et lorsqu'un simple spectateur a toute la peine du monde ä
concevoir, que les Grenville les Fitzwilliam les Wyndham aient pu
deroger ä la severite et ä la purete de leurs principes au point de s'unir
avec Mr. Fox"^, comment peut-on pretendre que le Roi oublie dans un
instant tout ce qui s'est passe depuis vingt-cinq ans pour admettre ä sa
plus haute confiance celui que le meme parti, qui veut aujourd'hui le por-
ter au pouvoir, a appris Sa Majeste ä regarder comme l'ennemi de Ses
droits, celui qui, pour appliquer ä notre tour la responsabilit^ tant in-
voquee par l'Auteur, une fois etabli en place s'aviserait peut-Stre d'inten-
ter un acte d'accusation contre ses propres coll^gues, pour avoir suggere
au Roi de le rayer de la liste de ses conseillers priv6s?
Le Roi, en excluant ou pour parier plus raisonnablement en refusant
Mr. Fox, ne s'est pas livre a quelque humeur ou fantaisie passag^re; il
Thomas Grenville (1755—1846), Politiker und Bibliophile, 1799—1800 Bot-
sdiafter in Berlin, 1806/07 Erster Lord der Admiralität.
William Wentworth Fitzwilliam, Zweiter Earl Fitzwilliam (1748—1833),
1794/95 Vizekönig von Irland.
" William Wyndham Grenville, Baron Grenville (1759—1834), 1791—1801
britisdier Außenminister, bildete 1806/07 als Schatzsekretär das Ministerium
aller Talente.
" Charles James Fox (1749—1806), 1782/83 und 1806 Staatssesretär des
Auswärtigen, 1784 Führer der Whigopposition, sympathisierte mit den Ideen
der Französisdien Revolution.
Friedridi Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 343

a consulte l'histoire de son regne, et les principes qu'il a toujours suivis;


il a fait ce que tout le monde pouvait, et ce que tout le monde devait
attendre de Lui. Si cette resolution a priv6 le Ministere et le pays des
grands et respectables talents des membres de la nouvelle Opposition, on
peut deplorer un r^sultat pareil, (personne ne le deplore plus sincerement
que moi) mais il est injuste d'en accuser le Roi. Ceux qui, connaissant
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l'eloignement insurmontable de ce monarque pour Mr. Fox, ont nean-


moins pr^f6r6 une coalition avec lui ä toute autre diance quelconque de
coop6rer au bien public, en sont seuls responsables.
3. Quant ä Mr. Pitt, je crois que ses proced6s dans tout ce qui regarde
la composition du nouveau Ministere, sont irreprodiables, et que cela peut
se prouver jusqu'ä l'evidence. Si je les crois en outre dignes de tous les
eloges, cette opinion peut tenir plus ou moins ä ma mani^re particuliere
de voir et de juger: je vais m'expliquer sur les deux points.
Mr. Pitt, en joignant ses efforts ä ceux des deux oppositions parlemen-
taires", pour dissoudre le Ministere de Mr. Addington, ne s'est engage
ä rien envers personne. II n'a jamais dit, ni au Parlement ni probablement
hors de son enceinte, qu'il d^sirait positivement ou qu'il regardait in-
dispensable une Administration composee de tous les partis. II n'a rien
promis, ni ä ces anciens amis, ni aux anciens, ni aux nouveaux amis de
Mr. Fox. II aurait donc pu se dispenser de parier de celui-ci au Roi,
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sans que personne ait pu lui en faire un crime. II a fait le contraire.


Appele par le Roi, il a commence par proposer Mr. Fox. Je ne sais pas
quel motif l'a proprement determine ä cette d^mardie. Mais comme, ni
l'interet particulier, ni l'attadiement personnel, ni mSme le desir de se
rendre agr^able au Roi ni pouvaient y avoir la moindre part, il est dvident,
que quelque fut la base de sa conduite, qu'il s'y soit port^ par deference
pour l'opinion des autres, par crainte de se cäiarger tout seul du poids
d'une immense responsabilitd, ou enfin, ce qui est plus vraisemblable que
tout le reste, par un mouvement de delicatesse, il a toujours agi, et il na
pu agir dans les circonstances donndes que par un motif parfaitement
honorable.
Queis sont donc les reprodies qu'on lui fait? D'abord, de n'avoir pas
assez insiste sur sa premiere proposition; et ensuite, de n'avoir pas refuse
la place que le Roi lui offrit, lorsqu'il a im qu'il s'obstinait ä exclure
Mr. Fox du Ministere.
Pour appuyer le premier de ces reprodies, on pr^tend, que Mr. Pitt
s'est content^ d'un seul entretien avec Sa Majest6 pour l'admission de
Mr. Fox tandis qu'il aurait du revenir 4 la diarge, et tädier de vaincre
la rdpugnance du Roi par des efforts rdit6r6s. Mais, sans examiner, s'il
est vrai, que Mr. Pitt n'ait eu qu'un seul entretien sur ce sujet, tous ceux,
qui ont jamais observ6 les hommes, doivent savoir qu'il y a un degre
de rdpugnance, d'aversion, et de d6goüt, contre lequel se brisent toutes les
remontrances et tous les efforts, et qui s'annonce au premier aspect d'une
maniere si p^remptoire, qu'un homme raisonnable ne peut pas mSme
tenter de le vaincre. Si tel dtait le cas ici — et certainement tout nous
porte ä le croire, Mr. Pitt a pu et dü se borner ä un premier entretien,
et il est injuste de l'attaquer sur ce qu'il n'ait pas multipli^ ses tentatives.
II est tout aussi injuste, et meme quelque chose de plus, de lui reprodier,
Addington hatte sowohl die Whigs wie einen Teil der Tories gegen sidi.
344 Alexander v. Hase

comme Lord A. H. le fait, d'avoir ete conduit par une fausse delicatesse,
en ne pas forjant le Roi ä un second pas, lorsqu'on l'avait une fois force
a faire le premier. Gar d'abord, s'il est vrai, que le Roi a ete force ä
eloigner Mr. Addington du Minist^sre, ce n'est pas Mr. Pitt, mais c'est
l'opposition dans les deux chambres du Parlement qui a produit cet efifet.
Ensuite, comme il y a une difference essentielle entre engager (puisque
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forcer est toujours un terme inapplicable et meme passablement indecent)


entre engager le Roi ä eloigner un Ministre, et lui prescrire le dioix
d'un autre, Mr. Pitt a tres bien pu partager l'une de ces entreprises, sans
vouloir se diarger de l'autre. Et finalement il doit etre reconnu par tous
ceux qui connaissent la vraie delicatesse, et surtout celle que l'on doit ä
un Souverain que d'avoir engage, determine ou force le Roi ä faire la
premi^re demardie, etait justement la plus decisive de toutes les raisons,
pour ne pas le forcer ä faire la seconde. II est certainement plus qu'extra-
ordinaire de soutenir, que, puisque le Roi, par une resolution aussi noble
que patriotique, avait cede aux voeux d'ime partie du public, et dissous
l'ancien Ministere — probablement sans etre convaincu de la necessite
de cette mesure — on avait dü le poursuivre sans cesse jusqu'ä ce qu'il
en eüt choisi un nouveau, exactement compos6 d'apres les conceptions ou
les caprices d'une coalition d'avant-hier; que puisqu'il avait bien voulu
sacrifier l'homme qu'il aimait le plus, on aurait dü le forcer d'admettre
ä sa confiance et ä ses conseils celui qu'il aimait le moins! — Certes,
For personal use only.

aucun homme raisonnable ne blämera Mr. Pitt de ne pas avoir voulu se


faire l'executeur d'une aussi Strange theorie.
Mais, continue-t-on, il aurait du refuser la premiere place; s'il avait
pris ce parti, personne ne s'en serait charge aux memes conditions; et le
Roi ä la fin se serait vu oblig6 de ceder ä la necessite et de former une
administration, fort de l'influence, des talents, et des moyens de tous les
partis reunis^'. Voilä donc, apres avoir ecarte les griefs pr^liminaires, ä
quoi se reduit en derniere analyse l'accusation qu'on a formee contre
Mr. Pitt.
Pour y r^pondre, observons d'abord, qu'il n'est rien moins que prouve,
que, si Mr. Pitt avait refuse la place du Premier Ministre, aucun autre
ne l'aurait acceptee, sans que Mr. Fox ne lui eut dte associe. Dans un pays
tel que l'Angleterre, le nombre des personnes qui se croient, ou qui sont
effectivement capables des premieres places, ne peut pas etre aussi etroite-
ment circonscrit, que le Roi aurait ete reduit ä choisir entre Mr. Pitt
d'un cote, et la coalition de l'autre. Mr. Pitt peut avoir ete persuade de
cette vdrite comme d'autres le sont. Or, voyant que le Roi ne se resoudrait
jamais k appeler Mr. Fox, et Lord Grenville et tous ses amis s'etant
exclus eux-m^mes par la declaration qu'ils avaient faite, de ne pas vouloir
entrer qu'avec leur nouvel allie, Mr. Pitt pouvait tres bien se dire, qu'il
valait encore mieux composer un ministere sous sa direction, et en conser-
vant une partie de l'ancienne administration, y admettre quelques-uns
de ses amis particuliers, que livrer tout ä la merci du hazard et voir
peut-^tre tomber les renes du gouvernement entre des mains qui jusqu'ici
y avaient 6te absolument etrangferes. Je ne sais pas, si teile a ete la mardie

'' Vgl. dazu Hamilton, S. 47: „Had Mr. Pitt refused to form an admini-
stration upon a weak and narrow basis, where is the man who would have
dared to untertake the odious task?"
Friedridi Gentz gegen Lord Ardiibald Hamilton 345

des id^es de Mr. Pitt; mais personne n'aurait le droit de l'accuser, si des
consid6rations de cette nature avaient motiv6 ses derai^res r6solutions.
Ce n'est pas tout encore, et il faut a j outer une autre r6flexion, qui me
parait d'un poids decisif. Lord A. H. et tous ceux qui partagent ses
opinions sur la rdunion entre le parti Grenville et Mr. Fox, sont telle-
ment p6n6tr6s des avantages inappreciables de cette reunion et de tout
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ce qu'elle aurait rdpandu de bienfaits sur le pays, si eile avait 6t6 investie
des pouvoirs du Gouvernement, qu'ils paraissent tout-ä-fait oublier, qu'il
peut exister dans le monde une mani^re de voir absolument diff^rente
de la leur. Serait-il donc impossible, que cette mani^re de voir eut 6t6
et fut encore celle de Mr. Pitt? Serait-il impossible que malgr6 une pre-
miere proposition, que par defdrence, par modestie, ou par ddlicatesse il a
pu faire au Roi dans le sens de la coalition, il eut toujours secr^tement
convaincu, que la composition d'un ministere d'apr^s le modele de cette coa-
lition etait une diose essentiellement impraticable, ou essentiellement dange-
reuse? Et si teile avait 6t6 sa demi^re pensee, pourrait-on le blämer serieuse-
ment pour ne pas avoir voulu tout sacrifier a une combinaison, dont le succes
lui aurait paru tr^s ^quivoque, ou mSme l'effet pernicieux presque certain!
La supposition que je fais ici, ne r^pugne point ni ä la vraisemblance,
ni k r i t a t connu des choses en Angleterre. Plus d'un homme eclaird a
cette mani^re de voir que je viens de preter ä Mr. Pitt; et s'il m'est
For personal use only.

permis de me mettre un moment ä sa place, j'avoue qu'elle aurait ete


le fond de toutes mes pensees, et la r^gle supr^me de toute ma conduite.
Je ne veux pas m'dlever directement contre ceux qui avec Lord A. H.
ne voient plus de salut pour l'Angleterre, que dans une administration
dont Mr. Fox serait un des principaux ressorts. Si leur opinion est fondee,
je regrette sinc^rement qu'ä moins d'une expdrience qui detruirait tous
mes apergus actuels, il ne me sera jamais possible de leur rendre
justice. S'ils ont embrass6 une erreur, j'ai trop d'autres motifs de les
respecter et de les admirer pour leur en faire un crime. Mais le syst^me
dans lequel ils agissent maintenant, n6 et adopte par eux ä peine depuis
six mois, ne peut pas ßtre assez enracin6 dans leur esprit, pour qu'ils ne
congoivent plus, comment d'autres peuvent se refuser ä son dvidence. Iis
doivent accorder k des opinions tr^s opposdes ä la leur, une indulgence
d'autant plus grande, que ces opinions auront 6td puisdes ä la source
de leurs propres exemples et de leurs propres instructions. Iis doivent
comprendre et pardonner, que de vrais et zelds amis de l'Angleterre
regardent encore aujourd'hui Mr. Fox sous les mdmes couleurs sous
lesquelles ils ont paru le voir depuis l'annde 1790 jusqu'ä l'annee 1803.
Iis ne doivent Stre ni indignes, ni surpris de rencontrer des personnes,
qui ne peuvent pas se familiariser avec l'idee de voir les destinees de
leur patrie confiees a un homme dont la doctrine, les discours, et les
demardies pendant une des dpoques les plus mdmorables de l'histoire
ont dte en Opposition permanente avec les principes qui constituent la
base eternelle des empires; ä un homme, qui, quelques soient ses talents
les a constamment ou obscurcis ou pervertis, en les employant ä debiter
les sophismes les plus dangereux, ä fomenter les maximes les plus anti-
constitutionelles et les plus anti-sociales et — pour tout dire par un
mot — k justifier et ä defendre les ennemis dtrangers et les ennemis
domestiques de son pays. Iis doivent s'attendre ä trouver ces memes per-
346 Alexander v. Hase

sonnes tourmentees par les doutes, par les craintes, par les plus sinistres
pressentiments, lorsqu'on leur prdsente comme demier moyen de salut
une administration qui ne serait qu'un amalgame d'61^ments h6t6rog^nes,
discordants, hostiles, une administration, dans laquelle les disparit^s de
principes et de vues, les divisions, les contradictions, les mecontentements
mutuels, les guerres sourdes, et les explosions publiques, seraient selon toutes
les apparences, des 6venements joumaliers, et dont, loin de concevoir, sans
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le plus grand et le plus incroyable des miracles, la stabilit6 et l'efficacitd,


on a de la peine ä imaginer seulement la premi^re Organisation et le pre-
mier mouvement.
Si Mr. Pitt a jug^ la nature et les e£fets probables d'un ph^nomene
pareil de la mSme mani^re que l'ont fait ceux dont je viens d'exposer
les opinions, sa conduite a 6t6, non seulement irreprodiable, mais digne
de tous les 61oges. Car dans ce cas-lä il devait, au risque meme d'etre
m^connu, calomni6, insult6, tax6 d'6goisme et d'ambition effr6n6e,
employer ouvertement ou secr^tement tous les moyens qui se trouvaient k
sa portee pour d6tourner le plus grand des malheurs. Si Mr. Pitt est
parti d'un autre point de vue, s'il n'a pas envisag6 les projets de la
coalition comme essentiellement funestes a son pays, s'il a mSme entrevu
la possibilite de combiner ces projets avec l'intdret de la diose publique,
il a pu sans la moindre hesitation entrer dans les vues de cette coalition,
mais il n'a encouru aucun bläme, s'il les a finalement abandonnees, soit
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parce qu'il s'est aperfu qu'il 6tait absolument impossible de les faire
embrasser par le Roi, soit parce qu'il a senti trop de repugnance ä heurter
ä la fois tous les sentiments de ce monarque, k forcer tous ses scrupules,
et a les pousser, pour ainsi dire, vers la derni^re extremite. II n'y a
qu'un seul cas, dans lequel Mr. Pitt aurait en acceptant le minist^re, agi
contre sa conscience et contre son devoir, et dans lequel il serait difficile
ou impossible de le d^fendre: c'est le cas, oü il aurait adoptd le syst^me
de ceux, qui avec Lord A . H . regardaient la formation d'un Minist^re
compos6 de tous les partis, non seulement comme une mesure tres
salutaire, mais encore coimne le seul et unique moyen de gouverner et de
sauver le pays. Ses adversaires m6me n'ont jamais pretendu que cette
Opposition 6tait la sieime; et jusqu'ä ce qu'on en administrera la preuve,
nous sommes parfaitement autoris6s ä croire, qu'il ne l'a jamais partag6e.

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